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in 2019 with funding from
University of Illinois Urbana-Champaign
https://archive.org/details/wienerklinischew13unse
WIENER
BEGRÜNDET VON WEIL. HOFRATH PROF. H. v. BAMBERGER.
HERAUSGEGEBEN VON
ERNST FUCHS, KARL GUSSENBAUER, ERNST LUDWIG, EDMUND NEUSSER,
LEOPOLD R. v. SCHRÖTTER und ANTON WEICHSELBAUM.
REDIGIRT von Du ALEXANDER FRAENKEL.
XIII. JAHRGANG.
WIEN UND LEIPZIG.
WILHELM BRAUMÜLLER, K. U. K. HOF- UND UNIVERSITÄTS-BUCHHÄNDLER
1900.
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Seite
Zur Jahrhundertwende. Yon A. F . 1
(Aus der I. medicinischen Klinik [Hofrath Noth nage 1]). Beitrag zur
Lehre von der Abstammung der Harncylinder. Von Dr. Ernst
v. Czyhlarz, Assistenten der I. medicinischen Klinik . . 2
Zur klinischen Bedeutung der Nierendystopie. Ein Fall von operirter
Beckenniere. Von Prof. Dr. J. Hochenegg . 4
Einige seltenere Concretionen der menschlichen Harnwege. Von
Dr. O. Zuckerkandl . 9
(Aus Prof. v. Frise h’s Abtheilung für Krankheiten der Harn¬
wege.) Ein neues Kystoskop zum Katheterismus der Ureteren.
Von Dr. M. Schliffka, Assistenten der Abtheilung ... 11
Zum Neubau des Wiener k. k. Allgemeinen Krankenhauses. Schaffung
einer chirurgischen Isolirabtheilung. Von Primararzt Dr.
F. Schopf . 12
Die neue Rigorosen- und Studienordnung für die medicinischen Facul-
täten Oesterreichs. Von A. F . 13
Zur Lehre vom angeborenen Pectoralis-Rippendefect und dem Hoch¬
stande der Scapula. Von Docent Dr. Hermann Schle¬
singer in Wien . 25
(Aus der k. k. I, psychiatrischen Universitätsklinik des Herrn
Prof. v. Wagner in Wien.) Polioencephalitis superior acuta
und Delirium alcoholicum als Einleitung einer Korsakow-
sehen Psychose ohne Polyneuritis. .Von Dr. Emil Raimann,
Assistent der Klinik . 31
Ein Fall von traumatischer periodischer Lähmung. Von Uuiversitäts-
docent Dr. Julius Donath, Ordinarius für Nervenkrank¬
heiten am St. Rochus-Spitale in Budapest . 37
Notiz zur Lehre von der infantilen Pseudobulbärparalyse Von
Prof. Dr. M. Bernhardt (Berlin) . 40
(Aus dem staatlichen serotherapeutischen Institute Wien [Vorstand
Prof. R. Pal tauf].) Ueber Hämolysine und Antihämolysine.
Erste Mittheilung. Von Dr. Rudolf Kraus, Assistenten am
Institute, und Dr. Paul Clair mont . 49
(Aus der allgemeinen medicinischen Klinik des Prof. B o z z o 1 o und
aus dem Institute für speeielle medicinische Pathologie des
Prof. Silva in Turin.) Beitrag zur Kenntniss des pseudo-
chylösen Ascitesformen. Von Dr. F. Micheli und Dr. G.
Mattirol o, Assistenten . 56
(Aus der Heilanstalt Alland.) Einige neue Medicamente in der
Phthiseotherapie. Von Dr. Jul. Pollak, Hausarzt der Heil¬
anstalt . 59
Ueber medicinische Studien und Prüfungen. Von S. Exner, Professor
der Physiologie in Wien . 61
Zur Radicaloperation der Varikocele. Von Prof. Dr. Albert Na rath
(Utrecht) . 73
(Aus der chirurgischen Abtheilung des Prof. v. Mosetig-Moor-
h o f im Allgemeinen Krankenhause.) Ueber multiple Dünndarm¬
stenosen tuberculösen Ursprunges. Von Dr. Sigmund Erd¬
heim, emeritirtem Assistenten der Abtheilung . 79
Zur Technik der Gastrostomie. Von Dr. Robert Lucke in
Altenburg . . . • . . 83
Bemerkungen zur neuen Rigorosenordnung. Vortrag des Prof. Albert
in der k. k. Gesellschaft der Aerzte . 84
Ueber die Einschränkung der Laparotomie zu Gunsten der vaginalen
Cöliotomie. Von Prof. F. Schauta . 101
Ovariotomie per anum. Von Docent Dr. Hubert Peters . . . 110
(Aus der Klinik G. Braun in Wien.) Ueber Luftembolie bei Pla¬
centa praevia. Von Dr. Hugo H ü b 1, Assistenten der Klinik 111
(Aus der k. k. pädiatrischen Klinik des Prof. Escherich in
Graz.) Ueber die nach Gram färbbaren Bacillen des Säuglings¬
stuhles. Vorläufige Mittheilung. Von Dr. Ernst Moro, klinischem
Assistenten . 114
(Aus dem Institute für allgemeine und experimentelle Pathologie der
Universität zu Wien.) Ueber die Wirkung des Schilddrüsen¬
saftes auf die Circulation und Athmung nebst einem Anhänge
über Beziehungen zwischen Jodothyrin und Jodnatrium, bezie¬
hungsweise Atropin. Von Dr. Belav. Fenyvessy . . . 125
(Aus der Ohrenabtheilung im k. u. k. Garnisons-Spitale Nr. 1 in
Wien.) Störungen der Vasomotorenthätigkeit und der Seusi-
Seite
bilität nach peripherer traumatischer Facialislähmung. Von
Regimentsarzt Dr. Karl Biehl . . 131
Gutachten der medicinischen Facultät in Wien. Todschlag, verübt
von einem trunksüchtigen, ethisch depravirten Individuum. An¬
geblicher pathologischer Rauschzustand und Schlaftrunkenheit.
Verurtheilung. Referent Prof. v. W a g n e r . 134
Philipp Knoll f . 139
Ueber Maltafieber. Von Dr. Alfred Brunner (Triest) .... 149
(Aus der H. medicinischen Klinik des Herrn Hofrathes Prof. Dr.
E. N e u s s e r in Wien.) Beitrag zur Klinik der Landry-
schen Paralyse mit besonderer Berücksichtigung ihrer Bacterio-
logie und Histologie. Von Dr. Julius Kapper, k. und k.
Regimentsarzt . 153
(Aus dem Ambulatorium für Nasen- und Halskrankheiten des Prof.
Dr. O. C h i a r i au der Wiener Allgemeinen Poliklinik. Ueber
Speichelsteinbildung. Von Dr. Friedrich Hanszel,
Assistenten . 161
Zur Krankenhausfrage. Von A. F . 163
(Aus der k. k. I. psychiatrischen Universitätsklinik des Herrn Prof,
v. Wagner in Wien.) Ueber alimentäre Glykosurie. Von
Dr. Emil Raimann, Assistenten der Klinik . 175
(Aus der III. medicinischen Klinik des Herrn Hofrathes
L. Schrott er R. v. Kristelli.) Mannsfaustgrosses Aneu¬
rysma der Aorta thoracica descendens zunächst dem Arcus, in
den rechten Thoraxraum ausgebreitet. Tod durch Perforation in
einen Bronchialast der rechten Lunge. Röntgenographie. Von
Dr. Maximilian Weinberger und Dr. Arthur
Weiss, Aspiranten der Klinik . 183
(Aus der chirurgischen Abfheilung des Primarius Dr. Schopf im
k. k. Kaiserin Elisabeth-Spitale in Wien. Traumatisches Aneu¬
rysma der Arteria brachialis und Durchtrennung des Nervus
medianus. Totalexstirpation des Aneurysmas. Nervennaht. Von
Dr. Karl Sinnreich, Abtheilungsassistenten . 187
(Aus Prof. v. Hacker’s chirurgischer Klinik zu Innsbruck.) Zur
Blasennaht beim hohen Steinschnitt. Von Dr. Georg Loth¬
eiss e n, Privatdocent und Assistent der Klinik . 203
(Aus der k. k. pädiatrischen Klinik des Prof. Jakubowski in
Krakau.) Zur Biologie der Malariaparasiten. Von Dr. Xaver
. Lewkowicz, Assistenten der Klinik . 206, 233
(Aus der HI. medicinischen Klinik [Hofrath v. Schrotte r] in
Wien.) Therapeutische Studien über das Sanatogen. Von Dr.
Eduard Rybiczka, Aspirant an obiger Klinik .... 209
Prof. Jaus (1696 — 1761). Ein neuer urkundlicher Beitrag zur
Geschichte der Medicin in Wien. Von Robert R. v. Töply,
Privatdocent . 212
(Aus der medicinischen Klinik des Hofrathes Prof. Nothnagel in
Wien.) Das radiographische Verhalten der normalen Brustaorta.
Von Dr. G. Holzknecht, Aspirant der Klinik .... 225
(Aus dem allgemeinen öffentlichen Krankenhause in Baden bei Wien.)
Ein Fall von angeborener stenosirender Pylorushypertrophie.
V on Dr. Franz Hansy . 232
Ueber die sogenannte pericarditische Pseudolebercirrhose (Fr. Pick).
Von Dr. Victor Eisenmenger . 249
Hämatokolpos und Hämatometra in Folge von Atresia hymenalis
congenita. Von Dr. E. T o f f , Frauenarzt in Braila (Rumänien) 254
(Aus der chirurgischen Abtheilung des Privatdocenten Dr. Alex.
Fraenkel au der Allgemeinen Poliklinik in Wien.) Zur
Diagnostik der Oesophagusdivertikel. Von Cand. med. Victor
B 1 u m, Hospitanten der Abtheilung .... 256
Ueber Lebercirrhose. Von Privatdocent Dr. Richard Kretz, Pro-
sector am k. k. Kaiser Franz Josef-Spitale in Wien .... 271
(Aus der I. psychiatrischen Universitätsklinik in Wien [Professor
Dr. v. W a g n e r].) Ueber einige Ergebnisse von Blutdruck¬
messungen bei Geisteskranken. Von Dr. Al exan d er P i 1 c z,
klinischem Assistenten . 276
Ein Fall intraabdominaler Netztorsion. Von Prof. Dr. J. II o c h e n
egg . 291
(Aus der n. Wiener medicinischen Klinik [Hofrath Neusse r]).
Ueber die Hämamöben L ö w i t’s im Blute Leukämischer.
IV
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT 1900
Seite
Vorläufige Mittheilung. Von Dr. Wilhelm Tür k, klinischem
Assistenten . 293
(Aus der internen Abtheilung des Stabsarztes Universitätsdocenten
Dr. Alois Pick im k. u. k. Garnisonsspitale Nr. 1 in Wien.)
Zur Semiotik des zweiten Pulmonaltones. (Klinische Studie mit
B e 1 1 e 1 h e i m- Gartner’s Stethophonometer.) Von Dr. Adolf
Hecht . . . . . 294
(Aus der Innsbrucker Universitäts-Frauenklinik.) Zu Alexander’s
inguinaler Verkürzung und Befestigung der runden Mutter¬
bänder bei Rückwärtslagerung des Uterus. Von E. Ehren-
d o r f e r . 315
(Aus dem baeteriologischen Laboratorium der deutschen Universitäts-
Frauenklinik [Vorstand Prof. Sänger zu Prag].) Weitere
Untersuchungen über den Keimgehalt der weiblichen Urethra.
Von Dr. Ferdinand Schenk und Dr. Lothar Auster¬
litz, Assistenten der Klinik . 319
Erwiderung auf Dr. Eisenmenger’» Aufsatz: »Ueber die
sogenannte Pseudolebercirrhose (Fr. Pick)« in Nr. 11
dieser Wochenschrift. Von Dr. Fr i edel Pick, Privatdocent
für innere Medicin in Prag . 324
Ueber die Ilämamöben im Blute Leukämischer. Von Prof. Dr. M.
L ö w i t, Innsbruck . 326
Bemerkungen zu obiger Erwiderung. Von Dr. W. Türk . . . . 227
Jos. Gruber, Nekrolog von Pollak . 327
(Aus der I. psychiatrischen Universitätsklinik von Prof. v. Wagner.)
Ueber Beziehungen der Korsakof f’schen Psychose zur Polio¬
encephalitis acuta haemorrhagica superior. Von Dr. A. Elz¬
holz, I. Assistenten der Klinik . 337
Ein Beitrag zur sogenannten retrograden Incarceration. Von Dr.
Dominik Pupovac, Assistent an der II. chirurgischen
Klinik in Wien . 344
Zum Artikel von Schenk und Austerlitz: »Weitere Unter¬
suchungen über den Keimgehalt der weiblichen Urethra«, diese
Zeitschrift, 1900, pag. 319 ff. Von Dr. Rudolf Savor,
Assistenten der Klinik C h r o b a k . 346
Antwort auf Dr. F. P i c k’s Erwiderung in voriger Nummer. Von
Dr. Victor Eisenmenger . 347
Die Ursache des Geburtseintrittes. Von Dr. Josef Thenen. . . 365
Ueber den Einfluss des Alkohols auf die Ausscheidung der reducirenden
Substanzen im Harne. Von Cand. -med. Adalbert Gregor
in Innsbruck . 370
Ueber die Nachkommenschaft der Hereditärsyphilitischen. Von
Prof. E. Finger . 383, 405, 428
(Aus dem Kronprinz Rudolf- Spitale.) Der Darmkrebs im Kiudesalter.
Von Dr. Zuppinger . 389
Meine Operationserfolge bei Rectuincaiciuom. Von Prof. Julius
Hockenegg (Wien) . 399
(Aus der k. k. chirurgischen Universitätsklinik Hofratli Prof. Nico¬
la d o n i in Graz.) Zur Technik der keilförmigen Osteotomie
der Tibia (Meyer-Schede). Von Dr. L u d w. Luk sch 404
Ueber endemischen und sporadischen Cretinismus und dessen Behand¬
lung. Von Prof. Wagnerv. Ja uregg . 419
(Aus dem Ospedale Civico in Triest. Ein Fall von cerebraler
Kinderlähmung mit wechselständiger Ablucensparalyse. Von Dr.
Eduard Menz . 427
Zur Frage des Bacteriengehaltes der Harnröhre. Replik von Dr.
S c h e n k und Dr. Austerliz, Assistenten der Klinik
Sänger . 485
Bemerkungen zu vorstehender Replik. Von Dr. R u d o 1 f S a v o r . . 435
Creirung von Zahnärzten durch das k. k. Ministerium des Innern.
Von Dr. Rudolf Weiser . 436
Rudolf R, v. Limbeck j. Von Pauli . 439
Ueber eine psychisch bedingte Störung der Defäcation. Von A. Pick,
(Prag) . 449
Ueber die Wiederbelebung in Todesfällen in Folge von Erstickung,
Chloroformvergiftung und elektrischem Schlage. Von Prof.
Dr. J. P r u s, Director des Institutes für allgemeine und
experimentelle Pathologie an der k. k. Universität zu Lem¬
berg . 451, 482
(Aus der chirurgischen Abtheilung des Erzherzogin Sopliien-Spitales
in . Wien.) Beitrag zur Technik der A 1 e x a n d e r’schen
Operation. Vom Abtheilungsvorstande Primaraizt Dr. Guido
v. Török . 458
Der gegenwärtige Stand der Verwundungsfrage im Kriege und die
Wechselbeziehungen derselben zum Sanitätsdienste im Felde.
Von Oberstabsarzt Dr. J. H a b a r t, Privatdocent für Kriegs¬
chirurgie an der Wiener Universität . 473
(Aus dem k. und k. Garnisons-Spitale Nr. 1 in Wien [Abtheilung
für Haut- und Syphiliskranke des Herrn Stabsarztes Dr. A.
T burn w a 1 d] ) Ueber die sogenannte Lues hereditaria tarda,
beobachtet an der bosnisch-hercegovinischen Mannschaft der
Wiener Garnison aus den Jahren 1897, 1898 und 1899. Von
Dr. F. Schuster, k. und k. Oberarzt und Secundarius
obiger Abtheilung . 481
Entgegnung auf O s t w a 1 d’s Bemerkungen zu meinem Vorträge:
»Ueber physikalisch-chemische Methoden und Probleme in der
Medicin « Von Docent Dr. W. Pauli . 487
(Aus der I. medicinischen Klinik in Wien [Hofrath Nothnagel].)
Zur Kenntnis» der agglutinirenden Fähigkeiten des mensch-
t Seite
liehen Blutserums. Von Dr. Julius Donath, Assistent
an der I. medicinischen Klinik . 497
(Aus der III. chirurgischen Abtheilung des k. k. Allgemeinen
Krankenhauses in Wien.) Beitrag zur Casuistik der Chole-
dochotomie und Cholecystenteroanastomose Von Dr. Fritz
P e n d 1, Assistent und zeitweiliger Leiter der Abtheilung . . 498
Notiz über die Marienbader Rudolfs-Quelle. Von Dr. Al. Grimm
(Marienbad) . 501
Zur Erkenntniss der Embolie in der Pulmonalarterie. Von Prof. Dr.
Dräsche, Primararzt des Allgemeinen Krankenhauses in
Wien . 521
(Ans der chirurgischen Abtheilung des bosnisch-hercegovinischen
Landesspitales zu Sarajevo.) Zur operativen Dislocation des
Kropfes nach W ö 1 f 1 e r. Von Dr. Josef Preindls-
berger . 523
(Aus dem Krankenhause in Villach.) Ein Fall von Extrauterin¬
gravidität (geheilt durch Laparotomie). Mitgetheilt von Dr.
Hans Hock . 524
(Aus der k. k. II. psychiatrischen Universitätsklinik des Herrn
Hofrathes R. Freih. v. Krafft-Ebing in Wien. Hedonal,
ein Hypnoticmn der Urethan-Giuppe. Von Dr. Arthur
Schüller, Hospitanten der Klinik . 526
(Aus der Universitäts-Frauenklinik des Herrn Prof. Dr. F r i e d r.
Schauta in Wien.) Agglutinationsversuche mit mütterlichem
und kindlichem Blute. Von Dr. Josef Halban . 545
(Aus der Prosectur der k. k. Krankenanstalt »Rudolf-Stiftung« in
Wien [Prosector Prof. R. Pal tauf].) Zur Kenntniss des
Aktinomycespilzes. Von Dr. Karl Sternberg, Prosecturs-
adjunct . . . 549
(Aus der Prosectur der k. k. Kraukenanstalt »Rudolfstiftung« in
Wien [Prosector Prof. R. P a 1 1 a u f].) Ein anaerober Strepto¬
coccus. Von Dr. Karl Sternberg, Prosectursadjunct . . 551
Ueber das Baden Neugeborener. Von H. Kowarski . 552
(Aus der IV. medicinischen Abtheilung des k. k. Allgemeinen
Krankenhauses in Wien.) Ein Beitrag zur Symptomatologie
der Alterssklerose. Ein bemerkenswerthes Phänomen bei der
Auscultation der Aorta descendens. Von Dr. Friedrich
Fried mann, Secundararzt . 569
(Aus der I. medicinischen Klinik des Herrn Hofrathes Professor
Nothnagel in Wien.) Zum radiographischen Verhalten
pathologischer Processe der Brustaorta. Von Dr. G. Hol z-
k n e c h t, Aspirant der Klinik . 573
Notiz über den Thorax der Metalldrucker. Von Privatdocent Dr.
Maximilian Sternberg, Chefarzt des Verbandes der
Genossenschaftskrankencassen Wiens . 574
(Aus der Heilanstalt Alland.) Einige neue Medicamente in der
Phthiseotherapie. Von Dr. Julius Pollak, Hausarzt der
Heilanstalt . 575
Ueber eine erprobte Trachealcanule. Von R. Gersuny . 593
Zur blutigen Behandlung der Luxatio claviculae acromialis und
der Brüche des Nasenbeines. Von Dr. Kon r a d B ü d i n g e r 595
(Aas der chirurgischen Abtheilung des Prof. Hochenegg an
der Allgemeinen Poliklinik.) Ein Fall von Gallenstein¬
wanderung. Von Robert Porges, Assistent des Professors
Hochenegg . 597
Materialien zu einer Geschichte der Pharaonenmedicin. VI. Aegyp-
tisclie Pneumalehre im Auslande. Von O e f e 1 e . 599
Ueber die Gasteiner Thermen. Von Prof. E. L u d w i g und Dr. T h.
Panzer . 617
Basedow’sche Krankheit mit Myxödemsymptomen. Von Docent Dr.
Josef A. Hirse hl . 623
Ueber Kolikschmerzen. Von Dr. med. Robert Lucke in Altenburg 624
(Aus der I. medicinischen Klinik in Wien [Hofrath Nothnagel].)
Beitrag zur Aetiologie der B a s e d o w’schen Krankheit und
des Thyreoidismus. Von Dr. Robert Breuer, Assi¬
stenten . 641, 671
(Aus der III. medicinischen Universitätsklinik in Wien.) Beitrag
zur Kenntniss der recurrireuden Tetania gravidarum. Von Dr.
C. II ö d 1 m o s e r, klinischem Assistenten . 644
Ueber den Ischler Salzbergschlamm. Von Dr. E. W i e n e r . . . . 646
Bemerkung zum Aufsatze in Nr. 25 dieser Wochenschrift: »G.
Holzknecht, Zum radiographischen Verhalten pathologischer
Processe der Biustaorta«. Von Dr. Maximilian Wein¬
berger, Assistenten an der 111. medicinischen Klinik . . . 648
Gegenbemerkung zu Obigem. Von Dr. G. Holzknech t, Aspi¬
ranten der Klinik Nothnagel . 648
Wilhelm Kühne f. Von Alois Kreidl . 648
(Aus der II. medicinischen Klinik [Hofrath Neusser] in Wien.)
Ein Fall von Abdominaltyphus mit posttyphöser Schilddrüsen¬
vereiterung. Bacteriologisch-hämatologische Betrachtungen. Von
Dr. Anton Schudmak, Aspiranten der II. medicinischen
Klinik, und Dr. J. Ach. V 1 a c. h o s, Hospitanten der n. medi¬
cinischen Klinik . 661
(Aus der I. medicinischen Klinik und dem neurologischen Institute
au der Wiener Universität.) Zur Kenntniss der mit schweren
Anämien verbundenen RückenmarksafiVctionen. Von Dr. Otto
M a r b u r g, Assistenten am neurologischen Institute .... 667
(Aus dem hygienischen Institute der k. k. Universität Innsbruck
[Prof. A. L o d e].) Ueber Glycerin alsConstituens für Antiseptica.
Von Dr. O s k a r v. W unschhei m, Assistenten am Institute 681
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT 1900.
V
(Aus der geburtshilflich-gynäkologischen Klinik des Prof. Ehre n-
dorfer in Innsbruck.) Bericht über 22 Fälle von künstlicher
Unterbrechung der Schwangerschaft. Von Dr. Josef v. Braiten-
b e r g, Assistenten der Klinik .
Ueber Ferropyrin als Häinostaticum. Von Dr. E. Tof f, Frauenarzt in
Braila (Rumänien) .
(Aus der k. k. chirurgischen Klinik des Herrn Hofrathes Prof.
C. N i c o 1 a d o n i in Graz.) Beiträge zur Frage der »totalen
Darmausschaltung«. Von Dr. Erwin Payr, Docent für
Chirurgie und Assistent der Klinik . 707,
Ein Fall von Paraphenylendiaminvergiftung. Von Frauenarzt Dr.
EmilPollak .
Ueber Behandlung der nekrotisirenden Akne mit Meersalzlösung.
Von Dr. Friedrich Luit h len (Wien) .
(Von der Abtheilung für interne Krankheiten des Landesspitales zum
heiligen Lazar in Krakau.) Weitere Fälle von Tetanus trau-
maticus, welche mit subcutanen Injectionen von Gehirnemulsion
behandelt wurden. Von Primararzt Dr. Anton Krokiewicz
Ueber die Therme von Monfalcone. Von Prof. E. Ludwig und
Dr. Th. Panzer .
(Aus dem Spifale der Allgemeinen Poliklinik in Wien.) Zur Lehre
vom pulsirenden Exophthalmus. Von Dr. Romuald K e s c li¬
ma n n, chirurgischem Spitalsassistenten .
(Aus der chirurgischen Universitätsklinik zu Athen [Director Prof.
M a n g h i n a s].) Zur Casuistik der Echinococcusgeschwülste.
Von Docent Dr, D. K o k o r i s, Assistenten der Klinik .
(Aus dem pathologisch-anatomischen Institute in Wien [Hofr. Dr.
A. W eichselbaumj.) Ein Fall von maligner Endocarditis
mit zahlreichen Metastasen. Von Dr. S. Gavala (Athen).
(Aus der Poliklinik des Dr. Gold fl am in Warschau.) Einiges
über Epilepsiebehandlung. Von Dr. MaxBiro .
Pathogenese des Ikterus. Von Prof. Browicz in Krakau ....
(Aus der I. chirurgischen Klinik des Herrn Hofrathes Professor
Albert.) Erfahrungen mit Dr. C. L. Schleie h’s Marmor¬
staubseife. Von Dr. Ernst Fuchsig, Operationszögling .
Ueber Stoffwechselstörungen an magen-darmkranken Säuglingen. Von
Dr. Meinhard Pfaundler (Graz) .
(Aus der Abtheilung des Herrn Prof. Dr. Frühwald an der Wiener
Allgemeinen Poliklinik.) Honthin, ein Darmadstringens, und
seine therapeutische Verwendung in der Kinderheilkunde.
Von Dr. JosefReichelt .
Ueber die Bedeutung des akustischen Sprachcentrums als Hemmungs¬
organ des Sprachmechanismus. Von Prof. A. Pick (Prag)
Der gegenwärtige Stand der Radiotherapie. Von Universitätsdocenten
Dr. E. Schiff und Dr. L. Freund in Wien .
Ueber allgemeine eoncentrische Franklinisation in der ärztlichen
Praxis. Von Prof. Dr. Breitung in Coburg .
Die Aetiologie der primären acuten Magen-Darmerkrankungen der Säug¬
linge bacteriellen Ursprunges. Von Theodor Escherich (Graz)
(Aus der k. k. Universitätsklinik für Kehlkopf- und Nasenkrank¬
heiten [Prof. Chiari] und dem pathologisch-anatomischen Insti¬
tute.) Untersuchungen über den Tonsillotomiebelag und seine
etwaigen Beziehungen zum Diphtheriebacillus. Von Dr. L.
Harm er, Assistenteu obiger Klinik .
Ein Beitrag zur Kenntniss des Scharlachs und der Masern. Von Dr.
Jaroslav Eigart in Brünn, Secundararzt am St. Annen-Spital
(Aus dem staatlichen serotherapeutischen Institute in Wien [Vorstand
Prof. R. Paltauf].) Zur »intravitalen« Neutralrothfärbung
der Leukocyten. Von Dr. Hugo Marcus .
(Aus der III. medicinischen Abtheilung des k. k. Allgemeinen
Krankenhauses in Wien.) Ueber »Acetopyrin«, ein neues Auti-
pyreticum. Von Dr. Josef Winterberg, Assistenten obiger
Abtheilung, und Cand. med. Robert Braun, Hospitanten
derselben Abtheilung . .
(Aus der Klinik Chrobak in Wien.) Ein Fall von Elevatio uteri mit
Lostrennung des Corpus von der Portio vaginalis unter De-
hiscenz der Cervix. Von Privatdocent Dr. H. Ludwig,
Assistent .
(Aus dem Civilspitale von Triest.) Hyperglobulie und Splenomegalie.
Hyperglpbulie und Splenektomie. Von Dr. V. Cominotti . .
Erwiderung zum Aufsatze in Nr. 37 dieser Wochenschrift: E. Schiff
und L. Freund, »Der gegenwärtige Stand der Radiotherapie«.
Von Privatdocenten Dr. Karl Ul 1 mann .
Antwort auf vorstehende Erwiderung. Von Universitätsdocent Dr.
E. Schiff und Dr. L. Freund .
Eduard Albert, gestorben am 25. September 1900. Nekrolog von
Adolf Lorenz .
(Aus dem Kaiser Franz Josef - Ambulatorium in Wien.) Die Be¬
wegungsphänomene in der Mund- und Rachenhöhle bei Insuf-
ficienz der Aortenklappen. Von Docent Dr. Hermann Schle¬
singer .
(Von der Abtheilung 1B [interne Krankheiten] des St. Lazar-
Landesspitales in Krakau.) Zur Behandlung der Lungentuber-
culose mit intravenösen lletolinjectionen nach Länderer. Von
Primarius Dr. Anton Krokiewicz . .
Zur Lehre vom Trachom. Von C. Ziem in Danzig . 925,
Ueber den normalen Grosszehenreflex bei Kindein. Von Fritz
P a s s i n i, Assistenten der Abtheilung des Herrn Prof. Früh¬
wald an der Wiener Allgemeinen Poliklinik .
Seite
Formaldehyddesinfeclion. Von Dr. Basil Kluczenko, k. k. Landes-
Sanitätsreferent in der Bukowina . 933
Die corticalen Sehcentren. Anatomische und experimentelle Unter
suchungen. Von Prof. St. Bernheimer (Innsbruck) . . . 955
(Aus der k. k. neurologisch-psychiatrischen Klinik der Universität Graz
[Prof. Anton].) Eine eigenartige postmortale Cystenbildung im
Centralnervensystem. Von Dr. Fritz Hartmann, klinischem
Assistenten . 963
Beitrag zum Studium der hereditären Syphilis in der zweiten Gene¬
ration. Von Dr. Edmond Fournier, Chef der Facultäts-
klinik für Dermatologie und Syphilis in Paris . 985
(Aus der medicinischen Klinik des Prof. Anton Gl uzinski in
Lemberg.) Ein Beitrag zur Frage der Entstehung einer acuten
Nephritis bei Secundärsyphilis (Nephritis syphilitica praecox).
Von Dr. Abraham Stepler, k. u. k. Regimentsarzt. . . . 989
(Aus der chirurgischen Klinik des Herrn Hofrathes Prof. Güssen-
bauer in Wien.) Ueber Echinococcus der Niere. Von Dr.
Ludwig Stein, emeritirtem Operateur obiger Klinik . . . 993
Dem Andenken E. Alber t’s. Von Prof. Gussenbauer . . . 995
(Aus der III. medicinischen Universitätsklinik.) Zur Diagnose des
latenten Oesopliaguscarcinoms. Von Dr. C. II ö d 1 m o s e r,
klinischem Assistenten . 1007
(Aus Hofrath v. Krafft-Ebing’s Klinik im k. k. Allgemeinen
Krankenhause in Wien.) Ueber einen Fall von posthemiplegi-
schem Intentionstremor. Von Dr. Moriz Infeld, klinischem
Assistenten . . 101 1
(Aus der niederösterreichischen Landes-Irrenanstalt zu Ybbs. Zur
Behandlung der Epilepsie mit Bromipin. Von Dr. Wilhelm
Lorenz, Secundararzt . 1019
(Aus der II. medicinischen Klinik [Hofrath Professor E. Neusser].)
Ueber eine bei Pleuritis und Perihepatitis fibrinosa zu beob¬
achtende Reflexzuckung im Bereiche der Bauchmusculatur
(»respiratorischer Bauchdeckenreflex«). Von Dr. Rudolf
Schmidt, Assistenten an der II. med. Klinik in Wien . . . 1033
Beiträge zur Technik der Darmvereinigung. Von Dr. Hermann
Hinterstoisser, Primararzt in Teschen . 1036
(Aus dem k. k. St. Roclius-Spital in Wien [Primarius Docent Dr.
K. Büdinger]) Zur Casuistik der subcutanen Sehnenrupturen.
Von Dr. L Kirchmayr, Aspirant . 1038
(Aus dem pathologisch-anatomischen Institute in Wien.) Ein weiterer
Beitrag zur Pathologie und Aetiologie der Gangrene foudroy-
ante. Von Dr. Fritz Hitschmann und Dr. Otto Th.
Lindenthal . 1057
Ueber den Verschluss von Defecten am Schädel durch Knochen¬
heteroplastik. Von Dr. Konrad Büdinger . 1067
(Aus dem allgemeinen Krankenbause in Linz [Primarius Dr. Ale¬
xander Brenner],) Zur Casuistik der Darmlipome. Von Dr.
Ferd. Gross, Secundararzt . 1C69
(Aus Hofrath Prof. I. Neumann’s k. k. Universitätsklinik in Wien.)
Zur Frage der Identität des Pemphigus neonatorum und der
Impetigo contagiosa. Von Dr. Rudolf Matzenauer, I. Assi¬
stenten der Klinik . 1077
(Aus der chirurgischen Klinik des Herrn Hofrathes Prof. Gussen¬
bauer in Wien.) Ein Fall von Endocarditis gonorrhoica. Von
Dr. Ludwig Stein, einer. Operateur obiger Klinik .... 1081
Ueber Jodoformwirkung und Jodoformersatz. Von Dr. Alexander
Fraenkel, Privatdocent für Chirurgie in Wien . 1085
Beitrag zur Frage der Radicaloperation heim Uteruskrebs. Von Prof.
E. Wert heim in Wien . 1101
(Aus dem staatlich-serotherapeutisclien Institute in Wien [Vorstand:
Prof. R. Paltauf].) Beiträge zur Fadenreaction. Von Dr.
Philipp Eisenberg, Aspiranten au der II. med. Klinik . , 1105
Ein durch Tizzoni’s Tetanus-Antitoxin geheilter Fall von Tetanus
beim Menschen. Von Dr. Edmund Homa, Secundararzt der
Landes-Krankenanstalt in Brünn . 1108
Zur Meisterkrankencassen-Frage. Von Dr. Ferdinand Steiner . . 1109
Ueber die Behandlung des peptischen Magengeschwüres. Von Prof. Dr.
Anton Gl uzinski (Lemberg) . 1125
Der Blutdruck und seine Beziehung zur Lymphcirculation. Von
Dr. Friedrich Friedmann, Secundararzt der IV. medi¬
cinischen Abtheilung des k. k. Allgemeinen Krankenhauses in
Wien . . 1133
Phlegmone des Processus vermiformis im Gefolge einer Angina
tonsillaris. Von Privatdocent Dr. R. Kretz, Prosector am
k. k. Kaiser Franz Josef-Spitale in Wien . 1137
Eine Bemerkung zu: »Ureterfisteln und Ureterverletzungen« von
Dr. W. Stöckel, Leipzig 1900. Von K. Büdinger .... 1138
L. Ollier f. Von A. Fr . 1139
(Aus dem Röntgen-Institut im Sanatorium Fürth in Wien.) Ueber
die Einwirkung des Röntgen Lichtes auf die Haut. Von Dr.
Robert Kienböck . 1 1 ; > 3
(Aus der eisten chirurgischen Universitätsklinik in Wien [weiland
Hofrath Alber t].) Erfahrungen über die Localanästhesie
nach Schleich. Von Dr. Friedrich v. Friedländer,
Assistenten der Klinik . 1160
Ein aseptisches Bougie zur Einleitung der Frühgeburt. Von Docent Dr.
Ludwig Knapp, Assistenten an der deutschen geburts¬
hilflichen Klinik für Aerzte in Prag1 . 1169
Zur Kenntniss der Unterschiede zwischen der natürlichen und
künstlichen Ernährung des Säuglings. Von Th, Escherich 1183
Seite
685
692
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903
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932
VI
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT 1900.
Seite
(Aus der III. medicinischen Klinik des Herrn Hofrathes Prof. Dr.
v. S c h r ö 1 1 e r.) Beobachtungen an Elektricitätsarbeitern. Von
Dr. S. J e 1 1 i n e k, Aspiranten der K'inik . 1186
(Aus dem chemischen Laboratorium der Krankenanstalt »Rudolf-
stiftung« in Wien.) Hyperchlorhydrie im Säuglingsalter. Von
Dr. Wilhelm Knoepfelmac her . 1 188
Die allgemeine und experimentelle Pathologie im Unterricht und als
Wissenschaft. Von Prof. Rieh. Paltauf . 1190
(Aus der ersten medicinischen Abtheilung des Professors E. v. S t o f-
f e 1 a an der allgemeinen Poliklinik in Wien.) Beiträge zur
Seite
Thomsen’schen Krankheit. Von Dr. Julius Mahler,
Assistenten, und Dr. Rudolf Beck, Aspiranten obiger Ab¬
theilung . 1219
Ein Fall von Milzexstirpation wegen hypertrophischer Wandermilz.
Von Dr. Karl Schwarz, Primararzt im Spitale der Barm¬
herzigen Brüder in Agram . . 1224
Modification des Breisky-Speculum als selbsthaltendes. Von Docent
Dr. Ludwig Knapp (Prag) . 1226
Sachregister.
O. = Originalien. — R. = Referate. — Z. = Aus verschiedenen Zeitschriften — Th. - Therapeutische Notizen. — V. = Vereine.
A.
Aboitus, Ueber den. Von Piering. (R.)
Abscesse, Multiple Gehirn- (V.) .
Abstinenz der Geisteskranken, Die. (R ) .
Accessoriuslähmung, Linksseitige. (V.) .
Acclimatisationsfrage, Zur. (V.) . . . 585,
Acetonausscheidung, Zur. (V.) . . . 544,
Acetonnachweis im Harne. (Z.) .
Acetopyrin, Ueber. Von Dr. Winterberg und
R. Braun. (O.) .
Actol. (Th.) .
Achylia gastrica mit Gasterine, Behandlung der.
(Z;) . .
Acusticus, Facialis und der Augenmuskelnerven,
Gleichzeitige Eikrankung des. (V.) .
Acustische Centrum als Hemmungsotgan des
Sprachmechanismus, Das. Von Prof. Pick.
(0.) • • • • . .
Addison’sehe Krankheit, Ueber. (Z.) 793, (V.)
Adenocarcinome, Ueber. (V.) ......
Aderlass bei Urämie. (Z ) .
Administrative Sitzung der k. k. Gesellschaft
der Aerzte . 169,
Aesthesiometer, Ueber. (Z ) .
Aethylcbloridnarkose, Die Gefahren der. (Z.) .
Agglutination bei Tuberculose. (V.) ....
Agglutinationsversuche mit mütterlichem und
kindlichen Blute. Von Dr. Jos. Halban.
(O ) .
Agglutinationsfähigkeit des menschlichen
Serum«. Von Dr. Donath. (O.) . . . .
Agglutinine, Vererbung der. (Z.) .
Airolpaste (Z.) .
Akne mit Meersalzlösung, Behandlung der
nekrotisirenden. Von Dr. Luithlen. (O.)
Akne und ihre Behandlung, Die. Von Jessner.
. (R.) .
Aktinomyceskolben, Zur Bedeutung der. (Z.)
Aktinomycespilzes, Zur Kenntniss des. Von
Dr. Sternberg (O.) .
Aktinomykose der Brustdrüse. (Z.) . .
Aktinomykose des Blinddarmes. (V.) . .
— des Unterkiefers. (V.) .
Akromegalie, Myxödem und Blutdrüsen¬
erkrankungen. Von Pineies. (R) . . .
Albert, Nekrolog. Von Lorenz .
Albert, Gedenkrede. Von Hofrath Gussen-
bauer .
Alexander’s Operation. Von Prof. Ehrendorfer.
(O.) .
— Operation. Von G. v. Török (0.) . . .
Alkohol als Desinfectionsmittel. (Z.) . . 755,
Alkohols, Die eiweisssparende Wirkung des.
(v.) . • • . : • • •
— auf die reducirenden Substanzen im Harne,
Einfluss des. Von Gregor. (O.) . . . .
Alkoholbehandlung und Tuberculose. (V.)
Alkoholverbände, Ueber. (Z.) .
Alkoholvergiftung und Bewusstseinsstörung.
(Z) .
Alopeciebehandlung, Zur. (V.) .
Also!. (Th.) .
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1177
283
Seite
Amoeba coli. (V.) . 840
Amputationen und Exarticulationen. Von Bier.
(R.) 241
Anämiebehandlung, Zur. (Z.) . 916
Anämie in Folge versteckter Hämorrhoidal¬
blutungen. (Z.) . 18
— im Kindesalter, Perniciöse. (V.) . . . 636
— Die. Von Lazarus. (R.) . 1140
Anastomosen, Intestinale. (V.) . . .891, 892
Anastomosis vesico-rectalis. (V.) . 867
Anatomie, Topographische. Von Prof. Zucker¬
kand!. (R.) . 93
Aneurysmabehandlung, Zur. (V.) . 864
Aneurysma der Aorta ascendens. Von Doctor
Weinberger. (O.) . 183
— der Aorta descendens. (Z.) . 556
— der Arteria brach ialig. Von Dr. Sinnreich.
(O.) . 187
— der Anonyma. (V.) . 268
— der Carotis interna. (V.) .... 357, 913
— der Carotis communis. (Z.) . 1144
— des Herzens im Kindesalter, (Z.) . . . 462
— Traumatisches. (V.) . 588
— und Röntgen-Durchleuchtung. (Z.) . . . 816
Angina und Endocarditis. (Z.) . 558
— pectoris, Ueber (Z.) . 915
Anginen im Kindesalter, Reeidivirende. (V.) . 635
Angiofibrom der Nase. (V.) . 1216
Angiomyolipom der Niere. (V.) . 1232
Ankylostomiasis in Centralamerika. (Z.) . . 1205
Annuli tympanici, Sequestrirung beider. (V.) 1235
Antitussin, Ueber. (Th.) . 19, 980
Aorta abdominalis, Ligatur der. (V.) . . . 868
Aortenerkrankungen. Zur Diagnostik der. (V.) 517
Aphasie, Eine geheilte. (Z.) . 793
— bei erhaltenem musikalischem Gedächtniss.
(Z.) . 816
— Plötzliche. (V.) . 565
— Sensorische. (Z.) . 628
— Transcorticale. (Z.) . 579
Aphatisches Stottern. (Z.) . 167
Aphonie, Hysterische. (V.) 201, (Z.) . . . 776
Apoplektischer Insult der Brücke. (Z.) . . . 580
Appendicitis, Hypertrophische. (V.) .... 890
Appendicitisbehandlung, Zur. (V.) . . 870, 890
Appendicitis, Eine Complication nach der
Operation der. (V.) .... 287, 800, 947
— larvata. (V.) . 946
Appendicite, L’. Von Proca. (R.) . 241
Appendix im Darmwege, Abgang eines. (Z.) . 1173
Applicatorische Uebung im Freien für Militär¬
ärzte. Von Wolff. (R.) . 373
Arbeiten aus dem Institute des Prof. Ober¬
steiner. (R.) . 859
Argentum colloidale bei Scharlach. (Th.) . . 739
Argentamin. (Th.) . 777
Arhythmie, Zur Erklärung der. (V.) . . . . 445
Arsen im thierischen Haushalte. (Z ) . . . 885
Arsen- und Thyreoideapräparate. (Z.) ... 96
Arsennachweis auf biologischem Wege. (Z.) . 16
Arsonvalisation, Ueber. (V.) . 946
Ai thritis deformans, Knochenstructur bei. (V.) 981
Seite
Arthritis deformans bei Kindern. (Z.) . . . 628
Arthropathia tabetica. (V.) . 69
Arzneimittel, Neuere. (V.) . 945
Ascites, Ein milchweisser. (Z.) . 464
Ascitesformen, Ueber pseudochylöse. Von
Dr. Micheli und Dr. Mattirolo. (O.) . . 56
Asepsis bei Operationen. (V.) . 1076
Aspergillose, Ueber. (V.) . 839
Aspirin. (Th.) . 281
Asthmabehandlung, Zur. (Z.) .... 306, 1229
Ataxie beim Menschen und Affen, Centripetale.
(V.) . 1075
Athemleistung, Ueber. (V.) . 889
Atlas der Gynäkologie. Von Schaefer. (R.) . 327
— Verletzungen des. (Z.) . 775
Atresia cervicis. (V.) . ■ . 517
Auge, Durchschnitt durch das. Von Salzmann.
(R.) . 281
Auerenabtheilung: in Olmütz. Jahresbericht der.
(Z.) 330
Augeneiterung der Neugeborenen. (V.) . . 362
Augenkrankheiten, Therapie der. Von Gold¬
zieher. (R.) . 998
Augenerkrankungen, Ekzematöse. Von Bach.
(R.) 577
— Gichtische. Von Hirsch. (R.) . 577
Augenleiden, Die Vererbung von. VonVossius.
(R.) . 577
Augenmuskellähmung, Dissociirte. (V.) . . 359
Auges, Die entzündlichen Verletzungen des.
Von Brandenburg. (R.) . 577
— Die Lepra des. Von Börthen. (R.) . . . 576
— Die Impferkrankungen des. Von Schirmer.
(R.) . 577
Ausathmungsluft, Giftigkeit der. (Z.) . . .1144
Autointoxicationen, Die Behandlung der.
(V.) 542, 864
B.
Bacillen, Virulenz der Coli-, (V.) .... 382
— und Farbstoffbildung. (Z.) . 886
Bacterien, Einfluss des Sonnenlichtes auf. (Z ) 556
Baden Neugeborener, Das. Von Kowarski.
(O.) . 552
Bäder Siebenbürgens, Die. Von Hanko. (R.) . 941
Balkens und des Gewölbes, Die Entwicklung
des. (V.) . 610
Bandwurmmittel, Ist Chlorofotm ein? (Z.) . 463
Bardenheuer’sche Extensionsmethode, Die. (Z.) 1205
Barlow’sche Krankheit. (V.) . 638
Basedowbebandlung, Zur. (Z.) . . 393, 885, 913
Basedow’sche Krankheit mit Myxödem¬
symptomen. Von Dr. Hirschl. (O.) . . 622
Basedow’schenKrankheitunddesThyreoidismus,
Zur Aetiologie der. Von Dr. Breuer.
(O.) . 641, 671
Basedow und Myxödem. (Z.) . 834
Basedow, Ein Fall von. (Z.) . 1072
Batteri patogeni, I. Von Ottolenghi. (R.) . . 528
Bauchdeckenreflex bei Pleuritis. Von Doctor
R. Schmidt. (O.) . 1033
VII
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Seite
Bauchfelles, Schwielige Verdickung des. . . 99
Bauchfelltubei culose, Operativgeheilte. (V) 269, 948
— Ueber. (Z.) . 1095
Beckenformen, Die pathologischen. Von Doctor
Breus und Kolisko. (R.) . 909
Beckenniere, Ein Fall operirter. Von Pro¬
fessor Hochenegg. (0.) . . 4
Belastungslagerung, Zur. (V.) . 660
Bence-Jones’sche Eiweisskörper, Der. (V.) . 544
Besserhören im Lärm, Ueber. Von Breitung.
(R.) 280
Beulenpest in Bombay. Von Albrecht und
Ghon. (R.) . . . . 1071
Bewegungsphänomene im Munde bei Aorten-
insufficienz. Von Dr. H. Schlesinger. (O.) 901
Bibliotheksbericht. (V.) . 309
Biliöses Fieber. (V.) . 894
Biologie, Vorfragen der. Von Albrecht. (R.) . 606
Blasendefecte mit Netz, Deckung der. (Z ) . 628
Blasenektopie, Ein Fall von. (V.) . . 535, 867
Blasennaht beim hohen Steinschnitt. Von
Dr. Lotheissen. (O.) . 203
Blasenspalte, Angeborene. (V.) . 700
Blaublindheit und Schrumpfniere. (Z.) . . . 375
Bleichsuchtbehandlung, Zur. (Z.) . , . . . 817
Blindgeborenen, Sehstrahlung eines. (Z.) . . 696
Blitzschlages, Zur Wirkung des. (Z.) . . . 861
Blutbefunde, Eigentümliche. (V.) .... 413
Blutdruck beim Menschen, Ueber den. (V.) . 98
— bei Geisteskranken. Von Dr. Pilcz. (O.) . 276
— bei Nervenkranken. (V.) . 1147
— und Lymphcirculation. Von Dr. Friedmann.
(O.) . .1133
Blutgerinnung, Ueber. Von Schwalbe. (R.) . 1093
Blutkörperchendegeneration, Die. (Z.) . . . 629
Blutkörperchenzählung, Die. (V.) . 544
Blutschwammes, Zur Behandlung des. (Z.) . 775
Blutstillung, Gelatine zrrr. (Z.) . 531
— Eine neue Art der. (V.) . 780
— ohne Ligatur. (V.) . 541
Bluttransfusionsmethode, Eine neue. (V.) . . 946
Blutuntersuchungen, Klinische. Von Grawitz.
(R.) 1139
Blutveränderung nach Aderlässen. Von Wille¬
brand. (R ) . 1142
Blutvergiftung, Ueber sogenannte. Von G.
Meyer. (R.) . 1228
Blutzusammensetzung bei Anämien. Von
Strauss und Rohnstein. (R.) . 1142
Boerenkriege, Aus dem. Von Matthiolius. (R.) 1093
Bogenampullen, Die (V.) . 512
Borsäure, Die angebliche Giftigkeit der. (Z.) 1073
Bottini’schen Operation, Zur Technik und
Statistik der. (V.) . 537
Bougie zur Einleitung der Frühgeburt, Ein
aseptisches. Von Dr. L. Knapp. (O.) . 1169
Brandstiftungen unter dem Einflüsse des
Alkohols. (Z.) . 944
Breisky-Speculum, Modification des. Von Dr.
L. Knapp. (O.t .... • . 1226
Breslauer Hallenschwimmbad, Das. Von Doctor
Kabierske. (R.) 678
Brom im Thierkörper, Das. (Z.) . 242
Bronchialasthma und seine Behandlung. Von
Goluboff. (R.) . 487
Bruchanlage, Die. (V.) . 288
Bruchpforten durch Silberdrahtnetze, Ver-
schliessung der. (V.) . 539
Bruns’sche Pasta. (Z.) . 1094
Bulbärer Kränkungen bei Tabes, Zur Anatomie
der. (Z.) . 167
Bürsten, Die Sterilisirbarkeit der. (Z.) . . . 628
c.
Calciumcarbid in der Gynäkologie. (Z.) . . 756
Calot’sches Redressement, Heilung einer
Lähmung durch. (V.) ... ... 721
Cancer maladie infectieuse, Le. Von Biosc.
(R.) . ß 28
Capillardruckes, Die Messung des. (V.) . . 512
Caput obstipum. Zur Operation des. (V.) 413, 467
Carcinom des Darmes, Zur Diagnose des. (Z.) 943
Carcinom des Uterus, Zur Behandlung des.
Carcinoma mammae, Beobachtungen über das
(Z.) . 559
Carcinom der Leber, Primäres. (Z.) .... 816
— der Flexur. (V.) . 197
— der Nase. (V.) . 173, 1215
Seite
Carcinom des Oberkiefers. (V.) . 223
— der Wange. (V.) 801
Carcinome, Behandlung inoperabler. (V.) . . 396
— des Cöcums, Zur Diagnose des. (Z.) . . 695
— Zur Statistik der. (V.) . 542
— Zunahme der. (Z.) . 695
Carcinoms, Zur Aetiologie des. (Z.) 1048, (V.) 1231
Cardiale und nervöse Störungen aus gastro¬
intestinaler Ursache. (Z.) . 19
Cardiaverengerungen, Behandlung der. (V.) . 870
Cardioptose, Ueber. (V.) . 865
Carnigen, Ueber. (Th.) . 1 1 1 6
Cascarin. (Th.) . 651
Caseinflocken, Zur Kenntniss der (V.) . . . 100
— Farbenreaction der. Von Leiner. (R.) . . 303
Cephalhämatom, Beiderseitiges. (V.) . . . 722
Cntgutsterilisation, Zur. (Z.) . 818
Centralnervensystems, Bedeutung derUebungen
bei Erkrankungen des. Boykinoff. (R.) . 44
Centralorgane, Bau der nervösen. Von Edinger.
(R.) . 438
Centrifuge, Eine neue. (V.) 224
Cerebrallähmungen, Infantile. (Z.) .... 581
Chemische Zusammensetzungen der Neu¬
geborenen. (V.) 71
Chemie, Grundriss der organischen. Von
Oppenheimer. (R.) 409
— der Eiweisskörper. Von Cohnheim. (R.) . 941
— Physiologische. Von Salkowski. (R.) . . 941
— Physiologische. Von Bottazzi . 942
Chemikers, Zur Praxis des. Von Eisner. (R ) 942
Chirol. (Th.) . 606
Chirurgie, Handbuch der praktischen. Von
Bergmann, Bruns und Mikulicz. (R.) . . 242
— und Operationslehre. Von Krüche. (R.) . 693
Chirurgische Casuistik. (Z.) ...... 755
Cloroformnarkosen, Erfahrungen über. (Z.) . 818
Chlorose unter dem Bilde eines Hirntumors.
(Z.) 1143
Clorosebehandlung mit Eisenklystieren. (Z.) . 17
Chlorotischen, Der Teint der. (V.) .... 800
Cholecystektomie und ihre Resultate. (V.) . 800
Choledochotomie und Cholecystenteroana-
stomose. Von Dr. Pendl. (O.) .... 498
Cholelithiasis, Complicationen der. (Z.) . . . 583
— und Magonerkrankungen. (V.) . . 1004, 1031
Cholin in der Spinalflüssigkeit. (V.) .... 542
Chondromatose des Kniegelenkes. (V.) . . . 443
Chorea, Ueber den pyogenen Ursprung der.
(Z) 629
— Zur Therapie der. (Z.) . 1114
Chromsäurekauterisationen bei Stomatitis
ulcerosa. (Z.) . 1142
Chylothorax, Rechtsseitiger. (Z.) . 95
Citrophen. (Th.) . 281, 980
Clavierspielerkrankheit. (V.) . 541
Cocainisirung des Rückenmarkes. (Z.) 194, 1228,
(V.) . • 779
Cocainvergiftnng, Ein Fall von. (Z.) . . . 559
Coitum, Mors praecox post. (Z.) . 306
Coma, Künstlich hervorgerufenes. (V.) . . . 446
Cöliotomie, Einschränkung der Laparotomie
zu Gunsten der. Von Prof. Schauta. (O.) . 101
— Einschränkung der Laparotomie zu Gunsten
der. Von Dührssen. (R ) . 116
Colitis membranacea und mucosa. (V.) . . . 799
Oompressorium für Tonsillenblntungen. (V.) . 5b9
Concretionen der Uarnwege, Seltenere. Von
Dr. O. Zuckerkandl. (O.) . 8
Conjugata vera und Sternum, Beziehung
zwischen. (Z ) . 816
Conjunctivitis, Eine endemische. (Z.) . . . 464
Conjunctivitis pneumococcica. (Z.) .... 1143
Conträrsexuelle vor Gericht. (Z.) . 979
Cor mobile und Herzdilatation. (Z.) . . 695, 912
Cornu cutaneum (V.) . UM
Corsetbehandlung, Die. (V.) . . . 655
Cortischen Organes, Zur Anatomie des. (V.) 45
Coxa vara. R. von Erdheim. 502, (V.) . . . 540
Craniotomie, Zur Technik der. (V.) .... 802
Creaping disease. (V.) . 637
Cretinismus und dessen Behandlung. Von
Prof. v. Wagner. (O ) . 419
Cricothyreoideus, Ueber den M. (V.) . . . 283
Crises gastriques, Die. (V.) . 76o
Cr urin. (Th.) 411
Cubitus valgus (Z.) . 580
Curärzte, Die sociale Stellung der. (V.) . . 510
Curortehygiene, Zur. (V.) . 448
Cyanose, Ueber. (V.) . 541
Seite
Cystenbildung im Centralnervensystem, Post¬
mortale. Von Dr. Hartmann. (O ) ... 963
Cystitis durch Fremdkörper. (Z) . 1206
Cystodiagnostik bei Meningitis. (Z.) . . . .1115
Cystoskop, Ein neues. *(V.) . 202, 223
Cystoskopie beim Weibe. Von Krönig. (R.) . 1043
D.
Darmausschaltung, Zur Frage der totalen.
Von Dr. Payr. (O.) . 707, 732
Darmchirurgie, Zur. (V.) . 287
Darmerkrankungen im Säuglingsalter, Die
Bacterien als Erreger der. Von Dr. Leiner.
(R.) . 1200
Darmes, Die Bewegungsfähigkeit des. (V.) . 799
Darmknopf, Ein resorbirbarer. (V.) .... 655
Darmlipome, Zur Casuistik der. Von Dr. Gross.
(O.) . 1059
Darmresectionen, Ausgedehnte. (Z.) .... 557
Darmruptur, Subcutane. (V.) . 489
Darmuntersuchungen, Experimentelle. (Z.) . 1073
Darmvereinigung, Zur Technik der. Von
Dr. Hinterstoisser. (O.) . 1037
Darmverschluss an der Duodenalgrenze. (Z.) 1143
Defäcation, Ueber psychisch bedingte Störungen
der. Von A. Pick. (O.) . 449
Delstanche, Charles. (V.) . 312
Demenz und Aphasie. (Z.) . 1072
Demonstrationen, Anatomische. (V.) . . . 1052
— Chirurgische . 368, 37S( 539
— Dermatologische 21, 148, 246, 285, 395,
314, 611, 741, 1233
— Gynäkologische. (V.) . 659
— histologischer Präparate . 702
— Pathologisch-anatomische (V.) . 174
— Wissenschaftliche . 46
— Zahnärztliche . 378
Dermatitis exfoliativa. (V.) . 637
— der Haspl-rinnen. (Z.) . 1094
Dermatologische Vorträge. Von Jessner. (R.)
1094, 1170
Dermatosenbehandlnng mit Thermalquellen.
(V.) . ' . 535
Dermato-histologische Technik. Von Joseph
und Loewenbaeh. (R.) . 281, 773
Dermoid am Boden der Mundhöhle. (V.) . . 69
— des weichen Gaumens. (V.) ...... 590
Desinfection der Hände, Zur. (V.) 290, 609,
653, (Z.) . 836
— Ueber. Von Weyl. (R.) . 1071
Deviation, Conjugirte. (V.) ....... 725
Diabetesbehandlung, Zur. (Th.) . 981
Diabetes, Beobachtungen über. (Z.) .... 979
— bei einem Kinde. (Z.) . 411
— melbtus, Ueber das Wesen des. (Z.) . . 306
— mellitus und Glykämie. (V.) ..... 741
— Milchcur beim. (Z.) . 375
Diabetikerdiät, Das Eiweiss in der. (V.) . . 567
Diätetischen Therapie, Lehrbuch der. Von
Kolisch. (R.) . 165
Dickdarmerweiterung und Hypertrophie. (V.)
635, (Z ) . 1229
Dickdarmtumoren, Behandlung maligner. (V.) 443
Digitaliswirkung, Zur (V.) 566, (Z.) . . . 816
Dionin. (Th.) 20, 756, (Z.) . 996
Diphtherie, Lähmungen nach. (Z.) .... 307
— und Scharlach. (V.) . 947
Diphtherieuntersuchungsstation in Chemuitz,
Mittheilungen der. (Z.) ....... 1173
Diurese, Zur Physiologie und Pharmakologie
der. (Z.) . 265
Divertikel des Colon. (V.) . 655
Dormiol. (Th.) 503, 794, (Z.) . 978
Druckstauung, Ueber. (V.) . 1031
Ductus choledochus, Ein ausserordentlich er¬
weiterter. (Z.) . 629
Diinndarmatresien, Physiologische. (V) . . 121
Dünndarmstenosen, Multiple tuberculöse. Von
Dr. Erdheim. (O.) . 79
Dünndarms, Die Lage des. (V.) . 311
Duotal. Von Dr. Poliak. (O.) . 59
Dupuytren’ sehen Contractor, Zur Operation der
(V ) . 701
Dyspepsie bei constitutionellen Krankheiten.
(Th.) . 19
— Ueber. (V.) . 705
E.
Ebereschenextract als Laxans. (Th.) .... 777
Echinococcus der Lunge. (Z.) . 914
Mil
WIENEK KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1500.
Seile
Echinococcus der Bauchhöhle. (V.) . . 489, 706
— der Milz und Leber. (V.) . 587
— der Niere. Von Dr. Stein . 993
— Multipler. (Z.) . . . * . 738
Echinococcusgeschwülste, Zur Casuistik der.
Von Dr. Kokoris. (O.) . 751
Eier- und Nebeneierstöcke, Die Krankheiten
der. Von Martin. (R.) . 694
Eies, Zur Entwicklung des. (V.) . 656
Eigone. (Z.) . 375
Eingesendet. Klein . 170
— (Gerichtliche Sectionen) . 465
— Hoff . 1049
— Brabec . 1116
— Hitschmann und Lindenthal . 1116
Eisensomatose, Aufnahme der. (Z.) .... 628
Eisenpräparate, Ueber neuere. (V.) .... 964
Eisens bei der Blutbildung, Die Rolle des.
(Z.) . 1230
Eiweissbestandes, Zur Hebung des. (V.) . . 542
Eklampsiebehandlung, Zur. (Th.) . 607
Eklampsie, Zur Pathogenese der. (Z.) . . . 557
Ekzema hyperkeratosique. (Z.) 307
Ekzembehandlung bei Kindern. (V.) ... 23
mit dem faradischen Strome. (Z.) . . . 306
Ekzeme. Ueber. (V.) . 921
Elektricitätsarbeitern, Beobachtur gen an. Von
Dr. S. Jellinek. (0.) . 1186
Elektrischen Ströme auf die Haut, Die Wirkung
der. (V.) . 1210
Elementarkörperchen im Gewebe, Neue. (Z.) . 18
Embolie der Pulmonalarterie. Von Professor
Dräsche. (O.) . 521
Empfindlichkeitsschwankungen. (V.) .... 360
Encephalopathia saturnina. (Z.) . 1205
Endocarditis gonorrhoica. Von Dr. Stein. (0.) 1084
— Die. (V.) . 542, 864
— mit zahlreichen Metastasen. Von Doctor
Gavala. (0.) 767
— ulcerativa (Z.) . 1028
Endometritis chronica. (V.) . 705
Entbindung bei einer Todten. (Z.) .... 393
Enteroptose, Ueber. (V.) .... 170, 198, 219
— Chirurgische Behandlung der (Z.) . . . 1207
— Die Lehre von der. (Z.) . 16
Entfettungseuren, Wasserbeschränkung bei.
(Z.) 582
— Ueber. Von Noorden. (R.) . 626
— Von Kisch. (R ) . 1227
Entgiftung, Ueber. (V.) . 889
Entwicklungshemmungen im Gehirn. (Z.) . . 1046
Enuresis nocturna, Zur Behandlung der. (Th.) 776
Eosinophilen Zellen. Bedeutung der. Von Bett¬
mann. (R.) . 1142
Epicarin. (Th.) . 306, 1096
Epididymitis, Varicose. (V.) . 866
— mit Salicyl, Behandlung der gonorrhoischen
(Z) . 274
Epiglottis, Morphologie der. Von Henke. (R.) 374
Epilepsie und Dementia paralytica. (Z.) . . 628
Epilepsiebehandlung, Zur. (Th.) . 756
— (Z.) . 265, 914, 979
— Zur. Von Dr. Biro. (O.) . . 770
— mit Bi omipin. Von Dr. Lorenz. (O.) . . 1019
Epilepsie und Harsäureausscheidung. (Z.) 695, 979
- der Meerschweinchen. (Z.) 836
Epileptische Wandertrieb, Der. (Z.) ... - 263
Epitheliale Gebilde im Myometrium. Von
Mayer. (R.) . 116
Erblichkeit, Zur. (Z.) 410
Epiphysenlösung beim Femurkopf. (Z.) . . . 1073
Erbrechen kaffeesatzartiger Massen nach Ope¬
rationen. (Z.) . . 243
Erkältung und Abhärtung. (Z.) . 410
Erinnerungsfälschungen. (Z.) . 410
Erklärung von Sölder . 197
— von II. Schlesinger . 198
Ernährung, Eine Versuchsanstalt für. (V.) . 615
— Extrabuccale. (V.) . 741, 742
— Künstliche (V.) 952
— Mechanismus der specifischen. Von Neu¬
burger. (R.) . 815
Erregungszustände, Zur Behandlung der. (Z.) 411
Erschöpfungspsychosen. (Z ) . 582
Erstickung durch einen Schnuller. (Z.) . . 917
Erwerbsfähigkeit nach Verletzungen des Seh¬
organes. Von Ammann. (R.) . 1045
Erwiderung. Ullmann . 886
— Schiff und Freund . 887
Erysipelbehandlung, Zur. (Th.) . 1144
• Seite
Erysipels, Die Contagiosität des. (Z.) . . . 833
Erythrocyten der Katze, Körperchen in den.
(Z.) * . 861
Eselsmilch als Säuglingsnahrung (Z.) . . . 817
Ethmoiditis, Eiterige. (V.) ....... 1032
Eulaetol. (Tb.) . 307
Eupyriu. (Th.) . 1173
Europhen. (Th.) 307
Exophthalmus intermittens. (V.) . 69
— pulsans. (Z.) . 307
— Zur Lehre vom pulsirenden. Von Doctor
Keschmann. (O.) . 747
Extractum filicis maris, Zur Giftwirkung des.
(Z.) . 330
— chinae Nanning. (Z.) 465
Extrauteringravidität mit Intrauteringravidität.
(Z.) 330
— bei Uterus unicornis. (V.) . 518
— Ein Fall von. Von Dr. Hock. (O.) . . . 524
— Ein Fall von. (Z.) . 943
Expectoration durch Hypurgie, Beeinflussung
der. Von Mendel sohn (R.) 754
Explorativoperationen, Weitli der. (V.) . . 870
F.
Facialislähmung, Doppelseitige. (Z.) . . . 558
— Vasomotorische und sensible Störungen
nach. Von Dr. Biehl. (O.) ...... 131
Fäcesgährung bei Säuglingen. Von Callomon.
(R.) . 303
Fadenreaction, Beitrag zur. Von Dr. Eisen¬
berg. (0.) . 1105
Favismo. (Z.) . 217
Favus, Allgemeiner. (Z.) 1229
Faradisationselekti öden, Neue. (V.) .... 202
Felddiensttabellen. Von Wolff. (R.) .... 1094
Ferratogen. (Th.) . 606
Ferropyrin, Ueber. Von Dr. Toff. (O.) . . . 692
Fersan. Von Dr. Pollak. (0.) . 575
— (Th.) . 777, 1173
Fettembolie, Zur. (Z.) . 1172
Fettleibigkeit, Balneoiherapie der. (V.) . . 416
— Behandlung der. (V.) . 447
Fettsucht, Die. Von Noorden. (R.) .... 626
Fett und Magenfunction. (V.) . 765
Fibrolipom im retroperitonealen Beckenbinde¬
gewebe. (Z.) . 1172
Fibula, Defect der. (V.) . 656
Fieber, Das gelbe. (Z.) . 1095
— Intermittirendes. (V.) 838
Fieberzustände unklaren Ursprunges. (V.) . . 591
Filaria nocturna, Infectionsmodus bei. (Z.) . 1143
Fingerlutschen und Onanie. (Z.) . 558
Finger, Ueberzählige. (V.) . 1209
Finsen’sche Lichtbehandlung des Lupus. (V.) 562
Firniss für die Hand,, Ein. (Z.) . 833
Fissura sterni. (V.) . 700
Fistula auris congenita. (V.) . 313
Fleischreste im Stuhle, Bedeutung der. (Z.) . 530
Fleisches für die Krankeneruährung, Die
Unterscheidung des weissen und dunklen.
(Z.) . 265
Fleischsaft Puro. (Tb.) . 454
Fleischvergiftung, Ueber. (V.) . 1181
Fliegenlarven als menschliche Parasiten. Von
Peiper. (R.) 885, (Z.) . 913
Flexur Ileumanastomose. (Z.) . 1144
Foie, Chirurgie der. Von Pantaloni. (R.) . . 241
Folliculitis der Kopfhaut. (Th.) . 794
Formaldebyddesinfection. Von Dr. Kluczenko.
(0.) •... . .933
Formaldehyd, Desinfection mit (Z.) .... 17
Formalinalkohol gegen Naehtschweisse. (Th.) 19
Formalinanwendung, Zur. (Th.) . 1173
Formalinwirkung, Zur. (Z.) . 531
Fortoin. (Th.) . 509
Fracturbehandlung und Röntgenograpbie.
(V.) . 841, 842
Fractur des Ober- und Unterschenkels, Be¬
handlung der gleichzeitigen. (V.) . . . 286
— des Tuberculum majus humeri. (V.) . . 541
— des Unterschenkels, Offene. (V.) .... 587
— der Gesichtsknochen. (V.) . 801
Fracturenbefunde, Iläthselhafte. (Z.) . . . 834
Framboesia syphylitica. (V.) . 335
Franklinsation, Concentrische. Von Doctor
Breitung. (O.) . 829
Frau als Mutter, Die. Von H. Meyer. (R.) . 1042
Frauenkrankheiten, Die. Von Fritsch. (R.) . 694
Seite
Frauenpraxis, Hundert Fälle aus der. Von
Auvard. (R.) . 327
Fremdkörper in den Athmungswegen (Z.) . 1142
— constatirt durch das Röntgen-Verfahren.
(V.) . 441
— im Dünndarm. (Z.) . 1171
— im Oesophagus. Von Bayer. (R.) . . . 554
— im Rectum (Z.) . 1072
— in einem Bronchus. (Z.) . 559
— in der Luftröhre. (Z.) . 630
— in den Verdauungswegen. (Z.) .... 912
Fremdkörpers in der Bauchhöhle, Zurück-
lassuug eines. Von Neugebauer. (R.) . . 1042
Fruchtabtreibungen durch Gifte. Von Lesvin
und Brenning. (R ) . 141
Frühgeborener Kinder, Behandlung. (V.) . . 638
Fussdeformitäten, Sehnenplastik bei. (V.) . . 983
G.
Galle eines Tetanikers, Antitoxische Eigen¬
schaften. der (Z.) . 330
Keimgehalt der normalen. (Z ) .... 1173
— Lyssavirus schädigende Eigenschaften V Hat
die. (Z.) . 1172
Gallenblase, krampferregende Wirkung der (V.) 544
— Exstirpation der. (V.) . 1209
Gallenfarbstoff im Harne Herzkranker. (Z.) . 1113
Gallenfieber, Intermittirendes. (V.) .... 1148
Gallensteinkrankheit und ihre Behandlung.
Von J. Müller. (R.) . 1228
Gallensteinoperationen, Recidiven nach. (V.) . 537
Gallensteinwanderung, Ein Fall von. Von
Dr. Porges. (O.) . 597
Galle auf das Herz, Wirkung der. (Z.) . . 816
— Pathologische Veränderungen der. (V.) . 889
Galvanischer Ströme, Langdauernde Anwen¬
dung. (Z.) . 18
Ganglienzellen, zur Pathologie der. (Z ) . . 943
Gangrän der Handhaut. (V.) . 23
— der unteren Extremitäten. (V.) .... 540
— Ueber symmetrische. (Z ) . 917
Gangrene foudroyante. Von Hitschmann und
Lindenthal. (O.) . 1057
— foudroyante. Von Hitschmann und Linden¬
thal. (R.) 528, (Z.) 835, (Erwiderung) . . 1016
Gasteiner Thermen, Die. Von Prof. E. Ludwig
und Dr. Panzer. (O.) . 617
Gastritis, Complicationen der chronischen. (Z.) 835
Gastroenterostomie, Vereinfachung der. (V.) . 536
— lndicationen und Resultate der. (V.) . . 766
Gastroenterostomien, Drei. (Z.) . 463
— Darmverschlingung nach. (V.) .... 536
Gastroenterostomosis externa. (Z.) . . . . 718
Gastrostomie, La. Von Braquehaye. (R.) . . 241
— Ueber. (V.) . 46
— Zur Technik der. Von Dr. Lucke. (O ) . 83
— Zur. (V.) . 654
Geburtseintrittes, Die Ursache des. Von Dr.
Thenen. (O.) . 365
Geburtshilfe, Encyklopädie der. Von Sänger
und Herff. (R.) . 1042
Geburtshilflichen Diagnostik, Atlas der. Von
Schaeffer. (R.) . 327
Geburtshilfliche Propädeutik. Von Knapp. (R.) 115
Gefässe, Erkrankungen der. Von L. v. Schrötter.
(R) . 164
Gefässerkrankung bei Neuritis, Trophische.
(Z.) 17
GefässDaht, Circuläre. (V.) 124, 248, 270, 286, 540
Gefässuntei bindung, Zur. (V.) . 1576
Gehirnabscesse, Ueber. (Z.) . 916
Gehirnentwicklung, Abnormale. (Z.) .... 166
Gehirnerkrankungen nach Trauma. (Z.) . . 1572
Gehirn, Localisation der psychischen Thätig-
keiten im. Von Holländer. (R.) .... 438
Gehörmessungen, Bezeichnung von. (V.) . . 822
Gehörorganes, Zur Anatomie und Physiologie
des. Von Panse. (R.) . 554
Gehverbände, Ueber. (V.) . 260
Geisteskranker in die Irrenanstalt, Ueber-
weisung. Von Hoche. (R.) . 1025
— Todesursachen. (Z.) . 980
Geisteskrankheiten zu werthen ? Wie sind. Von
Arndt. (R.) . 831
Geistesstörungen im Gi eisenalter. Von Schloss.
(R ) . 831
Gelatinebehandlung bei Hämaturie. (Th.) . . 656
bei Aneurysmen. (Z.) . 774
Gelatinebehandlung, Nachtheile der. (Z.) . . 1171
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
IX
Seite
Gelbsucht, Familien-. (Z.) . 943
Gelenksergüsse mit lieisser Luft behandelt. (Z.) 775
Gelenksmäuse. Operirte. (V.) ...... 587
Gelenksoperationen, Zur Technik der. (V.) . 413
Gelenksrheumatismus, Behandlung des. (V.) 725
(Z.) . 817
— Chronischer. (V.) . 706
Geosol. (Th.) . - . 465
Gerinnungshemmung, Ueber. (V.) .... 1148
Geruch aus dem Munde, Uebler. (Z.) . . . 629
Geschlechtliche Frühreife. (Z ) . 1230
Geschlechtsorgane, Krankheiten der weiblichen.
Von E. Fraenkel. (R.) . 1043
Geschmacks- und Geruchsstörungen. (Z.) . . 1207
Geschwür am Boden der Nasenhöhle. (Z ) . . 718
Gesichtsschleier als Ursache der Nasenröthe.
(Z.) . 166
Gesundheitsverhältnisse der Aerzte etc. (Z.) . 1116
Gewicht und Längenwachsthum der Kinder.
(V.) . 71
Gichtische Erkrankungen des Magens und
Darmes. (V.) . 446
Gicht und Myositis. (Z.) . 836
— Zur Behandlung der. (Z.) . 861
— Zur Pathogenese der. (V.) . 839
Gifte, Wirkung der Organe auf. (Z.) . . . 917
Glasbläsermund, Der. (Z.) • . 557
Glaukomatöse Sehnervenatrophie. (V.) . . . 469
Gliazellen in der Molecularschichte des Gross¬
hirns. (V.) . 565
Glycerin als Constituens für Antiseptica. Von
Dr. v. Wunschheim. (O.) . 681
Glykosurie der Vaganten. (Z.) . 629
— Ueber alimentäre. Von Dr. Raimaun. (O.) 175
Golddraht als Nahtmaterial. (Z.) . 776
Gonococcen im Genitale ohne klinische Er¬
scheinungen. (Z.) . 167
Gonorrhoetherapie, Zur. (Z.) . 739
Gonorrhoische Nervenerkrankungen. (V.) . . 919
Granulom der Trachea. (V.) . 1217
Greisenalter, Veränderung geistiger Vorgänge
im. (Z.) . . . . • . 979
Grosszehenreflex bei Kindern. Von Passini.
• (0.) 932
Gruber Josef. Nekrolog . 327, 1234
Guajasanol. (Th.) . 143
Guberquellen, Die. (V.) . . 447
Gutachten der medicinischen Facultät in Wien.
Todschlag. Von Prof. v. Wagner. (0.) . 134
Gynäkologie, Atlas der. Von Schaeffer. (R.) . 327
— Handbuch der. Von Veit. (R ) .... 327
Gynatresia cervico-vaginalis. (V.) .... 612
H.
Haematogeuum siccum. (Th.) .
Haematokele retrouterina. (V.) .
Haematokolpos und Haematometra in Folge
von Atresia hymenalis. Von Dr. Toff. (0.)
Hallux valgus, Angeborener. (V.) . .
Halskiemenfistel, Eine. (Z.) .
Halslymphome, Zur Aeliologie der. (Z.)
Hämamöbenfrage, Zur. (V.) .
Hämamöben Löwit’s im Blute Leukämischer
Die. Von Dr. Türk. (0.) .
— Löwit’s im Blute Leukämischer, Die. Von
Prof. Löwit. (O.) . • .
— Löwit’s, Die. Erwiderung. Von Dr. Türk
(O.) .
Hämatommole. (V.) .
Hämatom, Veränderung der Gehirnrinde durch
ein. (Z.) . . . . .
Hämatozoen, Ueber. (V.) .
Hämolysine und Antihämolysine. Von Di
Kraus. (0.) . .
Hämoptoe, Michklystiere bei. (Th.) .
Hämorrhoidenbehandlung, Die. (Z.) .
Hämorrhoiden bei einem Säugling. (Z.)
Handbuch der praktischen Medicin. Von Eb
stein und Schwalbe. (R ) .
Hände und Füsse, Angeborener Defect der
(V.) . . .
Hanseatische Versicherungsgesellschaft, Hand
habung des Heilverfahrens durch die. Von
Predöhl. (R.) .
Harnabsonderung und Nervensystem. (Z.)
Harnblasenexstirpation, Totale. (Z.) .
Harnblasenpapillome, Ein Fall von. (V.) .
Harnblasenplastik, Ueber. (Z.) ....
311
173
254
587
1171
463
472
293
326
327
267
1073
819
49
793
329
559
459
656
260
738
530
283
817
Seite
Harnblase. Die Erkrankungen der. Von 0.
Zuckerkandl. (R.) . 14
Harncylinder, Zur Abstammung der. Von Dr.
v. Czyhlarz. (0.) . 2
Harnorgane, Krankheiten der männlichen. Von
M. Friedländer. (R.) . 1171
Harnröhrenkrebs, Geheilter. (Z.) . 1000
Harnsäure, Das Verhalten der. (V.) .... 643
Harnsäurebestimmung, Zur cpiantitativen. (V.) 490
Harnsteinen, Einschlüsse in. (V.) . 615
Harn- und Blutuntersuchung, Zur. (V.) . . 543
Harnuntersuchungen. Von Beier. (R.) . . . 941
Harnwege, Geschwülste der. (V.) .... 631
Hautanästhesien am Kopfe, Der ßegrenzungs-
typus bei. (Z.) . 264
Haut, Durchgängigkeit der. (Z.) . 696
Hautkrankheiten, Atlas der. Von Kaposi. (R.) 14
— Pathologie und Therapie der. Von Kaposi.
(R-) • • . . ; • 14
Hautkrankheiten und Syphilis, Compendium
der. Von Jessner. (R.) . 1170
Hautnaht mit Wundagraffen. (V.) .... 780
Hautsapropbyten, Paraformcollodium bei. (Th.) 739
Hedonal. Von Dr. Schüller. (0.) 256, (Th.) 607,
(V.) . .723
Heidelbeerextract bei colitischen Processen.
(Th.) . 281
Heilgehilfen und Masseure, Lehrbuch für. Von
Granier. (R.) . 117
Heilkunde, Ein Museum für. (V.) .... 654
Heilserums, Grenzen der Wirksamkeit des
Diphtherie-. Von Dönitz. (R.) . 528
Heilstättenbehandlung, Die Erfolge der. Von
Reiche. (R.) . 260
Heissluftbehaudlung (Th.) . 282, 1027
Hermaphroditismus spurius masculinus inter¬
nus. (V.) . 592
Hernia, Operations on 459 cases of. Von
Bloodgood. (R.) . 93
— obturatoria, E ne. (V.) . 539
Hernienbehandlung. (V.) .... 867, 870, 1172
Heroin. (0.) 61, (Th.) . 281
— und Athmung. (Z.) . 95
Herpes labialis, Der diagnostische Werth des.
(Z.) . 861
— und InfectionskrankheiteD. (V.) .... 838
Herzarbythmie. (V.) 865
Herzbeutel, Lage d>r Ergüsse im. (Z.) . . . 978
Herzens, Stereoskopischer Atlas des. Von
Schmotl. (R.) . 605
— Volumschwankungen des. (V.) .... 219
— Zur Beweglichkeit des. (Z.) . 651
— Zur Freih gung des. (Z ) . 558
Herzen, Todtenstarie am. (Z.) . 559
Herzfehler und Schwangerschaft. (V ) . . . 658
Herzgrenzenbestimmung. (V.) . 542
Herzkrankheiten. Von Broadbent. (R.) '. . . 650
— functionelle. (V.) . 946
Herznaht, Ueber. (V.) . 870
Herztöne, Messung der Stäike der. (Z ) . . 738
Herzuntersuchung, Ueber, (V.) . 947
Heteroplastische Erfahrungen. (V.) .... 656
Heilbehandlung, Ueber. (Th.) . 607
— der Lungentuberculose. Von Krokiewicz.
(0.) . 902
Histologie, Atlas der pathologischen. Von
Dürck. (R.) . 215
— Lehrbuch der. Von Szymonowicz. (R.) . 374
— Cursus der pathologischen. Von Aschoff
und Gaylord. (R.) . 1111
Hitzschlag, Aderlass bei. (Z.) . 1171
Hoden, Ueberzähliger. (Z.) . 1000
Holocain. (Th.) . 375
Honthin, ein Darmadstringens. Von Dr. Reichelt.
(O.) . 813
Hornhaut, Die Durchblutung der. Von Römer.
(R.) . 577
Hospitalbrandes, Zur Aetiologie des. (V.) . . 467
Hüftverrenkung, Beckenveränderung nach. (V.) 286
Hüftgelenksverrenkung, Behandlung der. (V.) 924
Humerusfracturen. Verletzungen des N. radialis
bei. (Z.). . 18
Hundswuth, Die Ganglien hei. (Z.) .... 916
Hydatiden der Leber. (V.) . 800
Hydronephrosenbehandlung, Zur. (V.) . . . 537
Hydrotherapie für Studirende, Lehrbuch der.
Von Matthes. (R.) . 998
— Lehrbuch der. Von Buxbaum. (R.) . . . 998
Hygiama. (Th.) . 143
Hygiene, Lehrbuch der. Von Kühner. (R.) . 66
Hygienische Anordnungen für die Landungs¬
truppen in China. (Z.)
Hyperchlorhydrie im Säuglingsalter. Von W
Knoepfelmacher. (0.) . .
Hyperemesis gravidarum. Von Graefe. (R.)
Hyperglobulie und Splenomegalie. Von Dr
Cominotti. (O.)
174,
ac.
der.
Hypospadie, Ein operirter Fall von. (V.)
Hysterie, Lähmungen bei. (V.)
— Selbstbeschädigung bei. (Z.)
— Zwei Fälle von. (Z.) .
Hysterische Arthralgie. (V.) ....
— Taubheit. (Z.) .
Hysterischer Schwindel nach Radicaloperation
(V.) .
Ichthalbin in der Kinderheilkunde. (Z.) 19,
(Th.) .
Ichthargan. (Th.) .
Ichthoform. (Th.) .
Ichthyol. (Tb.) . 19,
Igazol. (Th.) 6C6, (Z.) .
Ikterus und Splenomegalie. Chronischer. (V.)
— Eine besondere Form des chronischen. (Z.)
— ohne Gallenpigmente. (Z.) .
— Pathogenese des. Von Prof, ßrowicz. (O.)
Ileus. (V.) . 700,
Ilidze bei Erkrankung der weiblichen Sexual¬
organe, Die Therme von. (V.)
— und seine Heilfactoren. (V.)
Imbeciller, Zur Beurtheilung. (Z.)
Immunserum gegen Epithel. (Z.)
Immunität, Ueber. (V.) .
Immunisirung bei erblichen Krankheiten. Von
Reibmayr. (R.) .
Impetigo vulgaris und circinata. (V.)
— contagiosa circinata. (V.)
Impfschutzes der Pocken, Dauer des. (Z.)
Impotenz, Zur Therapie der. (Z.)
Incarceration, Retrograde. Von Dr. Pupov
(0.) .
Incontinentia urinae, Zur Behandlung
(Th.) .
Inesti ossei. Von Pascale. (R.) . .
Infectionen bei Kindern, Secundäre. (V.)
Infection der adenoiden Vegetationen. (V.)
— Ueber. (Z.) .
— Zur Vorbeugung einer. (V.) . . .
Inficirter Wunden, Behandlung. (V.)
Influenza, Blutungen bei. (Z.) ....
— und chronische Herzkrankheiten. (V.)
— Zur Pathologie der. (Z.) ....
Infusionslösungen, Neue. (V.) ....
Initialsklerose am Augenlide. (V.)
Inguinalhernien, Radicaloperation der. (V.)
Insufficienz des Herzens. Von Jürgensen. (R.)
Intentionstremor, Posthemiplegischer. Von
Dr. Infeld. (0.) .
Intestinum accessorium, Ein. (Z.) . . . .
Intubation in der Privatpraxis. (V.) . . 634,
Irrenbehandlung, Ueber. (V.) .... 746,
Irreseins, Mischzustände des. Von Weigandt.
(R-) • • • . .
Irrenpflege, Familiäre. (R.) .
Irresein, Periodisches. (V.) .
Irritable bladder. (V.) .
Ischiasbehandlung mit Methylenblau. (Z.) .
Ischiasbehandlung mit Sa'zsäure. (Th.) .
Ischias, Zur Therapie der. (Z.) . . . . .
— durch den Biss einer Viper, Heilung einer.
(Z.) . .• • •
— Zur Begutachtung der gewerbebeeinträch¬
tigenden Folgen der. Von. Ehret. (R.)
Ischler Salzbergschlamm, Der. Von Doctor
Wiener. (0.) .
J.
Jackson-Fälle, Sensible. (Z.) .
Jahrhundertwende, Zur. Von A. F. (O.)
Jaus, Professor. Von Dr. v. Töply. (0 )
Jodalbacid. (Th.) .
Jodipin. (Th.) . 19
Jodoforms, Zu den Wirkungen des. Von Gros
(ß.) .
Jodreaction und bacteriologische Diagnostik
(V.) . .
Jodsaures Natron. (Th.) .
Jodoformwii kung und Jodofoi inersatz. Von
Dr. A. Fraenkel. (0.) ....
Seite
755
1188
1043
881
1152
543
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651
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1175
652
1085
X
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Seite
Seite
K.
Kali, Vergiftung mit übermangansaurem. (Z.) 265
Kapselverengerung bei Gelenksaffectionen. (V.) 977
Kartoffeln, Erkrankungen nach solaninhältigen.
(Z.) 393
Kataplasmen bei gonorrhoischer Arthritis.
(Th.) . 793
Katatonie nach Kopfverletzungen. (Z.) . . . 978
Katarakt, Beiderseitige sklerotisirende. (V.) . 45
Kehlkopfkrankheiten, Zur Diagnose der. Von
Kayser. (R.) 1112
Kehlkopfkrebses, Zur Diagnose des. (V.) . . 1032
Kehlkopfschleimhaut, Regeneration der. (V.) . 631
Kehlkopfstenose und Knorpelübertragung. (V.) 443
Keilbeintuberculose. (V.) 590
Keimfreie Milch. (Z.) . 307
Keuchhustenkranker, Verschicken. (V.) . . 448
Keuchhusfenbehandlung, Zur. (V.) .... 518
— mit Bromoform. (Z.) . 581
Keuchhustens, Zur Aetiologie des. (Z.) . . .1172
Kieferdeformitäten, Behandlung der. (V.) . . 1099
Kiefergelenk, Eiterungen am. (V.) .... 1076
Kindbett, Die Sterblichkeit im. Von Eblers.
(R.) . 694
Kinderheilkunde in Einzeldarstellungen. Von
Monti. (R.) . 259
— Lehrbuch der. Von Bendix. (R.) .... 259
Kinderlähmung mit Abducensparalyse. Von
Dr. Menz. (O.) 427
— Cerebrale. (V.) . - . . 945
— Spinale. (V.) . 563
Kindermilch . 639
Kinderstillen, Die Unfähigkeit der Frauen
zum. Von Bunge. (R.) . 1141
Kindeslagen, Zur Benennung der. (V.) . . . 363
Klcinhirnabscesses, Zur Diagnose des. Von
Okada. (R.) . 999
Kleinhirnerkraukungen, Symptomatologie der.
Von Adler. (R.) . 43
Kleinhirntumoren, Zwei Fälle von. (Z.) . . 916
Klima des österreichischen Küstenlandes. (V.) 519
Klimakterischen Wallungen, Heisse Bäder
bei. (Th.) . 607
Klimakterium, Blutungen im. (Z.) .... 557
Klumpfussbehandlung, Zur. (V.) . 1031
— Die moderne. Von Iloffa. (R.) 94, (V.) . 656
Knabengeburten, Der Ueberschuss an. (Z.) . 1048
Kniescheibenoperationen, Ueber. (V.) . . . 654
Kniegelenksleiden, Ein eigenthümliches. (V.) 219
Knochen, Stossfestigkeit der. (V.) .... 268
Knochenheteroplastik, Ueber. Von Dr. Bü-
dinger. (O.) . 1067
Knochenbrüche, Form der. (V.) . 541
— Zur Behandlung der. (V.) . 1210
Knochennaht, Zur. (V.) . 866
Knochenstructur, Ueber. (V.) . 286
Knochentransplanta*ion, Zur. (V.) .... 948
Knochenwachsthum und Phosphor. (V.) . . 443
Knoll Philipp. Nekrolog . . . 139
Kohlenoxydgasvergiftung, Gehirnerweichung
bei. (Z.) . i . 861
Kohlenoxydgasvergiftung und Hautgangrän.
(V.) . 395
Koelliker’s Handbuch der Gewebelehre. Bd. in.
Von Ebner. (R.) . 192
Kohlensäureausscheidung in kalten Bädern.
(V.) . 172
Kohlensäurehältiger Bäder, Wirkung. (Z.) . . 142
Kolikschmerzen, Ueber. Von Dr. Lucke. (O.) 624
Kolobom des Oberlides. (V.) . 173
Kolpochiasmerhaphie, Die. (V.) . 364
Kochsalzinfusionen, Ueber. (Z.) . 1144
Korsakoff’sche Psychose und Polioencephalitis.
Von Dr. Elzholz. (O.) . 337
Korsakoff bei Hirntumor. (Z.) . 216 j
Kothtumor, Ein Fall von. (Z.) . 1206 I
Krämpfe im Kindesalter. (V.) . 398
Krankenhauses, Zum Neubaue des Wiener.
Von Primai ius Schopf. (O.) . 12
Krankenhausfrage, Zur. (0.) Von A. F. . . 163
Krankenpflege, Die Geschichte der. Von
Bloch. (R) . 754
— Anleitung zur. Von Aufrecht. (R.) . . . 117
Krankenpflegerinnen, Monatsbuch für. Von
Zagory. (R.) . 117
Krankenversorgung. Handbuch der, Von Liebe.
(R.) 212
Krankheiten der warmen Länder. Von Scheube.
(R.) . 1093
Krebsfrage, Zur. Von Dr. Pichler. (R.) . . 89
Krebs des Darmes im Kindesalter. Von
Dr. Zuppinger. (0.) . 389
Krebsbehandlung, Die chirurgische. (V.) . . 766
— mit Serum. (Z.) . 1228
Krebserkrankungen, Die Zunahme der. (Z.) 979
Krebses, Zur parasitischen Natur des. (Z.) . 1113
Kropfcyste, Eine. (V.) . 1148
Kropfes, Zur operativen Dislocation des. Von
Dr. Preindlsberger. (0.) . 523
Kropfoperationen in Heidelberg. (Z.) ... 16
Kropftherapie, Zur. (V.) . 654
Kryofin. (Th.) . 282, 375
Kühne Wilhelm -j*. Von A. Kreidl. (0.) . . 648
Kurzsichtigkeit, Die operative Behandlung der.
Von Hübner. (R.) . 577
— Die Heilbarkeit der. Von Jonas. (R.) . . 1044
Kystoskop, Ein neues. Von Dr. Scliliffka. (0.) 11
Xi.
Labyrinthes, Nekrose des. (V.) . 1236
Labferment im Magensaft, Ueber das. (V). . 765
Labyrinth, Hören ohne Labyrinth. Von Kamm.
(R.) . . . 280
Lähmung, Ein Fall postdiphtheritischer. Von
Kraus. (R.) . 303
— Traumatische, periodische. Von Dr. Donath.
(O.) . 37
Landkartenzunge im Kindesalter, Die. Von
Böhm. (R.) . 259
Landry’schen Paralyse, Zur Klinik der. Von
Dr. Kapper. (0.) . 153
— Paralyse, Zur Klinik der. (V.) .... 636
Laryngotyphus, Ueber. (V.) . 839
Larynxtuberculose, Drei Fälle von. (V.) . . 122
Lateralsklerose, Amyotrophische. (V.) ... 98
Lebensversicherung und Kehlkopftuberculose.
Von Kafemann. (R.) . 1111
Leber, Blutstillung in der. (V.) ..... 801
Leberabscesse, Zur Behandlung der, (V.) . . 800
Leberearcinom, Primäres. (Z.) . 776
Lebtrcirrhose, Ueber. Von Dr. Kretz. (O.) . . 271
Leistenbrüche, Intraparietale. (Z.) .... 1000
— Zur Operation der. (Z.) . 1027
— und ihre Heilung. (Z.) . 1094
Leitungsbahnen des Gehirns. Von Glaessner.
(R ) . . . 737
Leprabacillen im Körper, Verbreitung der. (V.) 173
Leprabehandlung, Zur. (Z.) . 1230
Lepra in England, Ein Fall von. (Z.) . . . 411
— des Auges. Von Börthen. (R.) . 576
— maculosa. (V.) . 1051
Leukocyten auf Guajak, Reaction der. (Z.) . 531
— bei Infectionen, Verhalten der. (V.) . . 840
Leukoderma nach Psoriasis. (V.) . 22
Lichen ruber planus. (V.) . 1150
Lichtwärmestrahlen, Zur Wirkung der. . .1141
Lichtwii kungen auf die Haut. (V.) .... 534
Lidgangrän. Von Römer. (R.) . 577
Ligamentum latum, Die gestielten Anhänge
des. Von Rossa. (R.) . 116
Lignosulfit bei Tuberculose. (Th.) . 1173
Limbeck. Nekrolog. Von Pauli . 439
Lipoma arborescens. (V.) . 587
Liquor cerebrospinalis, Profuser Ausfluss von.
(Z.) . . 118
Lithiase renale. (V.) . . 616
Lithiasis und Trinkwasser. (V.) . 520
Lithokelyphos, Ein. (V.) . 1231
Localanästhesie nach Schleich. Von Dr. Fried¬
länder. (0.) . 1166
Lösliche Kindernahrung, Theiuhardt’s. (Th.) , 143
Lues hereditaria tarda bei der bosnisch-herce-
govinischen Mannschaft. Von Dr. Schuster.
(O.) . 480
— und Epilepsie. (Z.) . 1073
Luft, Wirkung der comprimirten. (Z.) . . . 1027
Luftdruckschwankungen, Der krankmachende
Einfluss der Von Lahmann. (R.) . . . 605
Luftembolie bei Placenta praevia. Von Dr.
Hübl. (0.) . 111
Lumbalpunction, Die Gefahren der. (Z ) . . 833
Lungenblutungeu und Luftdruck Veränderungen.
(Z.) . 1073
Lungenentzündung, Zur Behandlung der. (V.)
414, 444
— Zur Entstehung der. (V.) .... 566, 568
Lungenödeme, Acute. (V.) . 8 57
— und Urämie. (V.) . 838
Seite
Lungentuberculose und Heilstättenbehandlung.
Von Fetzer. (R.) . 815
— uud Lebensversicherungsgesellschaften. Von
Croner. (R.) . 260
— Zur Bekämpfung der. Von Büdinger. (R.) 260
— Zur Diagnose der geschlossenen. Von
Spengler. (R.) . 1026
Lupusbehandlung, Ueber. (V.) . 245
Lupus erythematosus, Zur Kenntniss des. (Z.) 774
— Die Finsen’sche Methode bei. (V.) . . 562
— Ein geheilter Fall von. (V.) . 890
— vulgaris, Zur Behandlung des. (Z.) . . . 118
— von ungewöhnlicher Ausdehnung. (V.) . . 147
Luxatio claviculae acromialis und der Nasen¬
beinbrüche, Zur Behandlung der. Von Dr.
Büdinger. (0.) . 594
Luxation der Gesichtsknochen. (Z ) . . . . 1142
— des Humerus, Subacromiale. (V.) . . . 489
Lykopodiumsainen ähnlich den Tuberkelbacillen.
(Z.) . 1172
Lymphadenie, Ueber. (V.) . 838
Lymphadtnitische Gewebe in der Tuba
Eustachii, Das. (V.) . 1150
Lymphämie ohne Lymphdrüsenschwellung . . 696
Lymphangiome des Mesenteriums, Cystische.
(V.) . 518
Lymphebacterium, Ein. (Z.) . 1171
Lymphganglien, Die Bedeutung der. (Z.) . . 559
Lymphomexstirpationen am Halse, Zur Technik
der. (Z.) . 17
— in der Leiste. (Z.) . 95
Lysoform. (Th.) . 794
Lyssa bei Vögeln. (Z.) . 1143
Lyssa-Immunität, Zur. (Z.) . 119
M.
Maculae caeruleae e pediculis pubis. (V.) . . 172
Macula lutea, Das Centrum der. (V.) ... 46
Magenblutung, Parenchymatöse. (Z.) . . . 718
Magenblutungen, Tödtliche parenchymatöse.
(Z.) . 861, 886
Magenchirurgie, Zur. (Z.) . 393
Magen-Darmerkrankungen der Säuglinge, Zur
Aetiologie der. Von Prof. Escherich. (O.) 843
Magen-Darmkatarrhe der Säuglinge. (V.)
951, 952, 953
Magen-Darmverletzungen, Ueber. (Z.) ... 19
Magenerweiterung, mit grossen Oeldosen be¬
handelt. (Z.) . 695
Magenfunction, Zur. (V.) . 566
Magengeschwür, Das chronische. (V.) . 544, 702
Magengeschwüre, Operation dtr. (Z.) . . . 629
— Ueber. (V.) . 765
Magengeschwüres, Zur Behandlung des pepti¬
schen. Von Gluzinski (O.) . 1125
Magengrenzbestimmung, Zur. (V.) .... 542
Magenneubildungen, Krebsige. (V.) .... 145
Magenpumpe als Peristalticum. (Z.) . . . .1172
Magens, Totalexstii pation des. (Z.) .... 142
Magensyphilis. (Z.) 264
Magentumor. (V.) . 48
Magen- und Duodenalge-chwüre, Zur Behand¬
lung der. (Z.) . 739
Malaria, Immunität gegen. (Z.) . 531
— und Herzdilatation. (V.) . 865
— und Mosquitos. (Z.) . 818
Malaria-Expedition, Bericht der II. (Z.) 263 818
Malariaparasiten, Zur Aetiologie der. Von Dr.
Lewkowicz. (O.) . 206, 233
Malaria, Zur Prophylaxe der. (Z.) .... 1229
Maltafieber, Ueber. Von Dr. Brunner. (O.) . . 149
Maltafiebers, Zur Klinik des. (V.) . 445
Malum perfoi ans, Ein Fall von. (Z.) . . . 1205
Mammacysten. (Z.) 943
Mammatumoren, Resultate nach Operation von.
(Z.) .............. 411
Manual of surgery, A. Von Stonham. (K.) . 241
Manuelle Behandlung in der Gynäkologie. (V.) 590
Marienbader Rudolfsquelle, Die. Von Dr.
Glimm. (O.) . 501
Masernbehandlung, Das rothe Licht bei. (Z ) 1173
Massage, Zur Technik der. Von Hoffa. (R.) 693
Mastdarmexstirpation, Zur. (Z.) . 18
Mastdarmkrebse, Behandlung der. (V.) . 397, 415
Mastdarmoperationen, Zur Technik der. (V.) . 415
Mauerfeuchtigkeitsbestimmung, Ueber. (V.) . 173
Maul- und Klauenseuche beim Menschen. (Z.) 1144
Mediastinaltumor, Ein. (Z.) . 817
Mediastinaltumors, Röntgen - Demonstration
eines. (V.) .
469
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
XI
Seite
Medicin, Handbuch der praktischen. Von Eb¬
stein und Schwalbe. (R.) . 1026
— Grundriss der inneren. Von Liebermeister.
(R.) . 1227
Medicinische Studien und Prüfungen. Von
Prof. Exner. (0.) . 61
Medullarnarkose bei Gebärenden. (Z.) .. . . 1171
Meister-Krankencassenfrage, Zur. Von Dr.
Steiner. (O.) . 1109
Melaena neonatorum, Zur Behandlung- der.
(Z.) . 17
Melanom des Penis. (Z.) . 581
Menier’sche Krankheit, Ueber die. (V.) . . 1006
Meningitiden, Acute. (V.) . 782
Meningitis, Ein Fall von. (V.) . 722
— nach Otitis, Eiterige. (V.) . 590
— supurativa, bedingt durch Bact. lactis.f(Z.) 979
— tuberculosa, Geheilte. (Z.) ...... 775
— und Typhus. (V.) . 800
Menstruation nach der Geburt, Die erste. (V.) 658
— und Magenthätigkeit. (Z.) . 464
Mercurialismus, Schütteltremor bei. (V.) . . 533
Mesenterialcyste, Achsendrehung des Darmes
durch. (Z.) . 1027
Metalldrucker, der Thorax der. Von Dr. M.
Sternberg. (O.) . 574
Meteorismus, Hochgradiger. (V.) . 268
Metritis colli. (Z.) . 1100
Migräne und Epilepsie. (Z ) . 1047
Mikrocephalie. Zur Lehre von der. (Z.) . . 265
Mikroheissluftkauter. Ein. (Z.) . 581
Mikrophondemonstration. (V.) . 534
Mikroskopie am Krankenbette. Von Lenhartz.
_ (R.) . 998
Milchabkochung, Anforderung an die. (Z.) . 1046
Milchbacterien, Ueber. (Z.) . 1229
Milcheiweiss und Fleischbildung. (Z.) . . . 306
Milchgerinnung im menschlichen Magen, Die.
Von Schnürer. (R.) . 303
Milchthermophor, Der. (Z.) . 1095
Milch, Zur Pasteurisirung der. (V.) 381, 951, 953
Militärhygiene, Leitfaden der. Von Schöfer
(R.) . 373
Militärsanitätswesen in der Schweiz. (V.) . . 269
— Zum. Von Knaak. (R.) . 753
Milzbrandbacillen und Pyocyanase. (Z.) . . 1143
Milzbrandgefahr bei Bearbeitung thierischer
Haare. (Z.) . 143
Milzkrankheiten. Von Litten. (R.) .... 392
Mimik des Menschen, Die. Von Hughes. (R.) 737
Missbildungen des Gaumens, Die. Von Dan-
ziger. (R.) . 717
Mittelfussknochen, Die Brüche der. Von
Muskat. (R.) . 241
Mittelohreiterung und inti acranielle Compli-
cationen. (Th.) 740, (Z.) 793, (V.) . . . 1003
— nach Pneumococcen. (Z.) . 1206
— Zur Behandlung der. (Z.) 119, (V.) 335,
(K.) . _ . 554
Mittelohrentzündung bei alten Leuten, Gefähr¬
lichkeit der. (Z.) . 1207
Mittelohrmodell, Zerlegbares. (V.) . 442
Mittheilungen über Arbeiten aus dem Labo¬
ratorium der Krankenhausapotheke zu
Leipzig. (R.) . 141
Monfalcone, Die Therme von. Von Prof. E.
Ludwig und Dr. Panzer. (O.) . 729
Monstre xiphopage. (Z.) . 1114
Moral insanity, Ueber. (Z.) . 1001
Morbidität der Kinder. (V.) . 614
Morphinderivate auf die Athmung, Die Wir¬
kung einiger. (Z.) . 243, 464
Morphiumgewöhnung. (Z.) . 1001
Morphium und Secretion. (Z.) . 942
Mundhöhle, Die Krankheiten der. Von Rosen¬
berg. (R.) . 374
Mundspeichels, Die Function des. (Z ) . 17
Muskelarbeit, Wirkung der. (Z.) . 1027
Muskelatrophien, Die. (V.) . 518
Muskelerkrankungen bei Tripper. (Z.) ... 16
Muskelplastik, Ueber. (V.) . 835
Muskelverknöcherung, Traumatische. (Z.) . . 718
Muskelton, Ueber den. (V.) . 1178
Mutase, Ueber. (Z.) • . 17
Myelitis acuta. Von Mager. (R ) . 831
Myelocele spinalis, Ueber. (V.) . 286
Myeloplaxen, Ueber. (V.) . 1003
Myoklonische Krämpfe. (V.) . 1181
Myome des Uterus, Zur Behandlung der. (V.) 537
Myom und Extrauterinschwangerschaft. (V.) . 704
Seite
Myxoedema infantile. (V.) • . 1123
Myxödematöses. Irresein. (V) . 1181
Myxödem, Fötales. Von Stölzner. (R.) . . . 303
— und Hypophysis. (Z.) . 560
Myxomyceten als Geschwulsterreger. (Z.) . . 531
N.
Nabelversorgung, Ueber. (V.) . 631
Nabelschnur, Resorption der. Von Raudnitz.
(R.) . 303
Nabelsepsis, Ueber. Von Basch. (R.) . . . 303
Nabelstrangzerreissungen, Folgen der. Von
Bayer. (R ) . 650
Nadel in einem Femurcondyl. (V.) .... 198
Naegele’sches Becken, Ein. (V.) . 705
Naevus pigmentosus. (V.) . 611
Nävus der Augapfelbindehaut, Nichtpigmen-
tirter. (V.) . 172
Naftalan. (Th.) . 375
Nägel, Die Krankheiten der. Von Heller. (R.) 174
Nährpräparate und Darmfäulniss. (Z.) . . .1116
Nahrungsmittel der Gesunden und Kranken.
Von Hirschfeld. (R.) . 487
— Schädlichkeit conservirter. (V.) .... 889
1 Narbenretractibilität. (V.) . 780
Nase, Erkrankungen der Nebenhöhlen der. Von
Hajek. (R.) . 240
— Luftströmung in der. (V.) .... 490, 631
Nasenpolypen? Warum recidiviren. (Z.) . . . 1172
Natrium salicylicum und Fruchttod. (Z.) . . 558
Nebennierenextract bei Augenkrankheiten. (V.) 46
Nebennieren, Ueber die. (V.) . 864
Nephrektomie, Partielle. (Z.) . 696
Nephritis bei Kindern ohne Eiweiss. (Z.) . . 558
— Erblichkeit der. (Z.) . 560, 582
— bei Secundärsyphilis, Acute. Von Stepler.
(O.) . 989
Nephrolithiasis bei Vorhandensein einer
Niere. (Z.) . 119
Nervenkranken, Musteranstalt zur Unterbrin¬
gung von. Von Grohmann. (R.) .... 42
Nervenquetschung, Ueber. (Z.) . 978
Nervenstümpfe, Zur Histologie der. (V.) 45,
(Z.) . 581
Nervensystems, Atlas des. Von Jacob. (R.) . 438
— Pathologie und Therapie der Erkrankungen
des. Von Windscheid. (R.) . 409
Nervöse Erbrechen, Das. (V.) . 765
Netzgeschwülste, Entzündliche. (V.) .... 537
Netzhautablösung, Zur Therapie der. Von
Staerkle. (R.) . 978
Netzhautveränderungen, Septische. Von Isch-
reyt. (R.) . 1044
Netztorsion, Ein Fall von. Von Prof. Hochen-
egg- (°-) . 291
— Ueber. (V.) . 219
Neugeborenen, Die chemische Zusammensetzung
der. (V.) . 99
— Nahrungsaufnahme der. Von Cramer. (R.) 650
Neurasthenie, Die Behandlung der. (Th.) . . 740
Neuroma and Neurofibromatosis. Von Thom¬
son. (R.) . 773
Neurose, Traumatische. (V.) . 377
Neutralrothfäibung der Leukocyten, Zur intra¬
vitalen. Von Dr. Marcus. (O.) . 871
Nieren. Körperform und Lage der. (V.) . . . 566
Nierencyste, Solitäre. Von Brackei. (R.) . . 93
Nierendiagnostik, Ueber functioneile. (Z.) . . 1073
Nierendystopie, Zur. Von Prof. Hochenegg.
(O.) 4
Niereninsufficienz, Ueber. (V.) . 863
Nierenpalpation und Harribefunde. (Z.) . . . 915
Nierenpapillennekrose bei Hydronephrose. (V.) 171
Nierenrupturenbehandlung, Zur. (V.) . . . 1076
Nierenruptur, Subcutane. (V.) . 69
Nierenspaltung, Die Therapie der. (Z.) . . 94, 559
Nierentumors, Demonstration eines. (V.) . . 535
Nierenverhaltung, Ueber. (V.) . 762
Nieren, Feststellung der Functionsfähigkeit
der. (V.) . 496
Nieren- und Uretersteine, Operationen bei.
(V.) . . 471, 495
Nirvanin. (V.) . 779
Nuclein im Stoffwecheel, Das. (V.) .... 446
O.
Oberkieferresection, Eine neue Methode der.
(V.) . 801
Seite
Obliteration der Hauptstämme der Vena he-
patica. (V.) . 171
Obstipation, Behandlung der chronischen.
(Z.) . 410, 834
Occlusio vaginae bei Carcinom derselben. (V.) 704
Oesophaguscarcinom, Das latente. Von Dr.
Hödlmoser. (O.) . 1007
Oesophagusdivertikel, Zur Diagnostik der. Von
Dr. Blum. (O.) . 256
Oesophaguserweiterungen, Idiopathische. (V.) 766
Oesophagusruptur, Ein Fall von. (Z.) . 1001, 1171
Ohrenheilkunde, Encyklopädie der. Von Blau.
(R.) . 717
— Handbuch der. Von Kirchner. (R.) . . . 281
— in der Medicin, Die. Von Bloch. (R.) . . 717
— Zur Prophylaxe in der. Von Bing. (R.) . 1112
Ohres, Die Gewerbekrankheiten des. Von
Winkler. (R.) . 554
Ohrmuschelersatz, Ueber. (V.) . 1234
Ohrverkleinerung, Ueber. (V.) . 840
Olfactorius, Marchi-Fäibung beim. (V.) . . . 632
Ollier f. Von A. Fr . 1139
Ombrophor. (V.) . 470
Onychia syphilitica. (V.) . 173
Operationslehre, Atlas der. Von Zuckerkandl.
(R.) . 1072
Ophthalmoskopie, Atlas der. Von Haab. (R.) . 977
Opiums auf den Darm, Wirkung des. (V.) . 1030
Orexin als Appetitmittel. (Z.) . 375
Organtherapie, Die. (Z.) . 393
| Orthoform, Zur Anwendung des. (Z.) . . . 118
Osteom des Humerus, Centrales. (V.) . . . 948
Osteomalacie, Ueber. (V.) . 333, 511
Osteomyelitis, Die. (Z.) . • . 835
— Zur Histologie der. (Z.) . 374
Osteoplastik, Ueber. (V.) . 948
Osteopsathyrosis. (Z.) . 835
Osteotomie bei Hüftgelenksdeformitäten. Von
Hoffa. (R.) . 693
— Zur Technik der keilförmigen. Von Dr.
Luksch. (O.) . . 404
Othämatom. (V.) . 269
Otitis mycotica. (V.) . 700
— media. (V.) . 1236
— tuberculosa. (V.) . 145
Otochirurgie, Die Grenzen der. Von Stetter.
(R.) . 999
O varialfibromes, Ein Fall eines. (V.) . . . 703
Ovariotomie per anum. Von Dr. Peters. (O.) 110
Oxykampher, Ueber. (Tb.) . 509, 794
Oxyuriasis cutanea. (Z.) . 1115
Ozaenabehandlung, Zur. (Z.) . 914
P.
Pachydermik laryngis. (V.) . 491
Paget’s disease, Ueber. (Z ) . 166
Panaritium paratendinosum, Das. (V.) . . . 947
Pankreaschirurgie, Zur. (V.) .... 780, 800
Pankreascysten, Zur Behandlung der. (V.) 597, 800
Pankreon, Ueber. (V.) . 946
Papillom der Harnblase. (V.) . 267
Parabuccalen Tumoren, Die. (V.) . 801
Paralyse, Casuistik der. (Z.) . 943
— Frühdiagnose der progressiven. Von Hoche.
(R.) . 831
— Gehirnbefunde bei. (Z.) . 1 C 09, 1048
— Zur Statistik der progressiven. (Z.) . . . 216
Paraphenylendiaminvergiftung, Ein Fall von.
Von Dr. Poliak. (O.) . 712
Parasiten in der Mundhöhle, Pflanzliche. (Z.) 18
Parotisgegend, Ein Speicheltumor in der. (V.) 801
Parotitis nach Jodkalium. (Z.) . 463
Patellarfracturen, Zur Behandlung der. (Z.) . 776
Pathologie im Unterrichte und als Wissen¬
schaft, Die allgemeine und experimentelle.
Von Prof. Paltauf. (O.) . 1190
Pathologisch-anatomischen Diagnose, Elemente
der. Von Israel. (R.) . 773
Pectoralis-Rippendefect und Hochstand der
Scapula, Zum angeborenen. Von H. Schle¬
singer. (O.) . 25
Pelade, Ueber. (V.) . 923
Pellagra, Ein Fall von (V.) . .699
Pellagrakrankheit, Zur. (Z.) .... 886, 942
— der Bindehaut. Von Franke. (R.) . . . 1045
— neonatorum und Impetigo contagiosa. Von
Dr. Matzenauer. (O.) . 1077
— neonatorum. (V.) . 1 2 1
XII
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Seite
Pemphigus, Zur Behandlung des. (Th.) . . . 739
Zur Histologie des. (Z.) . 3'J7
Penis, eiiie Strangulation des. (V.) . . 651, 587
Tentosurie, Zur. (V.) . 1231
Pepsinsecretion, Zur. (Z.) . 738
Peiforation eines Kindes, Glückliche. (Z.) . 1206
Pericardio, La cbirurgia del. Von Giordano.
. 693
(V.)
Pro
(R)
Pericardotomie, lieber. (V.) .
Perichondritis auriculae, geheilt durch Radical-
operation. (V.) .
Perineuritische Erkrankungen des Plexus sa-
cralis. (V.) .
Periostzellen, Die Vita propria der. (Z.)
Peritonitis, Behandlung der tuberculösen. (V.)
Gonocoecen-. (Z.) .
— tuberculosa. (V.) . .
Perityphlitisoperationen, Ueberraschungen bei.
(V.).. . .
Perityphlitis, Radicaloperation bei. (Z.) .
Perseveration, lieber. (Z.) .
Pes equinus, Zur Operation, des. (V.)
Pestcommission, Bericht der. Von Gaffky. (R.)
Pestepidemien, Ueher. (V.) .
Peste et son microbe, La. Von Netter. (R.)
Pestfall mit Carbol behandelt, Ein. (Z.)
Pest in Bombay, Die. (V.) .
— in Oporto. (Z.) .
— Präventivimpfungen gegen die. (Z.) . 558
— und Serumtherapie. Von Lustig. (R.)
Pestpneumonie, Eine neue Form der. (Z.) .
Pestserums, Die Bereitung des. (Z.) ....
Petroleumöfen, Luftverunreinigung durch. (Z.)
Phagedänismus, Der tropische. (V.) ....
Pharaonenmedicin, Zur Geschichte der. Von
Oefele. (0.) .
Pharmakognostische Karte. Von Schelenz. (R )
Phlegmone der Processus vermiformis nach
Angina. Von Dr. Kretz. (0.) .
Phloridzindiabetes. (V.) .
Phosphorleberthran, Ueber. (V.) .
Phosphorvergiftung, Zur. (V.) .
Phosphor und Pulegon auf Cephalopoden,
Wirkung des. (Z.) .
Phthiseotherapie, Einige neue Medicamente in
der. Von Dr. Pollak. (0.) .
Physikalisch chemische Methoden in der Medi-
cin. Von Pauli. (R.) 66, (0.) .
Physikalische Chemie. Von Koeppe. (R.)
Physik, Grundriss der. Von Borchardt. (R.) .
Pikrinäther, Ueber. (Z.) .
Plasmon, Ueber. (Z.) .
Pleuritis, Pulsirende. (V.) .
Pleuritischer Exsudatflüssigkeiten, Unter¬
suchung. (V.) .
Pneumatischer Apparat für Thermokauter. (Z.)
Pneumatosis cystoides. (Z.) .
Pneumoniebebandlung, Ueber. (V.) ....
Pneumothorax, Spontan ausgeheilter. (V.) .
Polioencephalitis superior und Delirium alco-
holicum als Einleitung einer Korsakow-
schen Psychose. Von Dr. Raimann. (0.)
Polyklonie mit Epilepsie. (Z.) .
Polyposis intestinalis. Von Vayda. (R.)
Porenceplialie, Ein Fall von. (V.) . . .
Portio vaginalis, Ein Fall von Lostrennurg
der. (V.)
Posticuslälimung nach Fremdkörper im Larynx
(V.)
Pott’schen Krankheit, Zur
Behandlung
der
870
335
920
1172
840
463
890
654
629
265
868
528
893
528
464
517
914
, 559 j
528
559
1045
330
819
599
141[
1137
567
1212
864
1072
59
487
815
606
1016
330
839
840
776
194
839
511
31
1095
303
99
612
943
Protargol. (Th.) .
Prothese, Eine subcutaue. (Z ) .
Pseudarthrose am Oberschenkel.
Pseudoaktinomykose, Zur. (Z.)
Pseusobulbärparalyse, Infantile. (V.) .
Zur Lehre von der infantilen. Von
Bernhardt. (0.) .
Pseudoleberciirhose, Ueber pericarditische. Von
Dr. Eisenmenger. (O
Ueber. Erwiderung. Von Dr. Fr. Pick. (0
Ueber. Erwiderung. Von Dr. Eisenmenger
Pseudologia phantastica. (Z.) .
Psittakosisfrage, Zur. Von Leichtenstern. (R
Psittakosiskrankheit, Die. (Z.) .
Psoitis. (V.) .
Psychiatrie, Grundriss der. Von Kirchhoff. (R.)
Psychiatrischen Aufgaben des Staates, Die. Von
Kräpelin. (R.)
(R.
Psychologie, Physiologische. Von Ziehen.
Psychosen und Katatonie, Acute. (Z.) .
Pubertätspsychosen. (V.) 760, 761, (Z.) .
Puerperalfiebers, Zur Entstehung und Behänd
lung des. (V.) . 656
Puerperalpsychosen, Aetiolrgie der. (Z.)
Pulmonaltones, Zur Semiotik des zweiten
Von Dr. Hecht. (0) .
Punction des Sinus sigmoideus. (V.) . .
Pupillenveränderung bei Pneumonie. (Z.) .
Purpurabehandlung, Zur. (V.) .
Purpura haemorrhagica, Ueber. (V.)
Pyämie, Otitische. (V.) .
Pylorushypertrophie, Ein Fall von angeborenei
stenosirender. Von Hansy. (0.) . .
— Angeborene. (Z.) .
Pylorusstenose in Folge Gallensteine. (Z.)
mit Olivenöl, Behandlung der spastischen
(v.). .
— und Sanduhrmagen. (V.) .
Pyramidon. (O.) .
Auftreten eines rothen Farbstoffes im Harne
nach. (Z.) .
Q
Quecksilberresorbin. (Th.)
Seite
143
1207
701
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40
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628
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, 657
979
294
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520
839
1005
232
464
557
765
1150
60
738
411
(Z.) 143, (V.) . . . 866
Piocessus styloideus, Bruch des. (Z.) . . . 1206
Projections- und Associationscentren des Ge¬
hirnes. (V.) . 744, 745, 746
Prolapsoperationen, Dauerheilungen nach. (V.) 364
Ueber. (V.) 380
Prophylaxe bei Hals- und Najenkrankheiten.
Von Flatau. (R.) . . . . 1141,
Handbuch der. (R.) . 1170
in der Chirurgie. Von Hofl’a und Lilien¬
feld. (R.) . 693 [
Prostata bedingte Hainstörungen, Durch Krank¬
heiten der. (V.) . 1219 |
Prostatahypertrophie, Zur. (V.) . . 534, 589, 983
— und Castration. (Z.) . 816 i
Prostitution, Die. Von Ströhmberg. (R.) . . 14
in Wien, Die Vorschüßen über die. Von
Dr. Schrank. (R.) . 14
— vom Standpunkte der Socialhygiene. Von
M. Gruber. (R.) . . . . * . 1169
R.
Racenimmunität, Zur. (Z.) . 531, 834
Rachenhöhle, Die frischen Entzündungen der.
Von Bresgen. (R ) . 717
Rachitis, Der Kalk in der Pathologie der.
Von Stöltzner. (R ) . 303
Rachitisbehandlung mit Thymus. Von Stöltzner
und Lissauer. (R.) . 303
Rachitis und Gelenksrheumatismus. (V.) . . 1209
Radiographie, Atlas der. Von Redaid. (R.) . 830
— bei Hautkrankheiten. (V.) . 202
— Der gegenwärtige Stand der. Von Doctor
Schiff und Dr. Freund. (O.) . 827
— Erwiderung von Dr. Ullmann. (R.) . . . 886
Ragusa als Curort. (V.) . 447
Rattenbisskrankheit, Die. (Z.) 19
Ratten, Infection der. (V.) . 839
Rectumcarcinom, Mfine Erfolge beim. Von
Prof. Iloclienegg. (O.) . 399
Rectum, Resection des. (V ) . 892
Recueil de travaux du laboratoire Boerhave.
Von Dr. Siegenbeck. (R.) . 528
Recurrenslähmung, Rechtsseitige. (V.) . . . 491
Redressement bei Kniegelenkscontracturen.
(V) . 1075
Retrograde Degeneration. (Z.) . 581
Retropharyngealabscesse, Die Behandlung der.
(Z.) . . 695
Rheumatismus, Ueber acuten. (V.) .... 839
Rhinitis pseudomembran aeea. (V.) .... 517
Rhinitis, Spasmodische. (V.) . 954
Rhinologie, Laryngologie und Otologie. Von
Friedrich. (R.) . 374
Rhinoplastik, Partielle. (V.) . 699
Riesenwuchs und Zirbeldrüse. (Z.) .... 18
— Partieller. (V.) . 169
— Symetrischer. (V.) . 145
Rigorosen- und St udienordnung, Die neue.
Von A. F. (O.) . 13
— und Studienordnung, Bemerkungen zur
neuen. Von Prof. Albert. (O.) .... 84
Rinderpest, Immunisation gegen. Von Nencki.
(R.) . 6 05
I
Röntgen-Atlas. Von Immelmann. (R.)
Röntgen-Aufnahmen, Moment-. (Th.)
Röntgen-Demonstrationen. (V.) . 444, 469,
Röntgen- Lichtes auf die Haut, Einwirkung des.
Von Kienböck. (V.) 1004, 1029, 1053, (O.)
Röntgenologische Verhalten der Brustaorta,
Das. Von Dr. Holzknecht. (O.) 225, 573,
Röntgen-Photographie des Magens. (Z.)
Röntgen-Photogramme. Von Eiseisberg und
Ludloff. (R.) .
Röntgen-Strahlen, Technik und Verwerthung
der. Von Büttner und Müller. (R.) .
— in chirurgischer Verwerthung. (Z.) . . .
— Die beruhigende Wirkung der. (Z.)
— Hautverbrennung durch. (Z.) .
Röntgen-Ulcera, Zur Histologie der. (Z.) .
Röntgen-Verfahren, Bestimmung der Gegen-
standgrösse beim. (V.) .
— Bestimmung der Glosse eines Gegenstandes
durch das. (Tb.) .
Roseola tardiva. (V.) .
Rotz, Ein Fall von. (Z.) . 718,
Rückenmarkes, Zur Pathologie des. (Z.)
Rückenmai ksabschnitte, Die Erkrankungen
der unteren. (Z.) .
Rückenmarksaffectionen, Durch Anämien be¬
dingte. Von Marburg. (O.) .
Rückenmarkserkrankung, Traumatische. (V.)
Rückenmarksnerven und ihre Segmentbezüge.
Von Wichmann. (R.) .
Ruhr als Volkskrankheit. (V.) .
S.
Saccharinwirkung, Ueber. (Z.) .
Saccharomyces neoformans. (V.) .
Salacetol, Ueber. (Th.) .
Salipyrin. (Th.) .
Salolausscheidung mit den Faces. (Z.) . .
Salol als Bandwurmmittel. (Th.) .
Salophen. (Th.) .
Salpingitis nodosa und Adenomyoma tubae.
(V.) . .
Samenstrangresection. (V.) . .
Sanatogen, Ueber. Von Dr. Rybiczka. (O.)
Sanatoria, Les. Von Knopf. (R.) .
Sängerknötchen, Ueber. (V.) .
Sanitätspersonal für Militäranstalten. Von
Bass. (R.) .
Sauitätswesen im spanisch- amerikanischen
Kriege, Das. Von Steiner .
Sapolan. (V.) . .
Sarkom des Auges. Von Kerschbaumer. (R.)
— des Rückenmarkes. (Z.) .
Sauerstoffiherapie, Zur. (V.) .
Saugen und Verdauen. (V.) .
Säuglingsernährung, Ueber. Von Bendix.
(R.) 650, (V.) .
— Die natürliche und künstliche. Von
Th, Escherich. (O.) .
— Neuere Mittel zur. Von Zappert. (R.) .
Säuglingssterblichkeit, Ueber. (V.) ....
Säuglingsstuhles, Nach Gram färbbare Bacillen
des. Von Dr. Moro. (O.) .
Schädelbrüche, Ueber. (V.) . 46,
Schädelverletzung ohne Fuuctionsstörung. (Z.)
Schalenhaut des Hühnereies zur Epithelbildung,
Die Verwendung der. (Z.) .
Scharlach und Gehörorgan. Von Weil. (R.)
Scharlachnephritis, Behandlung der. (V.) .
Scharlachs und der Masern, Zur Kenntniss des.
Von Dr. Eigart. (O.) .
Scheidenirrigation, Die Gefahren der. (Z )
Scheintodes Neugeborener, Die Behandlung
des (Z.) .
Schenkelsporn des Femurhalses. (Z.)
Schiffsdienst lungenkranker Aerzte. (Z.) . .
Schilddrüse und Heilung von Fracturen.
(Z.) . . . 393,
Schilddrüsengiftes, Zur Wirkung des. (Z.)
Schilddrüsensaftes auf Circulation und Ath-
mung, Wirkung des. Von Dr. Bela
v. Fenyvessy. (0.) .
Schläfenbeineikrankungen, Die eiterigen. Von
Körner. (R.) .
Schleich’s Marmorseife, Erfahrungen mit. Von
Dr. Fuchsig. (O.) .
Schleifenendigung, Ueber. (Z.) .
Schlucken in verschiedenen Körperlagen, Das.
Von Mendelsohn und Gutzmann. (R.) .
Seite
830
739
588
1153
648
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165
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125
554
790
885
754
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
X 1 II
Schularztfrage, Zur. (Z.) .
Schulhygiene, Zur. (V.) .
Schultergelenk, D.e Varilät im. (V.)
Schultergelenkes, Die Mechanik des. (Z.) .
Schuss in die Schläfe, Verletzung nach. (V.)
Schussverletzungen, Ueber. (V.) . . . 289,
Schütteltremor, Hysterischer. (V.)
Schutzeinrichtungendes Organismus, Natürliche
(Z
bei
Schwangerenuntersuchung, Ueber. Von Pro
fessor Winternitz. (R.) .
Schwangerschaft, Acutes Lungenödem
(Z.) ...........
Schwangerschaft, Bericht über 22 Fälle von
künstlicher Unterbrechung der. Von Doctor
v. Braitenberg. (O.) .
— bei exstirpirten Ovarien. (Z.) .
Schwangerschaftszeichen. (Z.) .
Schwefelkoblenstoffvergiftung, Chronische. (Z )
Scrophulose und Tuberculose. (V.) . . . .
— Zur Lehre von der. Vou Monti. (R.) .
Secretion, Ueber innere. '(V.) . _ .
Sectionstische, Die Technik am. Von Graupner
und Zimmermann. (R.) .
Seebäder auf die Körpertemperatur, Einfluss
kälter. (V.) .
Seelenstörungen im Kindesalter. (Z.)
— der Epileptiker. (Z.) .
Seereisen, Therapeutische Verwertliung der.
(Z-) • .
Sehcentren, Die corticalen. Von Prof. Bern-
heimer. (O.) .
Sehnenreflexe, Ueber. (V.) .
Sehnenrupturen, Subcutane. Von Dr. Kirch-
mayr. (O.) .
Sehnenruptur, Subcutane. (V.) .
Sehnen Verpflanzungen. (V.) . 650,
Sehnenzerreissungen. (Z.) .
Sehnerveneintrittes, Anatomie des. Von
Elschnig. (R.) .
Sehprüfungen. Von Roth. (R.) .
Sensibilitässtörungen bei Morbus Parkinsonii.
(z.) .
Sepsis bei einem Tobsüchtigen. (Z.)
Sepsis im Kindesalter. (V.) .
Serodiagnostik im Kindesalter. Von Pfaundler.
(ß;) . .
Seruminjection bei einem Säuglinge. (Z.) .
Serumtherapie und Schutzimpfung. Von Dieu-
donne. (R.) .
— Versuche auf dem Gebiete der. (V.)
— bei Alkoholikern. (Z.) .
Sexualempfindung, Ueber. (V.) .
Sexualfunction und Stoffwechsel. (Z.)
Sexualität, Normale und pathologische. (Z.) .
Sexuelle Perversionen. (V.) .
Sidonal. (Z ) . .
Silberdrahtgitter bei Bruchpfortenverscbluss.
(V.) . .
Silber, Lösliches. (Th.) .
Simulation und Syringomyelie. (V.) .
Singstimme, Zur Pathologie der. (V.) .
Situs inversus, Ein Fall von. (Z.) . . . .
Sklerodermie, Ein Fall von. (V.) .
Sklerose, Zur Symptomatologie des Alters. Von
Dr. Friedmann. (O.) .
— Otitische. (V.) .
Skoliosenbehandlung, Zur. (V.) .
Skoliosen, Redression schwerer. (V.)
— Veränderungen innerer Organe bei. Von
Bachmann. (R.) .
Solilagold. (V.) .
Somnambulismus. Von Löwenfeld. (R.) .
Soolegebrauch bei tuberculösen Alfectionen. (V.)
Soson, ein Nährpräparat. (Z.) .
Sozojodol. (Th.) 143,
Spasmus glottidis und Tetanie der Kinder. (V.)
Spektroskopie in der Anatomie. (V.)
Speichels, Zur Function des. (Z.) .
Speichelsteinbildung, Ueber. Vou Dr. Hanszel.
(O.) .
Speiseröhre, Divertikel der. Von Starck. (R.)
Speiseröhrenerweiterung, Chirurgische Be¬
handlung der. (V.) .
Speiseröhrenverschluss bei Harninfection,
Spastischer. (Z.) .
Sphagnol bei Hautkrankheiten. (V.) .
Sphinkter des Anus, Tonus des. (V.)
Spina bifida, Zur Operation der. (V.)
Spinalparalyse, Spastische. (Z.)
Se te
463
1055
286
886
1180
511
222
194
1043
1205
685
696
696
580
919
792
609
605
520
1000
216
329
955
924
1038
169
868
628
44
577
979
1208
568
303
630
528
566
1027
223
143
264
759
630
587
607
269
1181
1115
170
569
984
655
541
605
269
831
766
95
739
417
781
558
160
1227
1076
651
23
723
948
1000
143
Spirometer, Ein. (V.) .
Spitalschiffe. (V.) .
Splanchnoptose, Ueber. (V.)
Splenektomie. (V.) .
Splenomegalie durch Malaria. (Z.)
Spondylitis typhosa. (Z.)
Sprachcentrums, Die Bedeutung des. (V.)
— Verletzung des. (V.) .
Staares, Spontane Aufsaugung eines. (Z.) .
Stadtasyle und Irrenverpflegung. (Z ) . . .
Starrkrampfes, Prophylaxe des. (V.) . .
Stenose der Pulmonalis. (Z.) .
Stenose, Postdiphtheritische. (V.) .
Sterilität der Geschlechter. Die. Von Finger
und Sänger. (R.) .
Stirnlagen, Ueber. (V.) .
Stimmband- und Sängerkuötchen. (V.) . 924,
Stimmbänder, Cadaverstellung der. (V.) . .
Stoffwechsels, Physik des. Von Bois-Reymond.
(R.) . . .
Stoffwechselstörungen bei magen-darmkranken
Säuglingen. Von Dr. Pfaundler. (O.)
Strafrecht und Heilkunde. (Z.) .
Strangdegenerationen und Höhlenbildungen.
(Z.
(Z.)
Strausse, Eine infectiöse Krankheit der.
Streptococcenfrage, Zur. (V.) ....
Streptococcus, Ein anaerober. Von Doctor
Sternberg. (O.) .
Stridor congenitalis. (V.) .
Stützcorsettes, Der Werth des. (V.) . . . .
Stypticin. (Th.) .
Subphrenischer Abscess. (Z.) .
Suggestion und ihre sociale Bedeutung, Die.
Von Bechterew. (R.) .
Sumpffieber, Ueber. (V.) .
Symblepharon anterius. (V.) .
Sympathicusresection. (V.) .
- — Zur Pathologie des. (Z.) .
Syphilis in der zweiten Generation, Hereditäre.
Von Fournier. (O.) .
Synthese im Thierkörper, Eine. (V.)
Syphilis. Von Neumann. (R ) .
Syphilisbehandlung durch Inhalation. (Z.)
Syphilis combinirte Infectionen, Mit. (V.) .
Syphilis, Congenitale. (V.) .
— der oberen Luftwege. Von Lieven. (R.)
— - der zweiten Generation, Plereditäre. (Z.)
— des Cenlralnervensystemes. (Z.) . . .
— Die physikalisch-diätetische Therapie der.
Von Ziegelroth. (R.) .
— et Mercur. Von Larrien. (R.) . .
— Diarrhöen bei tertiärer. (Z.)
— • des Magens. (V.) .
— hereditaria. (V.) .
— in Nicaragua. (V.) .
— in China und Japan. Von Okamura. (R.)
— infantilis. (V.) . 248,
— in Finnland. (Z.) .
— Infiltrationen. Diffuse. (V.) .
— Neugeborenen, Erstickung bei einem. |Z.)
Syphilitischer Piimäraffect mit abnormem Sitz.
(Z.)
Syphilitische Erkrankung des Centralnerven-
systemes. (Z.) .
Syphilitischen, Die Nachkommenschaft der
Hereditär-. Von Prof. Finger. (O.) 383, 405,
Syringocystom, Zwei Fälle von. (V.)
Syringomyelie mit seltenen Symptomen. (V.)
— oder Lateralsklerose. (V.) .
— Ein Fall von. (V.) . 591,
Tabakrauch, Das Kohlenoxyd im. (Z.) .
Tabes bei Kindern. (Z.) .
— Die Therapie der. (V.) . 333,
— Frühdiagnose der. (Z.) .
— Sensorielle Krisen bei .
Tachycardie, Paroxysmale. (V.) 541, (R.) .
Talgdrüsen in der Mundschleimhaut. (Z.) .
Tannigen. (V.) . 794,
Tanninpräparate. (Th.) ....
Tannoform. (Th.) . .
Tannopin. (Th.) .
Tarsalgie. (V.) .
Taubheit, Plötzliche beiderseitige. (V.) . 336,
Taubstummen, Hörvermögen der. Von Bezold.
(R-) .
— Untersuchungen an. Von Schwendt. (R.) .
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868
361
1113
44
Taubstummenbildung, Ueber. Von Gutzmann.
(R.) • ; .
Taubstummheit, Zur Entstehung der. Von
Danziger. (R.) .
Temperatur des Rectums und der Achsel¬
höhle, Differenz zwischen der. (Z.) .
— ■ Normale. (Z.) .
Temperaturverhalten bei weiblichen Geistes¬
kranken. (Z.) .
Temperenzanstalten und Volksheilstätten. Von
Smith. (R.) .
Tendovaginitis tuberculosa. (V.) .
Teratoide Geschwülste, Ueber. (V.) ....
Teratom. (Z.) .
Terpentinölwirkung, Ueber. (Z ) .
Tetania gravidarum. Von Dr. Hödlmoser. (O.)
Tetanie, Ueber. (V.) . 418,
Tetanus mit intracerebraler Injection behandelt.
(Z.
mit subcutanen Gehirnemulsionen behandelt.
Von Dr. Krokiewicz. (O.) .
— Zur Therapie des. (Z.) .
Tetanusfall durch Antitoxin geheilt, Ein. Von
Dr. Homa. (O.) .
Tetanustherapie, Zur. (Z.) .
Thermophor couveuse. (V.) .
Thompson’sche Zweigläserprobe. Von Hof¬
meister. (R.) .
Thomsen, Histologie des Muskels beim. (V.) .
— Krankheit, Beiträge zur. Von Dr. Mahler
und Dr. Beck. (O.) .
Thomsen’sche Krankheit, Ein Fall von. (V.) .
Thorakoplastik. (V.) .
Thorakoxyphopag, Ein. (Z.) .
Thrombose bei Chlorose. (Z.) .
Thymusdämpfung, Ueber. (Z.) .... 836,
Thyreotomie, Ueber . 949,
Tollwuthvirus gegen Fäulniss, Widerstands¬
fähigkeit des. (Z.) .
Tonometer. (V.) .
Tonsillen und tuberculose Infection. (Z.)
Tonsillotomiebelag, Der. Von Dr. Harmer. (O.
Tonvermögens, Localisation des. (Z.)
Torticollis spasmodicus. (V.) .
Toxikologie, Handbuch der. Von Kunkel. (R.
Toxine und Antitoxine. (V.) .
Trachealeanule, Eine erprobte. Von Gersuny
(O.) .
Trachealdefecten, Deckung von. (V.)
Tracheotomie, Complication bei der, (Z.)
— Plastische Deckung von. (Z.) ....
Trachombehandlung, Zur. (Th.) ....
Trachomepidemie, Eine. (Z.) .
Trachom, Ueber. Von Bock. (R.) ....
— Zur Lehre vom. Von Dr. Ziem. (O.) 92
Traitement chirurgical. Von Lardenois. (R.)
Transplantation von Eingeweiden. (V.) .
Traumatische Entstehung innerer Krankheiten
Von Stern. (R.) .
Trepanatiou, Defectdeckung bei. (V.)
— der Wirbelsäule. (V.) .
— wegen Schädelverletzung. (V.)
Tricepsklonus. (V.)
Trichterbrust, Ueber. (V.)
Trigeminusresection, Intercranielle. (V).
Trionalvergiftung, Chronische. (Z.)
Tripperspritzen. Die Gefahr ungeeigneter. (Z.
Tripper und Ehe. Von Jullien. (R.) .
Truncus innominatus, Unterbindung des. (V.)
Trunksucht, Das Thebault’sche Mittel gegen
(Z.)
Tubenimplantation in den Uterus. (V.) .
Tuberculide, Ueber. (V.) . . . 783, 784, 797
TuberculinseiLn, Ueber. (V.) .
Tuberculosebehandlung. (V.) .... 865
- — ■ mit Formaldehyd. (V.) .
— mit Zimmtsäure. (Tb.) .
Tuberculosegesetz in Norwegen, Das.
Tuberculoseübertragung durch Milch. (Z ) .
Tuberculösen Bauchfellentzündung, Zur chirur¬
gischen Behandlung der. (Z.) ....
Tuberculoses Empyem des Oberkiefers. (V.
Tuberculose als Ursache des vorzeitigen Todes,
Die. (Z ) .
— der Blase, Werth der Chirurgie bei der. (V.)
— der Niere, Werth der Chirurgie bei der. (V.)
— des Gehörganges. Von Barnick. (R.)
— des Hodens. (V.) ... .
— Die Trüpfcheninfection bei. (Z.) ....
— est curable, La. Von Ribard .
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260
AiV
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Seita j
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Tuberculose im Kindesalter. (V.) . . . 634, 919
Klinische Beiträge zur. (Z.) . 558
— Leberthraninjectionen bei. (Tb.) .... 606
— mit Jod behandelt. (Z.) 775 ;
— Serumreaction und Frühdiagnose der. (Z.) 833 I
— Toxhämie bei. (Z.) . 1073 I
— Ueber kindliche. (V.) . 820, 949
— und Blutkörperchen. (V.) . 865
— und Erblichkeit. (Z ) 793, (V.) .... 865
— und Raynaud’sche Krankheit . 866 j
— und Syphilis. (V.) . 864
— Ursache der örtlichen. (V.) . 865 j
— Wie schütze ich mich gegen. Von Sommer¬
feld. (R.) . 1026 I
— Zur Serumdiagnose der. (Z.) . 651
Tuberkel im Pons. (V.) . 97
Tuberkelbacillen, Widerstandsfähigkeit der.
(Z.) . 1207
Tuberkelbacillen, Zur Säurefestigkeit der. (Z.) 978
— Zur Verbreitung der. (Z.) .... 558, 1146
Zum Wachsthum der. (Z.) . 816
Tumoren unbekannter Natur. (V ) .... 197
Tympanitis bei Kindern. (V.) . 592
Typhusähnlicbe Bacillen. (Z.) . 1172
Typhusbacillen inficirten Badewässer, Zur Des-
infection der mit (Z.) . 834
Typhusbacillus, Zur Züchtung des. (V.) . . 542
Typhus, Empyem bei. (V.) . 800
Hirndruckerscheinungen beim. (Z.) . . . 531
Impfungen gegen. (Z.) . . . 306, 980, 1144
— mit hämorrhagischer Diathese. (Z.) . . . 775 j
und Schilddrüseneiterung. Von Dr. Sclmd-
mak und Dr. Vlachos. (O.) . 661
— Zur Wasserbehandlung des. (V.) .... 447
U.
Ulcus cruris, Transplantationen bei. (V.) . . 1180
Ulnaris- und Medianuslähmungen, Zur Aetio-
logie der. (Z.) . 119
Unfällen, Erkrankungen des Nervensystems
nach. Von Dr. Sachs und Dr. Freund. (R ) 347
Unfall und Diabetes. Von Senator. (R.) . . 348
Unfallheilkunde, Atlas der. Von Golebiewski.
(R.) . 347
Unfallverletzung des Gehörorganes. (V.) . . 1235 I
Unfallversicherung, Rentensätze bei obliga¬
torischer. Von Bähr. (R ) . 348
Unguentum Crede. (Th.) . 307 ^
Unsichtbaren Strahlen des Inductionsfunkens,
Wirkung der. (Z.) . 1205
Unterkiefers, Der Bau des. Von Loos. (R.) . 409 j
Unterleibsbrüche in der Unfallversicherung.
Von Kaufmann. (K.) . 347
Unterleibscontusionen, Operation bei. (V.) . . 538
Unterleibsoperationen, Nachbehandlungbei. (V.) 654
Unterricht in der Geburtshilfe und Frauen¬
heilkunde, Der. Von v. Rosthorn. (O.) . . 936 ;
Unterschenkelamputation und tragfähige
Stümpfe. (V.) . 443 j
Unterschenkelgeschwüre, Zur Behandlung der.
(Z.) . 330, 509, 652
Urämie, Aderlass bei. (Z.) . 557
Ureiern, Bildung von. (V.) . 659
Ureterenchirurgie, Zur. (V.) .... 380, 533
Ureterfisteln und -Verletzungen. Von Büdinger.
(O.) . 1139
Urethra, Keimgehalt der weiblichen. Von Dr.
Schenk und Dr. Austerlitz. (O.) . . 319, 435
— Keimgehalt der weiblichen. Erwiderung
von Dr. Savor . 346, 435
— Resection der. (V.) . 699
Urethralruptur, Traumatische. (V.) .... 47
Urin der Säuglinge, Der. (V.) . 382
Urinreaction, Eine Krankheit mit neuer. (Z.) 1207
Urosinbehandlung, Zur. (V.) . 544
Urotropins, Der Heilwerth des. (Th.) . . . 651
Uteri, mit Lostrennung des Corpus, Elevatio.
Von Dr. H. Ludwig. (O.) . 878
Uterus, Amputation des graviden. (V.) . . . 378
septus, Drei Geburten bei. Von Wagner.
(R.) . 1043
Uterusfibrome, Zur Exstirpation der. (Z.) . . 793
Uterusfixation, Dauerheilungen nach. (V.) . . 364
Uterusgangrän. (Z.) . 580
Uteruskrebs, Zur Radicalopeiation beim. Von
Prof. Wertheim. (O ) 1101, (V.) .... 1119
Uterusruptur, Complete. (V.) . 613
— Eiu Fall von. (V.) . 721
Uterustuberculose. (V.) . 612
V.
Vaginalsack beim Manne. (Z.) . 118
Validol. (Th.) . 143
Varicocele, Zur Radicaloperation der. Von
Prof. Narath. (O.) . 73
Variola, Behandlung des Eiterungsstadiums
der. (Z.) . 581
Venenpuls und Tricuspidalinsufficienz. (V.) . 864
Ventilation von Eisenbahn waggons. Von Hinter¬
berger. (R.) . 373
Ventilharnfänger für Säuglinge. (V.) . . . 637
Verbandlehre. Von A. Hoffa. (R.) .... 693
Verdauungsstörungen der Kinder, Behandlung
der. Von Biedert. (R.) . 259
— im Säuglingsalter. (V.) . 472
Verhandlungen der Deutschen pathologischen
Gesellschaft. Von E. Ponfick. (R.) . . . 884
Verminderung der Widerstandsfähigkeit des
Körpers. (V.) . 224, 248
Verimpfbare Tumoren bei Mäusen. (V,). . . 1232
Verruga peruvienne. Von Odriozola. (R.) . . 605
Verwachsungen im Mittelohre, Therapie der.
(V.) . 1237
Versuchsanstalt für Ernährung. Von Biedert.
(R.) . 650
Verwirrtheit, Zur pathologischen Anatomie der
acuten. (Z.) . - 265
Verwundetenpflege auf Schiffen. (V.) . . . 819
Verwundungsfrage im Kriege, Stand der. Von
Dr. Habart. (O.) . 473
Vesicorectalfistel, Ein Fall von. (V.) ... 69
Vierhügel, Affengehirn mit zerstörtem. (V.) . 98
Vision im Lichte der Culturgeschichte, Die.
Von Knauer. (R.) . 831
Vogelgicht, Ueber. (Z.) .
Volksheilstätten, Zur Frage der. Von Weiker
(R.)- • . .
Volksnahrungsmittel, Ueber. Von Frenzei. (R.)
Volvulus coeci, Angeborener. (V.)
coeci. Von Zoege v. Manteuffel. (R.)
— und Invagination, Zur Behandlung von. (V.)
— Darmausschaltung beim. (V.) ...
— der Flexur. (V.) .
Vorderhauptslagen. (V.) .
1028
260
1071
1142
243
287
536
536
363
W.
Wanderleber, Ueber. (Z.) . 833
Wandermilz, Exstirpation einer. Von Doctor
K. Schwarz. (O.) . 1224
Wanderniere, Zur Fixation der. (V.) .... 867
Warzenfortsatzerkrankungen, Ursachen und
Folgen der. Von Hagedorn. (R.) . 1113
Wasserdampf in der Chirurgie. (Z.) . 833
Wasserstoffsuperoxyd, Wundbehandlung mit.
t (Z.) ..... 817
Widal’sche Reaction bei Pneumonie. (Z.) . . 1142
Wiederbelebung nach Erstickung. Von Prus.
(O.) . 451, 482
Wirbelfracturen, Zur Statistik der. (V.) . . . 802
Wirbelkörper bei Rattenembryonen, Ein post-
occipitaler. (V.) . . . 610
Wirbelsäule, Verschmelzung der. (Z.) .... 793
Wundbehandlung, Entzündung erregende Mittel
bei. (Z.) . 1027
Wundheilung, NeueMethoden der. VonSchleich.
(R.) . 693
Würzestoffe auf Arbeiter, Einfluss der. (Z.) 1206
Wurmfortsatzerkrankungen, Zur Pathologie
der. Von Honigmann. (R.) . 693
Z.
Zahnärzten durch das k. k. Ministerium, Cre-
irung von. Von Dr. R. Weiser. (O.) . . . 436
Zahnheilkunde von Paireidt. (R.) 718
— Cursus der. Von Cohn . 718
Zahn- und Mundpflege. Von Rose. (R.) . . . 627
Zehenreflexe, Ueber. (Z.) . 1001
Zickzacknaht, Ueber verborgene. (V.) .... 780
Zonen von Head, Die hyperalgetischen, Von
Moll. (R.) . 1114
Zonula ciliaris, die. (V.) . 512
Zucker als Wehenmittel. (Th.) . 980
Zuckerausscheidung und Eiweissumsatz. (V.) 920
Zuckerkrankheit, Wesen und Ursache der. Von
Leo. (R.) . 679
— in Preussen, Die. (Z.) 1001
Zungenbelag, Ueber den. (Z.) . 913
Zungenexstirpation, Vollständige. (Z.) . . . 1207
Zungen-, Gaumen-, Kehlkopflähmung. (V.) . . 632
Zungenoberfläche, Exfoliation der. (V.) . • . 285
Zwerchfellhernie, Zur Diagnose der. (Z.) . . . 1072
Zwergwuchs bei Vitium cordis. (V.) .... 700
Zwillingen, Irresein bei. (Z.) . 582
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Vereine.
Berichte über Congresse und Naturforscherversammlungen.
Seite
Aachen, 72. Versammlung deutscher Natur¬
forscher und Aerzte 889, 919, 945, 983,
1004, 1030, 1075, 1099
Balneologencongress zu Ragusa und Ilidze
416, 447, 519, 534
Berlin, 29. Congress der deutschen Gesellschaft
für Chirurgie . 396, 415, 442, 471, 495, 535
Greifswalder medicinischer Verein 46, 99, 173,
268, 631, 1231
Innsbruck, Wissenschaftliche Aerztegesellschaft
46, 145, 172, 699, 1150
München, 71. Versammlung deutscher Natur¬
forscher und Aerzte. 22, 71, 99, 124, 174,
202, 223, 248, 270, 286, 362, 380, 397,
417, 567, 592, 615, 634, 653, 706.
Seite
Paris, 13. Internationaler medicinischer Con¬
gress 741, 759, 779, 797, 819, 837, 863,
889, 920, 949, 984, 1005, 1032, 1056,
1182, 1099, 1217
Prag, Verein deutscher Aerzte 145, 171, 516,
590, 609, 1123, 1148, 1180
Steiermark, Verein der Aerzte in 311, 721, 1055.
Strassburg, Naturwissenschaftlieh-medicinischer
Verein . 46, 515
Wien, Officielles Protokoll der k. k. Gesell¬
schaft der Aerzte 69, 97, 121, 169, 197,
219, 245, 267, 283, 309, 333, 357, 418,
441, 467, 489, 511, 533, 561, 587, 1003,
1029, 1051, 1075, 1097, 1119, 1147, 1175, 1209
Wien, Dermatologische Gesellschaft 21, 148,
246, 285, 393, 514, 611, 741, 1232
Seite
Wien, Geburtshilflich-gynäkologische Gesell¬
schaft 6 13, 701
— Laryngologische Gesellschaft 121, 200, 283,
491, 589, 632, 1214
Oesterreichisch-otologische Gesellschaft 313,
334, 361, 724, 1234
— Verein der k. und k. Militärärzte 268, 377,
724, 759
— Verein für Psychiatrie und Neurologie 45,
97, 222, 359, 563, 722, 1181
— Verein österreichischer Zahnärzte 223, 269, 378
— Verhandlungen des Physiologischen Clubs
45, 98, 512, 610, 631
Wiesbaden, 18. Congress für innere Medicin
414, 444, 472, 541, 566
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
XV
Achard 863.
Adamidi 800.
Ageron 544.
Albert 83, 93.
Alberti 654.
Alexander 442, 999.
Alt 335, 1234.
Amann 659.
Ammon 362.
Angerer 538.
Anschütz 535.
Anton W. 1150.
Arloing 890.
Aufrecht 865.
Austerlitz 319, 435.
Bade 984.
Baginsky 639, 951.
Bähr 540.
Bail 1181.
Bardenheuer
Barie 864.
Barth 496, 535.
Bartz 948.
Basch v. 512.
Baumholtz 875.
Baylac 840.
Bazy 762.
Beck 1114, 1219.
Becker 983.
Beclere 839.
Baier 491.
Bellota 866.
Bendersky 765.
Benedikt 333, 357.
Benedikt H. 469.
Bergmann v. 841.
Bergmann 536.
Bergmeister 309.
Bernhardt 40.
Bernheim 864.
Bernheimer 98, 955.
Bickel 544.
Biedl 567.
Biehl 131, 269, 281, 313,
378.
Biedert 615.
Biondi 867.
Birnbacher 1056.
Biro 770.
Bliesener 1076.
Bloch 8H8, 800.
Bloch 869.
Blum 256.
Blum 864.
Boas 542, 799.
Boeck 783.
Boinet 838, 839.
Bonomo 870.
Bornstein 542.
Botey 984.
Bourget 766.
Braitenberg 685.
Braquehaye 779.
Braun 537.
Braun 873.
Breitung 829.
Breuer 378, 512, 641, 671.
Brocq 922.
Browicz 785.
Brünings 659.
Brunner 149.
Buchner 742.
Büdinger 94, 169, 242, 594,
694, 1029, 1067, 1139.
Bum 347, 489.
Bunge 540.
Burckhardt 657.
Burot 820.
Busse 46, 631.
Autoren -Y erzeichniss.
Die fettgedruckten Ziffern bedeuten Originalarbeiten.
Calmette 894.
Camerer 71, 99, 382.
Campana 784, 797.
Capart 952.
Carlier 867.
Ceccherelli 766.
Champonniere 842.
Chiari 171. 1180.
Chiari O. 241, 1056, 1216.
Chibault 802.
Clar 519.
Codivilla 802.
Cohnheim 765.
Coltelli 535.
Comby 616.
Cominotti 881.
Cramer 362.
Csokor 1097.
Crede 536.
Cuneo 801.
Czerny 396.
Czyhlarz 2, 44, 861.
Dantec 819.
Darier 797.
Delageniere 867.
Destot 842.
Dieulafoy 765.
Dinkier 945.
Döderlein 657, 1100.
Dömeny 632.
Dominicis 839.
Dommer 202.
Donath 37, 497.
Dräsche 521.
Drastich 269, 378.
Dieser 889.
Duller 447.
Ebstein 589, 590, 1217.
Ehrendorfer 46, 48, 315.
Ehrlich 743.
Ehrmann 247, 285, 1029.
Einhorn 766.
Eiseisberg v. 287.
Eisenberg 1105.
Eisenmenger 249, 347.
Eigart 852.
Elschnig 44.
Elzholz 42, 4ö, 337, 359,
833.
Emmerich 654.
Engel 1123.
Englich 534, 589, 1210.
Erben 533, 1097.
Erdheim 79, 502.
Escherich 260, 614, 843,
1184.
Esguera 800.
Epine 820.
Eulenburg 919, 946.
Ewald 742.
Exner 61, 66, 534.
Falb 632.
Fauve 766.
Favulla 765.
Fede 952.
Federn 98.
Fein 491, 563.
Fenger 762.
Fenoglio 840.
Fenyvessy 125.
Finger 16, 383, 405, 428,
1171.
Finkeistein 568.
I Firket 894.
I Fischei R. 518, 635.
Fischei W. 518.
Flechsig 744.
Fleischmann 703.
Föderl 413.
Fontan 819.
Fornario 865.
Fournier 985.
Fraenkel A. I, 13, 163, 242,
1072, 1085, 1139.
Fraenkel B. 1032.
Frank 867, 948, 983.
Frankl- Hochwart 723.
Franque 657.
Franz 660.
Freudenberg 538.
Freurrd L. 16, 202, 588,
1177, 774, 827.
Friedländer 1166.
Friedmann 569, 1133.
Friedrich 537.
Fritsch 694, 695.
Fröhlich 723.
Fuchs A. 223.
Fuchs E. 998 .
Fuchsig 790.
Fürst 659.
Fürster 865.
Cralliard 800.
Gärtner 470.
Galatti 792.
Gallois 766.
Ganghofuer 417.
Gelirke 1232.
Gavala 767.
Gendre 839.
Gerard 867.
Gersuny 593, 702.
Gilbert 838.
Giordano 800.
Gleich 467.
Glück 447.
Gluzinski 1125.
Gockel 946.
Goepel 539.
Gompeiz 1235, 1237.
Grant 1005.
Goris 954.
Graser 288.
Grassberger 66, 1072, 1175.
Grawitz 99, 174, 268, 631,
1232.
Greeff 44.
Gregor 370.
Grimm 502.
Gross F. 1069.
Grossmann 283.
Grube 446.
Gruber 313.
Guerard 658, 659.
Gumprecht 542.
Gussenbauer 995.
G utten b erg 920.
Haas 725.
Habart 269, 473, 754.
Hacker v. 46, 145, 699,
1152.
Hagopoff 780.
Hajek 491, 1032.
Halban 545, 5i 4, 613, 705.
Hallopeau 1217.
Hammerschlag 46, 335, 336,
361, 724, 1003.
Hanke 281, 577.
Hansy 232.
Hanszel 160, 1141.
Harmer 122, 846.
Hartmann 963.
Hecht 294.
Hecker 637.
Heindl 121.
Heinr 566.
Heitler 219.
Helferich 654.
Hemmater 799.
Henning 1234.
Henocque 781.
Herff v. 364, 706.
Hering 1075.
Hernandez 802.
Herz 44, 164, 1178.
Herzfeld 170, 267.
Heubner 634, 950.
Heymans 889.
Hildebrand 446.
Hinterstoisser 1036
Hirsch C. 172.
Hirsch 443.
Hirschl J. 622.
Hirschsprung 633.
His 543, 945.
Hitschmann 69, 579, 705,
1045.
Hitschmann Fritz 1075.
Hitzig 745.
Hochenegg 4, 219, 291,
319 415.
Hochsinger 418, 1232.
Hochstetter 700.
Hock 524.
Hockauf 142.
Hödlmoser 644, 1007, 1228.
Hoff 1041.
Hoffmann 541, 1231.
Hogge 763.
Hofmeister 287.
Hoisl 519.
Holl 311.
Holländer 541.
Holländer 541.
Holzknecht 225, 268, 573,
648, 1177.
Homa 1108.
Horchhaus 945.
Hübl III, 705.
Imhofer 1181.
Infeld 1011.
Isoo 409.
Israel 471, 495.
Jacobi 952.
Jacobs 870.
Jacobssohn 954.
Jadasohn 921.
Jellinek 1 186.
Jendrassik 924.
Jeney 377.
Johanessen. V. 951.
Julies 490.
Jonnesco 800, 801, 802,
893.
Joseph H. 46.
Joseph J. 840.
Juffinger 700.
Jung 1231.
Kaposi 247, 285, 395.
Kapper 153, 725.
Karamitas 838.
Karplus 357.
Kassowitz 1210.
Katzenstein 1076.
Keen 868.
Kehr 537.
Kelling 654, 655.
Keschmann 747.
Kienböck 166, 441, 1004,
1053, 1153.
Kirchmayr 1038.
Kisch 416.
Klein S. 45, 121.
Kluczenko 933.
Knapp 1169, 1226.
Knoepfelmacher 100, 306,
651, 831 1188.
Knorr 660.
Köhler 447.
Koch J. 1231.
Kohn A. 609.
Koenig Fr. 443.
Kokoris 751.
Konzert 173.
Koranyi 414.
Kornfeld 358, 1147.
Körte 442, 539.
Koschier 374, 1214, 1215.
Kötschau 364.
Kowarski 552.
Krafft- Ebing 222, 759, 1181.
Kraus (Graz) 721.
Kraus 380.
Kraus (Prag) 542.
Krause 537, 802, 1182.
Kraus R. 49.
Kreibich 21, 247, 285.
Kreidl 650.
Kretz 271, 530, 606, 1071,
1137.
Krokiewicz 727.
Kronacher 656.
Krönlein 397, 535.
Kümmel 124, 248, 270, 286,
496.
Kum 359.
Kuthy 447.
Labadie 890.
Landolt 46.
Laudow 948.
Lang E. 21, 245, 247.
Lange 398, 656.
Laqueur 46.
Lassar 923.
Latzko 330, 511, 533.
Lauenstein 287.
Launois 864.
Laveran 819.
Le Fort 801.
Lejars 869.
Leick 46.
Leiner 1200.
Lenne 567.
Lennhoff 566.
Lenoble 839.
Lenzmann 946.
Leo 592.
Leube 741.
Lewkowicz 206, 233-
Lexer 540.
Liebreich 889, 890.
Lindenthal 1057.
Lissau 1180.
Litten 542.
Löbel 520.
Lode 172.
Loeper 864.
Longard 948.
Longard 983.
Loosdorfer 413.
Lorenz 895, 924.
Lorenz W. 1019.
Löwit 326, 472.
Lotheissen 47, 203, 700,
701.
Lucke 83. 624.
Ludwig E. 617, 729-
. Ludwig H. 117, 612, 695,
878.
WIENEU KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
XVI
Luithlen 716.
Luksch 404, 592.
Lüthje 1231.
Magnus-Levy 544.
Mahler 1051, 1219.
Mangold 443.
Mannaberg 799,
Marburg 667.
Marcus 871.
Marfant 953.
Marini 840.
Marro 760.
Martin 380, 1076.
Masius 837.
Mathieu 799.
Mattirolo 56.
Matzenauer 22, 23, 174,
202, 467, 534,4077, 1233.
Mauclaire 866.
Mayer H. 1152.
Maylard 870.
Merklen 838.
Mellin 382.
Monz 427.
Metnitz 718.
Mettnier 765.
Michaelis 566.
Michaelis 566.
Michailowski 801.
Michanx 780, 800.
Michel 780.
Michele 56.
Mignon 866.
Mincroini 779. •
Minkowski 541.
Moll 1006.
Monakow 746.
Monti 952.
Morestin 867, 868, 801.
Moriati 1031.
Moritz 446,
Moro 114.
Moussous 949.
Mracek 514.
Müller A. 363, 659.
Müller 566.
Müller K. 590.
Müller W. 948.
Münzer 591.
Murphy 892.
Mya 782.
Nachod 517.
Nanu 802, 870.
Narath 73.
Neisser 746.
Netter 783, 800.
Neumann 21, 22, 246, 285,
105, 1147.
Neurath R. 563.
Neusser 445.
Neustadt! 516.
Nicoletti 779.
Niehus 983, 1031.
Nitze 14.
Nobl 21, 285.
Noriega 867.
Notthafft 224, 248.
Obersteiner 439, 738, 1026.
Oefele 599.
Olshausen 537.
Oppenheimer 381.
Ortner 488, 627, 999.
Pal 1030.
Paltauf 197, 1190.
Panzer Th. 617, 729.
Papilion 865.
Passini 932.
Pauli 66, 487. 607, 815.
Payr 540, 707, 732.
Peiper 46.
Pel 444.
Pendl 267, 498.
Peraire 802.
Peters 110.
Petersen 536, 892, 1004,
1031.
Petfina 517.
Pfaundler M. 397, 803.
Pichler J. 89.
Pick 744, 1236.
Pick A. 449, 823.
Pick E. 1148.
Pick Fr. 324, 517, 518,
544, 838, 1148.
Piering 590.
Piffl 145.
Pilcz 276, 361, 1181.
Pincus 660.
Poehl 542.
Piskacek 116.
Polak E. 7i2.
Politzer 312, 361, 1236.
Poliak J. 59, 327, 575,
816, 1235.
Ponfick 919.
Porges 597.
Posselt 700.
Pousson 764.
Prantner 281.
Prausnitz 1055.
Preindlsberger 520, 523-
Prus 451, 482.
Psaltoff 890.
Pupovaö 344.
Quadflieg 983.
Quecrolo 542.
Rabl 192.
Racoviceanu 779.
Raimann 31, 175, 723.
Recklinghausen v. 515.
Redlich E. 97, 117.
lielin 415.
Reichel 443.
Reichelt 813.
Reinbach 654.
Reiner 286.
Reisinger 537.
Renon 839, 856.
Rethi 490, 631.
Reynes 8C0.
Rieck 631.
Riedinger 286, 287.
Riehl 837.
Rille 22, 23, 47, 147, 172,
173, 637, 699, 1150.
Risso 22.
Ritter 1231.
Ritter v. 517.
Rommel 638.
Rosemann 46, 99.
Rosenthal 268.
Rosmanit 355.
Rossi 1210.
Rosthorn 722, 909, 936
Roth 201.
Rotlischuh 947.
Roux 627, 891.
Rubinstein 541.
Rumno 865.
Rumpf 920.
Rybiczka 209.
Salzmann 512.
Santorph 763.
Sarwey 290.
Savor' 329, 346. 435f 704,
1044.
Schaffer 374.
Schanz 541.
Schatz 363, 658.
Schauta 101, 704.
Scheib 590, 1148.
Scheidl 268.
Schenk 517, 609.
Schenk F. 319, 435.
Schiff 588, 829.
Schiff 1029, 1210.
Schiffka II.
Schiffers 822.
Schlagenhaufer 885, 1093.
Schlagintweit 202, 223.
Schlesinger H. 25, 98, 169,
409, 511, 901.
Schloffer 1150.
Schlossmann 637.
Sffimid R. 393, 650, 1033.
Schmidt M. 1032.
Schmidt 286.
Schmiegelow 954.
Schmit 613.
Schmorl 638.
Schnabel 469.
Schnitzler 198, 489.
Schopf 12.
Schott 446.
Schuchardt 416.
Sclnicking 364, 657.
Schudmak 661.
Schuhmacher S. 98.
Schüller 526.
Schultliess 655.
Schnitze 1099.
Schulz 656.
Schulze 948.
Schürmayer i)46.
Schuster 480.
Schütz E. 165.
Schwartz 867, 890.
Schwarz E. 246, 1003.
Schwatz J. 447.
Schwarz K. 1224.
Schwarz L. 544, 591, 1180.
Seegen 741.
Segale 801.
Seiffert 568.
Sergent 864.
Severano 780, 801.
Seydel 289.
Siebert 248.
Simond 893.
Singer A. 281, 314, 335,
556, 718, 1114.
Sinnreich 187.
Siredey 866.
Smith 542, 947.
Solger 99, 631.
Soltmann 636.
Sonnenberger 472, 639.
Sorel 870.
Soubbovitsch 800.
Souligoux 891.
Spee 656.
Spiegelberg 568.
Spiegler E. 170, 562, 1094.
Sprengel 536.
Starke 5 44.
Steinbüchel 706.
Stein L. 993, 1084.
Steiner F. 1109.
Steiner J. 269, 373, 1094.
Steinthal 536, 654.
Stern 1076, 1099.
Sternberg 66, 118, 215,548,
551, 706.
Sternberg M. 574.
Stoerk 216, 774, 1112.
Stolz 721.
Stransky 360.
Strasser 416.
Strauss 566, 765.
Strubell 542.
Strübing 46.
Stubenrauch 443.
Tandler 121, 1052.
Tausch 656.
Ten Cate 360.
Theilhaber 380.
Thenen 365.
Theodor 636.
Thiery 866, 890.
Thimich 398.
Tilmann 46.
Tobeitz 1055.
Toff 254, 692.
Tonta 655.
Töply 212.
Török v. 458.
Triboulet 839.
Triepel 268.
Trnka 1148.
Trumpp 634.
Trunczek 779.
Tuffier 779, 842.
Türck 780.
Türk 293, 327, 472.
Uulenhut 173.
Ul 1 mann K. 887.
Ullmann 534, 890.
Unger 309.
Unna 23, 923.
Urbantschitsch 44
Variot 953.
Veit 363.
Vercesco 893.
Vierordt 541.
Viertel 983.
Vierthaler 223.
Vidal 838.
Villard 800, 839.
Vincent 839.
Vlaehos 661.
Voisin 761.
Vulpius 541, 055, 868,
1031.
Waelsch 1123.
Wagner v. 134, 419.
Waldstein 701.
Wassermann 566.
Wendzilocwicz 447.
Weinberger 183, 648.
Weinlechner 69, 219, 283,
489, 511, 561, 587, 1209.
Weintraud 446, 946.
Weiser 436.
Weismayr v. 263, 461, 462,
1027.
Weiss A. 610.
Weiss S. 44, 1141.
Weiss H. 1209.
Weiss O. v. 520.
Wenckebach 445.
Wertheim 381, 1191, 1 178.
Wertheimber 592.
Westphal 1231.
Wesener 947.
Wiek 535.
Widal 840.
Wiener E. 646.
Winterberg 873.
Winternitz 470, 520.
Winternitz 659.
Wintersteiner 978.
Wittek 721.
Wohlgemuth V. 541.
Wülfler 93, 145.
Wossidlo 224.
Wunschheim 378, 681.
Yersin 893.
Zab<$ 800.
Zabludowski V. 541.
Zappert 565, 722, 1196.
Zaufal 609.
Zeisssl v. 793.
Zeynek v. 942.
Ziehen 760.
Ziegenspeck 380.
Ziem 925, 970.
Ziembicki 868.
Zimmermann 378.
Zuckerkandl E. 610.
Zuckerkandl O. 8.
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M. Gruber, M. Kaposi, Ph. Knoll, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing,
I. Neumann, R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt,
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Herausgegeben von
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L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigirt von !)i*. Alexander Fraenkel.
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I H>T BZ -A- ZL T:
(AUe Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel: 1. Zur Jahrhundertwende. Von A. F.
2. Aus der I. medicinischen Klinik (Hofrath N 0 t h nage 1). Beitrag
zur Lehre von der Abstammung der Harncylinder. Von Dr. Ernst
v. Czyhlarz, Assistenten der I. medicinischen Klinik.
3. Zur klinischen Bedeutung der Nierendystopie. Ein Fall von ope-
rirter Beckenniere. Von Prof. Dr. J. Hochenegg.
4. Eiuige seltenere Concretionen der menschlichen Harnwege. Von
Dr. O. Zuckerkandl.
5. Aus Prof. v. Frisch’s Abtheilung für Krankheiten der Harn¬
wege. Ein neues Kystoskop zum Katheterismus der Ureteren. Von
Dr. M. Schlifka, Assistenten der Abtheilung.
11. Feuilleton: 1. Zum Neubau des Wiener k. k. Allgemeinen Kranken¬
hauses. Schaffung einer chirurgischen Isolirabtheilung. Von Primar¬
arzt Dr. F. Schopf.
2. Die neue Rigorosen- und Studienordnung für die medicinischen
Faceltäten Oesterreichs. Von A. F.
III. Referate: Die localen Erkrankungen der Harnblase. Von Otto Z u cker-
kandl. Ref. Nitze. — I. Tripper und Ehe. Von Dr. med. L. Jullien.
It. Die Th 0 m p so u’sche Zwei- Gläser- Harnprobe und ihre diagnostische
Verwertliung Von Dr. Richard Hofmeister III. Die amt-
liehen Vorschriften betreffend die Prostitution in Wien in ihrer
administrativen, sanitären und strafgerichtlichen Anwendung. Von
Dr. Josef Schrank. IV. Die Prostitution. Von Stroh mb erg.
V. Cure prompte et radicale de la Syphilis — Syphilis et
Mercure. Par le Dr. J. F. L a r r i e n. VI. Die Akne (Acne vul¬
garis, Acne rosacea etc.) und ihre Behandlung. Von Dr. Jessner.
VII. Pathologie und Therapie der Hautkrankheiten in Vorlesungen
für praktische Aerzte und Studirende. Von Dr. Moriz Kaposi.
\ III. Handatlas der Hautkrankheiten für St tdirende und Aerzte.
Aon Dr. M. Kaposi. Ref. Finger. — Zur Geschichte 4 r
Syphilis in China und Japan. Von Dr. Tatsuhiko Okamurn.
Ref. L. Freund.
IV. Aus verschiedenen Zeitschriften.
V. Therapeutische Notizen.
IV. Notizen.
VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichto.
Mit 4. Januar 1900 begann der XIII. Jahrgang der
„Wiener klinischen Wochenschrift“
zu erscheinen.
Ich beehre mich, zum
bonne xrx ent
höflichst einzuladen und um baldgefällige Bestellung zu bitten.
Der Preis im Inland beträgt bei directer Zusendung ganzjährig K. 20,
halbjährig K. 10; für das Ausland ganzjährig 20 M., halbjährig 10 M. und
Porto.
Wilhelm lirauwüller
k. u. k. Hof- und Universitätshuchhändler
Wien, VIII/ 1 , Wickenburggasse 13.
Zur Jahrhundertwende.
Eine dankbare Aufgabe wird Demjenigen zufallen, der
berufen sein wird, den Antheil der medicinischen Wissenschaft
des XIX. Jahrhunderts an dem allgemeinen Culturfortschritt
zu schildern.
Die Aerzte, zumal jene, deren Wirken in die zweite
Hälfte dieses grossen und bewegten Säculums fällt, können,
an der Schwelle des XX. Jahrhunderts Rückschau haltend, dem
Schicksal danken, das ihnen vergönnt hat, solche Förderung
des Wissens und solchen Zuwachs des Könnens zu erleben.
7
wie ihn die wissenschaftliche Thätigkeit gerade dieser Zeit¬
läufte zu Tage gefördert hat.
Alle Culturarheit läuft auf die Beglückung der Mens 1 -
heit hinaus und der Arzt hat den Beruf, hiezu die Grund¬
bedingungen zu schaffen.
Die Sociologen und mit ihnen die Aerzte als Sociologen
kämpfen Schulter an Schulter den gemeinsamen Kampf gegen
alles unverschuldete Elend, das die Menschen trifft.
Die Prophylaxe dessen, was man im Allgemeinen
als Unglück empfindet, ist trotz aller bis tief in die
Vorzeit reichenden Bestrebungen über ein gährendes, un¬
geklärtes Werdestadium noch nicht hinausgekommen. Den
allgemein humanitären Bemühungen ist das grosse Werk noch
bei Weitem nicht gelungen, weder mit noch ohne den Rück¬
halt der Religionen. Trotz aller Kämpfe und trotz aller socialen
Revolutionen ist die Formel noch nicht gefunden, durch welche
Hunger, Noth und allerlei moralisches Elend aus der Wel
geschafft werden könnte.
Die Prophylaxe aber gegen jenen Theil des menschlichen
Unglücks, das durch Seuchen über Städte und Länder ver¬
heerend hereinbricht, sie ist in grossen Zügen gegeben, und
diese Errungenschaft bildet als eine Frucht rein wissenschaft¬
licher Arbeit einen der grössten Ruhmestitel, der aus den
culturellen Ergebnissen für das verflossene Jahrhundei t in
Anspruch genommen werden kann.
Thurmhoch überragt in ihrer menschenbeglückenden
Wirkung diese Errungenschaft alle Fortschritte, die sonst das
Zeitalter des Dampfes und der Elektricität der Menschheit ge¬
bracht hat.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 1
Der durch die Impfung gegebene Blatternschutz, die heute
wohl über jeden Zweifel stehende Heilbarkeit der Diphtherie,
die durch geläuterte und gefestigte Erkenntnisse gebotene
Möglichkeit, die meisten und gerade die gefährlichsten Infeetions-
krankheiten in engen Grenzen zu halten, die rasch und zu
prächtiger Entfaltung gediehene hygienische Wissenschaft mit
ihren der Wohlfahrt von Stadt und Land gewidmeten technischen
Einrichtungen, die Antiseptik im weitesten Sinne des Wortes,
welche die durch die Fährlichkeiten des täglichen Lebens beding¬
ten Verwundungen, wie nicht minder jene durch Kriegswaffen
erzeugten — woferne sie nicht an und für sich töddich sind —
in der weitaus grössten Mehrzahl der Fälle der Heilung zu¬
führen lässt, die allgemeine und die örtliche Betäubung gegen
durch nothwendige operative Eingriffe hervorgerufenen Schmerz,
die wunderbare, zu ungeahnter technischer Vollendung ge¬
diehene chirurgische Kunst, welche bei bis vor wenig Jahr¬
zehnten noch völlig unheilbaren Leiden noch helfend, lindernd
und oft genug auch dauernd heilend eingreift — welche
Summe von menschlichem Elend und Unglück ist durch all
diesen Zuwachs an ärztlichem Können von vorneherein ver¬
hindert, völlig gebannt oder zum Mindesten gemildert worden!
All diese Errungenschaften blieben erst dem XIX. Jahr-
hundert Vorbehalten, als jener Zeit, in der die Medicin sich
zur Höhe echt naturwissenschaftlicher Principien der For¬
schung emporschwang und mit Mysticismus, althergebrachten
aprioristischen Ideen und Doctrinen, mit metaphysischen Spe-
culatiouen in gleicher Weise wie mit dem rohen Empirismus
tabula rasa machte. Beobachtung und Experiment
wurden die unerschütterlichen Säulen, bestimmt, den mächtigen
Bau der Medicin des XIX. Jahrhunderts sicher zu tragen.
Die culturelle Höhe der Völker und Staaten kann nicht
nur an den Leistungen einzelner gottbegnadeter Menschen
gemessen werden. Das eigentliche Mass für die Civilisation
liegt vielmehr auch darin, inwieweit die wissenschaftlichen Er¬
rungenschaften sich in den staatlichen Einrichtungen geltend
machen und der grossen Masse des Volkes zu Gute kommen.
Und da dürfen wir uns keiner Täuschung hingeben: noch
ist die Rückwirkung all unserer grossen Errungenschaften für
das öffentliche und allgemeine Wohl und für die allgemeine
Beglückung bei Weitem nicht in jenem Masse erfolgt, wie man
es erwarten sollte. Noch ist jenem Stande, der mit solchen
Erfolgen sich ausw^eisen kann, auch nicht im Entferntesten
jener Einfluss im öffentlichen Leben eingeräumt, der ihm natur-
gemäss gebühren würde. Im Leben der Staaten und Völker
hat die Culturarbeit der medicinischen Wissenschaft noch
keineswegs jene entscheidende Bedeutung gewonnen, die eine
echte und erleuchtete Humanität, eine auf unanfechtbare Basis
gestellte Sociologie ihr unbedingt einräumen müsste. Die
grossen Massen des Volkes stehen den Errungenschaften der
Medicin noch verständnislos gegenüber und Diejenigen, die
an der Spitze der nach den verschiedensten guten und ver¬
werflichen, gesunden und ungesunden Ideen gruppirten Volks¬
vereinigungen stehen, finden kaum je ein verständnisvolles,
auf klärendes Wort, durch welches sie die grossen Massen auf¬
klären würden, wie viel menschliches Elend, wie viel über¬
flüssiges Unglück noch in der Welt sich lediglich deswegen
breit macht, weil im modernen Staate den humanitären Forde¬
rungen der ärztlichen Wissenschaft nicht in gebührendem
Masse Rechnung getragen wird.
Und die Aerzte! Gehen sie etwa gehobenen Hauptes ins
XX. Jahrhundert, mit der Genugthuung in der Seele,
einem Berufe anzugehören, der angesichts solcher Leistungen ge¬
tragen wird von der Achtung und Dankbarkeit Aller? Wer wüsste
es nicht, dass dem nicht so ist! Die Wohlfahrt der Menschheit
steht zum grossen Theil im geraden Verhältnisse zu jener der
Aerzte. Je allgemeiner diese unumstössliche Wahrheit in das
Bewusstsein des Volkes dringen wird, je mehr Gewicht im
staatlichen Areopag, in Verwaltung und Gesetzgebung der
Stimme des Arztes beigemessen werden wird, je weiter die
Volksbildung schreiten wird und mit ihr die Aufklärung über die
einfachsten Principien der Hygiene, der Prophylaxe, je mehr
die Führer des Volkes sich es angelegen sein lassen werden,
das Ansehen der Aerzte zu festigen und in der Durchführung
der ärztlichen Forderungen einen der wichtigsten sociologischen
Postulate zu sehen, und je mehr endlich Staat und Gesellschaft
sich in dem Bestreben vereinen werden, die medicinische
Wissenschaft durch generöse materielle und weitestgehende
moralische Unterstützung zu fördern, umso mehr wird dazu
beigetragen werden, die Menschheit zu beglücken und jener
Theil der socialen Frage, der auf der Grundlage der all¬
gemeinen körperlichen Wohlfahrt fusst, wird seiner Lösung
entgegensehen können.
Den Aerzten aber bleibt unter allen Umständen das
schöne Bewusstsein, im XIX. Jahrhundert ein bedeutendes
Stück unvergänglicher Culturarbeit geleistet zu haben. Das
Erreichte wird nur der Ansporn und der Ausgangspunkt
weiteren Strebens und Schaffens sein. Die Aerzte gehen
mit der Devise eines ihrer Grössten, Theodor Billroth’s,
auch in’s XX. Jahrhundert, die da lautet: »Lernen und
helfen!« A. F.
Aus der I. medicinischen Klinik (Hofrath Nothnagel).
Beitrag zur Lehre von der Abstammung der
Harncylinder.
Von Dr. Ernst v. Czyhlarz, Assistenten der I. medicinischen Klinik.
Die Entdeckung der Harn-, beziehungsweise Nieren-
cylinder wird Henle zugeschrieben, obzwar sie unzweifelhaft
schon früher gesehen wurden, jedoch nicht die entsprechende
Beachtung gefunden hatten. Henle hatte jedoch ihre Bedeu¬
tung richtig erkannt (1842).
Er befasste sich auch bereits mit der näheren Unter¬
suchung derselben. Er betrachtete wohl eigentlich nur die
sogenannten hyalinen Cylinder. Nur diesen brachten auch
die späteren Autoren fast ausschliesslich Interesse entgegen.
Henle fragte sich bereits, woher die hyalinen Cylinder
stammen. Auf Grund der Quellbarkeit in Essigsäure und ihres
vornehmlichen Vorkommens in Fällen von entzündlicher
Affection der Nieren sprach er die Ansicht aus, dass sie aus
Faserstoff bestünden und nannte sie Fibrincylinder (später
nannte er sie allerdings nur faserstoff- und gallertartig).
Trotzdem C. E. L. Mayer schon 1853 die Ansicht
vertrat, das nur ein kleiner Theil dieser Cylinder die damals
gekannten Fibrinreactionen gebe, blieb doch im Allgemeinen
die ursprüngliche Ansicht H e n 1 e’s in Geltung.
Alle älteren Autoren acceptirten sie und so finden wir
sie auch in allen älteren Lehr- und Handbüchern vertreten,
so bei K 1 e b s, Rindfleisch, Bartels, C. O. Weber,
E. Wagner, Cohn heim, Perls-Neelsen. Rind¬
fleisch z. B. spricht direct von einer croupösen Nephritis
mit fibrinöser Oberflächenabsonderung, stellt die Nieren-
cyliuder in eine Parallele mit den Abgüssen enger Bronchial¬
lumina, den sogenannten »Fibringerinnseln« bei croupöser
Pneumonie. Nur ganz vereinzelt begegnen wir weniger kate¬
gorischen Angaben, wo wenigstens für einen Theil der hyalinen
Cylinder eine andere Aetiologie als möglich betrachtet wird
(Perls-Neelse n).
Dieser älteren Ansicht traten zuerst Oedmanson und
Axel Key entgegen und sprachen die Ansicht aus, dass die
hyalinen Cylinder zum Theile ein Secretionsproduct der Nieren-
epithelien darstellen, zum Theile aus homogen metamorpho-
sirten und unter einander versintenden Nierenepithelien ent¬
stünden.
Besonders aber Rovida schloss sich energisch der An¬
nahme an, dass die Harncylinder zum grössten Theile nichts
mit Fibrin zu tliun haben. Echte Fibrincylinder will er nur
dann gefunden haben, wenn Blutungen stattfanden, so dass im
Urin Blut erscheint.
Die hyalinen Cylinder hätten zwar manche Eigenschaften
mit Fibrin gemeinsam (Reaetionen mit Metallsalzen, Alkohol,
alkoholische Jodlösungen, Gerbsäure, Essigsäure, Millon's
Reagens, Löslichkeit in Harnstoff); doch spricht ihr verschie¬
denes Verhalten gegen Wasser, Chlornatrium, Mineralsäuren
durchaus gegen eine solche Identität.
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900
3
Mit Entschiedenheit machte Bizzozero die Ansicht
R o v i d a’s zu der seinen und meint mit diesem, dass die
hyalinen Cylinder Secretionsproducte der Epithelien seien,
ebenso wie Mucin von Zellen der Schleimhäute und Drüsen
producirt würde.
Diesen schlossen sich auch Oertel und Cornil an.
Diese zuletzt dargelegten Anschauungen wurden aber
wieder vollständig erschüttert durch die Mittheilungen von
Weissgerber und Perls. Diese Autoren gingen die Frage
auf experimentellem Wege an; sie engten die Nierenvene ein
und fanden nun in der dazugehörigen Niere bei mikroskopi¬
scher Untersuchung zahlreiche hyaline Cylinder. Da sie an
den Epithelien keine Veränderungen fanden, kamen sie zu dem
Schlüsse, dass die hyalinen Cylinder durch Transsudation aus
dem Blute entstünden. Den Einwand, dass ja Epithelien in Folge
Stauung ohne besondere morphotische Veränderungen eine
stärkere secretorische Thätigkeit entfalten könnten, machten sie
sich nicht. So ward die alte Ansicht, die ja, wie schon erwähnt,
von der grossen Mehrzahl der Pathologen nie verlassen wurde,
wieder zur unbestritten herrschenden, besonders da noch
mehrere neue Autoren sie immer wieder bestätigten (R i b b e r t,
Posner, S i n g e r, V e r h o o g e n). Besonders wichtig erscheint
die Angabe Sehrwald’s, dass die hyalinen Cylinder vorüber¬
gehend im Urin verschwinden können, und zwar durch Pepsin
wieder aufgelöst werden, welches ja als Ferment in den Urin
übergehe. Pepsin löse aber andererseits auch Fibrin auf.
Nur ganz vereinzelt steht dem gegenüber die Ansicht
Schachowa’s, der auf Grund von histologischen Unter¬
suchungen der Nieren von mit Kantharidenpulver vergifteten
Hunden annimmt, dass die hyalinen Cylinder durch Degenera¬
tion abgestossener Nierenepithelien entstehen. Ebenso schloss
auch Weigert aus den Resultaten der unter seiner Leitung
angestellten Versuche über die Wirkung des einfach chrom-
sauren Kali auf Hunde, dass homogene Cylinder aus abge¬
storbenem Epithel der Harncanälchen hervorgehen. Nebenbei
erwähnen Laugh ans und Rindfleisch, dass homogene
Cylinder auch durch Degeneration der rothen und weissen
Blutkörperchenoylinder entstehen können.
Knoll, der wieder alle diese Fragen aufnahm und mit
grösserem Material untersuchte, nimmt eine vermittelnde
Stellung ein. indem er Sagt:
»Ein Rückblick auf die geschilderten Beobachtungen an
cylindrischen Conglomeraten des Harnsedimentes lehrt, dass
körnige Harncylinder (sogenannte Detrituscylinder) hervor¬
gehen können aus körnigem Zerfall von Nierenepithel, von
Leukocyten und farbigen Blutkörperchen; homogene Harn¬
cylinder aus körnigem Zerfall von Epithelien, in denen homo¬
gene Schollen und Kügelchen sich entwickelt haben. Das Be¬
stehen anderer als der hier angeführten Bildungsarten homo¬
gener Harncylinder erscheint daher durchaus nicht ausge¬
schlossen. Die Beobachtung, dass aus den Leukocyten des
Harnsedimentes sehr häufig Plasmakugeln hervorquellen, die
erfahrungsgemäss oft zu grösseren, leicht formbaren Körpern
Zusammenflüssen, macht es im Gegentheil wahrscheinlich, dass
auch auf dem Wege der Zellsecretion homogene Harncylinder
entstehen, wie auf Grund mikroskopischer Untersuchung der
Nieren behauptet wurde. Auch kann eine unter Einfluss ab¬
sterbender Zellen erfolgende Betheiligung des gerinnungsfähigen
Nierensecretes an der Bildung homogener Harncylinder keines¬
wegs geleugnet werden.«
Nach der Entdeckung der Fibrinfäi bung AVeigert’s
schien ein Mittel gegeben, die Frage der Fibrincylinder end-
giltig zu lösen. Weigert selbst streift die Frage und äussert
sich dahin, dass Harncylinder bis auf gewisse tropfenförmige
bei Anwendung der Fibrinfärbung ungefärbt blieben.
Eingehend beschäftigen sich damit jetzt O. Israel und
Ernst. Beide kamen zu dem Ergebniss, dass nach den mit
der Fibrinfärbung erzielten Resultaten wenigstens ein grosser
Theil der hyalinen Cylinder als Fibrincylinder angesehen
werden müsse.
Lubarsch wendet sich dagegen und sucht zunächst
zu beweisen, dass die Weigert’sche Färbung nicht nur
Fibrin färbe, andererseits die von Israel und von Ernst
geschilderten Cylinder sich auch mit der Russel’sehen
Fuchsinkörperfärbung tingiren, bei Anwendung welcher die
Fibrinfäden bei Pneumonie ungefärbt bleiben. Umgekehrt konnte
er eine grosse Reihe von Beobachtungen constatiren, welche
das Entstehen aus Zellprotoplasma darthun.
Inwieweit nun allerdings bereits bei dem Zerfall der
Zellen eine Umwandlung des Eiweisses in eine fibrinähnliche
Substanz stattfindet, das will Lubarsch dahingestellt sein
lassen. Jedenfalls hätte man es dann eher mit secretorischem
als mit exsudativem' Fibrin zu thun.
Demgegenüber weist wiederum Ri b b e r t auf Grund der
alten, von ihm wiederholten Versuche mit Abldemmung
der Nierenvene darauf hin, dass sich Transsudatcylinder nach
temporärer Abklemmung leicht erzeugen lassen; die Gerinnung
des eiweisshältigen Exsudates erfolge durch Berührung mit der
Harnflüssigkeit. Dagegen wendet nun Aufrecht wohl mit
Recht ein, dass sich manchmal hyaline Cylinder in den Nieren
fänden, ohne Eiweiss im Urin, ebenso umgekehrt.
Eine ausführliche Arbeit B ur meist er’ s stützt die An¬
schauungen von Lubarsch.
So viel über die hyalinen Cylinder. Von den anderen
Harncylindern ist, wenn man davon absieht, was — - wie aus
dem Vorhergehenden ersichtlich wird - — - so nebenbei erwähnt
ist, fast nichts angegeben. In Betreff dieser letzteren, speciell
der granulirten und Epitheüalcylinder, bin ich auf Grund histo¬
logischer Untersuchungen zu folgenden Ansichten gekommen:
AVas die granulirten Cylinder anlangt, so glaube ich, dass
dieselben hauptsächlich aus Detritusmassen entstehen, die sich
in den gewundenen Harncanälchen bei parenchymatöser und
fettiger Degeneration reichlich finden, wobei auch ein starker
Zerfall der Epithelien dieser Canälchen zu bemerken ist, der
sich in den übrigen Canälchen viel seltener und nur bei sehr
hochgradiger Degeneration der ganzen Niere findet. Es gilt
diese Entstehungsart aber sicher nicht für alle Fälle, da ja
secundärer Zerfall abgestossener Epithelzellen, Leukocyten etc.
falls vorher cylinderartige Anordnung bestanden hat, auch zur
Bildung granulirter Cylinder im Harn führen kann, wie Knoll
schon hervorhebt.
AVas die Bildung von Nierenepitheleylindern
anlangt, so mögen folgende Beispiele zur Illustration dienen.
1. Patient M. C. Chronische parenchymatöse Nephritis.
Im Harnsediment iinden sich neben zahlreichen hyalinen und
einigen granulirten Cylindern zahlreiche Nierenepitheleylinder, daneben
zahlreiche isolirtc Nierenepithelzellen.
Die Section ergab das Vorhandensein einer chronischen paren¬
chymatösen Nephritis.
Die histologische Untersuchung ergab neben dem typischen
Befund der chronischen vorwiegend parenchymatösen Nephritis, dass
die Epitheldesquamation ausschliesslich die Sammelröhrchen betraf.
2. Patient K. F. Acute parenchymatöse Nephritis bei Pneu¬
monie.
Im Sediment zahlreiche Epitheleylinder.
Bei der histologischen Untersuchung fand sich Desquamation
fast ausnahmslos in den Sannnelröhrchen.
In beiden Fällen fand sich also die Desquamation der
Epithelien hauptsächlich in den Sammelröhrchen.
Solche Fälle hatte ich noch mehrfach Gelegenheit, zu
beobachten. Ueberhaupt konnte ich constatiren, dass, wenn die
Epitheldesquamation nicht ganz allgemein war, immer eine vor¬
wiegende Betheiligung der Sammelröhrchen sich beobachten
liess. Es scheinen eben die verschiedenen Partien der Niere
in verschiedener AVeise zur Desquamation zu neigen.
Kann man doch auch sehen, dass bei Katarrhen
verschiedene Schleimhäute, die einen ähnlichen Bau aufweisen,
sich untereinander verschieden verhalten. So finden wir bei
Bronchitis vorwiegend Leukocyten im Secrete, bei dem Darm¬
katarrh vorwiegend Epithelzellen.
Dass die im Plarne gefundenen Nierenepithelzellen aus
den oberen, speciell aus den gewundenen Harncanälchen kaum
stammen können, dafür spricht schon ein Blick auf das Vei-
hältniss der Grösse des Lumens der Henle’schen Schleifen
4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900
Nr. 1
und der Grösse einer Epitlielzelle der gewundenen Canälchen,
wonach man kaum verstehen kann, dass ein Durchtritt
der letzteren durch die ersteren erfolgen könne.
Zum Schlüsse erlaube ich mir, meinem hochverehrten
Chef, Hofrath Nothnagel, für seine Förderung bestens zu
danken.
Literatur.
H e n 1 e, Zeitschrift für rationelle Medicin. I.
C. E. L. M a y e r, Virchow’s Archiv. Bd. V.
liovida, Untersuchungen zur Naturlehre von Moleschott.
Band X.
Oedmanson und Key, citirt nach R o v i d a.
Bizzozero, Klinische Mikroskopie.
Weissgerber und Perl s, Archiv für experimentelle Pathologie.
Posner, Virchow’s Archiv. Bd. LXXIX.
Singer, Zeitschrift für Heilkunde. Bd. VI.
Verhoogen, Journal de Bruxelles. 1889.
S e h r w a 1 d, Deutsche medicinische Wochenschrift. 1890.
Ribbert, Centralblatt für medicinische Wissenschaften. 1881.
Schach owa, Inaugural- Dissertation 1876, citirt nach Knoll.
W e i g e r t, Volkmann’s Sammlung klinischer Vorträge. 1879.
K n o 1 I, Zeitschrift für Heilkunde. 1884.
W e i g e r t, Fortschritte. Bd. V.
Israel 0 , Virchow’s Archiv. Bd. CXXIII.
Ernst P., Ziegler’s Beiträge. Bd. XII
Ribbert, Centralblatt für pathologische Anatomie und experimen¬
telle Pathologie. 1892.
Derselbe, Centralblatt für pathologische Anatomie und experimentelle
Pathologie. 1893.
Lu barsch, Centralblatt für pathologische Anatomie und experi¬
mentelle Pathologie. 1893.
Aufrecht, Centralblatt für innere Medicin. 1894.
Burmeister, Virchow’s Archiv. Bd. CXXXVII.
Zur klinischen Bedeutung der Nierendystopie.
Ein Fall von operirter Beckenniere. *)
Von Prof. Dr. J. Hoelienegg.
Ein ungemein seltenes Vorkommniss veranlasste mich unlängst,
eine Frau zu operiren, deren Hauptklagen in hartnäckigster Stuhl¬
trägheit mit allen ihren lästigen Consequenzen bestanden.
Die Patientin konnte trotz Abführmittel und Irrigationen, trotz
Massage und allen nur erdenklichen Behandlungsmethoden nur alle
10 14 Tage Stuhl absetzen. Nach einer Entleerung fühlte sie sich
dann für kurze Zeit wohler, sehr bald aber quälte sie von Neuem
der aufgetriebene Bauch und das vorige Stuhlbedürfniss.
Mit gesteigerter Intensität machten sich die verschiedensten
nervösen Störungen geltend, die ihr selbst und ihrer Umgebung das
Leben verbitterten.
Ich erfuhr weiters von der schon in ihrem äusseren Gebahren
den Typus einer nervös Verstimmten zeigenden 52jährigen Patientin,
dass sie eigentlich schon als Mädchen an Stuhlträgheit gelitten habe,
nur hatte sie damals weniger Beschwerden davon gehabt.
Erst in ihrer Ehe verschlechterte sich ihr Zustand, namentlich
unter dem Einüusse der Schwangerschaften und Geburten. Patientin
war siebenmal gravid; viermal trat Abortus, respective Frühgeburt
ein (3 — 8 Monate) und nur dreimal wurde die Gravidität vollendet.
Auffallen muss es, dass alle Geburten ungemein lange dauerten und
jedes Mal in Steisslage erfolgten.
Eine Ursache für den Eintritt der Frühgeburten, respective
des Abortus konnte niemals eruirt werden.
Nach der dritten Entbindung machte Patientin einen schweren
Puerperalprocess durch, von dem sie sich nur sehr allmälig erholte.
Die letzte Entbindung war vor 20 Jahren. Seither steigerte sich
ihre Stuhlträgheit in qualvoller Weise und es stellten sich schwere
nervöse Störungen ein, die für hysterische gehalten wurden.
Wie es bei so chronischen Leiden schon zu gehen pflegt,
Patient und Umgebung gewöhnen sich an dieselben, und wenn nicht
eine neuerliche Verschlimmerung den Anstoss zur Behandlung ab¬
gibt, lässt man den Dingen ihren Lauf und frettet sich, so gut es
eben geht, durchs Leben. So ging es auch bei unserer Patientin durch
eine Reihe von Jahren. Erst im Sommer d. J. veranlasste eine be¬
deutende Steigerung der nervösen Symptome (Patientin war von
heftigem Schwindel geplagt, sie wurde häufig für Stunden sprachlos,
’) Vortrag, gehalten in der Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte
am 15. December 1899.
hatte Verfolgungswahnideen etc.), dass neuerdings ärztlicher Rath
eingeholt wurde.
Bei einer vorgenommenen gynäkologischen Untersuchung (Hof¬
rath Ghrobak) wurde als die wahrscheinliche Ursache der Stuhl-
verhaltung und der nervösen Störungen ein ganseigrosser, glatt-
wandiger Tumor im kleinen Becken constatirt. Der Tumor imponirte
als ein Myom im linken Ligamentum latum und es war bei seiner
Lage vor- und seitwärts vom Rectum verständlich, dass er diesen
Darmahschnitt zu comprimiren und so das causale Moment für die
Stuhlverhaltung abzugeben im Stande sei.
Es wurde zur Operation gerathen. Die Patientin konnte sich
aber damals nicht zur Operation entschliessen, weshalb ihr an-
gerathen wurde, nochmals während des Sommers einen Versuch
mit einer Kaltwasserbehandlung zu machen. Für kurze Zeit trat
nach dieser Cur thatsächlich Besserung ein, aber schon im September
wurde wieder über die alten Beschwerden geklagt. Dazu kam noch,
dass Patientin von nun an keine Abführmittel mehr vertrug, sondern
fast regelmässig nach solchen Uebelkeiten und Krämpfe bekam,
und dass bei Irrigationen Patientin häufig ohnmächtig wurde und
dass es immer schwerer gelang, ein Rohr bei dem Tumor vorbei
höher in den Darm hinaufzubringen, um so zu ermöglichen, dass
Flüssigkeit einströme. Eine weitere Veränderung bestand darin, dass
Patientin jetzt nur mehr in horizontaler Lage Stuhl abzusetzen
im Stande war.
Ueber Anrathen des Hausarztes wurde ich nun beigezogen.
Icli constatirte ebenfalls den Tumor im kleinen Becken und schloss
mich der Diagnose »Myom« an. Da icli durch den Tumor thatsächlich
des Rectum nach rechts verdrängt und von vorne her comprimirt
fand, rieth auch ich zur Operation, leimte aber dieselbe für meine
Person ab, da ich mir die Meinung gebildet hatte, dass der Tumor
vom Genitale ausgehe und leicht per vaginam zu exstirpiren sein
würde. Ich hielt daher den Fall für einen rein gynäkologischen.
Ich erfuhr nun längere Zeit nichts mehr von der Patientin,
bis mich Herr Prof. Schauta wieder zu ihr zum Consilium
berief. Prof. Schauta hatte, in der Annahme dass es sich um
eine im Douglas fixirte Ovarialgeschwulst handle, Tags zuvor (24. Sep¬
tember) mittelst hinterem Vaginalschnitt den Douglas eröffnet, um
auf diesem Wege die Exstirpation der Geschwulst vorzunehmen.
Dabei fand er zu seinem Erstaunen den Douglas leer, die Adnexe
und den Uterus vollkommen normal und konnte constatiren, dass
die Geschwulst ausser Zusammenhang mit Uterus oder Ovarium
retroperitoneal der vorderen Fläche des Sacrum auf liege, und dass
zwischen ihr und dem Sacrum das Rectum eingezwängt verlaufe.
Da die Geschwulst weder vaginal exstirpirbar war, und gewiss aucli
für den abdominellen Weg grosse Schwierigkeiten zu bieten schien,
schloss Prof. Schauta die Cöliotomiewunde im hinteren Scheiden¬
gewölbe und überliess mir die Patientin, um auf sacralem Wege
die Exstirpation der ganz räthselhaften Geschwulst vorzunehmen.
Am 26. September vollführte ich nun, nach nochmaliger
Digitaluntersuchung des Rectums, die Exstirpation. Auch in Narkose
konnte ich constatiren, dass die Geschwulst sicher nicht vom Rectum
ausgehe, sondern diesem nur ungemein innig anliege und dasselbe
in schon geschilderter Weise verdränge und comprimire.
Da die Geschwulst geradeso wie ein massig hoch gelagertes
Rectumcarcinom in der Concavität des Kreuzbeines lag, und der
obere Pol des gänseeigrossen und eiförmigen Tumors ungefähr in
der Höhe des Promontoriums abgrenzbar war, da mir ferner der
topographische Befund des Herrn Prof. Schauta besagte, dass
die Geschwulst retroperitoneal liege, fand icli es auch am zweck-
mässigsten, die Exstirpation auf sacralem Wege anzugehen.
in gewohnter Weise und üblicher linken Seitenlage der Patientin
vollführte ich die Voroperalion gerade so, wie ich dies bei meinen
Rectumexstirpalionen zu thun pflege, d. h. mit etwas bogenförmigem
Schnitt legte ich die untere Partie des Kreuzsteissbeines frei, enucleirte
zuerst das Steissbein und entfernte mittelst Knochenzange die zwei
unteren Kreuzbeinwirbei. Darauf isolirte ich nach Spaltung des Zell¬
gewebes das Rectum an der linken Seite leicht von dem bereits
deutlich fühlbaren Tumor und liess jenes durch stumpfe Haken
während der übrigen Operation nach rechts, also bei linker Seitenlage
nach oben zu halten.
Nun präsentirte sich der untere Pol des Tumors in lockeres
Fettgewebe eingebettet. Dieses wird gespalten, worauf der untere Pol
der Geschwulst auch sichtbar wird. Jetzt erkennen wir allerdings
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1600.
5
den Charakter der Geschwulst und von welchem Organ sie
dargestellt wird. Um mich aber doch genauer zu orientiren, isolire
ich vorerst weiter, wobei eine grössere, von oben gegen den
Tumor ziehende Arterie knapp am Tumor einreisst. Ich konnte die¬
selbe zwar sofort fassen und ligiren, muss aber doch dieses Um¬
standes Erwähnung thun, weil er mithestimmend war, die Exstirpation
zu Ende zu führen. Zu unserer grossen Ueberraschung hatten wir
nämlich erkannt, dass wir eine in der Kreuzbeinaushöhlung gelagerte
Niere vor uns hatten. Dieselbe erwies sich bei der nun möglichen
genauen Abtastung als nicht vergrössert. Dieser Umstand, sowie die
erwähnte Durchtrennung der grösseren Arterie liess es doch als
zweckmässig erscheinen, die Niere zu exstirpiren, was auch nach
Ligatur und Durchtrennung der an der vorderen Fläche gelegenen
Hilusgefässe ungemein leicht gelang.
Nach gemachter Exstirpation wird das Nierenbett mit Jodo¬
formgazestreifen drainirt, das Rectum in seine Position gebracht und
die äussere Wunde partiell durch Naht vereinigt.
Der Verlauf war ein fast fieberfreier (nur einmal am zweiten
Tage wurde eine Abendtemperatur von 38'2° verzeichnet), aber dessen¬
ungeachtet kein ungetrübter.
Schon am vierten Tage nach der Operation setzten schwere
psychische Erregungszustände ein, die zeitweise in wahre Tobsuchts¬
anfälle ausarteten.
Fig. 1. Die exstirpirte Niere in natürlicher Grösse.
mehr zu sehen. Auch wollte ich nicht die kaum von ihren ner¬
vösen Aufregungszuständen geheilte Dame der Aufregung
einer Demonstration aussetzen.
Die exstirpirte Niere, die ich Ihnen herumzeige, ist auf
den ersten Blick als eine congenital verlagerte Niere zu er¬
kennen (vide Fig. 1).
Ich werde noch später auszuführen haben, dass sich die
congenital verlagerten Nieren immer durch wesentliche Ab¬
weichungen in ihrer Form auszeichnen. Das gewahrt man auch
hier an dieser Niere: Sie ist plump, kuchenförmig, dabei an
der oberen Hälfte embryonal gelappt. Die Form des Organs
ist fast dreieckig. Die Länge beträgt 8 cm, die Breite 7 cm, der
Dickedurchmesser 3 cm.
Ti g. 2.
(Nach einem Präparate aus dem anatomischen Institute des Herrn
Ilofrathes Zuckerkand 1.)
Da die Harnentleerung in Bezug auf Quantität und Qualität
niemals Abnormitäten zeigte, also an urämischen Erscheinungen
nicht zu denken war (wrir hatten nur am ersten Tage nach der
Operation 750 cm3, sonst immer über 1560 cm3 Harn), bezog ich
diese psychischen Störungen zunächst auf Jodoformwirkung, weshalb
die Jodoformgaze vom sechsten Tage an vollkommen weggelassen
wurde. Allein dessenungeachtet hielten die geschilderten Symptome
durch 14 Tage an und hörten erst auf, bis die Stuhlentleerung
vollständig geregelt war.
Es entleerten sich anfangs nur auf Irrigationen und unter
manueller Nachhilfe ganz kolossale Mengen zum Theil sehr alter
Kothmassen; nachdem aber die alten Rückstände einmal entfernt
waren, konnte Patientin sehr bald spontan Stuhl entleeren.
Die Besserung in der Stuhlentleerung ist anhaltend, Patientin
benützt seither nur hie und da etwa Cascara, hat aber meistens
spontan ausgiebige Stuhlentleerungen. Auch die nervösen Erscheinungen
sind fast vollkommen zurückgegangen. Patientin ist heiter und wieder
lebensfroh, so dass ein eclatanter Operationseffect zu verzeichnen
ist, mit dem sich die Patientin und ihre Familie vollkommen zu¬
frieden gibt.
Sie werden verzeihen, wenn ich Ihnen die geheilte
Patientin nicht vorführe und mich auf die Demonstration des
Präparates beschränke.
Es ist an der Patientin ausser einer kleinen granulireuden
Wunde in der Mitte des sacralen Schnittes nichts Interessantes
An der planen vorderen Fläche lag in der Mitte der
Hilus, die hintere Fläche ist convex und fügte sich vollkommen
der Kreuzbeinaushöhlung an, der mehr gerade Rand sah nach
rechts und lag dem Rectum au, der convexe Rand war nach
links gegen die seitliche Beckenwand gerichtet.
Im Ganzen ist die Niere kleiner als eine normale, was
ich besonders hervorheben will, da ich aus diesem Umstande
auf das Vorhandensein einer zweiten Niere rechnen durfte
und ich mich so zur Exstirpation für berechtigt hielt.
Meine Herren! Es handelte sich also bei unserer Patientin
um eine in der Kreuzbeinhöhlung gelagerte, also auffallend
tief situirte, abnorm geformte, sonst normale Niere (vide Fig. 2),
welche das Rectum verdrängte und comprimirte und so das
ganze Krankheitsbild, vor Allem also die Stuhlbeschwerden
veranlasste.
Der in der Anamnese betonte Umstand, dass Patientin
von Jugend her an Stuhlträgheit litt, wird uns plausibel, es
wird uns weiter verständlich, wie es im weiteren Leben zu so
bedeutender Steigerung der Beschwerden kommen konnte:
durch Schwangerschaften und Geburten wurden die Bauch¬
decken erschlafft, mit der Zeit wurde aber auch die Actions¬
fähigkeit der Därme schwächer, der Bauch wurde mit Gasen
erfüllt und die Därme gegen das kleine Becken gedrängt, was
für die Stuhlentleerung ein weiteres schädigendes Moment ab¬
gegeben haben mag.
6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. ISOO
Nr. 1
Wie weit der Einfluss ging, den die Niere auf den
bei unserer Patientin regelmässig beobachteten abnormen Ge-
burtsverlauf nahm, wage ich nicht zu entscheiden, ich kann
mir aber ganz gut vorstellen, dass die durch die Niere gesetzte
Raumbeengung am Beckeneingang verhinderte, dass sich der
Schädel der Frucht bei der Geburt normal einstellte.
Auch die nervösen Störungen, die bei unserem Falle so
qualvoll waren, Anden unschwer ihre Erklärung. Es ist ganz
begreiflich, wie von der dystopen Niere, die noch obendrein durch
die übervollen Därme in die Kreuzbeinhöhlung eingepresst wird,
die vielleicht eben wegen dieses Druckes zeitweise nicht mehr
normal zu functioniren im Stande war, vielleicht sogar auf dem
Wege des Reflexes auch die Function der anderen Niere für Zeiten
alterirte, gerade so gut, wenn nicht leichter nervöse, schwerer
Hysterie gleichende Symptome ausgelöst wurden, wie etwa
von einem an gleicher Stelle liegenden gleich grossen Myom,
dessen Einfluss auf die Auslösung solcher nervöser Beschwerden
ja über allen Zweifel erhaben ist.
Mein Fall gab mir Veranlassung, mich über das Thema der
congenitalen Nierenverlagerung näher zu orientiren und da fand
ich nun eine Reihe von Fällen, die beweisen, dass, wenn auch
selten, so doch manches Mal dieser Abnormität praktische Be¬
deutung zukommt; ja ich konnte in der Literatur noch acht
weitere Fälle auffinden, bei denen durch Beschwerden und
Erkrankungen, die von dem verlagerten Organ ausgingen oder
doch wenigstens auf dieses bezogen wurden, Operationen nöthig
wurden. Weiters existirt eine Reihe von Mittheilungen über be¬
deutende Störungen bei der Geburt, die auf solche Ver¬
lagerungen zu beziehen waren.
Es erscheint mir daher nicht überflüssig, vorerst in kurzen
Umrissen auf die Anatomie dieser Abnormität einzugehen und
dann im Anschlüsse die klinische Seite zu besprechen. 2)
Ich glaube, es ist zweckmässig, vor Allem zu betonen,
dass unsere Fälle natürlich nichts mit der sogenannten Wander¬
niere zu thun haben.
Bei unseren Fällen handelte es sich um eine auf Ent¬
wicklungshemmung oder Abweichung beruhende, also con¬
genitale abnorme Lagerung der Niere.
Bei Wanderniere hingegen um eine Orts Veränderung der
Niere, welche im Extrauterinleben sich allmälig entwickelt, aus
Ursachen, deren Aufzählung mich zu weit vom Thema abfiihren
würde.
Der congenitale auf Entwicklungsstörung beruhende
Charakter unserer Fälle ist leicht zu erweisen; die Niere ist
immer in ihrer Form wesentlich verändert, sie zeigt meist die
embryonale Lappung, sie ist kuchenförmig und hat ihren Hilus
gewöhnlich direct nach vorne gerichtet.
Die Gefässe sind meist vermehrt, man zählte zwei bis
fünf Nierenarterien und diesen entsprechende Venen, dabei
entspringen die Arterien entweder aus der Sacralis media, aus
der lliaca oder Hypogastrica, manches Mal sogar aus diesen
Arterien beider Seiten oder aus dem untersten Antheile der
Aorta. Entsprechend dem kurzen Wege, den der Urether von
der tiefgelagerten Niere bis zur Blase zurückzulegen hat, ist
er constant kürzer, und meist weiter als normal. Die Ein¬
mündung in die Blase findet an normaler Stelle statt.
Man spricht in unseren Fällen von einer Nierendystopie
eben im Gegensätze zur Wanderniere, die ich als hier nicht
in Betracht kommend auch nicht weiter berücksichtigen werde.
Zum Verständniss der Entstehung der verschiedenen
Arten und Grade von Nierendystopie muss daran erinnert
’) lieber congenitale Nierenverlagerung wurde übrigens in unseren
Sitzungen schon einmal ein erschöpfender Vortrag gehalten.
ln der Sitzung vom 15. Januar 1886 demonstrate Prof. Kundrat
an der Hand von Präparaten und Zeichnungen die verschiedenen Arten der
Nierenverlageiung, und wer sich noch genauer über dieses Thema orientiren
will, dem ist die monographische Darstellung von S t r u b e in Virchow’s
Archiv empfohlen, der alle bis 1894 erschienenen Befunde sammelte und
kritisch beleuchtete.
Dass auch ich heute mit Präparaten und Originalzeiehnungen das
zu Sagende zu illustriren vermag, verdanke ich der Güte der Herren Hof¬
rath Zucker kandl und Weichselbaum, die mir die Präparate
ihrer Sammlung freundlichst überliessen, und Herrn Prof. P a 1 1 a u f, der
mir die von Hofrath Kundrat hinterlassenen Originalskizzen zur Ver¬
fügung stellte.
werden, dass in früher Fötalzeit die Anlage der Niere knapp
unter der Theilungsstelle der Aorta, also in der Nähe des Pro¬
montoriums gelegen ist, und dass die Niere im Verlaufe ihrer
normalen Entwicklung von hier unten eine Verschiebung nach
aufwärts erleidet, bis sie, oben an normaler Stelle angelangt,
der Nebenniere innig angelagert, Halt macht.
Bleibt die Aufwärtswanderung der Niere aus oder rindet
sie nicht in vollem Masse oder in falscher Richtung hin statt,
so haben wir die Bedingungen für das Entstehen der Nieren¬
dystopie in ihren verschiedenen Graden und Arten gegeben.
Die Fixation dieser abnorm gelagerten Niere kommt dann
dadurch zu Stande, dass Gefässe von den nächstliegcnden Ar¬
terien in die Niere ein wachsen und dadurch die Lagerung zu
einer bleibenden gestalten.
Diese Thatsachen sich immer vor Augen haltend ist das
Verständniss dieser Abnormitäten ein ungemein einfaches und
es werden uns so auch jene complicirteren Formen der Nieren¬
dystopie, wie sie z. B. die gekreuzte Dystopie darstellt, voll¬
kommen plausibel.
Um Ihnen möglichst rasch die verschiedenen Formen vor
Augen zu führen, bitte ich Sie, einen Blick auf dieses Schema,
das ich nach der schon eitirten Monographie Strube’s ent¬
warf, zu richten. Es sind in demselben alle durch die zahl¬
reichen Befunde der Anatomen erbrachten Arten von Dystopien
berücksichtigt.
Formen der N i e r e n - D y s t o p i e.
| entsprechend dem unteren
Lendenwirbel.
nach abwärts
einseitige
Verlagerung
nach der anderen
Seite (gekreuzte
Dystopie)
entsprechend der Symphysis
sacro - iliaca im kleinen
Becken.
mit Verwachsung.
ohne Verwachsung.
doppelseitige
Verlagerung
ohne Verwach¬
sung
mit Verwachsung
Hufeisennierc.
Kuchenniere.
Von allen diesen Formen möchte ich als uns heute vor
allem interessirend jene hervorheben, bei welcher die Niere am
Becken entweder in der Nähe der Symphysis sacro-iliaca oder
noch tiefer in der Kreuzheinhöhlung angetroffen wird, welchen
Zustand man kurz als Beckenniere bezeichnen kann. Mein
Fall zählt hieher und Fälle dieser Art gaben schon zu wieder¬
holten Malen dem Praktiker, Chirurgen wie Frauenarzt zu
schaffen.
Die Niere liegt also bei dieser Form retroperitoneal ent¬
sprechend dem Winkel zwischen Kreuz- und Darmbein, oder
aber, wie schon gesagt, in der Kreuzbeinaushöhlung. Betrifft
die Dystopie die rechte Niere, so kommt zunächst keine Ver¬
drängung irgend eines Organes zu Stande, hingegen alterirt,
wie die genauen Befunde namentlich W. Gruber’s beweisen,
linksseitige Dystopsie sehr wesentlich das obere Stück des
Rectums und der Flexur.
Wie nun die statistischen Aufzeichnungen beweisen, ist
häufiger die linke als die rechte Niere (80% linksseitige gegen
20% rechtsseitige Dislocationen) die verlagerte. Kundra t’s
Beobachtungen stehen allerdings mit diesem von den meisten
Anatomen acceptirten Erfahrungssatz im Widerspruche, in¬
dem er häufiger die rechte Niere verlagert fand. Merk¬
würdiger Weise zeigen die mir zur Durchsicht überlassenen
Präparate aus den Wiener Instituten, mit Ausnahme von
einem, thatsächlich die rechte Niere als dystopirt und betreffen
auch die Skizzen Kundra t’s aus dem Grazer Museum viel
mehr rechte als linksseitige Dystopien.
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
7
Diese Abnormität findet sieh viel häufiger bei Männern
als bei Frauen, hat aber, wie wir unten sehen werden, bei
Frauen entschieden grössere praktische Bedeutung. In nicht
so seltenen Fällen sind andere Missbildungen mit dieser Ab¬
normität combinirt; so fehlte sehr häufig die Tube und das
Ovarium derselben Seite, auch wurden Abnormitäten an den
äusseren Genitalien, Kryptorchismus, dann Atresia ani als
gleichzeitig beobachtete Missbildungen aufgeführt.
Bei unserer Patientin waren keinerlei weitere Miss¬
bildungen vorhanden, namentlich ist jede Verbildung des
inneren Genitales auszuschliessen, wie ja die von Professor
Schauta vorgenommene genaue Abtastung dieser Gebilde
vom hinteren Vaginalschnitt aus lehrte. Auch konnte ich nicht
eine irgendwie auffallende seitliche Verkrümmung der Wirbel
säule constatiren, worauf M ü 1 1 e r h e i m als Begleiterscheinung
aufmerksam machte.
Die Dystopie der Niere macht in der Regel der Fälle
keine klinischen Erscheinungen. Für diese Thatsache
spricht schon der Umstand, dass die grösste Mehrzahl aller
Beobachtungen zufällige Befunde der Anatomen darstellen,
und dass Sectionsbefunde von 70 — 80jährigen Greisen vor¬
liegend die zeitlebens keinerlei Beschwerden durch ihre Nieren¬
anomalie gehabt hatten.
Ausnahmsweise jedoch gewinnt auch die Niere in ihrer abnor-
men Lage klinische Bedeutung, sei es, dass eine dystopische Niere
erkrankt, oder dass durch ihre abnorme Lage die Nachbarorgane
verdrängt und in ihrer Function behindert werden oder endlich
dadurch, dass durch dieselbe ein Geburtshinderniss gegeben ist.
Für alle diese Eventualitäten bietet die Casuistik heute bereits
Belege. Es ist verständlich, dass sich die frühere diesbezügliche
Casuistik sehr wesentlich von der jetzigen unterscheidet.
Während die älteren Berichte Schilderungen von Krankheiten
dystoper Nieren bringen, deren Ablauf man vollkommen
machtlos gegenüberstand und deren Klärung eben nur die
Section brachte, finden wir aus den letzteren Jahren schon
eine Reihe von Fällen, ich zählte deren acht, bei welchen
wegen der durch die dystope Niere bedingten Störungen
operative Eingriffe ausgeführt wurden und so durch die Autopsie
in vivo der in allen Fällen falsch gedeutete Befund aufgeklärt
wurde.
Ueber Erkrankungen der im Becken gelagerten
Niere liegen schon eine grössere Anzahl von Beobachtungen in
Form von Sectionsbefunden vor. Ich muss jedoch Strube
vollkommen beistimmen, wenn er auf Grund seiner Zusammen¬
stellung der Befunde sagt: dass an der tiefliegenden Niere
nicht häufiger und nicht seltener als an der normalen patho¬
logische Zustände angetroffen werden, nur werden (und das
möchte ich dieser Aeusserung Strub e’s beifügen) durch Er¬
krankungen der Beckenniere, die mit einer Vergrösserung des
Organs, einhergehen, viel leichter schwere Erscheinungen
ausgelöst, da bei dem engbegrenzten Raum es sehr bald und
leicht zur Compression der Nachbarorgane mit ihren Folgen
kommen muss. So wird über complete Anurie durch Com¬
pression des anderen Ureters zu wiederholten Malen berichtet.
Ueber die verschiedenen Formen von Nephritis liegen Be¬
funde. von W e i s b a c h vor, Hydronephrosenbildung
beobachtete Gruber und Kruse, SteinbildungDrouin
und Kaltschmied t.
Endlich bringen Wölfl er und Glaser Berichte über
je einen Fall, bei dem es zur Bildung einer Pyonepbrose in
der dystopen Niere gekommen war, und bei welcher der Ver¬
such einer operativen Behandlung gemacht wurde. Beide
Fälle gingen tödtlich aus, erst die Section deckte das räthsel-
hafte Krankheitsbild auf.
Ferner sind hinlänglich Beobachtungen vorhanden, die
erweisen, das der Geburtsact durch die abnorm gelagerte
Niere wesentlich alterirt werden kann.
Als älteste diesbezügliche Beobachtung wird die von
Hohl citirt. Hohl fand bei der Section einer 75jährigen
Frau die linke Niere im Becken liegen und berichtet dazu,
dass dieselbe 30 Jahre früher bei einer Geburt als Geschwulst
im Unterleibe gefühlt wurde und bei jeder Wehe vorgetrieben
ward. Aehnliche Verhältnisse schildert Fischer.
Am deutlichsten beweist wohl der von Schönberg
mitgetheilte Fall den Einfluss der dystopen Niere auf den
Geburtsact, indem bei denselben eine tödtliche Uterusruptur
hiedurch beding-t war.
Crag in musste, um die Geburt vollenden zu können,
von der Scheide aus, die sich als Geburtshinderniss einstellende
für eine Geschwulst gehaltene Niere exstirpiren.
Auch mein Fall lässt sich als Beleg hiefür anführen,
indem der abnorme Verlauf der Geburten in Steisslage auch
mit der verlagerten Niere Zusammenhängen dürfte.
In einer dritten Kategorie von Fällen gehen von der
dystopischen sonst normalen Niere diverse vage Erscheinungen,
vor Allem Stuhlträgheit aus, oder werden wenigstens auf
diese bezogen; dieselben führen den Patienten zum Arzt, dieser
untersucht und findet im kleinen Becken den Tumor, den
er dann, da er keine andere Ursache der Störung auflindet,
als Ursache der Beschwerden ansieht.
Bei allen in diese Kategorie gehörigen operirten Fällen
wurde unter falscher Diagnose die Indication zur Operation
gestellt und operirt.
Als Hauptbeschwerde und in den Krankengeschichten
am constantesten wiederkehrende Störung wird über Defäcations-
calamitäten geklagt. Mein Fall, der Fall von Alsberg, der
zweite Fall in St rube’s Monographie waren mit hartnäckigen
Verstopfungen combinirt.
Es ist natürlich eine sehr naheliegende Frage, ob that-
sächlich die abnorme Lage der Niere als Quelle der Stuhl¬
verhaltung angesehen werden darf, und ob nicht der Befund
dieser ein rein zufälliger ist.
Ich darf nicht verschweigen, dass Strube sich über das
causale Zusammentreffen von Nierendystopie und Verstopfung
in seinem Falle sehr skeptisch ausspricht. Wenn man aber
gerade in S t r u b e’s Arbeit die anatomischen Verhältnisse des
Mastdarmes und der Flexur durchsieht, und wenn man dort
findet, dass bei linksseitiger Dystopie der Mastdarm stark ver¬
drängt ist, dass namentlich am Uebergang der Flexur zum
Rectum durch die daselbst gelagerte Niere ein scharfer Winkel
entstehen kann, dass ferner in einem Falle die Flexur voll¬
kommen fehlte und das Colon im scharfen Bogen ins Rectum
überging, so kann man sich wohl nicht der Ansicht ver-
schliessen, dass die abnorme Lage der Niere ein Passage-
hinderniss abgeben und Kothstauung veranlassen kann.
Da hierin der Schwerpunkt meiner Beobachtung liegt,
citire ich Strube wörtlich:
»Der Darm weist bei dystoper Niere am häufigsten
Lagenabweichungen auf. Besonders die Tief läge der linken
Niere im kleinen Becken oder nahe dem Beckeneingang ruft
oft Situsanomalien des Darmes hervor. In den 33 Fällen, die
Gruber zusammengestellt hat, fand sich das Rectum elfmal
nach rechts verlagert, in den später veröffentlichten Fällen
finde ich das gleiche Verhalten noch dreimal erwähnt. Auch
Fehlen der Flexura sigmoidea, Verdopplung und Verlagerung
derselben sind beschrieben. Alle diese Anomalien charakterisiren
sich ohne Weiteres als Folgen der Tieflage der Niere, indem
die Niere sich an der Stelle einlagert, wo normaler Weise das
S romanum oder das Rectum zur Entwicklung kommt, veran¬
lasst sie die abweichende Lagerung und Bildung des Darmes.«
Der ausgezeichnete Operationserfolg gerade in diesem
Punkte bei meiner Patientin schliesst wohl ein zufälliges Zu¬
sammentreffen aus. Bitte sich nur die beiden Extreme des Zustandes
vor Augen zu halten. Patientin konnte vor der Operation nur
alle 10 — 14 Tage Stuhl lassen und nur auf künstliche Mittel,
heute nimmt sie hie und da etwas Caseara. Vor der Operation
stiess man mit dem Irrigationsrohr gegen einen harten Tumor,
heute unterscheidet sich Verlauf und Weite des Rectums in
nichts mehr von einem normalen.
Die Erklärung der nervösen Symptome, die mein Fall
bot, und von denen auch die anderen Fälle Beispiele erbringen,
habe ich schon durch Hinweis auf die ähnlichen bei anderen
Tumoren des kleinen Beckens zu erbringen versucht.
Ich komme nun auf die Diagnose zu sprechen: Alle
Fälle, die bisher unter das Messer kamen, wurden unter falscher
8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 1
Diagnose operirt. Nur Müllerheim darf sieh rühmen, eine
dystope Niere in vivo diagnosticirt zu haben.
Wie kam Mül ler heim dazu, als Einziger diese Diagnose zu
stellen. Ganz einfach, ihm verschaffte der Zufall Gelegenheit, zuerst
einen Fall in cadavere zu untersuchen und im ärztlichen Verein
zu demonstriren, sehr bald darauf traf er einen sonst nicht
anders zu deutenden Tumor im kleinen Becken bei einer
seiner Patientinnen an. Hierin liegt der Schlüssel; wer durch
eigene Anschauung einmal mit einem dieser so seltenen Fälle
zu thun hatte, wird wohl schwerlich nochmals eine Fehldiagnose
machen. Beim Mann wird man noch leichter zur richtigen Ver-
muthung kommen als beim Weibe, da hier die anderen Aus¬
gangsstellen solcher Tumoren wegfallen, wenn nicht, wie im Falle
Czerny’s, der Mann gleichzeitig Kryptorchist ist, es also viel
näher liegend war, an ein Sarkom des retinirten Hodens zu
denken.
Da, wie ich Ihnen schon mittheilte, die dystope Niere
nicht die gewöhnliche Form bietet, wäre es ganz verfehlt,
aus der Abtastung der Form etwas für die Diagnose gewinnen
zu wollen; im Gegentheil, man könnte eher durch die ganz
unregelmässige Gestalt auf diagnostische Abwege kommen,
wenn man nicht den Erfahrungssatz beherzigt, dass eben eine
dystope Niere auch eine difforme Niere ist.
Ein Befund könnte bei der Untersuchung schon eher
behilflich sein, das ist, wenn man constatii t, dass an der Vorder¬
seite des Tumors Pulsation einer oder mehrerer grösserer
Arterien fühlbar ist. Die Hilusgefässe treten ja vorne ein und
sind sicher gross genug, dass man sie vom Rectum oder der
Scheide aus pulsiren fühlen kann.
Einen ungemein wichtigen Behelf würde die Ureteren-
sondirung abgeben. Die Kürze des einen, zur dystopen Niere
führenden, gegenüber der normalen Länge des anderen müssen
auf die richtige Diagnose führen und Ureteren-Katheterismus
ist daher in keinem zweifelhaften Falle zu verabsäumen.
Ureterensondirung empfiehlt sich in unseren Fällen auch
aus einem anderen Grund. Ich habe, glaube ich, schon früher
hervorgehoben, dass uns die Anatomen belehren und dass
uns der traurige Ausgang so manches bisher publicirten Falles
warnend ins Gedächtniss ruft, dass relativ nicht so selten die
Dystopie mit Fehlen der anderen Niere eombinirt ist.
Strub e’s Fall 2 und 3. die Fälle von Weisbachund
\Y a t s o n, der B i 1 1 r o t h’sche Fall geben uns Beispiele hiefür;
von neun operirten Fällen gingen drei an Anurie in Folge
congenitalen Mangels der anderen Niere zu Grunde.
W ie steht es nun mit der Indicationsstellung zur Ope¬
ration? Die Beantwortung der Frage ist natürlich sehr ein¬
fach und eine bejahende, wenn die dystope Niere so erkrankt
ist, dass durch die Erkrankung an und für sich noth wendiger
W eise eine Operation indicirt ist. Der mit Pyonephrose der
dystopen Niere auf die Klinik Billroth gekommene Fall zeigte
vollkommene Anurie, bis der Eiter per rectum durch Punction
und Drainage entleert war, im Fall Fossati war ein grosser
ffuctuirender Tumor da, der die Punction noting machte; ferner
ist die Operation nothwendig, wenn durch die dystope Niere ein
unüberwindliches Geburtshinderniss gegeben ist (Fall Crag in).
Ganz anders stehen die Verhältnisse, wenn es sich darum
handeln würde, eine nicht erkrankte, also normale dystope
Niere zu entfernen. Alsberg, der zwar selbst einen solchen
Fall operirt hatte, negirt die Berechtigung hiezu.
Ich glaube, die Verhältnisse liegen so: sind die Be¬
schwerden sehr bedeutend, ist also z. B. sehr hartnäckige
Stuhl verhaltung unter Schädigung des Allgemeinbefindens vor¬
handen und kann man diese mit aller Wahrscheinlichkeit auf
die Verdrängung der Organe durch die dystope Niere beziehen,
so ist man berechtigt, die Exstirpation zu machen, vorausgesetzt,
dass die andere Niere vorhanden und normal functionirend be¬
funden wird (iso'irter Ureterenkatheterismus). Entfernt man doch
auch normale Nieren bei Ureterenfistel, ja unter Umständen
selbst bei Wanderniere.
Die bisher operirten drei Fälle dieser Kategorie, meinen mit
eingerechnet, sind eigentlich für die Indicationsstellung nicht direct
zu verwerthen, da unter falscher Diagnose operirt wurde, sie geben
aber doch Beispiele an, wieso der Arzt den Bitten des Patienten
nachgebend, zur Operation gedrängt werden kann, und mein
Fall mag auch insoferne die Berechtigung der Operation
illustriren, als durch dieselbe den heftigen Beschwerden ein
Ende gemacht wurde.
Bei acht operirten Fällen wurde siebenmal die Laparo¬
tomie gemacht, nur einmal per vaginam extra partum ex-
stirpirt. Wenn Sie die anatomische Lage der uns hier be¬
schäftigenden Abnormität, also die Gegend der Symphysis
saero-iliaca, oder der Excavation des Kreuzbeines in Erwägung
ziehen, wenn Sic ferner beherzigen, was die anatomischen Prä¬
parate sagen, dass nämlich die Gefässe von vorne her in das
verlagerte Organ einmünden und meist die Gefässversorgung
sowohl in Bezug auf Arterien als auch Venen eine ungemein
reiche ist, wenn Sie beherzigen, dass die dystope Niere voll¬
kommen retroperitoneal liegt, so werden Sie begreifen, dass
Entfernung per Laparotomie wegen der tiefen Lage beschwerlich,
wegen der Gefässe gefährlich und wegen der Nothwendigkeit,
das Peritoneum der hinteren Bauchwand zu spalten, auch
höchst umständlich ist.
Wenn sich eine Erkrankung für die Operation auf
sacralem Wege eignet, so ist es die dystope Niere, gleichviel, ob
normal oder pathologisch verändert.
Auf diesem Wege vermied ich vollkommen eine Ver¬
letzung des Peritoneums, ich arbeitete nahe dem zu ex-
stirpirenden Organ, ich kam nur bei Abbindung am Hilus
mit den Gefässen in Contact und konnte das Nierenbett aus¬
giebig nach unten und hinten dramiren, also die denkbar
günstigsten Verhältnisse für eine Wundheilung schaffen.
Literatu r.
In Bezug auf die ältere Literatur verweise ich auf die Angaben in
Dr. Georg S t r u b e, Ueber congenitale Lage und Bildungsanomalien der
Niere. Virchow’s Archiv. Bd. CXXXV1I, pag. 227.
Von neueren Arbeiten sind zu erwähnen:
Wölfl er, Wiener medicinische Wochenschrift. 18 B.
Glaser, Archiv für klinische Medicin. Bd. LV, pag. 465.
Alsberg, Festschrift zur Feier des 80jährigen Stiftungsfestes des
ärztlichen Vereines zu Hamburg. 1896.
D e p a g e, Journ. d. inöd. et d. Chirurg, de Bruxelles. 1893.
Edwin B. Caaqui, Med. Rec. New York 1898.
W ehme r, Schmidt’s Jahrbücher. 1897.
M ü 1 1 e r h e i m, Centralblatt für Gynäkologie. 1898.
Einige seltenere Concretionen der menschlichen
Harnwege.
Von Dr. O. Zuckerkandl.
Demonstration, gehalten in der Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte
vom 24. November 1899.
Harnröhr enstei n e.
Steine der Harnröhre werden im Vergleiche mit denen
der Blase selten beobachtet. Zeissl konnte im Jahre 1883
im Ganzen 154 Fälle zusammenstellen; seither sind etwa
50 weitere mitgetheilt worden.
Fasst man den Begriff" enger und zählt man den Harn¬
röhrensteinen nur jene zu, die thatsächlich im Harnrohre sitzen
und sich hier vergrössert haben, scheidet man also die oft
sehr voluminösen phosphatischen Ablagerungen in para¬
urethralen Höhlen, Fisteln etc. aus, so ergibt nach L i e b 1 e i n’s
Zusammenstellung als Gesammtzahl die geringe Ziffer von
beiläufig 54.
Die Harnröhrensteine sind entweder in der Harnröhre
selbst entstanden oder aus der Blase in diese eingewandert.
In allen Fällen werden für das Vorkommen von Steinen in
der Urethra gewisse Formveränderungen des Harnrohres inso¬
ferne von Bedeutung sein, als es gerade durch diese möglich
wird, dass das Concrement in seiner ersten Anlage nicht mit
dem Harnstrome herausgeschwemmt, in situ verbleiben und
weiterwachsen könne. In diesem Sinne sind als Gelegenheits¬
ursachen zu nennen: wahre Divertikel der Harnröhre, stärker aus¬
geprägte Exeavat.ionen im prostatischen, im häutigen Theile der
Harnröhre, ferner umschriebene Erweiterungen hinter Stricturen,
wie gewisse nach Entzündungen, Hämorrhagien, operativen
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900
9
Eingriffen (Urethrotomie, Steinschnitt) entstandene urethrale
Form Veränderungen .
1. 3l/2jähriger Knabe aus dem Occupationsgebiete, der seit
jeher an Harnbeschwerden leidet. Das Kind ist normal gebildet, gut
genährt. Die Harnentleerung geht mit grosser Mühe, unter starker
Wirkung der Bauchpresse vor sich. Dabei zerrt das Kind ununter¬
brochen am Gliede. Nachträufeln. Die Harnentleerung erfolgt in
normalen Pausen. Der Harn ist sauer, klar. Mit der Steinsonde stiess
ich im häutigen Theile auf ein hartes Concrement, doch gleitet das
Instrument mit Leichtigkeit darüber hinweg, in die Blase. Vom
Mastdarm aus ist in der Harnröhre das Concrement als harte, um¬
schriebene Geschwulst von Mandelgrösse tastbar.
Operation in Chloroformnarkose. Längsschnitt in der Rhaphe
perinei bis nahe an den After; nachdem die Perinealmuskeln bloss¬
liegen, wird die Verbindung zwischen M. bulbocavernosus und M.
sphincter ani quer durchtrennt und die vordere Mastdarmwand auf
kurze Strecke stumpf von der Harnröhre gelöst. Es liegt die Pars
membranacea, durch den Stein stark ausgeweitet und vorgewölbt,
alsbald zu Tage. Mit einem Längsschnitt wird diese über der
grössten Convexität eröffnet und das Sternchen entfernt. Verweil¬
katheter. Die Harnröhre wurde submucös mit Catgut genäht, da¬
rüber die Haut complet durch Naht vereinigt. Die Heilung erfolgte
anstandslos in wenigen Tagen.
Der Stein (Fig. 1) ist von ovoider Gestalt, fast kirschengross,
schwarzbraun, glänzend, wie lackirt, und trägt an seiner Oberfläche
verschieden grosse, warzige Excrescenzen. Die Rinde des Steines be¬
steht (Dr. Freund) aus Kalkphosphat; der Glanz des Steines
scheint unter Einwirkung von Mucin entstanden, die Färbung
wahrscheinlich durch Hämin bedingt.
Fig. 1. Fig. 2. Fig. 3.
Harnröhrenstein Harnröhrenstein Plarnröhrenstein
(nat. Gr.). (nat. Gr.). (nat. Gr.).
Die Annahme, dass der Stein seinen ständigen Sitz in
der Harnröhre hatte, dort entstanden, jedenfalls aber dort ge¬
wachsen war, ist hier berechtigt. Der Stein war zu gross, um
als solcher die Blasenmündung passiren zu können; er füllte
sein Bett, die stark ausgebauchte Pars membranacea, complet
aus, dennoch war die Harnröhre wegsam geblieben.
2. Ein ööjähriger Mann aus Mähren hatte fünf Wochen vor
seiner Aufnahme einen heftigen Anfall von typischer Harnleiterkolik
durchgemacht; im unmittelbaren Anschlüsse an diese stellten sich
Harnbeschwerden ein, die seither an Intensität stetig zunehmen.
Vorwiegend waren vermehrter Harndrang, erschwertes Harn¬
lassen und eine Reduction des Harnstrahles vorhanden. Gleichzeitig
war eine Trübung des Harnes aufgetreten. Der Kranke bot das Bild
chronischer, incompleter Harnverhaltung; die Blase reichte bis an den
Nabel und war als pralle Geschwulst palpabel. Die Prostata zeigte keine
Veränderung. Der Harn war trübe, neutral und enthielt reichlich
Eiter und Bacterien. Bei der Untersuchung der Harnröhre mit einer
weichen geknöpften Sonde stiess ich in der hinteren Harnröhre auf
ein Hinderniss, welches sich beim Beklopfen als ein harter Körper
erwies; die starre Sonde liess denselben mit Sicherheit als Stein an¬
sprechen. Das Concrement .schien beweglich und es gelang mir mit
Hilfe eines dickeren, französischen Seidenkatheters, dasselbe in die
Blase zu stossen. Zunächst wurde die chronische Harnverhaltung mit
dem regelmässigen Katheterismus behandelt und die Zertrümmerung
des Steines auf einen späteren Zeitpunkt verschoben.
Dieselbe wurde überflüssig, da der Kranke eines Tages in
kurzer Frist das Concrement spontan entleerte. Der ausgestossene
Harnröhrenstein (Fig. 2) ist walzenförmig, hat eine Länge von 28mm
und misst der Breite nach 12 mm. Die corticalen Schichten sind phos¬
phorsaurer Kalk.
Während im Falle 1 der Ursprung des Steines sich nicht
eruiren liess, hat in diesem Falle ein Steinchen, das aus dem Nieren¬
becken in die Blase, von da aus in die Harnröhre gelangt war, den
Kern für die Bildung des Harnröhrensteines abgegeben.
3. IGjähriger Bursche aus Wien, leidet seit dem zehnten Jahre
an Schmerzen beim Harnlassen und zeitweilig an Hämaturie.
Sechs Wochen vor seiner Aufnahme exacerbirten die Be¬
schwerden mit einem Male. Die Harnentleerung war nur möglich,
wenn der Kranke in vornübergebeugter Stellung mit einem Finger
gegen das Mittelfleisch einen Druck ausübte. Der Harn sauer, klar.
Es fand sich ein im häutigen Theile der Harnröhre festsitzende Con¬
crement, über welches hinweg die Sonde in die Blase glitt. Operation
und Wund Versorgung wie im Falle 1. Heilung. Der Stein (Fig. 3) ist
bohnengross, oberflächlich drüsig, dunkelbraun; er besteht in seinen
corticalen Schichten aus kohlensaurem Kalk (Dr. Freund).
Wenn die hier beschriebenen Fälle, in denen die Steine
längere Zeit im Harnrohre verweilen und bei ihrem Wachs-
thume im engumschricbenen Raume charakteristische Gestalt
annehmen, relativ selten sind, so kommt man andererseits sehr
häufig in die Lage, urethrale Steineinklemmungen in ihren
ersten Stadien zu beobachten. Diese Steine sind häufig lose,
sitzen meist in der hinteren Harnröhre, ohne diese aber je¬
mals complet auszufüllen; in der vorderen Harnröhre kann
man nicht selten Lageveränderungen solcher Steine beobachten,
indem diese jedes Mal während der Miction bis in die Fossa
navicularis geschwemmt, hinter der äusseren Mündung fest¬
gehalten werden, um von da abermals in der Harnröhre
blasenwärts vorzurücken. Während bei den wahren
Steinen der Harnröhre die Symptome erst mit dem Wachs¬
thum des Steines sich stärker accentuiren, treten die Krank¬
heitserscheinungen bei der urethralen plötzlichen Einklemmung
eines Steines von erheblicherer Grösse, ganz plötzlich in voller
Intensität auf. Man kann da den heftigsten Tenesmus, schwere
Dysurie, acute incomplete, auch acute complete Harnverhal¬
tung eintreten sehen, so dass in derartigen Fällen naturgemäss
frühzeitig ärztliche Hilfe in Anspruch genommen wird. Ueber
die richtige Deutung der Erscheinungen kann hier kein Zweifel
obwalten.
Anders in den Fällen von ganz allmälig in der Harn¬
röhre wachsenden Steinen. Eine Durchsicht der Literatur zeigt,
dass die Erkrankung in einer grossen Anzahl der Fälle
verkannt wurde, was umso schwerer ins Gewicht fällt, als
die Harnröhrensteine gerne zu Verschwärungen, Perforationen
der Harnröhre Veranlassung geben. So sind z. B. Urethral¬
steine die fast ausschliessliche Ursache der im Kindesalter
vorkommenden spontanen Formen der Urininfiltration.
Am sichersten wird man die Harnröhre mit der ge¬
knöpften weichen Bougie abtasten, die hier an Leistungsfähig¬
keit die starre Sonde weit überragt.
Sitzen Steine in der hinteren Harnröhre, gleichgiltig ob
fix oder beweglich, so sind Versuche, sie mit Instrumenten zu
zertrümmern oder herauszuziehen, nicht angebracht; im ersteren
Falle ist die blutige Entfernung durch den Harnröhrenschnitt,
im letzteren das Hineinstossen des Steines in die Blase und
die nachträgliche Lithotripsie das bei Weitem schonendere
Verfahren.
Präputialstein.
In naher Beziehung zu den Steinen der Harnröhre
stehen die im Präputialsack vorkommenden Concretionen. Der
Vorhautsack stellt, wenn seine Mündung eßger ist als die der
Urethra, gewissermassen einen Anhang des Harnrohres dar.
So wird es begreiflich, dass Steinchen, welche die Harn¬
röhre passirt haben, im phimotischen Vorhautsack dauernd
zurückgehalten, zu Präputialsteinen werden. Neben diesen
Formen finden sich auch solche, in denen die Steinbildung im
Präputialsacke selbst erfolgt ist. Fremdkörper, Schleim, Bacterien,
Gerinnsel können in solchen Fällen den Kern abgeben, ebenso
wie Zahn nachgewiesen hat, die bei Kindern in phimotischen
Säcken vorkommenden aus zusammengebackenen Epithelien
und Smegma bestehenden kugeligen Bildungen.
Im Allgemeinen sind Präputialsteine recht selten; nach
Güter bock erreicht die Zahl der bekannten Fälle nicht 30.
In dem zu beschreibenden Falle, dessen Kranken¬
geschichte und Präparat ich der Freundlichkeit des Primarius
Dr. Vujic aus Mitrowitza verdanke, gab eine narbige Ver-
10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 1
engerung der Piäputialmiindung bei bestehender Entzündung
der Schleimhaut die Veranlassung zur Bildung dreier volumi¬
nöser phosphatischer Concretionen im A orhautsacke.
Ein 63jähriger Bauer aus Slavonien war 20 Jahre vor seiner
Aufnahme bei der Feldarbeit in ein Wespennest getreten; die
Wespen verkrochen sich in seine weiten Beinkleider und brachten
ihm, namentlich am Penis, Stiche bei. Es folgte eine phlegmonöse
Entzündung des Gliedes, nach deren Ablauf eine narbige Enge der
Yorhautmündung resultirte, die jedoch erst seit etwa einen Jahre
stärkere Beschwerden verursacht. Seit dieser Zeit bestehen zu¬
nehmende Schwierigkeiten beim Harnlassen.
Bei dem sonst kräftigen, gesunden Manne war das Ende des
Gliedes kleinapfelgross geschwellt; bei Berührung crepitirend. Die
Hautdecken über der Geschwulst normal. Die Vorhautmündung für
eine Knopfsonde passirbar. Cystitis besteht nicht.
Bei der Operation finden sich im eröffneten Vorhautsacke drei
taubeneigrosse, phosphatische Concremente (Fig. 4) die derart postirt
sind, dass die beiden ilach-ovoiden Steine (o, b) zwischen sich den
dritten (c) aufnehmen, der, nach unten gelegen, in Form zweier Fa¬
cetten und einer Leiste den Abdruck der Unterseite der Glans penis
trägt. Die Eichel ist auf die Hälfte ihrer Grösse reducirt, abgeplattet;
die Schleimhaut chronisch entzündlich verändert.
c
Fig. 4. Präputialsteine (nat. Gr.).
Harnleiterblasenstein.
Der im Nachfolgenden zu beschreibende Fall ist inso-
ferne mit den wahren Harnröhrensteinen verwandt, als er
ebenfalls in einem engen, röhrenförmigen Abschnitte des
Harnsystems gewachsen, sich in seiner Form diesem adaptirt
und zu einer ampullenförmigen Erweiterung des Rohres ge¬
führt hat.
Eine 55jährige Frau aus Mähren leidet seit V/2 Jahren an
llarnbeschwerden ; vor dieser Zeit «war sie stets gesund gewesen.
Es bestehen am Tage häufigerer Harndrang, Druckgefühl in
der Blase, in geringerem Masse wenn diese Harn enthält, am
stärksten bei leerer Blase. Gehen und Fahren wird gut vertragen,
während die Beschwerden beim Sitzen und Stehen, namentlich wenn
die Blase leer, sich accentuiren. Einmal war nach einem anstrengenden
Marsche Hämaturie aufgetreten. Veritable Harnleiterkoliken fehlen,
doch leidet die Kranke zeitweilig an Kreuzschmerzen, die linkerseits
gegen Brust und Hals ausstrahlen. Bisweilen waren die Schmerzen
von Erbrechen begleitet.
Der Harn sauer, enthält im Sedimente reichliche Krystalle
von Harnsäure.
Die Untersuchung der Blase mit dem weichen Explorateur liess
keinen abnormen Befund erheben; mit der Steinsonde konnte man
im Fundus linkerseits nahe der Mündung ein kleines, beim An¬
schläge hell klingendes Concrement tasten.
Cystoskopisch zeigt sich links am Ende des Interureteren-
wulstes die Harnleiterpapille stärker als in der Norm erhoben. Die
Harnleitermündung ist unsichtbar, denn die Papille ist von einer
pilzartig aufsitzenden, gelblich - weissen, kugeligen Masse gekrönt,
die beim Anschlägen mit dem Schnabel des Cystoskopes sich als
steinige Bildung bestimmen lässt.
Eine radiographische Aufnahme (Dr. H. Benedikt) gibt ein
deutliches Bild des Concrementchens (Fig. 5).
Die Operation wurde in Chloroformnarkose vorgenommen. Zu¬
nächst wurde die Harnröhre an zwei Seiten eingekerbt und mit
Ilegar-Stiften so weit dilatirt, bis sich der Zeigefinger bequem in die
Blase einführen liess. Der Versuch, den Stein bimanuell von der Blase
und von der Scheide aus aus seiner Nische zu heben, gelang nicht.
Es zeigte sich beim Zufühlen, dass der urethrale Antheil bei Weitem
grösser war als der in die Blase ragende Theil. Die Scheide wurde
durch eingesetzte Spatel zugänglich gemacht, der Uterus hervor¬
gezogen und mit dem in der Blase befindlichen Zeigefinger der
linken Hand das Concrement gegen die vordere Scheidenwand ge¬
drängt, von wo aus dasselbe durch einen kurzen Schnitt mit
Leichtigkeit blossgelegt und entwickelt wurde. Durch einen Dauer¬
katheter wurde die Blase drainirt; die Vaginalwunde mit einigen,
bis auf die Harnleiterschleimhaut dringenden Seidennähten ge¬
schlossen. Der Verlauf war günstig; am achten Tage wurden
die Nähte, wie der Verweilkatheter entfernt. Keinerlei Incontinenz-
erscheinungen machten sich bemerkbar. Eine nach der Operation
aufgetretene Cystitis mässigen Grades heilte in kurzer Frist. Seit¬
her ist die Kranke frei von Beschwerden.
Der durch die Operation gewonnene Stein (Fig. 6) besteht aus-
zwei Antheilen, die durch einen schmalen Hals (der Harnleiter¬
mündung entsprechend) Zusammenhängen.
Der kleinere Antheil ragte in die Blase, der grössere war in
dem ampullenförmig ausgedehntem visceralen Theile des Harnleiters
eingeschlossen.
Der Harnleiter dient häufig Steinen, die aus dem Nieren¬
becken in die Blase wandern, zur Passage. In der Regel ver¬
mag die kräftige Museulatur des Harnleiters den Stein durch
die Engen des Rohres bis in die Blase zu befördern.
Fig. 5.
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. It 00.
11
Fig-. 6. Harnleiterblasenstein Fig. 7. Harnleiterblasenstem
(nat. Gr.). (nach Reliquet).
Verhältnissmässig selten kommt es vor, dass ein Concre¬
ment im Ureter stecken bleibt. Bei entsprechender Dauer der
Einklemmung muss dies Ereigniss von schweren Symptomen
localer, auch allgemeiner Art gefolgt sein.
Seltener scheinen wahre Harnleitersteine zu sein, Steine
die im Ureter stabil sitzen, an ihrem Standorte gewachsen,
das Rohr an umschriebener Stelle divertikelartig ausstülpen, ohne
dass trotz der Grösse des Steines nennenswerthere Erscheinun¬
gen von Harnleiterverschluss sich geltend machten. Wahr¬
scheinlich ist, dass die erste Anlage des Steines aus den
Nieren stammt und vermöge gewisser Formveränderungen
(klappenartige Bildungen, Stricturen) im Ureter verbleiben
kann, ohne durch den Harnstrom in die Blase geschwemmt
zu werden. Im untersten Harnleiterabschnitte bleiben Con-
cremente mit Vorliebe stecken; das Harnleiterrohr hat hier
eine seiner physiolologischen Engen.
In dem oben beschriebenen Falle lässt sich aus dem Be¬
funde zweifellos die Natur des Steines als wahrer Ureterstein
erschliessen. Nur bei lange währendem stabilem Aufenthalte
im unteren Harnleiterende konnte sich der knopfförmige in
die Blase ragende Antheil des Steines gebildet haben.
Einen ganz analogen Fall finde ich in der Literatur.
Reliquet hat in der Societe de medecine in Paris (1875)
ein derartiges Concrement gezeigt. Mit dem in die Blase
eingeführten Finger konnte er bei einer Frau den aus dem
Harnleiter ragenden, mit einem Antheil in der Lichtung des¬
selben festsitzenden Stein tasten. Der Stein, den er operativ
zu beseitigen sich nicht entschloss, wurde ein halbes Jahr
später unter kolikartigen Schmerzen in die Blase geboren und
mit dem Harne nach aussen entleert. Reliquet’s Stein
(Fig. 7) entspricht in seiner Form und Grösse nahezu voll¬
ständig dem von mir entfernten.
Es ergibt sich aus diesen übereinstimmenden Befunden,
dass an der Harnleitermündung ganz analog wie am Orificium
der Blase, die Bildung von hantelförmigen sogenannten Pfeifen¬
steinen sich vollziehen kann.
Die in Anwendung gebrachte combinirte vesieale und
vaginale Methode ist für Steine der genannten Form zweck¬
mässig. Schwieriger dürfte sich die Auslösung des Steines
bei typischer Kolpocystotomie durchführen lassen. Von sonsti¬
gen Methoden zur Entfernung von Steinen aus dem untersten
Abschnitte des Ureters wurden angewendet: der hohe Blasen¬
schnitt (Helfer ich), die Blosslegung und Eröffnung des
Ureters vom Scheidengewölbe aus (Israel, Doyen, Fen¬
wick); endlich hat Fenwick beim Manne durch Spaltung
des Septums recto-vesicale mit Hilfe eines Prärectalschnittes
den Ureter zu dem genannten Zwecke freigelegt und ein¬
geschnitten.
Aus Professor v. Frisch’s Abtheilung für Krankheiten der
Harnwege.
Ein neues Kystoskop zum Katheterismus der
Ureteren.
Von Dr. M. Sclllifka, Assistenten der Abtheilung.
Niemand, der sich mit den Erkrankungen der Ilarnwege
beschäftigt, wird ein Instrument vermissen wollen, das ihn be¬
fähigt, den Harn der einen Niere getrennt von dem der anderen
aufzufangen. Von allen den zahlreichen Methoden und Appa¬
raten, die zu diesem Ende erfunden wurden, blieben nur die¬
jenigen in dauerndem Gebrauch, die es ermöglichen, einen
Katheter unter Führung des Auges in den Ureter einzu¬
schieben, d. h. nur die kystoskopischen Instrumente kamen
hiebei in Betracht.
Bei der Construction eines diesem Zwecke dienenden
Kystoskopes waren eine Reihe von Forderungen zu erfüllen,
wenn der Katheterismus in allen Fälllen gelingen und ein zur
chemischen und mikroskopischen Untersuchung genügendes
Quantum Harn in kurzer Zeit abfliessen sollte.
Es musste bei beiden Geschlechtern, bei Männern auch
bei hypertrophirter Prostata, gebraucht werden können, das
Caliber durfte das für den Durchschnitt erlaubte Mass — bei
möglichst dickem Sondencanale und gutem Gesichtsfelde - —
nicht überschreiten, und es musste eine Vorrichtung daran
existiren, um den Abfluss des Harnes durch den bereits in
den Ureter eingeführten Katheter zu ermöglichen, ohne dass
das Instrument selbst in der Blase zu verbleiben brauchte.
Ich hoffe, alle diese Aufgaben in dem jetzt zu schildernden
Kystoskop in möglichst vollkommener Weise gelöst zu haben
und kann nicht umhin, an dieser Stelle der bei meinem Be¬
mühungen um die technischen Details hochverdienten Firma
J. Leiter meinen wärmsten Dank abzustatten.
Das Instrument ist nach dem Principe des C a s p e r’schen
Ureteren-Kystoskops gebaut, unterscheidet sich jedoch in den
wesentlichen Punkten von demselben. Beibehalten sind die
Führung des Canales für den Katheter an der oberen Seite
und die handliche Abknickung des Fernrohres durch ein¬
geschaltete Prismen. (Siehe Abbildung.)
An dem vesicalen Ende der Katheterrinne befindet sich
das A 1 b a r r a n’sche Züngelchen c, das mittelst einer am Ende
befindlichen Schraube/’ nach Bedarf erhoben werden kann. Nur
befindet sich bei meinem Instrumente dieses Züngelchen im
Rohre verborgen, nicht, wie bei A 1 b a r r a n, dem Rohre auf¬
sitzend. Eine Verletzung der Harnröhre, die mir bei dem
französischen Kystoskop fast unvermeidlich erscheint, ist hier
absolut ausgeschlossen. Durch die Anbringung dieser zur Aende-
rung der Krümmung des austretenden Katheters cl dienenden
Vorrichtung entfällt das lästige Hin- und Herschieben des die
Rinne verschliessenden Deckels, der bei dem C a spe r’schen
Kystoskop demselben Zwecke entsprechen soll, und die damit
verbundenen Erschütterungen des Apparates und Verschiebungen
des schon festgehaltenen Blasenbildes werden vermieden, weil
a Lampe. — b Prisma. — c Züngelchen. — d Katheter. — e Deckel für die Rinne. — f Schraube, die das
Züngelchen hebt. — g Elektrischer Contact.
12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 1
bei meinem Instrumente die kleinste, unmerkbarste Drehung
der Schraube die Hebung der Katheterspitze besorgt.
Durch diese Anordnung nun war es möglich — und
darin liegt ein Hauptvorzug — das Prisma und das Ende
des Sondencanales auf 4 mm zu nähern, so dass die Spitze des
austretenden Katheters schon im Gesichtsfelde erscheint, wenn
nur 6 mm desselben vorgeschoben waren. Nun sind die Be¬
wegungen der Katheterspitze und damit die Schwierigkeit der
Einführung derselben in den Ureter natürlich desto grösser,
und die Treffsicherheit desto kleiner, ein je grösseres Stück
in die Blase geschoben werden muss, weil ja die Bewegung
des aufrichtenden Züngelchens die Bewegung der Katheter¬
spitze auf einen grösseren Kreisbogen überträgt.
Die Technik des Katheterismus des Ureters spielt sich mit
meinem Instrumente folgendermassen ab: die Oeffnung desUreters
wird derart eingestellt, dass sie sich etwas ausserhalb des Cen¬
trums des Gesichtsfeldes auf einer horizontal gedachten Linie
befindet. Sodann wird der Katheter, dessen Mandrin circa 5 cm her¬
ausgezogen ist, so weit vorgeschoben, dass seine Spitze die
Ureteröffnung zu decken scheint. In dieser ffxirten Stellung
nun wird die Schraube, die das Züngelchen regirt, so weit
angezogen, bis die Katheterspitze, die sich im Bilde scheinbar
senkt, vor die Oeffnung zu liegen kommt. Nun versucht man,
den Katheter einzuschieben. Ist dies gelungen, dann wird die
Schraube sofort wieder zurückgedreht, um dem Katheter freie
Beweglichkeit zu lassen, und dieser nach Bedürfniss hoch
hinaufgeschoben. Geht die Spitze des Katheters beim Versuche
cinzudringen aber vorbei, so kann man entweder durch
weiteres Anziehen der Schraube eine noch stärkere Krümmung
des Katheters herbeiführen oder durch eine ganz geringe Seit¬
wärtswendung des Aussentheiles des Instrumentes nach der
anderen Seite den Fehler in der Stellung corrigiren oder
diese beiden Massnahmen in besonders schwierigen Fällen
combiniren. Ich halte sogar diese letztere Manipulation für
vortheilhafter, weil ein zu starkes Anziehen der Schraube
den Katheter allzu sehr klemmt und seine Beweglichkeit beim
Vorschieben hindert.
Der weite Sondencanal gestattet die Einführung ziemlich
dicker Katheter, aus denen dann der Harn in der bekannten
rhythmischen Art rasch abtropft. Soll der Ureterenkatheter liegen
bleiben, so erfolgt dessen Herausheben aus der Rinne mittelst
eines diese ausfüllenden Stabes ganz so wie bei dem C a s p e Eschen
Instrumente.
FEUILLETON.
Zum Neubau des Wiener k. k. Allgemeinen
Krankenhauses.
Schaffung einer chirurgischen Isolirabtheilung.
Von Primararzt Dr. F. Schopf.
Mit der fortschreitenden Erkenntniss der Aetiologie der Krank¬
heiten hat sieh auch das Feld der Prophylaxis erweitert, dessen Be¬
arbeitung uns dem Ideal der ärztlichen Thätigkeit, die Verhütung der
Krankheiten, immer näher bringt.
Einen Theil dieser Prophylaxis bildet die Verhütung der Aus¬
breitung der infectiösen Erkrankungen in den Spitälern. Dieser wurde
in Wien in den letzten Jahren erfreulicher Weise grosse Aufmerksam¬
keit geschenkt und die mit ansteckenden Krankheiten Behafteten nicht
blos in den Spitälern selbst isolirt, sondern sogar in ein bestimmtes
Spital, das Kaiser Franz Joseph- Spital, welches einen vollständig ge¬
trennten Spitalstract für infectiös Erkrankte besitzt, transferirt.
Leider ist der Belegraum bei Weitem nicht ausreichend, um
dem Bedürfniss zu genügen. Aber der Anfang ist gemacht, und so
ist zu hoffen, dass durch Erweiterung des bestehenden und Neu¬
schaffung anderer Spitäler allmälig dem Platzmangel gesteuert
werde.
Die Kranken der medicinischen und dermatologischen Kliniken
und Abtheilungen sind nun nicht mehr der Gefahr ausgesetzt, dass
sie Masern, Scharlach, Blattern, Diphtheritis, Rothlauf, Flecktyphus
im Spital durch ihre Nachbarn aequiriren.
Der nächste weitere Schritt wird wohl der sein, dass die Tuber-
culüsen von den übrigen Kranken getrennt worden, wenn sie auch
unter derselben ärztlichen Behandlung bleiben, da bei dieser Krank¬
heit nur durch langen, innigen Contact eine Gefahr der Uebertragung
besteht.
Wenn wir nun fragen, ob in ähnlicher Weise für chirurgisch
Kranke gesorgt wird, so müssen wir uns gestehen, dass für dieselben
noch gar nichts geschieht. Denn wenn auch ein Kliniker oder Ab¬
theilungsvorstand versucht, die Kranken nach der Beschaffenheit ihres
Leidens zu sortiren und in die einzelnen Zimmer zu vertheilen, so ist
das ganz und gar unzulänglich, weil überall mehr oder weniger die
geeigneten Räumlichkeiten und das specielle Personal fehlt.
Die Art der Uebertragung der Infectionskeime ist allerdings eine
andere bei chirurgisch Kranken, als bei Masern, Scharlach etc.
Während bei diesen ein Kranker den anderen unmittelbar inficirt, ge¬
schieht die Uebertragung bei jenen durch Aerzte, Wärterinnen, Instru¬
mente, Verbandstoffe etc.
Daraus wäre nun zu folgern, dass bei chirurgisch Kranken eine
Uebertragung leichter zu vermeiden sei.
Dies ist allerdings richtig, wird aber aufgewogen durch die
häufige, ja fortdauernde Gelegenheit zur Uebertragung, die ja bei
jedem Verbandwechsel vorhanden ist, und durch den innigen Contact,
in welchem der Arzt fortwährend mit den Wunden kommt.
Unter den jetzigen Verhältnissen sucht man sich dadurch zu
helfen, dass der Vorstand und die Assistenten Fälle von Anthrax,
Gangrän, Phlegmonen, eiternden Wunden, Kothfisteln etc. überhaupt
nicht verbinden, weil sie sich für aseptische Operationen, frische Ver¬
letzungen parat halten müssen. Es bleiben also diese meist schweren
Fälle dem jungen, weniger geschulten Arzte zur Behandlung, was
natürlich nicht zum Vortheile der Patienten ist. Sind nun aber
grössere operative Eingriffe bei solchen infectiösen Patienten noth-
wendig, dann können sich der Abtheilungsvorstand und die Assistenten
nicht fern halten und müssen danach, wie es meist der böse Zufall
will, oft eine eingeklemmte Hernie operiren, einen Schädelbruch tre-
paniren oder eine complicate Fractur versorgen etc.
Dass da eine Infection bei der Unzuverlässlichkeit unserer
heutigen Desinfectionsmethode leicht möglich ist, die der Kranke mit
seinem Leben oder dem Verlust einer Gliedmasse zahlt, ist klar. Ist
die Gefahr der Uebertragung von Infectionsstoffen von einem Kranken
zum anderen durch die Aerzte auf einer chirurgischen Station immi¬
nent, so ist sie seitens der Wärterinnen nicht geringer; denn kommen
sie auch unmittelbar mit den Wunden nicht so in Contact wie der
Arzt, so begehen sie leichter Verstösse aus Mangel an Verständniss,
Intelligenz, Gewissenhaftigkeit.
Am leichtesten läsat sich noch die Uebertragung durch Instru¬
mente, Verbandstoffe vermeiden, erfordert aber immerhin die grösste
Aufmerksamkeit und Genauigkeit aller Personen, die damit hantiren.
Diese Uebelstände hat wohl jeder Vorstand einer chirurgischen
Station, der sich nicht die Fälle für dieselbe auswählen kann,
empfunden.
Auch lassen sie sich nicht in kleinen Spitälern, wo nur eine
chirurgische Abtheilung besteht, beseitigen.
Wohl aber ist dies möglich in grossen Spitälern, wo mehrere
chirurgische Abtheilungen vorhanden sind oder in einer Stadt, wo
mehrere Spitäler unter gemeinsamer Verwaltung stehen.
Beides ist nun in Wien der Fall. Vor Allem wäre dies beim
Neubau des Allgemeinen Krankenhauses zu berücksichtigen.
Es soll eine chirurgische Abtheilung geschaffen werden, welcher
bei der Aufnahme alle Fälle von Anthrax, Gangrän, Phlogmonen,
Wundrothlauf, Milzbrand etc. zugewiesen werden, und jede Abtheilung
des Spitales soll das Recht haben, chirurgische Fälle, bei denen eine
Gefahr einer Infection besteht, auf diese Abtheilung zu transferiren.
Dieselbe müsste in mehreren kleinen Pavillons oder in einem grossen
Pavillon untei'gebracht werden, der, gleichwie die Pavillons für Infections-
kranlce, so gebaut ist, dass einzelne Theile vollständig von den anderen
getrennt werden können.
Als Primararzt dieser Abtheilung müsste ein Chirurg bestellt
werden, welchem natürlich die Aussicht auf Transferirung in eine
andere chirurgische Abtheilung bei eintretender Vacanz eröffnet werden
müsste, denn derselbe wäre von der Behandlung anderer chirurgischer
Fälle ausgeschlossen. Uebrigens wäre sein Los noch leichter als das
des Vorstandes der Infectionsabtheilung, welcher Scharlach, Diphtheritis,
Blattern etc. zu behandeln hätte, denn derselbe wird auch von ängst¬
lichen Familien gesellschaftlich gemieden. Das hilfsärztliche Personal
wird leichter zu bekommen sein, da für die jungen Aerzte das Kennen¬
lernen gerade solcher Fälle für die Praxis von Wichtigkeit ist.
Das Wartpersonal muss natürlich für diese Abtheilung separat
bestellt weiden und darf auf keiner anderen chirurgischen Abtheilung
in Verwendung kommen. Die Durch füll rung wäre demnach nicht
schwierig, nur müsste bei einem Neubau des Spitales darauf Rücksicht
genommen werden.
Wäre einmal eine solche Abtheilung geschaffen, dann könnte
sie vielleicht auch die schwer infectiösen chirurgischen Fälle der anderen
Spitäler aufnehmen und es würde dadurch ein wesentlicher Fortschritt
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
13
in der Verbesserung der sanitären Verhältnisse der chirurgischen Stationen
gemacht werden und ein bisher gewiss an allen chirurgischen Ab¬
theilungen gefühlter, aber noch nicht öffentlich verhandelter Uebel-
stand aufgehoben werden.
Andererseits würden die infectiös Kranken nicht das traurige
Schicksal haben, sich als Zurückgesetzte betrachten zu müssen, die von
den Aerzten möglichst gemieden werden, bei denen möglichst wenig
Hand angelegt wird, die immer warten müssen, bis alle Uebrigcn ver¬
bunden sind etc., die dann naturgemäss eine etwaige Verschlimmerung
diesen Umständen zuschrieben. Da bei jedem Kranken der Selbstver¬
haltungstrieb mit der Schwere seines Leidens wächst, so nimmt er
keine Rücksicht auf die anderen Kranken und wird erregt oder ge¬
kränkt, wenn er sich zurückgesetzt glaubt.
Es muss daher die Schaffung von chirurgischen Isolirabtheilungen
nicht blos aus hygienischen Gründen, sondern auch aus Humanitäts¬
rücksichten gefordert werden.*)
Die neue Rigorosen- und Studäenordnung für
die medicinischen Fakultäten Oesterreichs.
Die derzeit an den österreichischen Universitäten zu Recht be¬
stehende Rigorosenordnung datirt seit dem Jahre 1872. Sie ist unter
den Auspicien Rokitansky’s, des damaligen Referenten für die
medicinischen Facultäten im Ministerium für Cultur und Unterricht
entstanden und bedeutete einen erheblichen Fortschritt durch weise
Anpassung an die wissenschaftlichen und praktischen Bedürfnisse der
damaligen Zeit. Es wird kaum bestritten werden, dass sie, im Sinne
ihres Schöpfers gehandhabt, einen ganz vortrefflichen Massstab für das
Wissen und Können des angehenden Arztes abgeben konnte, ebenso
wie die auf Grundlage dieser Rigorosenordnung aufgebaute Studien¬
ordnung ganz danach angethan war, dem ernst strebenden
Mediciner eine allen Anforderungen entsprechende Ausbildung zu ge¬
währleisten. Das Studium der Medicin sollte aber gerade in dieser
seither abgelaufenen Epoche eine ganz besondere Lockung für die
Abiturienten der Gymnasien bilden und die damals noch durchaus
günstige Situation des Aerztestandes bewirkte einen so übergrosseu
Zudrang zum ärztlichen Berufe, dass selbst an den kleineren Universi-
*) Anmerkung der Redaction: Wir hielten uns verpflichtet
die von so geschätzter Seite kommenden Anregungen auch dann hier auf¬
nehmen zu sollen, wenn sie mit unseren persönlichen Anschauungen in dieser
Angelegenheit nicht übereinstimmen und wir ihre etwaige Verwirklichung
nicht für wünschenswerth halten. Vor Allem können wir es durchaus nicht
als eine rühmenswerthe und bewährte Einrichtung ansehen, wenn für die
Bergung der Infectionskranken in Wien — von den Infectionsabtheilungen
der Kinderspitäler abgesehen — nur durch eine einzige an der äussersten
Peripherie der Stadt gelegene Abtheilung vorgesehen ist. Wir haben schon
einmal Gelegenheit gehabt — der Anlass ist noch in recht unliebsam
lebendiger Erinnerung — unseren Standpunkt in dieser Frage dahin zu
präcisiren, dass wir es für wünschenswerth, ja geradezu für geboten er¬
achten, nicht nur in jedem Krankenhause, sondern anch auf jeder
Abtheilung im Krankenhause bauliche und administrative Vorkehrun¬
gen zu treffen, die es ermöglichen, ohne Gefahr für die anderen Pa¬
tienten Infectionskranke unterzubringen. Dass dies leicht möglich ist, bedarf
wohl keiner weiteren Ausführung, ebensowenig als es bestritten werden
könnte, dass es eine inhumane Massregel ist, Infectionskranke auf der Höhe
ihrer Erkrankung aus dem Krankenhause ins Infectionsspital zu transportiren.
Die Angelegenheit hat aber auch noch eine andere Seite. Es ist durch diese
Verhältnisse bei uns in Wien den Studirenden und jungen Aerzten fast
zur Unmöglichkeit geworden oder zum Mindesten ausserordentlich erschwert,
sich in erwünschter Weise mit dem so hochwichtigen Studium der Klinik
der Infectionskrankheiten zu befassen. Dass dies nicht ohne schädliche
Rückwirkung bleibt für den Wirkungskreis des in der Praxis thätigen,
jungen Arztes, ist wohl von vorneherein klar.
Wenn nun dafür plaidirt wird, eigene, selbstständige Abtheilungen
für chirurgische Infectionskrankheiten zu creiren, so würden ausser den
schon erwähnten Unzukömmlichkeiten noch die Schwierigkeiten der Ab¬
grenzung und Zuweisung des einschlägigen Krankenmateriales hinzukommen.
Wenn man nach modern bacteriologischen Eintheilungsgründen Vorgehen
wollte, so bliebe dann für die eigentlichen chirurgischen Kliniken und Ab¬
theilungen nur ein recht geringer Rest zur Aufnahme geeigneter Patienten.
DieEmpyeme, eingeklemmten Brüche, die so häufigen Wurmfortsatzoperationen,
die Laparotomien wegen der verschiedenen zu Ileus führenden Krankheits-
processe, ein grosser Theil des urologischen Materiales, ja jedwede im
weiteren Verlaufe nach Operationen und Verwundung entstehende Eiterung
wäre consequenter Weise dieser präsumptiven chirurgischen Iufections-
abtheilung zuzuführen.
So wünschenswerth und geboten es erscheint, auf jede r chirurgischen
Abtheilung, so weit dies überhaupt von vorneherein durchführbar ist, eine
möglichst consequent durchgeführte und möglichst vollständige ärztliche
und administrative Sonderung des septischen und aseptischen Kranken¬
materiales durchzuführen, so wenig kann — aus mehr als einem Grunde —
es befürwortet werden, diese Sonderung so weit zu treiben, dass für die
inficirten chirurgischen Kranken eigene Abtheilungen errichtet würden.
täten die Ilörsäle und Laboratorien in einer Weise überfüllt waren,
die für die Mehrzahl der Studirenden eine auch nur halbwegs indivi-
dualisirende Ausbildung fast zur Unmöglichkeit machte. Unsere aka¬
demischen Lehrer waren durch diese Zustände in eine Pflichtencollision
gerathen, der auch die neue Rigorosenordnung nicht steuern konnte.
Denn dadurch, dass diese in eine grössere Anzahl einzelner, zeitlich
von einander beliebig auseinandergelegter Prüfungsacte zerfiel, war es
den Candidaten ermöglicht, jeweilig nur für den einzelnen Prüfungsact
sich vorzubereiten und darüber den Ausweis, inwieweit sie die Ge-
sammtheit des nothwendigen Wissens und Könnens zur Verfügung
haben, schuldig zu bleiben.
Dem gewissenhaften und befähigten Studenten, der für seinen
zukünftigen Pflichtenkreis den wahren inneren Beruf mitbrachte, blieb es
freilich ermöglicht, durch rasch aneinandergereihte Ablegung der
Prüfungen gleichsam aus dem Vollen zu schöpfen und den Zusammen¬
hang der verschiedenen Wissenszweige und Prüfungsgegenstände als
Resultat einsichtsvollen Studiums sich zu wahren. Nicht nur unter
den Studenten der Medicin bildete aber diese letztere Kategorie der
Prüfungscandidaten die zweifellose Minderzahl. Der ärztliche Stand
hatte und hat darunter mehr als genug zu leiden. Man sei aufrichtig
und bekenne es offen, dass die Ungunst der Verhältnisse, über
wrelche die Aerzteschaft aller Orten zu klagen hat, nicht gerade zum
Mindesten auch dadurch verschuldet ist, dass unter der so grossen Zahl
der Medicin Studirenden nur ein verhältnissmässig recht geringer
Theil mit jenem Fond von allgemeiner Bildung und familiärer Er¬
ziehung und mit jenen Fähigkeiten und sittlichen Anschauungen aus¬
gestattet an die Universität kam, die als unerlässliche Vorbedingungen
zur wahren Qualification gerade für den ärztlichen Beruf angesehen
werden müssen. Das Studium der Medicin artete vielfach lediglich in ein
Prüfungsstudium aus und schliesslich und endlich gelang es bei der
relativ grossen Anzahl von Einzelprüfungen und der Möglichkeit, die
einzelnen Prüfungsacte in beliebigen Terminen abzulegen, auch den
mindest Berufenen durch die einzelnen Etappen der Rigorosen sich
durchzuwinden und ans Ziel der Wünsche, der Erlangung des zur
Ausübung der Praxis berechtigenden Diploms zu gelangen.
Wenn je der Grundsatz : „Non scholae sed vitae discimus!“
Bedeuiung hat, so hat er sie vor Allem für das Studium der Medicin.
Und gerade die Erwägung wie leicht dieser Grundsatz von Den¬
jenigen umgangen werden konnte, die von den Pflichten ihres künf¬
tigen Berufes nicht gerade die strengsten und idealsten Anschauungen
hatten, mag dafür massgebend gewesen sein, an die Stelle der jetzt
bestehenden Rigorosenordnung, die nur den ernst strebenden, pflicht¬
bewussten Medicinern angepasst war, eine neue zu setzen mit
grösserer Gewähr einer richtigen Beurtheilung des Wissensstandes der
Candidaten. *)
Wenn auch noch nicht amtlich verlautbart, ist die neue Rigorosen¬
ordnung doch schon in ihren grossen Zügen bekannt geworden und es
darf wohl jetzt schon gesagt werden, dass sie aller Voraussicht nach
dem Ziele näher scheint, im Prüfungsergebniss auch den richtigen Mass¬
stab für das wissenschaftliche Wissen und praktische Können des an¬
gehenden Arztes zu gewinnen.
Die neue Rigorosenordnung theilt vor Allem in ihrer natürlichen
Rückwirkung auf die Studienordnung bei Beibehaltung des Quinquen-
niums das ganze Medicinstudium in zwei grosse Abschnitte, von denen
der eine die theoretischen Grundlagen des ärztlichen Wissens, der
zweite die praktischen Disciplinen, der eine die Wissenschaft vom ge¬
sunden, der zweite jene vom kranken Menschen umfasst. Diese beiden
Studienabschnitte sind durch eine die theoretisch-naturwissenschaft¬
lichen Fächer betreffende Prüfung begrenzt oder besser gesagt über¬
brückt, indem der Uebergang zu den Studien der verschiedenen Dis¬
ciplinen der Pathologie nur nach abgelegtem ersten Rigorosum er¬
möglicht ist. Dieses erste Rigorosum umfasst aber a) Allgemeine Bio¬
logie, b) Physik für Mediciner, c) Chemie für Mediciner, d) Anatomie,
e) Physiologie, f) Histologie. Die Prüfung aus Allgemeiner Biologie
und Physik wird nur theoretisch, jene aus den übrigen Gegenständen
theoretisch und praktisch vorgenommen.
Neu ist die Prüfung aus Allgemeiner Biologie, die als Ersatz
für die bisher bestandenen Prüfungen aus Zoologie, Botanik und
Mineralogie eingeführt wurde und dem Zwecke dient, den Nachweis,
der für den Mediciner unerlässlichen Kenntnisse aus der Pflanzen- und
Thierphysiologie, den Principien des organischen und anorganischen
Lebens etc. zu erbringen. Dem fleissigen Mediciner bleibt es nicht
nur unbenommen, es wird ihm vielmehr in der bei der Immatriculation
an die Hand gegebenen Studienordnung direct empfohlen, auch die
Collegien aus Botanik, Zoologie und Mineralogie zu hören. Geprüft
aber wird er aus diesen Gegenständen nicht.
In seinem ersten Studienabschnitte, für den eine untere Grenze
von vier Semestern festgesetzt ist, hat also der Studirende, ohne durch
*) Diese Verlautbarung ist inzwischen erfolgt. Siehe »Wiener
Zeitung« vom 31. December 1899.
14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1SOO.
Nr. 1
zwischenliegende Prüfungen unterbrochen zu werden, mit den zum
Verstiindniss der krankhaften Vorgänge nöthigen naturwissenschaft¬
lichen Disciplinen sich zu beschäftigen, und erst wTenn er seine Kennt¬
nisse in diesen Fächern erwiesen hat, wenn er gleichsam hierüber eine
Maturitätsprüfung in Form des ersten Rigorosums abgelegt hat, dann
erst kann er in grösserer Ausdehnung die Gegenstände der späteren
Semester frequentiren.
Die Dauer des zweiten Studienabschnittes hat eine uutei e Grenze
von sechs Semestern, im Uebrigen bleibt es aber, wie bisher, dem Can-
didaten überlassen, zu beurtheilen, wann er für eine Prüfung vorbe¬
reitet ist, beziehungsweise den zweiten und dritten Studienabschluss in
Form der in rascher Aufeinanderfolge abzulegenden Prüfungen des
zweiten und dritten Rigorosums abzuschliessen. Durch diese rasche
Aufeinanderfolge der Einzelprüfungen wird es dem Studenten unmöglich
gemacht, lediglich für jeden einzelnen Prüfungsact sich besonders vorzu¬
bereiten, vielmehr bezweckt, bei der Gesammtprüfung den vollen Ein¬
druck des Gesammtwissens des Candidaten nach Absolvirung seiner
einschlägigen, durch keine anderweitigen Prüfungsacte gestörten
Studien zu erlangen. Es ist damit auch erreicht, dass Studium und
Prüfungsvorbereitung sich jeweilig in vollem Umfange decken.
ln der neuen Rigorosenordnung werden künftig mehr Gegen¬
stände v ie bisher praktisch geprüft und andererseits in manchen Gegen¬
ständen die praktischen und theoretischen Doppelprüfungen in ein¬
heitlich praktisch-theoretische Prüfungen umgewandelt.
In den beiden Fächern „Interne Medicin“ und „Chirurgie“ ist
die Zweitheilung der Prüfung beibehalten und die praktische Prüfung
auf je zwei Tage vertheilt.
Beim zweiten Rigorosum sind Prüfungsgegenstände:
a) Als Uebersichtsprüfung Anatomie oder Physiologie, b) patho¬
logische Anatomie und Histologie (gleichzeitig praktisch und theo¬
retisch), c) allgemeine und experimentelle Pathologie, d) Pharmakologie
und Receptirkunde, e ) Hygiene, letztere als neuer Prüfungsgegenstand.
Beim dritten Rigorosum sind Prüfungsgegenstände:
a ) Interne Medicin, b) Chirurgie, beide getrennt praktisch und
theoretisch, c) Geburtshilfe und Gynäkologie, gleichzeitig praktisch und
theoretisch, d) Augenheilkunde, gleichzeitig praktisch und theoretisch,
e) die klinischen Specialfächer Psychiatrie, Kinderheilkunde, sowie
Dermatologie und Syphilis, gleichzeitig praktisch und theoretisch,
f) Gerichtliche Medicin, nur theoretisch.
Von den Gegenständen des dritten Rigorosums wird also nur
die gerichtliche Medicin lediglich theoretisch geprüft, was bei der
eminent praktischen Tragweite gerade dieses Gegenstandes einiger-
massen Wunder nimmt.
Für Laryngologie, Otiatrie, Zahnheilkunde und Impfkunde ist
der Nachweis der Frequentation eines Curses erforderlich.
In formaler Beziehung verdient es Erwähnung, dass der Regie-
rungscommissär in Hinkunft nur bei dem zweiten und dritten Rigorosum
interveniren wird.
Weiter ist es von Interesse, dass die Absicht besteht, nament¬
lich für die Facuitäten mit grosser Hörerzahl auch jene Extraordinarii
und Privatdoeenten, welche über ein reiches, für die Studirenden jetzt
wenig ausgeuütztes Krankenmaterial verfügen, durch Zuziehung zu
den praktischen Prüfungen für diese Art des praktischen Unterrichtes
zu interessiren, und dadurch zu veranlassen, auch entsprechende Collegien
zu lesen.
Begrüssen wird es ferner der Medieiner, dass ihm nach dem
neuen Studionplan die Möglichkeit geboten ist, sein Militärhalbjahr
während der Studien abzudienen, ohne dass diese dadurch eine wesent¬
liche Störung erfahren, indem dafür gesorgt ist, dass er seine Collegien
in derselben Reihenfolge hört, als würde er die Studien nicht unter¬
brochen haben.
Es ist hier nur in grossen Zügen Dasjenige skizzirt, was bisher
über die neue Studien- und Rigorosenordnung bekannt geworden ist.
Man wird es mit Genugthuung anerkennen müssen, dass hier eine
wichtige legislatorische Fiage in einer Weise gelöst erscheint, die, so
weit sich dies überhaupt jetzt schon beurtheilen läst, alle Gewähr dafür
bietet, dass die Universität mit grösserer Zuversicht als bisher den
jungen Aerzten das Diplom wird einhändigen können.
Die wissenschaftliche Ausbildung und die praktische Bethätigung —
für Beides ist in fürsorglicher Weise vorgesehen. Die zeitliche Congruenz
von jeweiligemStudium und Prüfungsvorbereitung, der grosse Wendepunkt
beim ersten Rigorosum, welcher Manchen noch rechtzeitig zum Rückzug in
andereBerufo veranlassen wird, dessenKräfte hier schon erschöpft scheinen,
die in grössere Gruppen zusammengefassten Prüfungen und die inten¬
sivere Methode ihrer llaudhabung und die hiemit erhöhte Möglichkeit,
bei diesen wichtigen Etappen im Leben des Studirenden nicht blos
Proben rasch zusammengetragener Gedächtnissarbeit, sondern verständ-
nissvoller akademischer Bildung und praktischer Befähigung zu er¬
bringen — das sind- die Vorzüge, die man der neuen Rigorosenordnung
jetzt schon wird zuerkennen können. A. F.
REFERATE.
Die localen Erkrankungen der Harnblase.
Von Otto Zuckerkandl.
Dieses Buch bildet eine wesentliche Bereicherung des grossen
N o t h n a g e Pschen Sammelwerkes der speciellen Pathologie und
Therapie. Reiche Literaturkenntniss und grosse persönliche Er¬
fahrungen haben es dem Autor ermöglicht, eines der brauchbarsten
Lehrbücher über die Erkrankungen der Harnblase zu schreiben;
der Praktiker wie der Specialist werden es mit Interesse lesen.
Besonders hervorzuhehen sind die trefflichen Capitel, die sich mit
der Würdigung der einzelnen Symptome Blasenkranker, der Retentio
urinae, der Enuresis, der Hämaturie, der Pyurie etc. beschäftigen.
Für den praktischen Arzt ist hier eine reiche Fundgrube trefflicher
Winke und anregender Bemerkungen gegeben, die vielen Kranken
zu Gute kommen werden.
Ein ausgewähltes vorzügliches Literaturverzeichniss schliesst
das bemerkenswerthe Buch, das sich sicher viele Freunde erwerben
wird. Nitze.
I. Tripper und Ehe.
Von Dr. med. L. Jullien, Paris, ins Deutsche übertragen und herausgegeben
von Dr. med. E. II o p f , Dresden.
Berlin 1899, Gebrüder Borntraeger.
II. Die Thompson’sche Zwei-Gläser-Harnprobe und ihre
diagnostische Verwerthung.
Schematisch dargestellt von Dr. Richard Hofmeister in Karlsbad.
Wien 1899, Josef Safaf.
III. Die amtlichen Vorschriften, betreffend die Prostitution
in Wien in ihrer administrativen, sanitären und straf¬
gerichtlichen Anwendung.
Von Dr. Josef Schrank, k. k. Polizeiarzt in Wien.
Wien 1899, F. Safaf.
IV. Die Prostitution.
Ein Beitrag zur öffentlichen Sexualhygiene und zur staatlichen
Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten.
Eine social-medieinische Studie von Dr. C. Ströhmberg, Stadt- und
Oberarzt des Stadtliospitales in Jerjew (Dorpat).
Stuttgart 1899, F. Enk e.
V. Cure prompte et radicale de la Syphilis. — Syphilis
et Mercure.
Par Ie Dr. J. F. Larrien, Medecin de l’hospital de Moutfort, l’Amanry
laureat de la faculte de medecine de Paris.
Troisieme Edition.
Paris 1899, Societe d’editions scientifiques.
VI. Die Akne (Acne vulgaris, Acne rosacea etc.) und ihre
Behandlung.
Dr. Jessner’s dermatologische Vorträge für Praktiker.
Heft 2.
Würzburg 1899, A. Stüber.
VII. Pathologie und Therapie der Hautkrankheiten in
Vorlesungen für praktische Aerzte und Studirende.
Von Dr. Moriz Kaposi, o. ö. Professor für Dermatologie und Syphilis und
Vorstand der Klinik und Abtheilung an der Wiener Universität, k. k.
Hofrath.
Eiinfte umgearbeitete und vermehrte Auflage.
Wien 1899, Urban & Schwarzenberg.
VIII. Handatlas der Hautkrankheiten für Studirende und
Aerzte.
Von Prof. M. Kaposi.
II. Abtheilung, I — M (Ichthyosis — Myoma cutis), enthaltend 126 Chromo-
tafeln.
Wien und Leipzig 1899, Wilhelm Braumüller.
I. In der bekannten leichten französischen Manier, in
fliessendem Styl, der allerdings durch seine Breite und zahl¬
reiche Wiederholungen zuweilen ermüdend wirkt, bespricht
Jullien das Capitel des Trippers und der Ehe unter Anlehnung
an Meister Fournier’s schönes Buch über »Syphilis und Ehe«,
das sich Jullien augenscheinlich zum Vorbilde nahm. Auf die
neuesten bacteriologischen Errungenschaften gestützt, auf dem Boden
der Gonococcenlehre fussend, zeigt uns der Verfasser in anschau¬
licher Weise die Bedeutung und die Consequenzen der Einschleppung
der Gonorrhoe, des Gonococcus in die Ehe und bespricht das Ver¬
halten, die Aufgaben des Arztes gegenüber dem acuten und chro¬
nischen Tripper bei Mann und Weib, wenn zu den Aufgaben der
Heilung noch jene socialen Schwierigkeiten sich hinzugesellen, die
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900
15
dann entstehen, wenn das Leiden kurz vor der Verehelichung oder
in der Ehe bei einem der Ehegatten zum Ausbruch kommt. Der
Ursprung der Affection, die Behandlung, das Verhalten und die
Rathschläge des Arztes gegenüber den socialen Gomplicationen, stets
unter Berücksichtigung des Cardinalpunktes die Infection des anderen
Theiles unbedingt zu verhüten, werden eingehend besprochen. Der
Uebersetzer hat sich durch die Verdeutschung dieses für den Prak¬
tiker sowohl als Specialarzt gleich wichtigen Werkes entschiedenes
Verdienst erworben, nur hätte er vielleicht besser gethan, statt der
Uebersetzung eine gekürzte Bearbeitung zu bringen. Die vielen
Wiederholungen, üppigen Stylblüthen, eingestreuten Bonmots, die in
der französischen Ausgabe den Styl würzen, erscheinen in der
deutschen Ausgabe als schwerfällige, oft unwillkommene Beigaben.
Die Ausstattung ist sehr würdig.
*
II. Verfasser hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Werth
und die diagnostische Bedeutung der Zwei-Gläser-Harnprobe darzu-
thun und durch schematische Darstellung zur Popularisirung dieser
im Ganzen, insbesondere von den praktischen Aerzten noch wenig
geübten Untersuchungsmethode beizutragen. In seinem Schema und
in der demselben vorausgehenden Erläuterung schildert Verfasser
in klarer und anschaulicher Weise, wie man auf Basis der Zwei-
Gläserprobe unter Beachtung des wechselnden Aussehens des Urins
in beiden Proben und unter Zuhilfenahme einfacher chemischer
oder mikroskopischer Untersuchungsmethoden dazu kommen kann,
Erkrankungen des uropoetischen Systemes zu diagnosticiren und
exact zu localisiren.
Die Darstellung ist knapp, aber klar und kann dem Büchel¬
chen nur weiteste Verbreitung in ärztlichen Kreisen gewünscht
werden.
*
III. Die vor Kurzem in Brüssel abgehaltene internationale Conferenz
zur Prophylaxis der Syphilis und der venerischen Knankheiten hat,
abgesehen von ihrem directen Ergebnisse, auch das Verdienst, an¬
regend und befruchtend auf das Studium dieser Fragen auch ausser¬
halb des Rahmens der Conferenz eingewirkt zu haben. So liegen
uns nun zwei Arbeiten vor, die beide direct der Brüsseler Conferenz
ihre Entstehung verdanken.
Das eine von Schrank enthält eine zusammenfassende
Zusammenstellung aller amtlichen Vorschriften, betreffend die Pro¬
stitution in Wien, damit eine Schilderung, in welcher Weise der
Prostitution und ihren Schäden zu Leibe gegangen wird. Nachdem
die meisten dieser Vorschriften und Erlässe in den Archiven der
Behörden ruhen und nur Amtspersonen zugänglich sind, hat
Schrank durch deren Publication das Verdienst, dieselben dem
grossen Publicum zugänglich gemacht zu haben, ein Verdienst, das
Jeder, der für diese Fragen sich interessirte und weiss, wie schwer
diesbezügliche Daten zu beschaffen sind, voll zu würdigen weiss.
IV. Ebenso verdankt das schöne Werk von Stroh mberg
seine Entstehung direct der Brüsseler Conferenz. Dasselbe ent¬
hält eine klare und übersichtliche Darstellung der ganzen Frage
und Alles dessen, was mit derselben zusammenhängt. Von der An¬
sicht Tarnowsky’s und Lombroso’s ausgehend, dass die
Prostituirten psychisch pathologische, degenerirte Geschöpfe seien,
bespricht er zuerst die biologische Bedeutung der Prostitution,
deren Beeinflussung durch die jeweiligen Sitten, endlich den Typus
der Prostituirten, indem auch er den Standpunkt vertritt, dass man
es hier mit moralisch degenerirten Individuen zu thun habe, bei
denen Arbeitsscheu, Sucht nach Ungebundenheit, sexuelle Insensi¬
bilität zur Prostitution treiben. Gegenüber den Abolitionisten, die
die Prostituirle als »weisse Sclavin« ansehen und von Zwang und
Sclaverei befreien wollen, argumentirt der Verfasser, dieselben be¬
gingen den grossen Fehler und eine Herabsetzung der anständigen
Frauen, indem sie die Prostituirten moralisch auf dieselbe Stufe
stellten. Zur Frage der Degeneration und moralischen Werthigkeit
der Prostituirten bringt Verfasser aus dem Dorpater Materiale
interessante Daten. So sind von den dortigen Prostituirten 60 — 70%
wegen Diebstahls abgestraft. Nachdem Verfasser noch die Unverbesser¬
lichkeit der Prostituirten besprochen, übergeht er zu den für uns
wichtigen Fragen der staatlichen Controle, deren Nothwendigkeit er
beweist, deren Nutzen er nachweist, deren Mängel er betont und
zu deren Assanirung er Vorschlüge erstattet. Von letzteren sei nur
betont, dass Verfasser die Nothwendigkeit der Umwandlung ärzt¬
licher Controle hervorhebt, insoferne, als dieselbe mit ambulatorischer
Behandlung zu verbinden sei, die Nothwendigkeit ambulatorisch¬
stationärer Behandlung, also Verquickung von ambulatorischer und
Hospitalsbehandlung betont, verlangt, dass die Untersuchungsärzte
auch behandelnde Aerzte seien, für die chronisch-intermittirende
Behandlung der Syphilis, sowie für die Nothwendigkeit mikro¬
skopischer Gonococcenuntersuchung auf Grund eigener Erfahrung
eintritt. Zahlreiche Statistiken und sonstige Belege erhöhen den
Werth der interessanten Arbeit.
*
V. Dass in einem Lande wie Frankreich, in dem in der mer-
curiellen Behandlung der Syphilis des Guten vielleicht ein bischen
zu viel geschieht, sich eine Gegenströmung entwickelt, die gegen
den Missbrauch und schliesslich auch den Gebrauch des Mercur
bei Syphilisbehandlung auftritt, ist eine natürliche Sache. Wenn
daher Verfasser, nachdem er in einer sehr ausführlichen Weise
über die Resorption, Elimination, Wirkungsweise des Quecksilbers
abhandelte, zum Schlüsse kommt, es werde bei der gegenwärtigen
mercuriellen Behandlung der Syphilis der Mercur in zu grossen
Dosen, durch zu lange Zeit, in zu häufiger Folge angewendet, so
hat er damit Fragen aufgeworfen, die immerhin discutirbar sind.
Wenn aber Verfasser nun zur Angabe einer allein seligmachenden
eigenen Methode der Syphilisbehandlung schreitet, die darin besteht,
dem Patienten sofort nach Constatirung der Infection drei bis fünf
Tropfen Jodtinctur durch mehrere Monate intermittirend darzu¬
reichen, und von dieser Methode behauptet, sie verhindere, in der
primären Periode begonnen, den Ausbruch secundärer Symptome,
in der secundären Periode begonnen, heile sie die Syphilis prompt
in vier bis fünf Monaten, verhindere tertiäre und hereditäre Syphilis
absolut — dies Alles behauptet auf Grund eigener zehnjähriger Er¬
fahrung - — , dann muss man wohl bedauern, dass die Societe
d’editions scientifiques in Paris sich zum Verlage dieses Buches
hergegeben hat.
*
VI. In knapper, sachlicher, anziehender Form gibt uns J e s s-
ner eine Schilderung der verschiedenen als Akne zusammenge¬
fassten Krankheitsbilder, der Acne simplex, rosacea, varioliformis,
necrotica, cachecticorum, bespricht das Krankheitsbild, die Aetio-
logie, um dann in etwas breiterer Weise auf die Therapie einzu¬
gehen. Ist auch der Zusammenhang der Akne mit allgemeinen und
Ernährungsstörungen noch nicht völlig erwiesen und hat J e s s n e r
diese Fragen in der Aetiologie mit berechtigter Skepsis behandelt,
so erklärt er doch, als Therapeut die Pflicht zu haben, dort, wo
man für eine causale Therapie keinen festen Anhalt hat, allen
noch so zweifelhaften Hypothesen und empirischen Ueberlieferungen
Rechnung tragen zu müssen. Er geht also in therapeutischer Be¬
ziehung auf diesen Punkt mehr als gewöhnlich ein, wobei er von
internen Medicamenten besonders den Schwefelpräparaten das Wort
redet, neben denen er auch das Ichthyol intern empfiehlt. Auch
die locale Therapie wird eingehend besprochen, wobei Verfasser
besonders die von der Wiener Schule empfohlenen und ausgegan¬
genen Behandlungsmethoden bevorzugt. Demjenigen, der eine kurze
aber verlässliche Orientirung über diese so verbreiteten Leiden
wünscht, ist das Büchelchen bestens zu empfehlen.
*
VII. Das rühmlich bekannte Werk des Vorstandes der Wiener
dermatologischen Klinik liegt uns in fünfter Auflage vor. Wir haben
Gelegenheit gehabt, die vier Vorgänger desselben in diesen Blättern
schon eingehend zu würdigen, wir können uns heute also damit
begnügen, das Erscheinen der fünften Auflage anzuzeigen und zu
betonen, dass dieselbe alle die zahlreichen Vorzüge der früheren
Auflagen aufweist, dadurch, dass alle thatsächlichen Leistungen auf
dem Gebiete der Dermatologie bis in die jüngste Zeit aufgenommen
wurden, zahlreiche wesentliche Ergänzungen und Erweiterungen er¬
fahren hat, so dass es durch seine sachliche Vollständigkeit ein
dermatologisches Handbuch seiner Zeit darstellt. Es ist zweifellos,
der Name des Verfassers bürgt dafür, dass auch diese Auflage, wie
die früheren, dem Facharzte, Praktiker, Studenten gleich willkommen
sein wird und wir in nicht zu langer Zeit Gelegenheit haben
werden, unseren Lesern das Erscheinen einer weiteren — der
sechsten — Auflage anzuzeigen.
*
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 1
16
VIII. Wir haben das Erscheinen dieses schönen Unternehmens be¬
reits in diesen Blättern angezeigt und hei Besprechung der I. Abtheilung
jene Ziele und Absichten, die den Verfasser bei Herausgabe des
Werkes leiteten, voll gewürdigt. Handelt es sich ja nicht um die
Herausgabe eines Atlas von Schulfällen, sondern zugleich um einen
»Atlas seltener dermatologischer Krankheitsfälle«, wie ihn zu ver¬
öffentlichen kein Anderer so berechtigt und geeignet war, als Ka¬
posi, der an seiner Klinik das reiche Material eigener und der Er¬
fahrungen lie bra’s in zahlreichen schönen Abbildungen und Mou¬
lagen zur Verfügung hat. Gerade aber die reiche Sammlung der
vom Typischen abweichenden, seltenen, in irgend einer Beziehung
aussergewöhnlichen Fälle geben nach unserer Ansicht dem Atlas
seinen hoben Werth und zeichnen ihn vor allen anderen analogen
Ihilernehmungen, die nur typische Fälle bringen, aus. Auch die damit
zusammenhängende Thatsache, dass von jeder einzelnen Krankheits-
form zahlreiche Abbildungen vorliegen, so von Ichthyosis 10 Tafeln,
Impetigo herpetiformis 7 Tafeln, Lepra IG Tafeln, Lichen acuminatus
15 Tafeln, Lupus erythematosus 12 Tafeln, Lupus vulgaris 18 Tafeln,
machen das Unternehmen werthvoll, indem sie den Atlas zu einem
differentialdiagnostischen Rathgeber machen für alle Aerzte, die
sich mit der Behandlung von Hautkrankheiten befassen und in der
Diagnose eines ihnen vorliegenden Falles unsicher sind. Die Aus¬
führung der Bilder ist durchaus vorzüglich. Finger.
Zur Geschichte der Syphilis in China und Japan.
Von Dr. Tatsulliko Okamura aus Tokio (Japan).
(Sonderabdruck aus: Monatshefte für praktische Dermatologie 1899,
Bd. XXVIII.
Der bis auf unsere Tage fortgeführte Streit über das Alter
und den Ursprung der Syphilis hat, was Europa und Amerika be¬
trifft, ja eine gewiss zum grossen Theile befriedigende Lösung ge¬
funden. Nur bezüglich Chinas und Japans bestanden bisher noch
Zweifel, da die betreffenden Aufzeichnungen dieser alten Cultur-
Völker des Ostens begreiflicher Weise wegen der Schwierigkeit der
Beschaffung und nicht minder wegen jener der Sprache und Schrift
einem kritischen Studium schwer zugänglich sind. Mit umso
grösserem Interesse muss daher die Arbeit eines philologisch und
dermatologisch gleich wohl unterrichteten Arztes aufgenommen
werden, welcher auf Grund seiner eingehenden Prüfung der alten
chinesischen und japanesischen Quellen zu dem Schlüsse gelangt,
dass das Vorkommen der Syphilis in China und Japan im Alter-
thume keineswegs, wie bisher gemeinhin angenommen wurde, zu¬
verlässig erwiesen sei. Allerdings waren daselbst virulente Behaftungen
der Geseblechtstheile schon seit den undenklichsten Zeiten bekannt;
der Umstand, dass die dermatologische Erkenntniss in diesen Ländern
schon frühzeitig gut ausgebiidet war, dass beispielsweise aus
dem Jahre G20 schon genaue Schilderungen verschiedener Ilaut-
aflectionen (Lepra, Ekzem, u. s. w.), des Trippers und der Bubonen
vorhanden sind, liesse es zum Mindesten auffällig erscheinen, dass
die aufmerksamen Beobachter jener Zeiten die auffälligen und
charakteristischen syphilitischen Krankheitserscheinungen übersehen
oder verwechselt hätten. Hingegen sind aus dem XV. Jahrhunderte
(zu Ende der Dynastie »Min« in China), um welche Zeit ein euro¬
päisches Handelsschiff eine bösartige, ansteckende und exanthema-
tische Krankheit in die südliche Provinz »Kwong-tung« einschleppte,
eine grosso Zahl von Beschreibungen vorhanden, welche ganz deut¬
lich aut Syphilis hinweisen. Von China wurde die Krankheit um
1521 durch Handelsschiffe und chinesische Piraten nach Japan
iibertragen; seit dieser Zeit erschienen auch hier zahlreiche Publi-
cationcn über die verschiedenen Manifestationen und Localisationen
der Syphilis. Die Echtheit des japanischen Werkes Dai-dö-rui-ju-hö,
auf Grund dessen Angaben frühere europäische Autoren den Ur¬
sprung der Syphilis schon in das Allerthum verlegten, ist nach
Okamura sehr fraglich. Aus der höchst interessanten Arbeit des
aus der V iener Schule hervorgegangen Verfassers ist unter Anderem
auch zu ersehen, dass die Chinesen schon um 620 nach Christi Geburt
die Scabiesmilbe kannten, schon frühzeitig venerische Affectionen
nach manchem jetzt ganz modernen Muster behandelten, so vene¬
rische Geschwüre mit überhitzten Metallstäbchen, die Syphilis mit
Quecksilberdämpfen oder mittelst Inunctionen, die sie, so wie
neuestens beispielsweise Stur gi s in New-York, mit dem Handteller
auf die Plantae vornehmen Hessen. L. Freund.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
1. (Aus der Abtheilung des Prof. v. Noorden am
städtischen Krankenhause in Frankfurt a. M.). Ueber Mutase.
Von Dr. Koch. Die Mutase ist ein neues eiweissreiches Präparat
(58'27%), ausschliesslich aus Gemüsen und Leguminosen hergestellt.
Der bei einem dauernd etwas fiebernden Phthisiker angestellte Aus¬
nützungsversuch war sehr günstig ausgefallen, desgleichen Hess das
Präparat auch bei vielen anderen Kranken, deren Ernährung
Schwierigkeiten machte, wie bei Magenkatarrh, Magengeschwür,
Magencarcinom und Darmkrankheiten sich mit gutem Erfolge ver¬
wenden. Bei rectaler Einführung wurden von den Stickstoffsubstanzen,
die in log Mutase enthalten sind, 80% resorbirt. — (Centralblatt
für innere Mediein. 1899, Nr. 23.)
*
2. Die Lehre von der Enteroptose und ner¬
vösen Dyspepsie auf Grund desCostalstigmas. Von
Prof. S t i 1 1 e r (Budapest). Der Verfasser bringt neue Beobachtungen
für seine vor zwei Jahren schon ausgesprochene Ansicht, dass die
Enteroptose nicht mechanischen Ursachen (Mieder etc.) ihre Ent¬
stehung verdanke, sondern auf einer angebornen Anlage beruhe,
ebenso wie eine bewegliche zehnte Rippe, die geradezu ein dia¬
gnostisches Symptom — Costalstigma — für eine bestehende
Disposition zur Enteroptose und der damit häufig in Verbindung
stehenden Hypersecretio acida sei. — (Berliner klinische Wochen¬
schrift. 1899, Nr. 34 und 35.)
*
3. Ueber Muskelerkrankungen bei Harn¬
röhrentripper. Von Prof. Eich hör st (Zürich). Bis jetzt
wurden mit Rücksicht auf die Mitbetheiligung von Muskeln bei
Gonorrhoe Auftreten von epileptoidem Zittern im rechten Bein,
Muskelschwund, Lähmung der Schulterblattmuskeln, Posticuslähmung
und metastatische Muskelentzündungen beobachtet. Eichhorst
beobachtete einen Fall von »gonorrhoisch-sklerosirender Muskel¬
entzündung an der Aussenfläche des Oberschenkels bei einem
Manne während eines acuten Tripperstadiums. Die Muskelverhärtung
zeichnete sich ausser durch grossen Schmerz noch durch langsame
Rückbildung aus. — (Deutsche medicinische Wochenschrift. 1899,
Nr. 42.)
*
4. (Aus der dermatologischen Klinik zu Breslau.) Ueber,
den Nachweis von Arsen auf biologischem Wege
in den Hautschuppen, Haaren, Schweiss und Urin.
Von Dr. Scholtz. Dass Arsen sich nach grösseren Dosen in
HaaVen, Hautschuppen von Thieren finde, ist bereits bekannt. Dass
dasselbe auch nach therapeutischen Arsendosen der Fall sei, wurde
vom Verfasser an Hautschuppen, Haaren, Urin und Schweiss von
zwei Psoriatikern nachgewiesen, welche während ihrer Behandlungs¬
zeit 045, beziehungsweise OG Acid, arsen. subcutan erhalten
hatten. Der Nachweis gelang zwar nicht mittelst des Mar sc la¬
schen Apparates, wohl aber auf biologischem Wege, das heisst mit
Benützung der Eigenthümlichkeit eines Schimmelpilzes (Penicilium
brevicaule), welcher beim Wachsthum auf arsenhaltigen Nährböden
aus festen Arsenverbindungen intensiv knoblauchartig riechende
Gase abspaltet und dadurch das Erkennen selbst kleinster Spuren
von Arsen ermöglicht. So gelang es noch in i/iog der Schuppen
der beiden Patienten Arsen deutlich nachzuweisen. — (Berliner
klinische Wochenschrift. 1899, Nr. 42.)
*
5. (Aus der chirurgischen Klinik des Prof. Czerny zu
Heidelberg.) Ueber die Kropfoperationen an der
Heidelberger Klinik in den Jahren 1888 — -1898. Von
Dr. S c h i 1 1 e r. Von 869 beobachteten Kropfkranken wurden
283 (gegenüber G4 im vorausgegangenen Decennium) einer opera¬
tiven Behandlung unterworfen. Aus der umfangreichen Arbeit sei
nur erwähnt, dass viermal wegen Basedow operirt wurde; in zweien
dieser Fälle zwang schon die Tracheastenose zur Strumektomie.
Eine Operirle, bei der sich nachher eine grosse persistirende
Thymus fand, starb während der Operation; in einem Falle wurde
völlige Heilung, im dritten eine seit 5'/2 Jahren anhaltende, im
letzten Falle aber nur eine vorübergehende Besserung erzielt. Von
49 malignen Strumen konnten noch 27 mit einiger Aussicht auf
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. V. 00,
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Erfolg operirt werden. In fünf Fällen (vier Sarkome und ein ma¬
lignes Adenom) beträgt die Heilungsdauer bis jetzt 3 ,/2' — 5
14 Fälle erlagen — bis auf einen, der sich nachträglich als gut¬
artige Thyreoideawucherung herausstellte — innerhalb 6 Wochen
bis ß'/2 Jahren einem Recidive; vier waren an den Folgen der
Operation gestorben und über die anderen Fälle konnte keine Aus¬
kunft erhalten werden. — (Beiträge zur klinischen Chirurgie. Bd.XXIV,
lieft 3.)
*
6. (Aus der chirurgischen Klinik des Prof. B r u n s in
Tübingen.) Zur Technik ausgedehnter Lymphom¬
exstirpationen am Halse. Von ür. lvüttner. Um einen
breiten Zugang zu schaffen, wird die Bildung eines Haut-Muskel¬
lappens mit hinterer unterer Basis empfohlen. Der Hautschnitt
verläuft am vorderen Rande des Sternocleidomastoideus vom Jugu-
lum bis zur Höhe des Kieferwinkels, biegt hier in einem flachen
Bogen nach rückwärts und verläuft weiter, horizontal ein bis zwei
Querfinger unterhalb des unteren Randes des Warzenfortsatzes je
nach der Grösse des Drüsenpaketes bis zwei oder drei Querfinger
hinter den Proc. mast. Der Muskel wird in der Höhe des Haut¬
schnittes, also dicht unterhalb seiner oberen Insertion, durchtrennt
und am Schlüsse der Operation, nach vorausgegangener Drainage
durch die Basis des Lappens, mit einigen Catgutnähten wieder
vereinigt. — (Beiträge zur klinischen Chirurgie. Bd. XXIV, Heft 3.)
*
7. (Aus dem hygienischen Institute in Graz.) Ueber ein
einfaches, für den praktischen Arzt bestimmtes
Verfahren zur Kleide rdesinfection m ittelstForm ai¬
de hyd. Von Dr. v. Rositzky. Den Apparat kann jeder Arzt
sich selbst construiren lassen. Er besteht aus einem Kasten mit
rund 1 m'i Rauminhalt, in welchem sich die Kleider in irgend einer
Weise auf Bügeln aus spanischem Rohr aufhängen lassen. Auf einer
Seite befindet sich eine Thüre, welche beim Gebrauche dicht ver¬
schlossen wird. In einer Wand wird ein Loch angebracht, ein
Glasröhrchen durchgesteckt und darin verkittet. In einem Blechtopf
von 2 l Fassungsraum, der in einen gut verschliessbaren Hals aus¬
geht, wird mittelst eines Spiritusbrenners, der 100 cm3 Spiritus
enthält, l/2 1 Wasser verdampft und der Dampf durch einen
Gummischlauch zum Glasröhrchen und von da mittelst eines
anderen Gummischlauches zur Sprayvorrichtung im Schranke ge¬
leitet, Avelche jener, wie sie bei den gewöhnlichen Inhalations¬
apparaten gebräuchlich, vollkommen ähnlich ist. In das betreffende
Gefäss kommen 100 cm3 einer 40%igen Formaldehydlösung. Man lässt
den Apparat durch eine halbe Stunde functioniren und nach neun
Stunden kann man die Kleider desinficirt dem Kasten entnehmen
und eine Stunde des Formaldehydgeruches halber lüften. Bau¬
mann in Wien (VIII.), Haertel in Breslau construiren übrigens
diese Apparate. Die Versuche ergaben, dass Testobjecte in
Kleidertaschen beeinflusst wurden; in praxi handelt es sich ja
meist um blos oberflächliche Verunreinigungen durch Eiter,
Sputum u. s. w. — (Münchener medicinische Wochenschrift. 1809,
Nr. 42.)
*
8. (Aus der medicinischen Klinik von Prof. Bäum ler in
Freiburg.) Studien über die Functionen des mensc h-
liehen- Mundspeichel s. Von Dr. S c h ü 1 e. Die diastatische
Kraft des gemischten Mundsecretes steigt vom Morgen bis zum
Mittag an, um nach einem, zwischen 11 und 3 Uhr erreichten
Maximum langsam abzunehmen. Die Absonderung von Salzsäure und
Pepsin geht im Magen des normalen Menschen besser vor sich,
wenn die Tngesta in gewöhnlicher Weise den Mund passirt haben
und mit Speichel gemengt sind, als wenn sie mittelst der Sonde
eingeführt werden. — (Archiv für Verdauungskrankheiten. Bd. V.
Heft 2.)
*
9. (Aus der Nervenklinik von Prof. Ssikovsky in Kiew.)
Zwei weitere Fälle sogenannter trophischer Ge¬
fäss e r k r a n k u n g im Verlaufe der Neuritis. Von
Dr. Lapin sky. Klinische, anatomische und experimentelle Beob¬
achtungen liessen feststellen, dass Erkrankungen eines Nerven in
Form von Neuralgie oder Neuritis eine pathologische Veränderung
der im Bereiche des geschädigten Nerven liegenden Gebisse nach
sich ziehen können. In klinischer Hinsicht wurden in solchen
Fällen an den betroffenen Theilen Oedeme, Röthung, cyanotische
Verfärbung, Temperaturzu- oder Abnahme, auffallende Erweiterung
und Schlängelung der Gefässe, spontane Blutungen und Gangrän
beobachtet. In den wenigen Fällen, in welchen bisher a n a tomisc h e
Untersuchungen der Gefässe innerhalb erkrankter Nervenbezirke
vorgenommen worden sind, konnten in Arterien und Venen circum-
scripte und diffuse Verdickungen der Intima, beziehungsweise der
Media mit consecutiver Verengerung des gewöhnlichen oder er¬
weiterten Gefässlumens, ja sogar vollständige Obliteration desselben
beobachtet werden. Im Thierexperimente konnten analoge
Erscheinungen festgestellt werden. L e w a s c h e f f sah nach Reizung
des Ischiadicus Hyperämie und Oedem, G 1 a y und M a 1 1 h i e u
merkwürdiger Weise auch am Controlbeine auftreten. Giovanni
fand nach Durchschneidung des Sympathicus ein Atherom des Aorta¬
bogens, Martin nach Durchschneidung des Vagus und Bervoel
nach jener des Ischiadicus die Intima der entsprechenden Gefässe
im obigen Sinne verändert. Fraenkel, welcher an Hunden und
Kaninchen den Ischiadicus durchtrennt hatte, fand im Gebiete dieses
Nerven eine bedeutende Verdickung der Gefässwände vor, welche
namentlich die Media betraf, das Lumen der Arterien und Venen
bis um das Drei- und Vierfache erweitert, aber in Folge inselartiger
Intimawucherungen ungleichförmig gestaltet. Lapinsky hatte Ge¬
legenheit, zwei hieher gehörige Fälle von ausgebreiteten patho¬
logischen Erscheinungen an den Gelassen klinisch zu beobachten,
die er bei dem Fehlen jeder anderen ätiologischen Erklärung von
der gleichzeitig bestehenden multiplen Neuritis, beziehungsweise einer
Neuritis nervi ischiadici abhängig macht. Die Betheiligung der
Gefässe an der Erkrankung führte zu folgenden Erscheinungen : Die
gelähmten Hände und Füsse waren cyanotisch, angeschwollen, ihre
Temperatur war erhöht, die Gefässe erwiesen sich für das blosse
Auge schon erweitert und auch geschlängelt, d. h. sie hatten nicht
nur der Breite, sondern auch der Länge nach zugenommen. Die
Gefässwände waren hart und starr und im weiteren Verlaufe der
Erkrankung traten spontane Blutungen auf. Boi der mikroskopischen
Untersuchung eines excidirten Gewebsstückes fanden sich die ob¬
erwähnten degenerativen Processe an den Gefässwänden, und zwar
am stärksten dort, wo die Nerven am meisten erkrankt waren.
(Zeitschrift für klinische Medicin. Bd. XXXVI 11, Heft 1, 2 und 3.)
*
10. Zur Behandlung der Melaena neonatoru m.
Von Dr. G u t m a n n (Emmendingen). Dem Kinde, welches aus dem
Mastdarm ziemlich viel Blut verloren hatte, wurde eine verdünnte
Gelatinelösung in Form eines Klysmas applicirt, zum Theile auch
per os gegeben, worauf die Blutung sofort stand. Dass Leim ein
vorzügliches blutstillendes Mittel sei, ist im Volke und besonders
in Tischlerwerkstätten genügend bekannt. — (Therapeutische Monats¬
hefte. 1899, Nr. 10.) 1
*
11. (Aus dem allgemeinen Krankenhause in Hamburg).
Ueber Reh a n d 1 u n g der Chlorose m i t F e - K 1 y s t i e r e n.
Von Dr. Jollase. Die genannte Applicationsform des Eisens kommt
natürlich nur dann in Betracht, wenn von vorneherein oder in Folge
der Eisenrnedication per os Verdauungsstörungen bestehen, die sonst
zur Unterbrechung der Eisentherapie führen würden. In diesen Fällen
soll neben der wie immer durchzuführenden Bettruhe folgendes
Eisenklystier gute Dienste leisten. Ferr. citr. 04 — 0 'Gg auf f)0'0</
Amylum, dreimal täglich ein Klysma, nachdem ein Reinigungs-
klysma vorausgegangen ist. Nebenerscheinungen, ausser manchmal
Leibschmerzen, wurden dabei keine beobachtet. Der Hämoglobin¬
gehalt hob sich bei dieser Behandlung um ß°/o wöchentlich. —
(Münchener medicinische Wochenschrift. 1899, Nr. 37.)
*
12. Ueber infectiöse Lungenentzündungen und
den heutigen Stand der Psittakosisfrage. Von Pro¬
fessor Leichtenstern (Köln). Es steht fest, dass hie und da,
und zwar nicht gar zu selten plötzlich eine Hausepidemie von
Lungenentzündungen auftritt, in welcher die Krankheitsfälle oft einen
atypischen Verlauf nehmen, von besonders bösartigem Charakter
sind, eine besondere Gontagiosität aufweisen, während über die
Aetiologie solcher Fälle, trotz aller bacteriologischen Befunde, noch
sehr wenig bekannt ist. Mit dem Bestreben, eine Erklärung für die
Entstehung solcher localer Epidemien zu finden, ist die Psittakosis-
frage entstanden. Man versteht unter »Psittakosis eine meist in
18
WIEN Eli KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. IfaüO.
Nr. 1
Ilausepidemien auftreiende schwere Infectionskrankheit, welche —
wie angenommen wird — von einem specifisch erkrankten Papagei
auf den Menschen übertragen wird. Diese Erkrankung war in allen
bisher beobachteten Fällen klinisch-anatomisch immer eine atypische,
häufig mit typhösen Erscheinungen einhergehende Pneumonie ge¬
wesen. Eine speci fische »Psittakosiskrankheit« ist bisher nicht
nachgewiesen worden. Die bekannteste dieser Epidemien ist die im
Jahre 1892 in Paris aufgetretene Psittakosis-Epidemie geworden,
welche 49 Erkrankungen mit 16 Todesfällen aufwies. Die Er¬
krankungen traten in jenen Häusern auf, in denen die Personen
mit Papageien in Verkehr standen, die im Februar des genannten
Jahres aus Südamerika in Paris eingelangt waren. Der Verfasser hat
die bisherige Psittakosis-Lileratur einer eingehenden Prüfung unter¬
zogen und hat ferner selbst Gelegenheit gehabt, eigene Beob¬
achtungen über (fine sogenannte »Psittakosis-Epidemie« anzustellen,
als deren Ergehniss sich Folgendes heraussteilen soll. Der sichere
Beweis, dass in den bisher bekannten psittakosisverdächtigen
Pneumonie-Hausepidemien die Ansteckung t h atsächlich von
kranken Papageien ausgegangen sei, ist bisher nicht erbracht worden.
Dass bei den Papageien, namentlich den frisch imporlirten, infectiöse
Erkrankungen, besonders Enteritiden, häufig Vorkommen, ist er¬
wiesen. Die diesen Erkrankungen zu Grunde liegenden Mikro¬
organismen (Strepto-, Staphylo-, Pneumococcen, Coli- und Proteus¬
arien u. A.) können selbstverständlich auch für den Menschen ge-
fährlich werden. Die als Psittakosis bezeichnete Krankheit ist eine
atypische Pneumonie, welche in allen Epidemien den völlig gleichen
Charakter trug. Solche Epidemien entstehen nicht seilen auch ohne
Intervention von Papageien und man könnte den Schluss ziehen,
dass alle bisherigen Psittakosis-Epidemien weiter nichts waren,
als autochthone atypische Pneumonien, hei welchen den zufällig
vorhandenen Papageien eine ätiologische Rolle zugetheilt wurde. Es
lässt sich aber nicht leugnen, dass die Auffassung, bei der Pariser
Epidemie habe eine Uebertragung der Krankheit von den kranken
Papageien auf den Menschen stattgefunden, als überaus wahr¬
scheinlich bezeichnet werden muss. — (Centralblatt für allgemeine
Gesundheitspflege. Bd. XVIII, Heft 7 und 8.)
*
13. Riesenwu.chs und Zirbeldrüsengeschwulst.
Von Dr. Oestreich und Dr. Slawyk (Berlin). Der vierjährige,
108 cm lange und 20 kg schwere Knabe war mit dein Symptomen
eines Gehirntumors in die Charite aufgenommen worden. Die Ob-
duction ergab einen apfelgrossen Tumor (Psammosarkom) der Zirbel¬
drüse. Anamnestisch liess sich feststellen, dass die Zeichen des
Riesenwuchses erst dann aufgetreten waren, als die ersten Zeichen des
Tumors zum Vorschein kamen. — (Virchow’s Archivq Bd. CLVH,
Heft 3.)
*
14. Anämiagravis alsFolgeversteckterHämor-
r h o i d a 1 b 1 u t u n g e n. Von Ewald (Berlin). Manche Personen
zeigen die Erscheinungen eines schweren anämischen Zustandes,
ohne dass fürs Erste eine besondere Quelle der Blutung sich finden
lässt. Für diese Fälle ist es wichtig, sich zu erinnern, dass auch
höher oben im Darme, der Untersuchung weniger leicht zugänglich,
Venenektasien Vorkommen können, welche die Blutung und damit
die Anämie bedingen. Die Entdeckung einer solchen Ursache für
die Anämie ist natürlich für den Patienten von grösster Bedeutung,
da sie sich durch eine einfache Operation verhältnissmässig leicht
beseitigen lässt. — (Die Therapie der Gegenwart. 1899, Nr. 11.)
*
15. Ueber die Exstirpation des krebsigen
Ma stdarmes und der Flexura sigmoidea. Von Professor
Schuchardt (Stettin). Verfasser macht einfach einen hinteren
Längsschnitt und sägt das Steissbein quer ab. Der Darm war zuvor
gründlich entleert, oder wenn das auf gewöhnlichem Wege nicht
möglich gewesen, Golotomie gemacht worden. Ohne weitere Knochen¬
oder Bänderverletzung wird dann der Mastdarm Schritt für Schritt
von seiner Umgebung zumeist stumpf abpräparirt. Durch dieses Ver-
fahren soll es möglich sein, nicht nur das inficirte parasacrale Ge¬
webe im Zusammenhänge mit dem Mastdarm zu entfernen, sondern
diesen auch in einer relativ bedeutenden Länge zur Wunde herab¬
zuziehen, so weit nämlich, als es die Flexurschlinge bei durch-
trenntem Mesenterialan satze gestattet. In einem Falle konnte
Sch u c h a r d t ein 40 cm langes Dannstück auf diese Weise
mobilisiren und 30 cm davon exstirpiren. — (Deutsche medicinische
Wochenschrift. 1899, Nr. 34.)
*
16. (Aus der chirurgischen Klinik des Prof. Trendelen¬
burg in Leipzig). Ueber Verletzungen des Nervus
r a d i a 1 i s bei Humerusfracturen und ihre operative
B e h a n d 1 u n g. Von Dr. Rieth u s. Nach den vorliegenden Beob¬
achtungen scheint es feslzustehen, dass die Radialisverletzungen
am häufigsten bei Brüchen des Humerus im mittleren Drittel Vor¬
kommen, dass dagegen die Fractur im Bereiche des oberen oder
unteren Drittels, seltener durch eine Läsion des Nerven complicirt
ist. Letztere ist nicht so sehr eine Folge des anatomischen Ver¬
laufes des Nerven, als vielmehr durch die Art und Intensität des
stattgefundenen Traumas bedingt. Für die Behandlung haben sich
folgende Gesichtspunkte ergeben: Primäre Paresen können, so lange
keine Steigerung der Lähmungserscheinungen beobachtet wird, ex-
spectaliv behandelt werden. Da es aber bei primären Paralysen
nicht sicher zu entscheiden möglich ist, ob eine Continuitätstrennung
des Nerven vorliege oder nicht, so muss derselbe freigelegt werden,
falls die Lähmung nicht in wenigen Tagen zurückgeht. Bei fest¬
gestellter Continuitätstrennung des Nerven muss womöglich sofort
nach dem Unfälle die Nervennaht ausgeführt werden. Eine Ver¬
kürzung des Humerus durch Resection ist dann zu empfehlen,
wenn die Distanz zwischen den Nervenenden eine so grosse ist,
dass die angefrischten Nervenenden nicht ohne Spannung vereinigt
werden können. Die Auffrischung muss eine so ausgiebige sein,
dass der Querschnitt der Nervenenden eine normale Beschaffenheit
zeigt. Jede secundär aufgetretene Radialislähmung indicirt, besonders
bei Steigerung der Lähmungserscheinungen, den sofortigen operativen
Eingriff. Die Resultate sind nach den bisher gewonnenen Erfahrungen
als absolut günstige zu bezeichnen. — (Beiträge zur klinischen
Chirurgie. Bd. XXIV, lieft 3.)
*
17. In der Gesellschaft für Morphologie und Physiologie zu
München sprach Röse über die pflanzlichen Parasiten
der Mundhöhle und deren Bekämpfun g, in welch’
letzterer Hinsicht besonders dem Alkohol der Rang eines guten
Resinficiens zukomme. Derselbe hat, wie Epstein gefunden, die
stärkste Desinfectionskraft bei 50%iger Verdünnung, während dem
absoluten Alkohol keine desinficirende Kraft zukommt. In hoch-
procentigem Alkohol gelöste Desinficienlien verlieren ihre Wirkung;
dagegen wirken Sublimat, Carbol, Lysol und Thymol bei gleicher
Concentration in 50%i&er spirituöser Lösung besser desinficirend
als in wässeriger Lösung. Röse fand die bactericide Wirkung des
50%igen Alkohols (Franzbranntwein) im Munde als eine sehr be¬
trächtliche, so stark wie die eines 10%igen Sublimatbenzoesäure¬
gemisches. Freilich ist es sehr lästig, einen so hochprocentigen
Alkohol durch eine Minute im Munde zu behalten. Derselbe soll,
abgesehen von seiner bactericiden Wirkung noch einen specifisch
heilenden Einfluss auf das erkrankte Zahnfleisch ausüben. —
(Münchener medicinische Wochenschrift. 1899, Nr. 36.)
*
18. (Aus der medicinischen Abtheilung des Prof. Senator
an der Poliklinik zu Berlin). Vorläufige Mittheilung über
ein neues Verfahren zur langdauernden Anwendung
starker galvanischer Ströme. Von Dr. Frank en-
h ä u s e r. Bei der therapeutischen Anwendung des elektrischen
Stromes wird die Haut in Folge der Aetzwirkung an der Stelle der
Elektroden mehr beeinflusst als das Körperinnere. Diese Aetzwirkung
beruht auf der Bildung von Jonen, welche das Gewebe schädigen.
Diese Aetzwirkung hört auf, wenn man die Anode mit einer Lösung
von Natriumsalz, die Kathode mit einer solchen von Chlorsalz um¬
gibt. In diesem Falle bildet sich an der Anode CO:j, am anderen
Pole H, wonach also eine Aetzung ausgeschlossen und die Möglichkeit
gegeben ist, dass man viel stärkere Ströme und diese längere Zei t
auf den Körper einwirken lassen kann. — (Berliner klinische
Wochenschrift. 1899, Nr. 34.)
*
19. Eine neue Art von Elementarkörnchen
(Granula) in Blut, A u s w u r f und Geweben des
Menschen. Von Dr. Grünwald (München). Die weitaus grössere
Anzahl der Rundzellen des Auswurfes, der serös-eiterigen Exsudate,
des Gewebseiters und entzündlicher Neubildungen enthalten Granula,
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
19
welche sich mit Eosin färben, durch Säuren, grüsstentheils auch
Alkalien wieder entfärbt werden und in E h r 1 i c h’scher Triacid-
lösung im Gegensätze zu den gewöhnlich sich orange färbenden
gröberen eosinophilen Körnchen eine fuchsinrothe Färbung annehmen.
Es sind somit eine Reihe von Zellen, deren Protoplasma sich bisher
als homogen zeigte, mit Körnchen angefüllt. Grün wald nennt sie
hvpeosinophile Zellen. Sie wurden auch in leucocytenreichem Blute
und zwar in ein- als mehrkernigen Rundzellen gefunden. Dass diese
Granula bisher der Beobachtung entgangen sind, hat seinen Grund
darin, dass die Präparate schnell durch Anwendung von Hitze fixirt
wurden; um sic zur Ansicht zu bringen, dürfen die Objecte blos
an der Luft getrocknet werden. — (Centralblatt für innere Medicin.
1899, Nr. 30.)
*
20. (Aus der Poliklinik für Kinderkrankheiten von Dr. N e u-
m a n n in Berlin). Ich thalbin in der Kinderheilkunde.
Von Dr. Ho m burger. Ichthalbin ist eine von der Firma
Knoll hergestellte Ichthyoleiweissverbindung. Es hat sich als ein
völlig unschädliches Präparat erwiesen, das ohne Beschwerden inne r-
1 i c h gegeben werden kann. Bei dieser Medication sollen nässende
Ekzeme in wenigen Tagen sich in trockene verwandeln und die
Heilung der trockenen durch internen Ichthalbingebrauch in Ver¬
bindung mit den gebräuchlichen äusseren Mitteln beschleunigt
werden; ebenso fördert es die Rückbildung der häufig in Begleitung
schwächender Krankheiten im Kindesalter auftretenden multiplen
Furunculose. Bei zehrenden Krankheiten, wie: chronischen Pneumo¬
nien, Scrophulose, chronischen Darmkatarrhen soll Ichthalbin den
Appetit anregend wirken und dadurch die Körpergewichtszunahme
bemerkenswert!! beeinflussen. Von den Darmkatarrhen werden be¬
sonders die chronischen, weniger die subacuten und acuten günstig
beeinflusst. Als Dosis hat sich bewährt dreimal täglich und zwar
bis zum sechsten Monat 0'05 — 01 g Ichthalbin, bis zum zwölften
Monate 015 — 0 2g', im zweiten Jahre 02 — 0'3 g, welche Dosis
oft auch noch für zwölfjährige Kinder genügt; sonst kann man bis
auf 0'5 g bis zum fünften Jahre und auf l'Og bis zum zehnten
Jahre steigen. Ichthalbin lässt sich auch sehr gut als Schachtel¬
pulver verordnen, z. B.: Ichthalb., Chocolado aa. 5 0 — 10'0(/. D. S.
Zweimal täglich eine Messerspitze. — (Therapeutische Monats¬
hefte. 1899, Nr. 7.)
*
21. Ueber die Rattenbisskrankheit. Von Doctor
II. Miyake (Japan). Unter Rattenbisskrankheit versteht man eine
eigenthümliche, meist fieberhaft verlaufende, in Japan sehr häufig
vorkommende Krankheit, welche durch den Biss einer (wahrschein¬
lich kranken) Ratte hervorgerufen wird; dieselbe verläuft fast regel¬
mässig unter charakteristischem intermittirendem Fieber, blauröth-
lichen Exanthemen und eigenthümlichen Nervensymptomen. Es
handelt sich wahrscheinlich um eine Krankheit, welche der Hydro¬
phobie, vielleicht auch dem Schlangenbiss an die Seile zu stellen
ist, aber jedenfalls nicht mit Pyämie identisch ist, Therapeutisch
kommt besonders die locale Behandlung der Wunde in Betracht.
— (Mittheilungen aus den Grenzgebieten der Medicin und Chirurgie.
Bd. V, Heft 2.)
*
22. Ein Fall von perforirenden Verletzungen
des Magens und des Duodenum nebst Einrissen in
die Leber. Von Dr. Dorf (Klein-Mohrau). Die Verletzungen waren
dadurch zu Stande gekommen, dass ein schweres Rad theilweise auf
Brust und Bauch des Arbeiters gefallen war. Tod nach 10 Stunden.
Die anatomische Diagnose lautete auf Zerreissung des Magens
(guldenstückgrosses Loch über dem Pylorus), des Zwölffingerdarmes
(haselnussgrosses Loch); im Gefolge davon Verblutung in Magen
und Darm. Bemerkenswerth in diesem Falle ist, »dass der Kranke
mehrmals erbrochen hat, trotzdem der Magen ein Loch hatte«, durch
welchen Umstand der mechanische Brechact, wie gewöhnlich an¬
genommen wird, unmöglich werden soll. — (Monatsschrift für Unfall¬
heilkunde. 1899, Nr. 9.)
*
23. Ueber cardiale und nervöse Störungen aus
gastrointestinaler Ursache. Von Dr. Jessen (Hamburg).
Dass vom Magen-Darm her Schwindelerscheinungen ausgelöst werden
können, ist seit langer Zeit bekannt. Die nächste Ursache für diese
Art der Herz- oder nervösen Störungen ist eine mechanische oder
chemische. Mechanisch: Gasbildung und Aufblähung des Magens
und besonders auch des Quercolons mit dadurch bedingtem Iloch-
sland des Zwerchfelles, Druck auf das Herz, Reizung der Horz-
ganglien u. s. w. Bei dieser Aeliologio ist es dann nicht zu ver¬
wundern, wenn solche Fälle von Herzschwäche durch Magenaus-
spülung oder eine Vichycur geheilt werden. Chemisch: Autointoxi¬
cation, beziehungsweise die supponirte Resorption von Giften,
welche im Darm gebildet worden sind. Diese Ursachen können zu
Erscheinungen führen, welche eine mehr oder minder schwere
Neurasthenie Vortäuschen. Nicht selten gibt der Harn solcher Indi¬
viduen zum Zeichen vermehrter Darmfäulniss die Rosen bac fi¬
sche Reaction, welche sammt der Summe der Beschwerden
schwindet, sobald solche »Neurastheniker« z. B. mit Darmspülungen
behandelt worden sind. — - (Münchener medicinische Wochenschrift.
1899, Nr. 43.) Pi.
THERAPEUTISCHE NOTIZEN.
In einer Veröffentlichung : Erfahrungen über die
innerliche Anwendung des Jodipins — einer Jod-
Sesamölverbindung mit einem Gehalte von 10"/0 Jod — berichtet
Dr. Ü. Burkhart in Berlin über günstige Erfolge mit dieser
Medication bei Lues. Das Mittel passirt unverändert den Magen,
kommt im Magen fast unverändert zur Resorption und wird erst
im Blute und in den Geweben allmälig gespalten. Die Dosis betrug
zwei bis drei Theelöffel = 10 — 15 g Jodipin = 1 — U5y Jod täglich.
Störungen des Appetites wurden keine beobachtet. — (Deutsche
Medicinalzeitung. 1899).
Radestock in Dresden empfiehlt gleichfalls das Jodipin
wärmstens in allen Fällen, in denen man sonst Jodkali anzuwenden
pflegt, und zwar auch in Form einer regulären Schmiercur, da es
sehr rasch absorbirt wird. — (Ueber Jodpräparate und deren Dosirung
in: Therapeutische Monatshefte. October 1899.)
*
Formalinalkohol gegen die Nachtschweisse
der Phthisiker. Von Dr. Hirsch fei d. Auf der Abtheilung
des Prof. Goldscheid wurde in letzterer Zeit folgendes Ver¬
fahren gegen die Nachtschweisse der Phthisiker angewendet. Mit
einer Mischung von Formalin und absolutem Alkohol aa. wurden die
schwitzenden Körpertheile einen Tag um den anderen bepinselt. Zuerst
Rücken und Arme, am nächsten Tage Brust und Bauch und am
dritten die Füsse. Die Wirkung hält eine bis vier Wochen lang an.
— (Fortschritte der Medicin. 1899, Nr. 38.)
*
Auch im vergangenen Jahre hat die bereits vielfach gewürdigte
therapeutische Verwerthbarkeit des Ichthyols zur Empfehlung
desselben für verschiedene Krankheitsproeesse geführt. Conitzer
in Hamburg (Münchener medicinische Wochenschrift. 1899, Nr. 3)
empfiehlt es zur localen Behandlung der Afterschrunde, Wert¬
hei m b e r in Nürnberg bei der Therapie der Tuberculose (Ibidem.
Nr. 24); es soll durch die innerliche Darreichung desselben der
Appetit mächtig angoregt werden. Von einer Mischung des Ichthyols
mit gleichen Theilen Wasser wurden dreimal täglich nach der
Mahlzeit (nie nüchtern!) ein bis zwei Tropfen in einem Gläschen
Wasser genommen ; jeden dritten Tag wird um einen Tropfen
gestiegen, bis dreimal zehn Tropfen täglich erreicht werden.
Schiele (Petersburger medicinische Wochenschrift. 1899, Nr. 8)
verwendet es hier besonders, wenn Kreosot nicht gut vertragen
wird. Mueller und Schütze halten die Verwendung des reinen
Ichthyols oder einer 50'Vjigen wässerigen Lösung zu Verbänden bei
schweren Verbrennungen zweiten und dritten Grades für sehr em-
pfehlenswerth. — (Aerztliche Rundschau. 1899. Nr. 5 und 21.)
*
Ueber die Behandlung des Keuchhustens mit
Antitussin. Von Dr. Heim (Düsseldorf). Das Mittel besteht
aus Difluordiphenil, Vaselin und Wollfett, hat Salbenconsistenz und
wird von der Haut sehr leicht resorbirt. Nachdem Hals, Brust und
die Gegend zwischen den Schulterblättern mit Seife gereinigt sind,
wird ein nussgrosses Stück der Salbe auf diesen Stellen verrieben.
Der Erfolg soll nach Autor ein vorzüglicher sein. — • (Berliner
klinische Wochenschrift. 1899, Nr. 50.)
*
Ueber die Beseitigung der Dyspepsie bei con¬
stitutioneilen, chronischen und acuten Krank¬
heiten. Von Dr. Thomalla (Berlin). Bei den genannten Zu¬
ständen soll sich Ext r actum chinae Nanning zu 15 — 20
20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 11)00.
Nr. 1
Tropfen täglich in Wasser bewähren. — (Therapeutische Monatshefte.
1890, Nr. 11.)
*
Wolff borg (Breslau) empfiehlt das Dion in bei Pannus
tracbomatosus, Geschwüren der Cornea, zur localen Behandlung nach
Bulbusoperationen (Staarextractionen). Die gutartige Wirkung soll
auf einer Ueberschwemmung des Bindehauttractes mit Lymphe be¬
ruhen, wodurch die Vitalität des Gewebes eine erhöhte wird. Das
Pulver wird in Substanz oder in Form von 25%igcn Cacao-Dionin-
stäbchen angewendet. — (Wochenschrift für Therapie und Hygiene
des Auges. 1899, Nr. 4.)
*
Behandlung der Tuberculose nach der Methode
des Professors Länderer. Von Dr. Samuel Bernheim.
Verfasser hat 43 Kranke mit Zimmfsäure behandelt und kommt
in Folge seiner hiebei gemachten Erfahrungen unter Anderem zu
folgenden Schlüssen : Durch Behandlung mit Zimmtsäure, beziehungs¬
weise deren Verbindungen resultirt zunächst eine Hyperleukocytose,
und man findet besonders im Blutstrom eine grosse Zahl von
polynuclearen und eosinophilen Leukocyten. Um die Tuberkelherde
findet ein Entzündungsprocess statt, welcher mit der Bildung von
Bindegewebe und neuen Gefässen endet. Bei diesen Injectionen,
welche sowohl intravenös wie intraglutäal gemacht werden, wird
mit sehr kleinen Dosen, etwa mit 1 '»></ btgonnen und bis 50 mg
gestiegen. Kürzeste Behandlungszeit mindestens drei Monate. Nach
Länderer soll die Zimmtsäure mit den Toxinen des Tuberkel¬
bacillus eine unschädliche Verbindung bilden. — (La Medecine orien¬
tale. 1899, Nr. 9.) Pi.
NOTIZEN.
Gestorben: Der Hygieniker R i c h a r d Thorne in
London.
*
Anfangs Januar eröffnet der „Wiener Aerzteclub“ sein
Heim. Dasselbe befindet sich: I., Schottengasse 7 im Mezzanin und
besteht aus einem Sitzungssaale, einem Lesezimmer und zwei Spiel¬
zimmern; die Localitäten sind mit allem Comfort ausgestattet und
werden voraussichtlich in kürzester Zeit zu einem geselligen Central¬
punkt der Wiener Aerzteschaft werden. Die constituirende Versamm¬
lung, in welcher die Wahl des Ausschusses erfolgt, wird am 6. Januar,
1 /2 6 Uhr Abends im Clublocale stattfinden; zu derselben sind
hiemit alle Collegen geladen, welche gesonnen sind, dem Club bei¬
zutreten.
*
Zweiter österreichischer Balneologen-Con-
g r e s s. Der Centralverband der Baineologen Oester¬
reichs hat beschlossen, seine zweite öffentliche wissenschaftliche Ver¬
sammlung im Jahre 1900 — einer ehrenvollen Einladung der hohen
k. und k. bosnischen Landesregierung und der löblichen Curverwaltung
liagusa zufolge, sowie gemäss § 2 der Vereinssatzungen — in
Ragusa (am 31. März und 1. April) und Ilidze (am 5. April)
zu veranstalten. Als Discussions-Thema wurde „die physikalisch¬
diätetische Therapie der Fettleibigkeit“ — (Balneo Hydro Klimato- und
Mechanotherapie) aufgestellt; selbstständige Vorträge über in das
Gebiet der Balneologie einschlägige Materien sind willkommen. An¬
meldungen zur Betheiligung und Ankündigungen von selbstständigen
Vorträgen, mit genauer Bezeichnung des Themas, nimmt der Schrift¬
führer des Verbandes: Dr. Wettendorfer, Wien, 1., Essling-
gasse lli, bis zum 15. Februar 1900 entgegen, welcher
auch alle auf den Congress und auf die Reise bezüglichen Auskünfte
ertheilt.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 50. Jahreswoche (vom 10. December bis
16. December 1899). Lebend geboren: ehelich 525, unehelich 294, zusammen
819. Todt geboren: ehelich 40, unehelich 2G, zusammen 66. Gesammtzahl
der Todesfälle 586 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
18 7 Todesfälle), darunter an Tuberculose 112, Blattern 0, Masern 11,
Scharlach 3, Diphtherie und Croup 11, Pertussis 2, Typhus abdominalis 1,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 2, Neu¬
bildungen 15. Angezeigte Infeotionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
149 (-j- 33), Masern 37 l (-)- 67), Scharlach 57 ( — 8), Typhus abdominalis
6 (-(- 1), Typbus exantbemaficus 0 (=), Erysipel 40 (-(- 12), Croup und
Diphtherie 80 (-f- 26), Pertussis 26 ( — 10), Dysenterie 0 ( — 1), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 4 (-(- 2), Trachom 2 (=), Influenza 0 (=).
*
Von der Bibliothek.
Nachstehende Werke wurden seit 16. November 1899 (siehe
Nr. 46, 1899 der »Wiener klinischen Wochenschrift«) von
dem Gefertigten für die Bibliothek der k. k. Gesellschaft
der Aerzte in Empfang genommen:
Nr. 5.
Geschenke :
Specielle Pathologie und Therapie, herausgegeben von Hofrath Professor
II. No t h nage 1.
Bd. VIII 1, Heft 2: Ehrlich und Lazarus A., Die Anämie.
Wien 1900. 8". Von Herrn Hofrath C h r o b a k.
Verhandlungen der deutschen Gesellschaft für Gynäkologie. Bd. VII
und VIII. Leipzig 1897/98. 8". 2 Bände. Von Herrn Hofrath
Prof. Chrobak.
lahrbuch, Statistisches, der Stadt Wien für das Jahr 1897. Wien 1899.
8Ü. Von dem statistischen Departement des Wiener Magistrates.
Kaposi M., Handatlas der Hautkrankheiten. II. Abtbeilung. Wien und
Leipzig 1899. 8". Vom Autor.
Pauli Wolfganp, Ueber physikalisch-chemische Methoden und Probleme in
der Medicin. Wien 1900. 8°. Vom Autor.
Allegri Natalis, De Asiatico Cholerae morbo animadversiones. Annorum
1837, 1854/55, 1866/67, 1887. Torino 1899. 81 Von Herrn Dr. Ga-
lat ti.
Unger Ludwig, Die Pflege des kleinen Kindes in den Findelanstalten
Oesterreichs. Wien 1899. 8°. Vom Autor.
Unger Ludwig, Die Pflege des vorschulpflichtigen Kindes in Krippen,
Kinderbewahi anstalten und Kindergärten. Wien 1899. 8". Vom
Autor.
Serbanescu Joan, Memoriu asupra maladiilor infectiose in Armata si in
populatiunea civila. Bucuresti 1899. 8". Vom Autor.
Svetlin Wilhelm, Festrede bei der Gedenkfeier des 500jährigen Bestandes
der »Acta facultatis medicae Universitatis Vindobonensis« am 10. De¬
cember 1899. Wien 1899. 8°. Vom Wiener medicinischen Doctoren-
Collegium.
Ein halbes Jahrtausend. Festschrift, anlässlich des 500jährigen Bestandes
»Acta facultatis medicae Vindobonensis« h-rausgegeben von Wiener
medicinischen Doctoren-Collegium. Redigirt von Dr. II. Adle r.
Wien 1999. 8". Vom Wiener medicinischen Doctoren-Collegium.
Procedings of the New York Pathological S ciety. Years 1887, 1890, 1892,
1897 98. New- York 1888/99. 8’. 4 Vols. Von Herrn Primär.
Dr. Kundrat.
*
Von der Itedaciion der Wiener klin. Wochenschrift :
Schöfer Johann, Leitfaden der Militär-Hygiene. Zweite umgearbeitete Auf¬
lage. Wien 1900. 8°.
Bass Eduard, Mittel und Wege zur Schaffung und Erhaltung eines ent¬
sprechenden Sanitäts-Hilfspersonals für die Militär-Sanitäts-Anstalten
und die Truppen im Frieden. Wien 1900. 8°.
Verslag der algemeene Zittingen van bet Negende Internationale Oogheel-
kundig Congres the Utrecht, 14. 18. Augustus 1899. Utrecht 1899. 8".
Archiv für Ohrenheilkunde. Leipzig 1899. Bd. XLVI, XLVII. Complet.
Transactions of the Clinical Society of London. Vol. XXXII. London 1K99.
*
Angekauft:
Hermann L., Lehrbuch der Physiologie. Zwölfte umgearbeitete und ver¬
mehrte Auflage. Berlin 1900. 8°.
Finsen Niels R , lieber die Bedeutung der chemischen Strahlen des Lichtes
für die Medicin und Biologie. Leipzig 1899. 8°.
Wien, im Januar 1900. Unger.
EINBAND DECKEN
in Leinwand mit Goldpressling zum XII. Jahrgang (1899)
stehen den P. T. Abonnenten zum Preise von 2 Kronen,
bei directem Postbezüge von 2 Kronen 72 Heller zur
Verfügung. — Zu gleichen Bedingungen sind ferner noch
Einbanddecken zum VI. bis XI. Jahrgang (1893 — 1898) zu
haben. — Ich bitte um baldgefällige geschätzte Aufträge.
Hochachtungsvoll
WILHELM BRAUMÜLLER
k. u. k. Hof- und Universitätsbuchhändler.
r
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
21
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften
und Congressberichte.
INHALT:
Verhandlungen der Wiener dermatologischen Gesellschaft. Sitzung
vom 6. December 1899.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in München.
Vom 17. — 22. September 1899. (Fortsetzung.)
Verhandlungen der Wiener dermatologischen Gesellschaft.
Sitzung vom 6. December 1899.
Vorsitzender : Hofrath Prof. Neumann.
Schriftführer: Dr. Matzenauer.
Lang demonstrirt:
1. Ein Mädchen, welches an Vorderarm und Händen ausgedehnte
Brandwunden hatte, die keine Tendenz zur Uebernarbung boten und
deshalb mit langen T h i e r s c h’schen Bändern gedeckt wurden; voll¬
ständige Heilung nach neun Tagen.
2. Einen Schlosser, welcher gleichfalls ausgedehnte Brandwunden
an Ober- und Vorderarm hatte, die bis aufs Uuterliautzellgewebe und
die Fascien die Haut vernichtet hatten. Wollte man in diesem Falle
einer Narbenankylose im linken Ellbogengelenke Vorbeugen, so durfte
man nicht an eine Thiersch Transplantation denken, sondern an eine
Lappenplastik. Der gestielte Lappen, welcher 20 cm in der Länge und
14 cm in der Breite mass, wurde der seitlichen Bauchwand entnommen
und heilte vollständig an, so dass die Bewegungsmöglichkoit des Ge¬
lenkes unversehrt blieb. Anschliessend zeigt Lang Photographien
von einer Lappenplastik an Hand und Fingern wegen Lupus vulgaris.
3. Ein Mädchen, dessen Lupus an der Wange seit 13 Jahren
erfolglos behandelt worden war und jetzt vor 16 Tagen exstirpirt
wurde. Ein gestielter Lappen wurde der seitlichen Halsgegend ent¬
nommen.
Lang demonstrirt einen Sequester des Stirnbeins, den er heute
bei einem in der letzten Sitzung demonstrirten Kranken entfernte. Der
Sequester ist 10 cm lang und ö1/* cm breit. Dem linken Stirnbein ent¬
sprechend hatte die syphilitische Nekrose auch die Lamina vitrea in
einer Ausdehnung von 6 cm3 erfasst, an dieser Stelle ist Pulsation des
Gehirns deutlich wahrzunehmen. Der Kranke ist fieberfrei und befindet
sich wohl.
Ehrmann demonstrirt einen Kranken mit einem Erythem
über dem Metacarpus des Daumens, dem Gelenksrand des Radius
und an der Vorderfläche des Vorderarms, scharf begrenzt, elevirt,
leicht schuppend, wenig schmerzhaft. In der Bicipitalfurche einige
Lymphgefässstränge. Vom Antypirinexanthem und den fixen Ery¬
themen unterscheidet sich der Fall durch Farbe und Elevation. Der
Kranke hat sich vor einem Jahre beim Füllen von Strohsäcken mit
einem Strohhalm am Handrücken geritzt und darauf eine Phlegmone
bekommen. Solche elevirte Erytheme kommen nach Verletzungen, die
mit thierischen Substanzen verunreinigt sind, oft vor, werden im Cen¬
trum bald livid und zeigen iu der Peripherie eineu steilen Rand, wie
Erysipel ; sie sind vielleicht mit den von den Engländern beschriebenen
persistirenden Erythemen identisch und gehen auf Sublimatumschläge
zurück.
Kaposi hat noch viel stärkere derartige Erytheme nach Ver¬
letzungen gesehen. Oft schliessen sich in centripetaler Richtung dicke
lymphangiotische und perilymphatische Infiltrate an, die auf Resorption
zerfallender Substanzen zurückzuführen sind. Thei apeutisch geben
Seifenpflaster und gewöhnliche feuchte Umschläge dasselbe Resultat,
wie Sublimatumschläge.
Ehrmann demonstrirt einen jungen Mann, bei dem sich das
Dorsallymphgefäss des Penis als ein dicker knotiger Strang in die
rechte Leistendrüse verfolgen liess.
Ehr mann zeigt einen Durchschnitt durch einen injicirten
Penis, in dem die Injection der Lymphgefässe von der Arterie aus er¬
folgt ist.
Schiff und Freund demoustriren eine Kranke mit L u p u s
er y them., die seit einem Jahre in Röntgen-Behandlung steht. Die
ursprünglichen Krankheitsherde sind abgeheilt. An der linken Schläfe
entwickelte sich eine seit einem Jahre persistirende Alopecie, ohne
dass nach dem ersten Beslrahlungscyklus je eine weitere Bestrahlung
der Stelle stattgefunden hätte. Vor einem Jahre benützten Schiff
und Freund noch nicht die Schutzmasken, so dass nicht nur die
krankhaft afficirte Stelle, sondern auch die nächste Umgebung bestrahlt,
wurde. Der ursprüngliche Lupusherd gelangte sehr rasch zur Heilung,
in der Umgebung des geheilten Herdes traten aber nunmehr neben
der dauernden Alopecie Erscheinungen auf, die dem Auftreten und
dem Verlaufe eines Lupus erythematosus vollständig entsprachen.
Kaposi warnt vor zu weitgehenden Schlüssen in der Be-
urtheilung der Heilerfolge bei Lupus erythem.; es bilden sich oft an
und für sich erkrankte Stellen zurück, ohne Narben zu hinterlassen.
Andererseits ist die Beeinflussung des Processes im Sinne der Erregung
einer acuten Entzündung nicht der Röntgen-Behandlung specifisch,
sondern kommt auch unter anderen Verhältnissen, besonders bei An¬
wendung von Aetzmitteln vor. Was den Haarverlust anlangt, ist fest¬
zustellen, dass der Process selbst zur Atrophie der Haarwurzeln führt.
Schiff wiederholt, dass es sich eben um eine allgemeine Prä¬
disposition der Haut zur Bildung von Lupus erythem . handle, so dass
Reize, wie Röntgen-Behandlung oder Aetzmittel, zur Bildung neuer
Erkrankungsstellen führen. Die mikroskopische Untersuchung zeigt,
dass die Veränderungen der Haut hei der Röntgen-Dermatitis ähnlich
sind denen bei Lupus erythem.
Kr ei bi eh zieht aus dem Neuauftreten von Lupusherden den
Schluss, dass bei der Röntgen-Behandlung die gesunden Hautstellen
geschützt werden sollten.
Freund erklärt, dass dies ohnehin jetzt geschehe, indem das
Gesicht mit einer Bleimaske bedeckt und den kranken Stellen ent¬
sprechende Fenster ausgeschnitten werden.
Nobl demonstrirt aus G r ü n f e 1 d’s Abtheilung einen Fall
von Framboesia syphilitica des Capillitiums und
diffuser papulöser Infiltration des linken äusseren
Gehör ganges.
Die Affection betrifft einen vor zwei Monaten luetisch infieirten
32jährigen Mann, bei welchem sich die gegenwärtig vorhandenen
Läsionsformen unmittelbar an den Initialaffect angeschlossen haben.
Im Bereiche der behaarten Kopfhaut, und zwar über dem linken
Scheitel und dem Hinterhaupte sieht man bis pfirsiebgrosse, halbkugelig
prominirende Tumoren, welche mit ihrer papillär unebenen, vielfach
durchfurchten, eiterig belegten Oberfläche aus dem Capillitium stark
hervortreten. Die mit einem schmutzig grauweissen, aus abgestossenen
Schuppenmassen, Eiter und Blutkrusten bestehenden Detritusbelage
überdeckten Geschwülste lassen bei Druck aus rundlichen Lücken
ihrer Textur Eitertropfen hervortreten. Die framboesiforme Structur
dieser immerhin selteneren Läsionsform ist ähnlich wie bei anderen im
Bereiche behaarter Hautregionen localisirten Krankheitsprocessen
(Ekzem, Pemphigus, Sycosis parasitaria etc.) auf eine excessive Wuche¬
rung des Papillarkörpers zurückzuführen.
Durch die Seltenheit der Localisation ist in diesem Falle das
Mitergriffensein des linken Gehörganges von Interesse.
Die Mitte der Muschel, die Incisura intertragica, sowie der Ge¬
hörgang in seiner ganzen Circumferenz sind ausgekleidet und erfüllt,
von einer confluirenden, eiterig belegten, grauweissen papulösen
Wucherung. Bei dem totalen Verlegtsein des Meatus ist es vorläufig
nicht bestimmbar, ob auch das Trommelfell am Krankheitsprocesse be¬
theiligt erscheint. Die hochgradige Beeinträchtigung der Hörschärfe ist
wohl hauptsächlich auf die Verstopfung des Ganges zu beziehen.
Kreibich demonstrirt :
1. Eine Frau mit Lues papulosa annularis au den Nasolabial-
falten und betont das wallartig aufgeworfene glänzende Infiltrat in
diff'erentialdiagnostiseher Beziehung.
2. Eine Frau, die am ganzen Körper mit intensiv schuppenden
Efflorescenzen bedeckt ist; die Schuppen sind silberglänzend und leicht
ablösbar, ähnlich Psoriasis vulgaris; doch liegt um die Efflorescenzen
ein braunrothes derbes Infiltrat; Psoriasis palmaris, Papeln am Genitale
und im Munde zeigen, dass es sich um ein luetisches Exanthem
handle.
Kaposi weist auf die Pustelbildung bei Syphilis hin und be¬
merkt, dass es in besonders intensiven Fällen zur Entwicklung der als
Variola luetica bekannten Form komme.
3. Eine Frau mit Pemphigus vulgaris, die frische Nachschübe
am Genitale und am Bauch zeigt.
Neumann demonstrirt, zwei Fälle von Sy rin go cy st¬
ade no m. Die zwei Patientinnen zeigten an der Haut des Thorax vorn
und seitlich unregelmässig disseminirte, sehr zahlreiche, bis eibsen¬
grosse, derbe, glatte, hellrosa bis matt, braune, nicht juckende Knötchen,
welche seit Kindheit bestanden, sich während des Spitalsaufenthaltes
22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 1
vermehrten. Eine klinische Diagnose war unmöglich; die Affection er¬
innert an Xanthom oder Dermatomzon.
' Mi kroskopisch zeigten die Knötchen eine Zusammensetzung aus
soliden Aesteu und Strängen epithelialer Zellen, aus cystischen Hohl¬
räumen mit homogenem Inhalt, von Epithelien ausgekleidet. Diese
Gebilde lassen eine Entstehung aus wuchernden Schweissdrüsengängen
erkennen. Neumann bezeichnet daher diese eigenthümliche Haut-
affection als Syringocystadenom und verlegt ihren Ausgangs¬
punkt in die fertig ausgebildeten Schweissdrüsen, und nicht, wie
andere Beobachter behaupteten, in embryonal abgeirrte, „verunglückte“
Knäueldrüsenanlagen.
Discussion: Kaposi ruft die klinische Aehnlichkeit des
Syringocystadenoms mit dem von ihm 1868 beschriebenen Lymph¬
angioma tuberosum multiplex ins Gedächtniss. Doch bestand bei
letzterem die Affection seit Geburt und zeigte niemals Nachschübe.
Andererseits zeigt auch der histologische Befund bei beiden Affectionen
derartige Verschiedenheiten, dass die Ansicht B e s n i e r’s, das
Lymphangioma tuberosum sei identisch mit dem Syringocystadenom,
hinfällig erscheint.
Neumann demonstrirt eine 21jährige Magd mit Sklerose
an der Unterlippe von 3 '/ 2 wöchentlicher Dauer; Unter¬
kieferdrüsen noch nicht, eine Submentaldrüse vergrössert;
ferner eine 28jährige Magd mit Sklerose an der Ober¬
lippe und Exanthema maculo3um am Stamm und Extremitäten. Unter¬
kieferdrüsen walnuss-, Zungenbeindrüsen haselnussgross;
ferner eine 21jäbrige Magd mit Sklerosen nahe an der
Tonsille und Roseola annulata. Am rechten Unterkieferwinkel ein
apfelgrosses Drüsenpaket. Cervicaldrüsen rechts multipel, bohnen- bis
haselnussgross. Patientin ist virgo intacta;
ferner einen 24jälirigen Kranken mit tuberösem Syphilid
am rechten Ellbogengelenk, linken Augenbrauenbogen, Unterlippe,
Wangen und Kopf. Syphilis seit März 1899; bisher 60 Einreibungen;
ferner einen 18jährigen Kranken mit pustulöse m Sy¬
philid, hauptsächlich an der Stirnhaargrenze localisirt;
ferner einen 25jährigen Kranken mit lenticulären Syphi-
liseffloreseenzen am linken Handgelenk, über der linken
Schulter und au Nasenwurzel und -Spitze. Die letzteren bieten nach
Localisation und Aussehen grosse Aehnlichkeit mit Lupus e r y-
thematosus dar. Syphilis seit 4 '/2 Jahren;
endlich einen 27jährigen Kranken mit ulcerösem Syphi¬
lid, in der Medianlinie der Oberlippe, am Kinn, an der rechten Unter¬
lippe; Pigmentirungeu nach überstandenen Syphiliden am behaarten
Kopf und auf der Brust. Syphilis seit April 1899, bisher un¬
behandelt.
Matzenaue r demonstiirt ein Xeroderma pigmentosum bei
einer 66jährigen Frau. Seit Kaposis ersten Mittheilungen vom
Jahre 1870 wurde Xeroderma bei einer Gesammtzahl von circa 90 bis
nun beobachteten Fällen nur ein einziges Mal in so vorgeschrittenem
Alter beobachtet. Da die Affection zumeist schon im frühesten Kiudes-
alter sich entwickelt und im jugendlichen Alter bereits in ihrem
typischen Gepräge erscheint, so dass die Veränderungen als eine Seni¬
litas cutis praecox bezeichnet werden können, könnte in diesem Falle
die Frage aufgeworfen werden, ob hier die Erscheinungen nicht als
eine physiologische Senilitas cutis gelten dürfen. Dagegen spricht die
für Xeroderma charakteristische Prädilectionsstelle an Gesicht, Armen
und Unterschenkeln, wogegen ein physiologischer Altersprocess der
Haut schwerlich auf die bezeichneten Partien localisirt bliebe, sowie
insbesondere der Umstand, dass hier nicht blos senil atrophische,
sondern direct schwielig narbige Hautveränderungen prädominiren.
Sommersprossenartige Flecke und Pigmentirungen hat die Kranke zu¬
erst im reiferen Lebensalter bei ihren Feldarbeiten auftreten gesehen.
Der wiederholten Insolation, die von mehrfachen Autoren als Gelegen¬
heitsursache angeführt wird, indem es in Folge häufigen Auftretens
eines Erythema solare zu chronisch entzündlichen Erscheinungen, zu
Pigmentanhäufungen und zu einer abnormen Verhornung der Epidermis
kommt, scheint auch im vorgestellten Falle eine bedeutsame Rolle zu¬
zusprechen zu sein, zumal die Affection gerade nur so weit reicht,
als Hals, Arme und Ftisse bei der Feldarbeit entblösst getragen
wurden. Der Fall scheint demnach dafür zu sprechen, dass Xeroderma
nicht immer in frühester Kindheit beginnen müsse, sondern auch
im späteren Alter, etwa zur Pubertätszeit, in der hiezu disponirten
Haut zur Entwicklung kommen könne.
Kaposi betont, dass er bis zu seiner ersten Publication nur
Fälle im jugendlichen Alter gesehen habe; offenbar könne der Process
manchmal einen langsameren Verlauf nehmen, der Typus aber bleibe
stets der gleiche. Was die Annahme anlangt, den Einfluss der Sonne
in Beziehung zu bringen, so gilt hier dasselbe, was von Hebra be¬
züglich der Epheliden gesagt wurde; Insolationen machen diffuse Ery¬
theme, aber nicht umschriebene Pigmentflecke. Dass unter ihrem Ein¬
flüsse bestehende Pigmentflecke dunkler werden, ist klar; aber Pig-
mentationen führen noch nicht zu Atrophien.
Kr ei b ich erwähnt, dass die Schwester der Patientin vor
einigen Monaten auf der Klinik Kaposi mit einem Carcinom am
Vorderarm Aufnahme fand, dass man dabei an Xeroderma dachte, aber
nicht mit Sicherheit constatiren konnte.
Matzenaue r spricht die Vermutbung aus, ob nicht ein
chronischer Entziindungsprocess der Haut in Folge wiederholter In¬
solationen auf die Wirkung der ultravioletten Strahlen des Sonnen¬
lichtes zurückzuführen sei, ähnlich wie die Dermatitis nach Röntgen-
Behandlung.
Neumann eröffnet die Discussion zu Schornhei d’s V ortrag
über Lupus erythematosus.
Kaposi wendet ein, dass bei fortgesetzten Untersuchungen
Scho r nhei d wohl noch Degenerationsvorgänge in den Zellen finden
würde; denn, wenn diese nicht bestünden, Hesse sich die spontane
Atrophie nicht erklären. Auch der negative Bofund von Tuberkel¬
bacillen werde die Verfechter der tuberculösen Natur des Lupus ery¬
thematosus nicht widerlegen. Wenn Schornheid behauptete, dass
die Schweissdrüsen schwer als primär erkrankt bezeichnet werden
könnten, müsse er dem entgegentreten, da er selbst sowohl klinisch
wie histologisch das Gegentheil nachgewiesen habe.
Neumann betont, dass Lupus erythematosus auch an der
Palma manus vorkommt, wo keine Talgdrüsen sind. Oft sind hier die
Efflorescenzen vorhanden, bevor sie noch am Handrücken zu bemerken
sind. Von Ilebra sei betont worden, dass die Talgdrüsen diejenigen
seien, von denen das Infiltrat ausgeht. Der histologische Befund hie-
für sei von Neumann zuerst gegeben worden.
Ehrmann erklärt, Scho r nhei d habe nicht gemeint, dass
d e Schweissdrüsen nur den Ausgangspunkt für Lupus erythematosus
bilden, sondern dass es Fälle gebe, in denen die Schweissdrüsen nicht
primär erkranken. Er glaube überhaupt, es handle sich gar nicht um
die Drüsen, sondern um das Gefässnetz. Es kann Vorkommen, dass
zuerst die Gefässe um die Schweissdrüsen oder zuerst die um die Talg¬
drüsen erkranken. Daher resultire die Vielgestaltigkeit des Lupus
erythematosus.
Lang verweist auf die Beobachtung von Lupus erythematosus
an Schleimhäuten.
Kreibich führt aus, dass sieh ein solches Convolut an elasti¬
schen Fasern auch noch bei anderen Erkrankungen finde, z. B. bei
flachen Epithelialcarcinomen.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
in München.
Vom 17. bis 22. September 1899.
(Fortsetzung.)
Section für Dermatologie und Syphilis.
Sitzung den 19. September.
Vorsitzender: Unna (Hamburg).
I. Rille (Innsbruck): Ueber Leukoderma in Folge
von Psoriasis vulgaris.
Caspai i (Königsberg) hat jüngst auch einen Fall von Leuco-
derma psoriaticum beobachtet. Er weist auf die grossen Differenzen
hin, welche sich bei der Auffassung des Leucoderma syphiliticum
zeigen. Dasselbe kann entstehen nach vorgängigen syphilitischen
Efflorescenzen. Es kann sich um eine theilweise Pigmentanhäufung
handeln.
Matzenaue r (Wien) zeigt die bildliche Darstellung eines
Falles von Psoriasis mit ausgedehnten vitiligoartigen Flecken. Ferner
einen Fall von Psoriasis nigra, beruhend auf einer gleichzeitig bestehen¬
den Malaria-Melanose. Des Weiteren weist Redner auf die von den
Franzosen beschriebene sogenannte Pigmentsyphilis hin, bei welcher es
sich nicht um Leukoderma, sondern um Melanoderma handelt. Redner
glaubt, dass sich das Leucoderma nur an den Stellen entwickle, wo
früher syphilitische Efflorescenzen ihren Sitz hatten.
Neuberger (Nürnberg) hat auch einen Fall von Pigment¬
syphilis gesehen und einen Fall von Pigmentirung nach Lichen
planus.
Jessner (Königsberg) betont, dass es interessant sei, festzu¬
stellen, ob das Leucoderma psoriaticum nur dann auftritt, wenn Arsen
gebraucht war, denn es sind nach Arsengebrauch auch einzelne Fälle
von Leukopathien beobachtet worden.
Loewenheim (Breslau): An der Breslauer Klinik sind mehrere
Fälle von Leukoderma nach Psoriasis beobachtet worden, welche nicht
einer Arsenbehandlung, sondern einer Chrysarobinbehandlung unter¬
worfen worden waren.
Unna (Hamburg): Ich habe mir die Weisse der Flecken auf
Contrastwirkung zurückgeführt, aber unterscheide streng eine Pigment¬
syphilis, die vollkommen unabhängig ist von präexistirenden entzünd-
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
23
lichen Effloresceuzen und ihren eigenen Decursus mit intermediären
netzförmigen Pigmentbildungen besitzt, von der localisirten Depigmen-
tirung syphilitischer Effloresceuzen. Nur diese letzte Form entspricht
der von Rille geschilderten Dopigmentirung nach Psoriasisefflorescenz,
welche Unna nach eigenen sporadischen Fällen seinerseits vollinhaltlich,
soweit es das Klinische betrifft, bestätigt.
Rille (Wien) : Den von Matzenaue r in Abbildungen ge¬
zeigten Fall glaube ich als Vitiligo neben Psoriasis und nicht durch
Psoriasis ansehen zu müssen, doch lässt sich ohne Besichtigung des
Falles selbst dies schwer sagen. Bezüglich der Genese des Leucoderma
syphiliticum möchte ich daran festhalten, dass es sich im Anschluss an
specifische Efflorescenzen entwickelt. Die differentialdiagnostische Be¬
deutung der Depigmentirung nach Psoriasisefflorescenzen ist namentlich
dann wesentlich, wenn Combinationen von Syphilis und Psoriasis, wie
nicht selten, vorliegen.
II. Ri sso (Genua): Ueber Sphagnol bei einigen
Hautkrankheiten.
Sphagnol ist Corbaöl und besteht aus Benzol, Anthracen, Naphtha¬
phenol, Kresilol, Kreosol. Es besitzt einen penetranten unangenehmen
Geruch, ist dickflüssig und wird bei 37° dünnflüssig. Von den Eng¬
ländern ist das Sphagnol gegen Akne, Herpes, Acne rosacea, Ekzem
und Psoriasis empfohlen worden. Redner hat dasselbe ausserdem bei
Scabies, Favus, Herpes tonsurans versucht.
Die Erfolge bei Scabies waren glänzende, ja die antiseptischen
Eigenschaften des Präparates bewirkten auch eine schnelle Abheilung
postscabioser Schorfe etc. Dieselben günstigen Resultate erzielte Redner
bei den durch Pilz bewirkten Hautaffectionen. Auch das chronische
Ekzem wurde in der günstigsten Weise beeinflusst. Vor Allem scheint
die hohe antiseptische Eigenschaft des Präparates eine grosse Bedeu¬
tung zu haben.
III. K o p p (München) : Spontane Gangrän der Hand¬
haut.
Der Fall betrifft ein junges, offenbar sehr hysterisches Mädchen,
welches schon seit langer Zeit auf dem linken Handrücken eine nicht
zur Heilung zu bringende Wunde von 5 cm Durchmesser hat, auf
welcher sich stets wieder von Neuem brandige Schorfe abstossen.
Unna (Hamburg) hält die Affection für artificiell und empfiehlt
suggestive Behandlung.
*
Section für Gynäkologie und Section für Dermato¬
logie und Syphilis.
Combinirte Sitzung am 19. September 1899, Nachmittags 3 Uhr.
Vorsitzender: Soltmann (Leipzig).
Rille (Wien) : Ueber die Behandlung des Ekzems
im Kindesalter.
Redner schildert in grossen Zügen die Behandlung des Kinder¬
ekzems, wie sie sich im Laufe der Zeit ihm selbst als die beste be¬
währt hat. Er unterlässt es, auf die zahllosen sonst noch angegebenen
therapeutischen Methoden einzugehen. Vor Allem stellt er die Prognose
als eine durchwegs gute hin und legt insbesondere das grösste Gewicht
auf Application der bezüglichen Verbände durch den Arzt selbst.
Bezüglich der Streupulver gibt er bei Kindern entschieden den mine¬
ralischen den Vorzug. Von den Salben möchte er besonders die
Hebra’sche Diachylonsalbe hervorheben. Des Weiteren empfiehlt er
Salicylsalben, die Lassa r’sche Zinkpaste besonders in der Modification
von Kaposi, Leberthran. Dem Leberthran, welcher die Schorfe leicht
und gründlich zur Abstossung bringt, fügt er allmälig Theer zu oder
ein ausgezeichnetes Ersatzmittel desselben, den Anthrarobinfirniss. Ein¬
gehende Erörterungen erfahren noch die verschiedenen Localisationen
des Ekzems, so weit dieselben eine besondere Technik bedingen.
T r u m p p (München) sieht eine Hauptursache der Schwerheil¬
barkeit der Kinderekzeme in dem immer wieder neue Reize setzenden
Kratzen und der eigenthiimlichen Milde der Eltern, die Kleinen durch
Fesselung nicht daran zu hindern. Er empfiehlt daher dievonEvers-
1) u s c h (Erlangen) angegebenen Schutzbandagen. Dieselben bestehen
aus verschnürbaren Leinwandstücken, welche eingenäht einige Span¬
streifen enthalten. Dieselben werden um den Ellbogen angelegt und
machen ein Kratzen am Gesicht und am Rumpf unmöglich.
Hoch singer (Wien) unterscheidet das Ekzem nach dem Alter
der Kinder. Bei Säuglingen ist die Prognose eine wesentlich bessere,
als bei älteren Kindern. Nässende Intertrigo behandelt Hochsinger
nicht mit Pulver, sondern mit Ziuköl und Ichthyolphilmogen nach
Schiff. Das seborrhoische Kopfekzem heilt unter Oel und Guttapercha¬
papierbedeckung glatt. Jodoform und Carbol müssen vermieden werden.
Das Ecthyma gangraenosum kann in Folge einer äusseren und inneren
Infection entstehen, es heilt unter Ichthyolwasserverband.
Neu berge r (Nürnberg) hat in vielen Fällen sehr günstige
Resultate von der Darreichung von Arsen gesehen. Er glaubt nicht,
dass man alle Ekzeme ohne innere Medication zu heilen in der
Lage sei.
v. Ranke (München) hat auf der pädiatrischen Klinik eine
sehr einfache Behandlung bisher angewendet, welche stets zum Ziele
durchschnittlich in dem Zeitraum von zwölf Tagen führte. Bleiwasser¬
umschläge und später Lassa r’sche Zinkpaste.
Baginski (Berlin) hält auch eine ganz einfache Behandlung
für durchaus ausreichend und erfolgreich. Ihm hat sich auch Naph¬
thalan gut bewährt. Er würde sich nie entschliessen können, wegen
Ekzem Arsen zu verabreichen.
Sonnenburger (Worms) betont die grosse Schwierigkeit,
welche darin liegt, dass der praktische Arzt gezwungen ist, ambulant
zu behandeln. Die Mütter befolgen eben in den wenigsten Fällen die
Vorschriften des Arztes. Im Krankenhaus ist die Behandlung natürlich
viel leichter.
Unna (Hamburg) empfiehlt den Schwefel als Zinkschwefelpaste
und Zinkichthyolsalbenmull in festem Zinkleimverband. Zum Fixiren
der Arme bedient man sich am besten einfacher Manchetten, welche
um den Ellbogen gelegt werden.
Soltmann (Leipzig) hält die Recidive bei Ekzemen doch für
sehr häufig. Als Princip soll gelten: Trockene Ekzeme behandelt man
feucht, feuchte trocken. Bei Lidekzemen ist Unguent, ophthalmic, an¬
gezeigt. Sehr wichtig ist die Anwendung des Karlsbader Salzes und
der Molken.
#
Section für Dermatologie und Syphilis.
Sitzung den 19. September.
Vorsitzender: Rille (Wien).
I. Unna (Hamburg) : Ueber Tuberculinseifen.
Vortragender berichtet über Versuche, die sehr günstig ausge¬
fallen sind, die subcutanen Tuberculininjectionen bei den äusseren
Formen der Tuberculose durch Einreibung mit einer Tuberculinseife
zu ersetzen, deren Grundlage eine überfettete Kaliseife ist. Die All¬
gemeinwirkung fällt fort, die günstige Localwirkung dagegen entspricht
genau der bekannten schwachen oder starken Reaction nach Tuber-
culininjection. Redner empfiehlt diese einfache und sichere locale Be¬
handlung überall dort, wo die sonstigen Behandlungsweisen unzureichend
sind, also vor Allem gegen den stark fibrösen Lupus mit hässlichen
und entstellenden Narben, bei sehr sensiblen Personen, an den Schleim¬
häuten und Schleimhauteingängen, Mundgegend, Nase und äusserem
Ohr. Auch bei alten sklerotischen, tertiären Syphilisproducten äussert
die Tuberculinseifenbehandlung eine entschieden günstige Wirkung in
Combination mit der sonstigen specifischen Behandlung, in Fällen, wo
diese nicht ausreicht. Eine schädliche locale oder allgemeine Wirkung
trat auch bei ausgedehnter, monatelanger Behandlung mit Tuberculin¬
seifen niemals hervor.
S c h u hmache r (Aachen) fragt an, ob die Methode schmerz¬
haft sei.
Unna (Hamburg): Durchaus nicht. Er betone aber, dass die
Anwendung am besten allmälig geschehe in steigernder Dosis.
II. Unna (Hamburg) : Ueber Impetigo vulgaris und
Impetigo circinata.
Neben der unter den armen Kindern der grossen Städte am
häufigsten vorkommenden Impetigoform, der Impetigo vulgaris, kommt
als zweithäufigste Form in Hamburg eine circinäre vor, welcher der
Vortragende bereits 1894 den Namen Impetigo circinata gab und eine
selbstständige Stellung einräumte. Localisation, acuten Verlauf, Narben-
losigkeit und mangelnden Uebergang in flächenhaft sich ausbreitendes
Ekzem haben beide Formen gemeinsam. Die Impetigo circinata zeichnet
sich vor der Impetigo vulgaris hauptsächlich aus durch die Einheit¬
lichkeit, oberflächliche Lage der Blasen, Armuth an serösem Exsudat,
schwache Tendenz des letzteren zur Gerinnung, schuppige Natur der
secundären Producte, periphere Ausbreitung unter centraler, rascher
Abheilung bis zu Handtellergrösse, mehr sporadisches Vorkommen,
häufiges Befallensein von Erwachsenen, häufige Localisation am Rumpf.
Ihr liegt eine andere obwohl ähnliche Coccenart zu Grunde, mit welcher
Unna auf sieh selbst die Krankheit erzeugen konnte. Die histologi¬
schen Differenzen beider Impetigoformen wurden an mikroskopischen
Präparaten demonstrirt.
III. Matzen auer (Wien): Ueber Impetigo conta¬
giosa circinata.
T. Fox wird von allen späteren Autoren als Derjenige genannt,
welcher zuerst die Impetigo contagiosa als ein selbstständiges klinisches
Krankheitsbild erkannte und schilderte, so dass die meisten Autoren
von einer Impetigo contagiosa T. Fox sprechon, Fox hat allerdings
der Affection den noch heute üblichen Namen gegeben, und es bleibt
sein ungeschmälertes Verdienst, die selbstständige Stellung desselben
richtig gewürdigt und wiederholt nachdrücklich hervorgehoben zu haben.
Doch ist Fox weder der Erste, welcher sie von anderen vesicopustu-
24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 1
lösen Hautausschlägen ausschied, noch der Erste, welcher sie beschrieb.
Er selbst erwähnt, dass sie als Porrigo contagiosa oder nach Startin
als Porrigo Startinii, wohl auch als Impetigo scrophulosa oder conta¬
giosa bekannt sei. Und ein späterer Beschreiber, Th. Tuckey, gibt
an, dass „es unter der Landbevölkerung ein weitverbreiteter Glaube
sei, dass die sogenaunten „dirty poek“ durch Impfung übertragen
werden können.“
Ein Jahr vor Fox hat R. W. Dünn eine Beschreibung dieser
Porrigo gegeben, und fast zehn Jahre früher hat Hutchinson
( A new fungus observed in the crusts of Porrigo. Tr. of path. soc.
London. 1855) wegen der Contagiosität der in den Spitälern wohlbe¬
kannten Affection sich veranlasst gesehen, mikroskopische Untersuchungen
über den ursächlichen Erreger des Contagiums anzustellen.
Eine von allen späteren Autoren unbeachtete und zugleich viel¬
leicht die älteste Mittheilung, die umsomehr Interesse bietet, als sie
in classischer Weise das epidemische Auftreten dieser Krankheit
schildert, rührt von Friedrich G o 1 1 h e 1 f Friese her, dem
Uebersetzer des W i 1 1 a n’schen Lehrbuches (1816), der eine ausge¬
dehnte Epidemie in Breslau und Paris im Jahre 1801 beschreibt.
Fox, der sich über den Missbrauch des Wortes Porrigo beklagt,
womit in England die verschiedensten Eruptionen, namentlich des
Kopfes, seien sie vesiculös, pustulös oder squamös, bezeichnet wurden,
während für die parasitären Erkrankungen mehr der Name Tinea an¬
gewendet wurde, nahm absichtlich von dem alten Namen Porrigo Ab¬
stand, um durch die neue Bezeichnung Impetigo contagiosa nachdrück¬
licher die Selbstständigkeit dieses Hautausschlages zu charakterisiren.
Leider ging es mit dem Worte Impetigo nicht viel besser, wie mit
Porrigo. Will a n unterschied bekanntlich eine Impetigo sparsa und
Impetigo figurata (und bezeiehnete Fälle mit excessiver, baumrinden¬
artiger Krustenauflagerung als Impetigo scabida).
W i 1 1 a n wollte mit dieser Eintheilung nicht getrennte Krank¬
heitsbilder einander gegenüber stellen, sondern damit nur den klinisch
verschiedenen Aspect bezeichnen, und es erscheint wahrscheinlich, dass
dies zum grossen Theil unserer heutigen Impetigo contagiosa s. vul¬
garis und Impetigo circinata entspricht.
In Frankreich schleppte sich ein ähnlicher Sammelbegriff fort :
„ dartre“.
J. L. A 1 i b e r t beschreibt unter Dartre crustacee flavescente
(Herpes crustaeeus) ein Ekzem und gibt in seiner „Description des
Maladies de la peau“ (Bruxelles 1825) hiezu die Abbildung eines Ge¬
sichtsekzems.
Dayuac (Baron A 1 i b e r Fs Y orlesungen über die Krankheiten
der Haut. 1837) theil t die Dartre crustacee oder Melitagre ein in eine
Melitagra acuta s. flavescens und in eine Melitagra chronica s. nigri¬
cans, d. h. in ein acutes und chronisches Ekzem.
Gaze nave identificirt die Dartre crustacee oder Melitagre
d’Alibert mit Willan’s Impetigo figurata und sagt gleich als Ein¬
leitung hiezu in seinem „Abrege pratique des Maladies de la peau“
(Paris 1838): Biett bezeichnet mit Willan unter dem Namen Im¬
petigo eine nicht contagiöse Erkrankung.
Nach Rave r (Traite theorique et pratique des Maladies de la
peau. Paris 1826) ist gleichfalls Willan’s Impetigo figurata (Voc.:
Cowrap, Kouba, Lepre humide, Running telles) gleichbedeutend mit
Dartre crustacee flavescente Alibert und findet sich meist im Gesicht,
viel seltener an den Extremitäten. Es gibt jedoch hievon eine Be
Schreibung, die auf unsere Impetigo circinata bezogen werden kann :
„Die Gruppen von psydracischen Pusteln und die darauf folgenden
Krusten siud gewöhnlich circulär an Vorderarm und Händen etc.“
Wenngleich also Fälle unserer Impetigo circinata von Willan
u. A. beobachtet und beschrieben worden sind, so wusste man dieselben
doch nicht speciell vom Eczema impetigiosum scharf zu trennen, zu
welchem sie von den späteren Autoren immer wieder zugerechnet
wurden. Zweifellos aber hat Ray er selbst annuläre Formen unserer
Impetigo contagiosa gesehen, die er im „Atlas des Maladies de la
peau“ (Paris 1835) illustrirt und als „Impetigo annulaire (pustular
ringworm)“ bezeichnet. Ich erlaube mir, Abbildungen hievon zu demon-
striren ; sie geben ein anschauliches Bild circinärer Impetigo conta¬
giosa im Gesicht, am äusseren Augenwinkel und an der Schläfe, sowie
am behaarten Theil des Kopfes.
Zweifellos hieher zu rechnen sind auch Fälle, welche von Bate¬
man, Willan. Ray er, Cazenave u. A. als „Herpes circinatus“
Voc., Artikel: Ringworm) bezeichnet wurden. Ilebra hat bekanntlich
den Herpes circinatus der verschiedenen Autoren als eine Erscheinungs¬
form des Erythema multiforme erklärt. Der Herpes circinatus der ver¬
schiedenen Autoren war jedoch kein einheitliches Krankheitsbild. Das
manchmal beigefügte Synonymon „Ringworm“ schon, noch mehr aber
die einzelnen Schilderungen bezeugen dies, ebenso wie die demonstrirten
Abbildungen von R a y e r.
Auch auf unserer Klinik (Hofrath Prof. Neumann in Wien)
wurde ein Fall von fast universell ausgebreiteter Impetigo circinata
als Herpes circinatus im Jahre 1891 bezeichnet.
Ich übergehe hier mit Stillschweigen die gesammte Literatur
nach T. Fox über Impetigo contagiosa; ich möchte daraus nur her¬
vorheben, dass in den Beschreibungen der beobachteten Impetigofälle
von den verschiedenen Autoren wiederholt die eigenthümlicli typische
Art der einzelnen Impetigoflecke, sich zu vergrössern, charakterisirt
wurde. Nach Fox „vergrössert sich jeder Fleck in einer völlig
centrifugalen Manier, bis er in etwa einer Woche die Grösse
eines Shillings erreicht hat; jetzt zeigt er sein charakteristisches Ge¬
präge etc.“ Fox spricht von einem „vollständig ringförmi¬
gen Rand, der das Aussehen von weissgesottenem Leder habe.“
Die Krankheit sei „immer charakterisirt durch die Anwesenheit von
circularen quasi bullösen Efflorescenzen, die sich
centrifugal ausbreiten und durch gelbliche flache Krusten bedeckt
werden etc.“ Kaposi spricht in seiner prägnanten Difterentialdia-
gnostik des Impetigo contagiosa gegenüber Ekzem von „scharfer
Begrenzung in Bogensegmenten, wie wenn viele kleine
Münzen sich gegenseitig theilweise deckten.“ „In einzelnen Fällen
kann es zu rupiaähnlichen Borken von Zweithalergrösse kommen, in¬
dem um ein centrales Börkchen mehrere Borkenringe
concent risch sich gelegt hatten, von denen die periphersten am
meisten recent erscheinen. Ja, es findet sich bisweilen um diese noch
als äusserste Begrenzung ein frischer Blasen ring. Die c i r c i-
nären Bildungen erinnern an Herpes circinatus etc.“
Das Weiterschreiten einzelner Impetigoflecke in Ringform, in
Kreissegmenten oder Bogenlinien gehört demnach zum charakteristischen
typischen Bild der Impetigo contagiosa. Es scheint mithin nicht ge¬
rechtfertigt, hiefür eine eigene selbstständige Impetigo circinata (Unna)
aufzustellen.
Von Fox, Hutchinson, S t e 1 w a g e n, Bahr u. A., ferner
in den Mittheilungen über die „Ergebnisse des Impfgeschäftes im
Deutschen Reich“, sowie in den „Veröffentlichungen des kaiserlichen
Gesundheitsamtes“ wird wiederholt der Uebergang des zumeist nur bei
Kindern epidemisch auftretenden Blasenausschlages auf Erwachsene
mitgetheilt; meist nimmt bei diesen dann der Blasenausschlag circinäre
Formen an. Hutchinson erwähnt: „Obwohl bei jungen Kindern
so ausgesprochen bullös, um die Bezeichnung Pemphigus zu sugge-
riren, war es nicht so, wenn es die Mutter befiel. Bei den letzteren
nahm es mehr die Gestalt von Porrigo oder eines impetiginösen Ek¬
zems an.“
Es kommen also circinäre Formen des Impetigo contagiosa
häufiger bei grösseren Kindern und Erwachsenen zur Beobachtung.
Immer finden sich gleichzeitig auch in der Umgebung oder sonst
irgendwo an einer entfernten Hautpartie isolirte Blasen oder Pusteln,
die vollkommen entsprechen jenen Varicopusteln, wie sie bei der
Impetigo contagiosa der Kinder ohne circinäre Bildungen auftreten.
Diese können (müssen aber nicht, durch centrale Eintrocknung und
peripheres Weiterwachsen zu jenen ring- und scheibenförmigen Herden
sich entwickeln, die geradezu ein hauptsächliches Characteristicum der
Impetigo contagiosa constituiren. Immer rupturiren dann die zarten Im¬
petigobläschen oder Pusteln in der Mitte, trocknen ein, der Blasenrand
ist noch erhalten. Vergrössert sich dieser, so geschieht dies schon in
ringförmiger Weise um die centrale Borke. Unter fortwährendem con-
centrischen Anlagen frischer Krusten und peripherer Ausdehnung der
Blase fällt endlich die mittlere, älteste Krustenlage aus : Die darunter
liegende Haut ist nicht wie beim Ekzem noch längere Zeit roth und
absehuppend, sondern bereits bleibend überhäutet, nicht abschuppend,
aber livide verfärbt, ganz so wie nach abgeheilten Pemphigusblasen.
Die Plaques stehen wie beim Ekzem inmitten einer entzündlich ge-
rötheten und infiltrirten Haut, die allmälig mit miliären Bläschen und
Krüstchen in die gesunde Haut ausklingt, sondern begrenzen sich ab¬
rupt gegen anscheinend völlig normale umgebende Haut. Stossen der¬
artige kreisförmige Plaques aneinander und confluiren, so entstehen
gyrirte oder landkartenartige Figuren, ganz so wie beim Eczema mar¬
ginatum oder Pemphigus circinatus. In extremen Fällen kann die ge¬
sammte Körperoberfläche mit derartigen Figuren bedeckt sein.
Derartige Fälle sind von Elliot, Schamberg und Crocker
beschrieben worden.
Auf unserer Klinik kamen im Verlauf der letzten Jahre wieder¬
holt Fälle von Impetigo contagiosa in circinärer Form zur Beobachtung,
die sich theils durch ihre universelle Ausbreitung über die gesammte
Körperoberfläche, theils durch ihre bestimmte Localisation auf einzelne
lvörpertheile, theils auch durch ihren hartnäckigen Bestand während
vieler Monate auszeichnen. So z. B. jener bereits citirte Fall von
„Herpes circinatus“ bei einem 25jährigen Mädchen, und ein auf Nates,
innere Sehenkelfläche und Gesicht beschränkter Fall bei einem 38jäh-
rigen Arbeiter.
( Fortsetzung folgt.)
"Po/t n r • i Werner,
Voi-lao- vr>n Wilhelm Rratimöller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wipn
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, Jos. Gruber,
M. Gruber, M. Kaposi, Ph. Knoll, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing,
I. Neumann, R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. v. Vogl, J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Grissenbauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VI 1 1/1, Wickenburggasse 13.
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Oio „Wiener klinische
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erscheint jc<ien Donnerstag
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stens zwei Bogen Gross-
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XIXI. Jahrgang.
Wien, 11. Januar 1900.
Hr. 2.
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel: 1. Zur Lehre vom angeborenen Pectoralis-Rippen- I
defect und dem Hochstande der Scapula. Von Docent Dr. Her- [
mann Schlesinger in Wien.
1 . Aus der k. k. I. psychiatrischen Universitätsklinik des Herrn
Prof. v. Wagner in Wien. Polioencephalitis superior acuta und
Delirium alkoholicum als Einleitung einer K o r s a k o w’schen
Psychose ohne Polyneuritis. Von Dr. Emil Raimann, Assistent
der Klinik.
3. Ein Fall von traumatischer periodischer Lähmung. Von Uni-
versitätsdocent Dr. Julius Donath, Ordinarius für Nerven¬
krankheiten am St. Rochus-Spitale in Budapest.
4. Notiz zur Lehre von der infantilen Pseudobulbärparalyse Von
Prof. Dr. M. Bernhardt (Berlin).
II. Referate: I. Suggestion und ihre sociale Bedeutung. Von Prof. W.
v. Bechterew. II. Ueber die Mischzustände des manisch de¬
pressiven Irreseins. Von Dr. Wilhelm Weygand t. HI. Die
Abstinenz der Geisteskranken und ihre Behandlung. Von Dr.
Hermann Pfister. Ref. Elzholz. — I. Entwurf zu einer
genossenschaftlichen Musteranstalt für Unterbringung und Be- |
schäftigung von Nervenkranken. Von A. G o h m a n n. n. Die
Immunisirurig der Familien bei erblichen Krankheiten (Tuberculose,
Lues, Geistesstörungen). Von Dr. Albert Reibmayr.
III. Ueber familiäre Irrenpflege. Von Dr. Konrad Alt.
IV. Ueber Temperenzanstalten und Volksheilstätten für Nerven¬
kranke, die für dieselben in Betracht kommenden Erkrankungen
und deren Behandlungsweise. Von Dr. A. Smith. V. Grundriss
der Psychiatrie für Studirende und Aerzte. Von Dr. Theodor
Kirchhof f. Referent Schloss. — Die Symptomatologie
der Kleinhirnerkrankungen. Von Dr. Arthur Adler, Referent
Dr. v. Czyhlarz. — Die Bedeutung der Uebungen hei Er¬
krankungen des Centralnervensystems. Von Dr. Dimitri G.
Boykinoff. Ref. Herz. — Normale Anatomie des Sehnerven¬
eintrittes. Von A. E 1 s c h n i g. Ref. Prof. Greeff (Berlin). —
Untersuchungen an Taubstummen. Von Dr. A. Schwendt und
Dr. F. Wagner. Ref. Urbantschitsch.
III. Notizen.
IV. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften and Congressberichte
Abon neineii ts-Elnl a<l u ng.
Mit 4. Januar 1900 begann der XIII. Jahrgang der
„AViener klinischen Wochenschrift“
zu erscheinen.
Ich beehre mich, zum
-A., bonne m ent
höflichst einzuladen und um baldgefällige Bestellung zu bitten.
Der' Preis im Inland beträgt bei directer Zusendung ganzjährig K. 20,
halbjährig K. 10; für das Ausland ganzjährig 20 M., halbjährig 10 M. und
Porto.
Wilhelm ISrauiiiüller
k. u. k. Hof- und Universitätsbuchhändler
Wien, VTII/1, Wickenburggasse 13.
Zur Lehre vom angeborenen Pectoralis-Rippen-
defect und dem Hochstande der Scapula.
Von Docent Dr. Hermann Schlesinger in Wien.
Der angeborene Defect des Pectoralis dürfte die häufigste
der congenitalen Muskelanomalien darstellen und scheinen die
relativ spärlichen Mittheilungen über solche Befunde mit dem
Umstande Zusammenhängen, dass diese Fälle oft übersehen
oder nicht veröffentlicht werden. Nichtsdestoweniger sind in
der Literatur mehr als hundert Einzelbeobachtungen nieder¬
gelegt, welche die klinische Erscheinungen und besonders die
begleitenden Körperanomalien darthun. Oft ist der Defect des
Pectoralis die einzige Bildungsanomalie bei sonst wohl gebauten
Individuen. Diese Fälle sekeinen die weitaus häutigeren zu
sein. Unter acht Fällen meiner Beobachtung, welche ich genau
untersucht habe und über welche ich zum Theil genaue Auf¬
zeichnungen besitze, habe ich sechsmal diese reine, uncompli-
cirte Form gesehen.
Sehr häufig ist dann das Fehlen des Pectoralis nicht
vollständig, sondern kommt nur eine Partie des Muskels in
Wegfall. In der grossen Mehrzahl der Beobachtungen fehlt die
sterno eostale Portion des Pectoralis major, während die clavi-
culare wenigstens zum Theile vorhanden ist; in etwa dem
vierten Theile der Fälle fehlt aber auch der Pectoralis minor.
Dann ist das Bild ein charakteristisches. Auf der aflicirten
Seite — es ist in der Regel die rechte — ist eine anschei¬
nende Abflachung des Brustkorbes vorhanden, welche aber
zumeist nicht durch Verschiedenheiten des Thoraxskeletes be¬
gründet ist, sondern durch die verschiedene Dicke des den
Thorax umhüllenden Weichtheilmantels hervorgerufen ist. Die
Haut ist bisweilen auf der Seite des Defectes lettärmer, oft
weniger behaart; manchmal schneidet die Behaarung der ge¬
sunden Seite scharf mit der Mittellinie ab. Auch ist die Be¬
haarung in der Axilla der afficirten Seite wesentlich schwächer
als auf der gesunden Seite. Viel seltener ist die Behaarung
auf der Seite des Defectes abnorm stark, wie in einer Be¬
obachtung Ullmann’s. Schon bei der Betrachtung von vorne
fällt auf, dass der Grenzcontour der Axilla nach vorne zu ein
wesentlich verschiedener auf beiden Seiten ist. Der in norma
26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900,
Nr. 2
abgerundete Contour der vorderen Achselfalte stellt auf der
Seite des fehlenden Muskels eine gerade nach oben innen
aufsteigende Linie dar, welch letztere die Begrenzung für eine
häufig nur häutige Faltenbildung (Flughautbildung) ist. Die
hintere Achselfalte ist fast regelmässig gut ausgebildet, so dass
die seichtere Achselgrube nach rückwärts zu eine erheblich
deutlichere Abgrenzung besitzt, als nach vorne zu. Die Ma-
milla steht fast nie beiderseits in gleicher Höhe, zumeist auf
der Seite des Defectes etwas höher, hie und da auch tiefer,
ist fast stets schlechter entwickelt und auch näher an das
Sternum herangerückt, als an der normalen Seite. An der
vom Pectoralis entblössten Thoraxhälfte sind bei gleichzeitigem
Defecte des kleinen Brustmuskels die Rippencontouren und die
Intercostalräume sehr deutlich sichtbar, ja bei fettarmer Haut
kann man sogar den Verlauf der Intercostalmuskeln durch
das Integument hindurch warnehmen. Die Möglichkeit, die sich
während der einzelnen Respirationsphasen abspielende Ver¬
änderungen in den Intercostalräumen und eventuell auch an
den Intercostalmuskeln beobachten zu können, hat verschiedene
Autoren veranlasst, sich bei Beobachtung solcher Fälle, mit
der Function der Intercostalmuskeln zu beschäftigen (Z i e m s s e n,
Bäu ml er, Kaiser an Sehr otter’s Klinik an einem auch
von mir beobachteten Falle).
Bemerkenswerther Weise fehlt fast regelmässig jedes
Zeichen eines Functionsausfalles im Schultergelenke. Der
Arm kann auf der Seite des Defectes zumeist ge¬
rade so gut bewegt werden, wie der mit vorhandenem
Pectoralis. Dass in solch einem Falle andere Muskeln
vicariirend für den fehlenden eintreten, ist nach den klinischen
Erscheinungen sicher und dürfte vor Allen der Deltoideus zur
Durchführung gewisser, sonst dem Pectoralis zukommenden
Bewegungen herangezogen werden. Nicht immer, wohl aber
doch relativ häufig ist auch der Deltoideus auf der Seite des
Defectes stärker entwickelt; das Gleiche gilt - — - wenn sie vor¬
handen ist — von der Pars clavicularis des Pectoralis, oft
auch vom Cucullaris und den obersten Zacken des Serratus; in
einer meiner Beobachtungen, war der M. sterno-cleido-mastoideus
hypertrophirt. Kalischer erwähnt in seiner sehr fleissigen
und sorgfältig verfassten Arbeit, dass oft bei einseitigem Defecte
die Schulter abnorm stehe, und zwar meist auf der afficirten
Seite etwas höher. Wir wollen auf dieses interessante Ver¬
halten etwas später genauer eingehen, uns aber vorher mit
den häufigsten den Pectoralisdefect begleitenden Veränderungen
am Körper beschäftigen. Auffallend oft fehlen auch andere
Schultergürtelmuskeln, besonders der Serratus anticus major ganz
oder zum Theile. Veränderungen der Integumente hat Ka¬
lischer in 18 (unter etwa 60) Beobachtungen notirt ge¬
funden ; Flughautbildungen zwischen Thorax und Oberarm
oder Schwimmhautbildungen der Finger, oft mit anderen Ver¬
unstaltungen der Finger sind nicht übermässig selten. Zu
wiederholten Malen wurde auf der Seite des Pectoralisdefectes
eine mangelhafte Entwicklung des ganzen Armes beobachtet,
ja noch weit extensivere Störungen, wie Zurückbleiben einer
ganzen Körperhälfte (Berger).
Eine ziemlich seltene Combination ist die mit partiellem
Rippendefect und hiedurch hervorgerufener Bildung einer
Lungenhernie mit gleichzeitiger Verlagerung des Herzens, ein
Vorkommniss, welches K a 1 i s c h e r in vier Fällen der Literatur
verzeichnet findet (ich finde sechs, es sind dies die Fälle von
Pulawski, Seitz. Frickhöffer, Häckel, Volkmann,
Froriep) während nach demselben Autor andere Miss¬
bildungen des knöchernen Thoraxskeletes (Defecte und Anomalien
am Brustbeine, Verschmälerung der Rippen und dürftige Ent¬
wicklung der Intercostalmuskeln, wie in einem im vergan¬
genen Jahre veröffentlichten anatomischen Falle Fallot’s)
häufiger verzeichnet sind. Es dürfte also rund auf 10 Fälle
von Pectoralisdefect einer mit erheblicheren Anomalien des
Thoraxskeletes, auf 15 bis 20 einer mit Lungenhernien und
Verlagerung des Herzens entfallen.
Eine solche recht ungewöhnliche Combination konnte ich
vor Kurzem beobachten. Der Fall bot noch weitere, bisher
nicht eingehend erörterte Beziehungen zum angeborenen
Hochstande der Scapula (»S p r e n g e l’sche Difformität«) dar,
welche seine ausführlichere Mittheilung rechtfertigen dürften.*)
M. W., 22 Jahre alt, Bernsteindrechsler.
Patient hat drei Schwestern und einen Bruder, welche alle ge¬
sund sind. Die Eltern haben ebenfalls keinen solchen Defect darge¬
boten, wie der Kranke, an dem die Missbildung schon in frühester
Kindheit bemerkt wurde.
Status praesens: Der Kranke ist mittelgross, der Knochen¬
bau ziemlich gracil, Musculatur desgleichen, der Panniculus adip.
ziemlich dürftig. Die Arteria radialis ist weich und gerade, sehr enge.
Der Puls in beiden Arterien kaum fühlbar, die Pulswelle niedrig.
Die Arteria brachialis ist auf der linken Seite nicht fühlbar, auf der
rechten Seite schlecht gefüllt. In axilla sind beiderseits die Arteriae
axillares fühlbar, beide sind gleich schlecht gefüllt, auch oberhalb der
Clavikeln die Arterien palpabel. Die Schädelbildung ist eigenthümlich,
der Schädel mächtig aufgetrieben, auch das Gesicht auffallend breit,
leicht asymmetrisch. Die ganze Gesichtsbildung erinnert an die mon¬
golische. Der Abstand des Jochbogens vom Nasenbein ist auf der
rechten Seite ein grösserer, als auf der linken, die Jochbogen springen
beiderseits stark vor, die Augenbrauenbogen sind nur wenig gewölbt,
Die Stirne rechts stärker gewölbt als links, die Lidspalten schlitz¬
förmig, Nase ziemlich breit, die Mundwinkel stehen beiderseits gleich
hoch. Die Ohrmuscheln von normaler Entwicklung, die Pupillen
gleichweit, reagiren auf Lichteinfall prompt, auch auf Accommodation
und Convergenz. Die Bulbusbewegungen nach allen Richtungen frei,
kein Nystagmus. Mund- und Stirnfacialis werden beiderseits gleich
innervirt, Gehör gut. Im Bereich des Trigeminus keine Störung der
tactilen Sensibilität und der Schmerzempfindlichkeit. Die Portio
minor trigem. functionirt sehr gut. Der harte Gaumen auf¬
fallend wenig gewölbt, der Abstand der Zähne von einander
ist ein recht erheblicher. Die Backenzähne auffallend schief nach
aussen zu gestellt. Am weichen Gaumen nichts Besonderes,
beim Intoniren wird das Gaumensegel beiderseits gleich weit
erhoben, Sprache gut, kein Verschlucken, keine Regurgitation
von Getränken durch die Nase. Die Zunge wird gerade vorgestreckt
Zungenbewegungen nach allen Richtungen frei. Laryngoskopischer
Befund normal.
Der Hals massig lang, ziemlich breit, die Schilddrüse erscheint
ein wenig vergrössert. Die Sternocleidomastoidei beiderseits kräftig
entwickelt, die Bewegungen des Kopfes nach allen Richtungen voll¬
kommen gleich. Platysma myoides beiderseits ziemlich stark entwickelt.
Bei der Betrachtung des Thorax fällt auf, dass die linke Seite einge¬
fallen erscheint im Vergleiche zur rechten (cfr. Fig. 1), die Differenz be¬
ginnt schon an der Clavicula. Die linke Clavicula verläuft sehr ge¬
rade und gestreckt im Vergleiche zur rechten, welche eine normale
Entwicklung aufweist; zudem hat sie links einen schrägen, nach
aufwärts gerichteten Verlauf. Das Sternum erscheint in seinen
unteren Abschnitten ein wenig eingesunken, kürzer als in der Norm.
Proc. xiphoid, nicht zu tasten. Auch rückwärts sind grobe Anomalien
vorhanden, die Scapula steht auf der linken Seite etwas höher als
auf der rechten. Der Contour des Halses, der durch den Cucullaris
gebildet wird, präsentirt sich auf der linken Seite ebenfalls schlechter,
der Cucullaris scheint in seinen oberen Antheilen links dürftiger
entwickelt zu sein als auf der rechten Seite. Die Scapula steht
auf der linken Seite viel näher zur Wirbelsäule als auf der rechten.
Auch verläuft die Wirbelsäule nicht ganz gerade, sondern zeigt im
unteren Abschnitte der Brustwirbelsäule eine nach links convexe,
mässige Skoliose. Die Fossa infraspinata erscheint am Ende einge¬
sunken, desgleichen die Fossa supraspinata, dagegen der Abstand der
linken Scapula vom Thorax erheblich geringer als auf der rechten
Seite. Die Behaarung ist auf beiden Seiden different, und zwar ist
auf der linken Brustseite die Behaarung eine dürftigere als auf der
rechten. Auch in der Axilla ist ein solches Verhalten deutlich nach¬
weisbar. Die Haut ist auf beiden Seiten gleich fettreich, der Muse,
deltoid, links stärker entwickelt; der Musculus pectoralis aber fehlt
in seinen costalen Portionen links vollständig. Man sieht bei seitlicher
Erhebung der Arme nur ein Bündel von der ersten Rippe aus zum
Oberarm hinziehen, die Muskelfasern sind parallel gerichtet. Ver¬
änderungen der elektrischen Erregbarkeit der Musculatur fehlen
*) Der Patient wurde von mir in der Gesellschaft der Aerzte in
Wien in der Sitzung vom 3. November 1899 demonstrirt.
Nr. 2
WIENEK KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
27
durchwegs. Es ist in Folge des Defectes des Pectoralis die Achsel¬
höhle nach vorne zu nicht abgeschlossen und ist auch dann, wenn
der Kranke die Arme hängen lässt, eine deutliche Differenz zwischen
beiden Seiten in Bezug auf die Begrenzung der Achselhöhle nach-
Fig\ 1.
weisbar. Der Processus coracoides lässt sich deutlich umgreifen, folg¬
lich fehlt auch der Pectoralis minor. Die Mamilla steht auf der linken
Seite erheblich höher als auf der rechten. Der Abstand vom Sternal-
rand ist auf der linken Seite erheblich geringer, als dies auf der
rechten Seite der Fall ist. Palpirt man, so fühlt man einen Defect,
entsprechend den ersten vier oder fünf Rippen, und zwar — genau
lässt sich dies nicht feststellen — in einer Entfernung von etwa
1 cm vom linken Sternalrand, das obere Ende des Defectes und
etwa 4 cm vom linken Sternalrande das untere Ende desselben. Der
Knochendefect ist an seiner breitesten Stelle Sl/2cm, an seiner schmälsten
etwa 1 cm breit und hat eine annähernd dreieckige Configuration.
Die Basis des Dreieckes verläuft annähernd parallel dem linken
Sternalrande, die Spitze ist demselben zugekehrt. Die Basis liegt
noch innerhalb der Mamillarlinie. Nach aussen von dem Knochen-
defecte ist bei der Palpation eine deutliche Abgrenzung der Knochen
von einander nicht zu tasten und ist noch ein deutliches Einge¬
sunkensein derselben zu constatiren. Beim Husten wölbt sich im Be¬
reiche des ganzen Defectes die Lunge hernienartig vor, und sieht
man auch zwei Nebenhernien als Wülste entsprechend dem Verlaufe
zweier Intercostalräume bis gegen die vordere Axillarlinie zu vor¬
springen. Die Herzdämpfung lässt sich nicht deutlich abgrenzen, man
findet eine Dämpfung neben dem Sternum auf der rechten Seite bis
etwa zur Mitte zwischen rechtem Sternalrand und Mamillarlinie. Nach
links hin lässt sich die Dämpfung nicht deutlich abgrenzen, ist aber
am unteren Sternalende noch deutlich vorhanden. Der Lungenschall
ist auf der linken Seite etwas voller als auf der rechten, sonst normal.
Der untere Lungenrand auf der linken Seite deutlich verschieblich.
Im Schultergelenk ist eine Bewegungsbeschränkung nach oben, vorne
und der Seite nicht zu constatiren, desgleichen auch nicht nach
rückwärts. Die Hebung beider Schultern erfolgt gleich kräftig. Keine
Aenderung in der Musculatur des Oberarmes, des Vorderarmes und
der Hände. Keine Schwimmhautbildung an den Händen. Die Herz¬
töne rein. Vereinzelte Rasselgeräusche, besonders über der rechten
Lunge; nirgends ausgesprochene Dämpfung.
Im Röntgen-Bild, angefertigt von Dr. Kienböck (cfr. Fig.2),istder
Defect deutlich zu sehen. Die zweite Rippe ist links mit der ersten
in knöcherne Verbindung getreten, die dritte fehlt anscheinend voll¬
ständig, die vierte endet frei in einiger Entfernung vom Sternum
und erst die fünfte tritt wieder mit letzterem in Verbindung. Die
Intercostalräume sind aber von da an auf der linken Seite auffallend
schmal im Vergleiche zur rechten, während sie bis zur fünften
Rippe auffallend breit sind. Bei wiederholten Untersuchungen wurde
constatirt, dass die dritte Rippe denn doch, wenn auch nur rudi¬
mentär vorhanden ist. Sie endet frei in der Axillarlinie.
Der Herzschatten ist stark nach rechts verlagert, jedoch kann
man deutlich erkennen, dass die Herzspitze gegen das Zwerchfell zu
und nicht nach rechts sieht. Der Herzschatten von annähernd nor¬
maler Grösse. Auch der Schatten der grossen Gefässe liegt weiter
nach rechts als in der Norm. Auf der rechten Seite (auf der Photo¬
graphie) stellenweise dunklere Stellen (tuberculöse Infiltrationen der
Lunge). Der Zwerchfellsstand ist auf beiden Seiten etwas different.
Die radiographische Untersuchung erklärt uns hier einige
Veränderungen, deren Deutung sonst ziemlich schwer geworden
wäre. So vorerst die Lageanomalie des Herzens. Wenn auch
Fig\ 2.
Schematische Darstellung der Röntgen-Photographie. Letztere wurde in der Sitzung
der Gesellschaft der Aerzte am 3. November 1899 demonstrirt.
28
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 2
die Herzdämpfung weit naeli rechts reichte und im ersten
Momente an eine echte Dextrocardie denken Hess, musste den¬
noch diese Annahme bald aufgegeben werden. Wir wissen ja,
dass die echte Dextrocardie ohne Transposition der Bauchein¬
geweide zu den grössten Seltenheiten gehört. Es ist allerdings
eine grosse Zahl von Fällen beschrieben worden, in welchen
eine Rechtslagerung des Herzens bestand; in diesen Fällen war
aber fast nie das in der rechten Thoraxhälfte gelegene Herz
das Spiegelbild des normalen Herzens, d. h. war die Herz¬
spitze fast nie nach rechts, sondern beinahe immer nach links
gerichtet. Schrotte r, welcher auf diese Verhältnisse mit allem
Nachdrucke aufmerksam machte, fand bei kritischer Durch¬
sicht der Literatur nur drei Beobachtungen, welche dieser
Forderung entsprachen und discutirte späterhin (nachdem er
schon früher eine Beobachtung mitgetheilt hatte), einen vierten
Fall, bei welchem auf Grund eingehender klinischer Erwä¬
gungen die Diagnose auf angeborene Dextrocardie gestellt
werden konnte.
Graanboom, welcher sich der Anschauung anschloss,
dass nur echte Umlagerung des Herzens in der rechten Thorax¬
hälfte als Dextrocardie zu betrachten sei, brachte einen weiteren
Fall von Pope (mit Obductionsbefund).
Allerdings kann auch in solchen genau untersuchten
Fällen, wie v. Schrott er bemerkt, erst die Nekroskopie
Gewissheit von dem Vorhandensein einer echten Dextrocardie
verschaffen. Dieser Ausspruch datirt von der Zeit vor Ent¬
deckung der Radiographie und dieser werthvolle Untersuchungs¬
behelf scheint nun auch in vita die sichere Diagnose zu er¬
möglichen. Vehs em ei er hat einen solchen auf radiographi¬
schem Wege sicher diagnosticirten Fall mitgetheilt. In unserem
Falle nun können wir nach dem Ergebnisse der radiographi¬
schen Untersuchungen mit aller Bestimmtheit erklären, dass
trotz anscheinender Rechtslagerung keine eigentliche Dextro
cardie besteht. Die Herzspitze ist gegen das Zwerchfell zu ge¬
richtet, wir werden demzufolge die Lageveränderung des
Herzens am ehesten als Medianstellung bezeichnen können.
Interessant ist das enge Caliber der Arterien an
den oberen Extremitäten. Es ist diese Arterienanomalie den
anderweitigen bei dem Kranken beobachteten Entwicklungs¬
anomalien anzureihen.
Auch in Bezug auf den Rippendefect haben wir durch
die Radiographie schätzenswerthe Aufschlüsse erhalten. Der
Defect sieht grösser aus, da die Rippen in der Höhe des De-
fectes weiter auseinandergewichen sind; dadurch werden sämmt-
liche tiefer gelegene Intercostalräume verschmälert. Die erste
und zweite Rippe sind knöchern miteinander verschmolzen und
besitzen einen gemeinschaftlichen Ansatz an das Sternum;
durch diese Anomalie reicht der Defect weiter nach oben. Die
dritte Rippe fehlt anscheinend vollkommen (ist aber doch rudi¬
mentär vorhanden), die vierte endet blind in einiger Ent¬
fernung vom Sternalrande. Durch das Auseinanderweichen der
Rippen ist es zur Bildung von Nebenlungenhernien gekommen,
welche bei Hustenstössen als flache, der Richtung der Rippen
parallel gestellte Wülste hervortreten. Die Zwerchfellskuppe
ist entgegen den normalen Verhältnissen auf der rechten
Seite mehr abgeflacht, als auf der linken.
Das Athmungsgeräusch ist auch an der Stelle der Lungen¬
hernien normal.
Bei der Beschreibung des Falles wurde erwähnt, dass
die Scapula auf der Seite des Defectes höher stehe, als auf
der anderen Seite. Dieser Hochstand ist nicht selten, wie er¬
wähnt, auch in anderen Fällen von Pectoralisdefect beobachtet
worden. So habe ich ihn selbst auch in einem anderen Falle
von congenitalem Defect des Pectoralis major gesehen, ist er
von Kalischer an einem seiner Fälle beobachtet worden,
von Pulawski in seinem Falle beschrieben. Kali scher
hebt ausdrücklich hervor, dass dies Vorkommniss kein seltenes
sei, ohne aber weiter auf dasselbe einzugehen. Preu gibt an,
dass in seinem Falle die rechte Schulter etwa um 1 */2 cm
höher stand, als die linke.
Sprengel hat nun vor nicht allzulanger Zeit auf eine
eigenthümliche angeborene Stellungsanomalie der Scapula auf¬
merksam gemacht. Die Scapula steht auf einer Seite wesent¬
lich höher als auf der anderen, und mitunter ein wenig gedreht,
so dass Sprengel von einer Schrägstellung der Scapula
spricht. Pitsch stellte vor Kurzem die bis dahin bekannt
gewordenen Beobachtungen zusammen und hebt hervor, dass
bei denselben oft Skoliose der Wirbelsäule bestehe, nicht selten
auch ein Näherrücken der höher stehenden Scapula an die
Wirbelsäule stattfindet (P i s c h i n g e r, Perman, Sprengel,
Till mann) und die Clavikel auf die Seite der Deformität
schräg nach aufwärts ziehe. Die Verschiebung der Scapula
nach oben zu erfolgt häufiger auf der linken Seite und ist oft
von einem knochenharten Tumor in der Fossa supraclavicularis
begleitet, welcher von K ö 1 1 i k e r bei einer Operation als ver¬
längerter oberer Schulterblattrand erkannt wurde. Pischinger
machte auf gewisse Muskelabnormitäten aufmerksam, welche
schon von früheren Beobachtern notirt worden waren (Ver¬
dickung und Verkürzung der Mm. cucullares, levatores scapulae,
rhomboidei, schwächere Entwicklung des M. cucullaris und der
ganzen linken oberen Extremität in seinem Falle).
Wir haben nun in unserem Falle neben einer gering¬
fügigen Hypoplasie der Scapula noch eine deutlich erkennbare
Verschiebung derselben nach oben zu nebst geringen Ver¬
änderungen im M. cucullaris derselben Seite; da congenitale
Rippendefecte vorhanden sind, der Pectoralisdefect ebenfalls
congenital ist, kann kaum bezweifelt werden, dass auch der
Hochstand der Scapula angeboren ist und nicht erst im extra¬
uterinen Leben erworben wurde. Wir haben an früherer Stelle
erwähnt, dass der Hochstand der Scapula bei Pectoralisdefect
kein besonders seltenes Vorkommniss sei, und müssen uns nun
fragen, ob diese den Pectoralisdefect begleitende Stellungsano¬
malie der Scapula ohne Weiteres der S p r e n g e l’schen Diffor-
mität zuzurechnen sei. In der Literatur dieser letzteren Affection
ist bisher von Muskeldefecten nicht die Rede und wäre dies
ein wichtiges Moment, welches die vollständige Identificirung
der verschiedenen Formen des angeborenen Hochstandes der
Scapula verbieten würde; wohl aber sind Muskelveränderungen
gleicher Art (Verkürzung, Hypertrophie, Hypoplasie) bei beiden
Anomalien an denselben Muskelgruppen zur Beobachtung gelangt.
Es ist aber auch in Fällen mit S p r en g e l’scher Difformität
noch die eine oder andere Bildungsanomalie am Körper beob¬
achtet worden, gerade so wie in den Fällen von Scapulahoch¬
stand mit Pectoralisdefect (z. B. Defecte anderer Knochen,
rudimentäre Entwicklung eines Fingers, Anomalien der
Brustwarze, des Integuments in einem von mir beobachteten
Falle etc.), so dass doch wieder die Form der Bildungs¬
anomalien und die begleitenden anderweitigen Körperverände¬
rungen darauf hinweisen, dass eine principielle Trennung der
zwei Formen nicht begründet ist. Was nun den Hochstand selbst
an belangt, stimmt er im Wesentlichen mit Ausnahme des
früher erwähnten Umstandes mit der S p r e n g e l’schen Diffor¬
mität überein (einfache Verschiebung nach oben zu); College
Reiner hat mich aber noch auf ein Verhalten aufmerksam
gemacht, welches wohl in anderen Fällen mit Pectoralisdefect
und Scapulahochstand nachzuprüfen sein wird. In unserem
Falle war die Annäherung der Scapula an die Wirbelsäule
ungemein ' stark im Vergleiche zur Verschiebung nach oben
zu, besonders wenn man das gewöhnliche Verhalten der Fälle
mit Spren ge l’scher Difformität in Betracht zieht. Ob dies
von Reiner gefundene Zeichen ein principielles Unterschei¬
dungsmerkmal zwischen beiden Formen abgeben dürfte, ist
vorläufig noch nicht discutirbar.
In der Fossa supraclavicularis ist bei der Sprenge 1-
schen Difformität häufig (auch in einem Falle meiner Beob¬
achtung), jedoch nicht immer constant, ein Knochenwulst
gefunden worden; das Fehlen desselben spricht bei der Incon-
stanz des Befundes nicht gegen diese Anomalie. In Bezug auf
die erkrankte Seite wäre endlich zu bemerken, dass die
Sprengel’sche Difformität auffallend oft die linke, der Pec¬
toralisdefect besonders oft die rechte Seite befällt.
Wir hätten also mit Rücksicht auf die vielen übereinstimmen¬
den Punkte den angeborenen Hochstand der Scapula bei Pectoralis-
und Rippendefecten den anderen Formen der angeborenen Ver
Schiebung des Schulterblattes nach oben anzureihen und wenn
man nach M i 1 o zwischen der musculären Form mit primärer
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
29
Verkürzung und Contractur der cervico-dorso-scapularen Muskeln
und den ohne Functionsstörung und Muskelveränderung ein-
hergelienden unterscheidet (eine Unterscheidung, deren Be¬
rechtigung noch nicht erwiesen ist), noch eine weitere
Form hinzuzufügen, bei welcher Defecte in der Schulter-
gürtelmusculatur eine prädominirende Rolle im Krank¬
heitsbilde spielen. Ob, wie verschiedene Autoren (Kalischer,
Preu) meinten, dieses durch das ständige Ueberwiegen der
das Schulterblatt hebenden Muskeln, respective Fehlen der
Herabzieher allein bedingt ist, möchte ich dahingestellt lassen,
da der Hochstand sich sonst wohl in jedem Falle von Pecto-
ralisdefect vorfinden müsste, was durchaus nicht der Fall ist.
Die eben mitgetheilte Beobachtung betrifft einen Fall
von zweifellos congenitalem Pectoralisdefect. Ich habe
eine grössere Zahl von solchen Fällen (aber ohne Missbildung
des Thoraxskeletes) gesehen, deren ausführliche Mittheilung
wegen der grossen Uebereinstimmung der Beobachtungen unter¬
einander und mit jener der Literatur wohl nicht von wesent¬
lichem Interesse wäre. Einen dieser Fälle habe ich vor fünf
Jahren im Wiener medicinischen Club demonstrirt (Sitzung vom
9. Mai 1894)? ein anderer, bereits von Kaiser beschriebener
Fi g
. 3.
ist auf Abbildung 3 wiedergegeben. (Die Abbildung war aus
Versehen in der Arbeit Kaiser’s [Festschrift für Professor
v. Sehr ötter. Zeitschrift für klinische Medicin. Bd. XXXII,
Supplement] ausgeblieben.)
Einen uncomplicirten, nur mit eigenartigen Hautver¬
änderungen einhergehenden Fall will ich später mittheilen.
Was die absolute Häufigkeit der Defecte anbelangt, so
variiren die Zahlen ausserordentlich. Einige Autoren nehmen
an, dass schon auf wenige Tausend von Menschen einer
mit Pectoralisdefect komme, andere meinen, dass die Affec¬
tion viel seltener sei. Ich habe an der III. medicinischen
Universitätsklinik (Prof. Sehr ötter) bei einem Kranken¬
materiale von rund 54.000 Patienten fünf Fälle von con¬
genitalem Pectoralisdefect gesehen, also circa einen auf
11.000 Kranke. Diese Ziffern dürften nicht als Maximal¬
zahlen gelten, eher der congenitale Pectoralisdefect etwas
häufiger Vorkommen.
Der oben erwähnte Fall war folgender:
Karl A., 48 Jahre alt, Maschinenmeister aus Wien.
Ziemlich kräftiges, gut entwickeltes Individuum. Der Gross¬
vater des Patienten war, seine älteste Tochter ist linkshändig.
Keine abnormen Bildungen oder Defecte bei Familienmitgliedern. A.
weiss nichts von der Existenz der Anomalien, die wir sogleich be¬
schreiben wollen und wurde erst durch meine Fragen auf dieselbe
aufmerksam gemacht. Es besteht eine auffallende Differenz in Bezug
auf die Entwicklung beider Thoraxhälften, ebenso auch hinsichtlich
ihrer Behaarung. Auf der linken Seite ist sowohl in axilla als auch
um die Mamilla herum reichliche Behaarung bis gegen die Mittellinie
zu vorhanden, auf der rechten aber nur dicht neben der Mittellinie
und in der nächsten Umgebung der Mamilla, während in der Achsel¬
grube die Behaarung vollkommen fehlt. Die Mamma ist nicht so pro¬
minent als auf der anderen Seite, erscheint mehr eingesunken und
steht der Mitte des Sternums um 1 '/2cm näher als auf der anderen
Seite. Die ganze linke Thoraxhälfte ist wie vorgetrieben, die
rechte wie abgeflacht. Die Haut ist auf beiden Seiten gleich fettreich,
die Achselhöhle auf der rechten Seite seichter, ihr vorderer Contour
fehlt. Von der ganzen musculären Bedeckung der vorderen Thorax¬
wandung ist rechts nur ein kleines Muskelbündel vorhanden, welches
von der Clavicula zum Oberarm in der Richtung von innen oben
nach aussen unten ausstrahlt. Vom rechten Pectoralis major fehlt die
sternale und costale Portion vollkommen; ebenso der ganze Pectoralis
minor. Patient ist Rechtshänder. Bei Bewegungen ist eine Differenz
zwischen beiden Seiten nicht wahrzunehmen. Auf der Streckseite
des rechten Oberarmes in dessen unteren Hälfte befindet sich ein
isolirter Bündel langer Haare. Die beiden Mm. slernocleidomastoidei
sind gut entwickelt, der rechte etwas stärker als der linke. Die Inter-
costalmusculatur ist bei der Athmung nicht deutlich sichtbar. Die
beiden Thoraxhälften werden bei der Athmung gleich gehoben. Das
Zwerchfell tritt beim Inspirium beiderseits deutlich nach abwärts.
Es besteht Strabismus convergens.
An beiden unteren Extremitäten sind Naevi vasculosi von ganz
enormer Ausdehnung vorhanden, und zwar nehmen dieselben die
Haut des ganzen Unterschenkels und den grössten Theil der Haut
des Oberschenkels ein.
Die interne Untersuchung ergab normale Verhältnisse, ebenso
die elektrische. -
Eine auffallende Veränderung des Thoraxskeletes konnte
bei radioskopischer Untersuchung nicht gefunden werden.
Eingehende klinische und anatomische Untersuchung
wurde mir in einem Falle ermöglicht, in welchem die Frage
discutirt werden musste, ob der Defect angeboren sei. Der
Kranke wurde von mir seinerzeit auf der Klinik Prof. v.
Schrotte Fs untersucht und freundlichst vom Vorstande zur
Veröffentlichung überlassen; den histologischen Befund konnte
ich in dem Laboratorium Prof. Ob e r s t e i n e r’s erheben.
Die Beobachtung lautet in möglichster Kürze:
Stefan R., 64 Jahre alt, Taglöhner aus Leinbaum. Anamnese
vom 16. Mai 1896. Beide Eltern starben an dem Patienten unbekannten
Krankheiten im hohen Alter, ein Bruder mit 67 Jahren. Patient weiss
nicht anzugeben, ob bei einem der Familienmitglieder Missbildungen
bestanden hätten.
Bis vor 16 Jahren war R. vollkommen gesund, vor acht Jahren
erkrankte er an einer linksseitigen Lungenentzündung von kurzem
Bestände, vor drei Jahren an einer linksseitigen Rippenfellentzündung,
war erst nach 16 Wochen wieder arbeitsfähig und fühlte sich noch
lange Zeit hindurch schwach und matt. Um diese Zeit bemerkte
Patient eine Differenz zwischen beiden Thoraxhälften, aber keine
Aenderung in der Gebrauchsfähigkeit oder Kraft beider oberer Ex¬
tremitäten. Patient ist Rechtshänder von jeher. In den letzten Monaten
heftiger Husten. Potus und Lues negirt.
Aus dem Status hebe ich nur Nachfolgendes hervor: Grosser,
kräftig gebauter Mann, von gutem Ernährungszustände. Erhebliche
Arteriosklerose ohne nennenswerthen Füllungsunterschied der Arteriae
radiales und brachiales beiderseits. Erscheinungen, welche auf eine
Myodegeneratio cordis schliessen Hessen, Dämpfung auf der linken
Seite entsprechend den hinteren unteren Lungenpartien, daselbst ab¬
geschwächtes Athmen, Bronchitis, mässige Stauungserscheinungen.
DieHirnnerven vollkommen frei, speciell keineErscheinungen von
Seite der Augenmuskeln oder des Fundus. Das Kopfskelet zeigt keine
Anomalie. Der Hals ist ziemlich lang. Der Thorax massig lang und breit,
gut gewölbt. Auf der linken Seite bemerkt man besonders entsprechend
den inneren und oberen Thoraxpartien eine erhebliche Abflachung.
Die Behaarung, welche auf der rechten Brustseite und in der rechten
Axilla sehr mächtig ist, schneidet in der Mittellinie plötzlich ab und
fehlt links fast vollkommen, die linke Mamilla steht etwas tiefer und
30
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 2
Fig. 4.
näher zum Thorax wie die rechte. Die Haut ist beiderseits gleich
dick. Der Bogen der die Grenze der Achselhöhle nach unten und
vorne zu bildet ist rechts normal, links begrenzt sich die Achselhöhle
nach vorne mit einer nach innen oben aufsteigenden Linie. Bei Ab¬
duction der Arme contrahirt sich der rechte Pectoralis recht kräftig
und zwar in allen drei Portionen, der linke aber nur in seiner cla-
vicularen Portion, während von der sternalen und costalen nichts
wahrzunehmen ist. Der Processus coracoides ist links frei zu umgreifen.
Während rechts die Intercostalräume nicht sichtbar sind, kann man
sie auf der linken deutlich erkennen, allerdings nicht den Faserver¬
lauf der Intercostalmuskeln wahrnehmen. Die Scapula steht links viel¬
leicht ein wenig tiefer als rechts, die Fossa supra- und infraspinata er¬
scheint ein wenig eingesunken. Die elektrische Untersuchung ergibt
in allen Muskeln normales Verhalten; sie zeigt ebenfalls, dass der
grösste Theil des Pectoralis major und der Pectoralis minor fehlt.
Die Athmung ist mit beiden Thoraxhälften gleich kräftig. Ein Funtions-
ausfall im Bereiche der Schultermusculatur besteht nicht. Keine ander¬
weitigen Muskelanomalien oder sonstige Veränderungen.
Unter den Erscheinungen der Ilerzinsufficienz trat am 1. De¬
cember 1896 Exitus ein. Professor Weichselbaum nahm die
Autopsie vor und überliess mir in liebenswürdigster Weise die Medulla
spinalis und einzelne Muskelstücke zur histologischen Untersuchung.
Ich erlaube mir, hiefür meinen verbindlichsten Dank auszusprechen.
Die Obductionsdiagnose lautet: Abgesacktes, obsolescirendes, pleu-
ritisches Exsudat linkerseits mit Compressionsatelektase des linken
unteren Lungenlappens, excentrische Hypertrophie des rechten Herz¬
ventrikels, parenchymatöse Degeneration des Myocards, hämorrhagi¬
sche Infarcte der rechten Lunge mit frischer Pleuritis, chronische
Endarteriitis der Aorta, Stauungsleber, Stauungsmilz, Stauungsniere,
venöse Hyperämie des Magens und Darmes, Agenesie des linken
Musculus pectoralis minor und der Sternalportion des linken Musculus
pectoralis major.
Aus dem Obductionsprotokolle heben wir Folgendes hervor:
» . Der Thorax an den oberen Partien enge, gegen die Hypo¬
chondrien zu sich allmälig erweiternd, die Knorpel der dritten, vierten
und fünften Rippe links stark vorspringend, die Fossa infraclavicularis
sinistra auffallend tlach. Vom linken M. pectoralis major fehlt die
ganze Sternal- und Sternoclavicularportion, so dass nur die Clavi-
cularportion vorhanden ist, welche aber nicht mächtiger ist, als die
entsprechende Portion des rechten M. pectoralis major. Ferner fehlt
der linke M. pectoralis minor vollständig. An der übrigen (sorgfältig
präparirten) Thoraxmusculatur keine Abnormitäten wahrnehmbar,
nur ist am M. pectoralis major der rechten Seite zwischen seiner
Sternal- und Sternoclavicularportion ein l’/2 Querfinger breites
Interstitium, welches nach aussen hin sich allmälig verschmälert;
dieses Interstitium entspricht dem Knorpel der zweiten Rippe . «
Die Intercostalmusculatur war normal entwickelt, nirgends
auffallend stark oder auffallend schwach ausgebildet.
Beifolgende Abbildung (Fig. 4), welche ich der Liebenswürdig¬
keit des Collegen H. Weiss verdanke, veranschaulicht die ana¬
tomischen Verhältnisse.
Während in der grossen Mehrzahl der Fälle die Pa¬
tienten von ihrem Defecte überhaupt nichts wissen, bevor sie
nicht von ärztlicher Seite darauf aufmerksam gemacht werden,
gab Patient an, die Abflachung der Brusthälfte nach einer
Pleuritis wahrgenommen zu haben. Der Kranke brachte
den Defect in einen ätiologischen Zusammenhang mit
derselben , die Obduction zeigte auch wirklich , dass
Schwielenbildung an der Pleura vorlag und zwar auf der
Seite des Defectes, während die Pleura der anderen Seite eine
derartige Veränderung nicht zeigte. Sprach der anatomische
Befund auf der Seite des Defectes für die Möglichkeit eines
causalen Zusammenhanges des letzteren mit einer äusserst
schweren Pleuritis und Entzündung des subpleuralen Gewebes,
so fand sich aber auf der anderen Seite auch im Pectoralis
eine bedeutungsvolle Anomalie. Die drei Portionen waren voll¬
kommen durch weite Spatien getrennt.
In Folge der Anamnese und des vorliegenden anatomi¬
schen Befundes ist die von Erb, D am sch, Bernhardt,
Fürstner, Kann, A. Schmidt und Anderen bei ähnlichen
Fällen ventilirte Frage neuerlich zu discutiren, ob hier eine
Aplasie des Nervenmuskelapparates oder eine in einem frühen
Stadium stehen gebliebene Dystrophie vorliege.
Die von mir im Laboratorium Prof. Obersteiner
vorgenommene histologische Untersuchung der Mm. pectorales
ergab einen vollständig normalen Befund. Um sicher zu gehen,
habe ich eine grössere Zahl von Controlpräparaten durch¬
mustert und ^eim Vergleiche mit den von dem pathologischen
Falle stammenden Präparate keine Abweichung von der Norm
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
31
gefunden, insbesondere keine erheblichen Grössenunterschiede
der Muskelfasern oder abnorme Dünnheit derselben, keine wesent¬
liche Kernvermehrung oder Zunahme des interstitiellen Gewebes.
Ein derartiges Verhalten würde nicht für eine in einem frühen
Stadium stehen gebliebene Dystrophie sprechen. Aber auch
spinalen Ursprunges dürfte der Muskeldefect nicht sein. Auf
der Seite des Defectes fehlt im Halsmarke durch drei Seg¬
mente (fünftes, sechstes und siebentes Cervicalsegment) die
medial gelegene Ganglienzellengruppe, wie dies Serienschnitte
zeigten; der Befund kann jedoch nur mit äusserster Vorsicht
verwerthet werden, da diese Ganglienzellengruppe de norma
sehr schwach entwickelt ist, auch auf der anderen Seite des
Halsmarkes in unserem Falle sehr dürftig war und die bis¬
herigen Erfahrungen nicht gerade zur Anschauung drängen,
dass diese Ganglienzellen direct mit der Musculatur in
Verbindung stünden. Anderweitige Ganglienzellen- und Vorder¬
hornveränderungen (Veränderungen der Form und des Faser¬
netzes) überhaupt fehlen aber in unserem Falle vollkommen,
so dass eine spinale, früh stationär gewordene Muskelatrophie
nicht wahrscheinlich ist.
Vielleicht ist der Befund in der Weise zu deuten, dass
eine angeborene Schwäche der Pectorales bestand, welche ihren
klinischen Ausdruck in der Dreitheilung des rechten Muse,
pectoralis major fand. Eine schwere Pleuritis mit Affection des
tiefer liegenden Gewebes rief entweder durch directes Ueber-
greifen des Entzündungsprocesses oder auf reflectorischem
Wege completen Schwund der sternalen Portion des Pectoralis
hervor. Es wäre dies ein Vorgang, welcher — soweit ich die
Literatur übersehen kann — bei Beurtheilung eines erworbenen
Pectoralisdefectes bisher nicht in Betracht gekommen ist. Die
Möglichkeit wäre aber nicht auszuschliessen (ja sie ist plau¬
sibler), dass hier nur eine zufällige Coincidenz einer Pleuritis mit
einem Muskeldefecte auf derselben Seite besteht, da ein
Functionsausfall nicht vorhanden war, wie man dies wohl bei
angeborenen, aber wohl nur selten bei spät erworbenen De-
fecten sieht.
Zum Schlüsse noch einige Bemerkungen über die An¬
nahmen, welche vorliegen, um die Entstehung der eigentlichen
Defectbildung zu erklären. Die oft citirte Hypothese, dass der
Defect intrauterin durch Andrücken des Armes an die Brust
oder durch Druck eines Uterusmyoms auf den Thorax ent¬
stehe, ist nicht bewiesen, auch nicht wahrscheinlich. Wie
leicht aber eine solche Hypothese in vollkommen unbegrün¬
deter Weise proclamirt wird, geht aus der Publication von
Seitz hervor, in der auf diese Möglichkeit recurrirt wird,
ohne dass Verfasser irgend ein Beweismoment für seine An¬
nahme ins Feld führt.
Ansprechender ist schon die Hypothese Ahlfeld’s,
welcher annimmt, dass Verwachsungen des Amnions Defect-
bildungen hervorrufen; aber auch für diese Erklärungsweise
fehlt ein ausreichendes Beweismaterial und werden manche
den Pectoralisdefect häufig begleitende Veränderungen innerer
Organe nicht genügend erklärt.
Ich meine, dass es nicht nothwendig ist, auf solche
Möglichkeiten zu recurriren, sondern eine viel einfachere Er¬
klärung möglich ist, auf welche schon mehrfach hingewiesen
wurde.
Die Ursache der Defectbildung ist wahrscheinlich in
einem Stehenbleiben der Entwicklung bestimmter Theile des
Körpers in Folge fehlender Wachsthumsenergie zu suchen. Ist
die normale Ausbildung eines Körpertheiles nicht erfolgt, so
mag die Anlage für denselben vollkommen gefehlt haben oder
ist nur angedeutet gewesen, ohne weiter zur Entwicklung zu
gelangen, weil letztere schon in frühen Stadien sistirte.
Die mangelhafte Anlage, respective das Ausbleiben einer Fort¬
entwicklung kann bald primär den Muskel (oder Knochen)
betreffen, bald primär das Nervensystem. In diesen Fällen
sind degenerative Vorgänge weder im Muskel noch im Nerven
nachweisbar. Ich denke also bei der Entstehung des Pectoralis¬
defectes an intrauterine, aber nicht ausserhalb der Frucht
gelegenen Einflüsse, sondern an Störungen, die in letzterer
selbst gelegen sind und darin bestehen, dass einzelne Theile
des Nervenmuskelapparates und anderer Organsysteme eine
mangelnde Fähigkeit aufweisen, sich weiterhin ausbilden. Es
ist also nicht Entwicklungshemmung, sondern Fehlen des
Wachsthumstriebes das Wahrscheinlichere. Diese Auffassung
schliesst sich der von K u n n und später von Schmidt
vertretenen an. Da degenerative Vorgänge anscheinend sowohl
im Centralnervensystem, als auch an den Muskeln vollkommen
fehlen, einzelne Muskelabschnitte vollkommen entwickelt sind
und andere in innigster Beziehung zu ihnen stehende nicht,
die peripheren Nerven normal sind, während von ihnen zu
versorgenden Muskeln vollkommen fehlen, dürfte mangelhafte
Wachsthumsenergie in gewissen Abschnitten des Nerven¬
muskelapparates als Ursache für den angeborenen Mangel des
Pectoralis angenommen werden.
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schrift für orthopädische Chirurgie. Bd. VI.
Aus der k. k. I. psychiatrischen Universitätsklinik des
Herrn Prof. v. Wagner in Wien.
Polioencephalitis superior acuta und Delirium
alkoholicum als Einleitung einer Korsakow’schen
Psychose ohne Polyneuritis.
Von Dr. Emil Raimann, Assistent der Klinik.
Demonstration im Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien, am
12. December 1899.
Im Jahre 1887 hat zum ersten Male nachdrücklich
S. Korsakow1) auf besondere, bei Polyneuritis sich findende
32
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 2
Formen des Irreseins aufmerksam gemacht. Eine derselben,
charakterisirt durch rasche geistige Ermüdbarkeit, durch Un¬
fähigkeit zur Auffassung und Verarbeitung äusserer Eindrücke,
durch schwere Gedächtnisstörung, sowie Erinnerungsfälschungen
trägt seither den Namen der Korsako w’schen oder poly-
neuritischen Psychose und bietet wirklich ein ganz eigen¬
artiges Bild.
Wir haben Kranke vor uns, deren Bewusstsein an¬
scheinend klar, deren Verhalten correct ist; Patienten, die oft
eine ziemliche Intelligenz aufweisen, auf alle Fragen formell
richtig antworten, die ihrem Bildungsgrade entsprechend
rechnen, tadellose Schriftstücke verfassen können: dennoch
besteht bei diesen Kranken eine schwere Störung des Ge¬
dächtnisses. Dasselbe versagt bezüglich der letzten Vergangen¬
heit, Eindrücke der Gegenwart bleiben nicht oder nur zum
kleinsten Theile haften. Hieraus resultirt zunächst eine örtliche
und hauptsächlich eine schwere zeitliche Orientirungsstürung.
Der sonst ganz besonnene Patient vergisst immer wieder, wo
er sich befindet; er weiss nicht mehr, wie lange er schon an
seinem gegenwärtigen Aufenthaltsorte weih; er kennt kein
Datum, ja nicht einmal die Tageszeit. Es kann dem Kranken
gänzlich entfallen sein, dass er soeben erst etwas gethan, z. B.
eine Mahlzeit zu sich genommen, dass er etwas gesehen oder
gehört hat. Insoferne die Wahrnehmungen des Patienten nicht
mehr als Erinnerungsbilder deponirt werden, bilden sich, wenn
man so sagen darf, Lücken im Bewusstseinsinhalt und diese
werden nun in den meisten Fällen ausgefüllt durch eine per¬
verse Thätigkeit der Psyche: es treten sogenannte Pseudo-
reminiscenzen auf, die dem Krankheitsbilde erst sein beson¬
deres Gepräge verleihen. Das, was dem Patienten an geistigem
Besitze, an latenten Vorstellungen zur Verfügung steht,
stammt von den Sinneseindrücken früherer gesunder Tage.
Der Kranke hat Manches persönlich erlebt, er hat vieles
Andere gelesen, erfahren, eventuell im Traume combinirt. Aus
diesem geistigen Material holt nun der Patient Bruchstücke
hervor, die sich aus dem Gefüge ihrer associativen Ver¬
knüpfungen lösen. Wir bekommen dann Dinge zu hören, die in
Wirklichkeit entweder gar nicht, oder ganz anders sich zugetragen
haben. Bringt der Kranke aus dem Schatze seines Gedächtnisses
Abenteuer vor, die nie in seinem Leben sich ereigneten;
scheint uns das, was der Patient producirt, jedes thatsächlichen
Untergrundes zu entbehren, wie eine freie Erfindung, dann
sprechen wir von Erinnerungstäuschungen oder Hallucinationen
der Erinnerung. Berichtet der Kranke aber Geschehnisse, die
wirklich stattgefunden haben, nur in anderer Verknüpfung,
färbt und verändert er die Wiedergabe realer Vorkommnisse,
so sprechen wir von Erinnerungsfälschungen, von Illusionen
der Erinnerung. Sowie zwischen Hallucinationen und Illusionen
der Sinne keine scharfe Grenze möglich ist, so gehen auch
die damit in Parallele gezogenen Formen von Störungen des
Gedächtnisses in einander über. Gemeinsam ist den Er¬
innerungtäuschungen, wie den Erinnerungsfälschungen, dass
wieder auftauchende Gedächtnissbilder, losgerissen von den
wirklichen Beziehungen zu ihren Nachbarvorstellungen, in das
leere Bewusstseinsfeld hinein versetzt werden. Ist die Gedächtniss-
störung hochgradig, so verwickelt sich der Kranke in die
unlösbarsten Widersprüche, vielleicht ohne derselben recht
gewahr zu werden, da er seine Pseudo-Reproductionen, die ja
Kinder das Augenblicks darstellen, die sich vielfach durch
Fragen provociren und beeinflussen lassen, im nächsten Momente
wieder vergessen hat. Dieses hier kurz skizzirte, durchaus
charakteristische Symptomenbild schwebt meist über einem
leicht euphorischen Stimmungshintergrunde; die Patienten
scherzen sich über das Versagen ihres Gedächtnisses, wenn
sie darauf aufmerksam werden, ohne Weiteres hinweg; sie
leben sorglos in den Tag hinein, der keine Spuren in ihrem
Bewusstsein hinterlässt.
Ueber das Wesen dieses Krankheitsprocesses hat sich schon
Korsako w seine bestimmten Vorstellungen gebildet. Er
führte denselben auf eine toxische Schädigung des Gehirns zu¬
rück. er machte sogar ganz detaillirte Angaben über die in
Betracht kommenden Gifte und fasste den Erscheinungs-
complex unter der treffenden, wenn auch ein wenig lang-
athmigen Bezeichnung »Cerebropathia psychica toxaemica«
zusammen; Cerebropathia deshalb, weil neben der psychischen
Störung fast stets auch andere Symptome einer Hirnaffection
auftreten, wie Schwindel, Erbrechen, zuweilen Nystagmus,
Sprachstörung, Pupillendifferenz u. dgl.
Zwischen dieser Cerebropathia psychica toxaemica und
der fast immer gleichzeitig vorhandenen Polyneuritis sollte
natürlich ein innerer, organischer Zusammenhang bestehen in
dem Sinne, dass dieselbe Schädlichkeit, welche die peripheren
Nerven zur Erkrankung bringt, auch im Centralorgan ihre
Wirksamkeit entfalte. Da ist es nun bemerkenswert!], wie die
beiden Componenten des vollständigen Krankheitsbildes, unab¬
hängig von einander, und ohne dass wir einen bestimmten
Grund dafür anzugeben wüssten, ganz verschiedene Intensitäts¬
grade aufzuweisen vermögen. Sind auch in den typischen
Fällen von K o r s a k ow’schem Syndrom Polyneuritis und
Psychose gleich deutlich ausgesprochen, so kann auf der einen
Seite die Polyneuritis für sich allein, und als Gegensatz dazu
die charakteristische Geistesstörung ganz isolirt in Erscheinung
treten; zwischen diesen beiden Extremen finden sich dann alle
denkbaren Uebergangsformen. Während nun das vollständige
Bild der Korsako w’schen Krankheit heute nicht gerade zu den
Seltenheiten zählt, und in alljährlichen Publicationen immer neue
Fälle berichtet werden, bestehen bemerkenswerthe Verhältnisse be¬
züglich der Häufigkeit, in der die einzelnen Componenten isolirt
auftreten. Was zunächst die Polyneuritis ohne Psychose betrifft,
so müssen wir die Fälle je nach der Aetiologie scharf ausein¬
anderhalten. Recht gewöhnlich verläuft die überaus häufige Poly¬
neuritis n i c h t-alkoholischen Ursprunges ohne geistige Störung;
relativ selten aber gibt es bei Alkoholikern eine multiple
Neuritis ohne psychotische Erscheinungen. Auf der anderen
Seite scheint das Korsakowsche Syndrom ohne gleichzeitig
bestehende Polyneuritis gar nur vereinzelt zur Beobachtung
gekommen zu sein. Wir sehen dabei natürlich von jenen Fällen
ab, wo man nur äusserlich, formell ähnliche psychische Störungen
bei anderen Krankheitszuständen, so nach Schädeltraumen,
bei Hysterie, progressiver Paralyse, seniler Demenz beschrieben
hat. Im Folgenden werde ich mir erlauben, über einen Casus
von isolirt für sich bestehender, echter Korsako w’scher
Psychose zu berichten. Hier hat eine Schädlichkeit eingewirkt
— Alkohol, der die Geistesstörung sowohl, wie auch Poly¬
neuritis verursachen konnte, wo aber nur die Psychose klinisch
nachweisbar geworden ist. Unser Patient darf ein gewisses
Interesse für sich vielleicht auch insoferne beanspruchen, als
das Korsako w’sche Syndrom aus einem typischen Delirium
alkoholicum heraus sich entwickelte; hauptsächlich aber mag
die Mittheilung der Krankengeschichte dadurch gerechtfertigt
sein, dass im Beginne des Leidens schwere somatische
Störungen Vorlagen, die zum Theile schon von Korsakow
als Complicationen seines Symptomenbildes gestreift wurden,
die aber in unserem Falle, für sich gefasst, die anatomische
Diagnose einer Polioencephalitis superior acuta nahelegten: Es
handelt sich also um eine ganz eigenartige Combination von
krankhaften Erscheinungen, und ich konnte in der ganzen mir
zugänglichen Literatur zwar eine oder die andere ähnliche
Beobachtung, aber keinen einzigen völlig gleichen Fall aus¬
findig machen.
Unsere Krankengeschichte enthält im Wesentlichen Fol¬
gendes:
F. R, 37 Jahre alt, verheiratet, Etuimachermeister, wird am
3. Juli 1899 um 7 Uhr Abends an die Klinik gebracht.
Der Vater des Patienten war Arthritiker; sonst liegt keine
erbliche Belastung vor. Patient selbst, nie criminell, be¬
findet sich jetzt zum ersten Male in irrenärztlicher Behandlung.
Ausser einem juckenden, ohne Behandlung rasch vorübergegangenen
llautausschlage, sowie einer Gonorrhoe war Patient nie krank; spe-
ciell findet sich für Lues kein Anhaltspunkt. Vor zwölf und vor
acht Jahren hatte je ein Schädeltrauma stattgefunden, doch ohne
Bewusstlosigkeit und ohne sonstige unmittelbare Folgeerscheinungen.
Im Alter von 20 Jahren begann Patient geistige Getränke zu sich
zu nehmen; er consumirte durchschnittlich pro Tag 1 J/2 / Wein;
! seit vier Jahren trinkt er auch Schnaps, täglich für circa 30 h Rum,
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. RtUO.
33
manch mal auch mehr, natürlich nur wegen Unannehmlichkeiten im
Geschäfte. Patient ist seit elf Jahren verheiratet. Zu Beginn der
Ehe abortirte die Frau zweimal, dann brachte sie noch zehn
Kinder zur Welt, von denen sechs in frühester Kindheit starben;
von den lebenden hatten zwei die Fraisen, zwei Kinder sind
nervös«. Seit einem Jahre klagt Patient über heftige Kopfschmerzen,
vorwiegend im Hinterkopfe localisirt; seit zwei Monaten besteht
Vomitus matutinus, sowie stark gestörter Schlaf; Schwindel soll nie
aufgetreten sein. Im Herbst 1897 bekam Patient einen heftigen,
angeblich über eine Stunde währenden, als epileptischen beschriebenen
Anfall, der von Schielen, von linksseitiger Lähmung und Sprachverlust
gefolgt war. Diese Erscheinungen gingen indessen schnell zurück.
Je ein ähnlicher Anfall wiederholte sich vor zwei Monaten, sowie
am Tage seiner Einbringung in die Anstalt. Irgendwelche intellectuelle
Abschwächung wurde an dem Patienten nicht bemerkt; seinem
Berufe ging er bis unmittelbar vor seiner jetzigen Erkrankung nach.
Dieselbe setzte acut mit dem schon erwähnten epileptiformen An¬
falle ein; der Umgehung fiel das Schielen des Patienten auf; und
das gleichzeitig ausbrechende Delirium gab die Veranlassung zu
seiner Internirung.
3. Juli, Abends. Patient ist örtlich und zeitlich desorientirt,
glaubt sich in seiner Werkstatt und will arbeiten. Nebstbei zeigt
er grosse Angst, sucht und greift herum, behauptet Katzen, Hunde
und Spinnen zu sehen. Patient ist wegen hochgradiger motorischer
Unruhe nicht zu untersuchen. Puls von guter Qualität; Temperatur
36'8; Gewicht 54%.
4. Juli. Patient verbrachte die Nacht vollkommen schlaflos
in lebhaften Beschäfligungsdelirien. Tagsüber dauert die motorische
Unruhe fort, ebenso das Beschäftigungsdelir. Patient verkennt
seine Umgebung; er ist örtlich, sowie zeitlich nicht orientirt.
Der rechte Bulbus scheint in Mittelstellung fest-
zustehe n, wird nicht beweg t, so weit sich dies bei dem
deliranten Zustande des Kranken constatiren lässt.
5. Juli. Nachts vollkommen schlaflos; Patient arbeitet im
Schweisse seines Angesichtes und führt die Bewegungen eines Etui¬
machers aus. Heute Früh ist auf der rechten Seite nur mehr
eine A h d u c e ns 1 ä h in u n g festzustellen; dieselbe besteht auch
linkerseits. Mittags wird Patient ruhig, beginnt zu schlafen.
Abends: Patient klar, gibt formell correcle Antworten, ist örtlich
orientirt. Er weiss, dass er in der Irrenanstalt sich befindet, be¬
hauptet aber, dieselbe auf Anrathen eines Arztes aufge-
suchf zu haben. Er gibt sein Alter fälschlich mit 32 Jahren, sein
Geburtsjahr aber richtig (1862) an. Auf die Frage, welches Jahr
wir jetzt haben, behauptet er 1897, auf Vorhalt räumt er die
Möglichkeit von 1898 ein; er leugnet aber entschieden, dass es
1899 sein könne. Er glaubt, wir hätten jetzt den Monat März;
er gibt schliesslich den Juni zu, wehrt sich aber dagegen,
dass es Juli sein könne. Schliesslich präcisirt er das heutige Datum
als den 17. Juni. Der Patient erinnert sich gut seiner Kinderjahre,
erzählt, dass er fünf Volksschul classen besuchte, ja er kann die
vier Namen seiner damaligen Lehrer nennen. Die Abducenslähmung,
das Doppeltsehen bestehe erst seit einigen Tagen. Rechenproben:
7X8 = 5(5; 18 -f- 22 = 60, corrigirt sofort 30; 12X1-2 = 64,
84 endlich 96. Keine Sprachstörung.
Status somaticus: Patient ist klein, von kräftigem
Knochenbau, sehr schlecht genährt, von blasser, fahler Hautfarbe.
In der linken Ellenbeuge findet sich eine kleine Tätowirung: F. B.
Patient oxycephal, zeigt eine Andeutung von Hinterhaupt¬
stufe. Sein Schädelumfang beträgt 530 mm-, der Dm. fronlo-occip.
182 mm: der Dm. bitemp. 147?«?». Ueber dem rechten Scheitel¬
bein sitzt eine kleine, nicht druckempfindliche, verschiebliche
Hautnarbe.
Beide Hornhäute stehen nahe dem inneren Augenwinkel;
beide Muse, recti ex tern i sind g e 1 ä h m t. Bei dem Versuche
einer Seitwärtsbewegung der Bulbi tritt lebhafter Nystagmus
auf. Die übrigen Augenbewegungen scheinen frei; es besteht keine
Ptosis. Die Pupillen sind wegen Atropinisirung nicht zu prüfen.
Rechts ist die Sehschärfe etwas herabgesetzt. Der ophthalmoskopi¬
sche Befund lautet: Rechte Papille deutlich blässer, die linke
normal.
Der Gaumen des Patienten ist breit, mit Andeutung von
Torus; die Zähne sind defect; die Zunge belegt, stark zitternd, wird
gerade vorgestreckt.
Der Thorax erscheint flach, lieber beiden Lungen sind
spärliche Rhonchi zu hören. Der erste Herzton klingt etwas unrein.
Der Puls des Patienten ist langsam, regelmässig und von guter
Qualität.
Das etwas aufgetriebene Abdomen ist nicht druckschmerzhaft,
lässt nichts Pathologisches auffinden.
Die allgemeine Sensibilität erweist sich überall als intact, eher
eine Spur gesteigert. Die grobe motorische Kraft entspricht der
Musculalur des Patienten. Neben starken Tremores und Ungeschick¬
lichkeit der oberen besteht Ataxie der unteren Extremitäten. Pa¬
tient kann sich kaum auf den Füssen halten, er taumelt und
schwankt schon mit offenen Augen, droht nach hinten zu fallen,
ist völlig ausser Stande, rückwärts zu gehen. Die Nerven-
s t ä m m e, sowie die Muskeln sind n i r g e n d s d r u c k e m p f i n d-
lieh; spontane Schmerzen werden ebenfalls nicht angegeben; es
bestehen keine Parästhesien. Haut- und Sehnenreflexe sind vor¬
handen; die Patellarsehnenreflexe sogar 1 e b ha f t, mit An¬
deutung von Klon us, sind beiderseits gleich.
Temperatur normal, keine Oedeme.
Harn: hochgestellt, leicht getrübt; speeifisches Gewicht 1025;
von saurer Reaction; enthält Spuren von Eiweiss, reichlich
Aceton.
6. Juli, Nachts. Patient delirirt wiederum lebhaft, ver¬
fertigt Etuis.
Tagsüber ist der Kranke desorientirt; er glaubt sich in
Mödling bei seinem früheren Herrn, er verkennt die Personen
seiner Umgebung, lässt sich nicht corrigiren. Auf die Frage, wo er
gestern war, antwortet er: »Nirgends«. Spontan klagt er über
Schmerzen im Hinterkopfe, auch besteht Klopfempfindlichkeit
der Schädelknochen.
7. Juli Nachts hat Patient geschlafen; er beginnt sich zu
klären.
8. Juli. Patient ist wohl örtlich, aber nicht zeitlich orientirt.
Im Harne sind keine pathologischen Bestandtheile mehr nachzu¬
weisen.
9. Juli. Auf eine Frage erzählt Patient bei der Morgenvisite,
dass er gestern zu Hause gewesen wäre bei seiner Mutter; ebenso
heute Vormittags (!). Er habe sie nicht angetroffen und sei darum
wieder umgekehrt. Der Patient erscheint örtlich orientirt, zeitlich
gar nicht. Er meint, es sei jetzt Mai 1889 oder 1898.
10. Juli. Patient hat vollkommen vergessen, was er dem
Arzte gestern erzählte. Erst auf wiederholten Vorhalt beginnt er
eine ähnliche Erzählung, die er mit neuen Details ausschmückt.
Er zeigt die Thüre, durch welche er die Abtheilung verlassen zu
haben meint und behauptet, er sei sofort am Gürtel gewesen, dann
zu Fuss weiter gegangen. Um das Datum befragt, erwidert er:
Mai 1898. — Man sieht einen leichten Intentionstremor der Lippen
beim Sprechen. Die beiderseitige Abducenslähmung besteht unver¬
ändert fort. Die rechte Pupille ist stecknadelkopf¬
gross, enger als die linke, reagirt weder auf Belichtung, noch
auf Accommodation und Convergenz. Das R o m her g’sclie Symptom
ist nur mehr angedeutet.
11. Juli. Patient producirt massenhaft confuse Erinnerungs¬
fälschungen, bei denen er sich in zahlreiche grobe Widersprüche
verwickelt, ohne derselben gewahr zu werden. Er sei auch
gestern ausserhalb der Anstalt gewesen, habe draussen geschlafen;
seine Frau sei hier gewesen (unwahr!). Ueber die anwesenden
Personen scheint Patient ungefähr im Klaren, wenn er auch keinen
einzigen Namen nennen kann. Zeitlich ist er immer noch völlig
desorientirt. Er erzählt dann weiter, dass er heute Vormittags im
Allgemeinen Krankenhause spazieren war und dass er von seiner
Schwester begleitet wurde. — - Die Patellarsehnenreflexe sind noch
immer gesteigert, beiderseits gleich. Es lassen sich keine Sensibilitäts-
störungen auffinden; weder Nervenstämme noch Muskeln sind auf
Druck schmerzhaft.
14. Juli. Die Parese der Muse, recti externi ist in allmäligem
Rückgänge begriffen. Doppelbilder sind nur bei besonderer Versuchs¬
anordnung zu erzielen. Der Patient lebt noch immer auf Kriegslüss
mit der Zeitrechnung; er ist sehr vergesslich, weiss nicht, dass und
was er Mittags gegessen hat.
18. Juli. Die A bducensläh in u n g ist f a st voll¬
ständig zu rück gegangen; bei Seitwärtswendung des Auges
tritt aber lebhafter Nystagmus horizonfalis auf. Die Ataxie
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 11:00
Nr. 2
34
erscheint wesentlich gebessert, nur mehr angedeutet. Das Hom-
berg'sche Symptom ist verschwunden. Die rechte Pupille,
immer enger als die linke, reagirt auf Belichtung kaum wahr¬
nehmbar, besser auf Accommodation und Convergenz.
Patient producirt fortgesetzt Erinnerungsfälschungen trivialen
Inhaltes, die in ihren Details stark wechseln und sich vielfach
widersprechen. Er ist zeitlich noch immer völlig desorientirt.
20. Juli. Patient erholt sich körperlich zusehends, verlässt
das Bett.
1. August. Gewicht 63 kg.
5. August. Der Patel larsehnenreflex ist andauernd lebhaft;
Nervenstämme und Muskeln sind gegen Druck nicht empfindlich.
Der starke Nystagmus bei Seitwärtsbewegung des Auges besteht
fori, auch die Pupillenstörungen sind unverändert.
9. August. Der Patient erscheint seit einigen Tagen psychisch
gebessert; er versucht sich zeitlich zu orientiren; er kennt einzelne
Wärter mit Namen. Der Kranke beginnt auch die früheren Erin-
nerungsläuschungen zu corrigiren, soweit sie seine angeblichen Be¬
suche bei Mutter und Schwester betreffen. Er sagt: »Ich denke,
dass ich das geträumt habe.« Allerdings ist er in seinen Angaben
noch schwankend. Er gibt beiläufig ein richtiges Datum für seine
Internirung an: aber er ist sich noch nicht klar über die Veran¬
lassung zu derselben. An den Inhalt der Delirien, mit denen seine
Krankheit einsetzte, erinnert er sich absolut nicht. - Die rechte
Pupille reagirt auf Belichtung spurweise, die linke ausgiebig.
25. August. Die früher vom Patienten producirten Erinnerungs-
läuschungen treten vollkommen zurück. Er erweist sich als ört¬
lich und zeitlich orientirt. Er corrigirt ganz bestimmt seine Angabe,
dass er Angehörige besucht habe. Hingegen fällt eine Gedächtniss-
schwäche für Namen auf. So weiss er den Namen seines jetzigen
Tract Wärters nicht anzugeben; er muss sich lange besinnen auf den
Namen des früheren, den er doch durch sechs Wochen täglich
hörte-; auch die Namen der Aerzte sind ihm nicht geläufig. Neu-
ritische Erscheinungen lassen sich nicht auffinden.
1 . September. Patient zeigt Krankheitseinsicht und vermag schon
Angaben über seinDelirium zu machen. Am 2. Juli will er »Viecher« ge¬
sehen haben, und zwar Schildkröten, Eidechsen, Schlangen; er habe
darum Alles alarmirt. Angeblich wisse er auch von seinem Trans¬
port in die Irrenanstalt; doch erinnert er sich nicht, dass er hier
im Gitterbette lag: auch von seinem Beschäftigungsdelirium hat er
keinerlei Erinnerung zurückbehalten. Der Patient kommt dann
wieder ins Confabuliren hinein, indem er erzählt, dass er in einem
offenen Bette gelegen sei; dass er nach zwei Tagen schon spaziren
ging, da er glaubt, nur zwei Tage krank gewesen zu sein. Ebenso
ist es eine Erinnerungsfälschung, wenn er behauptet, immer Krank¬
beilsbewusstsein gehabt zu haben. Er erklärt viele seiner Angaben
als durch Träume veranlasst; es habe ihm des Nachts geträumt,
dass er zu seinen Leuten hina'usging.
Gewicht 63'5ä*7.
19. September. Patient ist leidlich orientirt; er weiss, dass er
am 3. Juli in die Anstalt kam; hingegen hat er noch keine Er¬
innerung an seine Thätigkeit im Delirium.
1. October. Gewicht 63 7 h<j.
(S. October. Bei der heutigen ausführlichen Untersuchung er¬
scheint Patient zeitlich und örtlich orientirt, vollständig klar. Die
Intelligenzprüfung ergibt keine wesentlichen Defecte; er multiplicirt
im kleinen Einmaleins vollständig prompt, auch mit grösseren
Zahlen: 11 X 1*2 = 132: dabei unterlaufene Fehler corrigirt er
sofort: schriftliche Multiplicationen führt er ohne langes Besinnen
und ohne den geringsten Fehler aus; er addirt ebenso prompt
(27 -}- 28 = f>5); er weiss die Nummern der Bezirke Wiens auch
der neueren neun, sofort anzugeben; er registrirt ganz richtig
die empfangenen Besuche seitens seiner Schwester, sowie seiner
Frau; er erinnert sich auch, früher falsche Angaben über Besuche
und Ausgänge aus der Anstalt gemach I zu haben. Patient weiss
hiel'ür keine Erklärung und nimmt an, dass ihm derlei geträumt
habe. I ober seine Umgebung ist er vollständig orientirt; er weiss
die Namen der Wartepersonen, einzelner Mitpatienten; immerhin
fällt es auf, dass er sich auf manchen Namen erst besinnen muss;
er selbst ist sich dessen auch bewusst. Patient hat Krankheitseinsicht;
er hat eine auffällig gute Erinnerung für die seinerzeitigen Thier-
hallucinationen, wohl in Folge der wiederholten Besprechungen. An
-eine Beschäftigungsdelirien erinnert er sich gar nicht, doch weiss
er, dass der Arzt ihm davon Mittheilung gemacht hat. Einsicht
für das Krankhafte seiner Erinnerungsläuschungen habe er vor circa
acht Tagen gewonnen, um welche Zeit er sich mit seiner Frau
diesbezüglich auseinandergesetzt habe. Patient gibt ferner an, dass
er schon seit frühester Kindheit, besonders nach Anstrengung der
Augen, und dann immer nur für kurze Zeit doppelt gesehen habe:
erst seit er mehr zu trinken anfieng, trat auch diese Erscheinung
stärker hervor. Patient behauptet, jedes Mal nach starkem Trinken
ausgeprägt doppelt gesehen zu haben; angeblich schwand dies
immer, wenn er den Rausch ausgeschlafen hatte. So lange, wie
bei seiner diesmaligen Erkrankung habe das Doppeltsehen nie
angehalten.
Eine neuerliche genaue körperliche Untersuchung des Patienten
ergibt im Wesentlichen Folgendes: Es besteht noch immer ein
starker Nystagmus horizontalis bei Seitwärtswendung der Augen,
sowohl rechts als links; bei extremer Blickrichtung der Augen nach
rechts treten Doppelbilder auf. Das rechte Auge bleibt bei der Be¬
wegung nach rechts etwas zurück, der Hornhautrand erreicht den
äusseren Winkel nicht. Die Pupillen sind ungleich weit, die rechte
kleiner als die linke. Rechts ist die Lichtreaction direct nur spurweise
zu erhalten, etwas deutlicher ist die eonsensuelle Reaction. Die linke
Pupille hingegen reagirt prompt, sowohl direct wie consensuell.
Die accommodative Reaction ist beiderseits prompt, die Sehmerz-
reaction links ausgeprägter wie rechts, wo sie zweifelhaft
bleibt. Die Nervenstämme sind nirgends druckempfindlich. Die
motorische Kraft sämmtlicher Extremitäten entspricht der Ent¬
wicklung der Musculatur; nirgends finden sich Irophisehe oder
vasomotorische Störungen. Die oberflächlichen, sowie die liefen
Reflexe sind sämmtlich etwas gesteigert. Ein Sensibililätsdefect ist
auch bei genauer Prüfung nirgends nachweisbar. Die Pulsfrequenz
beträgt gegenwärtig 90.
1. November. Gewicht: . 64 hg.
15. November. Patient erscheint vollkommen geordnet; er be¬
schäftigt sich auf der Abtheilung; drängt nicht hinaus.
1. December. Gewicht 64‘5 leg.
12. December. Die Pupillen sind beiderseits gleich,
mittelweit, reagiren auf Belichtung; immerhin reagirt die rechte
Pupille auf Lichteinfall träger als synergisch mit Accommodation und
Convergenz. Auch consensuell reagirt die rechte Pupille weniger aus¬
giebig bei Belichtung und Beschattung des linken Auges als die
linke Pupille reagirt. Bei maximal intendirter Seitwärtsbewegung
der Augen erreicht der Gornealrand des rechten Bulbus den
äusseren Augenwinkel nicht. Die dabei auftretenden nystagmischen
Zuckungen steigern sich bald in ihrer Intensität. Die Nervenstämme
sind nirgends druckschmerzhaft. Die Sehnenreflexe erweisen sich
sämmtlich als lebhaft. Im psychischen Verhalten des Patienten ist
keine wesentliche Aenderung mehr zu verzeichnen. Es besieht an¬
dauernd ein leichter Gedächtnissdefect, der namentlich dann mani¬
fest wird, wenn man den Kranken um Namen fragt. Er ist noch
immer ausser Stande, seine Mitpatienten aus dem Gedächtnisse der
Reihe nach aufzuzählen. Heute gelingt es, nach längerer Zeit auch
wieder einmal eine Erinnerungsfälschung nachzuweisen. Abends ge¬
fragt, was er denn zu Mittag gegessen habe, macht Patient eine
unrichtige Angabe.
1. Januar 1900. Gewicht: 6 4 ’5%.
Patient der sich körperlich ausserordentlich erholt hat, ist
auch geistig regsamer geworden. Sein Zustand ist ein derartiger,
dass er über Wunsch der Angehörigen sofort entlassen werden
könnte und gewiss im Stande wäre, den Betrieb seiner Werkstatt
wieder aufzunehmen. Wir dürfen von einer fast völligen Heilung
sprechen.
Wir haben also einen Mann vor uns, der nach jahre¬
langem. schwerem Abusus spirituosorum, gleichzeitig mit dem
Ausbruche eines Delirium alkoholicüm, von localisirten und
allgemeinen somatischen Störungen befallen wird. Es tritt ganz
acut am rechten Auge dieses Mannes eine Ophthalmoplegia
externa et interna ein, deren erstere binnen 24 Stunden bis
auf eine Abducenslähmung sich rückbildet. Letztere bestellt
von Anfang an auch am linken Auge, und diese beiderseitige
Abducensparalyse dauert durch längere Zeit an; sie bessert
sich nur sehr allmälig und ist in ihren Residuen selbst sechs
Monate später an dem Kranken noch nachweisbar. Dass es
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. lfcOO.
35
sich liier um einen nuclearen Sitz der Störung, richtiger aus¬
gedrückt, um die Localisation eines Krankheitsherdes in der
nächsten Umgebung der Augenmuskelkerne handelt, ist wohl
unbezweifelbar und fast schon durch die Art der Ausfalls¬
erscheinungen bewiesen: Es bestand nämlich durch einige Zeit
Miosis bei Lähmung des Sphincter iridis; ebenso konnten wir
anfangs retiectorische Pupillenstarre nachweisen und später
noch constatiren, dass die Pupillenverengerung auf Belichtung
träger und unausgiebiger erfolgte, als bei Accommodations-
anspannung und Cmivergenzstellung der Bulbusachsen. — Diese
Affection des centralen Höhlengraues im Niveau der Augen-
muskelkernc hat nun eingesetzt unter bedrohlichen Allgemein¬
ei scheinungen. Wir erfahren von einem epileptiformen Anfalle,
von heftigen Hinterkopfschmerzen; wir sehen eine schwere
Trübung des Bewusstseins, die allerdings auch auf das Delirium
alkoholicum bezogen werden kann. Sowie es möglich war, den
Patienten körperlich zu untersuchen, fanden wir Klopfempfind¬
lichkeit der Schädelknochen, hochgradige Gleichgewichtsstörung
mit der Neigung, nach rückwärts zu fallen, Steigerung der
Patellarsehnenrefh xe. ln einem gewissen Gegensätze zu den
schweren Allgemeinerscheinungen, die der Patient anfangs
darbot, ist sein Puls stets langsam, regelmässig und von guter
Qualität, die Körpertemperatur nicht erhöht; der Krankheits-
proeess endet in Genesung.
Wie können wir nun die eingangs erwähnte Diagnose
auf Polioencephalitis superior acuta rechtfertigen, da doch das
eben skizzirte Symptomenbild in einigen, anscheinend wesent¬
lichen Zügen von demjenigen abweicht, das Wernicke'2)
seinerzeit aufgestellt hat. Nach diesem Autor sollte die in Rede
stehende Erkrankung binnen 10 — 14 Tagen zum Tode führen.
Die Herdsymptome beständen in nssociirten Augenmuskel¬
lähmungen, die rasch entstehen, fortschreiten und schliesslich
zu einer fast totalen Lähmung der Augenmusculatur führen
sollten; ausgenommen von dieser Lähmung blieben der Sphincter
iridis, der Levator palpebrarum. Der Gang der Kranken werde
taumelnd und zeige eine Combination von Steifheit mit Ataxie;
das Bewusstsein sei dabei in verschiedener Weise gestört.
Ausserdem fanden sich in den drei Fällen W e r n i c k e’s ent¬
zündliche Veränderungen der Sehnervenpapilien. Als .ätio¬
logisches Moment komme vor All m Alkoholismus chronicus,
d. h. wohl die chronische Intoxication in Folge des langjährigen
übermässigen Alkoholgenusses in Betracht.
Dieses von Wernicke aufgestellte Krankheitsbild er¬
füll r nun durch spätere Beobachtungen recht zahlreiche Modi-
ficationen. Ersteus Ihezüglich der Prognose. Die Polioencepha¬
litis superior acuta führt durchaus nicht immer zum Tode; es
findet sich bereits eine, freilich kleine Anzahl geheilter re¬
spective gebesserter Fälle in der Literatur verzeichnet, so je ein
Patient von T homse n:i), Salomonsoh n4), Boedecke r5),
S u c k 1 i n gc), W i e n e r7), Mura wieff8), T o m a s i n i 9),
Linsmeyer10). Ich möchte mir erlauben, in parenthesi zu
bemerken, dass diese Liste gewiss nicht vollständig ist; sie um¬
fasst nur die diagnosticirten, ausgesprochenen Fälle von acuter
Polioencephalitis superior. Wie wir gelegentlich der noch zu
besprechenden Differentialdiagnose unseres Krankheitsbildes
zu berühren Gelegenheit haben werden, können die Symptome
der Polioencephalitis weniger ausgesprochen sein; die Krank¬
heit kann gewissermassen ganz rudimentär auftreten, so dass
sie durch eine die Scene beherrschende Polyneuritis vollkommen
verdeckt wird. Da;s nun gerade solche wenig entwickelte,
leichte, nicht diagnosticirbare Fälle von Po ioencephalitis häutig
zur Heilung kommen mögen, ist a priori recht wahrscheinlich.
Doch kehren wir zu dem Bilde der typischen Polioencephalitis
zurück.
Alle Autoren, die ich eben nannte, sowie andere, welche
über letal ausgehende und durch Obduction verificirte Fälle
berichten (von Aelteren z. B. T homsen1 '), K o j ewniko w l2),
.1 acobäus13) u. A.), wissen von den Variationen im Bilde der in
Rede stehenden Krankheit zu erzählen. Zur Vereinfachung
der Sachlage möchte ich mich, in Beschränkung auf meine
casuistisehe Miltheilung, Boedecke r anschliessen, der unter
allen bis dahin bekannten Fällen von acuter Polioencephalitis
superior die bei Alkoholikern auftretenden heraushebt, als
völlig gleichartig erkennt und zusammenfasst. In den Rahmen
des von diesem Autor umschriebenen Krankheitsbildes passt
nun unser Patient vollkommen hinein, wie die folgende Dar¬
legung beweisen soll.
Wir erfahren zunächst, dass dem Ausbruche der Polio¬
encephalitis superior acuta in der Regel längere Zeit, durch
Wochen, selbst Jahre Prodromalerscheinungen vorausgehen,
am häufigsten Kopfschmerzen — dieselben finden sich auch
in der Anamnese unseres Patienten verzeichnet. Gleichzeitig
mit der Polioencephalitis setzt gewöhnlich ein Delirium vom
Charakter des alkoholischen ein, oder steigert sich ein schon
bestehendes. Es kommt dann im schlimmsten Falle zu einer
Fixirung beider Augäpfel, sonst nur zu Lähmung einiger
Augenmuskeln, die recht verschieden und auf beiden Seiten
ungleich sein kann. Geradezu selten werden die associirten
Augenbewegungen aufgehoben; in den meisten Fällen sind
vorwiegend, wie auch bei unserem Patienten, die beiden Ab-
ducentes betroffen. Ganz besonders charakteristisch sind ferner
die an Nystagmus erinnernden Zuckungen bei dem Versuche,
den Bulbus in einer dem gelähmten Muskel entsprechenden
Richtung zu bewegen. Ebenso regelmässig finden sich auch
Pupillenstörungen in den Fällen der Literatur angeführt, so
Pupilh ndifferenz, retiectorische Starre der Pupillen, Miosis. Die
Patellarreflexe sind lebhaft gesteigert. Von Allgemeiner¬
scheinungen wird die hochgradige Ernährungsstörung hervor¬
gehoben. weiters das Taumeln bei aufrechtemGange. Während des
ganzen Verlaufes der Erkrankung, der nicht nur acut, sondern
auch subacut, ja chronisch sein kann, erhebt sich die Körper¬
temperatur nicht über die Norm; auch Puls und Respiration
bleiben in der Regel von normaler Frequenz. Das Krankheits¬
bild unseres Patienten deckt sich sohin vollkommen mit dem
Typus der bisher bei Alkoholikern beobachteten Fälle, und es
wird die Diagnose »Polioencephalitis superior acuta« wohl
zweifellos berechtigt erscheinen.
Unser Casus schlicsst sich aber noch enger an die eine
Beobachtung B o e d e c k e r’s an: auch dieser Autor sah bei
seinem Kranken aus dem Delirium eine K o r s a k o w’sclie Psy¬
chose sich entwickeln. Vielleicht darf ich darum die Eigenart
der Symp'omengruppirung in unserem Falle betonen, in¬
sofern nämlich unser Patient kein einziges Anzeichen
dafür darbot, dass auch das periphere Nervensystem an dem
Krankheitsprocesse thcilgenommen habe. Es ist das Fehlen
von Polyneuritis, das ich dem Patienten Boedecke r’s gegen¬
über hervorheben will. Während der Kranke dieses Autors,
7. B. über Kreuzschmerzen klagte, hochgradige Schwäche der
Beine aufwies, auch eine auffallende Pulsbeschleunigung zeigte
(Nervus vagus?), haben wir bei unserem Patienten während
der sechsmonatlichen Beobachtung, trotz eigens darauf ge¬
richteter Aufmerksamkeit keinerlei Symptome von Polyneuritis
klinisch nachweisen können, wie die oben mitgetheilte Kranken¬
geschichte wohl zur Genüge belegt. Ein einziger Ein wand
scheint möglich. Vielleicht Hesse sich cm Tlieil der Störun¬
gen in der Bewegung der Augen durch eine Affection der
bezüglichen Nervenstämme erklären; vielleicht hat also eine
Neuritis der beiden Nervi abducentes bestanden? Es wäre
wohl recht gezwungen, einen ausschliesslich auf diese zwei
symmetrischen Nerven beschränkten Entzündungsprocess an¬
zunehmen, während sonst im ganzen übrigen peripheren
Nervensystem und namentlich in den sensiblen Nerven keine
neuritischen Symptome sich finden sollten; wissen wir doch,
dass gerade die Alkoholneuritis die semiblen Nerven durchaus
nicht verschont. Es spricht aber die Grnppirung der Lähmungs¬
erscheinungen ebenso entschieden gegen tine Affection der
peripheren Nerven, als das plötzliche Einsetzen der Störung
für einen centralen Process, z. B. eine Hämorrhagie geltend
gemacht werden kann. Schlietslich möchte ich mich auf
Thomsen11)11) berufen, der in Fällen von typischer Alkohol¬
neuritis in Uebereinstimmung mit anderen Autoren mehr
weniger ausgesprochene Störungen der Augenmuskeln be¬
obachtete, selbst ein- und doppelseitige Abducensparese, Ny¬
stagmus in verschiede nen oder allen Blickrichtungen: der aber
selbst in diesen Fällen von Polyneuritis die Störungen als
centrale auffassen musste, da die Stämme der Augenmuskel-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 2
36
nerven und ihre Wurzelfasern bei der mikroskopischen Unter¬
suchung sich als gesund enviesen. Das sind jene Fälle, aut
die ich oben anspielte, die in allmäligen Uebergängen bis zum
voll ausgesprochenen Krankheitsbilde der Polioencephalitis
führen. Nehmen wir z. B. aus der letztcitirten Arbeit Thom-
s e n’s14) die dritte Beobachtung her. Wir sehen einen Symptomen-
complex, der vom klinischen Standpunkte durch die Diagnose
»Polyneuritis« vollkommen befriedigend zu erklären gewesen,
bei dem man also auch, wenn Heilung eingetreten wäre, nur
Polyneuritis hätte diagnosticiren können, bei dem aber die
anatomische Untersuchung neben der Erkrankung der peri¬
pheren Nerven das Bestehen einer hämorrhagischen Entzündung
des centralen Höhlengraues in der Region der Augenmuskel¬
kerne. also eine Polioencephalitis superior acuta ergab. Nicht
immer indessen liegt diesen Augenmuskelstörungen ein so
klares anatomisches Bild zu Grunde; auch nach dem pathologisch¬
anatomischen Befunde verliert sich das Bild der Polioencephalitis
ohne scharfe Grenzen. Von Fällen, wo sich blos strotzend ge¬
füllte Capillaren finden, gelangen wir zu anderen, wo gar
kein anatomisches Substrat für die intra vitam bestandene
Lähmung zu sehen ist, wo nicht nur die Augenmuskelnerven,
sondern auch die Kernzellen sich als intact erwiesen. Hier
muss man wohl eine functioneile Schädigung der Kernzellen
durch das krankmachende Agens annehmen, wobei es noch
nicht zur Ausbildung sichtbarer, respective durch unsere Färbe¬
methoden nachweisbarer Veränderungen gekommen ist. Diese
Annahme einer Toxin Wirkung, die nicht bis zur Ausbildung
einer hämorrhagischen Entzündung fortschreitet, wird sehr
plausibel durch den Umstand, dass man bekanntlich bei den
Fällen von Wurst-, Fleisch- und Fischvergiftungen häutig
rasch wieder vorübergehende, also offenbar nur functioneile
Störungen der Augenmuskelkerne beobachtet (Cohn, Lebe r,
Guttmann, Scheby-Buch u. A.15). Um nun zu unserem
Falle zurückzukehren, so könnten wir für die flüchtige, inner¬
halb 24 Stunden verschwundene Lähmung der Muskeln des
rechten Auges (den Musculus rectus externus ausgenommen)
wohl auch eine derartige Toxinschä diguug der Kernzellen verant¬
wortlich machen, wenn wir es nicht vorziehen sollten, an die Fern-
wirkung von Hämorrhagien, die in der nächsten Umgebung
der Zellen stattgefunden, zu appelliren. Jedenfalls spricht Alles,
das klinische Bild bei unserem Patienten, sowie die Beobach¬
tungen, die wir in der Literatur niedergelegt linden, nur dafür,
den Sitz der Störung in das Centralorgan zu verlegen; es
spricht Alles gegen die Annahme einer peripheren Neuritis.
Bezüglich des Delirium alkoholicum, das unser Patient
durchmachte, ist den Worten der Krankengeschichte nicht viel
beizufügen. Wenn wir auch erfahren, dass die Polioencephalitis
acuta an und für sich mit gewissen psychischen Symptomen
einhergeht; wenn wir andererseits wissen, dass Alkoholiker auf
die verschiedenartigsten Störungen mit Delirien reagiren; so
war doch das Gesammtbild unseres Falles, sowie das der
meisten ähnlichen Fälle aus der Literatur geradezu beherrscht
durch jenen Symptomencomplex, der das typische Delirium
alkoholicum cliarakterisirt. Das fast immer gleichzeitige Ein¬
setzen von Polioencephalitis und Delirium alkoholicum ist nun
natürlich kein zufälliges Ereigniss. Der chronisch vergiftete
Organismus wartet nur auf eine Gelegenheitsursache, und aus
dem gemeinsamen Boden brechen die ihrem inneren Wesen
nach verwandten Processe hervor. Warum natürlich der im
centralen Höhlengrau localisirte Entzündungsvorgang so selten
zu Stande hommt, die dem Delirium hingegen zu Grunde liegende
dirt use Erkrankung der Hirnrinde so häufig sich findet, darüber
kann es nur Hypothesen geben. Etwas bestimmter dürfen wir
uns aber wohl über die unmittelbare Krankheitsursache äussern.
Auch bei unserem Patienten ist über vorausgehende Magen-
und Darmstörungen berichtet, die Nahrungsaufnahme war über¬
aus mangelhaft geworden. Auf der Grundlage des »Säufer¬
katarrhs« ist es dann zu einer allgemeinen Stoff Wechselstörung
gekommen; wir fanden einen in seiner Ernährung aufs Aeusserste
herabgekommenen Mann vor uns, von fahlem Colorit; wir
sahen im Harne unseres Patienten unmittelbar nach seiner Auf¬
nahme als Indicatoren der Auto Intoxication Eiweiss und Aceton.
Dieselben verschwunden unter entsprechendem Regime binnen
wenig Tagen, der Ernährungszustand hob sich in über¬
raschender Weise, das Körpergewicht stieg um 105 k</. Die
vorhandenen Störungen waren also grösstentheils noch aus¬
gleichbar. und wir hatten die Freude, einen überaus günstigen
Verlauf des Falles beobachten zu können.
Was endlich das K o r s a k o w’sche Syndrom betrifft,
das bei dem Patienten die Scene beschloss, so entspricht das¬
selbe völlig dem Bilde, das ich eingangs mit wenigen kurzen
Strichen skizzirt habe. Wir fanden nicht nur die Gedächtniss-
störung, sondern auch recht zahlreich Erinnerungstäuschungen.
Dass uns der Patient die Angabe machte, es habe ihm jeweils
geträumt, was er uns vorerzählte, dürfte wohl nur ein verunglückter
Erklärungsversuch sein. Es ist ja kaum glaublich, dass er in stereo¬
typer Wiederholung Nacht für Nacht dieselben trivialen Dinge
geträumt hätte; doch selbst das zugegeben, war der Ge-
dächtnissdefect unseres Kranken für die Sinneswahrnehmungen
des Wachzustandes so ausgesprochen, dass er Träume, die ja
der Gesunde kaum sich merkt, schon gar nicht behalten hätte
können. Es widerspricht seinem Erklärungsversuche weiters
die Thatsache, dass der Patient die fabulirten Ereignisse in
bestimmte Tagesstunden hineinverlegte; hauptsächlich aber,
dass sich diese Erinnerungstäuschungen provociren und bis zu
einem gewissen Grade suggeriren Hessen. Wenn er übrigens
ganz präcise falsche Angaben, z. B. über die Art der Mittags
genossenen Speisen schon kurze Zeit hinterher macht, so sieht
man ganz klar den bestehenden Gedächtnissdefect, sowie das
Einspringen einer nicht an diese Stelle gehörigen Vorstellung. —
Gerade diese am wenigsten auffallende, leichte geistige Störung
zieht sich am längsten hin; jetzt nach sechs Monaten sind
immer noch krankhafte Erscheinungen wenigstens angedeutet;
das hypothetische anatomische Substrat derselben, Läsionen
der »Erinnerungszellen« sowie der feinen Associationsfasern,
erscheint kaum reparabel. Auch die Fälle der Literatur zeigen
einen in der Regel schleppenden Verlauf. Immerhin können
wir den Patienten jetzt schon seinem Berufe zurückgeben; er
ist als ein mit leichtem Defecte Geheilter zu betrachten.
Ueber die weitere Prognose müssen wir uns aller¬
dings sehr reservirt aussprechen. Es ist kaum anzu¬
nehmen, dass dieser Mann fortan dem Alkoholgenusse
entsagen wird — wenigstens spricht die Erfahrung gegen
eine solche Annahme — und dadurch ist seine Wieder¬
erkrankung recht wahrscheinlich; sehr zweifelhaft hleibt hin¬
gegen. ob es dann noch möglich sein wird, nicht nur eine so
seltene Trias von Cerebralerscheinungen ohne Mitaffection des
peripheren Nervensystems, sondern auch einen ebenso günstig
verlaufenden Fall zu beobachten.
Literatur.
') S. S. Kors a k o w, Die ersten zwei Arbeiten erschienen in
russischer Sprache; in deutscher folgten nach : Leber eine besondere Form
psychischer Störung, combinirt mit multipler Neuritis. Archiv für Psychiatrie.
Bel. XXI. Fine psychische Störung, combinirt mit multipler Neurititis
(Psychosis polyneuritica sen Cerebropathica psychica toxaemica). Allgemeine
Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. XLVI etc.
') C. Wernicke, Lehrbuch der Gehirnkrankheiten. Bd. II,
pag. 229 ft.
3) R. Thomsen, Zur Pathologie und Anatomie der »acuten alkoho¬
lischen Augenmuskellähmung« nebst Bemerkungen über die anatomische
Deutung einiger Symptome im Krankheitsbilde der »alkoholischen Neuritis«.
Berliner klinische Wochenschrift. 1888.
') H. S a 1 o m o n s o h n, Ueber Polioencephalitis acuta superior.
Deutsche medieinische Wochenschrift. 1891.
■') J. B o e d e c k e r, Zur Kenntniss der acuten alkoholischen Augen¬
muskellähmung. Charite-Annalen. Bd. XVII.
6) Suckling, British medical Journal. 1888.
’) 0. Wiener, Ueber einen genesenen Fall von Polioencephalitis
haemorrbagica superior. Prager medieinische Wochenschrift.. 1895.
s) W. Murawieff, Zwei Fälle von Polioencephalitis acuta haemor¬
rbagica superior (Wernicke) Neurologisches Centralblatt. 1897.
a) S. Tomasini, Polioencephalite superiore acuta con esito in
guarigione. Clinica medica ital. 1898.
,0) L i n s m e y e r. Acut verlaufender Fall von Polioencephalitis
superior nach Septhämie mit Ausgang in Heilung. Verein für Psychiatrie
und Neurologie in Wien, 13. Juni 1899.
M) R. Thomsen, Zur Pathologie und pathologischen Anatomie der
acuten completen (alkoholischen) Augenmuskellähmung (Polioencephalitis
acuta superior Wernicke). Archiv für Psychiatrie Bd. XIX.
,2) Kojewnikow, Ophthalmoplegie nucleaire. Progr. medic. 1887.
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
37
ia) H. J a c o b ä u s, Ueber einen Fall von Polioencephalitis
liviemorrhagica superior (Wernicke). Deulsche Zeitschrift für Nervenheil¬
kunde. Rd. V.
1 1) R. Thomsen, Zur Klinik und pathologischen Anatomie der
multiplen Alkohol-Neuritis. Archiv für Psychiatrie. Bd. XXI.
,5) Citirt, nach: H. Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten,
pag. 339.
Ein Fall von traumatischer periodischer Lähmung.
Von ITniversitätsdocent Dr. Julius Donath, Ordinarius für Nervenkrank¬
heiten am St. Rochus-Spitale in Budapest.
Diese von Hartwig1) zuerst beschriebene Erkrankung,
welche C. Westphal2 3) bei der Schilderung seines Falles
mit aller Schärfe als eine selbstständige Krankheitsform
erklärt bat, ist hinsichtlich Aetiologie, Wesen und Sitz der
Krankheit in tiefes Dunkel gehüllt. Aus diesem Grunde
scheint mir die Mittheilung einer jeden hiehcr gehörigen Be¬
obachtung. welche etwas zur Klärung der Sache beitragen könnte,
gerechtfertigt; die ineinige dürfte wohl auch ätiologisches In¬
teresse für sich beanspruchen.
Von den verschiedenen Autoren wurden mannigfache
Infectionskrankheiten (Malaria, Typhus, Scharlach) und deren
Gefolge (Otitis media, Nephritis) oder äussere Schädlichkeiten
(häufiger und schneller Temperaturwechsel, Erkältung) be¬
schuldigt. Die genannten Infectionskrankheiten jedoch als
alleinige Ursache dieser Erkrankung anzusprechen, geht schon
wegen der überaus grossen Seltenheit der letzteren nicht an,
dann aber liegt auch ein sehr verschieden langer Zeitraum
zwischen Infectionskrankheit und dem ersten Auftreten der
periodischen Lähmung vor, der zwischen vier Wochen und
fünf Jahren variirt. Auch ist dieser Anschauung entgegen zu
halten, dass in vielen Fällen wie auch in den meinigen, die
Lähmung durch körperliche Ruhe oder aber durch Auf¬
regungen, seelische Depressionszustände leicht hervorgerufen
werden konnte. Mit Recht lehnt Gold flam :i) die Sarauel-
s on’ sehe Vermuthung ab, dass es sich um Hysterie handle.
Es genügt ja, das merkwürdig rasche Schwinden und nach-
heriges Wiederkehren der neuromusculären elektrischen Erreg¬
barkeit, der Sehnenreflexe u. s. w. sich vor Augen zu halten.
Als nicht hieher gehörig betrachte ich den Fall von Catrin 4),
wo nach Blitzstrahl Lähmung der linken Seite erfolgte. Nach
ungefähr vier Jahren erfolgte vollkommene Genesung. Seither
etwa 18 Anfälle von Lähmung des linken Armes, von
zwei Wochen bis drei Monate langer Dauer, dabei t heil-
weise Anästhesie, Analgesie, T emperaturlierah-
setzung um circa 2° gegenüber der rechten ge¬
sunden Seite und sehr geringe elektrische
Erregbarkeit. Ich kann in diesem Falle blos eine trau¬
matische Hysterie erblicken, und was das letztgenannte Symp¬
tom anbelangt, so möchte ich daran erinnern, dass von
Nothnagel5) bei Blitzlähmungen Herabsetzungder faradischen
Erregbarkeit gefunden wurde.
Auf die richtige Fährte, dass es sich nämlich in allen
diesen Fällen wohl um eine angeborene Diposition handelt,
wiesen die Beobachtungen von familiären Erkrankungen.
Cousot6) zählte 5 derartig erkrankte Mitglieder einer
Familie, Gold fl am 12, Schachnovitsch — vonGold-
’) H. Ha r t w i g, Ueber einen Fall von intermittirender Paralysis
spinalis. Inaugural-Dissertation. Halle 1874; ref. : Centralblatt für die medi-
cinische Wissenschaft. 1875, Nr. 26.
') C. Westphal, Ueber einen merkwürdigen Fall von peri¬
odischer Lähmung etc. Berliner klinische Wochenschrift. 1885, Nr. 31
und 32.
3) S. Gold fl am, Ueber eine eigenthümliche Form von periodischer,
familiärer, wahrscheinlich autointoxicatorischer Paralyse. Zeitschrift für
klinische Medicin. XIX. Supplementheft.
4) Catrin, Monoplegie brachiale intermittente, sin venue con-
secutivement ä un aceidentdefnlguration. Le Mercredi med. 20. Fevrier 1895;
ref.: Virchow’s Jahresbericht für 1895. Bd. II. pag. 120.
°) H. Nothnagel, Virchow’s Archiv. 1880, Bd. LXXX, pag. 327.
G) G. Cousot, Cas de paralysie periodique. Bullet, de l’Aeademie
de medicine de Belgique; ref.: Virchow-Hirsch, Jahresbericht für 1886.
Bd. II, pag. 151.
ilam angeführt — , K. Hirsch7), Bernhardt8 *) je zwei,
Taylor'1) 11 so, dass unter den etwa 89 Fällen von periodi¬
scher Lähmung, welche ich bis zu dem vorliegenden in der
Literatur verzeichnet tinde, nicht weniger als 34 familiären
Ursprunges sind. Lues und Alkoholismus spielen hier — min¬
destens als von den Betroffenen direct erworbene Zustände —
ganz gewiss keine Rolle, da es sich ja meist um Knaben oder
Mädchen oder um Individuen zu Beginn der Altersreife
handelt. Neuropathische Belastung wird hei einigen Kranken
entschieden in Abrede gestellt.
Ich will den G r e i d e n b e r g’schen Fall l0) hervorheben,
wo bei einem neuropathisch nicht belasteten Knaben im
zwölften Lebensjahre nach einem heftigen Schreck der
erste Anfall auftrat, mit welchem der meinige bezüglich des
ursächlichen Momentes verwandt ist, da auch hier die peri¬
odische Lähmung sich unmittelbar an eine Unfalls¬
verletzung anschloss und der Zusammenhang zwischen
Trauma, beziehungsweise psychischem Shock und periodischer
Lähmung in meinem Falle nicht in Abrede gestellt
werden kann.
J. G., 25 Jahre alt, lediL, Gemüseverkäuferin.
Anamnese: Grossvater mütterlicherseits ist. gesund, die
übrigen Grosseltern hat sie nicht gekannt.
Die Eltern starben an Lungenleiden; zwei Geschwister sind
gesund, vier starben früh. Patientin hat vom fünften bis siebenten
Lebensjahre tägliches Wochselfieber durchgemäclft, wobei sie in den
heftigen Anfällen mitunter auch das Bewusstsein verlor. Im 13. und
im 18. Lebensjahre machte sie Lungenentzündung durch, im 19. Le¬
bensjahre Typhus. Die Regeln traten zu 13 Jahren auf und sind
seither regelmässig. Ihre zwei unehelichen Kinder starben im dritten
beziehungsweise sechsten Lebensmonate in der Ammenschaft. Ge¬
schlechtskrankheiten hatte sie nicht, nur während der Schwanger¬
schaft will sie einen leichten Fluor gehabt haben. Kein Lotus.
Am 2. December v. J. fuhr sie in einem Lastwagen, der mit
der elektrischen Strassenbähn zusammenstiess ; sie iiel vom Wagen
und gerieth unter den elektrischen Waggon. Sie wurde von der
Rettungsgesellschaft ins Rochus-Spital geschafft, wo ihr wegen
Distorsion des linken Fusses ein Organ ti n verban < l angelegt
wurde.
Am dritten Tage der Verletzung, als sie noch im Verbände
lag, wurde sie plötzlich am ganzen Körper gelähmt. Dabei war sie
bei vollem Bewusstsein, konnte sprechen, traute sich aber nicht den
Aerzten zu klagen, da sie fürchtete ausgelacht zu werden. N i e
w a r früher e t w a s' ä h n 1 i c h e s bei ihr vorgeko m m e n •
Während ihres fünftägigen Krankenhausau'fenthaltes zählte sie zehn
solcher Anfälle. Sie kehrte dann nach Hause zurück, wo sie theils
wegen der Verletzungen, theils wegen der häufigen Lähmungen
sechs Wochen das Bett hütete.
Nach Ablauf dieser Zeit fuhr sie am 15. Januar d. .1. auf der
elektrischen Strassenbähn zur Stadt. Schon zu Beginn der Fahrt
fühlte sie wieder das Auftreten der Lähmung, welche, als sie das Ziel
der Fahrt erreicht hatte, eine so vollständige war, dass sie aus dem
Wagen herausgehoben und von der Reltungsgesellschaft abermals
ins Krankenhaus befördert werden musste. Ihr jetziger Aufenthalt
auf der inneren Abtheilung daselbst dauerte eine Woche; während
dieser Zeit machte sie eine ganze Reihe der gleich zu beschreibenden
Lähmungsanfälle durch.
Status praesens: Patientin von kleinem Wuchs (137m
hoch), schwächlich entwickelt und genährt, etwas anämisch. Ziemlich
starke Skoliose der Wirbelsäule, deren Convexität im Brusttheile
nach rechts gerichtet ist; die Schulterblätter fTügelartig abstehend,
besonders rechts. Die Wirbelsäule ist nirgends druckschmerzhaft;
7) K. Hirse h, Ueber einen Fall von periodischer, familiärer Para¬
lyse. Deutsche medicinische Wochenschrift. 1894, Nr. 32.
8) M. Ber n h a r d t, Notiz über die familiäre Form der Dystrophia
musc. progr. und deren Combination mit periodisch auftretender, paroxys¬
maler Lähmung. Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde. 189o, Bd. VIII,
pag. 111.
9) E d w a r d W y 1 1 y s T a y 1 o r, Family periodic paralysis.
Journ. of nerv, and inent. dis. XXV, 9, 10, Sept.-Oct. 1818, ref.: Schmidt's
Jahrbücher. Bd. CCLX1I, Nr. 4, pag. 24.
lf)) B. Greidenbe r g, Ein Fall periodischer spinaler Lähmung;
ref,: Neurologisches Centralblatt. 1888, pag. 54 und 55.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1Ü00.
Nr. 2
38
nur die Gegend der Fossa infraspinata ist druckempfindlich. Gebiss
schlecht entwickelt und gereiht, mangelhaft. Bezüglich der Functi¬
onen der Sinnesorgane vermerke ich eine leichte concentrische Ein¬
engung der Gesichtsfelder für Weiss und die Farben. Die Pupillen
sind unregelmässig, rechts etwas grösser als links, lichtreagirend. Kopf¬
schmerzen, wie überhaupt cerebrale Erscheinungen, sind nicht vor¬
handen.
Das Interessante bei dieser Kranken sind die rasch sich ent¬
wickelnden Lähmungen aller Extremitäten, wobei sie sich nieder-
setzen und sehr bald niederlegen muss, ohne die geringste Störung
des Bewusstseins zu zeigen. Sie liegt dann regungslos da. und ist
oft nicht einmal im Stande, den Kopf zu bewegen, während die Be¬
wegungen der Augen, des Gesichtes und der Zunge völlig frei sind.
Am Tage der Aufnahme wurde im Laufe des Nachmittags auf der
Abtheilung zuerst notirt. dass in den (lliedmassen die Bewegung
wiederkehre und ein starker Schweissausbruch sich zeige.
Auch berichtet sie. dass sie bei diesen Lähmungsanfällen
immer schwitzt, besonders stark gegen das Ende derselben. Der
Schweissausbruch erfolgt ganz besonders auf Gesicht. Brust und
Kücken und stets symmetrisch. Am nächsten Morgen war die
Bewegungsfähigkeit gänzlich zurückgekehrt, so dass sie herumging.
Lm 10 Uhr Vormittags trat wieder plötzliche Extremilätenlähmung
ein. Die 2’/> Stunden später vorgenommene Untersuchung ergab
vollständige fiaccide Lähmung aller Extremitäten; Patientin konnte
ihren Körper nicht von der Stelle rühren, dabei Bewusstsein, Augen-
uml Zungenbewegungen, Gesichtsmimik, Sprache, sowie alle Quali¬
täten des Tastsinnes vollständig erhalten. Sofort war mir die von
meinem unvergesslichen Lehrer ('. Westphal beseht icbcne peri¬
odische Lähmung gegenwärtig, und in der That zeigte die elektrische
1 ’rüfung. dass mit den stärksten faradi sehen und galva¬
nischen Strömen meines stabilen Apparates
w e d e r a n d e n Nervenst ä m men, noch an den Muskeln
d itr Extremi täten und des R u m pfe s, eine Reaction
hervorgerufen werden konnte; dabei wurden von der
Patientin die Ströme äusserst schmerzhaft empfunden und konnten
von gesunden Personen selbst erheblich schwächere* Ströme nicht
vertragen werden. Hingegen war die elektrische Erregbarkeit der
Gesichtsmusculatur vollständig intact, ln diesen Anfällen ist wohl —
um hier das Ergebniss der Beobachtungen und der charakteristischen
Schilderungen der Patientin vorwegzunehmen — die Alhmung
ziemlich frei, doch kann sie nicht aushusten und wird von dem in
den Luftwegen angesammelten Schleim belästigt. Die Lähmung be¬
ginnt stets in den Fingern, steigt dann aufwärts zu den Oberarmen,
dann ergreift sie die Füsse und endlich die ganzen Unterextremitäten
In derselben Reihenfolge schwindet auch die Lähmung.
17. .lanuar. Die Besserung erfolgte schon gestern Nachmittags
unter Schweissausbruch, aber im Laufe der Nacht stellte sich
neuerdings zweimal die Lähmung ein. Vormittags kam sie selbst zur
Ambulanz. Auf mein Geheiss legte sie sich auf das Ruhebett nieder,
jedoch kurze Zeit darauf konnte sie sich von demselben nicht er¬
heben. Angeblich bekommt sie beim Liegen leicht
die Lähmu n g, wie es thatsächlich auch diesmal der Fall war,
und auch in der Nacht die Lähmungen häufiger auftreten. Nachdem
sie aber einige Minuten von zwei Personen auf und abgeleitet
wurde, erlangte sie bald wieder die vollständige Bewegungsfähigkeit.
Gegenwärtig — im freien Intervall — zeigt sie auf mässige, nicht
schmerzhafte faradische und galvanische Ströme normale Nerven-
und Muskelerregbarkeit.
Ich mass auch den galvanischen Leitungswiderstand der Haut,
um etwa eine Erhöhung desselben während des Anfalles ausschliessen
zu können, was ja immerhin diese starke Herabsetzung, beziehungs¬
weise das Verlöschen der elektrischen neuromusculären Erregbarkeit
erklären könnte.
Leider konnte dies aber nur in der anfallsfreien Zeit geschehen.
Der Leitungswiderstand betrug auf der Brust (bei nahe aneinander
gestellten Elektroden von 4-5 cm Durchmesser und PI M.-A. Strom¬
stärke) 1Ö40 Ohm, beziehungsweise 1430 Ohm. Ungefähr dieselbe
Grösse (1470 Ohm) ergab die Conlrole an einem gesunden jungen
Manne.
ln der anfallsfreien Zeit sind die Patellarretlexe leicht gesteigert,
die Sehnenreflexe über den Handgelenken, sowie die Tricepsrefiexe
waren, in verschiedenen freien Intervallen geprüft, bald schwach,
bald gesteigert. Bauch- und Aohillessehnenreflexe waren nicht auszu¬
lösen, die Sohlenrefiexe lebhaft. Mechanische Muskelerregbarkeit
(M. pectoralis majori war herabgesetzt. Grobe Kraft der Extremitäten
wohl erhalten.
18. Januar. Gestern Abends beim Niederlegen bekam sie wieder
einen halbstündigen Lähmungsanfall, desgleichen heute Morgens, als
sie noch zu Bette lag. Gestern Nachmittags befand sie sich wohl;
dasselbe ist jetzt der Fall, wo sie frei herumgeht.
Ausser beim Liegen bekommt s i e 1 e i c h t d e n A n f a 1 1,
wenn sie sich durch kältet, oder wenn sie sich
ii r g e r t, o d c r ged r ii ckter S t i in m ung ist.
21. Januar. Seit dem 19. hatte sie keine Anfälle. Nach ein¬
wöchentlichem Aufenthalt verlässt sie wieder das Krankenhaus.
9. Februar. Auf meine Aufforderung erscheint heute wieder
die Kranke. Zustand im Wesentlichen unverändert. Die Anfälle kommen
manches Mal bis dreimal des Tages und viermal des Nachts und
bleiben höchstens 48 Stunden aus.
Die weiteren, bis zum 22. März geführten Beobachtungen, da
sie das Obige im Wesentlichen wiederholen, will ich kurz zusammen¬
fassen und nur besonders Interessantes hervorheben.
Als sie am 10. Februar an das Lager ihres schwer erkrankten
Grossvaters in der Nähe der Hauptstadt berufen wurde, bekam sie
dort in Folge der Aufregung schon im Verlaufe einiger Stunden
einen schweren Anfall, der 24 Stunden in voller Intensität währte
und erst nach weiteren zwölf Stunden allmälig zum Abschluss kam.
Die Dauer der Anfälle wechselt bei ihr zwischen einer halben Stunde,
mehreren Tagen bis zu einer ganzen Woche. Während der Anfälle
schwitzt sie immer stark, sie lässt sich dann gut zudecken, weil sie
durch starken Schweissausbruch den Anfall zu verkürzen glaubt.
Als ich Patientin einmal versuchsweise eine Viertelstunde auf
dem Ruhebette liegen liess, fühlte sie die Beine schwer werden und
ausnahmsweise begann diesmal die Schwäche in den Beinen früher
als in den Armen, ln diesem Stadium jedoch zeigten sich die Patellar-
rellexe und die elektrische Erregbarkeit noch nicht merklich ver¬
ändert. Nachdem sie 20 Minuten so gelegen, erhob sie sich bereits
mit Mühe, ging watschelig einher — worauf sie mich schon im Voraus
aufmerksam machte — , aber durch einiges Auf- und Abgehen erlangte
sie wieder eine bessere Gelenkigkeit. Auf der Tramway nach Hause
fahrend, bekam sie, im "Wagen sitzend, wieder den Anfall, schwitzte
und war am Ende der Fahrt so hilflos, dass man ihr vom Wagen
herunterhelfen musste. Sie musste sich zu Bette legen; jetzt wurde
der Anfall vollständig, so dass sie die halbe Nacht hindurch weder
die Gliedmassen, noch den Kopf rühren konnte.
Vom darauffolgenden Tage ab war sie durch acht Tage — •
abgerechnet Intervalle von einigen Minuten, wo sie sich etwas besser
fühlte — wieder gelähmt. Sie kam mit ihrer Schwester, welche sie
geptlegt hatte, den langen Weg zu Fuss zu mir, aus Furcht, sie
könnte während des Sitzens im Tramwaywagen den Anfall wieder
bekommen. Denn den Anfall kann sie im Beginn — wie schon er¬
wähnt — durch llerumgehen zuweilen bekämpfen, aber nicht immer,
weil starke Bewegungen mitunter den Anfall geradezu befördern.
Deshalb will sie auch zu Fuss nach Hause kehren.
Die Schwester berichtete, dass die Kranke während dieser Zeit
weder die Gliedmassen, noch den Kopf bewegen konnte, stark
schwitzte, einen trockenen Mund, viel Durst hatte. Auf der Höhe des
Anfalles soll sie »fiebern«, wobei sie Delirien hat (das Bett dreht
sich, sie fällt herunter, die Leute kommen, um sie wegzuführen
u. s. w.). Die Kranke muss dann gefüttert und getränkt werden.
Schlucken kann sie, nicht aber aushusten. Zur Verrichtung der Noth-
durft müssen zwei Personen sie auf den Nachttopf setzen. Während
des Anfalles hatte sie Kopfschmerzen, auch Schmerzen in den Unter¬
schenkeln; doch pflegen letztere auch sonst vorzukommen.
Parästhesien werden beim Auftreten und Schwinden Vier
Lähmung nicht empfunden.
Es handelt sich also* hier um ein in der Entwicklung
auffallend zurückgebliebenes, schwach genährtes, anämisches,
skoliotisches Mädchen, welches verschiedene fieberhafte Infec-
tionskrankheiten (darunter auch Malaria vor 20 Jahren) durch¬
gemacht hat, aber früher nie nervenkrank war, und bei dem
unmittelbar nach einem Unfälle und psychischem Shock zum
ersten Male die periodische Lähmung in voller Intensität auf¬
trat. Die Anfälle, von halbstündiger bis acht Tage langer
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 15*00.
3J
Dauer, begannen, wenn sie voll ausgebildet waren, in den
Fingern, breiteten sich auf die Oberarme aus, gingen dann
auf die Füsse über, um bald auch die ganzen Unterextremi¬
täten zu ergreifen. In den schwersten Fällen konnte auch der
Kopf nicht bewegt, der Schleim aus den Luftwegen nicht aus¬
gehustet werden (Lähmung der Halsmusculatur und Schwäche
der Respirationsmuskeln). Dabei Hitzegefühl, Durst, Schweiss¬
ausbruch und mitunter auch Delirien. Die flaccide. Lähmung
ging mit Erlöschen der directen und indirecten faradischen
und galvanischen Erregbarkeit einher. Während des Anfalles
keine Parästhesien, nur zuweilen Schmerz im Kopf und in
den Unterschenkeln. In derselben Reihenfolge, in welcher die
Lähmung einsetzte, erfolgte auch deren Lösung. In Abortiv¬
fällen kam es nur zu Schwere der Beine. Aufregungen, Ge-
müthsdepressionen, angeblich auch Erkältungen, sowie Sitzen
und Liegen förderten die Anfälle; durch active Bewegungen
(Gehen) wurde deren Ausbildung verhindert oder doch min¬
destens verzögert. In der Zwischenzeit waren elektrische Nerven-
und Muskelerregbarkeit, galvanischer Haut widerstand normal,
die mechanische Muskelerregbarkeit herabgesetzt, die Haut-
und Sehnenreflexe bald schwach, bald gesteigert.
Leichte Anisokorie und Unregelmässigkeit der Pupillen
bei guter Lichtreaction. Hirnnerven, elektrische Erregarkeit
der Gesichtsmusculatur, Schlingbewegungen, zumeist auch das
Bewusstsein. Blasen- und Mastdarmf unction sowie die Sensi¬
bilität am ganzen Körper bleiben intact.
Was die Reihenfolge der Lähmungen anlangt,
so setzten dieselben in den in der Literatur verzeichneten
Fällen bald an den unteren, bald an den oberen Extremitäten
ein und schwanden dieselben bald in der umgekehrten, bald
in derselben Reihenfolge. Ausnahmsweise begann in meinem
Falle die Lähmung einmal in den Füssen, während sie gewöhn¬
lich in den Händen ihren Anfang nahm. Zweifelhaft erscheint
es mir, ob der F i s c h l’sche Fall ") hieher gehört, wo es sich
bei einem achtjährigen Mädchen anfangs um Paraplegie der
Beine mit Aufhebung der elektrischen Erregbarkeit daselbst
handelte, in den späteren sechs Anfällen dagegen um cerebrale
Störungen (Schlafsucht, Zuckungen der Gesichtsmuskeln)
ohne Extremitätenlähmung.
Von der Intensität der Lähmung, ihrer ungleichen Ver-
theilung und der Verschiedenheit der einzelnen Anfälle hing
es wohl ab. dass die elektrische Erregbarkeit, sowie die Sehnen¬
reflexe in verschiedenem Grade herabgesetzt waren. In dem
W e s t p h a l’schen Falle, der nachträglich von Oppenheim r2)
noch eingehender studirt wurde, waren beispielsweise die
Patellarreflexe bald erhalten, bald herabgesetzt oder auf¬
gehoben.
Die Hirnnerven bleiben, wie auch bei meiner Kranken,
in der Regel intact, doch war bei dem Kranken Hartwigs
ausser dem Athmen auch das Sprechen und Schlucken etwas
behindert, ferner war Miosis vorhanden. Desgleichen war bei
den Kranken von C o u s o t das Sprechen und Schlucken sehr
erschweit, die Zunge schwer beweglich.
Bemerkenswerth ist es, dass manche dieser Kranken
Difformitäten zeigen. Hartwig verzeichnete bei seinem
Kranken Genu valgum, Pes valgus und eine geringere Ent¬
wicklung der rechtsseitigen Hals- und Brustmusculatur;
Greidenberg Asymmetrie des Gesichtes und Ohres;
Oousot einen kleineren Wuchs bei den vier erkrankten
Geschwistern im Gegensatz zu den vier gesunden: bei Bern¬
hardt’s zwei Kranken (Vater und Sohn) handelte es sich um
Dystrophia musculorum progressiva, die sich mit periodischer
Lähmung in den oberen Extremitäten combinirte. Meine Pa¬
tientin war ein hypoplastisches, skoliotisches Individuum.
Wo ist nun der Sitz dieser räthselbaften Krankheit und
was das Wesen derselben ?
n) J. Fischt, Ueber einen Fall von perio tisch auftretender Lähmung
der unteren Extremitäten. Prager medicinische Wochenschrift. 1885,
Nr. 42; ref. : Virchow-Hirsch’s Jahresbericht für 1885. Bd. II, pag. 70.
iaJ H. Oppenheim, Neue Mittheilungen über den von Professor
Westphal beschriebenen Fall periodischer Lähmung aller vier Extremi¬
täten. Charite- Annalen. 1891.
Die von Hartwig angenommene seröse Durchtränkung
des Halsmarkes wurde schon von Westphal abgelehnt, der
bei dieser Localisation es schwer erklärlich fand, dass die
sensiblen Bahnen verschont bleiben sollen. Doch könnte es
sich vielleicht um eine Affection der Vorderhörner des Rücken¬
markes handeln, wie dies bei der Poliomyelitis anterior acuta
in beschränkter und in manchen Fällen von Landry’seher
Paralyse in grosser Ausdehnung stattfindet? Cousot spricht
von einer »Inhibition der spinalen Centra«. Doch ist damit
das elektrische Verhalten nicht zu erklären. Dasselbe gilt für
eine Erkrankung der motorischen Rückenmarkswurzcln.
Hysterie ist in meinem Falle ausgeschlossen, mit der sie aller¬
dings das psychische auslösende Moment, sowie die Förderung
der Anfälle durch Gemüthsaffecte gemein hätte, aber das
elektrische Verhalten bildet auch hier die Klippe, an der eine
solche Annahme scheitern muss. 13)
Für die Annahme einer angeborenen Disposition bei der
periodischen Lähmung scheint auch eine anatomische Grund¬
lage vorhanden zu sein. Doch spricht sich Oppenheim be¬
züglich seines, an excidirten Muskelstückchen erhobenen histo¬
logischen Befundes (Verlust der Querstreifung an vielen
Fasern, wachsartige Degeneration und leichte Kernvei mehrung)
sehr vorsichtig aus, während Go Id fl am Hypervolumen der
Muskelfasern, Rarefaction der Primitivfibrillen und Vacuolen-
bildung fand, die er bestimmt für pathologisch erklärt. Für
das Vorhandensein einer histologischen Veränderung der Muskel¬
substanz bei der periodischen Lähmung scheinen auch die er¬
wähnten B e r n h a r d t’schen Fälle von Dystrophia musculorum
progressiva zu sprechen. Goldflam hält die periodische Lähmung
ebenso für eine primäre Myopathie, wie Bernhardt die
Thomsen’sche Krankheit. In der That sind beide Krank¬
heiten verwandt, denn gemeinsam ist ihnen die Bedeutsam¬
keit der Heredität, das zeitweise Versagen der Function, dort
in Form einer flacciden Lähmung, hier in Form einer Starre,
die Veränderung der elektrischen und mechanischen Erreg¬
barkeit, sowie die Sehnenreflexe, welche dort herabgesetzt und
hier gesteigert sind, die Functionsstörung, welche dort
durch die Ruhe, hier durch die Bewegung befördert wird u.s. w.
Goldflam ist auch geneigt, diesen Befund bei der periodischen
Lähmung mit dem anatomisch noch unvollständig entwickelten
Nervenmuskelsystem des Neugeborenen zu parallelisiren, wo
gleichfalls sozusagen ein paretischer Zustand und, wie A.
Westphal (Neurologisches Centralblattt. 1894, Nr. 2) nach¬
gewiesen, Schwäche der elektrischen Erregbarkeit besteht.
Nach Goldflam handelt es sich vielleicht bei diesem Kranken
um eine, auf kindlicher Stufe verbliebene Entwicklung des
Muskelsystems. Doch glaube ich, dass weder angeborene Dis¬
position, noch histologisches Verhalten, welche bei demselben
Individuum constante Grössen sind, die Intermittenz der Er¬
scheinungen erklären könnten. Man muss dann doch wieder
zu einer Hilfahypothese greifen, dass nämlich gewisse Stoft-
wechselproducte diese Giftwirkung auf die Musculatur ausüben.
Aber auch so gibt es noch Schwierigkeiten genug zu
erklären. So die regelmässige und für jeden Fall typische
Reihenfolge im Kommen und Gehen der Lähmungserscheinungen,
wo aber beides stets in den distalen Theilen der Extremitäten
beginnt.
Eine besondere Erwägung verdient die von Oppen¬
heim, Bernhardt und Goldflam ausgesprochene Meinung,
dass in den Anfällen von periodischer Lähmung ein Virus im
Spiele sei. Auch fand Goldflam, dass der im Lähmungs¬
anfall gelassene Harn, Kaninchen intravenös eingespritzt, eine
erhöhte Giftigkeit zeigte ; j e d o c h blieb die elektrische
M u s k e 1 e r r e g b a r k e i t bei diesen T h i e r e n intact.
Goldflam überzeugte sich ferner, dass diese erhöhte Giftig¬
keit nicht auf Rechnung der mineralischen, sondern der orga¬
nischen Bestandtheile des Harnes zu setzen sei; seine Be¬
mühungen aber, aus dem Harn Ptomaine zu isoliren, welche
die Erscheinungen der periodischen Lähmung hervorgerufen
hätten, waren vergeblich.
13) Ich bemerke hier, dass die Kranke zu jener Zeit an Schadenersatz¬
ansprüche gar nicht dachte.
40
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. lVUü
Nr. 2
Ich selbst bin geneigt, in diesem Krankheitsbilde eine
Gift Wirkung zu sehen und dies veranlasse mich auch, eine
Reihe von Versuchen an Hunden anzustellem, um die elektrische
neuromusculäre Erregbarkeit bei Curarevergiftung zu studiren.
Diese Versuche — * worüber ich an anderer Stelle aus¬
führlicher berichten will -t- führten einstimmig zu
dem Ergebnisse, dass bei curaresi rten Hunden
weder per cut an, noch an den blossgelegten
N e r v e n u n d Muskeln eine qualitative o d e r
quantitative A enderung der faradischen oder
galvanischen Erregbarkeit nach zu -weisen i s t.
Um Curare handelt es sich also bei der periodi¬
schen Lähmung g a n z - g e w i s s nie h t.
Dass aber die elektrische Erregbarkeit durch Gifte über¬
haupt beunflusst werden kaum lehrt beispielsweise die Kohlen¬
dunstasphyxie, bei welcher nach E m m i n g h a u s u) die Er¬
regbarkeit des N. phrenieqs für beide Stromesarten herab¬
gesetzt oder aufgehoben sein kann.
Gleichsam einen Gegensatz zur periodischen Lähmung
scheinen mir Tetanie und Tetanus zu bildeu: dort Herab¬
setzung, hier Erhöhung der elektrischen, idiomusculären, mecha¬
nischen und Reflexerregbarkeit. Vielleicht handelt es sich bei
Tetanie und Tetanus um ein von Bacterien erzeugtes strych¬
ninähnliches, bei der periodischen Lähmung dagegen um ein
antagonistisch wirkendes Gift.
Mit einer anderen Lähmungsform, der periodischen
Oculomotoriuslähmung, hat die vorliegende Krankheit
nur die Pcriodicität gemein. Die Ursachen sind dort (Exsudat,
Neubildung, vielleicht in manchen Fällen vasomotorische
Störungen) ganz verschiedener Art.
Notiz zur Lehre von der infantilen Pseudo¬
bulbärparalyse.
Von Prof; Dr. M. Bernhardt (Berlin),
Einem Aufsätze, betitelt: »Zur Kenn tn iss der in¬
fantilen Pseudo b u 1 b ä r p a r a 1 y s e« (diese W ochen, schrift,
1899. Nr. 40), hat H. v. Hal ban ein Literaturverzeichniss
beigegeben, welches ich mir in Folgendem noch etwas zu
vervollständigen gestatte.
In meiner Arbeit: »U e b e r die spas't i sch e C e r e b ral-
paralyse im Kin desalter (Hemiplegia spastica
infantilis) nebst einem Excursc über Aphasie
bei Kindern« (Virchow's Archiv. 1885. Bd. CIL pag. 26)
habe ich bei der Besprechung des auch von v. Hal bau er¬
wähnten Falles von Wald e n b u rg Folgendes gesagt:» W a 1 d e n-
burg nimmt eine intrauterin entstandene Erkrankung der
linken Grosshirnhälfte an und betont, dass trotzdem die rechte
Hirnhälfte nicht die fehlende Function der linken übernommen
habe. Diese Beobachtung, interessant an sieb, würde natürlich
an Werth gewinnen, wenn durch e ine Obduetion die supponirte
Lä'ion der linken Hemisphäre in der That nachgewiesen
wäre. Dies ist einmal nicht der Fall; sodann aber geht aus
der Beschreibung der klinischen Symptome hervor, dass von
der linksseitigen (vielleicht auch rechtsseitigen) motorischen
Sprachbahn doch wohl noch andere Territorien als nur die
centrale Endstation im B r o c a'schen Rindenantheil der dritten
linken Stirnwindung afiicirt war, insofern die Lippen nicht
ganz gesc blossen werden konnten und die Zunge nicht
aus dem Munde hervorgestreckt werden konnte und die
rechte Gaumenhälfte päretisch war. Ausserdem bestanden
noch S c h 1 u c k b e' s c h w e r d e n .
Ich erinnere in dieser Hinsicht an eine höchst interessante
Mittheilung Bergers (O. Berger, Neuropathologische
Mittheilungen. Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur.
Sitzung 1877, Juni), welcher neben der progressiven und
acuten Form dev Bulbärparalyse noch eine bei Kindern im
Alter von drei bis neun Jahren zu beobachtende, offenbar an¬
geborene Sprachstörung bcschi ieb. Solche Kinder sprechen
u) Vergleiche E. Rem a k, Elektrodiag.nostik in Eulenbur g’s
Keal-Encyklopädie. 3. Auflage. Bd. VI, pag. 463.
trotz normal entwickelter Intelligenz und bei völlig gesundem
Gehör höchst mangelhaft. Es handelt sich nach Berger um
eine Entwicklungshemmung des bulbären Lauteentrums, um
eine Parese der für Articulation und Deglutition erforderlichen
Bulbärnerven. Oft findet sich gleichzeitig eine Parese einer
Körperhälfte. Die Individuen gehörten in einem Falle einer
neuropathisch belasteten Familie an, in einem anderen fanden
sich noch andere angeborene Degenerationszeichen (fehlende
Phalangen, Schwimmhautbildungen an den Fingern, Mangel
rechtsseitiger Brustmuskeln); fortgesetzte elektrische Behandlung
ist von gutem Einfluss; im Laufe der Jahre kann es auch zu
spontanen Besserungen kommen.«
»PA dürfte von Interesse sein«, so fuhr ich an der oben
citirten Stelle fort, »wenn ich einen vielleicht hierhergehörigen.,
vielleicht als. in frühester Kindheit e n t s t a n d e n e
Pseudobulbärparalyse aufzufassenden Fall, den ich bei
einer 22jährigen verheirateten Frau beobachtet habe, kurz
mittheile:
»Diese Dame, von deren zwölf Geschwistern noch fünf
leben und gesund sind, war selbst Iris zu ihrem zweiten
Lebensjahre stets wohlauf, lief damals schon und sprach auch.
Sie erkrankte um diese Zeit ziemlich plötzlich so, dass sie
zuerst sehr viel schwerer sprach als sonst, bewusstlos und gelähmt
wurde (Näheres war nicht mehr zu eruiren) und Wochen hindurch
krank darniederlag. Nach wieder eingetrelener Genesung war die
Lähmung ganz verschwunden, andererseits aber auch die Sprache
monatelang fort, so dass sie erst wieder aufs Neue wie ein junges
Kind sprechen lernen musste. Dem Unterrichte in der Schule
konnte sie später ganz gut folgen, stets aber blieb die Sprache
schwerfällig und das Schlucken ers e h w e r t. Seil der Ge¬
burt ihres Kindes (etwa seif einem Jahre) haben sich die bis dahin
leidlichen Beschwerden Verschlimmert und sind andere beunruhigende
Erscheinungen hinzugekommen. Die Kranke wird plötzlich wie starr,
weiss eine kurze Zeit nicht, wo sie sich befindet, was um sie
herum vorgeht etc. Alles dies tritt plötzlich, ohne Vorboten auf.
Die Zunge liegt jetzt, ohne fibrilläre Zuckungen zu zeigen, am
Boden der Mundhöhle; activ kann sie nicht über die Zähne
nach vorne gebracht werden; die Aussprache der Lippen-
b u c h s tab e n b, p, m ist unmöglich. Die S p r a eh e ist sehr
schwerfällig, mühsam, näselnd, obgleich das Gaumensegel sich
activ hebt. Schlucken sehr erschwert; die Psyche, die
Sinne sind intact, ebenso die Glieder activ beweglich, nicht ge¬
lähmt: das Allgemeinbefinden ist leidlich. Die elektrische Unter¬
suchung deckte keine Anomalien auf: das Herz erwies sich als
gesund. « *)
In einem Aufsatz: »Ueber die spastischen infan¬
til e n P a r a 1 y s e.n und d i e m i t ihnen verwandten
Erkrankungen« erwähnt L. Haskovec (nachdem er
schon in Nr. 88 der genannten Zeitschrift diesen
Punkt berührt hatte [Wiener medicinische Blätter. 1899,
Nr. 42]) Folgendes: »Oppenheim (Ueber Mikrogyrie
und die infantile Form der cerebralen Glossopbaryngo-
labialparalyse. Neurologisches Centralblatt. 1895, pag. 180)
beobachtete bulbäre Symptome bei einem 21jährigen
Patienten, welcher mit cerebral ;r Diplegie behaftet war und
bei dem Porencephalie und Mikrogyrie der linken Hemisphäre
und eine Mikrogyrie der rechten Hemisphäre vorgefunden
ward. Die Centralganglien, die Brücke und die Med. oblong,
ohne tiefere Veränderungen. »Oppenheim wundert sich dar¬
über, dass auf diese Zusammengehörigkeit noch nicht hinge¬
wiesen wurde.
’) In meiner oben citirten Arbeit berichtete ich auch über eine von
Archer (Dubl. Journ. cf Med. Sc. 188ö, April) veröffentlichte Beobachtung,
einen neunjährigen Knaben betreffend, welcher im Alter von 14. Monaten,
als er eben zu sprechen begann, von einem einstündigen, alle Muskeln bt-
theiligenden Krampfanfall ergiiffen wurde, nach dem aber keine ausge¬
sprochene Lähmung, sondern nur ein allgemeiner Schwächezustand zurück¬
blieb. Das Aussehen des neunjährigen Kindes war zwar nicht sehr in¬
telligent, keineswegs aber blödsinnig. Es sah und iiörte gat und verstand
Befehle gut auszuführen. Von Woiten war inm nur »good« geblieben. Er
nä-kte bejahend, wenn er seine Zustimmung gab, schüttelte den Kopf, wenn
er verneint«'. Er war ein guter Spielkamerad. Die Obduetion des im
August 1884 verstoi heuen Knaben wurde leide: nicht ausgeführt.
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
41
Dem ist aber nicht so. Bernhardt macht in dem Ar¬
tikel: »Ueber die spastische Cerebralparalyse im Kindesalter
(Hemiplegia spastica infantilis) nebst einem Excurse über
Aphasie bei Kindern« (Virchow’s Archiv. 1885) auf diese
Zusammengehörigkeit aufmerksam.
REFERATE.
I. Suggestion und ihre sociale Bedeutung.
Von Prof. W. v. Bechterew.
Deutsch ron Richard Weinberg.
Mit Zusätzen des Verfassers und einem Vorwort von P. Flechsig.
84 Seiten.
Leipzig 1899, Arthur G e o r g i.
II. Ueber die Mischzustände des manisch depressiven
Irreseins.
Ein Beitrag zur klinischen Psychiatrie. Mit vier Abbildungen und einer
lithographirten Tafel. 63 Seiten.
Von Dr. Wilhelm Weygandt.
München 1899, J. F. Lehmann.
III. Die Abstinenz der Geisteskranken und ihre Be¬
handlung.
Für Anstalt und Praxis dargestellt voa Dr. Hermann Pfister.
1899, Ferdinand Enke.
I. Der Aufsatz, der eine auf der Jahresversammlung der
kaiserlichen medicinischen Akademie in Petersburg gehaltenen Rede
des bedeutenden russischen Neurologen wiedergibt, beschäftigt sich
nur flüchtig mit der hypnotischen und beabsichtigten Wachsuggestion
zu therapeutischen Zwecken, »mit den Bedingungen des Zustande¬
kommens der Ueberimpfung seelischer Zustände mit Umgehung des
Ichbewusstseins«, um des Ausführlichen auf die Erörterung der
willkürlichen correlativen Suggestion und ihrer socialen Bedeutung
einzugehen. Bei der beabsichtigten Wachsuggestion ist oft ein unwill¬
kürlicher Widerstand zu überwinden, bei der unwillkürlichen, wobei
es sich um einen natürlichen psychischen Rapport zwischen zwei
und mehreren Personen handle, entfällt der Widerstand, was als
die Suggestion begünstigendes Moment wirkt. Wegen der hiebei
gegebenen Möglichkeit wechselseitiger psychischer Beeinflussung
wird der Terminus unwillkürliche correlative Suggestion aufgesteht.
Die suggestive Uebertragung von Ideen erfolgt am häufigsten auf
dem Wege des Gehörorgans, häufig auf optischem Wege, es fehlt
nicht an Beispielen suggestiver Einwirkung mittelst des Tast- und
Muskelsinnes; an Beispielen wird das erwiesen.
Durch unwillkürliche und correlative Suggestion geht im all¬
täglichen Leben der psychische Austausch vor sich, welcher Ge¬
fühle, Gedanken und Handlungen und selbst die physische Sphäre
zu beeinflussen im Stande ist.
Der Autor erörtert weiterhin die Macht der psychischen
Impfung an Beispielen aus pathologischem Gebiete, so an sich aus¬
breitenden hysterischen Anfällen, Massenselbstmorden, dem indu-
cirten Wahnsinn. Psychische Infectionen können aber auch ohne
die in letzgenannten Fällen zu supponirende Empfänglichkeit für
fremde Beeinflussung zu Stande kommen bei Vorherrschen gleich¬
artiger Ideen, identischer Affecte und Stimmungen bei vielen Per¬
sonen. Unter solchen Bedingungen können Gollectiv- oder Massen-
hallucinationen in Erscheinung treten; interessante Beispiele, auch
solche aus der Geschichte, werden als Belege angeführt. In vielen
Erscheinungen des Sectenwesens erblickt der Autor die Wirkungen
der unwillkürlichen, correlativen und der Autosuggestion, ebenso
wie in den psychopathischen Epidemien. Als solche werden erörtert
die epidemische Verbreitung der sogenannten Besessenheit im XVII.,
des Hexenwesens im XVI. Jahrhundert, die mittelalterlichen Epi¬
demien, die als Chorea Sancti Viti, Chorea Sancti Johanni, als
Tarantella bekannt sind, der Quietismus. An Citaten aus zeitge¬
nössischen Schriftstellern wird die Entstehung der Krampfepidemien
aus wechselseitigen suggestiven Einwirkungen dargelegt. Die Zauberei¬
epidemien des XVI. Jahrhunderts mit den stereotypen Visionen der
Zauberer sind durch gegenseitige und Autosuggestion zu erklären.
Einen breiten Raum der Abhandlung füllt die Besprechung
des Maljowannysmus, einer im Süden Russlands noch in den letzten
Jahren zur Verbreitung gelangten religiösen Secte; die Entwicklung
dieser und ähnlicher Seelen charakterisirt der Autor als eine be¬
sondere Art religiös-psychopathischer Epidemien. Der Stifter der
Secte, Maljowanny, litt an Paranoia chronica; er proclamirte
sich als der eigentliche, wahre Heiland und gewann einen grossen
Anhang. -B e c h t e r e w will auch die Hallucinationen des Maljo¬
wanny, unter deren Einfluss dieser stand, als Effect von Auto¬
suggestion bei durch Vorherrschen religiöser Ideen vorbereitetem
Boden aufgefasst wissen; diese durch Autosuggestion bewirkte Er¬
scheinung, die Hallucination, entfalte weiterhin suggestive Wir¬
kungen, trage zum Ausbau der Wahnideen bei und entfessele »Triebe
und Regungen, gegen die der Wille ohnmächtig ist, wie unter dem
Banne einer wahren Suggestion«. Nach alldem wäre die Paranoia
oder zum Mindesten gewisse Formen der Paranoia ein bei einer
gewissen Geistesrichtung sich ergebendes Product von Autosuggestion
und von durch Sinnestäuschungen und Wahnideen bedingten Sug¬
gestionen, eine Auffassung, der sich manche Bedenken entgegen¬
setzen liessen.
Dass die mit psychopathischen Zügen ausgestattete Gemeinde,
die Maljowanny um sich geschaart, unter wirksamer Suggestion
seitens des typischen Paranoiikers Maljowanny stand, ist aus
der schönen und genauen Schilderung ihres Sectenwesens unter
Zugrundelegung klinischer Gesichtspunkte zu ersehen. Als den
Maljowannyten gleichwertige Seelen, als gleiches Product psycho¬
pathischer Epidemien, werden die Chlysten, Duchoborzen und Skopzen
geschildert. Unter gleichen Gesichtspunkten wird der Spiritismus
betrachtet.
Den psychopathischen, auf Suggestion beruhenden Epidemien
werden psychische Epidemien ohne eigentliche pathologische Züge
ge genübergestellt.
Als eine asthenische Form wird die Panik, der ganze Volks¬
massen ergreifende Schreck besprochen, als psychische Epidemie
mit activen Erscheinungen, mit seelischen Erregungszuständen der
Fanatismus, so auf religiösem Gebiete, betont.
Als günstige Bedingungen für die Verbreitung psychischer In¬
fectionen werden eine gewisse Prädisposition des psychischen
Milieus und Volksanhäufungen im Namen einer gemeinschaftlichen
Idee hervorgehoben.
Mit weit ausholenden Ausblicken auf die erziehliche Macht,
welche die von den berufenen Führern des Volkes geübte Sug¬
gestion haben könne und mit einer kurzen Erörterung des Problems,
welche historische Bedeutung dem Individuum mit Rücksicht auf
die von Einzelnen ausgehenden, mächtigen suggestiven Einwirkungen
auf die Mitwelt zukomme, schliesst die fesselnd geschriebene, die
höchsten socialen Probleme in das Gebiet der Suggestion einbe¬
ziehende und die viele sociale Erscheinungen mit klinischem Blick
erfassende Abhandlung, die als anregende Lecture einer warmen
Empfehlung werth erscheint.
*
II. Beobachtungen über Substitution einzelner Hauptsymptome
der beiden Phasen des circulären Irreseins durch das Positiv oder
Negativ der entgegengesetzten Phase bilden den Gegenstand der
Arbeit. Wegen der Mischung der Symptome aus der manischen
und der depressiven Phase, die entweder nur flüchtig im Anfalle
oder beim Uebergang aus einer in die andere Phase auftritt, oder
sich selbst auf die Dauer einer ganzen Phase des manisch de¬
pressiven Irreseins ausdehnt, bezeichnet der Autor diese Zustände
als Mischzustände des manisch depressiven Irreseins. Es gibt
Kranke, deren Anfälle in ihrer Vollständigkeit das eine Mal eine
Schulform, das andere Mal ausschliesslich einen Mischzustand
zeigen, . allerdings selten auch solche, welche in ihrem ganzen
Leben nur an Mischzuständen, nie an reiner Manie oder Depression
erkranken. Die Beobachtung zahlreicher Fälle zeigt, dass der
Uebergang von typischen Anfällen circulären Irreseins zu den ex¬
tremen Mischzuständen ein allmäliger ist, sich durch eine Reihe
von Zwischenstufen verfolgen lässt, so dass eine Abgrenzung der
einen von den anderen Fällen nicht leicht möglich ist. Schematische
Zeichnungen (Curven), auf beobachtete Fälle bezogen, dienen zur
Illustrirung dieser Angaben.
Es ist ferner betont, dass z. B. die psychomotorische Veränderung
nur ein Bewegungsgebiet treffen, ein anderes unberührt lassen
kann; so kann Rededrang bei starker Hemmung oder Mutacismus
bei Beschäftigungsdrang vorhanden sein. Es werden darauf be¬
zügliche Krankengeschichten mitgetheilt, aus denen hervorgeht, dass
die Fassung des manisch depressiven, wie überhaupt des periodi¬
schen Irreseins durch den Autor sich die K r a e p e 1 i n sehen
Lehren zu eigen macht. Da Kraepelin viele der von Anderen
als recidivirende Amentia aufgefassten Fälle in das Gebiet der
42
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 2
periodischen Psychosen einreiht, finden sich auch hei W <?v ga n d t
Fälle mit Hallucinationen und Verwirrtheit unter den Mischzuständen
erörtert.
Dass aber die Fälle, die bisher als Amentia, acuter Wahn¬
sinn, acute Paranoia beschrieben wurden, die verschiedensten
Mischungen von Symptomen aus beiden Phasen des circulären
Irreseins aufweisen können, ist ja bekannt.
Unter Rücksichtnahme auf die drei Symptomengegensätze in
beiden Phasen erwartet der Autor sechs verschiedene Mischzustände
nach Ausschluss der classischen Zustände der circulären Depression
und der Manie, beschränkt sich aber nur auf eine ausführlichere
Schilderung der drei wichtigsten, am häufigsten und längsten von
ihm beobachteten Mischzustände, die er mit den Terminis: mani¬
scher Stupor (nach Kraepelin) agitirte Depression und unpro¬
ductive Manie bezeichnet.
Der manische Stupor ist eine Mischung von manisch geho¬
bener Stimmung mit psychomotorischer Hemmung und Denk¬
erschwerung. Die agitirte Depression als Gegensatz hiezu eine
Mischung von depressiver Stimmung mit psychomotorischer Er¬
regung und meist auch mit Ideenflucht. Die unproductive Manie
(schon von Kraepelin beschrieben) ist durch Denkerschwerung
bei heiterer Stimmung und sonstiger psychomotorischer Erregung
charakterisirt.
Unter 150 Fällen von circularem Irresein fand Autor 20%
solcher Mischzustände.
Betreffs der vom Autor entworfenen klinischen Bilder dieser
Mischzustände, sowie hinsichtlich der differentialdiagnostischen Ge¬
sichtspunkte gegenüber katatonischen Zuständen, der Paralyse, ist
auf das Original zu verweisen.
*
III. In erschöpfender, allerdings stellenweise sehr umständlicher
Weise wird die Frage der Abstinenz der Geisteskranken in einem
87 Seiten starken Hefte behandelt. Die minutiöse Darstellung recht¬
fertigt sich bis zu einem gewissen Grade durch den Zweck der
Schrift, die den Anfängern in der Psychiatrie und dem praktischen
Arzte, der in die Lage kommt, abstinirende Geisteskranke zu be¬
handeln, ein Wegweiser sein soll.
Die Behandlung des Stoffes gliedert sich in drei Abschnitte:
Aetiologie, Symptomatologie und Diagnose und Therapie der Abstinenz.
Als ätiologische Gruppen werden rein psychische, rein somatische
und gemischte Ursachen unterschieden. Die Erörterung der ätiolo¬
gischen Momente verliert sich manchmal in theoretische Spitzfindig¬
keiten, was bei einer so rein praktischen Frage, wie sie den Gegen¬
stand der Schrift bildet, besser vermieden hätte werden können.
Die ausführliche Besprechung der Therapie mit ihrer voraus¬
setzungslosen Behandlung jedes Details wird dem in dieser Sache
Unkundigen wohl sehr erwünscht sein.
Im Capitol »Symptomatologische Therapie« wird die Schlund¬
sondenernährung, Ernährung durch Klystiere und subcutane Er¬
nährung unter Angabe der zweckmässigsten Nährflüssigkeiten er¬
örtert. Ein auf die behandelte Frage bezügliches ausführliches
Literaturverzeichniss bildet den Abschluss. Es ist zu erwarten, dass
der Wunsch des Autors, durch seine Schrift zur Verbreitung der
Kenntnisse von den bei nahrungsverweigernden Geisteskranken
üblichen Behandlungsmethoden beizutragen, sich erfüllen wird.
Elzholz.
I. Entwurf zu einer genossenschaftlichen Musteranstalt für
Unterbringung und Beschäftigung von Nervenkranken.
Commentar zur Broschüre
»U eher die Behandlung von Nervenkranken und
die Errichtung von Nervenheilstätten« von
Dr. P. J. M ö b i u s.
Von A. Grolimann, Zürich.
Stuttgart 1899, Ferdinand Enk e.
II. Die Immunisirung der Familien bei erblichen Krank¬
heiten (Tuberculose, Lues, Geistesstörungen).
Ein Wort zur Beruhigung für Aerzte und Gebildete.
Von Dr. Albert Reibmayr.
Leipzig und Wien 1899. Franz Deuticke.
III. Ueber familiäre Irrenpflege.
Von Dr. Konrad Alt, Director und Chefarzt der Landes-Ileil- und Pflege¬
anstalt Uchtspringe (Altmark).
Mit zwei Tafeln.
Halle a. S. 1899, Karl M a r h o 1 d.
IV. Ueber Temperenzanstalten und Volksheilstätten für
Nervenkranke, die für dieselben in Betracht kommenden
Erkrankungen und deren Behandlungsweise.
Von Dr. A. Smith, dirigirender Arzt des Temperenzsanatoriums Schloss
Marbach am Bodensee.
Zweite durchgesehene Auflage.
W ii r z b u r g 1899, A. Stüber (C. Kabitzsch).
V. Grundriss der Psychiatrie für Studirende und Aerzte.
Von Dr. Theodor Kirchhoff, Director der Provincial-Pflegeanstalt bei Neu¬
stadt in Holstein und Privatdocent für Psychiatrie an der Universität Kiel.
Leipzig und Wien 1 899, Franz Deuticke.
I. Verfasser hat mit der vorliegenden Arbeit den Versuch ge¬
macht, einer von M ö b i u s in der oben genannten Broschüre ge¬
gebenen Anregung Folge zu leisten. Sein Project geht dahin, dass
eine Genossenschaft auf dem Lande, und zwar in schönster Gegend,
eine Anstalt baue, in der Nervenkranke in einer Weise Zusammen¬
leben, dass der Aufenthalt billig käme und durch gewisse Einrich¬
tungen (Einzelzimmer für Jeden etc.) jedem Patienten, wofern er
sich abzusondern wünscht, die Isolirung ermöglicht würde. Verfasser
möchte in diese Anstalt den Geist des Klosters tragen. Er denkt
sich dieselbe unter Leitung eines psychiatrisch gebildeten Arztes,
der, ausgestattet mit »Keuschheit, Armuth und Gehorsam« (Col-
legen mit der Neigung, diese drei Tugenden zu bethätigen,
dürften recht schwer zu finden sein. Anmerkung des Refe¬
renten), das Haupt der Anstalt repräsentiren soll. Diese soll von
grösseren Bevölkerungscentren entfernt sein. Die Ernährung der
Kranken soll eine gute und, gleich der Kleidung, den Einrich¬
tungen etc., einfache sein.
Mithilfe in Land- und Hauswirthschaft, Lecture, Musik und
andere Künste sollen den Kranken Beschäftigung und Erholung
bieten. Als ersten Versuch denkt sich Verfasser eine Anstalt blos
für männliche Patienten.
Der Entwurf des Verfassers baut sich aus den Prämissen auf,
dass für die meisten Nervenkranken die Ausscheidung aus der
eigenen oder der elterlichen Familie, für viele Nervenkranke die
Ausscheidung aus dem Stadtleben angezeigt ist. Verfasser berück¬
sichtigt ferner in seinem Entwürfe ganz richtig, dass viele Nerven¬
kranke im Anfangsstadium einer Psychose stehen oder bereits psy¬
chisch abnorm sind, dass eine grosse Zahl dieser Kranken zu den
kümmerlich besoldeten Angestellten gehört und für sie eine billige
Unterbringung erwünscht ist, dass nur eine grosse Anstalt auf dem
Lande die Einkehr in primitive, rusticale und patriarchalische Ge¬
sellschafts- und Arbeitsverhältnisse gestattet und dass endlich die
Statuten der Genossenschaft, die nicht auf Erwerb ausgeht, garan-
tiren für die »moralisch saubere Sache«, um die es sich handelt.
Selbstverständlich ist die Alkoholabstinenz für alle Angestellten und
Pfleglinge der Anstalt obligat gedacht.
In der im Allgemeinen sehr lesenswerthen Arbeit, welche viele
werthvolle Winke und bei Errichtung einer Heilanstalt für Nerven¬
kranke sehr beachtenswerthe Rathschläge enthält, sind dennoch
einige Punkte enthalten, welchen Referent auf Grund seiner Er¬
fahrungen nicht beistimmen möchte. So spricht Verfasser zwar
für einen Neubau, stimmt jedoch auch im Falle finanzieller Schwierig¬
keiten dem Versuche bei, eine ehemalige Luftcuranstalt, ein
Schloss, eine Burg oder ein Fabriksgebäude anzukaufen und zu
adaptiren. Von einem solchen Versuch ist nur abzurathen, denn
Anstalten, die aus einem ehemals zu einem anderen Zweck errich¬
teten Gebäude umgebaut wurden, entsprechen ihrem neuen Zweck
immer nur unvollkommen. Ferner findet Referent in dem Entwurf
der Statuten für die projectirte Anstalt die dem Verwalter einge¬
räumte Ausnahmestellung unter den Angestellten eine sehr gefähr¬
liche Sache. Wer Erfahrung in diesen Dingen hat, wird die für die
Ordnung, den Frieden und die Disciplin in einer Anstalt höchst
verderbliche Institution des Dualismus in der Anstaltsleitung ver-
urtheilen. In einer Krankenanstalt muss das ärztliche Element das
dominirende sein und es muss durch die Statuten von vornherein
verhindert werden, dass die administrative Leitung gegen die ärzt¬
liche Stellung nehmen kann. Wenn Verfasser die Hauptschwierig¬
keit für seinen Entwurf darin erkennen zu müssen glaubt, dass ein
grosser Theil der für die Anstalt geeigneten Patienten sich von dem
rigorosen Programm der Anstalt abgeschreckt fühlen wird, so mag
er darin wohl Recht haben.
*
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 19ÜÜ
43
II. Die vorliegende Brochure hat den Zweck, das durch ein¬
seitige Beobachtung und Statistik der Aerzte und durch die
Uebertreibungen gewisser Schriftsteller über die Frage der Ver¬
erbung pathologischer Zustände zu übertriebenen Anschauungen
hinneigende Publicum auf den richtigen Weg zu führen. Nicht
nur das Pathologische wird vererbt, sondern auch die Widerstands¬
kraft, die zu einer fortschreitenden Immunisirung gegen das ver¬
erbte Pathologische führt. Nicht anpassungsfähige Glieder in solchen
Familien gehen in den ersten Lebensjahren zu Grunde, wer aber
in diesen Jahren der Erbkrankheit entgeht, hat Aussicht, dieselbe
eventuell leichter zu überstehen. Der Kampf gegen die vererbbaren
pathologischen Zustände wird durch eine hygienische, natürliche
Lebensweise unterstützt. Je zahlreicher die immunisirten Familien
werden, desto milder werden die erblichen Krankheiten auftreten,
desto mehr wird die Sterblichkeit an diesen Krankheiten abnehmen.
Die Aerzte können die Natur in diesem Kampfe unterstützen durch
die Hygiene der Prophylaxis, ferner durch Propagirung einer natür¬
lichen, mässigen Lebensweise.
*
III. Das dem Andenken FerdinandWahrendorf f s, des
Vaters der deutschen familiären Irrenpflege, gewidmete Buch be¬
handelt die familiäre Pflege der Irren, worunter verstanden sein
soll »die Unterbringung eines Geisteskranken gegen angemessene Ver¬
gütung in einer fremden Familie, welche im Umgänge mit derartigen
Kranken besondere Erfahrung und Geschicklichkeit besitzt, welche
sich gewissermassen berufsmässig in den Dienst einer Anstalt und
des Irrenarztes stellt«. Grosse Ausdehnung hat die familiäre Irren¬
pflege in Belgien (Gheel, Lierneux) und in Schottland gewonnen, im
Gegensatz zu England, wo sie wenig Verbreitung fand, und zu
Amerika, wo ein langsamer Rückgang zu verzeichnen ist. In Spanien
werden von altersher zahlreiche Geisteskranke von fremden Fa¬
milien berufsmässig verpflegt. In Russland ist die Familienpflege
eingeführt, in Frankreich existirt sie seit dem Jahre 1864 und
geht einer weiteren Entwicklung entgegen, sie findet sich in Holland
und in Italien. In Niederösterreich ist die systematische Einführung
der Familienpflege in sichere Aussicht genommen. In Deutschland,
wo die ersten Spuren der Familienpflege der Irren schon im Beginn
des XVI. Jahrhunderts zu finden sind, hat diese Verpflegsform
zwar bereits weite Verbreitung und vielseitige Anerkennung gefunden,
wenn sie aber doch nicht recht in Gang kommen und an Aus¬
dehnung gewinnen will, liegt der Grund darin, dass in den modernen
Irrenanstalten Deutschlands die Geisteskranken ein solches Mass
von Freiheit gemessen, dass das Bedürfniss nach Einführung der
Familienpflege geringer zu Tage tritt. Verfasser tritt den gegen die
Familienpflege erhobenen Bedenken entgegen und schliesst mit den
Worten Gri esinger’s: »Was die prachtvollste und bestgeleitete
Anstalt der Welt niemals gewähren kann, die volle Existenz unter
Gesunden, die Rückkehr aus einem künstlichen und monotonen in
ein natürliches und sociales Medium, die Wohlthat des Familien¬
lebens, das gewährt den Geisteskranken nur die Familienpflege.«
Die Bestimmungen über die Familienpflege in Uchtspringe, sowie
ein reiches Verzeichniss der Literatur über Familienpflege sind dem
Buche angeschlossen, dessen Lecture allen Fachgenossen wärmstens
empfohlen sein soll.
*
IV. Smith fordert für die Behandlung gewisser Krankheiten
absolute Enthaltung vom Alkohol, welche er zum Theil als einzige
therapeutische Forderung aufstellt, zum Theil zur Unterstützung für
die übrigen therapeutischen Massnahmen empfiehlt. Unter diesen
Krankheiten werden die Herz- und Kreislauferkrankungen angeführt,
deren Behandlung mit steigenden Alkoholgaben höchst bedenkliche
Folgen nach sich ziehen kann, und die Nervenkrankheiten, diese mit
Rücksicht auf die Beeinträchtigung des Nervensystems durch den
Alkohol und in Erwägung des Umstandes, dass eine Reihe von
Nervenkrankheiten in kurzer Zeit bei Alkoholabstinenz ohne jede
andere Behandlung heilt. Völlig proscribirt wird natürlich der Alko¬
holgenuss bei vorhandenem Alkoholismus. Bei Morphiophagen em¬
pfiehlt Smith die allmälige Entziehung des Morphins und Vor¬
enthaltung des Alkohols, da während der Entziehung und Vermin¬
derung des Morphins dieselben Affectionen des Herzens aufzutreten
pflegen, die der Alkoholismus hervorruft.
Smith tritt für die Gründung von Temperenzanstalten zur
Aufnahme Nervenkranker ein.
Für Zahlungsunfähige sollten Volksheilstätten durch öffent¬
liche Wohlthätigkeit und mit Unterstützung des Staates gegründet
werden, über deren Einrichtung und Betrieb manche Rathschläge
ertheilt werden, und in welchen alle Jene Pflege finden könnten,
die aus irgend welchen Ursachen ihr nervöses Gleichgewicht ver¬
loren haben. Auszuscliliessen von der Aufnahme wären moralisch
unzurechnungsfähige Degenerirte, Querulanten, Intriguanten mit
paranoischen Zügen und ruhelose Epileptiker.
*
V. Kirchhoff hat, von der richtigen Erwägung ausgehend,
dass der Inhalt eines Lehrbuches von dem Studirenden am leichtesten
bei kurzer und einfacher Bearbeitung des Stoffes aufgenommen
wird und ein solches Lehrbuch auch dem Collegen in der Praxis
am besten zur Orientirung dient, in dem vorliegenden Grundriss
der Psychiatrie in übersichtlicher und einfacher Fassung den Gegen¬
stand seines Buches behandelt. Dasselbe, in einen allgemeinen und
einen besonderen Theil zerfallend, befasst sich in dem ersteren in
sechs Capiteln mit den anatomischen Grundlagen der geistigen
Störungen, ihren Ursachen, Zeichen und Erscheinungen, ihrem Ver¬
lauf, der Untersuchung zum Erkennen derselben und ihrer Grenz¬
zustände, endlich mit ihrer Behandlung. Der zweite Theil ist der
Besprechung der einzelnen Formen der geistigen Störungen ge¬
widmet. Letztere theilt Kirchhoff in drei Gruppen, insoferne
sie sich vorzugsweise aus Spannungszuständen einzelner Hirntheile
entwickeln oder mit nachweisbaren anatomischen Veränderungen
des Gehirns verbunden sind oder bei einigen allgemeinen Erkran¬
kungen des Nervensystems (Epilepsie, Hysterie, Neurasthenie) und
bei Vergiftungen auftreten.
Die Begrenzung einzelner psychischer Krankheitsformen ist
heutzutage noch Gegenstand der Discussion. Kirchhoff hat dem
Streit der Meinungen über diese Krankheitsformen und über ihre
Grenzen in dem zweiten Theile seines Buches nicht Rechnung ge¬
tragen und wird dadurch erreichen, dass Jenen, welche ihren psy¬
chiatrischen Unterricht nur aus diesem Werke schöpfen, das Un¬
sichere in der Psychiatrie verborgen bleibt.
Das trotz seiner Kürze inhaltsreiche, seinem Zweck als Lehr¬
buch vollständig entsprechende Werk kann bestens empfohlen werden.
Zu bedauern ist nur, dass der allzukleine Druck eine längere
Lectüre erschwert und die Uebersichtlichkeit beeinträchtigt.
Schloss.
Die Symptomatologie der Kleinhirnerkrankungen.
Von Dr. Arthur Adler, Nervenarzt in Breslau.
Wiesbaden, 1899, Bergmann,
In dieser höchst verdienstvollen Monographie wird auf Basis
eines gossen casuistischen Materiales, das mit Fleiss aus der
Literatur aller Völker zusammengesucht ist, und unter Berück¬
sichtigung der Ergebnisse der experimentellen Forschung die
Symptomatologie der Erkrankungen des Kleinhirnes und seiner
Schenkel abgehandelt.
Die vorzüglichste Aufgabe des Kleinhirnes ist : Das Körper¬
gleichgewicht aufrecht zu halten und die Stärke und Präcision der
Bewegungen zu heben. Da jede Kleinhirnhemisphäre mit der gleich¬
seitigen Körpermusculatur in Verbindung steht, ist sie im Stande
durch verstärkte Innervation der gleichseitigen Neiger und Dreher
des Rumpfes, Schwankungen und Drehneigung des Körpers nach
der contralateralen Seite zu compensiren, während der Wurm die
Aufgabe zu haben scheint, mit Hilfe seines Einflusses auf die Rumpf¬
strecker und -Beuger, Vor- und Rückwärtsschwankungen des
Körpers auszugleichen. Bei einseitigen Kleinhirnaffectionen stellt
daher die Neigung zum Fall auf die gesunde Seite ein Ausfalls-,
diejenige zum Fall auf die kranke aber ein Reizsymptom dar.
Wenn die seitlichen Körperschwankungen bei Kleinhirnkranken
durch abnorme Innervations Verhältnisse an den Rumpfneigern zu
Stande kommen, so verdanken die Manege- und Spiralbewegungen
solchen der Rumpfdreher ihre Entstehung. Sie erscheinen als das
Resultat der vorwärtsbewegenden Kraft des Grosshirnes und der
abnorm stark drehenden einer Kleinhirnhälfte bei Ausfall der
anderen. Zwangsbewegungen (respective Zwangslagen) nach der ge¬
sunden Seite hin sind daher als Ausfallserscheinung, solche nach
der kranken aber als Reizerscheinung seitens der erkrankten Klein¬
hirnhälfte zu betrachten. Analoge Verhältnisse wie für die Rumpi-
dreher gellen auch für die Kopf- und Augendreher, daher conjugirlo
44
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
Ablenkung der Augen und des Kopfes nach der gesunden Seite
bei einseitiger Kleinhirnaffection.
Wie die Versuche II e r i n g’s und Sherington’s zeigen,
gehen bei Reizung des Grosshirnes die Contractionen der Muskeln
mit einem Nachlassen des Tonus ihrer Antagonisten einher. Um
nun einen übermässigen Ausschlag zu hindern, tritt nun ein
Reflextonus der Antagonisten ein und für diesen dürfte dem Klein¬
hirn eine grosse Bedeutung zuzuschreiben sein. Die bei Kleinhirn-
affectionen beobachteten Anomalien der willkürlichen Bewegungen
dürften in Störungen dieser Kleinhirnfunction ihre Ursache haben.
v. C z y h 1 a r z.
Die Bedeutung der Uebungen bei Erkrankungen des
Centralnervensystems.
Inaugural-Dissertation von Dr. Dimitri G. Boykin off.
Berlin 1899, Gustav Schade.
Der Verfasser bat sich der gewiss danken swerthen Aufgabe
unterzogen, in knapper Darstellung gewissermassen das Programm
der Mechanotherapie der centralen Nervenerkrankungen zu ent¬
werfen. Er steht ganz auf dem Standpunkte der Berliner Schule,
welche durch v. Leyden, G o 1 d s c h e i d e r, P. Jacob den
wissenschaftlichen Boden für diese junge Disciplin erst geschaffen
hat. Einen modernen Anstrich erhielt die im übrigen nüchtern
gehaltene Arbeit durch die zu Grunde gelegte Neuronenlehre und
die eingehende Berücksichtigung der Exner’schen Anschauungen
von der Beeinflussung der Reflexvorgänge. Daraus ergibt sich von
selbst die Einbeziehung der Lehre von den Reizen und der Auf¬
merksamkeit in die Darstellung und die Eintheilung in eine
bahnende und compensatorische Uebungstherapie. Herz.
Normale Anatomie des Sehnerveneintrittes.
Zusammenstellung ophthalmoskopischer und anatomischer Befunde.
Von A. Elschnig.
Mit Mikrophotographien von 0. Z o t h.
Augenärztliche Unterrichtstafeln von Magnus, Heft 16.
Breslau 1899, J. N. Kern.
Wenn man pathologische Anatomie und pathologische Befunde
verstehen will, so muss man zuerst die normale Anatomie der
betreffenden Organe kennen. Im inneren Auge beginnen die meisten
krankhaften Zustände an der Papille, der Stelle des Sehnervenein-
triltes in das Auge. Es ist deshalb die Arbeit von Elschnig
freudig zu begrüssen, welche uns die Stelle des Sehnerveneintrittes
mit allen seinen Varietäten klar legt. Es geschieht dies durch treff¬
liche Abbildungen und erläuternden Text. Die Abbildungen zeigen
einmal das ophthalmoskopische Aussehen des Augenhintergrundes,
wie es Elschnig bei Lebzeiten des Patienten erhoben hatte,
und dann nach dem Ableben desselben Patienten den anatomischen
Durchschnitt an vortrefflichen Mikrophotographien. Ich möchte noch
besonders die ausserordentliche Schönheit und Klarheit der Photo¬
graphien hervorheben, die den routinirten Fachmann verrathen. Die
vielen und schlechten Photographien in der Medicin können häufig
diese Kunst misscreditiren. Viele glauben eben, dass Photographiren
ein Abklatschen sei, zu dem keine Kenntniss gehöre. In vorliegen¬
dem Heft sieht man, was Kenntniss und vollendete Technik in
diesem Fache leisten können. Der Text ist klar und leicht ver¬
ständlich. Das Heft wird nicht nur dem Anatomen und Ophthal¬
mologen, sondern jedem Arzt, der sich für den Augenhintergrund
intcressirt, Belehrung bringen. Prof. G r e e f f (Berlin).
Untersuchungen an Taubstummen.
Von Dr. A. Schwendt, Privatdocent in Basel, und Dr. F. Wagner.
Basel 1899, B. Schwabe.
Das vorliegende, ganz vorzügliche Werk bietet die bisher
eingehendste Bearbeitung der Hörprüfungsmethoden bei Taubstummen
dar, wobei den hiezu geeigneten Schallquellen eine sorgfältige
kritische Besprechung gewidmet ist.
Die sich daran schliessenden physiologischen und physikali¬
schen Bemerkungen verleihen der ganzen Darstellung ein erhöhtes
Interesse. Die von den beiden Verfassern an 59 Taubstummen vor¬
genommenen Hörprüfungen sind in einer geradezu mustergiltigen
Weise durchgeführt und die graphische Darstellung der Unter¬
suchungsergebnisse ist als besonders gelungen zu bezeichnen. In
der kritischen Darstellung der verschiedenen Anschauungen über
den Werth von methodischen Hörübungen für Taubstumme tritt
der streng objective Standpunkt der beiden Herren Verfasser deutlich
hervor. Erfreulicher Weise sprechen sich Schwendt und
Wagner mit Entschiedenheit zu Gunsten der Hörübungen aus.
Wer der so wichtigen Frage über das Hörvermögen der
Taubstummen und der Bedeutung der Hörübungen näher treten
will, wird in dem Werke von Schwendt und Wagner einen
ausgezeichneten Führer finden. Urbantschitsch.
NOTIZEN.
Habilitirt: Dr. Moriz Sachs als Privatdocent für Augen¬
heilkunde in Wie n und Dr. Anton H ever och für Psychiatrie
und Neurologie an der böhmischen Universität in Prag. — Dr. L.
Neumayer für Anatomie in Münche n.
*
Gestorben: Der Augenarzt Medicinalrath Dr. Mooren in
Düsseldorf.
*
Am 30. December 1899 starb zu London Sir James Paget,
Bart., im Alter von 85 Jahren, ein in hohem Ansehen gestandener
Chirurg, dessen Arbeiten aus den verschiedensten Gebieten der Patho¬
logie über seine englische Heimat hinaus gewürdigt sind. Unter diesen
wurden am bekanntesten seine Studien über Erkrankung des Warzen¬
hofes als Vorläufer des Brustdrüsenkrebses (Paget’s disease).
*
Die „Deutsche medicinische Wochenschrift“ hat mit dem Ein¬
tritt ins heurige Jahr das Jubiläum ihres 25jährigen Bestehens be¬
gangen. Mit stolzer Genugthuung können Redaction und Verlag von
der Höhe der gegenwärtigen Bedeutung des Blattes auf die Ent¬
wicklung zurückblicken, die dieses literarische Unternehmen im
Dienste der Wissenschaft und der ärztlichen Standesinteressen aufzu-
wtisen hat. Die erste Nummer des XXVI. Jahrganges ist der von
hervorragenden Mitarbeitern beigestellten retrospectiven Betrachtung
der Fortschritte der medicinisehen Hauptfächer innerhalb der letzten
25 Jahre gewidmet.
*
Von Dr. AVal dheim’s „Pharmaceutischem Lexiko n“,
herausgegeben im Verlage Hart leben, sind die Schlusslieferungen
des Werkes (16 — 19) erschienen.
*
Im Verlage von Alt in Frankfurt a. M. ist ein von Dr. Groh-
mann für das Jahr 1900 herausgegebenes „Aerztliches Jahr¬
buch“ erschienen, welches nebst Kalendarium unter Anderem eine
Uebersicht über die neueren Heilmittel, medicinische Bäder und, was
besonders bemerkenswerth ist, einen kurzen Grundriss der Ernährungs¬
therapie und Diätetik mit Tabellen über Zusammensetzung der wich¬
tigsten Nahrungsmittel und Nährpräparate bringt.
*
Dr. Wilhelm Knoep felmae her (emeritirter I. Se-
cundararzt des Carolinen-Kinderspitales) wohnt: I., W i p p 1 i n g er¬
st r a s s e 38.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 51. Jahreswoche (vom 17. December bis
23. December 1899). Lebend geboren: ehelich 556, unehelich 299, zusammen
855. Todt geboren: ehelich 38, unehelich 21, zusammen 59. Gesammtzahl
der Todesfälle 643 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
20 4 Todesfälle), darunter an Tuberculose 117, Blattern 0, Masern 17,
Scharlach 2, Diphtherie und Croup 13, Pertussis 3, Typhus abdominalis 1,
Typhus exantbematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 1, Neu¬
bildungen 41. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
130 ( — 19), Masern 330 ( — 47), Scharlach 44 ( — 13), Typhus abdominalis
5 ( — 1), Typhus exanthematicus 0 (=), Erysipel 29 ( — 11), Croup und
Diphtherie 55 ( — 25), Pertussis 23 ( — 3), Dysenterie 0 (=), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 5 1), Trachom 6 (-[- 4), Influenza 3 (-j- 3)-
EINBANDDECKEN
in Leinwand mit Goldpressung zum XII. Jahrgang; (1899)
stehen den P. T. Abonnenten zum Preise von 2 Kronen,
bei directem Postbezüge von 2 Kronen 72 Heller zur
Verfügung. — Zu gleichen Bedingungen sind ferner noch
Einbanddecken zum VI. bis XI. Jahrgang (1893 — 1898) zu
haben. — Ich bitte um baldgefällige geschätzte Aufträge.
Hochachtungsvoll
WILHELM BRAUMÜLLER
k. u. k. Hof- und Universitätsbuchhändler.
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
45
Verhandlungen
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien. Sitzung vom
12. December 1899,
Verhandlungen des Physiologischen Clubs zu Wien. Sitzung vom
28. November 1899.
Naturwissenschaftlich-medicinischer Verein in Strassburg i. E. Sitzung
vom 24. November und 8. December 1899.
Greifswalder raedicinischer Verein. Sitzung vom 24. October 1899.
Wissenschaftliche Aerztegesellschaft in Innsbruck. Sitzung vom
28. October 1899.
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien.
Sitzung vom 12. December 1899,
abgehalten im Hofrath Knol 1’schen Hörsaal.
Vorsitzender : Hofrath v. Krafft-Ebing.
Schriftführer: Dr. Elzholz.
1. Dr. Elz holz: Zur Histologie alter Nerven-
Stümpfe in amputirten Gliedern.
Vortragender demonstrirt mit dem elektrischen Mikroskope mit
Osmium gefärbte Zupfpräparate, mit verschiedenen Methoden gefärbte
Quer- und Längsschnitte aus verschiedenen Höhen von durch Ream-
putation in zwei Fällen gewonnenen Nervenstümpfen der unteren Ex
tremitäten, nachdem 11 und 15 Jahre nach der ersten Amputation
verflossen waren.
In Zapfpräparaten fanden sich bald sprunghafte Uebergänge
dicker in continuirlieh verlaufende dünne, markhaltige Fasern, bald
dicken Fasern interponirte, dünne markhaltige Schaltstücke, intercaläre
Segmente nach Gombault, dann marklose Stücke, dünnen markhaltigen
Fasern interponirt. Die Zwischensubstanz, in welcher die Nervenfasern ver¬
laufen, zerfällt in verschieden breite feinstreifigeBänder. Für einzelne Bänder
ist der Befund mehr oder minder zahlreicher, in spiralig gewundenen
Touren, in ihnen verlaufender, dünner, varicöser, markhaltiger Nervenfasern
hervorzuheben. Aus den Querschnitten ergibt sich das Ueberwiegen dünner,
markhaltiger Fasern über die normal dicken auch in den höchsten
Querschnitten, die von dem durch Reamputation gewonnenen Materiale
erhältlich waren; gegen das Stumpfende nimmt die Zahl der dicken
Fasern zu Gunsten der dünnen markhaltigen ab, aber auch diese
lichten sich gegen das periphere Ende des Stumpfes, indem sie amye-
linen, nur im Carminpräparate darstellbaren und nur bei starker Ver-
grösserung sichtbaren, sehr dünnen Fasern Platz machen. Die Zwischen¬
substanz, im Zupfpräparate in Bändern entgegentretend, präsentirt sich
in den Carmin-Querschnitten in Form inselförmiger Gebilde von sehr
wechselndem Umfange bis zum Durchmesser eines rothen Blutkörper¬
chens. Diese Inseln sind in distalen Querschnitten der Nervenstiimpfe
fast ausschliesslich von dünnen, zumeist amyelineu Fasern durchsetzt,
deren Zahl je nach der Grösse der Inseln eine sehr schwankende ist;
in den kleinsten Inseln findet sich oft nur eine Faser. Die Substanz
der Inseln besteht aus kerntragenden, blassen, feinen Fasern (Fibrillen),
die sowohl im Zupfpräparate, wie auf Längsschnitten zur Ansicht ge¬
langen. Bezüglich der aus obigen Befunden sich ergebenden Gesichts¬
punkte für die Beuvtheilung der in den Nervenstümpfen abgelaufenen
Processe wird auf die ausführliche Publication verwiesen. (Erscheint
ausführlich in den Jahrbüchern für Psychiatrie.)
2. Dr. E. R a i m a n n demonstrirt einen Fall von Korsakoff-
scher Psychose ohne Polyneuritis, die durch eine Polioencephalitis
superior acuta und ein Delirium alcoholicum eingeleitet worden war.
(Erscheint unter den Originalmittheilungen dieser Nummer.)
Der Vorsitzende dankt Herrn Hofrath Knoll für die Ueber-
lassung des Hörsaals, Dr. v. B i e 1 k a für die Mühewaltung bei der
Projection der histologischen Bilder mittelst elektrischen Mikroskopes.
Verhandlungen des Physiologischen Clubs zu Wien.
Jahrgang 1899 — 1900.
Sitzung am 28. November 1899.
Vorsitzender : Herr Sigm. Exner.
Schriftführer : Herr Sigm. Fuchs.
1. Herr S. Klein (a. G.) stellt einen Fall von beiderseitiger
sklerosirter Katarakt bei einem 66jährigen Manne vor, in welchem die
Linsen noch so weit durchsichtig sind, um das Reflexbild der hinteren
Linsenkapsel entstehen zu lassen. Während jedoch in anderen Fällen
von diffuser Linsentrübung das hintere Kapselbild einfach verschwommen
ist, sonst aber vom Reflex im Auge mit ungetrübter Linse sich nicht
unterscheidet, erscheint der erwähnte Kapselreflex im demonstrirten
Falle, und zwar in beiden Augen, blutrot h, ähnlich wie die an
einem nebeligen Herbstmorgen aufgehende Sonne blutroth erscheint.
Wie hier die dicke nebelige Luftschichte, ist dort die kataraktöse Linse
das trübe Medium, welches eben nur die rothen Lichtstrahlen passiren
lässt, so dass das trübe Medium vor dem hellen Grunde roth erscheint.
Das demonstrirte Phänomen ist trotz der nicht so seltenen diffusen
Linsentrübung ausserordentlich selten, denn der Vortragende hat es in
seiner fast 30jährigen ophthalmologischen Laufbahn nur in diesem einen
Falle so prägnant und überraschend, wie alle Anwesenden sich über¬
zeugen konnten, gesehen. Ausser diesem einen Falle sah er es nur noch
zweimal, aber viel schwächer, fast nur angedeutet. Mauthner gibt
an, es einige Male gesehen zu haben. Dies ist aber auch Alles, was
man darüber aus der Literatur erfahren kann. Es findet sich sonst
kein Sterbenswörtchen über diesen Gegenstand.
Erörterungen über die muthmassliche Ursache der so grossen
Seltenheit des demonstrirten Phänomens will sich Vortragender für eine
andere Gelegenheit Vorbehalten.
2. Herr H. Joseph hält den angekündigten Vortrag: „Zur
Anatomie des Co rti’schen Organe s.“ (Mit Demonstrationen.)
Der Vortragende hat vor Allem den von Schwalbe zuerst
beschriebenen, von einigen früheren Autoren für Kerne gehaltenen Ein¬
schlüssen in den Köpfen der C o r t i’schen Pfeiler Aufmerksamkeit ge¬
schenkt. Auf Radialschnitten durch die Schnecke des Meerschweinchens,
wie auch Schwalbe einen abbildet, erscheint nach gewissen Behand¬
lungsmethoden im Kopf des Aussenpfeilers ein scheinbar ellipsoidischer,
im Kopfe des Innenpfeilers ein etwa hackenförmiger Körper, welch
letzterer mit seiner Concavität der convexen Oberfläche des äusseren
Kopfeinschlusses innig anliegt.
Betrachtet man jedoch Schnitte, welche zwar auch der Schnecken¬
achse parallel, jedoch nicht radial gelegt sind, vielmehr so, dass sie
gerade die Reihe der Pfeilerköpfe eine Strecke weit tangential treffen,
so ergibt sich ein sehr auffälliges Verhalten. Am einfachsten lässt sich
dasselbe an dem Beispiele der äusseren Pfeiler klar machen.
Die Pfeilerköpfe erscheinen auf Schnitten von erwähnter Qualität
als eine continuirliche Reihe von kleinen Rechtecken, die mit ihren
längeren Seiten aneinander stossen. Die äusseren Pfeilerkopfein¬
schlüsse liegen nun nicht etwa so, dass in je einem der Rechtecke ein
ellipsoidischer Körper zu sehen ist. Abgesehen davon, dass bei der
betreffenden Schnittführung die Form der Einschlüsse nicht elliptisch,
sondern länglich-rechteckig erscheint, ist festzustellen, dass die Lage
derselben eine solche ist, dass sie gerade von den Grenzen der Pfeilei-
köpfe (= lange Seiten der Rechtecke) halbirt werden. Mit anderen
Worten: In jedem äusseren Pfeilerkopfe befindet sich nicht etwa ein
einheitlicher Körper von der oben geschilderten Beschaffenheit, viel¬
mehr sieht man darin je zwei halbe, nicht zu einander gehörige
derartige Körper, deren jeder einer der seitlichen Flächen des Kopfes
anliegt und deren Contour erst mit dem an ihn anstossenden Halb¬
körper des benachbarten Pfeilers zu einer etwa länglich-sechseckigen
Figur sich vereinigt. Ganz analog liegen die Verhältnisse im inneren
Pfeilerkopfe.
Möglicher Weise handelt es sich hier um Dinge, die mit der
angenommenen gelenkigen Verbindung der Pfeilerköpfe etwas zu thun
haben. Doch lassen sich die complicirten Details ohne Abbildungen
nur schwer oder gar nicht verständlich machen, weshalb auf die aus¬
führliche Publication verwiesen werden muss. Dieselbe wird sich noch
auf einige andere Thierspecies erstrecken und nebst dem hier behandelten
noch andere Punkte in Berücksichtigung ziehen ; sie soll in den „Ar¬
beiten aus den zoologischen Instituten der Universität Wien und der
zoologischen Station in Triest“ erscheinen.
3. Herr V. Hammer schlag spricht über die Entstehungs¬
weise der Co rti’schen Membran und das Wachsthum derselben an
der Hand einer Reihe mikroskopische!- Präparate von Meerschweinchen¬
embryonen. Aus seinen Ausführungen geht hervor, dass die C o r 1 1-
sche Membran, so wie es schon von früheren Autoren mehrfach be¬
schrieben wurde, sich aus einer Summe feinster Fäserchen zusammen-
4G
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 2
etzt. Diese Fäserchen entspringen aus einem Theile des Epithel¬
belages des embryonalen Ductus eochlearis, und zwar aus jenem Theile,
der später das Epithel des Limbus spiralis bildet. Die Befestigungs¬
weise der C o r t i’schen Membran an der Membrana reticularis, die
schon K e t z i u s u. A. beschrieben haben, sind an den vorliegenden
Präparaten auch zu sehen und Vortragender glaubt auf Grund seiner,
gemeinsam mit C z i u n e r ausgeführten Untersuchungen, dass die
Verbindung zwischen der C o r t i’schen Membran und dem Schluss-
lahmen der Membrana reticularis vielleicht eine durch das ganze
Leben hindurch bestehende sei. Diese Art der Befestigung würde sich
auch mit der von Hensen formulirten Hypothese über die Function
der C o r t i’schen Membran gut in Einklang bringen lassen.
Naturwissenscbaftlich-medicinischer Verein in Strass¬
burg i. E.
Medicinische Section.
II. Sitzung vom 24. November 1899.
W. A. Freund spricht über selbsterlebte Schwierigkeiten und
Irrthümer in gynäkologischen Diagnosen und demonstrirt dieselben an
Präparaten und Zeichnungen; er erörtert am Schlüsse die Ursachen
der Schwierigkeiten und die Mittel, dieselben zu umgehen.
*
III. Sitzung vom 8. December 1899.
1. Landolt: Ueber die therapeutische Verwen¬
dung des Neben nierenextractes bei Krankheiten
des Auges.
Der Nebennierenextract in der Form des Präparates von
v. F ü r t h ist, da er frei ist von fremden Beimengungen, aseptisch
hergestellt wird und bequem aufbewahrt werden und daher jederzeit zur
Hand sein kann, ein Mittel, welches in der Augenheilkunde, wenn es
auch auf die Erkrankungen des Auges direct heilend nicht einwirkt,
für den Arzt und den Kranken von grossem Nutzen sein kann.
Es ist als anämisirendes Mittel anzuwenden zur Vornahme von
auch bei entzündeten Augen blutlosen Operationen, zur Unterstützung
der Cocainanästhesie und der Wirkung des Atropins, Eserins und
ähnlicher Mittel.
Veröffentlichung im Centralblatte für praktische Augenheilkunde.
Novemberheft.
2. L a q u e u r spricht über das Centrum der Macula lutea im
menschlichen Gehirn , welches auf Grund der anatomischen, von
Dr. M. B. Schmidt ausgeführten Untersuchung eines Falles von
doppelseitiger Hemianopsie mit Erhaltung eines minimalen centralen
Gesichtsfeldes in dem hintersten Abschnitt der Rinde der Fissura
calcarina localisirt werden konnte.
Der Fall wird in Virchow’s Archiv (Decemberheft 1899) ver¬
öffentlicht werden.
Greifswalder medicinischer Verein.
Sitzung vom 24. October 1899.
Vorsitzender: Landois.
Schriftführer : Busse.
1. Rosemann demonstrirt den Tonographen nach
Gärtner und den Blutdruckmesser nach F r e y.
2. Busse bespricht die verschiedenen Gruppen der
Doppelmissbildungen, demonstrirt Präparate von menschlichen
und thierischen Doppelmissbildungen und erklärt die näheren anatomi¬
schen Einzelheiten.
In der Discussion macht Martin darauf aufmerksam, dass die
Geburt der Missbildungen oft leicht und spontan vor sich gehe.
Bonnet führt aus, dass die Entstehung der Doppelmissbildungen
in der allerersten Zeit der Entwicklung zu suchen ist.
3. S trüb in g stellt einen 63jährigen Patienten mit Aorten¬
aneurysma und dadurch bedingter linksseitiger
Recurrenslähmung vor. Die auf Grund des physikalischen
Untersuchungsbefundes gestellte Diagnose wurde im vorliegenden Falle
durch das Röntgen- Bild gesichert.
4. L e i c k demonstrirt einen an juveniler progressiver
Muskelatrophie (Erb) leidenden Patienten.
5. Tilmann: Experimentelles über Schädel¬
brüche.
Im Anschluss an seinen Vortrag im Februar 1898: „Ueber
Schädelschüsse“ berichtet Tilmann, dass die damals festgestellte
Theorie noch zu Recht bestehe. K r ö n 1 e i n habe auf dem Chirurgen-
cougross allerdings zwei Fälle mitgetheilt, die dagegen sprechen sollten.
Tilmann führt aus, dass der erste Fall, bei dem das Gehirn in
toto aus dem Schädel geschleudert wurde, unmöglich durch einen
gewöhnlichen Gewehrschuss verursacht sein konnte. Der zweite Fall,
sei nicht genügend klargestellt und widerspräche ganz den herrschen¬
den Ansichten. Auch bei den Schädelfracturen trägt das Gehirn zur
Verschlimmerung der Knochenzertrümmerung bei, wie Fall- und Schlag¬
versuche mit enthirnten oder vollen Schädeln zeigen. Die eigenthüm-
liche Wirkung des Contrecoups erklärt Tilmann auf Grund von
Versuchen mit Gelatineklössen durch directe Fortleitung des Stosses
im Gehirn selbst.
6. P ei per: Fliegenlarven als Schädlinge des
Menschen. Das durch Fliegenlarven hervorgerufene Krankheitsbild
der Myiasis dermatosa und der Myiasis intestinalis wird besprochen
und drei neue Beobachtungen der letzteren mitgetheilt.
Wissenschaftliche Aerztegesellschaft in Innsbruck.
Sitzung am 28. October 1899.
Vorsitzender: Hofrath Prof. Dr. R. v. Vintschgan.
Schriftführer: Docent Dr. A. Posselt.
Prof. Ehrendorfer: Vor Wiederbeginn unserer Sitzungen
lassen Sie uns auch an diesem Orte des während der Sommerferien
verstorbenen, verdienten Collegen Klotz, der seinerzeit Mitglied unseres
Vereines war, gedenken.
Aus dem Ihnen zumeist bekannten Lebenslaufe sei daran erinnert,
dass Hermann Klotz nach Erlangung des Doctordiploms haupt¬
sächlich am Maria Theresien-Hospital zu Wien ein bleibendes Interesse
für die Gynäkologie gewonnen und seine chirurgische Tüchtigkeit
als mehrjähriger Operationszögling an B i 1 1 r o t h’scher Klinik
erlangt hat.
Im Jahre 1881 habilitirte sich Klotz auf Grund seiner Ar¬
beiten als Docent für die Pathologie der weiblichen Sexualorgane,
sieben Jahre darauf wurde er Professor extraordinarius für Gynäkologie,
im Jahre 1890 wurde seine venia legendi auch auf Geburtshilfe er¬
weitert. Seine wissenschaftliche Bedeutung und Leistungen, die haupt¬
sächlich in den Arbeiten über die Erkrankungen der Portio vaginalis,
über jene der weiblichen Brustdrüse, über das Adenom der Placenta,
Deciduom und mehreren anderen niedergelegt sind, habe ich nebst
anderen Details in meinem Nekrolog in der Monatsschrift für Geburts¬
hilfe und Gynäkologie veröffentlicht. Es mag nicht unerwähnt bleiben,
dass in seinem Nachlasse noch eine Reihe von unvollendeten wissen¬
schaftlichen Arbeiten und Fragmenten über verschiedene fachliche
Capitel vorgefunden worden sind, die ein weiteres Zeugniss seines
steten Fleisses bilden. Klotz erfreute sich als gewandter Operateur
und humaner Arzt eines wohlverdienten Rufes im ganzen Lande und
darüber hinaus. Die praktischen Aerzte ehrten ihn seinerzeit durch die
Wahl zum Obmanne des Vereines der Aerzte Deutschtirols; hier
mögen Sie das Andenken an den ernst strebenden Collegen, den ein
trauriges Geschick der Wissenschaft und dem ärztlichen Berufe zu
früh entrissen hat, durch Erheben von den Sitzen ehren.
Prof. v. Hacker stellt einen 51jährigen Mann vor, bei dem
er vor 1 9 Tagen wegen eines Oesophaguscarcinoms die Gastrostomie
nach einer combinirten Methode (v. Hacker-Frank) ausge¬
führt hat.
Das 37 cm von der Zahnreihe sitzende exulcerirte und stark
stenosirende Carcinom ist ösophagoskopiscb, sowie durch die Unter¬
suchung einer kleinen extrahirten Partie des Geschwürsrandes auch
mikroskopisch nachzuweisen. Der Kranke konnte sich vom Munde her
nicht mehr genügend ernähren.
Die Operation wurde so ausgeführt, dass durch den längs-
getheilten linken Rectus eingegangen und ein vorgezogener Magen¬
zipfel an seiner Basis rings mit Peritoneum und Fascie umsäumt
wurde, sodann wurde derselbe nach Unterminirung der Haut unter
dieser nach aufwärts an eine circa 3 cm höher am Rippenbogen gelegene
Incisionswunde der Haut genäht und ausserdem eine Acupuncturnadel,
die dann auf den Bauchdecken lag, durch sämmtliche Schichten des
vorgelagerten obersten Zipfeltheiles durchgesteckt.
Nach zwei Tagen erfolgte die Eröffnung des Magens mit dem
Thermokauter und die Einführung eines Diainrohres in denselben.
Die Wundheilung ist glatt erfolgt.
Der Verschluss der Fistel ist jedoch kein so vollkommener, wie
nach der Combination der Sphinkterbildung mit der Canalbildung
(v. Hacker-Witze 1), ein Verfahren, das sich dem Vortragendem
beim Carcinom bisher am besten bewährt hat, während er bei der
gutartigen Stenose jugendlicher, kräftiger Individuen die einfache
Sphinkterbildung aus dem Rectus jedem anderen Verfahren vorzieht.
Bei Witzel’s Canalbildung und der einzeitigen Mageneröffnung be¬
steht immerhin die Gefahr der leichter möglichen Infection der Wunde
und des Peritoneums.
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
47
v. Hacker handelte es sich darum, selbstständige Erfahrungen
über die Verwendbarkeit des F r a n k’schen Verfahrens, namentlich
zum Zwecke der Combination desselben mit anderen Methoden der
Gastrostomie zu machen. Frank selbst hat bei seinem Verfahren den
Finge r’schen Schnitt parallel dem linken Rippenbogen gemacht,
wobei sich vielleicht eine noch stärkere Abknickung des Magens über
den Rippenbogen erzielen lässt. Es ist jedoch von vorneherein klar,
dass die Zipfelbildung und Abknickung dieses Zipfels durch Hinauf¬
nähen nur dann möglich ist, wenn der Magen noch entsprechend ver¬
ziehbar ist, was bei den hochgradigen Schrumpfungs Verhältnissen des¬
selben nach lange dauernder Inanition nicht oder nur mit grosser
Spannung gelingt. Einem derartig atrophischen, nicht gut ernährten
Magen darf man in dieser Hinsicht nicht zu viel zumuthen.
v. Hacke r hat in zwei früheren Fällen üble Erfahrungen ge¬
macht. Da er dachte, dass in den durch die Fran k’sche Methode
wie eine Art Vormagen extraperitoneal gelagerten, aber doch mit dem
übrigen in der Bauchhöhle gelagerten communicirenden Theil des
Magens bei Lageveränderungen leicht Mageninhalt eindringen könne,
wie dies auch in dem vorgestellten Falle leicht eintrat, suchte er eine
stärkere Abknickung dadurch zu erzielen, dass er den nach der Längs-
incision durch den linken Rectus vorgezogenen Magenzipfel nicht nur
unter der Haut, sondern unter der abgelösten Rectusscheide auf ein
Stück nach aufwärts zog und dann höher oben durch eine Haut und
Rectusscheide durchtrennende Incisionsöffnung an die Oberfläche führte
und sodann, soweit es ohne Spannung ging, die getrennten Recti und
eventuell auch die Rectusscheide in der Mittellinie wieder vernähte. In
beiden Fällen ist eine partielle Nekrose an dem vorgelagerten Magen¬
zipfel aufgetreten, die zu Eiterung führte, die in einem der Fälle
auch auf das Peritoneum Übergriff.
Der Magenzipfel darf demnach nicht stark geknickt und auch
nicht stark gespannt werden. Da hier ein verhältnissmässig weiter
Magentheil durch den Rectus hindurchgeführt wird, ist der Abschluss
kein idealer. Kocher hat dasselbe beobachtet und daher ausser der
Sphinkterbildung an dem nach Frank extraperitoneal gelagertem
Magenzipfel noch die Witzel’sche Canalbildung ausgeführt, um eine
exact schliessende Fistel zu erzielen.
Docent Dr. Lot heissen demonstrirt zuerst einen jungen
Mann, bei dem wegen eines Blasensteines, der sich um einen
Fremdkörper gebildet hatte, der hohe Blasenschnitt mit nach¬
folgender vollständiger Naht der Blasen wunde ausgeführt
wurde. (Erscheint ausführlich.)
Sodann stellt er einen Mann vor, welcher wegen einer trau¬
matischen Urethralruptur und fast vollständigem
Defects der Scrotal haut die chirurgische Klinik aufsuchte,
und bei dem er die Urethrorhaphie und Neubildung des
Scrotums durch Brückenlappen ausführte.
Der 44jährige Maurer war Ende Juli stockhoch mit dem Peri¬
neum auf einen Schotterhaufen gefallen. Erst acht Tage später traten
Beschwerden auf, gegen die mehrere Aerzte ihm nicht helfen zu
können erklärten. Es erfolgte endlich spontan der Durchbruch, es ent¬
leerte sich Eiter und Urin, und bald stiess sich der grösste Theil der
Scrotalhaut nekrotisch ab. Nun lagen die granulirenden Testikel frei,
der Kranke trug sie in einem Suspensorium; fast der ganze Urin floss
durch die Fistel ab.
Am 18. September wurde die Urethralfistel angefrischt und ver¬
näht, Dauerkatheter eingelegt. Dann wurden zwei seitliche Brücken¬
lappen gebildet und diese zur Deckung der Testikel so gegen die
Mittellinie verschoben, dass sie sich durch Naht vereinigen Hessen.
Der Patient ist nunmehr geheilt; trotz der queren Zerreissung
der Urethra besteht keine Strietur, die dicksten Katheter lassen sich
leicht einführen.
Prof. Rille demonstrirt zwei Fälle von Pemphigus.
Der eine, ein 28jähriger Taglöhner, befindet sich seit 26. Juli
an der Klinik.
Acht Tage vorher hatte er am rechten Mittelfinger das
Auftreten von mehreren ziemlich grossen Blasen bemerkt, etwas
später ebensolche an beiden Vorderarmen. Zwei Tage darauf be¬
stand Fieber und entwickelte sich an Brust und Bauch ein fleckiger
Ausschlag, am Fussrücken und am Nabel dagegen Blasen. Bei der
Aufnahme waren Stamm und Extremitäten von einem Exanthem ein¬
genommen, das aus linsen- bis über kreuzergrossen Einzelefflorescenzen
bestand, theils gruppirt, theils regellos disseminirt. Dazwischen oder
auch vom Centrum der Erythemflecke aus erhoben sich hanfkorn- und
erbsengrosse, prall mit klarer Flüssigkeit erfüllte, thautropfenartig
glänzende Blasen; noch grössere und dichter beisammenstehende be¬
fanden sich um das Ellbogen- und Handgelenk, gleichwie in der Pa¬
tellar- und Malleolargegend. Am Zungenrande bestanden mohnkorn-
bis halberbsengrosse, mit hämorrhagischem Inhalt erfüllte Bläschen,
weitere mehr länglichovale am Rande der vorderen Gaumenbögen und
der Uvula, zum Theil eingesunken oder geplatzt und blassgrau
gefärbt.
Während des Spitalsaufenthaltes erfolgten, nahezu continuirlich
von Fieberbewegungen und lebhaftem Jucken begleitet, an den meisten
Körperpartien weitere Erythem- und Blasenausbrüche. Besonders bevor¬
zugt von den letzteren, die hier in ansehnlicher Zahl und Grösse auf¬
traten, erschien das Scrotum, die Unterbauchgegend und die Haut am
Sprunggelenke, aber auch am Lidrande und der Conjunctiva schossen
kleine Bläschen auf, die meist wieder platzten und zu rascher Ein¬
trocknung gelangten.
Gegenwärtig finden sich an der Körperoberfläche die verschie¬
denartigsten Läsionen, sowohl frische Blasen mit und ohne erythema-
tose Umrandung, daneben zahlreiche scheibenförmige, theilweise bis
über thalergrosse, feuchtglänzende oder bereits wieder mit zarter Epi¬
dermis überzogene rosafarbige Substanzverluste nebst Krusten und
Epidermisfetzen, welche, wie die gleichfalls in grosser Zahl vorhandenen
braunen Pigmentflecken von früheren Blaseneruptionen herrühren. Der
Kranke ist seither auch etwas abgemagert, klagt über Schlaflosigkeit
und Jucken, welches an solchen Stellen, wo nachmals Flecke und
Blasen sich zeigen, besonders lebhaft ist. An der Hohlhand war bis
nun keine Blasenbildung nachzuweisen, doch verspürt Patient auch
hier intensives Jucken und hat das Gefühl des Geschwollen- und Ein¬
geschlafenseins, gleichwie das von Spannung, wenn er die Hand zur
Faust ballt. An Brust und Rücken hat eine und die andere Blase
auch zarte Narben hinterlassen, bei Pemphigus ein entschieden seltenes
Vorkommniss und am ehesten noch bei dem Pemphigus acutus infan¬
tum zu beobachten, der bekanntlich mit dem in Rede stehenden Pem¬
phigus vulgaris nichts zu thun hat.
Bemerkenswerth ist etwa noch das Vorhandensein von Erythem¬
flecken, die eigentlich zahlreicher sind, wie die Blasen und vielleicht
geeignet sind, die Diagnose in Frage zu stellen zu Gunsten der An¬
nahme eines Erythema multiforme bullosum oder der sogenannten Der¬
matitis herpelitformis D u h r i n g. Erytheme finden sich aber bei den
meisten Pemphigusfällen, zumal denen von dem hier demonstrirten
Typus und bei diesen wiederum ganz besonders in den Remissions¬
perioden oftmals als geradezu flüchtige Erytheme, aus welchen keines¬
wegs immer die Bildung von Blasen hervorgeht, oder bei welchem es
nur zu minimaler und ephemerer seröser Transsudation kommt, so dass
die Oberfläche des Fleckes nicht eine deutliche blasige Abhebung,
sondern nur Runzelung und Fältelung zeigt.
Uebrigens entsteht fast jede Pemphigusblase von gerötheter Haut
aus und es bliebe, falls man nur diejenigen Fälle als Pemphigus
gelten lassen wollte, wo die Blasen auf normal gefärbter Haut ent¬
stehen, sehr wenig vom Pemphigus übrig und wäre dann diese Diagnose
nur recht selten zu machen. Die Diagnose ergibt sich aber nicht blos
aus den morphologischen Details, sondern aus dem ganzen Verlaufe,
der trotz eventuellen stürmischen Einsetzens der Krankheit dennoch
ein chronischer ist; die Abgrenzung vom Erythema multiforme folgt
namentlich aus der atypischen Localisation.
Röthung in der Umgebung von Pemphigusblasen ist übrigens
keineswegs immer als Zeichen der recenten Erkrankung und Acuität
aufzufassen; es kommt derlei auch bei schon längere Zeit bestehenden
Blasen vor, die sich auf normaler Haut entwickelt hatten, wenn
der Blaseninhalt vollkommen eiterig geworden ist.
Gegenüber dieser alten klinischen Erfahrung einer Blasenbildung
auf erythematöser Haut konnte auch der in neuester Zeit erhobene,
doch keineswegs constante Befund, dass die Pemphigusblase nicht in
einfacher Abhebung der Hornschicht, sondern in der der gesammten
Epidermis, auch des Rete, bestehe (Kromayer, L u i t h 1 e n), gleich¬
wohl nichts Merkwürdiges und Befremdendes haben, ebensowenig wie
die Thatsache, dass dasselbe auch bei Erythema bullosum vorkommt.
Die Prognose ist in dem gegenwärtigen Falle jedenfalls zweifel¬
haft, wenngleich auch nicht unbedingt schlecht zu stellen und kann
ein derartiger mittelschwerer Fall in zwei bis drei Monaten von jetzt
ab sehr wohl einen temporären Abschluss finden. Ungünstig ist die
continuirliche Blaseneruption wie auch die Fiebertemperatur, ebenso
sind die Schleimhauterscheinungen kein gutes Zeichen, doch haben sie
an Zahl und Intensität gegenüber der anfänglichen Erkrankung be¬
deutend nachgelassen. Von ominöser Bedeutung sind dieselben bei
Pemphigus namentlich dann, wenn sie den Krankheitsprocess förmlich
einleiten und die Eruptionen an anderen Körperpartien ihnen erst
später nachfolgen. Hinwiederum sind aber dem Vortragenden auch
Fälle bekannt, wo jahrelang in continuirlichen Schüben Pemphigus
des Mundes und Rachens auftrat, ohne dass das Allgemeinbefinden
schwerer alterirt gewesen wäre (Pemphigus localis). Gewicht zu legen
ist bei unserem Kranken auf die bis nun gute Constitution, das voll¬
ständige Fehlen von Verdauungsbeschwerden, zumal von Diarrhöen
gleichwie nervösen Erscheinungen.
Momentan besteht wiederum Schüttelfrost und eine Erhöhung
der Eigenwärme bis auf 39°, was wohl die Vorboten einer umfäng¬
licheren neuerlichen Hauteruption sein dürften.
Der Kranke wurde bisher mit indifferenten Salbenverbänden und
protrahirten warmen Bädern behandelt, denen etwas „Ichthyolidin“
48
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 2
beigegeben wurde. Letzteres wurde der Klinik des Vortragenden von
der Ichthyolfabrik in Seefeld (Tirol) zur Verfügung gestellt und ist
ein bisher unbenützt gebliebenes, stark aromatisch riechendes Neben-
product der Ichthyolbereitung, das vielleicht eine therapeutische Wirk¬
samkeit bei einigen Hautkrankheiten an Stelle des Theers und
Schwefels verspricht.
Die bekannte Vielgestaltigkeit im Krankheitsbilde des Pemphigus
illustrirt gegenüber dem eben erörterten Falle ein weiterer gleichzeitig
vom Vortragenden demonstrirter Kranker.
Bei diesem, einem 21jährigen Agenten, ist nahezu die gesammte
Körperoberfläche mit dicht gedrängt stehenden, meist stecknadelkopf¬
grossen, stellenweise gruppirten Bläschen bedeckt, aus deren Confluenz
da und dort auch grössere, erbsen- und halbhaselnussgrosse Blasen
resultiren. In geradezu diffuser Weise befallen sind Brust und Bauch,
die Gegend am Mons veneris und der inneren Schenkelfläche; die
Bläschen erheben sich von einer gerötheten Basis aus und sind von
bereits grau getrübtem, theilweise auch eiterig umwandeltem Inhalte
erfüllt.
Viele derselben sind geplatzt oder eingerissen, theilweise auch
zu Krusten vertrocknet. Eine besonders grosse, prall mit weingelbem
Serum erfüllte Blase befindet sich dicht vor dem linken inneren
Malleolus und sind auch sonst an den Unterextremitäten grössere
Blasenreste, gleichwie von einem fetzigen Epidermissaum begrenzte
Substanzverluste vorhanden.
Auch an der Penishaut vielfache winzig kleine Bläschen, das
Scrotum frei, die Nates diffus befallen; an der behaarten Kopfhaut
und im Gesichte, dann an den Ohrmuscheln fast durchwegs zu grünlich¬
gelben, umschriebenen, leicht ablösbaren Borken vertrocknete Bläschen¬
gruppen.
Der demonstrate Fall bat eine gewisse Aehnlichkeit mit Variola,
während die Affection der Gesichts- und Kopfhaut sich wie ein im-
petiginöses Ekzem präsentirt.
Auch Impetigo herpetiformis ist auszuschliessen, da keine septi¬
sche Erkrankung und auch kein Fieber besteht, Efflorescenzen eine
durchaus andere Anordnung zeigen, seltener und überdies nicht von
vorneherein eiterig sind. Die Impetigo herpetiformis ist ferner dem
weiblichen Geschlechte eigentümlich und bisher blos drei Fälle bei
jungendlichen männlichen Individuen bekannt, darunter eine vom
Vortragenden, nebst Sectionsbefund, mitgetheilte Beobachtung. (Archiv
für Dermatologie und Syphilis. Bd. XLV, pag. 414.)
Der eben demonstrirte Kranke stand 1893 und 1896 mit dem¬
selben Leiden an der Klinik in Behandlung und hatte Arsen, Chinin,
Salben verbände und Theerbäder erhalten.
In den Zwischenzeiten erfreute er sich völliger Gesundheit und
begann die jetzige Recidiverkrankung vor zwei bis drei Wochen.
Prof. Ehrendorfer demonstrirt einen über 1 hg schweren
Mag entumor, welcher, ins kleine Becken herabreichend, eine von
den Unterleibsorganen ausgehende Geschwulst vor-
getäuscht hat.
Die 50 Jahre alte Patientin hatte neunmal geboren, verlor die
Regel vor fünf Jahren und bemerkte vor drei Jahren ein etwa hühnerei¬
grosses Gewächs im Leibe, das in letzter Zeit an Grösse zugenommen
haben soll. Sie hatte guten Appetit, erbrach nie und klagte über
keinerlei Stuhlbeschwerden; undeutliche Magenbeschwerden nach dem
Essen, als Druckgefühl und Schwere, wurden nachträglich zugegeben.
Einige Male sollen in letzter Zeit geringe Blutungen aus dem Genitale
eingetreten sein.
Bei der sehr mageren Kranken fand man unterhalb des
Nabels eine halbkugelförmige Vorwölbung des Unterleibes, bedingt
durch einen etwa kindskopfgrossen, glatten, derbelastischen Tumor,
dessen oberer Antheil einen Querfinger über den Nabel, dessen unterer
bis ins Becken herab reichte und etwas beweglich war; Bauchdeeken
mehr schlaff, oberhalb des Nabels stark gespannt.
Durch die schlaffe Scheide fühlte man den retro-dextrovertirten
Uterus, dessen Verlagerung durch den unteren Pol der von aussen ge¬
tasteten Geschwulst bedingt war. Der Tumor drängte die vordere
Scheidenwand beträchtlich herab, liess sich nicht ganz aus dem Becken
heraus heben, zeigte jedoch mit der beweglichen Gebärmutter keinen
deutlichen Zusammenhang. Die Adnexe waren nicht abzutasten. Im
hinteren Douglas war ein kleiner, höckeriger Tumorantheil fühlbar.
In der Annahme, es handle sich höchst wahrscheinlich um eine
Eierstocksgeschwulst, wurde vom Vortragenden am 23. October 1899
die Laparotomie ausgeführt. Nach medianer Bauchdeckenspaltung sah
man einen dunkelblaurothen, mit zartem Peritoneum bedeckten Tumor,
über dessen Oberfläche zahlreiche bis bleistiftdicke Venen verliefen.
Um den Tumor zu entwickeln, musste die Bauchwunde weit
über den Nabel gespalten und noch ausserdem von einem Assistenten
der Tumor von der Scheide her durch kräftiges Entgegendrücken
herausgedrängt werden. Der am vorderen, unteren Pole der Geschwulst
angewachsene Rand des grossen Netzes, welches hinter der Geschwulst lag,
wurde abgebunden und durchtrennt. Hierauf wurde am oberen Ge-
schwulstantheil eine Reihe von Gefässen abgebunden. Jetzt erst konnte
die Ansatzstelle des Tumors untersucht werden und es schien anfangs,
dass man es mit reichlichen Darmverwachsungen zu thun babe.. Nach
weiteren Abbindungen sah man hinter und unterhalb der Geschwulst
die ins grosse Becken herabreichende grosse Magencurvatur, und
konnte man deutlich ersehen, das die Geschwulst von der vorderen,
oberen Wand des erweiterten und verzerrten Magens ausgehe. Die
oberflächliche Muskelschichte des Magens strahlte in handtellerbreiter,
fächerförmiger, dünner Schichte in den Peritonealüberzug der Ge¬
schwulst aus. Ringsum wurde mit der Scheere der Peritonealüberzug,
dort wo die glatten Muskelbündel aufhörten, durchtrennt und es ge¬
lang bei vorsichtigem, stumpfem Ablösen, die abgeflachte Basis der Ge¬
schwulst aus ihrem Bette vollständig auszuschälen. Am Grunde der
durch längere Zeit hartnäckig venös blutenden Wundfläche sah man
starke Gefässe; die Magenhöhle war nirgends eröffnet. Indessen zog
sich der stark herabgezerrte Magen wieder stark empor und die
Wundfläche verkleinerte sich beträchtlich durch Contraction. Blut¬
stillung, fortlaufende Seidennaht der äusseren Magenwandschichten,
Schluss der Bauchwunde in drei Etagen. Leider haben an der un-
gemein gespannten Bauchwand oberhalb des Nabels die Nähte wieder¬
holt das brüchige Peritoneum und die Fascie durchschnitten.
Die ersten zwei Tage nach der Operation befand sich die Kranke
subjectiv ziemlich wohl, erbrach nicht und war fieberfrei. Am dritten
Tage Abends massiges Fieber mit hoher Pulszahl, erschwertes Athmen,
Erbrechen kaffeesatzartiger Massen; Exitus am 26. October 1899.
Bei der Section fand man eine rechtsseitige, eiterige, lobuläre
Pneumonie, Peritonitis circumscripta, Atrophie von Milz und Nieren,
allgemeinen Marasmus.
Die Magennaht hat vollständig gehalten; anderweitige Tumor¬
knoten fanden sich keine mehr vor. Die Geschwulst (ob Fibromyom
oder Fibrosarkom ist noch nicht sichergestellt) sass vorne oben, einige
Querfinger weit vom Pylorus entfernt, an der kleinen Curvatur des
kolossal erweiterten, schlaffwandigen Magens.
Zum Schlüsse ersucht Prof. Ehrendorfer den Collegen
Prof. v. Hacker der sich, soviel wie ihm bekannt, mit dem Gegen¬
stände näher befasst, Einiges über derlei seltene Magengeschwülste der
Gesellschaft zur Kenntniss bringen zu wollen.
Die Discussion über diesen Gegenstand wird bis zur nächsten
Sitzung vertagt.
Programm
der am
Freitag, den 12. Januar 1900, 7 Uhr Abends,
unter dem Vorsitze des Herrn Hofrathes Prof. Chrobak
stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Regimentsavzt Dr. Bielil : Demonstration eines Falles von Hyper-
idrosis und vasomotorischen Störungen nach peripheirr traumatischer
Facialislähmung.
2. Hofrath Prof. Sigmund Exner: Ueber medicinische Studien und
Prüfungen.
*
Vorträge haben angemeldet die Herren: Prof. Schauta, Docent Doctor
Herzfeld, Docent Dr. Max Herz, Docent Dr. Kretz, Prof. A. Politzer,
Prof. Benedikt, Prof. Weinlechner, Dr. J. Thenen, Dr. A. Pilcz und
Dr. R. Offer.
Bergmeister, Paltauf.
Wiener medicinisches Doctoren-Collegium.
Programm
der am
Montag, den 15. Januar 1900, 7 Uhr Abends.
im Sitzungssaale des Collegiums: I., Uothenthurmstrasse 2t 23
unter dem Vorsitze des Herrn Hofrathes R. v. Roder
stattfindenden
Wissenschaftlichen Versammlung.
Primarius Dr. Hans Adler: Neuere Behandlungsmethoden des
Trachoms.
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, Jos. Gruber,
M. Gruber, M. Kaposi, Ph. Knoll, A. Kolisko, R. Freih. v. KrafFt-Ebing,
I. Neumann, R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. v. Vogl, J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gussenbauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/1, Wicken burggasse 13.
XIII. Jahrgang. Wien, 18. Januar 1900. Hr. 3.
Verlagshandlung :
Telephon Nr. 6094.
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Die „Wiener klinische
Wochenschrift“
erscheint jeäen Donnerstag
im Umfange von minde¬
stens zwei Bogen Gross¬
quart.
Zuschriften für die Redac¬
tion sind zu richten an
Dr. Alexander Fraenkel,
IX 3, Maximilianplatz,
Günthorgasse 1. Bestellun¬
gen nnd Geldsendungen an
die Verlagshandlung.
<§>■ - — ==©
Redaction :
Telephon Nr. 3373.
INHALT:
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel : 1. Aus dem staatlichen serotherapeutischen Institute
Wien (Vorstand Prof. R. Pal tauf). Ueber Hämolysine und Anti¬
hämolysine. Von Dr. Rudolf Kraus, Assistenten am Institute,
und Dr. Paul Clairmont.
2. Aus der allgemeinen medicinischeu Klinik des Prof. B o z z o 1 o
und aus dem Institute für specielle medicinische Pathologie des
Prof. Silva in Turin. Beitrag zur Kenntnics der pseudochylösen
Ascitesformen. Von Dr. F. Micheli und Dr. G. Mattirol o,
Assistenten.
3. Aus der Heilanstalt Alland. Einige neue Medicamente in der
Phthiseotherapie Von Dr. Jul. P o 1 1 a k, Hausarzt der Heilanstalt.
II. Feuilleton: Ueber medicinische Studien und Prüfungen. Von S i g m.
Exner, Professor der Physiologie in Wien.
III. Referate: Lehrbuch der Hygiene. Von E u b n e r. Referent Grass¬
berger. — Vorlesungen über die Physik des organischen Stoff¬
wechsels. Von Emil du Bois-Reymond. Ref. Pauli. —
Ueber physikalisch-chemische Methoden und Probleme in der
Medicin. Von Dr. Wolfgang Pauli. Ref. Sigm, Exner.
— Die Beziehungen der Akromegalie zum Myxödem und zu anderen
Blutdrüsenerkrankungen. Von F. P i n e 1 e s. Referent M. Ster n-
b erg (Wien).
IV. Therapeutische Notizen.
V. Notizen.
VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften nnd Congressberichte.
A Don ii ein en ts-E 1 11 1 ad 11 n £*.
Mit 4. Januar 1900 begann der XIII. Jahrgang der
„Wiener klinischen Wochenschrift“
zu erscheinen.
Ich beehre mich, zum
-A_ bonne xrx enf
höflichst einzuladen und um baldgefällige Bestellung zu bitten.
Der Preis im Inland beträgt bei director Zusendung ganzjährig K. 20,
halbjährig K. 10; für das Ausland ganzjährig 20 M., halbjährig 10 M. und
Porto.
Wilhelm Braninüller
k. u. k. Hof- und Univeraitätabuchhändler
Wien, VIII/1, Wickenburggasse 13.
Aus dem staatlichen serotherapeutischen Institute in
Wien (Vorstand Prof. R. Paltauf).
Ueber Hämolysine und Antihämolysine.
Von Dr. Rudolf Kraus, Assistenten am Institute, und Dr. Paul Clairmont.
Die experimentelle Toxikologie hat uns eine Reihe Sub¬
stanzen kennen gelehrt, welche in hervorragender Weise das
Blut schädigen, theils dass sie Gerinnung erzeugen, wie
das Ricin, Abrin, theils dass sie Methämoglobin bilden,
wie das chlorsaure Kali, die Pikrinsäure und ihre Salze, das
Anilin und seine Derivate, das Nitrobenzol etc. oder endlich,
dass sie eine Auflösung der rothen Blutkörperchen bewirken.
Diese hämolytischen Gifte haben in letzter Zeit ein ganz, be¬
sonderes Interesse erfahren; ausser den Gallensäuren und ihren
Salzen, Arsen Wasserstoff, Antimonwasserstoff, deren Wirkung
schon längere Zeit bekannt ist, hat man die Giftwirkung
mancher Schwämme (Agaricus phalloides, Hetvella esculenta)
und Pflanzen (Solanum Dulcamara, Cyclamen, Paris) und
anderer in die Blutkörperchen auflösenden Stoffen erkannt.
Robert führt bereits von 29 derartigen Substanzen die
Concentration an, bei welcher sie noch Auflösung des Rinder¬
blutes bewirken.
Durch die Arbeiten von Kos sei, Bordet, Ehrlich
und Morgenrot h, v. Düngern u. A. haben wir gewisse
Blutsera kennen gelernt, welche entweder als normale oder
Immunsera die Eigenschaft besitzen, beziehungsweise erlangen
können, rothe Blutkörperchen gewisser Thierarten zu aggluti-
niren und aufzulösen.
Dass auch Bacterien hämolytische Gifte produciren. wurde
zuerst von Ehrlich (Berliner klinische Wochenschrift. 1898)
gezeigt. Ehrlich konnte nämlich nachweisen, dass das
Tetanustoxin rothe Blutkörperchen zur Auflösung bringt. Diese
Thatsache machte Madsen (Zeitschrift für Hygiene. 1899)
zum Ausgangspunkt seiner Studien über hämolytisch wirkendes
Tetanustoxin. Da es für die folgenden Auseinandersetzungen
wichtig erscheint, die Arbeit M ad s e n’s in ihren Hauptpunkten
kennen zu lernen, wollen wir hier die wichtigsten Ergebnisse
derselben wiedergeben.
Aus den früheren Beobachtungen Ehrlich’s und den
von Madsen gemachten ergibt sich, dass im Tetanustoxin
zwei speciflsche Gifte vorhanden sind, das Tetanospasmin und
das Tetanolysin; das Verhältniss beider Gifte zu einander ist
ein verschiedenes. Das hämolytische Gift ist sehr labil und
schwächt sich rasch ab. Auch höhere Temperaturen (50" durch
20 Minuten) schädigen das Tetanolysin. Jedem der beiden
Gifte kommt ein besonderes Antitoxin zu, das Antitetanolysin
fiO
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 3
und das Antitetanospasmin. Diese Gegengifte sind ebenso
von einander verschieden, wie die beiden Gifte des Tetano¬
lysin und des Tetanospasmin.
Nachdem über andere Bacteriengifte keine Erfahrungen
Vorlagen, versuchten wir es, die von Ehrlich und Madsen
nur für das Tetanustoxin nachgewiesene hämolytische Wirkung
auch bei anderen Mikroorganismen zu suchen.
Zu diesen Versuchen wurden die verschiedensten Mikro¬
organismen theils als Bouillonculturen, theils als bacterienfreie
Filtrate (Toxine) benützt. Die Versuchsanordnung wurde so
gewählt, wie sie von Hamburger für die Resistenz¬
bestimmung der rothen Blutkörperchen angegeben und wie sie
auch von Ehrlich und Madsen bei ihren Giftbestimmungen
angewendet wurde. Frisches defibrinirtes Blut wurde mit einer
0'85%igen Kochsalzlösung auf eine 5%ige Verdünnung ge¬
bracht und mit diesem Gemisch Reagensgläser zu 15 cm3 ge¬
füllt. Die Blutproben wurden mit verschiedenen Mengen des
Giftes versetzt, geschüttelt, um eine gleichmässige Vertheilung
des Giftes zu erreichen, dann zwei Stunden bei 37° im Brut¬
kasten und schliesslich 24 Stunden bei Zimmertemperatur
stehen gelassen.
Neben den verschiedensten Bacteriengiften wurden
auch verschiedene Salze einer hämolytischen Prüfung unter¬
zogen.
Bevor wir das Thema unserer eigentlichen Arbeit in
Angriff nehmen, schien es geboten, die von Ehrlich ent¬
deckten hämolytischen Wirkungen des Tetanustoxins aus eigener
Erfahrung kennen zu lernen. Die Wiederholung der Versuche
von Ehrlich und Madsen war auch aus dem Grunde wünschens-
werth, weil Ehrlich und Madsen blos mit festem Tetanustoxin
gearbeitet hatten. Dieses Tetanustoxin ist durch Sättigung der
Cultur mit Ammonsulfat gewonnen und dürfte demselben, wenn
nicht Ammonsulfat eigens zu diesem Zwecke entfernt wurde,
solches anhaften. Wir haben unsere Versuche nur mit Rohgiften
angestellt, um unsichere Resultate zu vermeiden. Diese Gifte
wurden durch Filtriren verschiedenalteriger Zuckerbouillon-
culturen gewonnen. (Tabelle I.)
Auf Grund dieser Versuche mit Rohgiften von Tetanus-
eulturen gelangten wir zu folgenden Resultaten, welche mit
den von Ehrlich und Madsen mit concentrirten festen
Giften gewonnenen übereinstimmen:
1. Das Tetanustoxin enthält ein hämolytisches Gift.
2. Das Hämolysin (Tetanolysin Ehrlich’s) des Tetanus¬
toxins steht mit dem krampferzeugenden Gift (Tetanospasmin
Ehrlich’s) in keinem Zusammenhänge. Es kann eine Tetanus-
cultur ein hochwirksames krampferzeugendes Gift enthalten,
ohne dass es hämolytisch wirkt und umgekehrt. So wie die
Werthe des krampferzeugenden Giftes in verschiedenen Culturen
Tabelle I.
Versuch über Hämolyse mit Tetanustoxin.
Gift
Menge des
Giftes
in Cubik-
centimetern
Blutart
Toxin 36
10
Kaninchen
mit 1 0°/0 Na CI versetzt
2 0
0 002 wirkt tetanisch
Toxin 1
1 0
Kaninchen
circa drei Wochen alte Cultur
2-0
Toxin 2
10
Kaninchen
circa drei Wochen alte Cultur
20
Toxin 3
10
Kaninchen
vier Tage bei 37°, dann sieben
2-0
Tage bei Zimmertemperatur ge¬
wachsen, verunreinigt
Toxin 38
1 0
Kaninchen
sehr schwaches Toxin
0-5
Festes Toxin
1-0
Kaninchen
(0-000002 tetan. Dose für Maus)
2-0
Toxin 38
0-5 und PO
Meerschweinchen
Rind
Schwein
Pferd
Ziege
Controlen:
1 0
Kaninchen
Zuckerbouillon
2-0
10 1 0 Kochsalzlösung
PO
2-0
Kaninchen
Ammon sulfat
0 2
05
PO
Kaninchen
Resultat nach 24 Stunden
Starker Bodensatz, darüber eine 1 cm hohe dunkelrothe Flüssigkeits¬
schichte, die Flüssigkeit darüber klar, farblos.
Wie beiin Toxin 36
Eine dunkelrothe Zone über dem Bodensatz, darüber eine lichtere
rothe Zone, die sonstige Flüssigkeit hellroth.
Wie bei Toxin 36.
Bis circa 1 cm unter die Oberfläche der Flüssigkeit gleichmässig
violettroth gefärbt.
Die ganze Flüssigkeit gleichmässig roth gefärbt. Die Wiederholung
des Versuches am nächsten Tag ergibt ein gleiches Resultat. Bei
2'0 cm3 Gift treten Farbenverschiedenheiten in den einzelnen Schichten
auf, eine scharlachrothe Schichte unter der Oberfläche, weiter nach
unten ist die Flüssigkeit violettroth.
Totale Auflösung.
Geringere Auflösung.
Bodensatz, darüber eine circa 1 evi hohe dunkelrothe Schichte, da¬
rüber die Flüssigkeit klar, farblos.
Die lackfarbene Zoue etwas breiter.
Wie bei Kaninchenblut.
Wie bei Kaninchenblut.
Keine Auflösung.
Wie bei Kaninchenblut.
Keine Auflösung.
Keine Auflösung.
Keine Auflösung.
Ueber dem Bodensatz eine dunkelrothe Zone, die Flüssigkeit sonst
farblos.
Ueber dem Bodensatz eine 1 cm hohe rothe Schichte; die Flüssigkeit
darüber farblos.
Bodensatz, dann eine 1 cm hohe dunkelrothe Schichte, darüber eine
bis 1 cm unter die Oberfläche reichende, schwach roth gefärbte
Partie, darüber die Flüssigkeit farblos.
Wie mit 0*5 cm3.
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
51
Tabelle II.
Versuche über Hämolyse mit verschiedenen Bacterien.
Menge des
Gift
Giftes
in Cubik-
Blutart
Resultat nach 24 Stunden
centimetern
Diphtherietoxin
10
Kaninchen
Ueber dem Bodensatz eine circa 1 cm hohe lackfarbene Zone, da-
2-0
rüber die Flüssigkeit farblos.
Diphtheriecultur
1-0
Kaninchen
Keine Auflösung.
Bact. coli-Cultur (Bouillon
1-0
Kaninchen
Bodensatz, darüber die Flüssigkeit weingelb.
einige Tage alt, aerob
20
Bact. coli-Cultur (Zuckerbouillon
1-0
Kaninchen
Ueber dem Bodensatz eine 1 cm hohe dunkelrothe Zone, darüber bis
einige Tage alt, aerob)
1 cm unter der Oberfläche eine lichtrothe Zone.
2-0
Ebenso, die Flüssigkeit licht violettroth.
Bact. coli-Cultur (Zuckerbouillon
1-0
—
Wie beim Bact. coli in Zuckerbouillon aerob.
anaerob)
2-0
Dieselbe Cultur nach längerem
1-0
—
Keine Auflösung, wie das Controlröhrchen.
Stehen bei Zimmertemperatur
B. typhi (Bouillon)
10
Kaninchen
Keine Auflösung.
B. pyocyaneus (Bouillon)
10
Kaninchen
Keine Auflösung.
Staphylococcus 1
10
Kaninchen
Totale Auflösung ohne Bodensatz, im unteren Drittel
(alte Bouilloncultur)
die Flüssigkeit violett.
Staphylococcus 2
1-0
Kaninchen
Bodensatz, die Flüssigkeit im unteren Drittel lichtviolett, sonst
farblos.
Staphylococcus 3
10
Kaninchen
Wie bei Staphylococcus 2.
Staphylococcus 1, 2, 3
10
Mensch
Keine Auflösung.
Cholera Paris
1-0
Kaninchen
Totale Auflösung.
(1 Tag alte Bouilloncultur virulent)
Cholera Paris
(4 Tage alte Bouilloncultur)
TO
Kaninchen
Totale Auflösung.
0-5
Totale Auflösung.
0 05
Auflösung mit geringem Bodensatz.
001
Geringere Auflösung, reichlicher Bodensatz.
Cholera Laborat.
TO
Kaninchen
Keine Auflösung, wie das Controlröhrchen.
(1 Tag alte und ältere Bouillon-
cultur avirulent)
Cholera Paris
1-0
0-5
0-1
Mensch 1
| Intensive Auflösung, die oberste, circa 1/2 cm breite Zone weingelb.
Die oberste Zone circa 2 cm breit farblos, die übrige Flüssigkeit
in allen Fällen hellroth, reichlicher Bodensatz.
Cholera Paris
1-0, 0-5, 0-1
Mensch 2
Wie bei Menschenblut 1.
Cholera Paris
0-5
Pferd
Totale Auflösung ohne Bodensatz.
0-1
Auflösung, die obere Zone circa iL cm weingelb, geringer Boden-
satz
0-05
Wie mit 0T cm3.
001
Keine Auflösung, wie Controlröhrchen.
Cholera Paris
0-5, 0-1,0-05
Rind
Totale Auflösung ohne Bodensatz.
001
Geringere Auflösung, geringer Bodensatz.
Cholera Paris
0-5, 01, 0-05
Ziege
Wie beim Rinderblut.
0-01
Cholera Paris
0-5
Schwein
Totale Auflösung.
01
Geringe Auflösung mit Bodensatz.
005
Die Flüssigkeit im unteren Drittel violettroth, starker Bodensatz.
001
Keine Auflösung.
Vibrio Metschnikoff
10
Kaninchen
Totale Auflösung ohne Bodensatz.
(1 Tag alte Bouilloncultur)
(4 Tage alte Bouilloncultur) |
0-5
o-i
Geringe Auflösung, Bodensatz, die untere Hälfte eosinroth.
Vibrio Metschnikoff
1
T0
0-5
Mensch 1, 2
Keine Auflösung.
Vibrio Finkler Prior
T0
Kaninchen
Auflösung, die Flüssigkeit violett.
LIBRAN
university
OF lUANOlS
52
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 3
Gift
Menge des
Giftes
in Cubik-
centimetern
Blutart
Resultat nach 24 Stunden
Vibrio Finkler Prior
1-0
Mensch 1, 2
Die untere Hälfte der Flüssigkeit violettroth, Bodensatz.
Vibrio Danubicus
1-0
Kaninchen
Totale Auflösung.
Vibrio Danubicus
10
Mensch 1
Die oberste Zone farblos, dann eine 2 cm breite hellrothe Zone,
nach unten dunkelrotb, geringer Bodensatz.
Mensch 2
Totale Auflösung.
B. lactis aerog.
1-0
Kaninchen
Keine Auflösung.
B. pneum. Friedl.
Mensch 1, 2
B. anthracis
Streptococc. scarlatina 1
Streptococc. London
Streptococc. scarlatina 2
10
Kaninchen
Die oberste Zone weiugelb, dann hellrotb, reichlicher Bodensatz.
Streptoc. scarlatina 2
1-0
Mensch 1
Starke Auflösung, geringer Bodensatz.
Streptoc. septicaemiae
Streptoc. scarlatina 2
1-0
Mensch 2
Die oberste Zone circa 3 cvi weingelb, im Uebrigen roth, Bodensatz.
Proteus 1, 2, 3, 4
1-0
Kaninchen
Die oberste circa cm breite Zone farblos, die übrige Flüssigkeit
dunkelroth, geringer Bodensatz.
Proteus 1 — 4
10
Mensch 1
Die unteren zwei Drittel rothgelb, über dem Bodensatz eine circa
1 cm hohe dunkelrothe Zone, Bodensatz.
Proteus 1, 2, 4
1-0
Mensch 2
Die Flüssigkeit farblos, über dem Bodensatz eine vio'ettrothe Zone.
Proteus 3
Wie Mensch 1.
Fäulnissbacterium (nicht näher be-
1-0
Kaninchen
Bodensatz, darüber !/2 cm breite dunkelrothe Zone und 1 cm breite
stimmt)
lichtrothe Zone.
I Tag alte Zuckerbouillon anaerob
20
Die Flüssigkeit über der dunkelrothen Zone weingelb.
A-Gifc
1-0
Kaninchen
Auflösung mit geringem Bodensatz.
(Verunreinigung in einer Tetanus-
0 5
Die Flüssigkeit oben scharlachrot!], nach unten violett.
cultur)
1 0
Mensch 1, 2
Geringe Auflösung mit violetter Verfärbung.
0-5
Keine Auflösung.
1-0
Pferd
Auflösung ohne Bodensatz.
0-6
Die Auflösung geringer, Bodensatz.
A-Gift
L0
Schwein
Bodensatz darüber die Flüssigkeit violettroth, nach oben Scharlach-
0-5
roth.
10
Rind
Minimaler Bodensatz, starke Auflösung.
u o
P0
Meerschweinchen
Geringere Auflösung wie Rinderblut.
0-5
Klare Flüssigkeit mit rothem Bodensatz.
Bodensatz, darüber eine 1 cm hohe lichtrothe, schleimige Masse; die
Flüssigkeit darüber klar.
Controlen:
Kaninchen
Mensch 1, 2
Pferd
Rind
Meerschweinchen
Schwein
Ziege
verschieden sind, so sind auch die hämolytischen Werthe ver¬
schieden.
3. Das Hämolysin des Tetanustoxins wirkt in gleich
hohen Concentrationen hämolytisch auf Kaninchen, Meer¬
schweinchen-, Rinder- und Pferdeblut. Schweine- und Ziegen¬
blut wurde bei dieser Concentration des Giftes nicht auf¬
gelöst. —
Es galt jetzt festzustellen, ob die hämolytischen Wir
kungen eine specitische Eigenschaft der Tetanusbacillen allein
seien, oder ob auch anderen Bacterien das Vermögen zukomme,
solche Gifte zu produciren.
Zu diesen \ ersuchen wählten wir pathogene, nicht patho¬
gene, virulente, avirulente, toxinbildende und atoxisehe Bac¬
terien. Es war denkbar, dass auf diese Weise für die eventuell
gefundenen Hämolysine gewisse Anhaltspunkte zu gewinnen
wären. Die Prüfung der Gifte geschah nicht nur auf Kanin¬
chenblut, sondern auf verschiedene Blutarten (Menschen-,
Pferde-, Rinder-, Schweine-, Ziegen-, Meerschweinchenblut).
(Tabelle 11.)
Wenn wir an der Hand der vorangehenden Tabelle die
Ergebnisse unserer Versuche zusammenfassen, so würde sich
Folgendes ergeben:
1. Die hämolytische Eigenschaft ist nicht allein dem
Tetanustoxin eigen, auch verschiedene andere Bacterienculturen
besitzen diese Eigenschaft.
2. Die Hämolysine der verschiedenen Mikroorganismen
sind in ihrer Intensität verschieden (siehe Cholera, Tetanus).
3. Man findet bei ein und derselben Bacterienart Stämme,
welche kein Hämolysin produciren, und solche, welche starke
Gifte bilden (siehe Cholera, Staphylococcen). Die Art des
Nährbodens scheint für die Bildung von Hämolysinen von Be¬
deutung zu sein (siehe Coli).
4. Die Blutkörperchen verschiedener Thierarten sind
gegenüber den verschiedenartigen Hämolysinen ungleich resi¬
stent. Auch bei ein und derselben Thierart können individuelle
Resistenzverschiedenheiten gegenüber einem bestimmten Gifte
Vorkommen.
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
53
5. Die Resistenzverschiedenheit der Blutkörperchen der
verschiedenen Thierarten ist eine relative. Ein schwaches Hä¬
molysin (Tetanus) vermochte z. B. selbst in grösseren Dosen
Schweineblut und Ziegenblut nicht aufzulösen, ein stärkeres Gift
(das A-Gift) hat in denselben Concentrationen Schweineblut,
nicht aber Ziegenblut aufgelöst und das sehr wirksame
Choleragift löst alle untersuchten Blutarten auf. Diese Resi¬
stenzverschiedenheit kommt auch bei der quantitativen Aus-
werthung von starken Giften (Cholera- und A-Gift) zum Aus¬
druck. Mittelst ein und desselben stark wirksamen Giftes
lässt sich demnach eine relative Scala der Resistenz der rothen
Blutkörperchen bei verschiedenen Thierarten auf stellen.
6. Die Hämolysine sind schon in eintägigen Culturen
vorhanden.
7. Die Hämolysinwerte schwanken in ein und derselben
Cultur und können sogar verschwinden (siehe Coli).
8. Die Hämolysine bewirken oft ausser einer Auflösung
der rothen Blutkörperchen, auch eine Umwandlung des Hämo¬
globins (analog manchen methämoglobin bildenden Blutgiften).
Die mitgetheilten Versuche wurden insgesammt im Reagens¬
glase ausgeführt.
Zur Ergänzung dieser makroskopischen Versuche wurden
dieselben Versuche auch im hohlen Objecträger angestellt. Die
mikroskopische Beobachtung ist auch als Methode zu empfehlen,
weil der Auflösungsprocess sich bei der geringen Zahl von Blut¬
körperchen sehr rasch vollzieht und genau verfolgt werden
kann.
Zur Verwendung gelangte dasselbe Blut und dieselben
Gifte, wie bei den makroskopischen Versuchen. Die hohlen
Objectträger wurden bei einer Temperatur von 37° gehalten.
Die Versuche mit Tetanustoxin 38 ergeben bei einem
Verhältniss von 1:1 nach einer Stunde bei 37°, mikroskopisch
im Centrum des Tropfens gut erhaltene rothe Blutkörperchen,
jedoch bei Weitem spärlicher als im Controlpräparat; bei
makroskopischer Betrachtung sieht man im Centrum des
Tropfens eine punktförmige rothe und durchsichtige Stelle;
die Peripherie ist hellroth gefärbt.
Bei Versuchen mit A-Gift sieht man nach eiuer Stunde
nur wenige Blutkörperchen, nach drei Stunden sind auch
diese verschwunden. Makroskopisch sieht der Tropfen gleich -
raässig hellroth gefärbt aus.
Die Choleracultur (Laboratoriumsstammm), welche in den
makroskopischen Versuchen gar kein Auflösungsvermögen
zeigte, erweist sich bei Anwendung dieser Methode im Ver¬
hältniss 1 : 1 ebenso hämolytisch, wie das Tetanustoxin.
Die Choleracultur Paris bei einer Verdünnung 1 : 1 hat
eine vollständige Auflösung zur Folge.
Bei einer Verdünnung des Choleragiftes (1 : 10) findet
man in derselben Zeit spärliche rothe Blutkörperchen.
Bei einer Verdünnung 1 :20 sind die rothen Blutkörperchen
zahlreicher als bei der Verdünnung 1 : 10, doch nicht so zahl¬
reich, wie im Controlpräparat.
Diese wenigen mikroskopischen Versuche stimmen in
ihren Resultaten mit den makroskopisch gewonnenen ziemlich
überein. Die Bestimmung der unteren Grenze eines schwachen
hämolytischen Giftes und der oberen Grenze eines stark
wirkenden Giftes lässt sich mit Hilfe dieser Methode, welche
schon von Landois für die Resistenzbestimmung der rothen
Blutkörperchen angegeben ist, viel exacter durchführen als
makroskopisch. Näheres über den Auflösungsprocess selbst
konnten wir mikroskopisch nicht ermitteln.
II. Ueber Antihämolysine.
Wie bereits angeführt wurde, ist es Ehrlich und
Madsen gelungen, die hämolytische Wirkung des Tetano¬
lysins mittels Tetanusantitoxin zu paralysiren. Madsen führt
aus den Beobachtungen Ehrlich’s blos an, dass jedem der
beiden Gifte im Tetanustoxin, nämlich dem Tetanolysin und dem
Tetanospasmin ein besonderes Antitoxin, welches im Tetanus¬
antitoxin vorhanden sein soll, zukomme. Wenn man ver¬
schiedene Tetanussera, die durch Immunisirung von Thieren
mit dem beide Gifte enthaltenden Rohgifte erhalten sind, so
findet man. dass ihre neutralisirende Wirkung dem Tetanolysin
und dem Tetanospasmin gegenüber nicht parallel geht. Ein
Serum, das stark antispastisch war, fand Ehrlich ohne anti¬
lytische Wirkung. In der an den Vortrag Kossels (Berliner
klinische Wochenschrift. 1898, pag. 273) sich anschliessenden
Discussion bemerkt noch Ehrlich, dass häufig auch nor¬
males Pferdeserum die hämolytischen Wirkungen des Tetanus¬
toxins zu paralysiren im Stande sei. Diese Thatsache wäre
wegen ihrer Wichtigkeit und zugleich als Ergänzung zur
Arbeit Madsen’s anzuführen.
Da aus der Arbeit M a d s e n’s eine exacte Beweisführung
für die angenommene Specificität der Antilysine nicht zu er¬
sehen war, wollten wir zunächst daran gehen, die bezüglichen
Versuche zu wiederholen. Vor Allem war es wichtig, zu sehen,
ob nicht dem normalen Blutserum als solchem antihämolytische
Eigenschaften zukommen. Erst dann, wenn diese Versuche ein
negatives Resultat ergeben hatten, konnten positive Versuche
mit Tetanusantitoxin als ein Zeichen seiner Specifität ge¬
nommen werden.
So haben wir denn zunächst normales Serum von ver¬
schiedenen Thieren auf seine antihämolytischen Wirkungen dem
Tetanustoxin gegenüber geprüft. Die Versuche wurden so
an gestellt, dass frische normale Sera in verschiedenen Ver¬
dünnungen zu verschiedenen Mengen des hämolytischen Tetanus¬
toxins zugesetzt wurden, das Gemisch bis zwei Stunden bei
37° stehen gelassen und dann den Blutkörperchen zugesetzt.
Tabelle III.
Versuche über antihämolytische Wirkung von normalem Serum.
Gift
Serum
Blutart
Art
Menge in
Cubik-
centi-
metern
Art
Menge in
Cubik-
centi-
metern
Tetanustoxin
TO
normales Pferdeserum
1-0
Kaninchen
0-5
Kaninchen
0-2
Kaninchen
0 5
T0
Kaninchen
05
Kaninchen
0-2
Kaninchen
Co n tr ol e :
Tetanustoxin
10
Kaninchen
Resultat nach 24 Stunden
Keine Auflösung, wie Controlpräparat.
Totale Auflösung.
Ein weiterer Versuch mit einem anderen hämolytisch wirkenden Tetanustoxin
serum (Pferd) fiel ganz analog aus.
und normalem Pferüeserum, Streptococcenserum, lyphu
54
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 3
Tabelle IV.
Versuche über antihämolytische Wirkung verschiedener Sera gegenüber dem A-Gift.
Gift
Art
Serum
Menge in
Cubik-
centi-
metern
Art
Menge in
Cubik-
ceuti-
metern
Blutart
Resultat nach 24 Stunden
10
normales Pferdeserum
Streptococcenserum (Pferd)
Typhusserum (Pferd)
Tetanusserum
(flüssiges Serum)
Höchst
1-0
1-0
10
1-0
Kaninchen
Kaninchen
Kaninchen
Kaninchen
Keine Auflösung.
1-0
Kaninchen
Totale Auflösung.
A-Gift
Controle:
A-Gitt
Nach Zusatz des Serum- und Giftgemenges wurden abermals
die Reagensgläser auf 37° gestellt und hernach 24 Stunden
bei Zimmertemperatur gelassen. Das Blut wurde ebenso be¬
reitet, wie in den Versuchen mit den Hämolysinen. (Tabelle III.)
Anschliessend an die makroskopischen Versuche wurden
dieselben Versuche im hängenden Tropfen angestellt. Das
Tetanustoxin wurde mit dem Serum gemischt, zwei Stunden
bei 37° stehen gelassen und dann zum Blut im Verhältniss
1 : 1 zugesetzt (Oesenmethode). Nach einer Stunde war
keine Auflösung vorhanden, das Präparat bot das Aussehen
eines Controlpräparates. Die nur mit Tetanustoxin ver¬
setzten Blutkörperchen waren zum grossen Theil aufgelöst,
nur im Centrum des Tropfens sind gut erhaltene rothe
Blutkörperchen zu erkennen. Bei makroskopischer Betrachtung
desselben Tropfens sieht man im Centrum eine punktförmige
rothe Stelle, welche den erhaltenen rothen Blutkörperchen
entspricht, die Peripherie des Tropfens ist hellroth.
Ein zweiter Versuch mit einem anderen normalen Pferde¬
serum und einem hämolytischen Tetanustoxin fiel ebenso aus
wie der eben angeführte.
Schon diese Versuche sind unserer Auffassung nach an-
gethan, die von Ehrlich und Madsen angenommene
Specificitätdes Antitetanolysins zu entkräften.
Der nächstfolgende Versuch soll ebenso nachzuweisen trachten,
dass schon im normalen Serum antihämolytische Substanzen
vorhanden sind; ausserdem beweist er noch, dass das hämo¬
lytische G i f t *(T e t an o 1 y s i n), ebenso wie das an¬
genommene specifische Gegengift nicht spec i-
f is ch sind. (Tabelle IV.)
Aus diesen Versuchen ergibt sich, -dass die Wirkungen der
Hämolysine des Tetanustoxins und die eines anderen Giftes
mit normalem Pferdeserum aufgehoben werden können.
Nachdem wir mit verschiedenen Mikrorganismen hämo¬
lytische Wirkungen erzielen konnten, lag es nahe, zu unter¬
suchen, ob das normale Pferdeserum auch diesen Giften
gegenüber antihämolytische Eigenschaften zu entfalten im
Stande sei, ferner, inwieweit auch anderen Serumarten ver¬
schiedener Thiere diese antihämolytische Kraft zukomme. Die
Versuchsanordnung blieb dieselbe, wie bei den Versuchen mit
Tetanustoxin. (Tabelle V.)
Diese Versuche zeigen, dass ein beliebiges hämo¬
lytisches Gift, welches Kaninchenblut auflöst,
durch normales Pferdeserum in seiner Wirkung
paralysirt werden kann. Es genügen häufig
schon geringe Mengen normalen Pferdeserums
(ein Tropfen) um die Wirkung der Hämolysine
Tabelle V.
Versuche mit verschiedenen Giften und verschiedenen Serumarten.
Gift
Serum
Blutart
Art
Menge in
Cubik-
centi-
metern
Art
Menge in
Cubik-
centi-
metern
A-Gift
1-0
_
Kaninchen
0-5
—
02
_
10
1 normales Pferd 1
10
l
0-5
0-5
| Streptococcenserum (Pferd) [
0-2
A-Gift
10
Typhusserum (Pferd)
10
Kaninchen
O'ö
Kaninchen
01
Kaninchen
1 Tropfen
Kaninchen
normales Pferdeserum
10
Kaninchen
1, 2, 3
O'ö
Kaninchen
0'2
Kaninchen
Schweineserum
10
Kaninchen
05
Kaninchen
02
Kaninchen
Cholera Paris
1-0, 0-5
_
_
Kaninchen
10
Typhusserum (Pferd)
1-0
0’5
0-5
A-Gift
10
Kaninchenserum
10
Kaninchen
0-5
1
l
02
Resultat nach 24 Stunden
Sehr starke Auflösung-, geringer Bodensatz.
Bodensatz etwas reichlicher, die Schichte darüber
hellroth, die unterste violett.
Geringe Auflösung.
Keine Auflösung, wie Controle.
Keine Auflösung.
Keine Auflösung.
Keine Auflösung.
Totale Auflösung.
Totale Auflösung.
Totale Auflösung.
Auflösung wie im Controlröhrchen mit dem
A-Gift.
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
55
Tabelle VI.
Versuche über antihämolytische Wirkung normaler Sera gegenüber verschiedenen Giften bei verschiedenen
Blutarten.
Gift
Serum
Menge
Menge
Blutart
Resultat nach 24 Stunden
Art
Cubik-
Art
Cubik-
centimeter
centimeter
A-Gift
1-0
Pferd
Totale Auflösung ohne Bodensatz.
1-0
normales Pferd 1, 2
10
Keine Auflösung.
—
05
—
Kaninchen
0-5
Keine Auflösung.
—
Schwein
05
Keine Auflösung.
Cholera Paris
0-5
_
_
Pferd
Totale Auflösung.
I
0-5
normales Pferd 1, 2
10
—
Kaninchen
PO
1 Totale Auflösung.
—
Schwein
PO
1
A-Gift
1-0
_
Kind
Intensive Auflösung, obere Zone roth, geringer
Bodensatz.
1 0
normales Pferd 1, 2
Kaninchen
1 SS
1 Keine Auflösung.
—
Schwein
J
Cholera
0-5
_
_ _
—
Spärlicher Bodensatz, Auflösung.
0-5
Pferd 1, 2
Kaninchen
j PO
Auflösung wie im Controlröhrchen.
—
Schwein
1
Geringe Auflösung, nur über dem Bodensatz
eine circa 1 cm roth gefärbte Zone.
A-Gift
PO
_
Schwein
Starker Bodensatz, die untere Hälfte violett-
roth, die obere Zone hellroth.
10
Pferd 1, 2
0-5
I
—
Kaninchen
—
\ Keine Auflösung.
—
Schwein
—
1
Cholera
0-5
—
—
Geringer Bodensatz, sehr starke Auflösung.
Cholera Paris
0*5
Pferd 1, 2
)
Schwein
| Die Auflösung geringer als im Control-
—
Kaninchen
PO
J präparat.
—
Schwein
1
Keine Auflösung.
A- Gift
PO
—
Ziege
Keine Auflösung.
Cholera
0-5
_
—
Totale Auflösung.
0-5
Pferd 1, 2
Kaninchen
j PO
j Totale Auflösung.
—
Schwein
1
Viel geringere Auflösung.
aufzuheben. Für sehr wirksame, Gifte wie z. B. das
Choleragift, genügen die Serumzusätze, welche dieselben
Mengen eines anderen schwächeren Hämolysins zu para-
lysiren im Stande sind, nicht.
Das eigene Serum (Kaninchenserum) vermochte manchmal
die Wirkung der Hämolysine auf eigenes Blut nicht auf¬
zuheben.
Die nächstfolgenden Versuche sollten nachweisen, ob
nicht auch die antihämolytische Wirkung normaler Thiersera
bei Anwendung verschiedener Gifte auf verschiedene Blut¬
arten bestehe (Tabelle VI).
Diese Versuche ergeben im Allgemeinen, dass die hämo¬
lytische Wirkung verschiedener Bacteriengifte auf verschiedene
Blutarten durch normale Thiersera paralysirt werden kann.
Die Giftneutralisirung durch normale Sera ist jedoch keine
unbedingte. Für intensive Gifte (Cholera) haben manche Sera
(Pferd, Kaninchen) in den angewandten Mengen nicht aus¬
gereicht, wo ein anderes normales Serum (Schwein) para-
lysirend wirken konnte. Selbst die letztere Wirkung ist keine
allgemeine, sondern gilt nur, wie aus den Versuchen zu er¬
sehen, für bestimmte Blutarten. Es scheint demnach, dass auch
verschiedene Sera verschieden intensive antihämolytische
Substanzen enthalten können.
Neben diesen makroskopischen Versuchen wurden noch
mit derselben Versuchsanordnung Versuche im hohlen Object¬
träger ausgeführt. Es wurden die verschiedenen Gifte mit den
verschiedenen Serumarten im bestimmten Verhältniss ge¬
mischt, eine Stunde bei 37° belassen und davon eine Oese mit
einer Oese der Blutmischung versetzt und eine Stunde lang bei
37° beobachtet.
Es ergibt sich hiebei, dass das Typhusimmunserum
(Pferd) und normales Pferdeserum die Auflösung, welche das
A-Gift bedingt, vollständig hemmen, dass normales Pferde¬
serum in ganz geringem Grade die hämolytische Wirkung
des Choleragiftes hemmt. Die Auflösung ist nicht so vollständig
wie im Controlpräparat, sondern man sieht zwischen amorphen
Schollen spärliche, erhaltene rothe Blutkörperchen.
Wenn man das Choleragift verdünnt auf 1 : 10 und 1 : 20,
so dass das Auflösungsvermögen kein so starkes ist, so findet
man bei Zusatz von einer Oese des normalen Pferdeserum-
und Giftgemenges zu einer Oese Blutmischung bei der Ver¬
dünnung 1:10 sehr viele rothe Blutkörperchen, viel zahl¬
reicher als im Controlepräparat bei derselben Giftverdünnung.
Analoge Verhältnisse ergeben sich bei einer 20fachen Ver¬
dünnung des Giftes.
III.
In der Arbeit »Ueber Heil versuche im Reagensglase«
zeigt Madsen, dass es binnen der ersten 15 Minuten, so
lange keine Lösung eingetreten war, möglich ist, durch Anti¬
toxin jede toxische Wirkung zu verhindern; dies geschah,
trotzdem, wie die Controlversuche zeigten, bedeutende Mengen
56
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 3
Tetanolysin schon an die rothen Blutkörperchen gebunden
waren. Aber auch 30 Minuten nachdem die Lösung angefangen
hatte und selbst wenn sie ein bis zwei Stunden nach dem
Giftzusatz weit fortgeschritten war, war man durch hinlänglich
grosse Antitoxinmengen im Stande, der weiteren Lösung Ein¬
halt zu thun, so dass die definitive, 24 Stunden später wahr¬
genommene Farbennuance nicht stärker als die im Control¬
glase gefundene wurde.
Wir stellten blos Versuche zu dem Zwecke an, um zu
erfahren, ob auch mittelst normalen Serums ähnliche Wirkungen
in Bezug auf »Heilung« zu erzielen seien.
Der präventive Versuch wurde so angestellt, dass Pferde¬
sera (10 cm3) zu den Blutkörperchen (Kaninchen) im Reagens¬
glase und nach 2Y2 Stunden die wirksamen hämolytischen
Bacteriengifte zugesetzt wurden. Die Röhrchen wurden
eine Stunde im Brutkasten und 24 Stunden bei Zimmer¬
temperatur belassen. Darnach war entweder gar keine oder
nur eine minimale Auflösung zu constatiren. Wurde 1 cm3
A-Gift mit normalem Serum gleichzeitig dem Blute zugesetzt,
trat keine Auflösung auf. Wurde aber vorher Gift zugesetzt
und schon nach einer oder 2'/2 Stunden, ja selbst nach zehn
Minuten, wie Versuche im hängenden Tropfen lehrten, nor¬
males Pferdeserum hinzugefügt (curativer Versuch), trat Auf¬
lösung wie im Controlpräparate auf. —
Schliesslich wurde der Einfluss höherer Temperaturen
auf die Wirkung der Hämolysine und Antihämolysine geprüft,
wobei sich die Thatsache ergab, dass bei 60° durch 15' die
hämolytischen Eigenschaften der Gifte zu Grunde gehen,
die Antihämolysine aber nicht geschädigt werden. —
Einstweilen konnten wir uns auf die Verfolgung ver¬
schiedener aus diesen Untersuchungen sich ergebender Fragen,
wie einer eventuellen Steigerung des antihämolytischen Factors
im eventuellen Immunserum, die Umwandlung des Hämo¬
globins, die Eruirung der Verhältnisse bezüglich der Variabilität
der hämolytischen Eigenschaft bei ein und demselben
Mikroben u. s. w. nicht einlassen; denselben sollen weitere
Untersuchungen gewidmet sein.
Wir wollten zunächst nur die Thatsachen, wie wir sie
gefunden haben, mittheilen und als wichtigstes Ergebniss fest¬
stellen, dass verschiedene Mikroorganismen hä¬
molytische Gifte den Blutkörperchen verschie¬
dener Thierarten gegenüber entwickeln und
dass normale Blutsera diese hämolytischen Wir¬
kungen aufzuheben im Stande sind. Die antihämo¬
lytische Wirkung des normalen Serums ist allem Anscheine
nach eine Fermentwirkung.
Aus der allgemeinen medicinischen Klinik des Prof. Bozzolo
und aus dem Institute für specielle medicinische Pa¬
thologie des Prof. Silva in Turin.
Beitrag zur Kenntniss der pseudochylösen
Ascitesformen.
Von Dr. F. Micheli und Dr. Gr. Mattirolo, Assistenten.
In der Pathologie der milchartigen Ergüsse in den grossen
serösen Körperhöhlen herrschen nicht mehr die einstigen, etwas
absolutistischen Anschauungen und die Theorien, die Alles einer
einzigen Grundursache entnahmen, vor, sondern mehr weit¬
gehende und zusammenfassende Vorstellungen, die zu dem
last allgemein angenommenen Schlüsse führten, dass nämlich
die Pathogenese der sogenannten milchartigen Ergüsse ver¬
schieden sein muss und der Entstehungsmechanismus solcher
Flüssigkeiten auf vielfältige ätiologische Momente zurück¬
zuführen ist. Die neueren Autoren, die sich mit diesem Krank¬
heitsbilde befasst haben, sammelten das reiche Material von
klinischen Fällen, die in der Literatur verzeichnet sind und
trugen so vielfach zur Vervollständigung der classischen Ein-
theilung Q u i n c k e’s 3) bei. V e r d e 1 1 i 2), Botmann3) und
Ceconi4) ergänzen, von der bereits im Jahre 1892 von
Maragliano5) ausgesprochenen Ansicht ausgehend, die
Gruppe der verschiedenen chylösen und chylusähnlichen Ascites¬
formen mit einer neuen Varietät, dem sogenannten gemischten
Ascites. Die milchige Trübung ist in denselben durch den
Beitritt von Chylus und durch eine fettige Degeneration von
Zellen zu erklären. Es kommt endlich noch eine letzte Form
hinzu, die milchähnlichen Ergüsse, deren Opalescenz durch
die Fette, welche in sehr geringen Mengen darin enthalten
sind, nicht bedingt ist. Wir werden uns vorläufig mit den
letzteren beschäftigen, behalten uns aber vor, auch die anderen
Formen zu besprechen, gestützt auf Fälle, die wir persönlich
zu beobachten Gelegenheit hatten.
Die Ascitesformen, die in die letzte Kategorie einzureihen
wären, finden sich in der Literatur nicht besonders zahlreich
beschrieben, dürften aber trotzdem nicht so selten Vorkommen,
da man vorausselzen kann, dass unsere Aufmerksamkeit erst
in der jüngsten Zeit auf diese gelenkt wurde, früher aber
dieselben in Folge der mangelhaften chemischen und mikro¬
skopischen Untersuchungen unter die chylösen und chylus-
förmigen Ergüsse gezählt wurden.
In der That lassen sich solche Ergüsse, bei oberfläch¬
licher Betrachtung, gar nicht von den fetthaltigen unter¬
scheiden. Beide Flüssigkeiten haben eine weissliche oder
weissgelbliche Farbe, sind opalescirend und gleichen der Milch ;
sie haben eine gleiche Widerstandskraft gegen Fäulniss, beide
enthalten mehr weniger Formelemente und lassen sich leicht
sedimentiren. Durch Filtration wird ihre Opalescenz nicht
beeinflusst, ebensowenig durch Sedimentation, wie durch die
Centrifuge.
V e r d e 1 1 i war der Erste, der darauf bestand, dass neben
den andern milchähnlichen Ascitesformen der oben erwähnten
Form ein gesonderter Platz gebühre, es darf aber auch nicht
unerwähnt bleiben, dass Quincke6) schon im Jahre 1882
milchähnliche Ergüsse beschreibt, deren Opalescenz nicht von
einer fettigen Substanz stammt, vielmehr durch die Anwesen¬
heit von sehr zahlreichen albuminösen Körnchen bedingt sei.
Vor Ver del li war noch L e t u 1 1 e7), der nicht immer das
Fett als Ursache der charakteristischen Opalescenz in solchen
milchartigen Ergüssen, die manchmal das Fett kaum in Spuren
enthalten, ansah. Ein solcher Fall wurde auch von Lion8)
im Jahre 1893 publicirt.
Wir geben hier ein Verzeichniss der in der Literatur
gesammelten Fälle:
1. Quincke, 1882, 1. c.
2. Liu n, 1893, Ovarial- und Peritonealkrebs, 1. c.
3. V e r d e 1 1 i, 1894, 1. c. Mesenterial-Sarkom.
4. Achard, 1895, Societe medicate des höpitaux de Paris.
15. Nov. 1896.
5. Saineton, 1897, Gaz. hebdom. de med. et chir. Nr. 6. Pylorus-
und Duodenalcarcinom.
6. Apert, 1897, Soc. anat. de Paris. Febr. 1897. Saturnismus und
Mitralinsufficienz.
7. Ceconi, 1897, Riforma medica. I, pag. 604. Einseitiger Erguss
in der Pleura und in der Bauchhöhle.
8. Brasch, 1897, Gesellschaft für innere Medicin in Berlin.
17. Mai 1897. Tuberkel der Mesenterialganglien, Darmtuberculose.
9. Verdelli, 1897, »II Morgagni«. December 1897. Lebercirrhose.
Dieser Kategorie könnte man nach Ceconi einen
der drei Fälle von milchartigem Ascites zuzählen, dessen
chemische Analyse Me hu in seinem Lehrbuche der prak¬
tischen Chemie darlegt. Der Fettgehalt betrug in diesem Falle
nicht mehr als 0’48%0. Eine weitere Mittheilung liegt uns
von Bianchi (Sperimentale. 1886), auf Grund einer Beob¬
achtung von Taddei (1845), vor, der in einer Hydrokele
eine milchartige Flüssigkeit fand, bei der die chemische Unter¬
suchung keinen Fettgehalt ergab.
Verdelli beschreibt in seiner letzten Arbeit, neben
dem schon erwähnten Falle von Lebercirrhose mit milchartigem
Ascites mit Mangel an Fett, weitere drei Fälle, die nur mini¬
male Fettmengen (0T3 — 0'37°/00) enthielten und daher unter
die in Rede stehenden Formen zu gehören scheinen. Die
Zahl der bis jetzt bekannten Fälle ist nicht grösser als 14.
Was die diagnostische Bedeutung solcher Ergüsse, die des
Fettes entbehren, anbelangt, so kann man sie in dieser Hin¬
sicht gar nicht verwerthen, da unter gleichen Bedingungen,
eben so gut ein Erguss mit wirklichem Fettgehalte entstehen
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. lüOO.
57
kann. Bereits alle Autoren erkennen in diesen Formen einen
albuminösen Ursprung. Quincke fand in einem milchähn¬
lichen Ergüsse eine grosse Quantität von albuminösen Körn¬
chen, die auf der Oberfläche der Flüssigkeit eine dicke, rahmige
Schichte bildeten; er sieht diese Körnchen als Urheber der
milchigen Trübung an, und bezeichnet den Process etwas
ungenau als albuminöse Emulsion.
Lion meint, dass in seinem Falle das charakteristische
Aussehen des Ascites durch eine albuminöse Substanz bedingt
sei, die in naher Beziehung zum Casein steht. Bei anhaltendem
Sieden und mit starken Säuren behandelt, spaltet sie einen
Körper ab, der die Fähigkeit hat, eine mit Kalilauge erhitzte
Lösung von Kupfersulfat zu reduciren, eine Eigenschaft, die
uns wohl erlauben darf, dieselbe zu den Glykoproteiden von
Hamm arsten 9) zu rechnen.
Das Wesen der Entstehung dieses Ascites besteht nach
Lion in einer eigentlnimlichen Degeneration von Krebszellen
unter Bildung einer protoplasmatischen Substanz, die in der
Flüssigkeit enthalten ist.
Es muss aber gleich hervorgehoben werden, dass mit
dem Nachweise solcher Elemente im Ascites uns Lion noch
nicht gezeigt hat, dass das charakteristische Aussehen des
letzteren durch die von ihm angenommene Substanz hervor¬
gerufen sei. Dazu kommt noch der Umstand, dass Zanetti
im Laboratorium des Prof. C i a m i c i a n eine Proteinsubstanz
aus der Gruppe der Mucinoiden oder Glykoproteiden (Sero-
mucoiden) gefunden hat, die in Bezug auf ihre physikalischen und
chemischen Eigenschaften der von Lion isolirten Substanz sein-
nahe steht, was uns wohl zu dem berechtigen Schlüsse führt,
dass diese Proteinsubstanz zu den Seromucoiden gehört, die nor¬
maler Weise im Blutserum enthalten sind, ohne dasselbe zu
trüben. Die französischen Autoren fanden in ihren Fällen Fett in
sehr geringen Mengen vor. Unter dem Mikroskope betrachtet,
ergab die Flüssigkeit sehr zahlreiche feine Körnchen, die sich
sehr rasch bewegten, sich mit Osmiumsäure nicht färbten und
in Aether unlöslich waren. Diese Körnchen aus deren Eigen¬
schaften die albuminöse Natur derselben erhellt, wurden für
die Opalescenz der Flüssigkeit verantwortlich gemacht. Nach
V e r d e 1 1 i beruht die Opalescenz der von ihm untersuchten
Flüssigkeit auf einer besonderen moleculären Aggregation der
Globuline; die übrigen Autoren beschränken sich, ohne ein¬
gehende Untersuchungen vorgenommen zu haben, auf die
Angabe der Fettquantität in den von ihnen geprüften Er¬
güssen und scheinen insgesammt die albuminöse Natur der
Opalescenz anzunehmen.
Es steht fest, dass der Fettgehalt, welcher sich in diesen
Ergüssen vorflndet, absolut ungenügend ist, um deren milchiges
Aussehen zu erklären. Die Fettmenge schwankte zwischen
0T2 — 0‘48 — 0'67%0. Nach den Angaben von Let u Ile sind
mindestens P5%0 Fett in Emulsion erforderlich, um eine milchige
Trübung der Flüssigkeit hervorzurufen, andererseits hat Ver-
delli gezeigt, dass sich noch grössere Quantitäten Fettes in den
gewöhnlichen serösen Ergüssen (Exsudat, Transudat) vorfinden
können. Es ist wahrscheinlich, dass, wie C e c o n i hervorhebt, die
Ursache dieser Erscheinung nicht immer die gleiche ist. Es kann
somit das Bestehen einer besonderen Gruppe von milchartigen
fettarmen Ergüssen, deren Opalescenz dem Vorhandensein von
albuminösen Körnchen zuzuschreiben ist, als bewiesen an¬
genommen werden. Zu dieser Gruppe dürften die Fälle von
Quincke, Ac hard, Sainton und Apert gehören. Dies
wäre, wie A chard hervorgehoben hat, in eine gewisse Ana¬
logie mit der milchähnlichen Beschaffenheit des Serums zu
bringen, auf welche in jüngster Zeit die französischen Autoren l0)
uns aufmerksam gemacht haben, wiewohl dieses Phänomen
schon den älteren Aerzten, die vielfach vom Aderlässe Ge¬
brauch machten, bekannt war. Es geht aus allen diesen Unter¬
suchungen und Nachforschungen hervor, dass das menschliche
Blutserum unter besonderen Verhältnissen, speciell bei der
Nephritis, und hier sind hauptsächlich die acuten und sub¬
acuten Formen gemeint (Ca staig ne), ferner bei gewissen
physiologischen Zuständen (so nach einer reichlichen Mahlzeit),
desgleichen das Thierblut sei es physiologischer Weise, sei
es aus dem Versuchsthiere stammend, ein milchartiges Aus¬
sehen ähnlich den oben erwähnten Ergüssen annehmen kann.
In"einigen solcher Fälle von milchartigem Serum soll sich mikro¬
skopisch eine Menge ungemein kleiner albuminöser Körnchen
vorgefunden haben; die letzteren wurden in diesem milch¬
ähnlichen Serum bereits von F r e r i c h s beschrieben und von
den französichen Autoren als Ursache der Opalescenz an¬
gesehen.
Die Analogie zwischen diesen milchartigen Ergüssen
mit wenig Fettgehalt und dem milchigtrüben Blutserum
leuchtet ein, so dass man nothdürftig eine Hypothese in dem
Sinne aufstellen kann, dass in beiden Erscheinungen sich die
gleichen Veränderungen abspielen, ohne aber damit gesagt zu
haben, dass zwischen ihnen ein Verhältniss in Bezug auf
Ursache und Wirkung bestünde. Für die in Rede stehenden
Fälle wenigstens sind solche Beziehungen nicht zu ermitteln,
denn in keinem der erwähnten Fälle war Nephritis nachzu¬
weisen, und auch Sainton konnte von seinem Patienten
ein vollkommen klares Serum gewinnen. Wir können die
Processe als identisch bezeichnen, wenn wir eine Thatsache
berücksichtigen, auf die uns Ceconi mit Recht hinweist, dass
nämlich die bei der Entleerung vollkommen klare Flüssigkeit,
beim Erkalten milchigtrüb wurde. Dies findet nach Büchner
auch beim Thierexperimente statt, wo das Blutserum durch
das Ausfallen der Ei weisskörper, in Folge der Kälteeinwirkung
eine milchige Trübung annimmt, sich aber nach dem Er¬
wärmen auf 37° sofort wieder klärt. Wie können wir uns
aber die Trübung in den von Lion, Verdelli, Brasch
und Ceconi beschriebenen Fällen erklären, bei denen nicht
eine Spur einer solchen albuminösen Emulsion vorhanden war?
Sind hier immer die albuminösen Substanzen im Spiel, sei es
in Folge ihrer Quantität oder Qualität, sei es in Folge ihrer
eigentümlichen moleculären Aggregation?
Die Wahrscheinlichkeit, dass die Anwesenheit der von
Lion isolirten Substanz das milchige Aussehen des Ascites
erkläre, wird nach dem oben Gesagten immer geringer; des¬
gleichen ist die etwas unklare Anschauung Verdelli’s, ver¬
möge welcher durch eine besondere Zusammensetzung (im
physikalischen Sinne) der Globuline die milchige Trübung
solcher Ergüsse bedingt sei, durch kein Beweismittel ge-
kräftigt.
Wir werden versuchen, diese Fälle zu erläutern, werden
uns aber beschränken, unsere eigenen Beobachtungen zu er¬
wähnen, uns der Hoffnung hingebend, dieses dunkle Capitel
dadurch aufzuklären.
Wir verfügen über vier Fälle von milchartigen Er¬
güssen mit spärlichem Fettgehalte; wir führen die ent¬
sprechenden Beobachtungen in aller Kürze an, indem wir
auf die Einzelheiten der Krankengeschichten in einer anderen
Arbeit zurückkommen wollen. Die chemische Untersuchung
der Ergüsse wurde wiederholt durchgeführt; wir hielten uns
an die Methode von Hoppe-Seyler für die Analyse des
Blutes und der serösen Flüssigkeiten, wie sie Serono11) —
dem wir auch für seine Rathschläge und den persönlichen
Beistand zum Danke verpflichtet sind — in seinem Lehrbuche
angibt.
Wir müssen den Umstand hervorheben, dass wir, um
zu entscheiden, ob die milchige Trübung der Ergüsse dem
Fettgehalte derselben zuzuschreiben sei, uns mit der mikro¬
skopischen Untersuchung nicht begnügten, da sich fein emul-
girtes Fett, wenn in kleiner Menge vorhanden, dem mikro¬
skopischen Nachweise entzieht. Wir machten unsere Bestimmungen
aus grösseren Flüssigkeitsmengen nach der Vorschrift von
Hoppe-Seyler. Nach dieser Methode können auch kleine
Mengen nicht entgehen, während dies leicht geschehen kann,
wenn man sich bei der Fettextraction der Methode von
S o x h 1 e t bedient.
ErsteBeobachtung: Adhäsive Pericarditis, Herzthrombose,
milchartiger Ascites. Es handelt sich um einen 19jährigen jungen
Mann, der mit schweren Erscheinungen von Herzschwäche die
Klinik aufsuchte und derselben nach wenigen Tagen erlag. Das
Abdomen enthielt eine grosse Menge Flüssigkeit; ;) l derselben
wurden entleert und zeigten eine milchige Beschaffenheit, ßei der
58
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 3
Autopsie fand man eine vollständige Verwachsung der Pericardial-
blätter, zahlreiche Polypen in dem rechten Ventrikel und im rechten
Herzohre; der Ductus thoracicus war normal, die Leber cyanotisch,
das Peritoneum glatt. Die Untersuchung der Ascitesflüssigkeit ergab:
kanariengelbe Farbe, milchartig mit grünlicher Fluorescenz; das
Aussehen derselben bleibt lange unverändert, es bildet sich ein
zarter Niederschlag, hei dem die mikroskopische Untersuchung nur
äusserst spärliche Zellenelemente aufweist (einige Endothelzellen,
sowie spärliche Leukocyten), Fett- oder anderweitige Körnchen nicht
vorhanden.
Reaction: alkalisch. Specifisches Gewicht
1014.
11, 0 .
9
964'84°/0I)
Fester Rückstand
. . . •
9
35-16%0
Unlösliche Eiweisssub
stanzen
9
22-20%0
Lösliche Eiweisssubstanzen
9
3-40°/00
Extractivstoffe
9
1 -33700
Asche .
[ Fett
9
7*38 Voo
Aetherischer Auszug
Cholesterin
Lecithin
9
0*737oo
Glykose ....
9
o*oo%0
Zweite Beobachtung: Pankreas-Carcinom, Metastasen
im Peritoneum, milchartiger Ascites. Der Fall bezieht sich auf einen
jungen 20jährigen Mann mit reichlichem Abdominalergusse, der
mehrmals punctirt wurde, wobei sich stets eine reichliche Menge
einer wie Milch beschaffenen Flüssigkeit entleerte. Patient starb
50 Tage nach seiner Aufnahme auf die Klinik.
Autopsie: Krebstumor des Pankreas, secundäre Knoten in
der Leber, das grosse Netz geschrumpft und mit zahlreichen Knoten
besäet; andere Knoten im Peritoneum viscerale und parietale. Die
untereinander verwachsenen Darmschlingen bildeten ein compactes
Convolut; die Mesenterialdrüsen waren infiltrirt, die P e c q u e t’sche
Cysterne um- und durchwachsen von infarcirtem und indurirtem
Gewebe. Die Untersuchung der Flüssigkeit ergab: Auf einmal ent¬
leerte Menge: 10-5/ Liter, Flüssigkeit opak, strohgelb, bildet, sich
selbst überlassen, einen spärlichen Bodensatz und einige kleine
Fibrinflocken; darüber ist die Flüssigkeit gelb, undurchsichtig,
milchartig.
Bei der mikroskopischen Untersuchung des Niederschlages siebt
man einige rothe, mehrere weisse, besonders grosse polynucleäre
Blutkörperchen, einige mehr oder weniger degenerirte Endothelzellen,
äusserst spärliche Fetttröpfchen (Osmiumsäurereaction).
Reaction alkalisch. Specifisches Gewicht 1012.
Die qualitative Analyse ergibt die Gegenwart von Serum¬
albumin, von Glykosen und Salzen; quantitative Bestimmung:
11,0 . .
9
906-51 700
Fester Rück
stand
• • . •
• 9
33-497oo
Asche .
• 9
7-84%0
Fett
Aetherische
Auszüge
Cholesterin
9
©
o""~
O
©
vH
Lecithin
Es wurde von der Bestimmung der Eiweisskörper Abstand
genommen, da dieselben durch die Gegenwart von Pankreasferment
und Trypsin in Peptone umgeführt wurden.
Die durch die späteren Paracentesen entleerte Flüssigkeit hatte
denselben physikalischen, chemischen und morphologischen Charakter
und der ätherische Auszug schwankte zwischen 0'88 — l%o-
Dritte Beobachtung: Secundäres Sarkom der Milz, milch¬
artiger Ascites. Dieser Fall betrifft einen 27jährigen Mann, der nur
einige Tage in klinischer Beobachtung blieb und auf eigenes Ver¬
langen entlassen wurde. Die Diagnose eines secundären Sarkoms
der .Milz nach einem Sarkom der Abdominaldrüsen wurde von
Prof. Bozzolo in einer klinischen Vorlesung erörtert und durch
viele positive Beweise mit scharfen, zwingenden Criterien motivirt.
I >as Abdomen enthielt eine massige Quantität freier Flüssigkeit,
welche bei der Entleerung milchartig erschien.
I nlersuchung der Ascitesflüssigkeit : Dieopalescirende, gelbliche
milchartige Flüssigkeit bildet von selbst ein leichtes weissliches
Sediment, das, mikroskopisch untersucht, aus Leukocyten besteht
last ausschliesslich mononucleären Formen — und aus Zellen, die
zwei- bis dreimal grösser als ein weisses Blutkörperchen erscheinen
mit grossem, central gelegenen Kerne und zartem Protoplasma, das
theilweise mit lichtbrechenden Körnchen (Endothelzellen) versehen
ist, ferner einzelne rothe Blutkörperchen; Fett- oder andere Körnchen
sind weder im Sedimente, noch in den oberen Schichten sichtbar.
Reaction alkalisch. Specifisches Gewicht 101 4-.
11,0 .
• • 9
970-8
%
/oo
Fester Rückstand ....
• • 9
23-2
0/
/oo
Gesammt-Eiweiss . . . .
• • 9
11-4
0/
/oo
Glykose .
• • 9
000
0/
/oo
Salze .
■ ■ 9
8-0
0/
/oo
Aetherischer Auszug .
• • 9
0-9
0/
/oo
Lecithine .
• • 9
0-21
>°/
/oo-
Vierte Beobachtung: Lebercirrhose, chronische Peri¬
tonitis. OOjähriger Mann, der auf die Klinik mit Symptomen von
Lebercirrhose aufgenommen wurde. Neben dem voluminösen, nach
der Entleerung leicht recidi viren dem Ascites zeigte er Flüssigkeits¬
ansammlung in beiden Pleurahöhlen. Die peritoneale und pleurale
Flüssigkeit erschien bei der Entleerung deutlich milchig.
Autopsie: Lebercirrhose, chronische nicht tuberculöse —
Peritonitis. Untersuchung der Flüssigkeit: gelb, undurchsichtig, mit
einem sehr zarten Sedimente, in welchem spärliche Leukocyten,
Endothelien und hie und da lichtbrechende Granula, die sich durch
Osmium schwarz färbten, enthalten waren.
Reaction alkalisch. Specifisches Gewicht 1014.
Peritonealer Erguss:
h2 0 .
• • 9
82-19
o/
/oo
Fester Rückstand
■ ■ 9
17-81
0/
/oo
Eiweisskörper .
• • 9
8-30
0/
/oo
Salze .
• • 9
660
0/
/oo
Zucker .
■ • 9
0-90
0/
/oo
Aetherischer Auszug .
• • 9
0-95
0/
/oo
Lecithine .
■ • 9
OT52%0.
Pleuraler Erguss :
1 J2 O .
• • 9
84-18
%0
Fester Rückstand
• • 9
15-82
%0
Eiweisskörper .
• • 9
7-70
0/
/oo
Salze .
■ ■ 9
5-60
0/
/oo
Zucker .
• • 9
0-80
0/
/oo
Aetherischer Auszug .
• • 9
0-70
0/
/oo-
Im Allgemeinen zeigten die von uns beobachteten Er¬
güsse bei ihrer Entleerung einen ausgesprochen milchigen
Charakter, so zwar, dass sie ohne die chemische Untersuchung
ungezwungen für fetthaltig angesehen werden mussten.
Die Filtration änderte nichts an ihrer Opalescenz, ebenso
wurde letztere durch die Centrifuge nicht beeinträchtigt und
schliesslich konnte an ihnen auch die Behandlung mit Aether
nach Zusatz von Kalilauge keine wesentliche Veränderung er¬
kennen lassen.
Die Fettquantität oder besser gesagt der ätherische
Auszug »Fette, Cholesterin, Lecithin« war nie grösser als
1 y"/0oi hi einzelnen wurde dieser Procentsatz gar nicht
erreicht. In allen den von uns untersuchten Ergüssen
wrar die Menge des ätherischen Auszuges etwas grösser als
die von anderen Autoren in ähnlichen Fällen gefundene
Quantität, reichte aber bei Weitem nicht aus, um in solchen
die Opalescenz zu erklären. Wir haben schon früher erwähnt,
dass die Menge emulgirten Fettes, die nothwendig vorhanden
sein muss, um eine Flüssigkeit opalescirend zu machen, 1 5%0
beträgt (Let u Ile), andererseits wissen wir von Verdelli
her, dass, wenn auch die gewöhnlich in den serösen Ergüssen
enthaltene Fettmenge zwischen 0'10 — 012%0 schwankte,
diese Zahlen um ein Grösseres steigen können, ohne dadurch
der Flüssigkeit ein milchiges Aussehen zu verleihen. So hat
Verdelli in einem pleuritischen Exsudate 0'1933%o Fett
gefunden. Wir hätten somit diese Fälle in die Reihe der pseudo-
chylösen oder pseudo-chyliformen Ergüsse versetzen sollen.
Wir stellten uns aber damit nicht zufrieden, sondern fanden
es für logisch, uns die Frage aufzu werfen, welchen Substanzen
unsere Exsudate ihre Opalescenz zu verdanken haben.
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
59
Wir werden hier nicht dem Leser die Beweggründe und
den Pfad angeben, die uns auf die Spur der Lecithine geführt
haben. Der Umstand, dass wir keine genügende Menge Fett
gefunden haben und auch nicht eine Spur einer albuminösen
Emulsion im Sinne Q u i n c k e’s, veranlasste uns, im ätherischen
Auszuge des Ergusses der zwei letztgenannten Kranken nach
dem Verhalten der Lecithine zu suchen. Die Lecithine linden
sich, wie bekannt, oft neben dem Fette vor und sind zusammen¬
gesetzte Aether, welche aus der Verbindung des Cholin mit
der Glycerinphosphorsäure, die durch ein Fettsäureradical ersetzt
ist (Palmitin, Olein, Stearin) hervorgehen.
Die Lecithine sind sehr verbreitet und linden sich in
allen Zellen und in vielen Flüssigkeiten des Organismus vor;
so im Blute, im Sperma, im Chylus u. s. w. Im menschlichen
Chylus linden sich nach H o p p e - Se y 1 e r 12) auf tausend
Theile Flüssigkeit 7'23 Fette, 2 35 Seifen, L32 Cholesterin,
0-83 Lecithine.
Die Untersuchung unserer Fälle ergab Folgendes bei dem
dritten Falle: ätherischer Auszug 0'9%0, Lecithine 0'25%0;
bei dem vierten: ätherischer Auszug 0 95%0, Lecithine
O152°/0ö.
Es lag uns der Gedanke nahe, dass diese Stoffe, welche
sich neben den Fetten vorfinden und die, mit Wasser gemischt,
eine opalescirende Emulsion bilden, wenigstens theilweise als
Urheber der Opalescenz gewisser Ergüsse anzuspreehen wären.
Dafür fehlte uns aber der Beweis ; diesen zu erbringen, ist
uns aber auf zweierlei Weise gelungen, auf directem und auf
indirectem Wege.
Wir erhielten von Serono eine alkoholische Lösung
von Eierlecithin; die Lösung war rein und enthielt gar keine
Spur von Fett, es war nur eine kleine Menge Lutein darin
enthalten. Eine geringe Quantität dieser Lösung dem Wasser
zugesetzt, ertheilte demselben eine deutliche und anhaltende
Opalescenz, in Allem jener der chylösen und chyliformen
Ergüsse ähnlich. Die Erscheinung Avar noch auffallender, wenn
man ein geAvölmliches, seröses Trans- oder Exsudat zu diesem
Zwecke benützte, dann genügte schon 1 cm 3 der alkoholischen
Lecithinlösung, um 100 cm3 der Flüssigkeit eine charakteristische
Opalescenz zu verleihen. Da die Bestimmung des Lecithins in
der alkoholischen Lösung ein Gehalt von 0-015y Lecithin in
derselben ergeben hatte, so konnten wir als festgestellt be¬
trachten, dass 0'lög Lecithin ausreichten um bei 1000cm3
einer serösen Flüssigkeit eine sehr deutlich auftretende Opa¬
lescenz zu bewirken.
Dadurch fand unsere Voraussetzung, dass bei dem Zu¬
standekommen der Opalescenz der Ergüsse die Lecithine einen
grossen Antheil haben, einen Beweis, dem sicher ein gewisser
Werth nicht abzusprechen ist, denn wir hatten in allen unseren
Fällen einen Lecithingehalt aufzuweisen, der einer solchen
Quantität gleich kam, die hinreichend ist, einer gewöhnlich
serösen Flüssigkeit die Opalescenz zu ertheilen.
Einen directen Beweis lieferte uns ein Verfahren, das
wir Jedem empfehlen möchten, der festzustellen hat, ob die
Lecithine in einem fettarmen Ergüsse dessen Opalescenz be¬
dingen. . Das Verfahren erfordert bei seiner leichten Durch¬
führung keine besondere Fertigkeit und kann die Bestimmung
der Lecithine ersetzen. In einem Reagensglase versetzten wir
wenige Cubikcentimeter des milchartigen Ergusses mit dem
vier- bis fünffachen Volum rectificirten Alkohols um dadurch
die Ausfällung der Eiweisskörper zu erzielen. Durch Erwärmen
im Wasserbade (70 — 80°) werden die Lecithine, die in der
Flüssigkeit möglicher Weise enthalten sind, in Lösung erhalten,
denn die Lecithine sind in warmem Alkohol vollkommen lös¬
lich; thatsächlich war das alkoholische Filtrat in allen unseren
Fällen vollkommen durchsichtig. Wird nun durch Erwärmen
im Wasserbade die Flüssigkeit auf die ursprüngliche Menge
reducirt, d. h. wird der Alkohol nahezu vollständig durch Ab¬
dampfen verdrängt, so erscheint der wässerige Rückstand des¬
selben opalescirend und die Opalescenz nimmt bei Zusatz von
etwas Wasser noch zu.
Dieses Verhalten scheint uns ein zweifelloser, directer
Beweis zu sein, dass die Opalescenz unserer Ergüsse grössten-
theils in Folge der darin einulgirten Lecithine bedingt Avar,
denn keine andere in Alkohol lösliche Substanz konnte ausser
dem Lecithin eine milchige und anhaltende opalescirende
Emulsion bilden, weder die Eiweissstoffe, die in Alkohol un¬
löslich sind, noch die Fette, die in diesem wässerigen Rück¬
stände keine Emulsion eingehen können.
Zum Schlüsse glauben wir zur Genüge bewiesen zu
haben, dass es milchartige Ergüsse gibt, deren Opalescenz nicht
oder Avenigstens nicht ausschliesslich an die Gegenwart von
Fett gebunden ist, wenn dieses in zu kleiner Menge darin
enthalten ist, dass vielmehr die Lecithine an dieser Erscheinung
den Hauptantheil haben. Es bleibt noch festzustellen, Avelche
Rolle die Lecithine bei dem Zustandekommen der Opalescenz
der echten fettigen Ergüsse (Ascites chylosus et chyliformis)
spielen; dass denen eine solche zukommt, dürfte kaum zu be¬
zweifeln sein, da sie mehr weniger zahlreich in dieser ver¬
treten sind.
Literaturverzeichnis s.
') Quincke, Deutsches Archiv für klinische Medicin. 1875,
Bd. XVI, Heft 2.
-) Verdelli, II Morgagni. 1894, Nr. 2.
3) Botmann, Zeitschrift für klinische Medicin. 1896, Bd. XXXI,
Heft 5 — 6.
4) Ceconi, Gazetta degli ospedali. 1898, Nr. 112,
Derselbe, Münchener medieinische Wochenschrift. 1899, Nr. 26.
6) Maragliano, Lezione di cliiusa anno scolastico. 1891 — 1892.
6) Quincke, Deutsches Archiv für klinische Medicin. 1882,
Heft 30.
7) L e t u 1 1 e, Traite de 1’inflammation.
8) L i o n, Arch, de Med. exp.
9) Hammarsten, Zeitschrift für physiologische Chemie. 1891,
Bd. XV, pag. 202.
!0) Widal, S i c a r d, Chen u, C a s t a i g n e, Widal et S i c ar d,
Soe. Med. des Hopitaux de Paris. 6. November 1896. — Chenu, These
de Paris. 1897, Nr. 215. — Castaign e, Arch. gen, de Med. 1897.
11) Serono, Trattato di analisi chimica clinica, fisiologica, patologica
ed igienica.
12) Hoppe-Seyler, Handbuch der physiologischen und patho¬
logisch-chemischen Analyse. Berlin.
Aus der Heilanstalt Alland.
Einige neue Medicamente in der Phthiseo-
therapie.
Von Dr. Jul. Poliak. Hausarzt der Heilanstalt.
I. D u o t a 1.
Eines der ältesten Heilmittel der neueren Phthiseo-
therapie ist das Kreosot. Die verschiedenen Besclnverden, be¬
sonders die gastrischen, die bei einer durch längere Zeit ge¬
führten Kreosottherapie ziemlich häufig auftreten, sind Avoid
iedem praktischen Arzt zur Genüge bekannt. Dasselbe muss
in Folge dessen, trotz seiner unleugbar desinficirenden Eigen¬
schaften, doch in vielen Fällen bald ausgesetzt werden. Die
Vortheile des Kreosots, doch ohne dessen Nachtheile, finden
wir im D u o t a 1.
Duotal (Guajacolum carbonicum purissimum) ist 90-5%
reines Guajacol, chemisch gebunden an Kohlensäure. Es bildet
ein weisses, krystallinisches, geruch- und geschmackloses, in
kaltem und heissem Wasser unlösliches Pulver, das ohne jed¬
wede, wie immer geartete Beschwerde vertragen wird.
Versuchshalber wurde Dnotal in der Heilanstalt
Alland einer Reihe von Kranken verabreicht. Es wurden
hauptsächlich solche Patienten ausgewählt, bei denen in Folge
von Appetitlosigkeit keine GeAvicbtszunabmen zu erzielen
waren.
Die Verabreichung war folgende: In den ersten vier bis
fünf Tagen wurde täglich nach dem Mittagessen 0'5g in einer
Dosis (in Oblaten) gegeben. Nach dieser Zeit wurde die Dosis
verdoppelt, nach einigen Tagen P5 o, in drei Dosen getheilt.
täglich verabreicht, schliesslich bis auf 4‘0 — 5’0y langsam
gestiegen und diese Gabe längere Zeit hindurch täglich ge¬
geben.
Im Ganzen nahmen 32 Patienten zAvei Monate hindurch
das Präparat, darunter zwei ambulatorisch behandelte Kranke,
60
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 3
ln fünf Fällen wurde die Behandlung mit Duotal nach
drei Wochen aufgegeben, da der Appetit der Patienten sich
verschlechterte, während in den übrigen Fällen eine erhebliche
Besserung desselben zu verzeichnen war. In den zwei ambu¬
latorisch behandelten Fällen war schon nach 14 Tagen eine
Gewichtszunahme von 16 kg, respective 14 hg zu constatiren.
Zweimal sahen wir bei hartnäckiger Obstipation sehr guten
Erfolg, indem schon nach vierwöchentlicher Verabreichung von
Duotal in der obigen Dosirung regelmässiger Stuhlgang
eintrat.
Ein Kranker nahm anfangs täglich eine Dosis von TO <7,
nach vier Tagen 3‘0y auf einmal, längere Zeit hindurch.
Patient, der früher an auffallender Appetitlosigkeit gelitten, ass
nach iy2 Wochen mit gutem Appetit und nahm in vier
Wochen ‘6'Okg zu. Eine Patientin kam mit einem Gewichte
von 5T4/c<7 in die Anstalt, ln vier Wochen änderte sich das
Gewicht nicht; es wurde Duotal verordnet und schon nach
acht Tagen betrug das Gewicht 527 kg.
Auf Husten, Auswurf, Athemnoth und sonstige Beschwer¬
den der Phthisiker sahen wir durch Verabreichung des Duo¬
tals keinerlei Wirkung. Ebenso übte das Präparat keinen
Einfluss auf den objectiven Befund aus.
D u 0 t a 1 ist in F olge seiner appetiterregenden
Eigenschaft sowohl für die Spitals- wie auch die Privatpraxis
jedenfalls zu empfehlen, aber auch in den geschlossenen Heil¬
stätten neben der diätetisch-hygienischen Behandlung als ein
nicht zu unterschätzendes Hilfsmittel zu betrachten.
II. Pyramidon.
In den Heilanstalten für Lungenkranke soll nach
B r e h m e r - D e 1 1 w e i 1 e r’schen Principien das Fieber nur
durch vollkommene Bettruhe bei wesentlich
redueirter Kost bekämpft werden.
Die Erfahrung lehrt jedoch, dass man auch hier, und
zwar ziemlich häufig, Ausnahmen machen muss, da man in
vielen Fällen bei Anwendung von Antipyreticis nebst dieser
obgenannten Therapie viel rascher zum Ziele kommt. Ver¬
liert der Kranke z. B. während des Fiebers den Appetit,
so kann man sich oft davon überzeugen, dass er in der, wenn
auch noch so kurz dauernden, tieberlosen Tageszeit mit
Appetit sein Mahl einnimmt. In solchen und ähnlichen Fällen
sollte man nie auf die Antipyretica verzichten.
In letzterer Zeit wurden in unserer Anstalt Versuche mit
Pyramidon angestellt. Es ist dies ein Dimethylamido-
anti pyrin, ein neues Derivat des Antipyrins. Beim
gesunden Menschen beeinflusst es die normale Temperatur
nicht im Geringsten; es tritt nur eine leichte Röthung des
Gesichtes und ganz geringe Schweissabsonderung ein. Als Anti-
pyreticum bei Phthisikern hat es sich in den meisten Fällen
ganz gut bewährt. In einigen Fällen setzte Pyramidon die
hochfebrile Temperatur entschieden herab, ohne jedoch
das Fieber ganz zu bannen.
Aus den zahlreichen Krankengeschichten will ich nur
einige Beispiele anführen:
Patient 11. Der objective Befund war folgender: Rechts vorne
Dämpfung bis zum unteren Rand der dritten Rippe, links vorne
geht die Dämpfung in die Herzdämpfung über, rechts hinten
Dämpfung bis zur Mitte der Scapula, links hinten bis zur Spina
scapulae. Rechts vorne schwach bronchiales Athmen, deutlich er¬
höhter Pectoralfremilus, Bronchophonie. Hinten beiderseits unbe¬
stimmtes Athmen, ohne Rasseln. Im Sputum zahlreiche Bacillen.
Die Temperaturen waren trotz Bettruhe und redueirter Kost längere
Zeit hindurch mit geringen Abweichungen folgende:
Früh
Mittags
Abends
37-5°
38-4°
38-6°
37-7°
38-5°
38-8°
37-9°
389°
396°.
Es wurde nun täglich Pyramidon, und zwar 0'5 g in einem
Glas Wasser gelöst, von 6 l h r F r ü h bis 2 U h r N a c h m i t-
t a g s schluckweise verabreicht. Die Temperaturen der nächsten
vier Tage waren:
Früh
Mittags
Abends
36-8°
38T)°
393°
37-4°
392°
39-3°
38-2°
39-4°
39-0°
37-8°
38-8°
39-3°.
Da die
Temperatur nicht abfiel,
ja im Gegentheil höher
wurde, wurde
die Tageszeit
der Einnahme gewechselt, und zwar
dieselbe Dosis
von 1 0 Uhr
Vormittags
bis 3 Uhr Nachmittags
wieder schluckweise verabreicht. Der Fieberverlauf war folgender:
Früh
Mittags
Abends
377°
38-2°
38-7°
37-5°
38 -2°
38-6°
37-8°
38-3°
38-6°
und blieb vier Tage hindurch mit geringen Schwankungen derselbe.
Es wurde nun einen Tag das Pyramidon ausgeselzt, sofort stieg
die Temperatur wieder auf:
Früh Mittags Abends
38T° 392° 39°.
Wir gaben P y r a m i d o n, und dieselbe fiel auf
Früh Mittags Abends
37-8° 38-4° 38-2°.
Niederere Temperatur war auch bei achttägiger Verabreichung
nicht zu erzielen.
Bei einem anderen Patienten, dessen Temperatur sich zwischen
37'2° Morgens und 38'5° Abends bewegte, konnte das Fieber mit
Pyramidon auf 37u Morgen- und 37'8° Abendtemperatur herab¬
gedrückt werden. Beide Patienten hielten vollkommene Bettruhe ein
und wurden auf reducirte Kost gesetzt. Bei einem Patienten mit
linksseitiger Infiltratio tuberculosa cum excavatione und Ulcus
luberc. laryngis, der tagsüber acht Stunden Liegecur (im Freien
auf dem Liegestuhle) hielt, die übrige Zeit das Zimmer hütete,
waren die Temperaturen ohne Pyramidon folgende:
Früh
Mittags
Nachmittags
Abends
36-7°
38-9°
392°
369°
36-7°
38-4°
38-7°
38T°
369°
38-7°
38-6°
38-2°.
ln den nächstfolgenden
zwei Tagen wurde 05 g Pyra-
m i d 0 n in der oben geschilderten Weise, von
10 Uhr Früh bis
2 Uhr Nachmittags
verabreicht.
Die Temperatur war darauf:
Früh
Mittags
Nachmittags
Abends
371°
37-2°
37-5°
374°
30‘9°
363°
364°
36-9°.
Den folgenden
Tag zur s
selben Zeit 025 g Pyramidon:
Früh
Mittags
Nachmittags
Abends
369°
37-3"
377°
37-2°.
Den folgenden
Tag kein
Medicament:
Früh
Mittags
Nachmittags
Abends
36-9°
38-2°
38-0°
37-2°.
Wieder 0 5 g Pyramidon
von 10 Uhr Vormittags bis 2 Uhr
Nachmittags. Temperatur:
Früh
Mittags
Nachmittags
Abends
36-5°
36-9°
371°
37-3°.
Mit geringen
Schwankungen blieb dieselbe
Temperatur vier
Tage hindurch (mit 0*5 g Pyramidon); hierauf wur
de zwei Tage nur
0 25 g gegeben und
die Temperaturen blieben auf:
Früh
Mittags
Nachmittags
Abends
30-9°
37-4°
370°
37-2°
36-8°
37-5°
373°
37-2°.
Patient nimmt nun schon wochenlang täglich 0'25a Pyra-
midon und die Temperatur ist
eine normale, bei
eintägigem Weg-
lassen tritt aber sofort Fieber auf.
Bei einem anderen, allerdings weniger schweren Fall
konnte nach dreiwöchentlicher Verabreichung auf genannte
Weise das Pyramidon ganz wegbleiben, ohne dass seitdem (zwei
Monate) je Fieber auftrat, ln einigen Fällen konnten wir
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
61
Nr. 3
durch das Pyramidon keine Beeinflussung der Temperatur
wahrnehmen.
Viele Patienten blieben so lange afebril, als Pyramidon
verabreicht wurde; hatte man dasselbe nur einmal weggelassen,
trat sofort Fieber auf. In solchen Fällen ist das Pyramidon
ein werthvolles Hilfsmittel der Therapie, denn es erspart dem
Kranken das Bettliegen und ermöglicht es uns, den Patienten
die Cur gerade so wie alle anderen afebrilen Kranken durch¬
machen zu lassen. Nur in einer geringen Anzahl von Fällen
versagt es die Wirkung ganz.
Sein Vorzug vor den anderen Antipyreticis ist der Umstand
dass es niemals schädigend auf das Herz einwirkt, ja im Ge-
gentheil, nach Kobert (Berliner Congress 1899), dieses günstig
beeinflussen soll.
Heroinum hydrochloricu m.
Wenn wir auch bis jetzt bei Behandlung der Tuber-
culose auf jedwedes specifische Heilmittel verzichten müssen,
und bei deren Heiluug nur rein diätetisch-hygienisch vorgehen,
können wir behufs Linderung einiger Krankheitserscheinungen
doch die Medicamente nicht ganz und gar entbehren. Eines
der neueren Mittel gegen den bei Tuberculösen so häufig auf¬
tretenden heftigen, cptälenden Hustenreiz ist das Heroin, ein
Diessigsäureester des Morphins. Es bildet ein weisses, krystal-
linisches Pulver, das in Wasser ziemlich schwer löslich ist.
Wir benützten zu unseren Versuchen das H e r o i n u m h y d r o-
chloricum. Es wurde im Ganzen bei circa 50 Patienten
systematisch verabreicht. In den meisten Fällen genügte Abends
eine Dosis von 0'005 g. um den Patienten eine ruhige husten¬
freie Nacht zu verschaffen. Auch bei längerer Verabreichung
zeigte sich bei dieser Dosis beim grösseren Theil der Patienten
keinerlei unangenehme Nebenwirkung. Obsti¬
pation in Folge der Verabreichung wurde nicht beobachtet.
Bei drei Patienten musste das Präparat jedoch schon am dritten
Tage wegen auftretender Intoxicat ionserschein ungen
(die Pupillen wurden sehr enge, beschleunigter kleiner Puls,
Kopfschmerz, Uebelkeit und Erbrechen stellten sich ein) aus¬
gesetzt werden.
Werden, was kaum je nöthig ist, höhere Dosen als O'Ol g
gegeben, so sind diese Vergiftungssymptome häufiger. Man
soll daher die Dosis von 0 005 g nicht überschreiten.
Bei einem Fall von einfacher Bronchitis capillai’is acuta
wirkte Heroinum hydrochloricum ausgezeichnet; es wurden an¬
fänglich Inhalationen mit Ol. tereb. und Ol. juniperi verordnet,
jedoch ohne Erfolg, da der heftige Hustenreiz trotzdem con¬
stant anhielt; erst bei Anwendung von 0'005 g Heroinum hydro-
chlor., täglich zweimal in Pulverform verabreicht, wurde der
stetige Hustenreiz vollkommen unterdrückt. Bei einigen Patienten
hielt die Wirkung nur ein bis zwei Stunden nach der Verab¬
reichung an, dann trat neuerlicher heftiger Husten auf. Bei
zwei Fällen von Asthma bronchiale hatte das Medicament
keinerlei Wirkung.
Es wurde sodann zweimal täglich O'Ol g Heroin verab¬
reicht, musste jedoch ausgesetzt werden, da nach diesen Dosen
heftiger Kopfschmerz auftrat. In vier Fällen, in welchen
in Folge trockenen Hustens gewöhnlich Morgens und Abends
Erbrechen eintrat, wirkte Heroin prompt, während weder durch
Morphin, noch durch Codein eine Wirkung zu erzielen war.
Wir geben jetzt Heroinum hydrochloricum in Dosen von
0 005 <7 den Patienten mit trockenem Husten, allabendlich vor
dem Schlafengehen, einigen in derselben Dosirung zwei- bis
dreimal täglich und ersetzen mit demselben sowohl Codein, als
auch Morphin vollständig.
Die Seltenheit übler Nebenerscheinungen bei diesen
kleinen Gaben, sowie das Nichteintreten von Gewöhnung, be¬
ziehungsweise Abstinenzsymptomen, rechtfertigt diese Bevor¬
zugung.
FEUILLETON.
lieber medicinische Studien und Prüfungen.
Von Sigm. Exner, Professor der Physiologie in Wien.
Vortrag, gehalten in der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien am
12 Januar 1900.
Meine Herren! Wie Sie wissen, haben wir in Oesterreich seit
wenigen Tagen eine neue medicinische Rigorosenordnung. Das Inter¬
esse, das jeder Stand an seiner Geschichte und an seiner Zukunft
nimmt, lässt es gerechtfertigt erscheinen, dieses Thema auch im Kreise
der Gesellschaft der Aerzte zur Sprache zu bringen und das umso
mehr, als dasselbe heute in zahlreichen Culturländern ventilirt wird.
Frankreich besitzt seit wenigen Monaten eine neue medicinische Studien¬
ordnung, und in Amerika hat die ßostoner Schule dieses Jahr mit
einer abgeänderten Studienordnung begonnen; Deutschland strebt seit
Jahren eine Aenderung der vom Reichskanzleramte festgesetzten Prü¬
fungsordnung für die ärztlichen Staatsexamina an und in manchen
anderen Ländern regt sich ebenfalls das Bedürfniss nach einer Um¬
gestaltung.
Die Ursache, aus welcher gerade jetzt diese Frage in Discussion
steht, liegt nicht ferne. Haben doch in der zweiten Hälfte unseres
Jahrhunderts die medicinischen Wissenschaften Umwandlungen er¬
fahren, wie kaum je vorher; diese hängen mit dem mächtigen Auf¬
schwünge zusammen, welchen die biologischen Wissenschaften in der
Zeit genommen haben; die physikalische Auffassung der Lebenser¬
scheinungen, die Neugestaltung der Chemie fällt in diese Decennien.
Diebefruchtenden Gedanken Darwin’s, die Vervollkommnung unserer
mikroskopischen Hilfsmittel, welche erst ein Studium des feineren
Baues thieriscber und pflanzlicher Organismen ermöglichten, mussten
nothwendiger Weise bei den angewandten Naturwissenschaften, also
insbesondere in der Medicin, eingreifende Umgestaltungen hervorrufen.
Die physikalische Krankenuntersuchung stammt aus dem Anfänge der
zweiten Hälfte des scheidenden Jahrhunderts und am Ende desselben
bat sie in der R ö n t g e n - Durchstrahlung noch eine der schönsten
Blüthen getrieben. Die ganze physiologische und medicinische Chemie,
die Asepsis und Antisepsis, die Immunitätslehre mit ihrer ausgedehnten
Anwendung, die Ausbildung zahlreicher Specialzweige der klinischen
Medicin, sowie der Chirurgie, alles das sind Errungenschaften der
letzteren Zeit. Dementsprechend mussten sich auch die Leistungen des
modernen Arztes in Stoff und Form wesentlich umgestalten. Sollen
aber die Leistungen andere sein, dann liegt es auf der Hand, dass
auch der Weg, auf welchem die Leistungsfähigkeit erreicht wird, von
dem früheren in mannigfacher Weise abweichen muss. Daher das Be¬
dürfniss nach neuen Studieneinrichtungen.
Es galt aber nicht nur einen neuen Weg zum neuen Ziele,
sondern den kürzesten Weg zu finden, bei dessen Betretung man nicht
fürchten musste, dass er in Schluchten oder über uuerklimmbare Berge
führe. Als Baron v. Gautsch, damals österreichischer Unterrichts¬
minister, das Werk in Oesterreich begann, das heute in Form zweier
unscheinbarer Erlässe des Sections-Chefs v. H a r t e 1 als Leiter des
Unterrichtsministeriums vorliegt, galt es zunächst, die Anschauungen
jener Corporationen und Behörden kennen zu lernen, deren fachmänni¬
sches Urtheil als massgebend zu betrachten ist. Es wurden von sämmt-
lichen medicinischen Facultäten Oesterreichs, vom Obersten Sanitäts-
rathe, von allen bei den medicinischen Rigorosen fungirenden Regierungs¬
vertretern Gutachten eingeholt; ferner wurde vom Unterrichtsmiuister
eine Enquete berufen, in welcher mehrere staatliche Behörden, die
Facultäten, die Aerztekammern vertreten waren und welche über die
Studienreform eingehende Berathungen zu pflegen hatte. Ausser zahl¬
reichen Separatvoten liefen noch Aeusserungen von philosophischen
Facultäten über einzelne Punkte der geplanten Reform ein u. s. w.
Auf diese Weise konnten ausserordentlich werthvolle Rathschläge, An¬
regungen und praktische Winke gesammelt werden, die schon deshalb
allgemeine Beachtung fordern, weil sie von den hervorragendsten
Forschern und Lehrern mit bewunderungswürdigen Opfern an Zeit
und Arbeit ersonnen und durchdacht worden waren.
Die Bearbeitung und Sichtung dieses werthvollen Materiales, das
die Grundlage für die medicinische Rigorosenordnung bildete — man
kann sagen, jeder Punkt derselben ist den genannten Gutachten ent¬
nommen — ergab mancherlei Schwierigkeiten. So waren z. B. die
Rahmen für die vorgeschlagenen Verbesserungen recht verschiedenartig;
Manche hielten eine gründliche Sanirung des ärztlichen Standes nur
bei einer Reorganisation der Gymnasien für möglich, Andere durch Hin¬
zufügung des obligaten Spitalsdienstes; die Einen nahmen auf das be¬
stehende Wehrgesetz Rücksicht, die Anderen nicht; die Einen fürch¬
teten einen Aerztemangel bei Verlängerung der Studien, Andere wieder
scheuten denselben nicht u. s. w.
Schwieriger als diese äusserlichen und klar zu Tage liegenden
Differenzen waren die verschiedenen Anschauungen über Art und Ziel
des Unterrichtes, über Art und Ziel der Prüfung zu vereinigen. Jeder,
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 3
62
der die Literatur über den medicinischen Unterricht aus den letzten
Jahren verfolgt hat, ist in zahlreichen Aufsätzen und zum Theile sehr
lebhaften Polemiken auf diese Differenzen gestossen.
Gestatten Sie da, etwas weiter auszuholen und zunächst vom
Unterrichte zu sprechen. Ein Beispiel möge Ihnen ein Bild davon
geben, wie man je nach den verschiedenen Anschauungen den Unter¬
richt über einen und denselben Gegenstand nach zwei verschiedenen
Typen einrichten kann. Es soll z. B. in einer Schule fünf Jahre hin¬
durch Geographie gelehrt werden.
Man könnte nun in der ersten Classe Europa, in der zweiten
Asien u. s. w. abhandeln, so dass in fünf Jahren der Gegenstand
erschöpft wäre.
Man könnte aber auch im ersten Jahre von allen fünf Welt-
theilen sprechen, die dabei gewonnene Kenntniss im zweiten Jahre
recapituliren und durch Ilinzufügung neuer Details vervollständigen,
im dritten, vierten und fünften Jahre nach demselben Principe Vorgehen.
ich will nicht behaupten, dass die erste Art des Unterrichtes an
irgend einer Schule thatsächlich im Schwünge sei, obwohl der Unter¬
richt, dew z. B. ich am Gymnasium in der Geschichte genossen habe,
wenigstens für den Stoff der einzelnen Semester sich nicht weit von ihr
entfernte. In unseren Volksschulen wird nach der zweiten Methode des
Unterrichtes gelehrt. Man pflegt diese zu bezeichnen als die „Methode
des Unterrichtes in concentrischen Kreisen“ und im Gegensätze zu
dieser können wir die andere Art die „geradlinige Methode“ benennen.
Täuschen wir uns darüber nicht, dass die glänzenden Erfolge unserer
Volksschulen grösstentheils der Unterrichtsmethode in concentrischen
Kreisen zu danken sind. Das Wesentliche bei derselben ist, dass der
Schüler immer w'ieder an das schon Gelernte erinnert w'ird, dass er an das
Bekannte auknüpfend, neue Vorstellungen seinem Gedächtnisse ein¬
prägt und seine Kenntnisse schliesslich, wie um einen Krystallisations-
kern angeschlossen, ein einheitliches Ganzes bilden.
Bei dem „geradlinigen Unterrichte“ pflegt nur zu leicht der
organische Zusammenhang zwischen den Einzelkenntuissen verloren zu
gehen, die Ideenassociationen, die sie verbinden sollten, zu reissen und
das Gelernte bald wieder vergessen zu werden.
Auf unsere medicinischen Studien angewendet, würde im
idealen Falle der Unterricht beispielsweise bezüglich der Niere dann
ein concentrischer sein, wenn, wie in der That üblich, der Studirende
im ersten Jahre die grobe Anatomie derselben, im zweiten Jahre deren
mikroskopischen Bau und Physiologie, im weiteren Verlaufe der Studien
ihre pathologische Anatomie, dann ihre Krankheiten und deren interne
und chirurgische Behandlung kennen lernen würde, wobei jedes Mal
alles Vorherbehandelte recapitulirt wird, so dass es dem Studirenden
gegenwärtig bleiben muss. Heisst der Zusammenhang z. B. zwischen
der Physiologie der Niere und ihrer Anatomie ab, dann haben wir es
mit einem geradlinigen Unterrichte zu thun, der von recht geringem
Werthe ist. Je länger man eben Vorstellungen und Kenntnisse mit
sich herumträgt, desto fester haften sie, desto dauernder ist ihr Besitz,
das ist ein psychologischer Lehrsatz. Wenn auch diese Vorstellungen
nicht stets dem Bewusstsein bereit stehen, wenn sie auch zeitweilig
durch andere Vorstellungsgebiete in den Hintergrund gedrängt werden,
so sind sie, wieder wachgerufen, weit werthvoller als wenn sie zum
ersten Male erworben wären. Wer Paradoxa liebt, kann deshalb
sagen: Unsere besten Kenntnisse sind die, welche wir ’wiederholt ver¬
gessen haben.
Ich fürchte jedoch, dass manche medicinische Studienordnuug,
die in der letzten Zeit thatsächlich eingeführt worden ist, auf diesen
concentrischen Lehrgang und seine Wichtigkeit zu wenig Rücksicht
genommen hat; wenn auch z. B. das Reglement für die medicinischen
Studien in Frankreich zweckmässiger Weise vorschieibt, dass immer
wiederholt werde, so fragt es sich doch, ob es auch die Möglichkeit
hiezu schafft und den Impuls gibt, dass es wirklich geschehe.
Das in dieser Beziehung merkwürdigste Beispiel liefert uns die
Harvard medical School in Boston, welche in diesem Jahre bereits
nach folgendem Studienplane unterrichtet: Im ersten Halbjahre wird
eine Hälfte des Tages durch den Unterricht in der Anatomie, die
andere durch jenen in Histologie, in anderen Wochen und Monaten
durch den Unterricht in der Embryologie oder einen Gurs über die
specielle Anatomie des Gehirnes ausgefüllt. Im zweiten Halbjahre
wird die eine Hälfte jedes Tages mit dem Unterrichte in der Physio¬
logie, die andere Hälfte mit dem Unterrichte über physiologische
Chemie ausgefüllt. Im dritten Halbjahre ist der eine Halbtag
für den Unterricht in der Pathologie, der andere für den über Bac-
teriologie bestimmt u. s. w. Dieser Studieuplan ist für die späteren
Jahre noch nicht ausgearbeitet; es ist aber beabsichtigt, dieses Princip
für jeden Jahrgang einzuhalten, das im Wesentlichen darin besteht,
den Studirenden jeweilig nur mit einem Stoffe und höchstens dessen
nächsten Verwandten concentrirt zu beschäftigen.
Ich sah in einer amerikanischen Zeitung einen Artikel, in welchem
das alte System, nach welchem, wie das ja auch bei uns der Fall ist
B. Anatomie durch zwei Jahre gelehrt wirk den Namen „Method
v of sandwiching“ bekommt. Es hat der Gedanke gewiss etwas Be¬
stechendes, den Studirenden durch die Mannigfaltigkeit der Gegen¬
stände, für die er sich zu interessiren hat, nicht zu zerstreuen; aber
man denke, wenn jeder halbe Tag einer ganzen Studienzeit in dieser
Weise mit gewissen Stoffen erfüllt ist, das ganze Denken durch den¬
selben beherrscht wird, ob wohl der junge Mann nach dem vierten, ja
nach dem zehnten Halbjahre noch etwas von den Kenntnissen aus der
Anatomie übrig behalten hat? Ich fürchte, dass dieses Experiment der
Einführung des geradlinigen Studien ganges keine guten Resultate liefern
wird. Ich fürchte das noch mehr, wenn der Schüler über diese
Einzelgegeustände im Verlaufe der Studien Prüfungen abzulegen hat.
Da wird ihn der Stoff des nächstliegenden Examens mehr erfüllen, als
der Gedanke, das zu wiederholen, was er vor Jahren gelernt hat!
Hier kommen wir zu der Frage von der Unterbrechung des Stu¬
diums durch die Prüfungen. Blicken wir z. B. nach Frankreich. Die
Semestraleintheilung ist hier eine andere wie bei uns. Ich kann Ihnen
demnach in Kürze nur mittheilen, dass der Student, ehe er in die
eigentlichen medicinischen Studien eintritt, eine Prüfung über das so¬
genannte Vorbereitungsjahr abzulegen hat. Nach Schluss seines ersten
Jahres macht er abermals eine Prüfung, und zwar über natur¬
wissenschaftliche Gegenstände; im Verlaufe des dritten Jahres sind
zwei Prüfungen zu bestehen, die 1. aus Anatomie, die 2. aus Histo¬
logie und einschlägigen Fächern. Im fünften Jahre hat er den soge¬
nannten ersten Theil der 3. Prüfung und den zweiten Theil
derselben und endlich nach Schluss seines Studiums die 4. und
5. Prüfung abzulegen.
In Russland ist die Studieneintheilung nicht an allen Univer¬
sitäten conform. Ich wähle also die Universität in Warschau. Hier
macht der Student nach dem ersten Jahre Prüfungen aus sieben
Fächern, nach dem zweiten aus fünf, nach dem dritten Jahre aus
sechs, nach dem vierten Jahre aus fünf und am Schluss seiner Studien
aus fünf Gegenständen.
Wie anders in Deutschland, wo der Studirende nach dem zweiten
Jahre eine Prüfung macht und dann erst nach den gesammten
Studien die Hauptprüfung.
Da nun z. B. in Warschau die Prüfung aus Anatomie nur im
ersten Jahre vorkommt, wird man da wohl von einem concentrischen
Studiengang sprechen können? Physiologie wird allerdings auch bei
der Schlussprüfung examinirt und ebenso wird mancher andere Gegen¬
stand wiederholt geprüft, so dass man wohl auf einen annähernd concentri¬
schen Studiengang hoffen kann. Die deutsche Prüfungsordnung ge¬
stattet ein ruhiges Studium und eine gesammelte Vorbereitung während
der ersten beiden Jahre, und dann, ebenso ohne Störung durch den
Popanz einer Prüfung die Vorbereitung für die Hauptprüfung. Ana¬
tomie und Physiologie werden sowohl bei dem ersten, wie bei dem
zweiten Examen geprüft.
Wenn Sie, meine Herren, schon daraus ersehen, wie verschieden
das Urtheil über geradlinigen oder concenti ischen Studiengang, über
die Unterbrechung oder Nichtunterbrechung desselben durch Prüfungen
ist, so ist eine nicht minder grosse Differenz in den verschiedenen
Ländern über die Anzahl der Fächer nachzuweisen, welche zu lernen
sind. Der berühmte Huxley war schon im Jahre 1370 über die An¬
forderungen entrüstet, welche an den Mediciner gestellt werden, indem
er erkannnte, dass die Grenze des Möglichen erreicht ist, wenn der
Student dem damaligen Studienplane entsprechen soll. Er fordert,
dass „kein Jota und kein Tittelchen“ über das Mass des absolut
Nothwendigen dem Mediciner aufgebiirdet werde und M. Foster hat
erst kürzlich, 1898, in Bezug auf die englischen Verhältnisse erklärt,
es sei unmöglich, entsprechend dem Wachsthume der medicinischen
Wissenschaften auch den Stoff für die Studirenden an wachsen zu
lassen. Auch ich habe mich schon im Jahre 1892 im gleichen Sinne aus¬
gesprochen und damals das Resultat meines Gutachtens in die Worte
zusammengefasst : „Zweifellos hat sich der Stoff in den medicinischen
Fächern im Laufe der letzten Decennien ausserordentlich vergrössert,
haben sich ebenso die theoretischen Fächer : Chemie, Physik, die Ana¬
tomie, die Physiologie vergrössert, es hat sich die wissenschaftliche
Methodik, es haben sich die ärztlichen Anforderungen vergrössert, nur
Eines hat sich nicht vergrössert, das ist das Gehirn eines Mediciners
und das Fassungsvermögen desselben für den Zeitraum von fünf
JahreD.“
Der amerikanische Physiologe H. P. B o w d i t c h hat in einer
werth vollen Rede1) die Frage ventilirt, ob man nicht angesichts des
riesigen Wachthums der medicinischen Wissenschaften einerseits all¬
gemein medicinisch gebildete Aerzte und andererseits specialistische
Aerzte ausbilden solle, eine Frage, die im bejahenden Falle für uns
Oesterreicher bedeuten würde, dass wir auf einen Weg zurückkehren
sollen, den wir besser nie verlassen hätten.
Sehen wir nach, welche medicinischen Fächer in den ver¬
schiedenen Ländern von den Studirenden erlernt werden sollen und
halten wir uns zu diesem Zwecke an die Prüfungsfächer.
B Reform in medical education. Science. Vol. VIII. 31. December 1898.
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
63
Oesterreich
Deutschland
Frankreich
Warschau
jetzt
in Zukunft
Mineralogie
Allgemeine Biologie
_
Mineralogie
Zoologie
—
Zoologie
Zoologie
Zoologie
Botanik
—
Botanik
Botanik
Botanik
Physik
Physik für Mediciner
Physik
Physik
Physik
Chemie
Chemie für Mediciner
Chemie
Chemie
Chemie
Anatomie
Anatomie
Anatomie
Anatomie
Anatomio
Physiologie
Physiologie
Physiologie
Physiologie
Physiologie (zweimal)
Histologie
—
Histologie
—
Interne Medicin
Interne Medicin
Interne Medicin
Interne Medicin (dreimal)
Specielle Pathologie und
Therapie (zweimal)
Chirurgie
Chirurgie
Chirurgie
Chirurgie (zweimal)
Chirurgie
Geburtshilfe u. Gynäkologie
Geburtshilfe u. Gynäkologie
Geburtshilfe und Gynäkolgie
Geburtshilfe (zweimal)
Geburtshilfe und Gynäkologie
(zweimal)
Allgemeine Pathologie u.
Therapie
Experimentelle Pathologie
Allgemeine Pathologie und
Sectionen
Allgemeine Pathologie
Pharmakologie
Pharmakologie u. Reccptir-
kunde
—
Pharmakologie
Pharmakologie und
Receptirkunde (zweimal)
Gerichtliche Medicin
Gerichtliche Medicin
—
Gerichtliche Medicin
Gerichtliche Medicin
Pathologische Anatomie
Pathologische Anatomie und
Histologie
Pathologische Anatomie und
allgemeine Pathologie
—
Patholologische Anatomie
Augenheilkunde
Augenheilkunde
Augenheilkunde
—
Augenheilkunde (zweimal)
—
Hygiene
Hygiene
Hygiene
Hygiene (zweimal)
—
Psychiatrie
—
—
Psychiatrie
—
Kinderheilkunde
—
—
Medicinische Chemie (zweimal)
Dermatologie und Syphilis
—
Dermatologie und Syphilis
—
—
Allgemeine Therapie (zweimal) ,
—
—
—
—
Pharmakognosie u. Pharmacie
—
—
—
—
Theoretische Chirurgie
—
—
—
—
Nervenheilkunde
_
—
—
Medicinische Polizei
—
—
—
—
Russische Sprache
16
18
12
14
27
Dio Tabelle zeigt, wie weit die Anschauungen der Unterrichts-
verwaltungen, welche jene Studienordnungen geschaffen haben, in Bezug
auf den zu lehrenden Stoff auseinandergehen. Und es wird Sie nicht
wundern, zu hören, dass die vorliegenden, zahlreichen Gutachten ein
Spiegelbild ähnlicher Meinungsdifferenzen sind.
Im Gegensätze hiezu steht eine erfreuliche, ziemlich weitgehende
Uobereinstimmung darüber, dass der Unterricht, so weit wie möglich,
praktisch eingerichtet werde.
Seit der Zeit des Mittelalters bricht sich immer mehr die Ueber-
zeugung Bahn, dass in den naturwissenschaftlichen und medicinischen
Disciplinen kein Buch und nicht der beste Vortrag, das ersetzen kann,
was die Anschauung, die unmittelbare Betastung, das Gehör den
Studirenden bietet, dass eben nur das Selbsterlebte einen werthvollen
geistigen Besitz bietet. Gewiss werden nicht Alle so weit gehen wie
Mi not2) der über der Thür jeder Bibliothek die Aufschrift wünscht:
„There is no knowledge in books“. Aber der grosse Werth der
persönlichen Erfahrung wird allgemein anerkannt.
Dementsprechend ist auch in unserer neuen Kigorosenordnung
auf die Uebung und die Bethätigung des Studirenden grosses Gewicht
gelegt.
Nicht uninteressant ist es, zu vergleichen, wie verschieden in den
Studienplänen der europäischen Länder die Anzahl der wöchentlichen
Arbeitsstunden ist, die für ein regelrechtes Studium vorausgesetzt
wird. So ergeben z. B. die Studienpläne von Warschau folgende
Zahlen:
1. Jahr 24-5 wöchentliche Stunden
2. „ 36 „ „
3. „ 20
4. „ 30 _
5. „ 37 5 „ „
In Oesterreich sind jetzt 10, nach der neuen Studienordnung
20 wöchentliche Stunden obligat, wobei natürlich die Laboratoriums¬
arbeiten mitgerechnet werden.
Sie ersehen aus der Tabelle, wie sich unsere neue Studien¬
ordnung in Bezug auf alle erwähnten Punkte von der alten unter¬
scheidet.
Zunächst sind die Vorprüfungen aus den beschreibenden Natur¬
wissenschaften ersetzt, durch eine Eigorosumspriifung aus „Allgemeiner
Biologie“.
Es wird Sie in Bezug auf diesen Punkt interessiren, dass ich
beim Durchmustern der alten Ministerialacten auf den Bericht über
einen heftigen Kampf gestossen bin, welcher sich im Jahre 1846 in
der damals tagenden Rigoroseneommission abspielte. Es handelte sich
um jene Prüfungsordnung, die bis zum Jahre 1872 Geltung hatte,
und der Kampf betraf den Antrag H yrt l’s, dass Mineralogie, Bo¬
tanik und Zoologie aus der Reihe der Prüfungsgegenstände gestrichen
werden. Für diesen Antrag sprachea ausser H y r 1 1 noch Skoda
und Rokitansky. Gegen denselben trat der Botaniker E n d-
1 ich er auf und blieb, wie Sie wissen, Sieger.
Wir können also sagen, dass im Sinne dreier erster Grössen
unserer Universität vorgegangen wurde, indem nun, nach mehr als
fünfzig Jahren, diese Gegenstände fallen gelassen werden. In der
That bilden sie heute nicht mehr die Basis unseres ärztlichen Denkens.
Diese Basis ist heute Physik und Chemie, sowie die entwicklungs¬
geschichtliche Auffassung der organischen Welt.
Dementsprechend ist ein Gegenstand, die „Allgemeine Biologie“
eingeführt, und den grundlegenden Disciplinen der Physik und der
Chemie eine grössere Rolle zugewiesen. Erstere soll in Verbindung
mit Uebungen gelehrt, letztere im Laboratorium geprüft werden.
Indem diese Fächer als „Physik für Mediciner“ und „Chemie
für Mediciner“ gelehrt und geprüft werden sollen, wird angedeutet,
dass hiebei auf diespeciellen Bedürfnisse des Arztes Rücksicht zu nehmen ist.
Der Chemie sind im beigegebenen Entwurf eines Studienplanes ausser
dem Jahrescollegium auch noch Laboratoriumsübungen durch zwei
Semester zugewiesen, so dass man wohl hoffen kann, dass der Stu-
dirende im Rahmen dieses Unterrichtes auch die wichtigsten Kenntnisse
aus physiologischer und pathologischer Chemie erwerbe.
Ferner sind, wie Sie aus der Tabelle ersehen, an neuen Piüfungs-
gegenständen die Hygiene und die klinischen Specialfächer zugewachsen,
nämlich Psychiatrie mit Einschluss der Neuropathologie, Dermatologie
und Kinderheilkunde.
Im Ganzen sind also die Unterrichtsgegenstände gegenüber der
heute gütigen Rigorosenordnung nur um zwei vermehrt. Freilich
kommen hiezu noch die obligaten Curse aus Otiatiie, Laryngologie,
Zahnheilkunde und Impfkunde.
Gehen schon die Ansichten über den Unterricht weit auseinander
so kann man das in noch höherem Masse von den Ansichten über die
Prüfungen sagen. In einem Punkte freilich ist man auch in dieser
Richtung einig: nämlich darin, dass die Prüfung ein unvermeidliches
Uebel ist. Aber schon darüber, warum dieses Uebel unvermeidlich ist,
lassen die vorliegenden Entwürfe für die österreichische Prüfungsordnung
sowie die tliatsächlich eingeführten Studienordnungen anderer Länder
die differentesten Anschauungen durchblicken.
Indem ich mir wieder erlaube, etwas zu schematisiren, möchte
ich auch die Prüfungen nach zwei Typen eintheilen, die abermals
Extreme darstellen.
") Knowledge and practice. Science. Vol. X. 7. Jahrgang. 1899.
64
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 3
Die Prüfungen dos ersten Typus verfolgen den Zweck, zu con-
troliren, ob der Candidat den für einen gewissen Zeitabschnitt vorge¬
schriebenen Wissensstoff wirklich bewältigt hat, und sollen ihn ver¬
halten, seine Zeit so auszunützen, wie es der Studienplan vorschreibt.
Man kann diese Art von Prüfungen Controlprüfungen nennen. Die
andere Art soll zeigen, ob der Candidat jene Menge von Kenntnissen,
vor Allem aber auch jenes Yerständniss des Stoffes oder jene intel-
lectuelle Durchbildung erworben hat, welche ihn befähigt, einen ge¬
wissen Beruf zu ergreifen, andere Fächer mit Nutzen zu studiren und
dergleichen. Dabei kümmert sich die Prüfung nicht um die Art
und um die Zeit, wann er diese Fähigkeit erworben hat. Man
kann diesen Typus der Prüfungen mit dem Namen der Reifeprüfungen
belegen.
Jeder von uns kennt diese beiden Arten von Prüfungen
aus dem Gymnasium; die Controlprüfungen sind hier die täglich
vorkommenden Examina, welche den Zweck haben, zu ermitteln, ob
der Schüler die Lection richtig erlernt hat. Der Examinator wird in
diesem Falle berechtigt sein, eine solche Prüfung als ungenügend zu
taxiren, wenn sie ergibt, dass der Schüler z. B. die Vocabeln der
lateinischen Aufgabe wegen mangelhafter Vorbereitung nicht kennt,
obwohl er im Allgemeinen bessere lateinische Kenntnisse besitzt, als
sein Mitschüler, welcher an demselben Tage eine gute Classification
erhält, weil er genügend vorbereitet in die Schule kommt. Ein ge¬
wissenhafter Schüler wird während des Gymnasialstudiums eine grosse
Masse von Kenntnissen in sein Gedächtniss aufgenommen haben. Was
aber von diesen dauernden Werth hat, was davon durch Yerständniss
sich mit seinem Denkvermögen amalgamirt bat, wie sein Geist dadurch
geschult worden ist, das wird für den Ausfall der Controlprüfung zwar
nicht belanglos aber doch nicht von massgebender Bedeutung sein.
Im Gegensätze hinzu steht die Maturitätsprüfung. Hier handelt
es sich um die Durchbildung des Geistes und wohlgeordnete Kennt¬
nisse, wobei es ganz gleicbgiltig ist, ob der Schüler seine Fähigkeiten
in diesem oder jenem Jahre, ob er seine Kenntnisse einem Schulbuch
oder einem Roman von Jules Verne, einem Lustspiele von Shakespeare
entnommen hat.
Ueberblicken wir die geltenden Studienordnungen, so können
wir nicht zweifeln, dass sich die zahlreichen, in den Lehrgang
eingeschalteten Prüfungen, wenn sie auch keiner der beiden Prüfungs¬
typen rein angehören, doch mehr der Controlprüfung als der Reife¬
prüfung nähern. Russland, Frankreich und auch Belgien arbeiten mit
dem System der Controlprüfungen; in gewissem Sinne und für gewisse
Gegenstände schliessen sie mit Reifeprüfungen ab, in Bezug auf
andere verzichten sie auf dieselben.
Ich muss meine persönliche Ueberzeugung dahin aussprechen,
dass unsere Gymnasien tief im Werthe sinken würden, wenn den
täglichen Controlprüfungen am Schlüsse nicht eine Maturitätsprüfung
folgen würde. Ebenso halte ich auch die Reifeprüfung am Schlüsse
der medicinisclien Studien für unbedingt nothwendig und zwar die
Reifeprüfung aus allen Fächern, die er als wissenschaftlich gebildeter
Arzt beherschen soll. Will der Staat heute einem Candidaten das
Zeugniss ausstellen, dass er befähigt sei als Arzt zu wirken, so muss
er sich überzeugen, dass dieser heute das nöthige ärztliche Wissen
und Können besitze, dass er vor Allem jene wissenschaftliche Durch¬
bildung erfahren habe, die ihn befähigt, neue Kenntnisse, neue Me¬
thoden in sich aufzunehmen, er darf sich nicht damit begnügen ein
Zeugniss über ein Wissen aus früheren Jahren einzusehen. Was er an
Kenntnissen einst besessen hat, ist jetzt ganz gleichgiltig; hat ihm
dieser Besitz an Wissen Nutzen gebracht, so kann er das heute zeigen,
ohne eine Belastung zu empfinden. Ein Studienplan ohne ernste Reife¬
prüfung ist ein Rumpf ohne Kopf, ein Gebäude ohne Dach.
Es wird vielfach behauptet, die Reifeprüfungen aus den grund¬
legenden Fächern seien deshalb überflüssig, weil eine mit Erfolg ab¬
gelegte Prüfung aus den Disciplinen späterer Jahrgänge undenkbar
wäre, ohne dass der Candidat auch jene der früheren Jahrgänge be¬
herrsche. Das wäre zum Theile richtig, wenn die Disciplinen immer so
geprüft würden, wie es der Idee des concentrischen Studienganges
entspricht und es nie vorkäme, dass ein Examinator sich oder wohl
auch Anderen sagt: „Wenn ich den Candidaten aus jenem Gegenstände
zu prüfen hätte, nicht aus meinem, müsste ich ihn durchfallen lassen.“
Aber auch dann wäre es nur theilweise richtig; denn der jeweilige
Stand der klinischen Disciplinen nützt nur einen kleinen Theil des
Thatsachenmateriales aus, das in den grundlegenden Wissenschaften
zusammengefasst wird. Nur betreffs dieses kleinen Theiles kann von
einem concentrischen Studiengang überhaupt die Rede sein.
Der Werth der naturwissenschaftlichen Vorbildung, der ganzen
theoretischen Grundlage des ärztlichen Könnens liegt in ihrer Allge¬
meinheit; durch diese wird erzielt, dass sich der fertige Arzt jeder
neuen Aufgabe gegenüber selbst zu helfen wreiss, dass er, auf eigene
Füsse gestellt, das Werk seiner Ausbildung fortzuführen befähigt ist.
In der Zeit, als viele von Ihnen, meine Herren, und ich, Medicin
studirten, da konnten wir alle Kliniken der Facultät durch Jahre
besuchen, ohne ein Wort über deu Bau des Gehirns oder Rücken¬
markes zu hören; da war keine Spur eines concentrischen Studien¬
ganges in Bezug auf diesen Theil der Anatomie zu bemerken. Dann
wuchs aber ein neuer Zweig der klinischen Medicin, die Neuropatho¬
logie hervor. Wie traurig wäre es nun um Jene bestellt gewesen,
welche als Aerzte diesem Zweige in seine feinen Verästelungen folgen
sollten und deren Kenntniss des Centralnervensystems auf der Recapi¬
tulation der Anatomie im Rahmen der klinischen Fächer ruhen sollte.
Sie wären vor einem anatomischen Atlas des Gehirnes gestanden, wie
Laien : ohne jedes Yerständniss.
Hier ist es Aufgabe des Unterrichtes, zu erreichen, dass der
reife Arzt mit dem Lehrbuche in der Hand den zahlreichen, neu auf¬
tauchenden Anforderungen gegenüber nicht rathlos dastehe, sondern
an Bekanntes anknüpfend, sich stets zu orientiren vermöge. In dieser
Beziehung, das können wir mit Stolz hervorheben, war unser Unter¬
richt stets ein verhältnissmässig guter. Einen äusseren Beweis dafür
erblicke ich in der relativ grossen Zahl von medicinisclien Zeitungen,
die seit Jahren in Oesterreich erscheinen, und deren Abnehmer fast
ausschliesslich die praktischen Aerzte, besonders auf dem Lande sind.
Diese Zeitungen würden nicht gehalten, wenn sie nicht verstanden
würden und dass die Aerzte Jahrzehnte, nachdem sie die Schule ver¬
lassen haben, der Wissenschaft noch zu folgen vermögen, ist nicht
nur ein ehrendes Zeugniss für sie, sondern auch für den Unterricht,
welchen sie genossen haben. Es ist nicht überall so. Es gibt culturell
hochstehende Länder, in denen die Mehrzahl der Aerzte ihre Patienten
heute noch gerade so behandeln, wie sie das vor 20 oder 30 Jahren
in der Schule gelernt haben. Das ist der Unterschied zwischen wissen¬
schaftlicher Ausbildung und fachmännischem Drill.
Jede Reorganisation läuft Gefahr, das Gute, das im dauernden
Besitz oft zu w’enig beachtet wird, zu vernachlässigen, auf Kosten des
oft getadelten Schlechten. Möge es der neuen Studienordnung gelingen,
Schlechtes zu verbessern, ohne das Gute aufzugeben.
Jene zahlreichen Prüfungen, die nach der russischen und der
französischen Prüfungsordnung im Laufe der Studien abzulegen sind,
mögen zwar nicht reine Controlprüfungen sein; sie stehen diesen aber
näher als den Reifeprüfungen. Wäre das nicht der Fall, so könnten
und müssten sie sämmtlich an das Ende des Studiums verlegt werden;
sie dienen aber dazu, den Candidaten zu zwingen, mitzustudiren,
sein Fortschreiten zu eoutroliren, sie dienen dem Drill.
Wollte man nun die gelegentlich der genannten Controlprüfungen
abgegebenen Anworten etwa mit jenen beim deutschen ärztlichen
Staatsexamen vergleichen, so würde Jeder erklären, dass erstere von
letzteren glänzend abstechen. Es ist eben leicht, über ein beschränktes
Gebiet eine schöne Prüfung abzulegen, wenn man Zeit und Gelegenheit
hat, sich für diese Prüfung speciell vorzubereiten. Wer also Freude
an schönen Antworten der Candidaten hat, wird die Controlprüfung
bevorzugen; wer aber auf geistige Durchbildung und Schulung das
Gewicht legt, wer der Devise folgt: Lerne nicht für die Prüfung,
sondern für den Beruf, der wird die schöne Prüfung nicht als Selbst¬
zweck betrachten, der wird sich nicht darum kümmern, wde viele
Kenntnisse der Candidat während seiner Studien auf Nimmerwieder¬
sehen durch sein Gehirn gejagt hat, sondern wird sich mit den
mageren, aber werthvollen Resultaten der Reifeprüfung begnügen.
Denn darüber dürfen wir uns nicht täuschen: die Reifeprüfung kann
nicht durch correct und geläufig hergesagte Systeme und Aufzählung
von Reihen, durch Vorführung minutiöser Details glänzen, sie kann
nur den bescheidenen Anblick eines jungen, zur Weiterbildung be¬
fähigten Arztes bieten.
Es mag sein, dass manche Nationen nicht der geschilderten
Controle der Studirenden entbehren können.
Meine Sympathien aber, meine Herren, stehen auf der anderen
Seite. Ich halte es für kein Unglück, wenn der junge Mann, der leicht¬
sinnig genug ist, einen oder mehrere Semester zu verbummeln, oder
sonst seine Studien ungeschickt einzutheilen, an sich die schlimmen
Folgen zu fühlen bekommt. Ich bin für den praktischen Unterricht auch
in der Ausbildung des Charakters. Die selbstgemachten Erfahrungen
können nie ersetzt werden durch die Erfahrungen, die Andere gemacht
haben, so wenig wie die am Krankenbette gemachten Erfahrungen
durch die aus einem Lehrbuche geschöpften, und sei es auch
des besten, nicht ersetzt werden können. Die Aufgabe der Er¬
ziehung liegt nicht darin, Gefahren aus dem Weg zu räumen, sondern
in der Anleitung, Gefahren zu bestehen. Das Missgeschick, dem der
vom Studienzwang freie Student verfallen kann, ist der Verlust eines
oder einiger Semester. Unter Umständen freilich hart für ihn und
für seine Eltern, ist es doch nicht zu vergleichen mit dem Unheil, das
der im Moment der Promotion zum ersten Male aller Fesseln befreite
Arzt anrichten kann, der bis dahin einer ernsten, seinem Willen
und seinem Charakter gestellten Aufgabe nicht begegnet war, weder
das Gefühl der Befriedigung kennt, einen Willenskampf glücklich be¬
standen zu haben, noch jenes der Reue, einer Gefahr erlegen zu sein.
Der grosse Weltweise sagt in „Wilhelm Meister’s Lehrjahre“
N r. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
65
(siebentes Buch): „Nicht vor Irrthum zu bewahren ist die Pflicht des
Menschenerziehers, sondern den Irrenden zu leiten.“
Es wird Sie, meine Herren, nicht wundern, zu hören, dass alle
diese Mannigfaltigkeit der Anschauungen über die Bedeutung der
Prüfungen auch in den unserer Studienordnung zu Grunde liegenden
Gutachten zum Ausdrucke gelangen.
Eine grössere Uebereinstimmung findet man betreffs der Art der
Prüfungen. Minot sagt kurz: „Examination should be practical“. Und
dass die Prüfungen auf das Bethätigen gerichtet sein sollen, wird
allgemein betont.
Die neue Rigorosenordnung hält sich von den geschilderten
extremen Gegensätzen ferne; sie ist nicht radical, wie die Studien¬
ordnung der Harvard University. In Bezug auf die Lernfreiheit hat
sie fast nichts geändert, mit Ausnahme der strengen Theilung in die
zwei Studienabschnitte durch das erste Rigorosum. Diese ist zum Theile
als Controlprüfung gedacht, denn sie will den Studenten zwingen,
die grundlegenden Fächer zu lernen, ehe er in das Gebiet der patho¬
logischen Disciplinen eintritt. In anderer Beziehung ist sie Maturitäts¬
prüfung, indem sie einerseits die Reife des Candidaten für die ge¬
nannten Disciplinen erproben will und andererseits die Gegenstände
so prüft, wie es bei einer Reifeprüfung geschehen muss, nämlich in
rascher Aufeinanderfolge, so dass der Student keine Möglichkeit hat,
sich für die einzelnen Prüfungen vorzubereiten und indem die meisten
Gegenstände gleichzeitig praktisch und theoretisch geprüft werden.
Das zweite und dritte Rigorosum bildet die eigentliche ärztliche
Reifeprüfung. Auch hier sind die Examina aus den einzelnen Gegen¬
ständen nahe aneinander gerückt. Manche sind, wie ich bemerkt zu
haben glaube, geneigt, diese Neuerung als Erschwerung zu betrachten.
Meines Erachtens mit Unrecht, wenn es sich um Candidaten handelt,
welche während ihrer Studienzeit sich wirklich für ihren Beruf vorbe¬
reitet haben. Eine Erschwerung mag dies allerdings für Jene sein,
welche gewöhnt sind, „für die Prüfung“ aus Büchern oder Scripten
zu lernen. Erstere werden froh darüber sein, weil ihnen bei den ver¬
einigten praktisch-theoretischen Prüfungen Gelegenheit geboten ist, in
der Untersuchung eines Patienten, in der Ausführung irgend einer
Messung, einer Analyse, bei der mikroskopischen Untersuchung eines
Secretes, bei der Stellung einer Diagnose ihre Uebung und jede Art
ihres ärztliches Könnens zu erweisen. Sie werden entsprechen, auch
wenn sie Schwierigkeiten haben, ihre Gedanken, Eindrücke und Folge¬
rungen in Worte zu kleiden, sei es, dass sie der Sprache nicht voll¬
kommen mächtig sind, was ja bei uns nicht selten ist, sei es, dass sie
in der üblichen Prüfungsverlegenheit und sprachlich wenig gewandt,
nur mühsam und tastend die richtigen Ausdrücke zu finden vermögen.
Letztere werden freilich in der Regel vergeblich nach jenen Schlag¬
worten und Phrasen suchen, in deren Einprägung sie ihre Aufgabe
erblickt haben. Wenn sie dieselben in ihrem Gedächtniss nicht finden,
so werden sie eben, durch die Erfahrung belehrt, diese Art des Studiums
aufgeben und den richtigen Weg einschlagen. Der Charakter der
Prüfungen wird sich unter diesen Umständen von selbst ändern, wenn
die Bedingungen andere geworden sind, unter welchen sie abgelegt
werden, gerade so, wie der Charakter der Maturitätsprüfung ein anderer
ist, als jener der gymnasialen Controlprüfungen, auch wenn in beiden
dieselben Candidaten und dieselben Prüfer fungiren.
Die Furcht vor einer durch das Zusammendrängen der Prü¬
fungen bedingten Erschwerung beruht meines Erachtens auf einem be¬
sonders in Studentenkreisen weit verbreiteten Irrthum. Das Mass für
die Schwierigkeit einer Prüfung kann doch immer nur der Wahrschein¬
lichkeitsgrad sein, ein schlechtes Calcul zu erhalten. So kann die
Prüfung bei einem Examinator schwerer sein als bei einem anderen,
weil er einen grösseren Bruchtheil der Candidaten reprobirt. Aber, meine
Herren, bei einem gegebenen Studentenmaterial und einer gegebenen
Prüfungscommission sind die Prüfungen, ganz unabhängig von ihrer
Organisation, immer gleich schwer. Bei uns z. B. fallen circa 10%
der Candidaten durch und dieser Procentsatz wird der gleiche bleiben,
weil der Examinator es nicht über sich bringt, sich wohl auch nicht
berechtigt fühlt, einen grösseren Procentsatz zu reprobiren. Wenn
es allen Candidaten unmöglich gemacht wird, sich für die Prüfung
vorzubereiten, wenn sie sich alle nur für den Beruf ausbilden
können, dann werden nicht jene 10% durchfalleD, welche sich am
ungenügendsten für die Prüfung, sondern jene, welche sich am
schlechtesten für den Beruf vorbereitet haben. Die Prüfung wird
nicht schwerer sein, sondern ihren Charakter geändert haben, und
zwar zu ihrem Vortheile.
Auch die Prüfungen des ersten Rigorosums werden sich in
ihrer Physiognomie ändern. Hat es sich doch heute eingebürgert, dass
bei der praktischen und theoretischen Prüfung eines Faches nicht nur
die Art der Prüfung, sondern auch der Stoff verschieden ist. Das hat
zur Folge, dass ein Student den Stoff auch eines Faches nicht gleich¬
zeitig beherrscht, sondern erst über einen Theil und Monate oder
Jahre später über den zweiten Theil desselben Prüfung ablegt.
Wie Sie, meine Herren, schon gesehen haben, wird sich die An¬
zahl der Prüfungsfächer in der neuen Rigorosenordnung nicht unbe¬
deutend vermehren.
Es ist das umso auffallender, als wir, wie Ihnen dieselbe Tabelle
zeigt, schon heute nennenswerth mehr Prüfungsgegenstände haben, als
manches andere Land, vor Allem Deutschland, dessen Studienorganisa¬
tion der unserigen sonst am nächsten steht. Diese Vermehrung des
Prüfungsstoffes ist meines Erachtens die anfechtbarste Seite der neuen
Bestimmungen und wenn ich Ihnen meine persönliche Ansicht mit¬
theilen soll, so geht dieselbe dahin, dass wir eine gediegenere und
tiefere Ausbildung des Arztes erzielen würden, wenn der Prüfungsstoff
nicht so sehr in die Breite ginge.
Hier steht die neue Verordnung unter dem Drucke zahlreich
und energisch geäusserter Anschauungen von praktischen Aerzten und
von den Vertretern engerer Fächer. Ganz ähnlich wie das bei den
Gymnasien der Fall war, wo vom Publicum und von Lehrern immer
wieder Neues als Unterrichtsstoff verlangt wurde, so war es auch bei
den Gutachten, welche dieser Prüfungsordnung zu Grunde liegen. Von
der Vorstellung durchdrungen, dass der Arzt am ersten Tage seiner
Praxis zu einem Falle gerufen -werden kann, bei dem er specialistische
Kenntnisse im strengsten Sinne des Wortes aufweisen soll, wurde die
Anforderung gestellt, dass der Arzt nicht nur allgemein mediciniseh
gebildet, sondern auch in specialistischen Zweigen orientirt sein müsse;
auch in den theoretischen Fächern ist dieser Drang zum Specialisiren
auf das Lebhafteste zum Ausdrucke gebracht worden.
Eine Minderzahl von Fachleuten steht auf dem Standpunkte,
dass der Mediciner unmöglich in fünf Jahren die Eignung erwerben
kann, als junger Arzt, in einen Marktflecken versetzt, sofort jeden
internen, chirurgischen, geburtshilflichen, dermatologischen, psychiatri¬
schen, oculistischen, gerichtsärztlichen Fall am Kinde und am Erwach¬
senen sachverständig zu behandeln, die Technicismen der Laryngologie,
Otiatrie, Ophthalmologie, der Zalmheilkunde der mikroskopischen
Untersuchung, der Pharmakognosie u. s. w. zu beherrschen. Diese
Minderzahl, zu welcher auch ich mich rechne, findet: was in dem Quin¬
quennium erreicht werden könne und was bei dem rapiden Flusse, in
welchem sich die medicinischen Methoden unserer Zeit befinden, von
grösster Bedeutung ist, bestehe in einer gründlichen theoretischen und
einer intensiven, durch die medicinischen Hauptfächer vermittelten
praktischen Schulung und Durchbildung des jungen Mannes, auf Grund
deren er in den Stand gesezt wird, nicht nur der Entwicklung der
medicinischen Wissenschaften zu folgen, sondern sich auch noch nach
Verlassen der Schule in gewisse Specialzweige einzuai beiten.
Wie die Ministerialacten ergeben, hat sich bei den Berathungen
des Jahres 1872, die zur heute geltenden Rigorosenordnung führten,
Rokitansky entschieden gegen die Einführung von Prüfungen aus
den engeren Fächern ausgesprochen. Nur die allerwichtigsten, wie
Dermatologie und Syphilis, wollte er beim Examen vertreten sehen, im
Uebrigen fürchtete auch er eine Verflachung der Ausbildung durch
Zersplitterung des Unterrichtes.
Die neue Rigorosenordnung hält sich auch in diesen Beziehungen
ziemlich in der Mitte zwischen den beiden Gegensätzen. Sollte sie in
der Richtung der Specialisirung zu weit gegangen sein, so wird sich das
bald zeigen. Dies geschieht immer in derselben Form; es werden gewisse
Gegenstände eben nur scheinbar, d. h. nur für die Prüfung gelernt,
ohne jeden nachhaltigen Nutzen. Der Candidat fühlt das, und der
Prüfungsgegenstand wird dann als nutzlose Belästigung empfunden.
Wie immer die Prüfungen eingerichtet sein mögen, Eines darf
nicht übersehen werden: wichtiger als jede Prüfungsordnung ist der
Prüfer selbst. Ein guter Prüfer wird bei der schlechtesten Prüfungs¬
ordnung erfreuliche Resultate in seinem Fache erzielen. Die Rigorosen¬
ordnung kann demnach nur den Intentionen des guten Prüfers ent-
gegenkommen und ihm die Möglichkeit bieten, so zu examiniren, wie er
es für zweckmässig erachtet.
Schliesslich, meine Herren, noch ein Wort über das sowohl bei
uns wie in Deutschland so oft besprochene Spitalsjahr. In der Rigorosen¬
ordnung wurde von demselben abgesehen, und zwar, so weit ich das
zu beurtheilen vermag, aus folgenden Gründen: die Mehrzahl der jungen
Aerzte tritt schon heute in den Spitalsdienst ein. Die Vorschreibung
des Spitalsjahres würde also eine Wirkung blos auf Jene ausiiben,
welche den Spitalsdienst nicht mitmachen wollen.
Es war nun kein Mittel zu finden, welches diese zu zwingen
vermöchte, das Spitalsjahr nicht nur formell zu frequentiren, sondern
aus demselben auch den für ihre weitere Thätigkeit erhofften Nutzen
zu schöpfen.
Wenn der junge Arzt, statt sich im Krankenzimmer zu bethä¬
tigen, spaziren geht, sich widerspenstig, absichtlich ungeschickt und un¬
brauchbar benimmt, so wäre ihm — hat man gesagt — die Frequenz des
Spitalsdienstes nicht zu bestätigen. Dabei ist aber zu bedenken, dass
die jetzt von der Universität durch ihren Rector auf Grund von be¬
hördlichen, unter den Augen des Regierungsvertreters abgehaltenen
Prüfungen gewährte Venia practieandi dann von dem Urtheile eines
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 3
6G
Primarius irgend eines Spitales gespendet werden würde. Die Befürch¬
tung ist wohl nicht unberechtigt, dass zwischen dem jungen, frisch
von der Universität kommenden und von dem Werthe des daselbst
Erworbenen tief durchdrungenen, vielleicht für seinen Beruf zu sein-
begeisterten Arzte und dem betreffenden, in manchen Punkten etwa
anders denkenden Abtheilungsvorstande manche Differenz Vorkommen
würde. Bei einer solchen nicht harmonischen Stimmung müsste dem
Primarius die ihm zugemessene Machtvollkommenheit zur Pein werden.
Erwägt man weiter, dass es der Sanitätsverwaltung unbenommen
bleibt, als Bedingung für die Verleihung einer Arztesstelle im öffent¬
lichen Dienste die Spitalspraxis zu verlangen, und dass jenseits der
österreichischen Grenzpfähle, in Deutschland, die Praxis vollkommen
frei ist, so wird man es begreiflich finden, dass man die durch unser
Doctorat dem Publicum gewährte Garantie für genügend erachtet hat,
und der Universität ihr uraltes Recht der Verleihung der Venia prac-
ticandi nicht entziehen wollte.
Eine bessere praktische Schulung, als bisher unsere Mediciner
erfahren haben, ist allerdings dringend wünschenswert ; die neue
Rigorosenordnung hofft dieselbe mit Unterstützung der Professoren-
collegien dadurch zu erreichen, dass sie die Möglichkeit bietet,
wenigstens an Universitäten mit grosser Studentenzahl die Extraordi¬
narien und Privatdocenten in grösserem Maasse als bisher für den
praktischen Unterricht heranzuziehen und so auch das diesen zur Ver¬
fügung stehende Ivrankenmaterial für den Unterricht zu verwerthen.
Das Interesse derselben für die regelrechte Unterweisung der
Studirenden am Krankenbette kann dadurch geweckt werden, dass sie
als ausserordentliche Examinatoren zu den praktischen Prüfungen aus
interner Medicin und Chirurgie herangezogen weiden. Auch in diesem
Punkte würde dann ein Postulat unseres Altmeisters Rokitansky
erfüllt, der sich im Jahre 1872 für die Zuziehung der Extraordinarien
und Privatdocenten zur Prüfung eingesetzt hat.
Gelingt es in dieser Weise, den Studenten in innigere fach¬
männische Berührung mit den Patienten zu bringen, so wird die Ver-
theuerung des Studiums, die durch ein angehäugtes Dienstjahr bedingt
wäre, erspart, und doch die Rigorosenordnung zu einer wesentlichen
Verbesserung der ärztlichen Schulung führen.
REFERATE.
Lehrbuch der Hygiene.
Von Rubner.
6. Auflage.
Leipzig und Wien 1 899, Franz De u ticke.
Der kurze Zwischenraum, welcher das Erscheinen der ein¬
zelnen Auflagen des Rubner’schen Werkes trennt, spricht am
unmittelbarsten für den sicheren Platz, den sich dasselbe in der
Reihe der hygienischen Lehrbücher errungen hat.
In der vorliegenden sechsten Auflage ist im Wesentlichen die
bisherige Anordnung des Stoffes beibehalten, einzelne Capitel haben,
entsprechend den Fortschritten der letzten Jahre, eine Umarbeitung
und Ergänzung erfahren, auch wurde dem Werke eine Anzahl
neuer Abbildungen eingefügt. Wir verweisen insbesondere auf die
Capitel: Beleuchtung, Vorkommen und Verbreitung von Volkskrank¬
heiten, ebenso auf einzelne Abschnitte der Ernährung.
Bei den allgemein bekannten Vorzügen der Rubner’schen
Hygiene, welche in knapper Form einen überaus reichen Inhalt
bietet, kann auch diese neueste Auflage wärmstens empfohlen
werden. Grassberger.
Vorlesungen über die Physik des organischen Stoff¬
wechsels.
Von Emil du Bois-Reymond.
Berlin, 1900, A. Hirschwald.
208 Seiten.
Es sind die Sommervorlesungen, welche du Bois-Rey¬
mond regelmässig seit dem Jahre 1856 bis einschliesslich 1896
an der Berliner Universität gehalten hat, die nun von dessen Sohne
Rene nach kurz gefassten Aufzeichnungen herausgegeben wurden.
DieAero- und Hydrodynamik sowie die Diffussionserscheinungen
der Lösungen bilden den wesentlichen Kern des vorliegenden
Werkes. Es ist lebhaft zu beklagen, dass dasselbe nicht vor etwa
80 Jahren erschienen ist, denn dem Stande der Lehre in jener
Zeit entspricht sein Inhalt. Soweit dies ohne völlige Umarbeitung
der Materie möglich war, versuchte der Herausgeber durch An¬
merkungen auf die gegenwärtigen Anschauungen hinzuweisen. Der
bescheideneren Aufgabe, dem Fachmanne ein Buch von persönlichem
oder historischen Interesse zu bieten, auf welche sich R. du
Bois-Reymond in dor Vorrede selbst beschränkt, hat er in
anerkennenswerlher Weise entsprochen, vor Allem für jenen Kreis
von Männern, welchen des grossen Physiologen Persönlichkeit in
unmittelbarer Erinnerung steht.
Du Bois-Reymond’s Persönlichkeit muss auch auf Jene
wirken, die deren Spuren nur aus seinen Schriften kennen. Am
sympathischesten tritt sie hervor in seinem bewundernswerthen
Werke über thierisehe Elektricität. Der junge Forscher, welcher
fast ein Jahrzehnt hindurch Schritt für Schritt die grössten metho¬
dischen Schwierigkeiten überwindet und auf die Gefahr hin, von
anderer Seite um die Früchte seiner Thätigkeit gebracht zu werden,
ruhig mit der Veröffentlichung wartet, um Vollkommeneres und
Vollständigeres zu bringen, wird stets ein Vorbild bleiben. Interessant
und fesselnd wusste du Bois allgemeine Fragen zu behandeln
und seine bekannten Betrachtungen über das dynamische Gleich¬
gewicht in der belebten Natur leiten auch die »Physik des orga¬
nischen Stoffwechsels« ein, während sie in eine Umschreibung des
viel citirten »Ignorabimus» ausklingt.
Die Verwirklichung des hundertjährigen Traumes der Physiker
und Physiologen von der völligen Identificirung der elektrischen
Erscheinungen am Nerven mit dessen Lebensäusserungen ist ein
Traum geblieben und die modernere Biologie musste, um freie
Bahn zu gewinnen, die mechanistische Auffassung R e y m o n d’s
aufgeben. Wer würde darob die Fülle von Anregungen vermissen,
die Reymond’s Irrthümer gebracht haben?
Möge das Werk aus seinem Nachlasse in weiten Kreisen
persönlichen Widerhall finden. Pauli.
Ueber physikalisch-chemische Methoden und Probleme
in der Medicin.
Von Dr. Wolfgang Pauli.
Wien 1900, Perles.
In den letzten Jahrzehnten ist, man kann sagen, ein neues
Wissensgebiet entstanden, das, zwischen Chemie und Physik liegend,
sich mit dem Problem der Abhängigkeit physikalischer Eigen¬
schaften oder Vorgänge von dem chemischen Bau der Körper be¬
schäftigt. Wenn auch Manches noch seiner endgiltigen Klärung
harrt, so wurden doch Beziehungen gefunden zwischen dem mole-
cularen Bau von Substanzen und ihren Farben, ihrer Fluorescenz,
ihrem Vermögen, die Polarisationsebene zu drehen, oder ihrem so¬
genannten osmotischen Druck u. s. w. Wichtige und weittragende
Gesetze, besonders was letzteren betrifft, auch für das Verständniss
der Vorgänge im lebenden Körper grundlegende Lehrsätze sind
gefunden und allgemein anerkannt. Es war deshalb ein Verdienst
W. Pauli’s, kürzlich in der k. k. Gesellschaft der Aerzte zu Wien
eine zusammenfassende Darstellung der Grundfragen dieser modernen
physikalischen Chemie vorzutragen und dadurch das ärztliche Pu¬
blicum, das naturgemäss diesen neuen Forschungsrichtungen grössten-
theils nicht folgen konnte, wenigstens aufmerksam zu machen auf
jene Thatsachen und Probleme, die längst bekannt, aber als voll¬
kommen von einander unabhängig betrachtet, nunmehr durch die
neuen Gesichtspunkte in causalem Zusammenhänge oder in voller
Analogie untereinander (Gasgemische und Lösungen) erscheinen.
Dieser Vortrag Pauli's ist als selbstständiges Heftchen von
29 Seiten erschienen, und kann jedem Arzte zur Orientirung in
der genannten Richtung empfohlen werden. Sigm. Exner.
Die Beziehungen der Akromegalie zum Myxödem und
zu anderen Blutdrüsenerkrankungen.
Von F. Pineies.
Volkmann’s Sammlung klinischer Vorträge. Neue Folge Nr. 242.
Leipzig 18J9, Breitkopf & Härtel.
Der lesenswerthe Aufsatz geht von zwei selbst beobachteten
Fällen von Akromegalie aus, welche eine Anzahl von Symptomen
aufweisen, die nicht dieser Krankheit, sondern dem Myxödem zu¬
gehören, insbesondere Veränderungen der Haut und Stupor. Daran
reiht der Verfasser eine Zusammenstellung ähnlicher Fälle aus der
Literatur und weist auf die Beziehungen hin, welche sich zwischen
zwei sogenannten Blutdrüsen, der Schilddrüse und der Hypophysis,
sowie zwischen der Akromegalie und Erkrankungen des Genitales
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
67
i
und des Pankreas einerseits, dem Morbus Basedowii und Diabetes
und Erkrankungen derselben Organe andererseits bestehen. Er nimmt
an, dass die Akromegalie dem Myxödem nabe verwandt und eine
Blutdrüsenerkrankung sei, sowie dass die Hypophysiserkrankung bei
der Akromegalie zu den Krankheitsursachen gehöre und nicht den
übrigen Erscheinungen des Leidens gleichwerthig sei.
M. Sternberg (Wien).
THERAPEUTISCHE NOTIZEN.
L. Fürst in Berlin berichtet über gute Erfolge, die er
mit der „B a c k h a u s - M i 1 c h“ bei der Ernährung der Säuglinge
erzielt hat. Sie wird bekanntlich in der Weise hergestellt, dass die
centrifugirte Milch mit Trypsin versetzt wird, wodurch das Casein der
Kuhmilch in mehr oder minder grösserem Umfang zur Lösung kommt.
Für die einzelnen Stadien der Säuglingsernährung wird dieselbe in
drei Sorten hergestellt, welche ihrer Zusammensetzung nach einen
Uebergang von der Frauen- zur Kuhmilch bilden. — (Therapeutische
Monatshefte. October 1899.)
*
Die Chinasäure als Antiar thriticum. Yon Doctor
Weiss (Basel). Dieselbe soll das Ausfallen der Harnsäure verhindern.
Weiss empfiehlt sie in der Form von Urosintabletten (chinasaures
Lithion) zu 05 Ac. chinic., die prophylaktisch durch vier bis fünf
Wochen zu sechs bis acht Stück täglich — bei Anfällen zehn Stück
— anzuwenden wären. Bei rein rheumatischen Anfällen ist die China¬
säure ohne Wirkung. — (Klinisch-therapeutische Wochenschrift. 1899,
Nr. 48.) Pi.
NOTIZEN.
Ernannt: Der a. o. Professor für mikroskopische Anatomie
in Berlin, Dr. Gustav Fritsch, zum o. Honorarprofessor. —
Privatdocent Dr. Gränouro zum Professor der Augenheilkunde
in Breslau. — Der Professor der Hygiene in Heideiber g,
Hofrath Ivu au fl, zum Geheimen Hofrath. — In Basel die
a. o. Professoren Dr. Courvoisier (Chirurgie) und Dr. K. Mel¬
lin g e r (Augenheilkunde) zu o. Professoren. — Der Professor der
Hygiene zu Lyon, Dr. Bard, zum Professor der medicinischen Klinik
in Genf. — Dr. M u r a t o n, a. o. Professor der Geburtshilfe und
Gynäkologie in Dorpa t, zum o. Professor. — Dr. E o o s i n g zum
Professor der Chirurgie in Kopenhagen.
*
Habilitirt: Dr. S a 1 a g h i für Orthopädie in Florenz,
Dr. Arnoldow für Hygiene in K a s a n, Dr. P o 1 i a k o w für
Krankheiten der Respirationsorgane in M oskau und Dr. B e 1 1 i s a ri
für Neurologie in Neapel.
*
Gestorben: Oberstabsarzt i. R. Dr. Eduard Ram¬
bo u s e k in Prag.
*
Das österreichische Comite macht, betref¬
fend die Beschickung, des XIII. internationalen
Congresses (Paris 2. bis 9. August 1900) auf folgende Punkte
aufmerksam
Mitglieder können sein: Doctoren der Medicin oder Gelehrte
überhaupt, die von dem betreffenden Landes-Comite dem Pariser
Executiv- Comite namhaft gemacht werden.
Der Mitgliederbeitrag beträgt 12 fl. — 20 Mk. = 25 Frcs.
Die Anmeldung geschieht auf besonderen Unterzeichnungszetteln,
die mit der Visitkarte und dem Beitrage an Herrn Prof. Politzer
in Wien, L, Gonzagagasse 19, einzusenden sind. Die Unterzeichnungs¬
zettel sind beim Portier der k. k. Gesellschaft der Aerzte, im Doctoren-
Collegium, bei den Präsidenten der ärztlichen Vereine, in den Provinzen
bei den Aerztekammern zu haben.
Bezüglich der Unterkunft in Paris kann man sich wenden an
die: Societe francaise des „Voyages Duchenire“ (Bureau 20, Rue de
Grammont), an die Entreprise des Voyages Pratique (9, Rue de Rome),
an die Agenee des Voyages Modernes (1, Rue de l’Echelle, an die
Agence Lubin (36, Boulevard Haussmann) an die Agenee Desroches
(21, Rue de Faubourg Montmartre) in Paris.
Der Generalsecretär des Pariser medicinischen Congresses,
A. C häuf ford, macht bekannt, dass sämmtliche Linien der französi¬
schen Eisenbahnen den Mitgliedern des Congresses eine Preisreduction
von 50°/0 bewilligen. Behufs Effectuirung der Ermässigung wird jedes
Mitglied seitens des Generalsecretariates in Paris einen Schein zuge¬
stellt erhalten, der an der jeweiligen französischen Einbruchsstation
vorgezeigt und abgestempelt werden muss. Bei der Hinreise wird der
volle Betrag der Fahrkarte erlegt. Nach der Ankunft in Paris weist
dann jedes Mitglied im Bureau des Generalsecretariates den in der
Einbruchsstation abgestempelten Schein vor, lässt ihn daselbst vidiren
und behält ihn als Iiückfahrtsbillet, ohne für die Rückreise bis zur
Grenze wieder zahlen zu müssen.
Hinfahrt voller Betrag, Rückfahrt frei — macht 5On'0 Er¬
mässigung. Selbstverständlich muss dabei zur Hin- und Rückreise die
gleiche Route benützt weiden — Rundreisen sind ausgeschlossen.
Das Generalsecretariat hat auch bei ausserfranzösischen
Bahnen Anfragen um Preisermässigungen zu Gunsten der Congress-
mitgiieder gerichtet, ohne dass bisher eine Einigung zu Stande ge¬
kommen wäre.
Gleichzeitig macht Dr. Chaufford aufmerksam, dass be¬
züglich der Zahnärzte und Techniker nur solche als Congressmitglieder
zugelassen werden können, welche Doctordiplome besitzen.
*
Am 12. Februar 1. J. n. St. wird in St. Petersburg die
vom dortigen Frauen-Gesundheits Schutzverein veranstaltete, unter dem
Protectorate der Prinzessin von Oldenburg stehende Erste Aus¬
stellung der Frauen- Hygiene auf die Dauer von ungefähr
zwei Wochen eröffnet. Die Ausstellung zerfällt in zwei Abtheilungen,
und zwar Privat- und allgemeine Hygiene der Frau.
*
Sanitätsve r hält nissebeider Mann sch a ftdesk.u.k. Heeres
im Monat October 1899. Mit Ende September 1899 waren krank ver¬
blieben bei der Truppe 624, in Heilanstalten 4267 Mann. Kranken¬
zugang im Monat October 1899 22.657 Mann, entsprechend pro Mille
der durchschnittlichen Kopfstärke 65. Im Monat October 1899 wurden
an Heilanstalten abgegeben 13.683 Mann, entsprechend pro Mille der
durchschnittlichen Kopfstärke 39. Im Monat October 1899 sind vom
Gesammtkrankenstande in Abgang gekommen 17.765 Mann, darunter als
diensttauglich (genesen) 13.343 Mann, entsprechend pro Mille des
Abganges 745, durch Tod 65 Mann, entsprechend pro Mille des Ab¬
ganges 3' 66, beziehungsweise pro Mille der durchschnittlichen Kopf¬
stärke 0-19. Am Monatsschlusse sind krank verblieben bei der Truppe
1641, in Heilanstalten 8142 Mann.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 52. Jahreswoche (vom 24. December bis
30. December 1899). Lebend geboren: ehelich 585, unehelich 315, zusammen
900. Todt geboren: ehelich 43, unehelich 16, zusammen 59. Gesammtzahl
der Todesfälle 658 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
20 9 Todesfälle), darunter an Tubereulose 115, Blattern 0, Masern 26,
Scharlach 2, Diphtherie und Croup 12, Pertussis 2, Typhus abdominalis 0,
Typhus exanthematieus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 1, Neu¬
bildungen 58. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
98 ( — 32), Masern 334 (-[- 4), Scharlach 28 ( — 16), Typhus abdominalis
4 ( — 1), Typbus exanthematieus 0 (=), Erysipel 16 ( — 13), Croup und
Diphtherie 54 ( — 1), Pertussis 21 ( — 2), Dysenterie 0 (=), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 2 ( — 3), Trachom 3 ( — 3', Influenza 0 ( — 3).
Freie Stellen.
Districtsarztesstell e in Fl eyh-G e o r g e n d o r f, im Duxer
Vertretungsbezirke, Böhmen. Der rein deutsche Sanitätsdistrict umfasst
die Ortschaften Fleyh, Langewiese, Motzdorf, Willersdorf und Georgendorf
mit dem Jagdschlösse Lichtenwald, mit zusammen 2169 Einwohnern. Mit
dieser vorläufig provisorisch zu besetzenden Stelle ist ein Dienstbezug von
1600 Kronen an Gehalt und 220 Kronen an Reisepauschale verbunden. Die
Haltung einer Hausapotheke erwünscht. Bewerber um diese Stelle, welche
der deutschen Nationalität angehören müssen, wollen ihre mit den Nach¬
weisen ihrer Befähigung und ihrer bisherigen Verwendung belegten Gesuche
bei dem Bezirksausschüsse in Dnx bis Ende des Monates Januar 1900
einbringen. Aerzte mit Doctorsdiploin haben vor anderen Bewerbern den
Vorzug. Nach entsprechender Verwendung des Bestellten erfolgt spätestens
nach Jahresfrist definitive Anstellung.
Districtsarztesstelle in Goldenstein, Mähren. Der District
besteht aus sechs Gemeinden und 4972 Einwohnern deutscher Nationalität.
Gehalt 1000, Fahrpauschale 600 Kronen. Im Districte domicilirt kein
zweiter Arzt. Gesuche sind bis 1. Februar 1900 an den Obmann der
Delegirtenversammlung, Nicodemus Kupka in Goldenstein, zu richten.
Gemeindearztesstelle in Göstling a. d. Ybbs, Nieder¬
österreich. Fixe Bezüge: Gemeindebeitrag 360 Kronen, Landessubvention
100 Kronen, von der Bezirkskratikencasse ungefähr 800 Kronen, freie
Wohnung und 20 Raummeter Brennholz. Bewerber wollen ihre Gesuche
bis 31. Januar 1. J. an die Gemeindevorstehung in Göstling a. d. Ybbs
einsenden.
Gemeindearztesstelle für die Gemeinden Kircblram und
Gschwandt, politischer Bezirk Gmunden, mit dem Sitze in Kirchham,
Oberösterreich. Gesammteinwohnerzahl 2700. Fixe Bezüge: Jährliche
Subvention aus dem Landesfonde 400 Kronen, seitens der beiden Ge
meinden 800 Kronen, mithin zusammen 1200 Kronen. Gesuche sind au
die Gemeindevorstehung in Kirchham zu richten.
68
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 3
Von der Bibliothek.
Nachstehende Werke wurden seit 4. Januar 1900 (siehe
Nr. 1, 1900 der »Wiener klinischen Wochenschrift«) von
dem Gefertigten für die Bibliothek der k. k. Gesellschaft
der Aerzte in Empfang genommen:
INT r_ 6.
Geschenke :
a) Von Behörden, Instituten, Vereinen und Privaten.
Annales de la policlinique de Bordeaux. 1899 complet. Vom Comite der
Redaction.
Annales d’Hygiene publique et de Medecine legale. Paris 1899. Tom. XLI,
XLII, complet. Von der Verlagshandlung J. B. Bailiiere tt fils.
Archivio per le scien/.e mediche. Torino 1898. Vol. XXII complet, 1899
Vol. XXIII fase. 1 — 3. Von der Verlagshandlung C. Clausen
in Turin.
Blätter für klinische Hydrotherapie. Wien 1899, complet. Von Herrn Pro¬
fessor Winternitz
Central-Anzeiger, Aerztlieher. Wien 1899, complet. Vom Herausgeber.
Chemiker-Zeitung, Oesterreichische. Wien 1899, complet. Von Herrn Doc'or
H. Heger.
Comptes rendus hebdom. de l’academie des sciences. Paris 1899. 4°. Se-
mestre I et II complet. Von der Academie des sciences.
Gemeindeverwaltung der Stadt Wien in den Jahren 1894 — 1896. Wien 1898.
Vom Bürgermeister Dr. C. Lueger.
Jahrbuch der k. k. geologischen Reichsanstalt Wien. 1898 complet, 1899
Heft 1—3.
Jahrbuch der Wiener k. k. Krankenanstalten. Jahrgang 1897. Wien 1899.
4°. Von der k. k. n.-ö. Statthalterei.
Jahrbuch, Statistisches, der Stadt Wien für das Jahr 1897. Wien 1899.
Von dem statistischen Departement des Wiener Magistrates.
Jahrbücher für Psychiatrie. Wien 1898/99. Bd. XVII complet, Bl. XVIII
Heft 1-3.
Jahresbericht über die Fortschritte in der Lehre von den pathogenen
Mikroorganismen. . . Herausgegeben von Prof. Dr. P. v. B a u m-
g arten. Tübingen 1898/99. 8". Von Herrn Prof. v. Baum¬
garten.
Journal, The British Medical. London 1899, complet. Von der British
Medical Association.
Irrenfreund, Der. Psychiatrische Monatsschrift für praktische Aerzte.
Heilbronn 1898/99. Bl. XL, Heft 1 — 10. Vom Herausgeber Doctor
Friedr. Betz in Heilbronn.
Die therapeutischen Leistungen des Jahres 1898. Wiesbaden 1899. 8U. Von
Herrn Dr. A. Pollatsche k in Karlsbad.
Leopoldina. Halle a. S. 1899, Nr. 1 — 11. Von Herrn Professor Ed.
Lang.
Memorabilien. Zeitschrift für rationelle praktische Aerzte. Heilbronn 1898/99,
Heft 1 — 7. Von Herrn Dr. F. Betz in Heilbronn.
Mittheilungen aus der medicinischen Facultät der kaiserlich Japanischen
Universität in Tokio. Tokio 1899, Bd. IV, Heft 1—4. Von der medi¬
cinischen Facultät in Tokio.
Mittheilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien. Wien 1898,
Bd. XXVIII complet, Bd. XXIX Heft 1 — 5.
Mittheilungen des statistischen Departements des Wiener Magistrates.
Wien 1899. 4°. Enthält: Monatsberichte und Wochenberichte. Vom
statistischen Departement.
Mittheilungen des Wiener medicinischen Doctoren-Collegiums. Wien 1899,
complet.
Monatsschrift für Gesundheitspflege. Wien 1899, complet. Von Herrn Pro¬
fessor Dr. R. Paltauf.
Pressa Medicala Romana Bucuresci. 1898/99 complet. Von Herrn Professor
Dr. Petri ni de Gal atz.
Pester medicinisch-cliirurgische Presse. Pest 1899, complet. Von Herrn
Dr. L. Unge r.
Proceedings of the Laryngological Society of London. London 1898/99,
complet. Von der Laryngological Society of London.
Le Progres Medical. Paris 1899, complet. Vom Bureaux du Progres
Medical.
Report of the Medical Officer. 1888. London 1899. 8°. Vom Medical Officer
in London.
Report annual of the Alumni Association Philadelphia. Philadelphia 1899,
complet. Von der Alumni-Association in Philadelphia.
Revue de Chirurgie. Paris 1899, complet. Von der Verlagshandlung Felix
Alcan in Paris.
Revue de Medecine. Paris 1899, complet. Von der Verlagshandlung Felix
Alcan in Paris.
Statistik, Norges officiella 1896/97. Stockholm 1898. 4°. Vom statistischen
Centralbureau in Stockholm.
Statistik, Sveriges officielle. 1896 97. Christiania 1899. 8°. Vom Medicinal-
director.
Tijdschrift for Nederlandsch-Indie. Batavia 1899, Bd. XXXIX, Heft 1-4.
Von Sr. Excellenz Dr. Ritter v. Scherz er.
Verhandlungen der kaiserlich-königlich geologischen Reichsanstalt. Wien 1899.
Von der k. k. geologischen Reichsanstalt.
Verhandlungen des Congresses für innere Medicin. Wiesbaden 1899. Im
Aufträge des Congresses von der Verlagshandlung.
Vierteljahrsschrift für Zahnheilkunde, Oesterreichisch-ungarische. Wien 1899,
complet. Von Herrn Dr. J. Weiss.
Zeitschrift des Allgemeinen österreichischen Apothekervereines. Wien 1899.
8°, complet. Vom Allgemeinen österreichischen Apoihekerverein.
Zeitschrift für Heilkunde als Fortsetzung der Prager Vierteljahresschrift
für praktische Heilkunde. Berlin 1899. Von dem Herausgeber.
Annales de la Societe Beige de Chirurgie. Bruxelles 1898 99, complet.
Albany Medical Annals. Albany 189d, complet.
Archiv für Ohrenheilkunde. Leipzig 1899. Bd. XLVI complet, Bd. XLVII
lieft 1—4.
Archivio Italiano di Otologia, Rhinologia. Torino 1898/99, complet.
Arkiv Nordisk Medieinskt. Stockholm 1899, Bd. X, Heft 1 — 5.
Bristol Medical and Surgical Journal. Bristol 1899, Heft l — 3.
Bulletins et Memoires da la Societe de Chirurgie de Bucarest. Tom. I,
complet.
Centralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie. Coblenz und Leipzig
1899, complet.
Centralblatt, Medicinisch-chirurgisches. Herausgegeben von Dr. Ed.
Fischer. Wien 1899, complet.
Correspondenzblatt der deutschen Gesellschaft für Anthropologie. München
1899, Heft 1—9.
Gazetta degli ospedali. Milano 1899, complet.
Giornale della Accademia medica di Torino. Torino 1899, complet.
Handllnger Finska Läkaresallskapets. Helsingfors 1899, complet.
Orvosi Hetilap. Budapest 1899, complet.
The American Journal of the med. sciences. Philadelphia 1899, Tom. I
und II complet.
The Internal. Journal of Surgery New York 1899, complet.
Pediatrics. New York and London. 1898, complet.
Przeglad Lekarski. Krakow 1899, complet.
Revue internationale de Rliinologie, Otologie et de Laryngologie. La Parol.
Paris 1899, complet.
Riforma Medica. Napoli 1890, Tom. I, II, III, IV complet.
Rivista d’Igiene e di medicina pratica. Napoli 1899, complet.
Sitzungsberichte der Gesellschaft für Morphologie und Physiologie in
München. München 1899, Heft 1 — 2.
Tijdskrift for den Norske Laegeforening. Christiania 1899, complet.
Transactions of the Clinical Society of London. London 1899, Vol. XXX11.
Weekblad, Nederlandsch. Amsterdam 1899, complet.
*
b ) Von der Redaction der Wiener klin. Wochenschrift :
Wolf Gustav, Eine applicatorische Uebung im Freien für Militärärzte und
Sanitätsofficiere. Wien und Leipzig 1899. 8°.
Mankowsky A., Un moyen simple et rapide du diagnostic differentiel des
baciiles de la fievre typhoide et du bacillus coli communis. (Extr.)
St. Petersburg 1899. 8n.
Mankowski A., Un nouveau milieu de culture pour l’isolation et pour le
diagnostic differentiel des baciiles de la fievre typhoide et du bacillus
coli communis. (Extr.) St. Petersburg 1899. 8n.
Berlioz Fernand, Traitement de la tnberculose par les serums medicamen-
teux. (Communication au Congres de la Tnberculose.) Gre¬
noble 1898. 8°.
Rumrno G , La Morfologia del Cuore nella stenosi mitralica. (Estratto.)
Palermo 1899 8°.
Schloss Heinrich, Ueber Irrenkrankenpflege. (Separatabdruck.) Berlin
1899. 8.
Strohe Leonhard, lieber Hodenektopie. (Inaugural-Dissertation.) Leipzig
1899. 8".
Boing H., Die Syphilis und ihre Heilung durch kleine Gaben Quecksilbers.
Berlin 1895. 8°.
Wiener Hugo, Erklärung der Umkehr des Zuckungsgeselzes bei der Ent-
artungsreaction. Leipzig 1898. 8n.
Lahmann H., Das Luftbad als Heil- und Abhärtungsmittel. Stuttgart 1898. 8°.
Kronfeld M., Die Frauen und die Medicin. Professor Albert zur Antwort.
Zugleich eine Darstellung der ganzen Frage. Wien 1895. 8°.
Rosenbach 0., Heilung und Heilserum. Berlin 1894. 8°.
Poniklo Stanislaus, Einige Bemerkungen zu dem neuen Strafgesetzentwurfe
III. Theil (5. Hauptstück) vom Standpunkte des Hygienikers. Wien
1895. 8n.
Hegewald (Professeur), Introduction au discours sur l’unite de l’espdce hu-
maine. Meiningen 1894. 8°.
Gibson C. L , Mortality and Treatment of acute Intussusception. With
Table of two hundred and thirty-nine Cases. (Separatabdruck.) New
York 1897. 4".
Wien, im Januar 1900. Unger.
EINBAN D DEC KEN
in Leinwand mit Goldpressung zum XII. Jahrgang (1899)
stehen den P. T. Abonnenten zum Preise von 2 Kronen,
bei directem Postbezüge von 2 Kronen 72 Heller zur
Verfügung. — Zu gleichen Bedingungen sind ferner noch
Einbanddecken zum VI. bis XI. Jahrgang (1893 — 1898) zu
haben. — Ich bitte um baldgefällige geschätzte Aufträge.
. Hochachtungsvoll
WILHELM BRAUMÜLLER
k. u. k. Hof- und Universitätsbuchhändler.
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
69
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
IISTHALT:
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien. 71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in München.
Sitzung vom 12. Januar 1900. Vom 17.— 22. September 1899. (Fortsetzung.)
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
Sitzung vom 12. Januar 1900.
Vorsitzender: Hofrath Chrobak.
Schriftführer : Prof. R. Paltauf.
Der Vorsitzende begrüsst die Anwesenheit Sr. Excellenz
v. Hartei, Sectionschef W o 1 f, der Herren Sectionsräthe Dr. Illing
und Dr. Kelle, Min.-Secr. O. Mesencky.
Der Vorsitzende spricht sein Bedauern aus, dass es abermals vor¬
gekommen ist, dass über Vorträge und Krankendemonstrationen in
politischen Blättern berichtet worden ist; er habe bereits einmal Ge¬
legenheit nehmen müssen, darüber eine Bemerkung zu machen, und
dabei in Aussicht gestellt, dass er vorkommenden Falles gezwungen
sei, Legitimationskarten von den Besuchern der Sitzung zu verlangen;
auf das letzte Vorkommniss hin fühle er sich auch veranlasst, die
Legitimation von Seite der Besucher zu verfügen.
Der Vorsitzende theilt ferner mit, dass vom k. k. Justizmini¬
sterium eine Zuschrift an die Gesellschaft gelangt ist, enthaltend das
Expose zur Frage der Gestaltung des österreichischen, internationalen
Urheberrechtes von Werken der Literatur, Kunst und Wissenschaft,
mit dem Ersuchen, die am Schlüsse desselben formulirten Fragen zum
Gegenstände einer Berathung zu machen und ihre gutächtliche Aeus-
serung thunlichst bald dem Justizministerium zu übersenden.
Die Fragen, auf deren Beantwortung das Justizministerium Werth
legt, sind folgende:
1. Liegt unser Anschluss an die Berner Convention und die
Pariser Zusatzacte im Interesse der österreichischen Urheber von Werken
der Literatur, Kunst und Photographie, und welche Gesichtspunkte
sprechen dafür oder dagegen?
2. Erscheint unser Eintritt in die Union vom Standpunkte des
einheimischen Verlages aus als vortheilhaft oder nicht, welche
Gründe kommen in der einen oder in der anderen Richtung in
Betracht?
3. Laufen in dieser Frage auch die Interessen der Urheber und
Verleger, auch die des Publicums parallel und insbesondere, ist von
dem Anschlüsse an die Union eine Förderung oder eine Benachtheili-
gung cultureller Bedürfnisse der Bevölkerung zu erwarten?
4. Für den Fall endlich, als die Interessen der Urheber, der
Verleger und des Publicums hinsichtlich der Frage des Anschlusses an
die Union sich nicht decken, sind die für den Anschluss an die Union
sprechenden Gesichtspunkte die überwiegenden, oder ist es vorzuziehen,
unter Aufrechterhaltung der Grundsätze des österreichischen Urheber¬
rechtsgesetzes auch in Zukunft auf den Abschluss besonderer Urheber¬
rechtsverträge mit den einzelnen Staaten hinzuwirken?
Der Verwaltungsrath hat beschlossen, mit der Beantwortung
dieser Fragen und zur gutächtlichen Aeusserung ein Comite aus fol¬
genden Herren zu betrauen: Dr. H. Adler, Dr. Alex. Fraenkel,
Hofr. Gussenbauer, Prof. P a 1 1 a u f , Dr. P a s c h k i s, Stb.-A.
Dr. Toeply, Hofr. Zuckerkand 1.
Endlich bringt der Präsident noch einige Mittheilungen des
Generalsecretariates des Pariser mediciuischen Congresses zur Kenntniss;
die betreffenden Mittheilurgen — Anmeldung von Vorträgen, Ver¬
zeichniss der Sectionssecretäre, 50% Preisermässigung auf den franzö¬
sischen Bahnen — liegen im Lesezimmer der k. k. Gesellschaft auf.
Prof. Weinlechner stellt vier Kranke vor; mit Rücksicht auf
die späteren Programmpunkte spricht er sich über dieselben in mög¬
lichster Kürze aus und verweist auf die demnächst folgende ausführ¬
liche Publication in diesem Blatte.
1. 64jähriger Wirthschaftsbesitzer, an Arthropathia tabetica
leidend. Im 24. Lebensjahre Lues überstanden; die Beschwerden am
rechten Fusse begannen vor zehn Jahren. Vor zwei Jahren glitt er
beim Aussteigen vom Waggon aus und fiel auf die linke Hüfte. Seit¬
dem Anschwellung der Beine, vorwiegend in den Kniegelenken. Beide
Kniegelenke hydropisch, mit Vegetationen und Genu vulgum-Stellung.
Linkes Bein um 2l 2 3 4l2cm kürzer in Folge dos Falles vom Waggon
(Schenkelhalsfractur) und Knochenwucherungeu excessiver Art am
Schenkelhälse und an der Delle des linken Darmbeines. Je zwei In-
jectionen mit Jod- und Jodoformemulsion in beide Kniegelenke hatten
nur den Effect geringerer Schmerzen in den Beinen, die seit der Ent¬
lassung aus dem Spitale wieder den früheren Umfang erreicht haben.
Schliesslich macht Weinlechner auf die leichte Fragilität der
Knochen bei Tabetikern aufmerksam, welche neben excessiven Knochen
Wucherungen einhergehen.
2. Dermoid am Boden der Mundhöhle bei einem 30jährigen
Bauer, angeblich seit zwei Jahren bestehend, mit enormer Zunahme in
der letzten Zeit, mit hochgradiger Athemnoth und beinahe zeitweiligen
Erstickungsanfällen, so dass die Zunge derart nach hinten verschoben
war, dass man kaum die Spitze beim Vor strecken sah. Operation:
31. December Sagittalschnitt unter dem Kinn und Entfernung des
Balges sammt dem stark fettig degenerirten breiigen Detritus im Ge¬
wichte vom 200 g. Heilung per primam.
3. Subcutane Nierenruptur bei einem 27jährigen Gerüster. Am
10. August 1899 5 m hoher Sturz vom Gerüste, wobei ihm ein Pfosten
auf den Bauch fiel. Zeitweilige Unbesinnlichkeit. Man fand einen etwas
verschieblichen Tumor, welcher die rechte Lendengegend und das
rechte Hypochondrium einen Querfinger unter dem Nabel und zwei
Querfinger links über der Linea alba einnahm. Nur in den ersten
Stunden etwas Blut im Harn, später Urin theils klar, theils durch
Harnsäure getrübt. Probepunction ergab betreffs des vermutheten Urins
kein positives Resultat. Später hochgradiges Fieber. Daher Nieren¬
exstirpation nach 21 Tagen am 31. August. Die Heilung wurde durch
eine nicht eingeheilte Seidenligatur verzögert, und heilte die Fistel
rasch nach der Entfernung der Ligatur am 29. November. Patient
hat sich sehr erholt und sieht prächtig aus. Die mit der 12. Rippe
parallel gesetzte spaltförmige Wunde ist bis auf % cm Tiefe und 2 cm
Länge geheilt. Die demonstrirte Niere war an der unteren Hälfte
dilacerirt, am oberen Pole intact.
4. Eine Vesicorectalfistel am Vertex durch Sturz, 4 m hoch, bei
einem 24jährigen Bauer, Mitte September entstanden nebstbei Sym¬
ptome des Wirbelbruches am untersten Brust- und den ersten zwei
Lendenwirbeln (Kyphose). Erst acht Tage nach der Verletzung zeigten
sich die Symptome der Communicationsfistel, indem aller Urin durch
den After abging. Die Mündung der Fistel konnte in der Höhe von
12% cm vom Rectum aus wohl mit den Fingern getastet, aber mit
dem Spiegel nicht gesehen werden. Am 18. November hoher Blasen¬
schnitt und Vernätiung der überlinsengrossen Fistel unter grossen
Schwierigkeiten. Heilung der Fistel sofort per primam. Die offen be¬
handelte Blasenwunde am 20. December 1899 geheilt. Die anfängliche
Incontinentia alvi geschwunden. Die Schwäche des Detrusor vesicae
noch vorhanden, wesbalb sich Patient zeitweilig noch katheteri-
siren muss.
Dr. Richard Hitsclimann demonstrirt einen Fall von Exoph¬
thalmus inter mitte ns und ausgebreiteten Phlebek¬
tasien im Bereiche der Venae jugular es.
In der Sitzung vom 4. März 1898 hatte ich Gelegenheit, hier
einen Kranken zu demonstriren, bei welchem das Vordringen eines
die Schläfegegend und Schädeldach einnehmenden Aneurysma
cirsoideum in die Orbita zu einseitigem Exophthalmus, neuritischer
Selmervenatrophie und Infraorbitalneuralgie geführt hatte. Ich bin heute
durch die Liebenswürdigkeit des Herrn Hofrathes Fuchs, an dessen
Klinik dieser Patient hier zur Beobachtung kam, in der Lage, ge-
wissermassen ein Gegenstück zu jenem Falle vorzustellen, nämlich
einen Mann mit cirsoiden Phlebektasien im Gebiete der
Venae jugulares beider Seiten, durch deren Auftreten in der rechten
Orbita das seltene Bild des „intermittir enden Exophthal-
m u s“ hervorgerufen wird.
Sie sehen hier einen 23jährigen Mann, in dessen Verwandtschaft,
seines Wissens, Niemand an einer ähnlichen Affection leidet. Er selbst
hatte im Alter von fünf Monaten bis zu zwei Jahren Fraisen, war
aber später immer gesund. Speciell litt und leidet er nicht an Hämor¬
rhoiden, Krampfadern oder Varikocele. Die Veränderungen auf der
rechten Hals- und Kopfseite sollen im zweiten Lebensjahre
entstanden oder wenigstens von den Eltern bemerkt worden sein. Eine
besondere Gelegenheitsursache ist ihnen nicht erinnerlich. Die \ enen-
erweiterungen in der rechten Zungen- und Gaumenhälfte, sowie die
auf der linken Wange sollen erst zwei Jahre bestehen. An ein \ 01
70
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
Nr. 3
treten des rechten Auges beim Bücken und bei körperlicher
Anstrengung kann sich der Patient schon seit früher Jugend
erinnern, es hat ihm nie sonderliche Beschwerden gemacht, nur hat
er aus Rücksicht darauf seinen Beruf erwählt, der ihm keine schweren
Arbeiten auferlegt: er ist Fächermacher. Auch suchte er nicht für das
rechte Auge ärztliche Hilfe, sondern für das linke, in welches ihm ein
Fremdkörper gefallen war.
Der Patient ist mittelgross, gracil gebaut, etwas blass, der
Schädelbau ein wenig rachitisch, der Hals lang, mit einer mässig grossen,
median gelagerten derben Struma ohne Gefässgeräusche behaftet, die
sich percutorisch bis unter das Manubrium sterni verfolgen lässt.
In der rechten Retromandibulargegend sieht man vor dem
Kopfnicker eine überhühnereigrosse, die normal verschiebliche Haut
vorwölbende, flach - höckerige Geschwulst von circa 7 era Höhe und
4 cm Breite. Sie ist nicht schmerzhaft, weich, leicht compressibel und
wie aus vielen gewundenen Strängen zusammengesetzt. Ziemlich central
fühlt man eine scharf begrenzte, harte, kleinerbsengrosse Stelle. Die
Schwellung setzt sich aufwärts über die Regio parotideo-masseterica mit
gleichbleibenden palpatorischen Eigenschaften fort, um sich unmerklich
gegen die Stirngegend zu verlieren, wo nur vereinzelte Venen und
deutlich pulsirende Arterien sichtbar sind. Die ganze Geschwulst wird
vom Carotidenpulse rhythmisch gehoben, besitzt aber keine eigene
Pulsation und lässt kein abnormes Geräusch auscultiren. Bei
Compression der Vena j u g u 1 a r i s unterhalb des Gebildes
schwillt dieses rasch zu ganz bedeutenden Dimen¬
sionen an, es treten bis hinauf zur Haargrenze dicke, gewundene
Venenstränge auf, um nach Aufhören der Compression sehr rasch zu
ihrem früheren Volumen abzufallen. Während der Compression der
Vena jugularis scheinen auch die Arterien auf der rechten Stirnhälfte,
sowie eine schräg über den Nasenrücken verlaufende Arterie kräftiger
zu pulsiren. Ein elastischer, viel weniger prominenter Geschwulstknoten
von circa 5 mm Durchmesser liegt in der Haut der linken Supra-
maxillargrube; er schwillt bei Compression der gleichseitigen Vena
jugularis bedeutend an, lässt sich durch Druck fast bis zum Ver¬
schwinden verkleinern und erlangt nach Aufhören derselben rasch seine
frühere Grösse.
Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass beide Tumoren, als
mit der Vena jugularis externa communicirende diffuse Gefässgeschwiilste
aufzufassen sind : der rechtsseitige als V a r i x racemosus und
die in ihm befindliche harte Stelle als Phlebolith, der linksseitige
als Angioma venosum simplex. Ferner sitzt je ein haselnuss¬
grosser, blaurother, augenscheinlich aus erweiterten Venen bestehender
Tumor dicht unter der Schleimhaut in der rechten Hälfte des harten
Gaumens, wo derselbe in das Gaumensegel übergeht, und in der
rechten Hälfte der Zungenspitze. Die am Zungengrunde
befindlichen Venen erscheinen bedeutend erweitert.
Ich wende mich nun dem Befunde an den Augen zu:
Der knöcherne Orbitaleingang ist beiderseits normal. Während
aber am linken Auge die Haut des Lides eine normale Deckfalte und
einen Sulcus orbito-palpebralis bildet, ist rechts die Haut des
Oberlides zwischen Orbitair and und B u 1 b u s Ober¬
fläche in eine tiefe Höhlung falten los nach hinten
gezogen und schlägt sich dann erst auf den Bulbus um, der etwas
tiefer steht als der linke. Der Lidrand steht ungefähr in der gleichen
Höhe wie der linke, lässt aber einen breiteren Theil der Iris sehen,
weil eben der Augapfel etwas herabgesunken ist. Der
rechte Bulbus ist vor get rieben, sein Hornhautscheitel stebt
nach mehreren Messungen mit dem Ophthalmometer durchschnittlich
circa 9 mm vor dem linken, doch ist diese Differenz, wie wir bald
sehen werden, eine sehr variable und leicht zu beeinflussende. Die
Beweglichkeit beider Augen ist ungestört. Beidei’seits ist die Con¬
junctiva palpebrae inferioris mässig injicirt. Die Venen der unteren
Ueber gangsfalte und der Plica semilunaris, dann die
Conjuncti valvenen der unteren Bulbushälfte, sowie
die Ciliar venen des äusseren und unteren Bulbusantheiles beider
Augen sind stark gefüllt und geschlängelt.
Die Verästelungen der Ciliar venen verschlingen sich unter ein¬
ander zu einem venösen Gefässkranze, der sich circa 5 mm vom
Limbus corneae entfernt hält. Hornhaut, Vorderkammer, Iris, Pupillen¬
weite und -Reaction, Linse und Glaskörper sind no: mal.
Der Fundus beider Augen zeigt gleiche Abnormitäten:
Die Papille ist stark geröthet, ziemlich scharf begrenzt, die Ge-
fässe zeigen schon auf der Papille stärkere Windungen als sonst.
Noch bedeutender sind die Windungen in den Arterien und Venen
der Netzhaut und ebenso die Vergrösserung des Calibers. Bei den
Arterien fällt mehr die Tortuosität, bei den Venen mehr die Verbrei¬
terung ins Auge. Im Uebrigen ist der Augenhintergrund normal. Beide
Augen sind hypermetropbch-astigmatisch, das linke lässt sich zur
vollen Sehschärfe corrigiren, das rechte besitzt eine Sehschärfe von
5/24 und ist hochgradig hypermetropiso.h und astigmatisch.
Will man zum Schlüsse der Untersuchung noch die Tension des
Auges prüfen so fühlt man, wie der Bulbus den auf ihn
drückenden Fingern nach hinten ausweicht. Es ist dies
in besonders ausgeprägter Weise rechterseits der Fall, wo sich durch
Druck ein beträchtlicher Grad von E n o p h t h a 1 m u s erzeugen lässt,
ohne dass der Patient die geringste Unannehmlichkeit empfindet; sowie
der Druck nachlässt, nimmt das Auge seine frühere Position wieder
ein. Pulsation ist nirgends wahrnehmbar, wohl aber hört man über
beiden Augen, und zwar deutlicher über dem linken, ein leises, wie
aus der Ferne kommendes continuirliches Sausen, etwa von dem
Charakter des sogenannten Nonnengeräusches (bruit de diable).
Comprimirt man nun dem Patienten die rechte
Vena jugularis oder lässt man ihn sonst eine Procedur vornehmen,
welche dem Abflüsse des Blutes aus dem Kopfe entgegenwirkt (also
sich anhaltend bücken, pressen etc.), so geht eine bedeutende Ver¬
änderung an seinen Augen vor. Das rechte obere Lid schwillt ein
wenig an, vorher nicht sichtbare Veaennetze werden wahrnehmbar,
der rechte Bulbus tritt langsam und continuirlich
v o r; dabei wird die E'nsenkung über ihm immer seichter, die Con¬
junctival- und Ciliarvenen füllen sich strotzend bis dicht an den Limbus
hin, die Varicositäten in der Plica semilunaris werden voller, endlich
schwillt das untere Lid an und erscheinen auch hier breite Haut¬
venen. Nach circa 15 Secunden langer Compression der rechten Ju-
gularveue hat der Exophthalmus meist sein Maximum
erreicht, dann steht der Scheitel der rechten Hornhaut circa 15 mm
vor dem der linken und das obere Lid pflegt herabzusinken und den
Bulbus zu verdecken, doch kann der Patient, dazu aufgefordert, dies
verhindern. Eine Abweichung des Bulbus nach der Seite findet nicht statt,
doch ist seine Beweglichkeit nun etwas vermindert. Während bisher
der Kranke kein unangenehmes Gefühl hatte, das Vortreten seines
Auges eben nur spürte, treten beim Maximum des Exoph¬
thalmus Schmerzen auf und man muss mit d sr Venencompression
aufhören. Eine Verschlechterung des Sehvermögens dieses schon vorher
amblyopisehen Auges ist nicht zu constatiren, desgleichen keine Ver¬
änderung im Augeuhintergrunde, höchstens eine geringe Zunahme der
Röthung der Pupille. Alle diese Erscheinungen mit Ausnahme des nur
rechtsseitigen Exophthalmus betreffen beide Augen, sie entstehen rascher,
wenn beiderseits die Venae jugulares comprimirt werden. Sowie der
Abfluss des Blutes wieder frei wird, schwinden alle Stauungserscheinungen
schnell, der rechte Bulbus tritt wieder zurück, der frühere Exoph¬
thalmus lässt sich durch Zukneifen der Lider oder Fingerdruck sogar
in Enophthalmus umwandeln. Auch in Rückenlage sinkt der
rechte Bulbus bis zu einem gewissen Grade von
Enophthalmus in die Orbita zurück. Durch Lagerung
auf die rechte Seite tritt beträchtlicher Exophthalmus ein, auch im
Schlafe, wobei das rechte Auge halb geöffnet sein soll.
Die eigenthümliche Anomalie, welche die rechte Orbita dieses
Mannes aufweist, wird unter dem Namen „intermittirender
Exophthalmus, Exophthalmie ä volonte, Enophthal-
mie et Exophthalmie alternantes“ beschrieben. Bisher sind
wenig über 20 Fälle bekannt worden. Alle waren nur einseitig und
die überwiegende Mehrzahl betraf jugendliche Individuen. Man be¬
zeichnet mit diesen Namen eine abnorme Beweglichkeit des
Bulbus in a nter o-posteriorer Richtung als Folge des
wechselnden Füllungszustandes des retrobulbären
Orbitalinhaltes, welcher wiederum von flen Circulationsverhält-
nissen in den Orbital venen, respective den Jugularvenen abhängig ist,
die ja bis zu einem gewissen Grade durch bestimmte Bewegungen des
Individuums willkürlich beeinflusst werden können. Die Affection kommt
auch angeboren vor, in der Regel entwickelt sie sich allmälig, ohne
nachweisbare Gelegenheitsursache bei Leuten, die schwere körperliche
Arbeiten zu verrichten haben. Sie wurde z. B. viermal bei Angehörigen
des Militärs beobachtet, und zwar Chargen vom Oberlieutenant ab¬
wärts, also durchwegs jüngeren Männern, die noch anstrengenden
Dienst leisten müssen. Zusammenhang mit Trauma ist mehrmals be¬
hauptet, aber nur in einem Falle von Elschnigg erklärt worden
derart, dass in Folge eines Sturzes chronische Entzündung de3 Zell¬
gewebes in der Orbita eingetreten sei, mit consecutive:- Atrophie des¬
selben, Erkrankung und sackförmiger Dilatation der orbitalen Venen und
leichter Läsion des Opticus. Auch einige andere Fälle sind bekannt,
in denen es ohne besonders heftige Complicationen zu Schädigung
des Sehnerven, selbst zur Amaurose kam. In der Regel fehlen Seh¬
störungen oder treten nur vorübergehend auf, wenn der Exophthalmus
seinen Höhepunkt erreicht. Das Gleiche gilt von Schmerzen; ge¬
ringere Grade von Exophthalmus gehen nur mit Gefühl von Schwere
oder Ziehen einher, wie es auch bei Varikocele beschrieben wird.
Je nach dem Vorhandensein äusserlich sichtbarer Varikositäten
unterscheidet Sergen t drei Gruppen:
1. Aeusserlich sichtbare Varikositäten ohne intermittirenden
Exophthalmus.
2. Sichtbare Varikositäten m i t intermittirendem Exophthalmus.
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
71
3. Intermittirender Exophthalmus ohne sichtbare Varikositäten.
Dieser Fall also gehört in die zweite Gruppe.
Wenn auch anatomische Versuche bisher fehlen, ist man doch,
gestützt auf Fälle, wie der hier vorgestellte, berechtigt, die Entstehung
des intermittirenden Exophthalmus auf Dilatation der Orbital¬
venen zurückzuführen, wozu noch eine Erschlaffung der¬
jenigen Fascien kommen muss, welche den Augapfel
an die Orbitalränder befestigen, respective in Sus¬
pension erhalten. Die Dilatation der Venen führt langsam zu
Atrophie des orbitalen Fettgewebes, damit zum Zurück- und bisweilen
Herabsinken des Augapfels. Eine Sonderstellung bezüglich der Patho¬
genese des intermittirenden Exophthalmus nimmt Van Duyse und
mit ihm Terson ein, welche die Affection als eine Trophoneurose
auf Grund einer Läsion desKopfsympathicus ansehen,
sich aber dabei auf die wenigen Fälle beschränken, bei denen von
vorneherein Enophthalmus bestand.
Bezüglich der Aetiologie stimmen die Phlebektasien der Orbita
mit den anderwärts vorkommenden darin überein, dass wir ihren
Grund nicht kennen. Wir sind daher genöthigt, auf eine locale und
individuelle Disposition der Venenwandung zu recurriren.
Erstere ist jedenfalls durch die Thatsache gegeben, dass die
Vena ophthalmica und ihre Aeste klappenlos und die .Vena ophthal-
mica superior in ihrem ganzen Verlaufe vielfache Verbreitungen und
Verengerungen zeigt, besonders eine Enge vor der Einmündung in den
Sinus cavernosus.
Bezüglich der individuellen Disposition erschien es mir bei dem
hier vorgestellten Falle mit seinen mächtigen Phlebektasien im Be¬
reiche der Venae jugulares beider Seiten nicht unmöglich, dass der
in den Thorax hinabreichende Theil der Struma durch Druck auf die
grossen Venen ein Circulationshinderniss setze. Herr Dr. Kienböck
hatte auf mein Ersuchen die Freundlichkeit, den Thorax des Patienten
zu durchleuchten, doch liesen sich auch auf dem Röntgen-Schirme die
Verhältnisse nicht mit Sicherheit erkennen. Die Aktinog ramme
der beiden Orbitae zeigten keine Verschiedenheit.
Dis cussion: Zu derselben meldet sich Doe. Dr.E 1 s c h n i g g ; in
Ansehung der noch auf der Tagesordnung stehenden Vorträge wurde
die Discussion verschoben.
Wegen der vorgeschrittenen Zeit verschiebt auch Dr. Kraus
eine angemeldete Demonstration und Dr. Biehl den angekündigten
Vortrag.
Hierauf hält Hofrath S. Exner seinen Vortrag: Siehe Feuilleton.
Nach Schluss desselben erhebt sich Hofratli E. Albert und
dankt dem Vortragenden für die eingehende und umfassende Moti-
virung für die neue Studien- und Prüfungsordnung an der medicini-
schen Facultät. Die allseitige und anhaltende Aufmerksamkeit der Ver¬
sammlung beweist das Interesse für dieselbe am besten, zeigt auch,
wie tief und weit die hiebei angeregten Fragen greifen.
Es fragt sich nur, was will die k. k. Gesellschaft machen, will
sie die Motivirung einfach zur Kcnntniss nehmen, oder will sie darüber
debattiren? Es ist eine interessante Erscheinung gewesen, zu sehen,
mit welcher Aufmerksamkeit die ganze Versammlung zugehört hat, sie
zeigt von der Bedeutung, welche das Untorrichtswesen für die Allge¬
meinheit gewonnen hat, von der Bedeutung, welche die Massenpsycho¬
logie der Massenerziehung entgegenbringt. Es war neu, eine so ein¬
gehende Motivirung der neuen Studienordnung zu hören; die grossen
Gesichtspunkte, die dabei zur Sprache kamen, verdienen aber auch eine
Besprechung von der anderen Seite, und zwar wären es folgende
Punkte :
1. Die Bedeutung der Erzeugung von positivem Wissen in der
Erziehung und im. Unterrichtswesen; der ganze Unterricht ist zu einer
steigenden Anhäufung von „Wissen“ geworden und so könnten wir
es erleben, dass der Mensch zu einem nur contemplativen Wesen
herangezogen werden müsse.
2. Die Beziehung der Theorie zur Praxis; es wird viel vom
„Wissen“ und vom Unterricht im „Wissen“ gesprochen; es handelt
sich aber nicht allein um den Gegensatz zwischen „Drill“ und
„Wissen“, sondern auch um den Gegensatz zwischen „Theorie“ und
„Praxis“.
3. Die neue Unterrichtsordnung und das neue Prüfungswesen
wird, fürchte ich, Manche, wenn nicht Viele, zur Neurasthenie treiben;
bereits in der jetzigen RigorosenorduuDg führt das Jagen durch die
Prüfungen zur Nervosität — das Zusammenlegen des zweiten und
dritten Rigorosums, nur mit einer Trennung von höchstens sechs
Wochen, wird, fürchte ich, eine grosse Anzahl der jungen Leute
unter einen unerträglichen psychischen Druck bringen, sie in eine
psychisch verzweifelte Lage versetzen — zur Neurasthenie.
Albert möchte zur Discussion stellen (für einen der nächsten
Abende) das Thema: „Allgemeine Gesichtspunkte im Unterrichtswesen
und speciell im medicinischen Unterricht“.
Der Vorsitzende fragt die Versammlung darüber, welche einhellig
dem Anträge A 1 b e r t’s zustimmt.
Der Vorsitzende dankt Hofrath Exner für die Mühe, der er
sich mit der Entwicklung der umfassenden Erörterungen unterzogen,
ferner den werthen Gästen, speciell Sr. Excellenz Dr. v. H artel, für
den Besuch und das an den Tag gelegte Interesse an den Verhand¬
lungen der Gesellschaft.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
in München.
Vom 17. bis 22. September 1899.
(Fortsetzung.)
Section für Kinderheilkunde.
Referent Dr. B. Bend ix (Berlin).
I. Sitzung: Montag den 18. September 1899.
I. W. Camerer jun. (Stuttgart): Gewichts- und Längen-
wachsthum der Kinder, insbesondere solcher im
ersten Lebensjahre.
Zur Untersuchung über das Wachsthum der Kinder verfügt
Camerer gegenwärtig über beinahe 250, zum Tlieile sehr sorgfältig
beobachtete Fälle; eine eingehende Bearbeitung diests reichhaltigen
Materiales soll im Jahrbuche für Kinderheilkunde von Camerer sen.
erscheinen. Die Resultate der Untersuchung sind im Folgenden kurz
zusammengestellt :
A. Körpergewicht im ersten Lebensjahre in Mittelzahlen.
(Siehe Tabelle I und II.)
Aus den Tabellen I und II geht hervor, dass für das Gewicht
am Ende des ersten Lebensjahres nicht sowohl die Art der Ernäli-
r u n g, als vielmehr das Geburtsgewicht von Einfluss ist. Dieser
Einfluss erstreckt sich noch weit ins Kindesalter hinein. Der schädliche
Einfluss der künstlichen Ernährung im ersten Vierteljahr
wird durch stärkere Gewichtszunahme im zweiten Vierteljahr und in
den folgenden Wochen ausgeglichen. Unzweckmässige künstliche Er¬
nährung mag stärkere und länger dauernde Beschädigung der Gesund¬
heit und des Wachsthumes zur Folge haben, als bei diesen sorgfältig
ernährten und beobachteten Kindern der Fall war.
B. Längen und Gewichte von der Geburt bis zum Ende
der eigentlichen Wachsthumsperiode, fortlaufend an einzelnen Kindern
beobachtet.
Die Beobachtungen sind augestellt an 4 Brüdern der Familie «,
2 Brüdern und 1 Schwester der Familie l und 1 Bruder und 4 Schwe¬
stern der Familie c.
(Siehe Tabelle III : Längen und Gewichte.)
Zunächst lässt sich erkennen, dass die Zunahme von Länge und
Gewicht im Ganzen zusammen geht, was ja von Anfang an zu er¬
warten war.
Bei Knaben tritt nach dem raschen Längenwachsthum der
ersten Jahre vom 4. — 12. Jahre eine Verlangsamung ein. Die jährliche
Zunahme beträgt in dieser Zeit circa 5 cm. Vom 12. — 16. Jahre
steigt sie wieder auf 6-5 — 7 cm im Jahre. Nach dem 17. Jahre
ist bei Knaben das Längenwachsthum im Wesentlichen
vollendet.
Bei Mädchen beobachtet man das kleinste Längenwachsthum
mit 4 — 5 cm im Jahre vom 6. — 10. Lebensjahre. Vom 10.— 14. Jahre
nimmt es wieder zu und beträgt circa 6 cm im Jahre. Nach dem
15. Jahre ist bei Mädchen das Längenwachsthum im
Wesentlichen vollendet.
Diese Resultate scheinen anfangs etwas überraschend; gewiss
wird eine Anzahl von Knaben nach dem 17. und von Mädchen nach
dem 15. Lebensjahre noch erheblich an Längen wachsthum zunehmen;
man muss aber dieses verspätete Längenwachsthum auf Wachsthums¬
störungen zurückführen, welche in der Zeit des physiologischen
Wachsthums eiugetreten sind.
Aus fortlaufenden Beobachtungen des Längenwachsthums, die in
der Münchener Cadettenanstalt ausgeführt worden sind, geht ebenfalls
der Schluss hervor, dass nach vollendetem 17. Lebensjahre keine er¬
hebliche Zunahme des Längenwachsthums mehr eintritt. Ausserdem
ergibt die grosse Statistik (V i e r o r d t, Daten und Tabellen), dass
deutsche Recruten (im Alter von 20 Jahren im Durchschnitt 169-0 cm,
deutsche Männer im 31. Lebensjahre 1G9-5c?h lang sind.
Auch die Vermehrung des Gewichtes ist, so weit sie
dem eigentlichen Wachsthum zuzuschreiben ist, bei Knaben mit dem
18. — 19. Jahre, bei Mädchen mit dem 15. — 16. Jahre vollendet; von
da ab steht das Gewicht, wenigstens in den nächsten 8 — 10 Jahren,
unter dem Einfluss zufälliger Momente.
II. W. Camerer jun. (Stuttgart) : Die chemische Zu¬
sammensetzung des Neugeborenen. (Mit analytischen Bei¬
trägen von Dr. Söldner.)
Ueber die chemische Zusammensetzung des menschlichen
Körpers sind bisher nur wenige und unvollständige Lntersuchungen
72
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr.
Tabelle I. Geburtsgewicht der Kinder über 2'75 hg.
Art der
Geschlecht
Öl . *
£ - &
Gewicht
am Ende der
Wochen
Ernährung
j= ~
£ v;
O ^
br
2.
4-
8.
12.
16.
20.
24.
28.
32.
36.
40.
44.
48.
52.
Frauenmilch
(Mutter oder {
Knaben u. Mädchen
114 Fälle . . .
3-45
357
4-04
4 83
559
625
6-81
7-32
7'79
8-21
8-57
8-88
9-22
952
9 97
Knaben allein
57 Fälle ....
3-48
3*64
4 17
5-08
587
6-58
7T4
7-65
8T4
8-54
8-90
912
9 65
9-97
10-21
Amme) j
| 1
Mädchen allein
52 Fälle ....
324
344
381
456
527
5-90
6-52
692
7-38
7-80
8 09
8-40
8-72
8-97
966
Künstlich, meist
Kuhmilch
Knaben u. Mädchen
85 Fälle ....
339
3-46
3-73
4 34
4 95
5-61
6:27
6-90
7-30
81 3
8 27
8-65
8-91
9-98 j
Tabelle II. Geburtsgewicht der Kinder unter 2-75 kg und unter 2'00 kg.
Geburts¬
gewicht in
Kilogr.
Gewicht
am Ende der
Wochen
2.
4. 8.
12.
16.
20.
. 24.
28.
32.
36.
40.
44.
48.
52.
Geburtsgewicht zwischen 2 75 und
2 00% 24 Fälle .
2 42
2-56
2 90 3-65
4-30
479
5-38
5-91
6 18
6'54
6-80
693
7-26
7 71
7-94
Geburtsgewicht unter 2‘00 kg in
14 Fällen . .
L68
L81
212 2-76
3 40
3-99
4-73
5-17
5-51
5-38
6T4
624
654
6-43
6-75
Tabelle III. Längen.
~ 0)
n P
<X> CD ~
Länge am
Ende
des Jahres
-i V x
J -w O
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
•14.
15.
16.
17.
18.
19.
Mittel der lvuaben der
Familien a und b .
52
75
86
96
103
109
116
121
127
132
137
142
147
154
161
168
173
175
176
177
Knabe der Familie c .
—
—
. -
—
—
—
—
—
122
127
—
135
139
145
153
163
170
176
177
177
Mädchen der Familie b
53
78
89
99
107
113
120
124
130
133
138
144
149
156
163
167
168
—
169
—
Mittel der Mädchen der
Familie c .
—
—
—
—
100
107
111
118
124
129
134
140
147
150
152
—
153
—
—
Gewichte.
Geburts¬
gewicht
Kilogr.
Gewicht am Ende
des Jahres
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
Mittel der Knaben der
Familie b .
3 15
9 5
12-6
14-8
16-6
17-9
19-8
2L6
23-8
25-9
28-4
31-6
33 9
37-5
42-6
50 0
56 0
61-4
69-1
739
Knaben der Familie c
—
—
—
—
—
17-5
19'2
20-7
232
244
26-5
30 0
32-4
35 3
37-9
48-1
54-6
60-4
57-1
6L2
Mädchen der Familie b
3T
101
12-7
15-3
17-2
18-8
209
23-3
25-6
27-9
311
34-3
399
49 0
55-0
59-4
—
626
—
Mittel der Mädchen der
Familie c .
3-4
8-9
10-6
12 6
14-2
15-1
17-2
184
20 6
22-3
24-8
26 6
309
35-2
39-7
44 T
443
—
480
508
ausgeführt worden. Es stellen sich einer solchen Arbeit zahlreiche
Schwierigkeitn in den Weg, welche schon mit der Beschaffung einer
geeigneten Leiche beginnen. Denn es darf dieselbe weder durch die
Vorgänge, welche zum Tode geführt haben, noch durch Zersetzungs-
processe nach dem Tode in ihrer Zusammensetzung wesentlich ver¬
ändert werden; Verluste sind bei der Bearbeitung zu vermeiden, ebenso
alle stärkeren Eingriffe, durch welche Stoffe zerstört oder verändert
weiden könnten. (Fortsetzung folgt.)
Wiener medicinisches Doctoren-Collegium.
Programm
der am
Montag, den 22. Januar 1900, 7 Uhr Abends.
im Sitzungssaale des Collegiums: I., Kothentliurmstrasse 2123
unter dem Vorsitze des Herrn Dr. Paul Mittler
stattfindenden
Wissenschaftlichen Versammlung.
Prof. R. V. Basch; CarJiale Dyspnoe und Lungenödem.
Programm
der am
Freitag, den 19. Januar 1900, 7 Uhr Abends,
unter dem Vorsitze des Herrn Prof. Weinlechner
stattfindendeD
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Discussion über den Vortrag des Herrn Hofrathes Prof. Sigmund
Exner. (Zur Discussion gemeldet Hofratli Albert.)
Mit Rücksicht auf die angesetzte Discussion können derselben nur
jene Demonstrationen vorausgehen, welche von der letzten Sitzung zurück¬
geblieben sind.
Vorträge haben angemeldet die Herren: Prof. Schauta, Docent Doctor
Herzfeld, Docent Dr. Max Herz, Docent Dr. Kretz, Prof. A. Politzer,
Prof. Benedikt, Prof. Weinlechner, Dr. J. Thenen, Dr. A. Pilcz,
Dr. R. Offer, Schnabel, Stabsarzt Dr. Habart.
Bergmeister, Paltauf.
Geburtshilflich-gynäkologische Gesellschaft in Wien.
Die nächste Sitzung findet
Dienstag, den 23. Januar 1900, 7 Uhr Abends,
iin Hörsaale der II. geburtshilflich-gynäkologischen Klinik statt.
Dr. Schm it, d. z. Schriftführer.
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, Jos. Gruber,
M. Gruber, M. Kaposi, Ph. Knoll, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing,
I. Neumann, R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. v. Vogl, J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl G-ussenbauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/1, Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang. Wien, 25. Januar 1900. Nr. 4.
<§> -©
Abonnementspreis
jährlich 20 K = 20 Mark.
Abonnements- and Inser¬
tions-Aufträge für das In-
und Ausland werden von
allen Bnchhandlnngen und
Postämtern, sowie auch von
der Verlagshandlung über¬
nommen. — Abonnements,
deren Abbestellung nicht
erfolgt ist, gelten als er¬
neuert. — Inserate werden
mit 60 h = 50 Pf. pro
zweigespaltene Nonpareille¬
zeile berechnet. Grössere
Aufträge nach Ueberein-
kommen.
- ©
Verlagshandlung :
Telephon Nr. 6094.
#
Die „Wiener klinische
Wochenschrift“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von minde¬
stens zwei Bogen Gross-
quart.
Zuschriften für die Redac¬
tion sind zu richten an
Dr. Alexander Fraenkel,
IX/3, Maximilianplatz,
Günthorgasse 1. Bestellun¬
gen und Geldsendungen an
die Verlagshandlnng.
Redaction :
Telephon Nr. 3373.
IISTHALT:
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel : 1. Zur Radicaloperation der Varikocele. Von Prof. |
Dr. Albert Narath (Utrecht). |
2. Aus der chirurgischen Abtheilung des Prof. v. Mosetig-Moorhof
im Allgemeinen Krankenhause. Ueher multiple Dünndarmstenosen
tuberculösen Ursprunges. Von Dr. Sigmund Erdheim, emerit. I
Assistent der Abtheilung.
3. Zur Technik der Gastrostomie. Von Dr. Robert Lucke in
Altenburg.
II. Feuilleton: Bemerkungen zur neuen Rigorosen-Ordnung. Von Professor
Albert, vorgetragen in der k. k. Gesellschaft der Aerzte in
Wien am 19. Januar 1900.
III. Referate: Zur Krebsfrage. Von Dr. J. Pichler. — Atlas der topo-
g-raphischen Anatomie des Menschen. Von Prof. Dr. E. Zucker¬
kandl. Ref. E. Albert. — Traitement chirurgical du Cancer du
gros intestin. Par le Docteur Henri Lardennois. Ref. Wölfler.
— I. Operations on 459 cases of Hernia. By Jos. C. Bloodgood.
II. Ein Fall von solitärer Nierencyste. Von A. v. Brackel. III. Die
moderne Behandlung des Klumpfusses. Von A. Hof fa IV. Inesti
ossei. Giovanni Pascals. Ref. K. Biidinger.
IV. Therapeutische Notizen.
V. Notizen.
VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
Abonneiueiits-]3Iiila<lim§».
Mit, 4. Januar 1900 begann der XIII. Jahrgang der
„Wiener klinischen Wochenschrift“
zu erscheinen.
Ich beehre mich, zum
A bonne zxi ent
höfiiehst einzuladen und um baldgefällige Bestellung zu bitten.
Der Preis im Inland beträgt bei director Zusendung ganzjährig K. 20,
halbjährig K. 10; für das Ausland ganzjährig 20 M., halbjährig 10 M. und
Porto.
Wilhelm Rraninüller
k. u. k. Hof- und. Universitätsbuchhändler
Wien, VIII/I, Wickenburggasse 13.
Zur Radicaloperation der Varikocele.
Von Prof. Dr. Albert Narath (Utrecht).
Von den zahlreichen Operationsmethoden, welche im
Laufe der Zeit zur Heilung der Varikocele angegeben wurden,
dürfte sich die Methode der Resection des Plexus pampini-
formis gegenwärtig unter dem Schutze der modernen Wund¬
behandlung der weitesten Verbreitung erfreuen. Es haften
jedoch der Operation, wie sie gewöhnlich ausgeführt wird, eine
Reihe von Mängeln an, welche schwerwiegend genug sind, um
das Bestreben der Chirurgen, zweckmässigere Verfahren zu
ersinnen, nicht erlahmen zu lassen.
Da sich die Scrotalhaut schwer reinigen lässt und
Operationswunden in ihr auch nachträglich noch einer ge¬
wissen Infectionsgefahr ausgesetzt sind, verlegten einzelne
Cliirurgen den flautschnitt mehr nach oben gegen die Inguinal¬
region. So durchtrennt Kocher1) die Haut gerade ent¬
sprechend dem Leistencanal; Krone2) legt einen Längsschnitt
über den äusseren Leistenring an. Ohne Zweifel sind diese
Leistenschnitte dem alten Scrotalschnitte vorzuziehen. Ein
weiterer Nachtheil der gewöhnlichen Resectionsmethode ist der,
dass man meistens die Arteria spermatica interna von dem
Venenplexus nicht isoliren kann, weil man sie einfach nicht
sieht. Verletzungen der genannten Arterie dürften daher schwer
zu vermeiden sein. Lrüher meinte man, dass sehr leicht
Atrophie oder Nekrose des Hodens die Folge dieser Verletzung
sein könne, und auch neuere Autoren schliessen sich dieser
Auffassung an (Duplay 3), Wex4), Es m arch 5 * 7) und Andere).
Andere wiederum durchtrennen den Plexus ohne Rück¬
sicht auf die Arterien, z. B. B e n n e t -), Robson '), Ti Hau x 8).
Die beiden Letzteren meinen sogar, dass die Arteria deferentialis
für die Ernährung des Hodens genüge. Auch Kocher9) ver¬
sichert, dass die Arteria spermatica interna ohne Schaden für
die Ernährung des Hodens mit unterbunden werden könne,
sobald ihre Isolirung Schwierigkeiten bereitet. Es bestünden
| genügend Anastomosen zwischen der Arteria spermatica und
; deferentialis. Spruchreif scheint also die Frage noch nicht zu
!) Koche r, Chirurgische Operationslehre.
2) Krone, Suprapubic Varieocele-ectomy. Occidental med. times.
Juni 1898. Referirt im: Centralblatte für Chirurgie. 1898, Nr. 51, pag. 1275.
3) D u p 1 a y, Le traitement du varicocele. Gaz. des höpitaux. 1893,
Nr. 91.
j) W e x Adolf, Zur Therapie der Varikocele. Dissertation. Halle 1898.
5) Esmarch und K o w a 1 z i g, Chirurgische Technik.
G) W. H. Ben net, On Varicocele. London, Longmans, Green & Co.
1891. Referirt im: Centralblatte für Chirurgie. 1891. pag. 979.
7) Rohson nach L y d s t o n, Varicocele and its treatment. Chicago,
W. T. Kenner. 1892. Referirt im: Centralblatte für Chirurgie. 1894, Nr. 13,
pag. 304. _
8) T i 1 1 a u x, De la eure radieale du varicocele par la resection du
scrotum. Tribune med. 1889, Nr. 7. Referirt im: Centralblatte für Chirurgie.
1889, pag. 563.
9) Kocher, Die Krankheiten der männlichen Geschlechtsorgane,
Deutsche Chirurgie. Lieferung 50 b.
74
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 4
sein, und man wird gut thun, bis auf Weiteres noch an der
Schonung der Arteria spermatica interna festzuhalten, und
eben da lässt die gewöhnliche Resectionsmethode im Stich.
Bisweilen macht sich auch noch der Umstand recht un¬
angenehm bemerkbar, dass in Rückenlage und Narkose die
Füllung der Venen ganz erheblich abnimmt, so dass leicht die
Exstirpation zu wenig ausgiebig vorgenommen wird und Reci-
dive eintreten. Eine mehr sitzende Position des Patienten führt
auch meistens keine bessere Blutfüllung der Venen herbei
und ist auch aus anderen Gründen nicht sehr zweckmässig.
Audi die elastische Umschnürung des Scrotums und Penis 10j
hat mancherlei gegen sich, besonders das, dass man durch die
Einschränkung des Operationsfeldes sich mit der Excision im
Bereiche des distalen Antheiles des Plexus pampiniformis be¬
gnügen muss und Verletzung der Arteria spermatica interna
schwerlich vermeiden kann.
Gelegentliche Beobachtungen bei genauer Untersuchung
schwerer Fälle von Varikocele brachten mich darauf, einen
anderen Weg bei der Operation der Varikocele einzuschlagen.
Ich fand nämlich bei Patienten mit starken Graden von Varikocelen
eine nicht unerhebliche Erweiterung deä Leistencanales, so
dass man bequem einen bis zwei Finger bei eingestülpter
Scrotalhaut hindurchführen konnte. Einmal auf dieses gleich¬
zeitige Vorkommen von Varikocele und weitem Leistencanal
aufmerksam geworden, untersuchte ich alle Fälle von Varikocele,
die an die Klinik kamen, auf dieses Verhalten. Ich konnte
in allen schweren Fällen von Varikocele einen mehr oder
weniger erweiterten Leistencanal nachweisen. Ob das in meinen
Fällen ein zufälliges Zusammentreffen war oder ob diese Er¬
scheinung allgemein gilt, wage ich nicht zu entscheiden. Mein
Material ist diesbezüglich zu klein ; man müsste die Unter¬
suchungen an einem viel grösseren anstellen. Ein weiter
Leistencanal scheint mir das Entstehen einer Varikocele zu
befördern dadurch, dass das Blut im Plexus pampiniformis
mehr dem erhöhten intraabdominellen Blutdrucke bei Husten,
Pressen u. s. w. ausgesetzt ist, als bei engem Leistencanale,
weil der Seiten druck, den die Venen im Leistencanal bei Con¬
traction der Bauchmuskeln erleiden, herabgesetzt oder auf¬
gehoben ist. Ein weiter Leistencanal würde also für das Ent¬
stehen der Varikocele eine ganz ähnliche Bedeutung haben,
als für das Entstehen einer Leistenhernie. 1st das richtig, so
würde man erwarten, dass Varikocele häufig mit einer Hernie
combinirt vorkommt.
Genauere, auf diesen Punkt gerichtete Untersuchungen
konnte ich in der mir zur Verfügung stehenden Literatur
nicht auffinden. Lydston11) beobachtete mehrfach das Auf¬
treten von Hernien bei Varikocelen und führt es unter die
Momente an, welche Ektasien der Venen begünstigen.
Ich selbst beobachtete nicht gar so selten bei Hernien¬
operationen erweiterte Venen. Gewöhnlich dürfte man bei den
Bruchoperationen nicht allzusehr darauf achten, ob die Venen
erweitert sind oder nicht. Unter den 21 Patienten, die ich
wegen Varikocele (bis Ende 1898) in Utrecht operirt hatte,
wiesen fünf gleichzeitig eine inguinale Hernie auf. Bios einmal
war diese grösser und scrotal (Fall 5), in den übrigen Fällen
handelte es sich um kleine Bruchsäcke. Ganz kleine Bruch¬
säcke lassen sich mitunter nicht diagnosticiren, wie es mir bei
einem Fall von Varikocele erging, den ich im Jahre 1899
operirte und bei dem ich trotz wiederholter genauester Unter¬
suchung keine Peritonealausstülpung auffinden konnte. Bei der
Operation der Varikocele deckte ich einen interstitiellen Bruch¬
sack auf, um den drei schmale lange Lipome gelagert waren.
Einer von meinen Patienten hatte rechts und links Varikocele
und Hernie (Fall 18).
Durch die bei mehreren Fällen hochgradiger Varikocele
gefundene Coincidenz von Venektasie mit weitem Leisten¬
canal kam ich auf die Idee, die Hauptstämme oder den Haupt-
stamm der Vena spermatica interna im Leistencanal selbst zu
reseciren und dann diesen nach dem Typus der B a s s i n i’schen
Radicaloperation bei Leistenhernie zu verschliessen. Auf diese
Weise hoffte ich radicale Heilung der Varikocele zu erzielen,
1U) Siehe : Esmarch und Kowalzig, Chirurgische Technik.
") Lydston, 1. e.
da erstens einmal die Blutsäule in der langen Vena spermatica
interna unterbrochen wird, zweitens das Blut der Hodenvenen
nicht mehr dem directen Drucke der Bauchpresse unterliegt
und drittens dem Blute der Geschlechtsdrüse andere Abfluss-
wrege eröffnet werden. Ich habe in einigen Fällen schwerer
Varikocele nicht nur den Stamm der Vena spermatica interna
unterbunden, sondern auch die stark erweiterten Venae
spermaticae externae.
Die Operation wird auf folgende Weise durchgeführt:
Hautschnitt (circa 10 cm lang) in der Richtung des Leisten¬
canales und fingerbreit oberhalb des Ligamentum Poupartii.
Der Schnitt, der nicht über das Tuberculum pubicum nach
abwärts reicht, durchtrennt Haut und Fascia superficialis.
Hierauf wird in gleicher Richtung die Aponeurose des Mus
culus obliquus externus gespalten und so der Leistencanal in
ganzer Ausdehnung eröffnet, wie bei der B a s s i n i’schen
Radicaloperation der Leistenhernie. Der ganze Funiculus sper-
maticus mit dem Cremaster und der Tunica vaginalis com¬
munis wird darauf aus dem Leistencanal herausgehoben, was
sehr leicht gelingt. Wenn man nun durch einen kleinen Längs¬
schnitt (oder durch stumpfe Präparation) Cremaster und Tunica
vaginalis communis gespalten hat, übersieht man schön die
einzelnen Gebilde des Samenstranges. Die erweiterten Venen
treten sehr deutlich hervor, auch bei ganz geringer Blut¬
füllung. Man hat im Leistencanale entweder den Haupt¬
stamm der Vena spermatica interna vor sich oder seine primäre
Seitenverzweigung. Die Venen werden so hoch als möglich
proximal freipräparirt, hierauf doppelt unterbunden und
zwischen den Ligaturen durchschnitten. Die proximalen Stümpfe
der Venen (oder der Hauptvene) ziehen sich sofort zurück und
verschwinden in der Tiefe. Sie liegen höher als der Annulus
internus des Leistencanales. Sodann werden die Venen distal ver¬
folgt bis zur Gegend des Annulus inguinalis externu«, und
hier auch nach doppelter Unterbindung zwischen den Liga¬
turen durchtrennt. Man entfernt auf diese Weise ein Stück
von vielen Centimetern aus dem Stamm der Vene oder aus
diesem und den ersten Seitenästen, oder (bei hoher Ver¬
einigung) aus letzteren allein. Die Venen lassen sich sehr
leicht vollständig von den übrigen Gebilden des Samen¬
stranges isoliren.
Nach erfolgter Resection wird sehr genau nachgesehen,
ob nicht eine peritoneale Ausstülpung vorhanden ist. Ist sie
da, dann wird sie isolirt, torquirt, ligirt und amputirt. Lipome
werden ebenfalls exstirpirt. Schliesslich untersucht man noch
die Venae spermaticae exteinae. Sind diese erheblich erweitert,
so wird aus ihnen auch noch ein Stückchen resecirt.
Als letzter Act der Operation erfolgt der Verschluss des
Leistencanales nach dem Typus von Bass in i. Der Funiculus
spermaticus wird hoch hinauf gezogen und unter ihm die
Musculatur des Obliquus internus und transversus (ohne Fascia
transversa) an das Ligamentum Poupartii angenäht. Drei bis
vier Nähte genügen in der Regel. Ich lasse die hintere Wand
des Leistencanales (Fascia transversa) ganz intact, unterminire
die Muskelränder nicht, und präparire überhaupt nicht an
diesen. Auf die tiefe Naht kommt nun der Samenstrang zu
liegen und über ihn wird der Spalt in der Aponeurose des
Musculus obliquus externus sorgfältig mit feinsten Knopf¬
nähten vereinigt. Zum Schlüsse wird die Wunde durch die
Hautnaht total geschlossen. Als Naht- und Ligaturmaterial
verwende ich durchgehends feinste Seide; nur für die Muskel¬
nähte gebrauche ich etwas dickere Fäden. Der Verband ist
ein aseptischer Druckverband.
Gewöhnlich liegen auch die distalen Venenligaturen ausser¬
halb des Leistencanales. Im letzten Jahre habe ich bisweilen
die distalen Ligaturen zwischen oberflächliche und tiefe Naht¬
schichte möglichst hoch oben an die Musculatur angenäht und
so den Plexus noch gehoben. Auch wenn man den Plexus
nicht hinaufnäht, wird durch die Verlagerung des Samen¬
stranges allein schon der Hoden in die Höhe gebracht.
Die Operation ist für Denjenigen, der auf die Bassi ni-
sche Radicaloperation eingeübt ist, in 10 bis 15 Minuten zu
machen, wenn Alles gut klappt. Am achten Tage werden die
Nähte entfernt und nach dem zehnten Tage können die Pa-
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
75
tienten aufsteben. Ich lasse für gewöhnlich die erste Zeit noch
ein Suspensorium tragen, das die Hoden gut hinauthält.
Die Füllung des venösen Plexus verhält sich nach der
Operation nicht immer gleich. In einem Theile der Fälle hört
die Stauung in den Venen sehr bald auf und die Venen-
convolute werden gleich erheblich kleiner. In anderen Fällen,
und das sind die schwereren Grade von Varikocele, spürt man
am Tage nach der Operation die venösen Plexus im Scrotum
noch sehr deutlich, allmälig jedoch schrumpfen auch sie zu¬
sammen, wobei die einzelnen Venenstränge sich immer fester
anfühlen. Das Blut des Hodens und Nebenhodens fliesst durch
die vorhandenen und sieh eventuell neu bildenden Collateral-
bahnen ab. nach den Venen der Bauchdecken oder nach den
Venae pudendae. Ich glaube nicht, dass der Theil des Blutes
gross sein wird, der durch die Venae deferentiales abge¬
führt wird.
Die Vortheile der beschriebenen Operation lassen sich in
folgende Punkte zusammenfassen:
1. Der Hautschnitt liegt an einer Stelle, die leichter ge¬
reinigt und reiner gehalten werden kann als das Scrotum
(also geringere Infection sgefahr).
2. Die Circulation wird in der Vena spermatica interna
total unterbrochen und der hohe Flüssigkeitsdruck im Wurzel¬
gebiete der Vene dauernd aufgehoben.
3. Die Verletzung der Arteria spermatica interna kann
leichter vermieden werden als nach anderen Methoden.
4. Sind auch die Venae spermaticae externae stark
ektatisch, so können auch diese leicht resecirt werden.
5. Es kann eine gleichzeitig bestehende Inguinalhernie
operirt werden. Bisweilen werden kleinere Peritonealaus¬
stülpungen erst durch die Eröffnung des Leisteneanales erkannt;
ihre Beseitigung ist leicht.
6. Es können gleichzeitig vorkommende Lipome mit ent¬
fernt werden.
7. Der Leistencanal wird exact geschlossen.
8. Der Samenstrang wird emporgehoben und in einen
engen Canal eingebettet.
9. Der Hoden kommt höher zu liegen, die absolute Höhe
der extraabdominalen scrotalen Blutsäule wird daher niedriger.
10. Die Wirkung der Bauchpresse auf die Blutcirculation
im Hoden wird entweder aufgehoben (?) oder doch ganz er¬
heblich eingeschränkt.
11. Die bestehenden collateralen Blutbahnen im ganzen
Bereiche des Scrotums bleiben erhalten, da im Scrotum selber
nichts operirt wird.
12. Die Operation lässt sich recht sauber und reinlich
durchführen, die Venenplexus bleiben ganz intact, der Blut¬
verlust ist sehr gering.
Ich habe die Operation an der Utrecliter Klinik öfters
vorgenommen und will im Folgenden über die Fälle berichten,
die bis zum Ende des Jahres 1898 vorgekommen sind, 21 an
Zahl. Zunächst bringe ich der Vollständigkeit halber Auszüge
aus den betreffenden Krankengeschichten.
Fall 1. Gerrit de .T. aus Utrecht, 19 Jahre alt, Arbeiter.
P.-Nr. 124.
Vor einem halben Jahre Schmerzen in der Leistengegend,
namentlich beim Arbeiten. Zum Militärdienst für untauglich erklärt
wegen Krampfaderbruch.
Status praesens: Links: Leistencanal für den Zeigefinger
bequem durchgängig, linker Hoden hängt viel tiefer als der rechte.
Hoden und Nebenhoden normal, starke Varikocele. Rechts: kein
offener Leistencanal; Samenstrang, Hoden und Nebenhoden normal.
Operation am 17. April 1896 in Narkose. Typischer Schnitt,
Isolirung der Vena spermatica interna und eines Hauptseiten¬
astes, Resection beider in einer Länge von 5 cm. Drei tiefe Muskel¬
nähte unterhalb des Funiculus spermaticus, Knopfnaht der Aponeu¬
rosis muse. obl. extern., fortlaufende Hautnaht. Keine Drainage.
Aseptischer Compressionsverband.
Decursus: Heilung per primam, Entfernung der Hautnähte
am 28. April, entlassen am 11. Mai. Dauer der Behandlung 23 läge.
Patient ist nach Deutschland ausgewandert, hat nach brieflicher
Mittheilung keinerlei Beschwerden bei der Arbeit, keine Vorwölbung
in der Inguinalgegend beim Husten. (März 1899.)
Fall 2. Leonardus V. aus Utrecht, 19 Jahre alt. P.-Nr. 267.
Patient wollte Berufssoldat werden, wurde jedoch wegen
Varicocele sinistra als untauglich erklärt. Keine Beschwerden.
Status praesens: Links: Leistencanal für den Zeige¬
finger durchgängig, starke Varikocele, Hoden und Nebenhoden
normal von Grösse und Consistenz, linke Scrotalhälfte reicht viel
tiefer hinab als die rechte. Rechts: normaler Befund, kein offener
Leistencanal.
Operation am 18. Juni 1896 in Narkose. Typischer Schnitt,
Resection von circa 2 cm aus dem Stamme der Vena spermatica
interna. Fünf tiefe Muskelnähte, Knopfnaht der Aponeurose und
Haut, keine Drainage, aseptischer Compressionsverband.
Decursus: Heilung per secundam, nach Entfernung der
Nähte am 25. Juni musste wegen Eiterung die Hautwunde geöffnet
werden. Die Heilung zog sich in die Länge wegen einer Thrombose
in der Vena femoralis. Entlassen am 15. August. Dauer der Behandlung
57 Tage.
Letzte Nachricht vom 6. März 1899: Patient ist für
tauglich erklärt worden und ist jetzt Berufssoldat.
Fall 3. Adrian van V. aus Utrecht, 23 Jahre alt, Bäcker.
P.-Nr. 225.
Patient wurde bei der Stellung zurückgewiesen wegen Krampf¬
aderbruch. Er wünscht durch eine Operation von seinem Leiden
befreit zu werden.
Status praesens: L inks: starke Ektasie der Venen des
Plexus pampiniformis, Leistencanal für den Zeigefinger durchgängig.
Hoden klein. Rechts: keine Varikocele, Leistencanal und Hoden so
wie links. Scrotum sehr schlaff und lang.
Operation am 25. Juni 1896 in Narkose. Dr. v. D. Typischer
Schnitt. Resection von 6 cm aus der Vena spermatica interna. Fünf
tiefe Muskelnähte, Knopfnaht der Aponeurose und Haut. Keine
Drainage, aseptischer Compressionsverband.
Decursus: Heilung per primam, entlassen am 21. Juli,
25 Tage im Spitale.
Revision am 7. März 1899: Kein Recidiv, keine Vor¬
wölbung' beim Husten, Hoden beiderseits gleich, keine Schmerzen
bei der Arbeit.
Fall 4. Karel K. aus Utrecht, 15 Jahre alt. P.-Nr. 399.
Der Knabe wollte die militärische Laufbahn einschlagen, wurde
jedoch von den Militärärzten abgewiesen wegen Krampfaderbruch.
Keine Beschwerden. Wünscht die Operation, um tauglich zu werden.
Status praesens: Links: Leistencanal für den Zeige¬
finger durchgängig, ziemlich starke Varikocele, keine Hernie. Hoden
normal. Rechts: normaler Befund.
Operation am 10. December 1896 in Narkose. Typischer
Schnitt. Isolirung der verdickten Vena spermatica interna, die sich
gabelförmig in zwei Ilauptstämnie theilt. Resection der drei Venen
in einer Gesammtlänge von 6—7 cm. Drei tiefe Muskelnähte, fünf
Aponeurosennähte, Hautnaht, keine Drainage, aseptischer Com¬
pressionsverband.
Decursus: Per primam geheilt entlassen am 24. December 1896,
Dauer der Behandlung 13 Tage. Letzter Bericht vom 24. April 1899.
Kein Recidiv, keine Vorwölbung beim Husten, keine Beschwerden,
Hoden gut.
Fall 5. C. G. V. aus Utrecht, 20 Jahre alt, Eisenbahnarbeiter.
P.-Nr. 355.
Patient verspürte seit einem halben Jahre Schmerzen in der
Leistengegend beim Arbeiten, trug seit der Zeit ein Bruchband (linksi.
Status praesens: Links: Hernia scrotalis reponibilis,
kleinfaustgross, Leistencanal für den Zeigefinger durchgängig, starke
Varikocele, linker Hoden kleiner a 1 s der rechte. Rechts:
offener Leistencanal, für den Zeigefinger durchgängig. Anprall beim
Husten. Hoden von normaler Grösse.
Operation am 17, November 1896 in Narkose. Links: der
dünne Bruchsack wird torquirt, ligirt und amputirt. Resection von
7 cm aus dem Stamme der Vena spermatica interna. Vier tiefe
Muskelnähte, Knopfnaht von Aponeurose und Haut. Keine Drainage,
aseptischer Compressionsverband.
Decursus: Heilung per secundam. Hautwunde wegen
Eiterung aufgemacht. Am 16. Januar geheilt. Dauer der Behandlung
59 Tage.
76
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 4
Revision am 6. März 1899: Keinerlei Beschwerden beider
Arbeit, weder rechts noch links Schenkel- oder Leistenhernie, keine
Varikocele. Linker Testikel stark atrophisch, rechter normal.
Fall 6. Joh. Jak. van M. aus Utrecht, 20 Jahre alt, Kleider¬
macher. P.-Nr. 22.
Patient soll in seiner Jugend eine doppelseitige Leistenhernie
gehabt haben, die durch Tragen eines Bruchbandes geheilt wurde (?).
Vor einem Jahre ist er gefallen ; seitdem bestehen Schmerzen im Iloden-
sack (links), die sich durch Tragen eines Suspensoriums nicht besserten.
Status praesens: Links: Hoden viel tiefer hängend
als rechts, normal von Grösse und Consistenz, ziemlich hoch¬
gradige Varikocele, Leistencanal für das Endglied des Zeigefingers
durchgängig. Anprall beim Husten. Rechts: Hoden und Neben¬
hoden von derselben Grösse als links, jedoch von härterer Consi¬
stenz. Leistencanal so weit als links.
Operation am 25. Januar 1897 in Narkose. Typischer
Schnitt. Isolirung des 4 mm dicken Stammes der Vena spermatica
interna und ihrer primären Seitenäste. Resection von 10 cm aus
Stamm und Seitenzweigen. Vier tiefe Nähte, sechs Aponeurosen-
nähte, llautnaht, keine Drainage, aseptischer Compressionsverband.
Decursus: Heilung per primam, am 11. Februar geheilt
entlassen, Dauer der Behandlung 17 Tage.
Revision 8. October 1899: Keine Spur einer Varikocele.
Keine Vorwölbung beim Husten. Es besteht eine Hydrocele von etwa
Eigrösse (dünnwandig, diaphan). So weit man Hoden und Nebenhoden
untersuchen kann, keine pathologische Veränderung zu constatiren.
Patient ist mit dem Operationsresultate sehr zufrieden, kann lange
gehen und arbeiten, klagt über keinerlei Beschwerden. Die Hydrocele
ist allmälig entstanden (angeblich durch Trauma).
Fall 7. Daniel van L. aus Utrecht, 15 Jahre alt, Kleidermacher.
P.-Nr. 85.
Patient wollte zur Kriegsmarine, wurde jedoch abgewiesen
wegen Krampfaderbruch. Er wünschte operirt zu werden. Keine Be¬
schwerden.
Status praesens: Links: Hoden viel tiefer als rechts,
normal, ebenso wie der Nebenhoden, sehr deutliche Varikocele,
Leistencanal für den Zeigefinger durchgängig. Anprall beim Husten.
Rechts: Hoden und Nebenhoden normal, Leistencanal so wie links.
Scrotum sehr schlaff.
Operation am 15. März 1897 in Narkose. Typischer Schnitt.
Resection von 5 cm aus der Vena spermatica interna. Tiefe Muskel¬
naht, Knopfnaht von Aponeurose und Haut, keine Drainage,
aseptischer Compressionsverband.
Decursus: Heilung per primam, später jedoch kleine Stich¬
canaleiterungen, daher erst am 16. April entlassen (31 Tage).
Revision am 25. December 1899: Nicht die geringsten Be¬
schwerden, auch bei langem Stehen und Gehen. Patient hat die
Absicht, zur Marine zu gehen aufgegeben und ist Schmied geworden.
Patient kann die schwere Arbeit sehr gut vertragen. Scrotum ist
nicht mehr schlaff und lang, sondern kurz und hält die Hoden gut
hinauf. Linker Hoden und Nebenhoden normal und etwas höher
stehend als der rechte. In der Leistengegend keinerlei Vorwölbung bei
Husten oder Pressen. Varikocele vollständig verschwunden.
Fall 8. Marinus de G. aus Utrecht, 18 Jahre alt, Arbeiter.
P.-Nr. 149.
Zurückgewiesen vom Militärdienst wegen Krampfaderbruch,
wünscht die Operation, um tauglich zu werden.
Status praesens: Links: offener Leistencanal für den
Zeigefinger durchgängig. Varikocele. Hoden tiefer hängend und
kleiner als rechts. Nebenhoden normal. Rechts: Leistenrino- etwas
erweitert, Hoden und Samenstrang normal. Scrotalhaut schlaff.
Operation am 8. April 1897 in Narkose. Typischer Schnitt.
Resection von 5 cm aus dem Stamme der Vena spermatica interna.
Tiefe Muskelnaht, Knopfnaht von Aponeurose und Haut, keine
Drainage. Aseptischer Compressionsverband.
Decursus: Heilung per primam, geheilt entlassen am
29. April (Behandlungsdauer 20 Tage).
Letzter Bericht vom 24. April 1899. Patient wurde als tauglich
befunden und dient als Soldat.
Fall 9. Gerardus de H. aus Utrecht, 20 Jahre alt. P.-Nr. 148.
Patient wurde wegen Krampfaderbruch von den Militärärzten
als untauglich erklärt, er wünscht die Operation.
Status praesens: Links: Leistencanal für den Zeige¬
finger durchgängig. Varikocele (dicke, blau durchschimmernde
Stränge bis zum Annulus externus). Hoden viel tiefer als rechts,
Nebenhoden und Hoden normal. Rechts: Leistencanal für den
Zeigefinger durchgängig. Anstoss bei Husten. Hoden, Nebenhoden
und Funiculus normal. Scrotum schlaff.
Operation am 8. April 1897 in Narkose. Typischer Schnitt.
Resection von bem aus dem Hauptstamme der Vena spermatica
interna sowie von je 3 cm zweier Seitenäste. Fünf tiefe Muskelnähte,
Knopfnaht von Aponeurose und Haut, keine Drainage, aseptischer
Compressionsverband.
Decursus: Per primam mit leichter Reaction geheilt, am
29. April entlassen (20 Tage in Behandlung).
Revision am 22. April 1899: Hoden und Nebenhoden beider¬
seits normal, keine Andeutung von Hernia cruralis oder inguinalis.
Linker Hoden höher hängend als der rechte. Rechts offener Leisten-
canal, Anstoss beim Husten. Links besteht noch ein ganz leichter
Grad von Varikocele. Patient hat ektatische Venen am Scrotum,
Penis, Kopf, an den oberen und besonders den unteren Extremitäten.
Gefühl von Ermüdung im rechten Beine bei längerem Gehen. Patient
wurde von den Militärärzten wieder abgewiesen, aber nicht wegen
der Varikocele, sondern wegen der Venenektasien an den Beinen.
Fall 10. Willi. Corn, van D. aus Utrecht, 18 Jahre alt, Heizer.
P.-Nr. 161.
Zurückgewiesen vom Militärdienste, als untauglich erklärt
wegen Krampfaderbruch. Früher keine Beschwerden, vor zehn Tagen
gefallen, seit der Zeit Schmerzen in der linken Leistengegend und
im Scrotum. Wünscht operirt zu werden, um Soldat werden zu
können.
Status praesens: Links: offener Leistencanal, Scrotum
schlaff, linker Hoden tiefer als der rechte, oberer Pol nach vorne gedreht.
Varikocele, besonders ektatische Venen hinter dem Testikel. Füllung
der Venen nimmt in Rückenlage stark ab. Rechts: offener Leisten¬
canal, keine Ektasie der Venen.
Operation am 21. April 1897 in Narkose. Typischer Schnitt,
Resection von 5 cm aus dem Stamm der Vena spermatica interna.
Tiefe Muskelnaht, Knopfnaht der Aponeurose und Haut. Keine
Drainage, aseptischer Compressionsverband.
Decursus: Heilung per primam, entlassen am 7. April
(15 Tage im Spitale).
Patient wurde als tauglich befunden und ist seit zwei Jahren
Soldat in der indischen Armee. Er befindet sich wohl.
Fall 11. Joh. V. aus Utrecht, 23 Jahre. P.-Nr. 472.
Patient wurde vor drei Monaten wegen linksseitiger Varikocele
operirt, um für den Militärdienst tauglich zu werden. Die Operation
wurde von einem meiner Assistenten nach der üblichen alten
Methode vorgenommen (Resection von ektatischen Venen ausserhalb
des Leistencanales). Die Heilung erfolgte per primam, Patient wurde
mit Suspensorium entlassen. Er Hess sich später von den Militär¬
ärzten untersuchen, wurde aber wieder wegen Varikocele ab¬
gewiesen. Patient wünscht eine zweite Operation.
Status praesens: Hodensack sehr schlaff, lang, linker
Hoden vier Querfinger tiefer als der rechte; beide Hoden gross,
weich, beide Nebenhoden normal. Im linken Funiculus spermaticus
eine Anzahl von stark geschlängelten, blau durchschimmernden, dick¬
wandig erweiterten Venen zu constatiren. Die Venen lassen sich
durch Druck verkleinern, schwellen aber wieder sofort an, sobald
der Druck aufhört. Linker Leistencanal bequem für den Finger
durchgängig, keine Hernie. An der Scrotalwurzel links eine lineare
Narbe.
Operation am 19. November 1897 in Chloroformnarkose.
Typischer Schnitt, der den Leistencanal eröffnet. Freilegung der
Vena spermatica interna, die '6 mm im Durchmesser hat und sich
starrwandig anfühlt. Die Vene lässt sich verfolgen nach abwärts bis
zur Ligatur, die vor drei Monaten angelegt wurde. Oberhalb dieser
gehen vom Stamm noch zwei grosse Seitenäste ab. Diese werden
ligirt und vom Hauptstamm 8 cm resecirt. Ausserdem wird noch von
den erweiterten Venae sperm at icae externae ein Stück von
bem entfernt. Vier tiefe Muskelnähte, Knopfnaht der Fascie und
Haut, keine Drainage, aseptischer Compressionsverband.
Decursus: Heilung per primam, entlassen mit Suspensorium
am 2. December (Spitalsaufenthalt zwölf Tage). Linker Testikel
etwas grösser, die starrwandigen Venen noch zu palpi ren oberhalb
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
desselben. Der gegenwärtige Aufenthaltsort des Patienten konnte bis
December 1899 nicht mehr ausgeforscht werden.
Fall 12. Christian M. aus Tilburg, 21 Jahre alt, Reisender.
P.-Nr. 44.
Patient bemerkt seit acht Monaten, dass beim längeren Stehen
die linke Scrotalhälfte anschwoll, ohne jedoch besondere Schmerzen
zu verursachen. Tragen eines Suspensoriums verbesserte den Zu¬
stand nicht.
Status praesens: Scrotum schlaff, Testikel beide normal,
der linke tiefer. Nebenhoden und Vasa deierentia normal. Links
Varikocele mittleren Grades. Leistencanal links für das Endglied des
Zeigefingers durchgängig, keine Hernie.
Operation am 21. Januar 1898 in Chloroformnarkose: Typi¬
scher Schnitt. Vena spermatica theilt sich im Verlaufe des Leisten-
canales in drei Aeste. Resection des Stammes und der primäien
Seitenäste in einer Länge von 12 — 13 cm. Drei tiefe Muskelnähte, fort¬
laufende Naht der Fascie und Haut. Keine Drainage, aseptischer Com-
pressionsverband.
Decursus: Stichcanaleiterung, am 14. Februar mit einer
kleinen granulirenden Wunde entlassen, 23 'läge in Spitalsbehand¬
lung. Im Juni 1899 untersuchte Dr. Daamen in Tilburg über mein
Ansuchen den Patienten und konnte ein sehr befriedigendes Resultat
constatiren. Testikel und Epidydimis normal, keine V arikocele, keine
Vorwölbung beim Husten, Narbe linear, keinerlei Beschwerden.
Fall 13. Hermann B. aus de Bilt, 18 Jahre alt, Arbeiter.
P.-Nr. 32.
Patient ist zweimal abgewiesen vom Militärdienst und untaug¬
lich erklärt wegen Krampfaderbruch. Wünscht die Operation, um
Militärtauglichkeit zu erlangen.
Status praesens: Hodensack schlaff, linker Hoden tiefer
als der rechte. Beide Hoden und Nebenhoden normal. Linker Leisten¬
canal für das Endglied des Zeigefingers durchgängig, rechter Leisten¬
canal etwas enger. Links mässig starke Varikocele. Keine Hernie.
Operation am 21. Januar 1898 in Narkose: Typischer
Schnitt. Vena spermatica hat sich bereits in zwei dicke Hauptstämme
getheilt. Von beiden wird ungefähr 15 cm resecirt, ihre Seitenzweige
ligirt. Die centralen Ligaturen schlüpfen in die Bauchhöhle, die peri
pheren liegen nach aussen vom Annulus inguinalis ext. A ier tiefe
Muskelnähte, fortlaufende Naht der Fascie und Haut, keine Drainage,
Compressionsverband .
Decursus: Wegen Stichcanaleiterung wird die Hautwunde
aufgemacht.
Wunde
gCll - - ö
Patient wird am 14. Februar mit einer granulirenden
entlassen (23 Tage in Behandlung), und hatte dann
noch längere Zeit eine Fistel. Patient wurde für den Militär¬
dienst angenommen und befindet sich jetzt als Soldat in der indischen
Armee.
Fall 14. W. van D. aus Utrecht, 33 Jahre alt, Gärtner.
P.-Nr. 53.
Patient wurde bei der Stellung als untauglich erklärt für den
Militärdienst wegen eines Krampfaderbruches. Obwohl keine Be¬
schwerden vorhanden sind, wünscht Patient die Operation, um taug¬
lich zu werden.
Status praesens: Hodensack sehr schlaff, lang, linker
Hoden hängt viel tiefer als der rechte, ist auch etwas kleiner und
weicher als derselbe. Varikocele starken Grades links. Nebenhoden
wegen der harten stark erweiterten Venenplexusse nicht zu palpiren.
Leistencanal rechts und links bequem lür den Zeigefinger passirbar.
Operation am 25. Januar 1898 in Chloroformnarkose :
Typischer Schnitt. Vena spermatica dick, theilt sich in zwei gleich
starke Seitenäste. Resection vom Hauptstamm und den Seitenästen
in einer Länge von 15 on. Vier tiefe Muskelnähte, Knopfnaht der
Aponeurose und Haut, keine Drainage, aseptischer Compressions-
verband. Die Venenligaturen liegen ausserhalb des Leistencanales.
Decursus: Heilung per primam. Entlassen am 8. Februar
(Dauer des Spitalsaufenthaltes 14 Tage).
Revision am 1. März 1899: Keine Varikocele, keine Be¬
schwerden beim Arbeiten, Narbe linear, keine Vorwölbung beim
Husten, keinerlei Hernie, Hoden und Nebenhoden normal. Patient
hat die Idee, Soldat zu werden, aufgegeben.
Fall 15. Cornells H. aus Utrecht, 22 Jahre alt. P.-Nr. 180.
Patient hat seit zehn Monaten in der linken Leistengegend und
im linken Hoden Schmerzen bei der Arbeit.
Status praesens: Scrotum nicht sehr lang, aber schlaff,
links zwei Querfinger tiefer als rechts, Testikel rechts und links von
gleicher Grösse, elastisch, Nebenhoden rechts und links normal.
Links Varikocele von mittlerer Stärke (hinter und unter dem Hoden
jedoch ein starkes Convolut von Venen). Beim Husten längliche Vor¬
wölbung entsprechend dem linken Leistencanal (nicht über das
Tuberculum pubicum nach abwärts reichend). Linker Lcistencanal
weit, (Finger kann leicht bis in die Bauchhöhle eindringen), deutlicher
Anprall beim Husten. Rechts ist der Leistencanal enger, er lässt
nur das Nagelglied des Fingers eindringen. (Anprall beim Husten.)
Operation am 26. April 1898 in Chloroformnarkose: Typi¬
scher Schnitt zur Freilegung des Leistencanales. Es werden entfernt:
1. Zwei dünne 5cm lange subseröse Lipome;
2. ein 4 cm langer Bruchsack (Hernia indirecta), Torsion, Ligatur,
Amputation ;
3. 10 — 12 cm von der '6 mm dicken Vena spermatica interna
(Ligatur);
4. 5 cm von den auch erweiterten Venae spermaticae externae.
Vier tiefe Muskelnähte, Knopfnaht der Aponeurose und Haut.
Aseptischer Compressionsverband ohne Drainage.
Decursus: Heilung per primam, entlassen am 10. März.
Dauer der Spitalsbehandlung 13 Tage. Bei der Entlassung Hoden
nicht verändert. Alle weiteren Nachforschungen nach dem Verbleib
des Patienten blieben bis December 1899 ohne Erfolg.
Fall 16. A. van Y. aus Jerseke, wohnhaft gegenwärtig in We-
meldinge, 24 Jahre alt, Schiffersknecht. P.-Nr. 208.
Patient hat eine linksseitige Hernie seit sechs Jahren, seit fünf
Jahren Schmerzen beim Arbeiten, trotzdem ein Bruchband getragen
wurde.
Status praesens: Links: Hernia inguinalis indirecta, re-
ponibilis, Enterocele, eigross, Leistencanal für den Zeigefinger durch¬
gängig, Varikocele mittleren Grades, Hoden und Nebenhoden normal.
Rechts: Leistenkanal für das Endglied des Zeigefingers durch¬
gängig, Hoden und Nebenhoden normal. Scrotum sehr schlaff, linker
Testikel tiefer als der rechte.
Operation am 3. Mai 1898 in Narkose: Typischer Schnitt.
Bruchsack dünn, Torsion, Ligatur, Amputation. Vena spermatica in¬
terna 2 1/2 mm dick, Resection von 10 cm aus dem Stamm und zwrei
Seitenästen. Exstirpation eines kleinen subserösen Lipoms. Vier tiefe
Muskelnähte, Fascienknopfnähte. Ilautnaht ohne Drainage. Asepti¬
scher Compressionsverband.
Decursus: Heilung per primam, entlassen am 17. Mai (Be¬
handlung 13 Tage).
Nach einem schriftlichen Berichte vom 21. März 1899 kein
Recidiv, keine Vorwölbung beim Husten, Tinker Hoden normal, keinerlei
Beschwerden.
Fall 17. Gysbertus de B. aus Nieuwersluis, 22 Jahre alt, Gärtner.
P.-Nr. 197.
Patient bemerkte vor drei Monaten links im Scrotum eine \ er-
dickung, welche bei der Arbeit Schmerz verursachte. Wünscht operirt
zu werden.
Status praesens: Scrotum schlaff, linke Hälfte tiefer als
die rechte. Hoden und Nebenhoden beiderseits normal. Linker Hoden
mit dem oberen Pole nach vorne gekehrt. Links \ arikocele, am
stärksten hinter dem Testikel. Beide Leistencanäle durchgängig tüi
das Endglied des Zeigefingers, Anprall beim Husten.
Operation am 5. Mai 1898 in Narkose: Typischer Schnitt.
Vena spermatica interna bereits in zwei Hauptstämme gespalten.
Resection beider in der Ausdehnung von 10 cm. Vier tiefe Muskel¬
nähte, Knopfnaht der Aponeurose und Haut. Aseptischer Compressions¬
verband ohne Drainage.
Decursus: Heilung per primam, entlassen am 17. Mai, Dauer
des Aufenthaltes auf der Klinik 13 Tage.
Revision vom Arzte in Nieuwersluis am 27. April 1899:
Kein Recidiv, Hoden beiderseits normal, keine Vorwölbung beim
Husten, Wohlbefinden.
Fall 18. Wiebe de H. aus Zeist, 24 Jahre alt, Bäckersknecht.
P.-Nr. 301.
Patient hat seit l‘/2 Jahren einen rechten Leistenbruch und
trug seit der Zeit ein Bruchband. Er kommt auf die Klinik mit dem
Wunsche, operirt zu werden.
78
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 4
Status praesens: Rechts: Hernia inguinalis indirecta
reponibilis, walnussgross, Varikocele, Bruchpforte für den Zeigelinger
durchgängig.
Links: Hernia inguinalis indirecta interstitialis reponibilis,
Leistencanal für den Zeigelinger durchgängig. Varikocele, jedoch
schwächer als rechts.
Operation am 1. August 1898 in Narkose: Typischer Schnitt
auf der rechten Seite. Ligatur und Amputation des Bruchsackes.
Resection von 10 cm aus der Vena spermatica interna. Sechs tiefe
Muskelnähte, Knopfnaht der Aponeurose und Haut. Keine Drainage.
Aseptischer Compressionsverband. Links wurde nicht operirt.
Decursus: Heilung per primarn, entlassen am IG. August,
15 Tage in Behandlung gewesen.
Nach dem letzten Berichte vom 13. März 1899 besteht kein
Recidiv, keine Vorwölbung beim Husten. Hoden normal. Links Hernia
indirecta reponibilis.
Fall 19. Philipp D. aus Utrecht, 17 Jahre alt, Kleidermacher.
P.-Nr. 313.
Patient wollte zur Marine, wurde jedoch abgewiesen wegen
Krampfaderbruch und wünschte die Operation, um militärtauglich
zu werden.
Status praesens: Links: Hernia inguinalis indirecta
reponibilis, Leistencanal für den Zeigefinger durchgängig, starke
Varikocele.
Rechts: keine Hernie, Fingerspitze kann nicht in den Leisten¬
canal eindringen. Venen sehr wenig erweitert.
Operation am 21. August 1898 durch Dr. L. in Narkose:
Typischer Schnitt. Der sehr kleine Bruchsack wird torquirt, ligirt,
amputirt. Resection von Gern aus der Vena spermatica interna. Vier
tiefe Muskelnähte, Knopfnaht der Aponeurose und Haut. Keine Drai¬
nage, aseptischer Compressionsverband.
Decursus: Heilung per primarn, entlassen am 5. September,
15 Tage in Behandlung gewesen.
Revision am 6. März 1899: Als tauglich befunden für den
Militärdienst.
Fall 20. Johannes M. aus Middelharnis, 17 Jahre alt, P.-Nr. 374.
Patient wurde von der Stellungscommission zurückgewiesen
als untauglich wegen eines Krampfaderbruches. Operation wird ver¬
langt, um in den Militärdienst eintreten zu können.
Status praesens: Scrotum schlaff, linke Hälfte viel tiefer
als die rechte. Beide Hoden und Nebenhoden normal. Links Varikocele;
Leistencanal auf beiden Seiten für das Endglied des Zeigefingers
durchgängig, keine Hernie.
Operation am 19. October 1898 in Narkose. Typischer
Schnitt. Resection:
1. vom Stamm der Vena spermatica interna (2 mm dick) in einer
Ausdehnung von 5 cm;
2. von einem Seitenaste der Vene (1 4/2 mm dick) in einer Länge
von 2 cm;
3. von Stückchen aus den Venae spermaticae externae
(l'/jmm dick). Die Venen sind alle noch dünnwandig.
Drei tiefe Muskelnähte, Knopfnaht der Aponeurose und Haut.
Aseptischer Compressionsverband. Gleich nach der Operation deutliche
venöse Stauung.
Decursus: Heilung per primarn, entlassen am 31. October,
11 Tage in Behandlung.
Nach eingelangtem Bericht vom 22. April 1899 ist Patient von
den Militärärzten als tauglich befunden worden. Der Mann dient jetzt
als Soldat.
Fall 21. Jobs. B. aus Utrecht, 27 Jahre alt, Arbeiter. P.-Nr. 431.
Der Krampfaderbruch wurde vor l‘/2 Jahren zuerst bemerkt,
Patient wünscht die Operation, um in den Militärdienst treten zu
können. Keine Schmerzen.
Status praesens: Varicocele sinistra, Füllung der Venen
des Plexus pampiniformis beim Stehen stark, beim Liegen gering.
Hoden weich, kleiner als auf der anderen Seite. Nebenhoden normal.
Leistencanal für das Ertdglied des Fingers durchgängig. Rechts:
Hoden und Nebenhoden normal, Leistencanal sowie links. Hautvenen
des Scrotums rechts und links erweitert.
Operation am 20. November 1898 in Narkose: Typischer
Schnitt Resection der Vena spermatica interna, die sich hoch theilt
in zwei Stämme (10 cm Länge). Auch von den erweiterten Venae
s p e r ma ticae e x t e r n a e wird je ein Stückchen reseeirt. Vier tiefe
Muskelnähte. Knopfnaht der Aponeurosis und Haut. Aseptischer
Compressionsverband ohne Drainage.
Decursus: Heilung per primarn, entlassen am 12. December
mit Suspensorium. Spitalsaufenthalt 21 Tage. Bei der Entlassung
Hodensack noch schlaff, Venen viel weniger deutlich zu fühlen, kein
Unterschied in der Venenfüllung beim Stehen oder Liegen.
Nach eingekommenem Bericht vom 27. April 1899: Patient ist
für tauglich befunden worden und dient jetzt als Matrose bei der
königlich niederländischen Marine.
Die 21 Patienten, die zur Operation kamen, standen im
Alter zwischen 15 und 33 Jahren. (Es hatten ein Alter von
15 Jahren 2, von 17 Jahren 2, von 18 Jahren 3, von 19 Jahren
2, von 20 Jahren 3, von 21 Jahren 1, von 22 Jahren 2, von
23 Jahren 2, von 24 Jahren 2, von 27 Jahren 1 und von
33 Jahren 1) die meisten vertheilten sich also auf die Zeit
zwischen dem 17. und 24. Lebensjahre. Die Mehrzahl der
Patienten gehörte der arbeitenden Classe an, einige wenige
waren noch ohne bestimmten Beruf.
Besonders hervorhebeu möchte ich, dass zwei Drittel von
meinen Patienten (genau 14 von 21) von der Assentirungs-
commission bei der Stellung wegen des Krampfaderbruches
als dienstuntauglich abgewiesen wurden. 13 von den 14 ver¬
langten direct die Operation, um als Soldaten in die Armee
oder Marine aufgenommen werden zu können. Erwerbung der
Kriegstauglichkeit war also bei ihnen die Hauptindication zur
Operation, denn nur 2 von den 13 hatten grössere Beschwerden
von ihrer Varikocele. Die übrigen 8 Patienten wünschten die
Operation wegen der Beschwerden, die die Varikocele ver¬
ursachte. (Einer von den 8 war auch bei der Stellung als un¬
tauglich erklärt wmrden.)
Die Varikocele, die operirt wurde, sass 20mal links und
nur einmal rechts (Fall Nr. 18), wobei jedoch besonders be¬
merkt werden soll, dass in diesem Falle auch links eine, wenn
auch geringere Varicocele bestand.
Eine Combination von Hernie und Varikocele lag fünf¬
mal vor und zwar bei Fall Nr. 5, 15, 16, 18 (hier auch das¬
selbe auf der anderen Seite) und 19. Die Hernie war einmal
fast faustgross, einmal eigross, einmal nussgross, in den übrigen
Fällen noch kleiner.
Lipome des Samenstranges wurden in den Fällen 15
(zwei Stück) und 16 exstirpirt. Unter den Fällen, die ich im
Jahre 1899 operirt hatte, befand sich noch einer, bei dem
ich nicht weniger als drei Lipome mit entfernt habe. Diese
Samenstrang-Lipome zeichneten sich alle aus durch ihre dünne
langgestreckte Form.
Bei den meisten Varikocelen konnte ich den Stamm der
Vena spermatica interna auffinden und entweder aus diesem
allein oder ausserdem noch aus seinen Seitenästen ein Stück
reseciren. Seltener war der Hauptstamm bereits in mehrere
Seitenzweige aufgelöst, so dass ich jenen gar nicht zu Gesicht
bekam. Aus den Venen wurden verschieden grosse, meist je¬
doch lange Stücke reseeirt, das kleinste Stück war 2 cm, das
grösste 15 cm (Fall 13) lang.
Die Venae spermaticae externae wuirden ausserdem noch
reseeirt in vier Fällen (Nr. 11, 15, 20, 21).
Besonderes Interesse beansprucht Fall 1 1, welcher zuerst
nach der gewöhnlichen Methode operirt wurde, jedoch ein Re¬
cidiv bekam. Bei der zweiten Operation, die nach der oben
beschriebenen Methode vorgenommen wurde, sah man, dass
vom Hauptstamme noch zwei dicke Venen ins Scrotum ab-
stiegen, die bei der ersten Operation nicht unterbunden
worden waren. Leider konnte ich später über den Patienten
keine näheren Nachrichten mehr bekommen.
Was nun den Wundverlauf anbelangt, so kann ich be¬
merken, dass lomal eine tadellose Heilung per primarn, einmal
eine Heilung per primarn mit leichter Reaction (ohne Eiter¬
bildung!), einmal eine leichte Stichcanaleiterung in der Haut
und viermal Heilung per secundam eintrat.
Vom grössten Interesse sind die vier letzten Fälle, bei
denen der Wundverlauf kein günstiger war. Zwei, nämlich
Fall 12 und 13, waren hinter einander an einem Tage operirt
worden, bei beiden musste wegen Stichcanaleiterung, die sich
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
79
in die Tiefe fortsetzte, die Hautwunde geöffnet werden. Die
Wunden granulirten jedoch bald schön und verkleinerten sich
rasch. Nach 23 Tagen konnten beide Patienten mit einer
kleinen granulirenden Wunde entlassen werden. Beide Fälle
gaben noch ein sehr gutes Resultat. Der eine Mann dient als
Soldat in der indischen Armee. Schwerere Eiterungen traten
auf bei Fall 2 und 5. In beiden Fällen mussten die Haut¬
wunden geöffnet werden und zog sich die Heilung in die
LäD<Te. Bei Nr. 2 kam es noch zu einer Thrombose der Vena
femoralis, weshalb der Patient 57 Tage in Spitalsbehandlung
blieb. Schliesslich heilte noch Alles aus und Patient ist derzeit
Berufssoldat. Auf Fall 5, der zur Heilung 59 Tage brauchte,
komme ich gleich zu sprechen. Nicht unerwähnt möchte
ich lassen, dass diese vier Fälle von Eiterungen in drei kleinen
Perioden vorkamen, in denen die A\ undheilung an der Klinik
überhaupt zu wünschen übrig liess. Die im Jahre 1899
operirten Fälle sind sämmtlich per primam geheilt. Was den
späteren Zustand der operirten Patienten anbelangt, so konnte
ich leider von zweien überhaupt nichts mehr erfahren (Fall 11
und 15). Von den restirenden 19 sind 7 als militärtauglich
befunden worden und dieselben dienen theils in der Land¬
armee, theils bei der Marine (Fall 2, 8, 10, 13, 19, 20, 21).
Alle sieben Patienten waren das erste Mal wegen V ari-
kocele zurückgewiesen worden. Die übrigen zwölf Patienten
sind mit ihrem Zustande zufrieden. Bios einmal (Fall 9) konnte
ich noch einen leichten Grad von Phlebektasie im Bereiche
des Plexus pampiniformis constatiren. Der Patient scheint
jedoch eine allgemeine Prädisposition für Venektasien zu haben,
denn er bekam einige Zeit nach der Operation der Varikocele
auch noch Erweiterungen der Venen des Scrotums, Penis, des
Kopfes, der oberen und der unteren Extremitäten. Wären diese
allgemeinen Ektasien früher aufgetreten, so hätte man natür¬
lich von einer Operation der Varikocele abgesehen. Immeihin
ist auch bei diesem Falle eine sehr erhebliche Besserung nach
der Operation eingetreten. In allen übrigen Fällen ist die
Varikocele durch die Operation zur Heilung gekommen und
falls Beschwerden vorhanden waren, sind diese verschwunden.
Leistenhernien oder Schenkelhernien traten nicht auf. Die
Scrotalhaut verlor ihre Schlaffheit und umschloss gut die hoch
stehenden Testikeln. Der linke Testikel stand mit dem rechten
entweder in gleicher Höhe, oder er befand sich bisweilen sogai
höher als dieser. Besondere Sorgfalt Avurde auch auf die Unter¬
suchung der Testikel verwendet. In einem einzigen Falle konnte
eine Atrophie des linken Hodens nachgewiesen werden (Fall 5).
Es ist das jener Patient (siehe oben), bei dem eine faust¬
grosse Scrotalhernie bestand, der Hoden schon früher kleiner
als der rechte war und bei dem eine länger dauernde Wund¬
eiterung aufgetreten ist. Was in diesem Falle die Hodenatrophie
bedingte, ist schwer mit Sicherheit anzugeben. Es wäre möglich,
dass in Folge der Entzündung Thrombose in den "V enen auf¬
getreten ist. aber es ist auch denkbar, dass unglücklicher
Weise bei der Isolirung des Bruchsackes eine Verletzung
eines wichtigen Gebildes des Samenstranges (Vas deferens,
Nerven. Arterie?) erfolgte, ohne dass es bemerkt worden war.
Uebrigens befindet sich der Patient sehr wohl, er hat weder
Hernie noch Varikocele und kann seinem schweren Berufe als
Eisenbahnarbeiter ungehindert nachgehen. Er ist froh, kein
Bruchband mehr tragen zu müssen, keine Schmerzan beim
Arbeiten zu haben und ist keineswegs unglücklich über seine
Hodenatrophie. Alle übrigen Hoden die Aron mir odei den
Hausärzten auf mein Verlangen hin nachuntersucht wurden,
sind nicht atrophirt.
Zu berichten habe ich noch, dass bei einem f alle (Nr. 6)
eine dünnwandige, sehr diaphane Hydrocele tunicae vaginalis
propriae aufgetreten ist, die der Patient auf ein Trauma zurück¬
führt. Die Hydrocele macht keine Beschwerden. Lydston1-)
erwähnt, dass er mehrmals Hydrocelenbildung nach Varikocelen-
operationen beobachtet hat. Auch in der älteren Liteiatui
findet man diesbezügliche Angaben.
Ueberblicken wir schliesslich alle Resultate, so müssen
wir sagen, dass sie in den I ällen, wo eine Heilung pei
primam aufgetreten ist, als sehr gute zu bezeichnen sind.
Auch von den vier Fällen, die per secundam heilten, be¬
kamen wir schliesslich noch bei dreien ein sehr schönes
Resultat, während blos ein einziger wegen Atrophia testis zu
wünschen übrig lässt. Dieser Fall (Combination von Varikocele
mit Plernia scrotalis) bleibt aus den oben angeführten Gründen
zweifelhaft und kann nicht ohne Weiteres gegen die genannte
Varikocelenoperation angeführt werden.
Bei Durchsicht der mir zur Verfügung stehenden Literatur
fand ich, dass v. Z o e g e - M a n t e u f f e 1 1!) zAvei fälle \ron
Varikocele nach Bassin i’schem Typus operirt hat, jedoch
ohne die Venen zu reseciren oder zu ligiren. Der Autor be¬
gnügte sich einfach mit der Verlagerung des unverletzten
Samenstranges im Sinne der Bassinischen Operation iüt
die Leistenhernie. Der Funiculus spermaticus Avird dadurch
verkürzt (gewissermassen durch Faltung oder Schlingenbi ldung)
und die absolute Höhe der extraabdominellen Blutsäule
niedriger. Auch die Druckhöhe der ganzen Blutsäule muss
nothwendiger Weise geringer werden und überdies kommt
der Samenstrang eine Strecke lang intramuscular zu liegen.
Von den ZAvei operirten Patienten bekam einer (ein 46 Jahre
alter Bauer) eine partielle Thrombose im Plexus pampiniformis.
In beiden Fällen verschwanden die sehr erheblichen Be¬
schwerden nach der Operation. Im ersten Falle konnte man
jedoch noch eineinhalb Jahre nach der Operation einige
dilatirte Venen nachweisen, bezüglich des zweiten Falles
Averden jedoch keine näheren Angaben über den späteren Zu¬
stand des Plexus pampiniformis mitgetheilt. Von Zoege-
M an teuf fei kann die Operation als ungefährlich mit gutem
Gewissen empfehlen.
Utrecht, 27. December 1899.
Aus der chirurgischen Abtheilung des Prof v. Mosetig-
Moorhof im Allgemeinen Krankenhause.
Ueber multiple Dünndarmstenosen tuberculösen
Ursprunges.
Von Dr. Sigmund El’dheim, emerit. Assistent der Abtheilung.
Nachdem Hofmeister1) im Anschluss an einen von
ihm operirten Fall von multipler tuberculöser Dünndarm-
strictur die bis zum Jahre 1896 veröffentlichten Fälle ge¬
sammelt und im Ganzen 20 Fälle (12 operirte und 8 nicht
operirte Fälle) von multipler Darmstrictur zusammengestellt
hat hat sich die Zahl der in der letzten Zeit von chirurgischer
Seite mitgetheilten Fälle beträchtlich vermehrt. So berichten
T r o j e 2), L e n a n d e r 3), S t r e h 1 4) K r o g i u s ")> I r ä 11 k ® j
Deppe7), Matas8) und Guinard9) über je einen f all
und Schnitzler10) stellte in der Sitzung der Gesellschaft
derAerzte vom 30. November 1899 einen geheilten Fall vor;
ausserdem erwähnt Nothnagel1’) drei einschlägige fälle
ohne die detaillirten Krankengeschichten mitzuth eilen.
Obwohl die Krankheit nach dem einmüthigen Ausspruche
der bisherigen Beobachter sehr selten ist (Eisenhardt1-)
fand unter 566 Fällen von Darmtuberculose achtmal eine
einfache und einmal eine zweifache Darmstrictur) hatte ich
Gelegenheit, im Laufe einer kurzen Zeit fünf hierher gehörige
Fälle zu beobachten und zum Theile selbst zu operiren. in
vier Fällen war der Sitz der Stricturen ausschliesslich im Dünn
darm, der fünfte Fall war mit einer stricturirenden luber
culose des Colon ascend, combinirt. Die Combination mit steno-
sirender Dickdarmtuberculose, speciell der des Cöcunis, ist ein
mehrmals beobachtetes Zusammenti eilen. Es waien ties, aau
aus den mitgetheilten Beobachtungen von Billroth ), Ks
march14), Frank15) u. A. hervorgeht, grosstentheils falle,
die wegen der Cöcumaffection operirt wurden und wo wahrend
der Operation oder Obduction die allenfalls geringgradige
Stenosirung des Dünndarms gefunden wurde; ähnlich verhielt
- - Falle. — Die übrigen vier tal.e er¬
es sich auch in unserem
13) W. v. Zoege-Manteuffei, Zur operativen Behandlung der
•ikocele. Sr. Petersburger mediciniscbe Woehenschritt. 1. Jb, - '•
12) L y d s t o n, 1. c.
feO
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 4
wiesen sich als reine Dünndarmstenosen und dies sind Fälle,
welche eine gewisse Sonderstellung gegenüber der zuerst er¬
wähnten beanspruchen. Trotz der gleichartigen Aetiologie ver¬
halten sich die Dünndarmstenosen den anderen gegenüber im
Verlaufe anders, sie verlaufen latenter und machen erst spät
Stenosenerscheinuogen. Der Grund hieftir liegt darin, dass der
im Dünndarm noch flüssige Speisebrei eine relativ enge
Strictur mit Hilfe der Darmwandhypertrophie noch leicht pas-
siren kann, was bei der dickeren Beschaffenheit des Kothes
im Dickdarm nicht möglich ist. So erwähnt Litten16) einen
Fall, wo trotz sechs hochgradiger Dünndarmstenosen, zwischen
welchen der Darm zu magenähnlichen Säcken ausgebreitet
war, intra vitam keine Stenosenerscheinungen bestanden, weil
in Folge der gleichzeitig vorhandenen recenten tuberculösen
Geschwüre der Darminhalt sehr flüssig war.
Die Fälle kommen daher ziemlich spät zur Operation,
wenn man aber in der Krankengeschichte nachforscht, findet
man, dass die ersten Erscheinungen von kolikartigen Schmerzen,
welche oft falsch als Symptome eines einfachen Darmkatarrhs
gedeutet werden, auf Monate und sogar Jahre zurück zu
datiren sind.
Ein weiterer Grund der späten Erkenntniss liegt
in der erschwerten Palpation des Dünndarmes; Obrasztoff l7)
hat zwar eine Methode zur Palpation des pathologisch ver¬
änderten Dünndarmes angegeben, welche sich auf die Tliat-
sache stützt, dass das untere Ileum, welches grösstentheils der
Sitz von tuberculösen Veränderungen ist, ein kurzes Mesen¬
terium besitzt und daher bei einiger Uebung die infiltrirte
Darmwand in der Richtung gegen das kleine Becken durch¬
gefühlt werden kann, die--e Methode scheint aber dem Gross
der Aerzte nicht bekannt zu sein und mehr Uebung zu er¬
fordern, während die Palpation einer Cöcalgescli wulst auch
dem weniger Geübten gelingt.
Für diese Sonderstellung der Diinndarmstricturen gegen¬
über den Dickdarmstenosen auf Grund der eigenen Sympto¬
matologie, trotz gleicher Aetiologie, ist in der letzten Zeit
S k 1 o d o w s k i 18) warm eingetreten.
1. M. M., 30jährige Taglöhnerin, wurde am 15. März 1897 von
der Abtheilung des Ilofrathes Dräsche zum Zwecke eines opera¬
tiven Eingriffes zutransferirt.
Anamnese: Keine Heredität nachweisbar; in der Kindheit
Überstand Patientin Masern und vor drei Jahren eine fieberhafte
Krankheit von achttägiger Dauer; über die Art des Leidens kann
Patientin keine Angaben machen. Andere Erkrankungen, speciell
solche, welche auf eine Affection der Lungen oder des Darmes hin-
weisen, stellt Patientin in Abrede.
Die gegenwärtige Erkrankung begann vor circa vier Jahren
mit hartnäckiger Obstipation, welche der Patientin ziemlich starke,
in der rechten Unterbauchgegend localisirte Schmerzen verursachte
und die nur durch fortgesetzten Gebrauch von Laxantien und Klys¬
men beseitigt werden konnten.
Nachdem Patientin schon früher zeitweise ein Aufgetrieben¬
sein des Bauches und ein hörbares Gurren und Kollern und manch¬
mal an der Bauchwand sich abzeichnende und sich vorwärts bewe¬
gende Knollen bemerkt hatte, traten vor neun Monaten die Kolik¬
anfälle heftiger auf, anfangs in monatlichen Zwischenräumen, später
öfters und zuletzt täglich mehrmals namentlich nach der Nahrungs¬
aufnahme. Die sehr verständige Patientin, welche sich genau beob¬
achtete, gab an, dass die Anfälle mit Schmerzen in der rechten
Bauchseite eingeleitet werden, dann entstehe eine Geschwulst, welche
unter fortwährender Zunahme der Schmerzen in querer Richtung
von rechts nach links sich verschiebt, bis dann unter lautem Gurren
die Geschwulst plötzlich zusammenfällt, um dann in einigen Minuten
wieder zu erscheinen. Die Anfälle werden oft von saurem Aufstossen
und Erbrechen gelb-grünlicher, bitter schmeckender Massen begleitet;
nach dem Erbrechen tritt eine Erleichterung der Schmerzen ein, ein
vollständiger Nachlass kommt erst nach dem Stuhlgang zu Stande.
Stuhl ist während der ganzen Zeit retardirt, Patientin ist in letzter
Zeit ziemlich stark abgemagert.
Status praesens: Mittelstarke Person mit geringem Pan-
niculus adiposus. Temperatur und Puls normal.
Am Herzen nichts Pathologisches. Ueber den Lungenspitzen
hört man bronchiales Athmen, hinten unten vereinzelt Giemen und
Schnurren.
Abdomen aufgetrieben, kein Flankenmeteorismus. Auf den
geringsten Reiz, z. B. Beklopfen des Abdomens, tritt lebhafte Peri¬
staltik auf, welche die Mitte des Abdomens einnimmt, daselbst
meistens quer von links nach rechts und umgekehrt verläuft.
In der Unterbauchgegend sieht und fühlt man während des
Anfalles die tetanisch gesteiften Dünndarmschlingen, bei der Palpation
fühlt man hier starkes Plätschern.
In der Gegend des Dickdarmes keine Peristaltik. Das die Peri¬
staltik begleitende Gurren ist so laut, dass man es im ganzen Zimmer
deutlich hört.
Rectalbefund normal. Untersuchung per vaginam ergibt eine
Verkürzung des rechten Parametrium, im linken ist eine kleine harte
Geschwulst zu fühlen.
Im Harn kein Eiweiss, kein Zucker, Indican stark vermehrt.
Stuhl geformt in kleineren und grösseren Knollen.
Die Diagnose lautete : Chronische Dünndarmstenose.
Nach der üblichen Vorbereitung wird am 18. März zur Lapa¬
rotomie geschritten.
Nach Eröffnung des Peritoneums treten stark geblähte, in ihrer
Wand sehr stark hypertrophische Darmschlingen hervor.
Process, vermif. adhärent, enthält einen kleinen Kothstein und
wird resecirt, dann wird die linke Tube resecirt, welche am Darm adhä¬
rent ist. Am lleum drei circuläre Stricturen mehr weniger für einen
Finger durchgängig und centralwärts davon ein über walnussgrosser
Tumor, welcher das Lumen des Darmes bedeutend verengt und
welcher bei näherem Zusehen als tuberculös sich erweist. Die Darm¬
wand daselbst infiltrirt. Das Netz an einer Stelle dieses Tumors ad¬
härent: dasselbe wird abgetragen. Die Mesenterialdrüsen vergrössert
und hart. Es wird nun eine Enteroanastomose zwischen beiden die
Stenosen begrenzenden Dünndarmschlingen ausgeführt, die Laparo¬
tomiewunde in drei Etagen vernäht.
19. März. Patientin ist fieberfrei, fühlt sich sehr wohl, kein
Erbrechen. Peristaltik und Schmerzen vollständig aufgehört.
26. März. Es erfolgt spontan und ohne Schmerzen ein reich¬
licher breiiger Stuhl.
28. März. Entfernung der Nähte. Prima intentio. 11. April geheilt
entlassen. Vollständig frei von Beschwerden.
Im Monate December 1899 hatte ich Gelegenheit, die Patientin
wieder zu sehen. Sie gab an, dass sie jetzt als Arbeiterin in einer
Fabrik beschäftigt sei, dass sie bis vor vier Monaten vollständig
beschwerdefrei war, seit einiger Zeit habe sie nach dem Genuss von
Kraut und anderem Gemüse Gurren im Bauche, jedoch ohne die
geringsten Schmerzen. Patientin fühlt sich ganz wohl, sieht gut aus
und hat an Gewicht zugenommen. Abdomen nicht aufgetrieben,
überall weich und eindrückbar, stellenweise Plätschern zu fühlen.
Stuhl regelmässig jeden Tag ohne Nachhilfe.
2. M. P., 47 Jahre alt, Private, wurde am 26. März 1897 auf¬
genommen.
Die Patientin gibt an, dass sie schon seit längerer Zeit an
Störungen von Seite des Darmes, namentlich an Koliken und unregel¬
mässigem Stuhle leide; in den letzten acht Tagen sollen die Beschwerden
sich bedeutend gesteigert haben, seit dieser Zeit hatte Patientin
weder Stuhl, noch Winde. Seit circa drei Tagen leidet Patientin an
Erbrechen gelb-grünlicher galliger Massen und häufigem Aufstossen.
Status praesens: Patientin ziemlich schwächlich, sehr
stark collabirt, Temperatur niedrig, Puls sehr beschleunigt. Augen
halonirt, Zunge belegt; während der Untersuchung häufig Singultus.
Abdomen sehr stark aufgetrieben, gibt lauten tympanitischen
Schall; an den Seitentheilen Dämpfung, welche bei Seitenlage sich
aufhellt.
Bei Betrachtung des Abdomens bemerkt man lebhafte Peri¬
staltik im Bereiche des stark geblähten Dünndarmes. In der rechten
Fossa iliaca eine deutliche Resistenz zu fühlen, deren Consistenz
wegen der starken Spannung der Bauchdecken und der bedeutenden
Schmerzhaftigkeit des Abdomens nicht zu bestimmen ist.
Die Diagnose lautete auf acuten Darmverschluss (Tumor coeci)
und nachdem ein Einlauf von lauwarmem Wasser weder Stuhl noch
Winde beförderte, wird bald nach Eintreffen der Patientin im Spital
zur Laparotomie geschritten, welche in Anbetracht des bedeutenden
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
81
Kräfteverfalles der Patientin unter S chle i ch’scher Localanästhesie I
vorgenommen wird.
Bei Eröffnung der Peritonealhöhle tliesst eine kleine Menge
klarer, seröser Flüssigkeit ab. Die in die Wunde sich hinein drängenden
stark geblähten Dünndärme sind stark injicirt. Im Anfangstheile des
Colon, asc. findet sich ein ziemlich harter, mit der Unterlage fest ver¬
wachsener Tumor, der Dickdarm sonst contrahirt und leer; der Dünn¬
darm gebläht, im Bereiche des unteren Ileums zwei Narbenein¬
schnürungen zu finden, welche ein bedeutendes Hinderniss für die
Kothpassage bilden. Da unter diesen Verhältnissen an eine Resection
des Tumors und der Stricturen nicht zu denken war wurde eine
Enteroanastomose zwischen Ileum und Colon ascendens angelegt. In
der Nacht hatte Patientin Winde und drei ausgiebige Stuhlentleerungen,
collabirt jedoch und stirbt am 27. März um ’/ 28 Früh.
Bei der Obduction (Dr. H i t s c h m a n n) fand man : Acute fibri¬
nöse Peritonitis mit ganz frischen Verklebungen der Darmschlingen,
Anastomose zwischen Colon ascendens und unterem Ileum.
Das ganze Ileum mit dem Coecum sehr stark gebläht, das
Colon contrahirt. Unmittelbar über dem Coecum sieht und fühlt man
einen den Darm einschnürenden Ring, einen zweiten im unteren
Ileum 7 cm vor dem Coecum, einen dritten beiläufig 12 cm von der
Cöcalklappe entfernt. Bei Eröffnung des Darmes findet man eine
weite, für zwei Finger passirbare Communication zwischen Colon
ascend, und Ileum hergestellt. Die erste stricturirende Stelle sehr
enge, eben nur für eine dickere Sonde durchgängig, entstanden durch
narbige Veränderungen nach alten geschwürigen Processen. Es be¬
steht ein circa thalergrosser Defect, die Schleimhaut gewulstet, theil-
weise unterminirt. Die zweite und dritte Strictur zeigen an der
Innenfläche theils noch bestehende quergestellte Geschwüre mit un¬
ebenem Boden und zackigen Rändern, theils Geschwüren ent¬
sprechende Narben. An einzelnen Geschwüren die tuberculöse Natur
erkennbar.
Es handelte sich also hier um eine chronische Stenose, mit
hauptsächlichem Sitz im aufsteigenden Colon, welche in den letzten
Tagen zu einem vollständigen Verschluss geführt hat. Ob dieser
Verschluss durch ein gröberes Stückchen Koth erzeugt wurde,
konnte nicht festgestellt werden, da aber bei der Obduction vor der
Strictur nichts Derartiges gefunden wurde, ist es wahrscheinlich
dass der Rest des Lumens der ohnedies sehr engen Strictur durch
Entzündung der Schleimhaut und Krampf der Musculatur verschlossen
und auf diese Weise aus der chronischen Strictur ein acuter Darm¬
verschluss erzeugt wurde. Gelegenheit zur Entzündung und conse-
cutivem Krampf war ja genug in Folge des geschwürigen Zerfalles
an der Schleimhaut gegeben.
3. E. S. 33jährige Taglöhnersgattin, aufgenommen am 4. Sep¬
tember 1897. Patientin gibt an seit drei Jahren Schmerzen in der
Magengegend zu haben, die jedes Mal nach dem Essen auftreten. In
der letzten Zeit bekam Patientin auch häufig Erbrechen. Der Bauch
soll oft sehr stark aufgetrieben sein und wenn die Schmerzen lange
andauern, bemerkt die Patientin eine buckelige Auftreibung des
Bauches an verschiedenen Stellen. Seit einigen Monaten besteht
grosse Schwäche und Appetitlosigkeit, sowie Schmerzen in der rechten
Bauchseite, Stuhl angehalten. Vor sechs Jahren wurde auf der Klinik
Schauta eine Ventrofixatio uteri ausgeführt.
Status praesens: Patientin mittelkräftig gebaut, abge¬
magert. Temperatur und Puls normal.
Linke Spitze gedämpft, daselbst hauchendes Exspirium und zeit¬
weise klingendes Rasseln zu hören. Rechts hinten unten Dämpfung
drei Finger breit, an dieser Stelle abgeschwächtes Athmen.
Abdomen bei der ersten Untersuchung nicht aufgetrieben.
Unterhalb des Nabels eine medial gelegene eingezogene Narbe, von
der Ventrofixatio uteri herrührend. Im rechten Hypochondrium eine
Resistenz zu tasten, daselbst besteht Empfindlichkeit bei etwas
stärkerem Druck; ebenso schmerzhaft ist auch das Eindrücken der
Bauchdecken im Bereiche der Narbe.
Bei der folgenden Untersuchung, welche einige Stunden nach
dem Mittagsessen vorgenommen wurde, findet man das Abdomen
stark gebläht, mässig druckempfindlich und nach längerem Palpiren
bemerkt man rechts und links von der Narbe eine buckelige Er¬
hebung der Därme, welche sich langsam verschiebt und ohne Gurren
zu erzeugen nach kurzer Zeit verschwindet; Patientin empfindet da¬
bei keine besonderen Schmerzen. Bei der Palpation des Bauches
Plätschern zu fühlen. Dieser Befund wiederholte sich regelmässig
nach jeder reichlichen Mahlzeit. Stuhl täglich auf Irrigation. In diesem
Falle wurde die Diagnose auf chronische Stenose im Bereiche des
Dünndarmes gestellt, und es waren differentialdiagnostisch eine
Stenose durch Verwachsung des Darmes in Folge der vorausge¬
gangen Laparotomie und in Anbetracht der vorhandenen Spitzen-
tuberculose eine tuberculöse Dünndarmstrictur auseinander zu halten.
Bei der am 9. September vorgenommenen Laparotomie fand
man an zwei Stellen des Ileums in einer Entfernung von etwa
40 cm von einander, zwei walnussgrosse unregelmässig höckerige
Tumoren, in deren Umgebung kleine grauweisse Knötchen zu sehen
waren. Die Tumoren sprangen auch nach innen gegen das Lumen
des Darmes vor und verengten dasselbe so weit, dass bei Einstülpung
des Darmes der Zeigefinger die verengte Stelle nicht passiren konnte.
Die Mesenterialdrüsen vergrössert. Der Darm centralwärts von den
Stenosen stark hypertrophirt.
Es handelt sich also um eine chronisch-hypertrophische Tuber-
culose mit Verengerung des Lumens und da die gleichzeitig vor¬
handene Infection der mesenterialen Lymphdrüsen eine radicale
Operation fraglich machte, wurde von der Resection der beiden ver¬
engten Stellen Abstand genommen und nur, um dem Koth freien
Abfluss zu verschaffen eine doppelte Enteroanastomose — vor jeder
Stenose eine — angelegt.
Der weitere Verlauf war ein normaler. Am zehnten Tage
wurden die Nähte entfernt und die Patientin wurde, nachdem sie
an Körpergewicht zugenommen hat und die Schmerzen und die
Peristaltik aufgehört haben, am 3. October 1897 geheilt entlassen.
Die Nachuntersuchung im December 1899 ergab, dass die
Schmerzanfälle sich nicht mehr wiederholt haben, jedoch verspüre
die Patientin manchmal Kollern im Leibe ohne jeden Schmerz.
— Bauch nicht auf getrieben, kein Plätschern — Status der Brust¬
organe unverändert.
4. M. S., 36jähriger Maurergehilfe, wurde von der Abtheilung
des Primarius Scholz am 27. Juli 1898 behufs Operation zu-
transferirt.
Anamnese: Patient war mit Ausnahme einer Lungenent¬
zündung stets gesund, war nie darmleidend. Seine jetzige Krankheit
begann am 17. Februar mit heftigen Bauchschmerzen, welche sich
nach zweitägiger Stuhlverstopfung einstellten; der Bauch wurde
dabei hart und gespannt; Patient hatte Aufstossen, kein Erbrechen.
Es bestand Gurren im Bauch, jedoch keine sichtbare Peristaltik.
Nach dem Anfalle gingen viele Winde ab und auf Abführmittel
trat flüssiger Stuhl ein. Die Anfälle wiederholten sich seit dieser
Zeit wöchentlich ein- bis zweimal, indem sie am Nachmittag sich
bereits ankündigten und am Abend heftig wurden. Bei den späteren
Anfällen trat oft Erbrechen auf. Der Appetit zwischen den Anfällen
ist gut, Stuhl geformt und unregelmässig. In der letzten Zeit magerte
Patient ein wenig ab.
Urin soll oft und zwar unabhängig vom Anfall, trüb sein.
Status praesens: Ziemlich kräftig gebautes Individuum ;
Pannicul. adip. gering. Temperatur und Puls normal.
Percussion der Lungen ergibt keine Dämpiung, bei der Aus¬
cultation der Lunge hört man hinten unten Schnurren und Giemen.
Die Untersuchung des Abdomens in der anfallsfreien Zeit ergibt
eine leichte meteoristische Auftreibung desselben, keine Druck¬
empfindlichkeit, nirgends ein Tumor zu tasten. Rectalbefund negativ.
Im Urin eine geringe Vermehrung des Indicangehaltes.
28. Juli. Circa zwei Stunden nach dem Mittagessen, wobei
Patient Hülsenfrüchte bekam, verspürte er heitige Bauchschmerzen.
Er liegt im Bett zusammen gekauert und hat Brechreiz; Abdomen in
der mittleren Partie sehr stark trommelartig aufgetrieben, äusserst
druckempfindlich, zeitweise ist Dünndarmperistaltik zu sehen.
Unter zunehmenden Schmerzen trat Erbrechen wässeriger und
schleimiger Massen ein. Der Anfall dauert in wechselnder Intensität
circa drei Stunden und klingt allmälig ab.
Nach gehöriger Entleerung des Darmes wird am 2. August in
Chloroformnarkose die Laparotomie vorgenommen, dabei winde im
unteren Ileum eine circulare Verengerung des Darmes durch eine
Narbe gefunden, die den Darm an dieser Stelle kaum für einen Blei¬
stift durchgängig machte. Die angrenzende Darmpartie hyper-
trophisch.
Resection eines circa 8 c m langen Dannstückes, welches m<
I Strictur enthält und seitliche Apposition der Därme nach v. t rey.
An einer mehr centralwärts gelegenen Partie des Dünndarms bemerkt
82
W1ENEK KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 4
man cine infiltrirto Stelle, welche jedoch noch keine besondere Stenose
verursacht.
Die Untersuchung des Präparates ergab: Narbige Schrumpfung
des Darmes, dessen Lumen auf einer circa 1 cm langen Strecke bis
auf 2—4 mm Durchmesser verengt war. An der Schleimhaut des
Darmes zwei kleine Geschwürchen, welche eine Folge der Koth-
stauung über der Strictur zu sein scheinen. Am Durchschnitt besteht
die stricturirte Partie aus derbem, faserigem Gewebe, welches den
Verdacht auf einen Scirrhus erweckt, erst die mikroskopische Unter¬
suchung (Docent Dr. Albrecht) ergab mit Sicherheit Tuberculose.
Der weitere Verlauf war ein ungünstiger; am Tage nach der
Operation Fieber, Morgens 38 3", Abends SO’Z0. Puls 120— 150. Patient
erbricht und klagt über Schmerzen im Bauch.
Unter peritonitischen Erscheinungen trat am 4. August der
Exitus ein.
Die Obduction (Docent Dr. Albrecht) ergab Peritonitis,
welche von den Bauch wandnähten ausging, die Darmnaht sufficient.
Im obersten Ileum einige tuberculose Geschwüre im Stadium der
Schrumpfung.
5. S. S., 27jährige Private, wurde am 24. October 1898 von der
Abtheilung Primarius Pal zutransferirt.
Patientin gab an, im achten Lebensjahre durch zwei Monate
hindurch an einer Lungenentzündung (?) gelitten zu haben, seither
hustet Patientin meist trocken. Vor zwei Jahren bekam Patientin
eine leichte Hämoptoe, ebenso auch vor fünf Monaten. Kein Fieber,
keine Nacht sch weisse.
Vor zwei Jahren erkrankte Patientin an Magenkatarrh und
heftigem Durchfall und seit dieser Zeit begann Patientin abzumagern,
das Abdomen nahm bedeutend an Grösse zu und wurde schmerz¬
haft. Dabei litt Patientin auch an Aufstossen von übelrichenden
Gasen und an Erbrechen von Speiseresten und grossen Mengen
schleimiger, sauer schmeckender Massen, welches sich fast täglich
ein bis zweimal wiederholte.
Patientin musste stets auf der linken Seite liegen, da bei
Rechtslagerung Uebelkeiten und Erbrechen auftraten. Der Stuhl
erfolgt täglich oder jeden zweiten Tag ohne Nachhilfe, ist fest; an
den verschieden grossen Knollen soll nichts Besonderes zu bemerken
sein. Seit drei Monaten ist die Aufblähung des Bauches eine besonders
starke und ausserdem treten anfallsweise heftige Koliken mit Gurren
im Abdomen auf. Im Anfalle oft Erbrechen, das Patientin häufig
durch Kitzeln des Rachens provocirt, um sich eine Erleichterung zu
verschaffen.
Menses seit zwei Jahren cessirt.
Status praesens: Sehr gracil gebautes Individuum in
schlechtem Ernährungszustände (Gewicht 48 '/2 fy? gegen 60 kg vor
zwei Jahren), Temperatur und Puls normal. In der rechten Supra-
claviculargrube Narben nach anscheinend tuberculöser Lymphadenitis.
Die Fossae supra- und infraclaviculares sind beiderseits eingezogen,
daselbst der Percussionsschall gedämpft; bei der Auscultation bron¬
chiales Exspirium, spärliche trockene Rasselgeräusche (Apicites
bilateral).
Abdomen stark gebläht, hauptsächlich in der mittleren Partie,
in diesem Bereiche lebhafte Peristaltik sichtbar, welche von links
nach rechts etwas schwächer in ungekehrter Richtung abläuft.
Dabei ist ziemlich lautes Gurren und Plätschern an verschie¬
denen Stellen des Abdomens abwechselnd zu hören; in den Flanken
weder Meteorismus noch Peristaltik. Bei der Palpation kein Tumor
zu fühlen, Rectalbefund negativ.
In Anbetracht der auf Jahre hinaus sich erstreckenden, in der
letzten Zeit zunehmenden Beschwerden wurde die Diagnose auf
chronische progrediente Stenose des Dünndarmes gestellt und in
gleichzeitiger Berücksichtigung der früher bestandenen Tuberculose
der Drüsen und der noch bestehenden Spitzentuberculose wurde als
Aetiologie dieser Strictur ebenfalls Tuberculose angenommen, wobei
wir die bei den früheren Operationen und aus den in der Literatur
niedergelegten Fällen geschöpften Erfahrungen uns zu Nutze
machend die Vermuthung ausgesprochen haben, dass es sich um
eine »multiple« tuberculose Strictur des Dündarms handeln dürfte.
Bei der am 27. October 1898 vorgenommenen Laparotomie
wurde diese Diagnose vollauf bestätigt.
Im unteren Ileum fanden sich zwei aus tuberculösen Geschwüren
hervorgegangene ringförmige Einschnürungen, von welchen eine un¬
gefähr handbreit vor der Bauhin’schen Klappe, die andere circa
20 cm centralwärts sass. Der Dünndarm oberhalb der Einschnürungen
stark gebläht. Im Colon mehrere Tumoren (Polypen?) fühlbar. Der
mit der Umgebung verwachsene Process, vermif. wird resecirt,
worauf eine weite Enteroanastomose zwischen lleum und Colon
ascendens angelegt wird. Naht der Bauchwand in drei Etagen.
Der weitere Verlauf war trotz der normalen Temperatur und
des normalen Wundverlaufes durch geringe Schmerzen gestört,
welche sich nach der Operation einige Male wiederholt hatten; ein¬
mal (16 Tage nach der Operation) soll von der Patientin vorübergehend
Peristaltik beobachtet, worden sein. Die sehr ängstliche Patientin,
welche sich vor einem Recidiv fürchtete und in Folge dessen wenig
Nahrung zu sich nahm, erholte sich sehr schwer und wurde, nachdem
die Beschwerden in den letzten Wochen nicht wiedergekehrt sind,
am 6. December geheilt entlassen.
Laut schriftlicher Mittheilung befand sich Patientin wohl, hatte
keine Schmerzen und nahm an Körpergewicht zu, Stuhl regelmässig
jeden Tag. Seit kurzer Zeit erbricht Patientin sehr oft grössere
Mengen Flüssigkeit und leidet oft an Aufstossen; gleichzeitig damit
stellte sich wieder die Abmagerung ein. ( »b es sich hier diesmal um
eine hochsitzende Strictur oder ein anderes Leiden handelt, ist aus
dem mangelhaften Berichte der Patientin schwer zu entnehmen.
Im Anschlüsse an die fünf Krankengeschichten möchte
ich mir einige Bemerkungen anzuknüpfen erlauben.
Was zunächst die Aetiologie anbelangt, waren alle fünf
Fälle secundäre Infectionen; in drei Fällen konnte intra vitam
ein, wenn auch leichter, tuberculöser Process der Lunge nach¬
gewiesen werden und in den zwei obducirten Fällen fand man
ebenfalls chronische schrumpfende Spitzentuberculose.
Was weiters die Ausbreitung des Processes in der Lunge
anlangt, darf man aus der Beobachtung, dass die Darmtuber-
culose im Allgemeinen häutiger bei vorgeschrittener Lungentuber-
culose mit Cavernenbildung vorkommt, keinen ähnlichen Schluss
auf die stricturirende Tuberculose des Darmes ziehen. Da es
als bekannt vorausgesetzt werden darf, welch ungünstigen
Einfluss eine vorgeschrittene Lungentuberculose auf eine gleich¬
zeitig vorhandene Darmtubereulose und vice versa ausübt und
da die tuberculösen Darmstenosen (zumindestens die Stricturen)
einen, wenn auch nicht vollständig ausgeheilten, doch wenigstens
in Ausheilung begriffenen Process darstellen, wird bei einiger
Ueberlegung daraus der Schluss gezogen werden müssen, dass
eine vorgeschrittene Lungentuberculose sich nicht oft in Ge¬
sellschaft einer stenosirenden Darmtubereulose finden wird.
Und in der That, wenn man die veröffentlichten Kranken¬
geschichten der stenosirenden Darmtuberculose durchschaut,
findet man in den meisten Fällen nur »Spitzenkatarrh, leichte
Dämpfung an den Spitzen, spärliche Geräusche« und nur in
den wenigsten Fällen Cavernen Symptome verzeichnet.
Strelil (1. c.) fand zwar in seinem Fall bei der Ob¬
duction ausgedehnte tuberculose Herde, aber er selbst fügt
als Erklärung dieser Erscheinung hinzu, dass es sich hier um
einen ungünstigen Einfluss des zur Narkose verwendeten
Chloroforms handelt, da vor der Operation die Cavernen sicher
nicht bestanden haben.
Orth19) vertritt auch die Ansicht, dass Heilungen von
Darmtuberculose hauptsächlich in Fällen vorkomme, welche
sehr chronisch verlaufen und bei welcher die Zahl der Ge¬
schwüre eine beschränkte ist. Die Fälle mit vorgeschrittener
Lungentuberculose erleben — wenn ich mich so ausdrücken
darf — ihre Stenose nicht.
Wenn wir den anatomischen Befund an der Strictur ins
Auge fassen, so sehen wir, dass es sich dreimal um Stricturen,
welche aus ganz oder partiell geheilten tuberculösen Ge¬
schwüren hervorgegangen sind, handelt.
Im Falle 4 war der tuberculose Process an dem rese-
cirten Stück so weit ausgeheilt, dass die Diagnose erst mikro¬
skopisch gestellt werden konnte. In zwei Fällen (1 und 2)
hat es sich um die sogenannte hypertrophische Tuberculose
(Tuberculose chronique a type tumeur) gehandelt. Die
dritte Form , die sogenannte entzündliche, von welcher
Strehl (1. c.) ein schönes Beispiel gebracht hat, konnten wir
nicht mit Sicherheit constatiren. Vielleicht ist Fall 2 ein Bei¬
spiel dafür.
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
89
Was mir sowohl in meinen Fällen, wie bei Durchsicht
der Literatur aufgefallen ist, ist, dass die Stenosen des Dündarms
iu der überwiegenden Anzahl frei sind.
Wir sahen nur im Falle 1 von hypertrophischer Tuber-
culose eine Verwachsung mit dem grossen Netz und nur
Krogius (1. c.) und Strehl (1. e.) erwähnen die Lösung von
Netzsträngen bei der Operation. Dies muss um so eher aui-
fallen, als doch die tuberculöse Infiltration der Wand bis an
das Peritoneum heranreicht und dasselbe oft mitbetheiligt ist
und im Gegensätze dazu die Cöcaltuberculose so oft Ver¬
wachsungen mit dem Netz aufweist. Ob die grosse Beweglich¬
keit des Dünndarmes die Bildung der Adhäsionen verhindert
oder ob es noch andere Gründe dafür gibt, vermag ich nicht
zu entscheiden.
Was die secundären Veränderungen an den centralwärts
von der Strictur gelegenen Sehlingen anbetrifft, so haben wir
in allen Fällen, wo die Stenose eng war, eine beträchtliche
Hypertrophie der Darmwand gefunden, da es sich um lauter
chronische Fälle handelt.
In dem Fall 1 und 3 war aber dieses Verhalten ab¬
weichend. Während bei einer einfachen Strictur die Hyper¬
trophie des Darmes in abnehmender Intensität sich auf weite
Strecken centripetal verfolgen lässt, wird hier die Hyper
trophie durch die nächste centralwärts gelegene Strictur unter¬
brochen, sie hört, nachdem sie centralwärts immer geringer
wird, unweit von der nächsten Strictur ganz auf, also
schon in einer Entfernung von 20 — 40 cm von der Strictur,
während wir aus Erfahrung wissen, dass eine alte Strictur von
ähnlicher Enge eine Plypertrophie auf viel weitere Darm¬
strecken erzeugen würde. Bei der nächsten Strictur wieder¬
holt sich dieser Vorgang und es hat den Anschein, als ob die
Strictur mit dem centralwärts von ihr gelegenen Darmstück
(bis zur nächsten Strictur) ein System bilden würde, welches
allein ohne die Betheiligung des übrigen Darmes genügt, um
die vor der Strictur gelegenen Ivothmassen durch dieselbe hin¬
durchzupressen. Natürlicher Weise spielt bei diesem Verhalten
die relative Weite der Strictur und die Entfernung der Stricturen
von einander eine wichtige Rolle.
Die Diagnose der Multiplicität der Stricturen haben wir
Mangels der Anhaltspunkte für dieselbe in den ersten Fällen
nicht gemacht und wir waren in unserem ersten F alle^ nicht
wenig überrascht, als beim Vorziehen des Darmes eine Stenose
nach der anderen zum Vorschein kam. In den späteren Fällen
verhalf uns die Erfahrung, die wir aus den ersten Operationen
schöpften, dazu, die Vermuthung auszusprechen, dass es sich
um multiple Stenosen handeln dürfte. Trotzdem aber haben
wir in einem Falle (3) bei der Resection der Stenose im unteren
Ileum zwei, glücklicher Weise sehr geringgradige \ erengerungen
im oberen Ileum übersehen; dieselben wurden erst bei der Ob-
duction entdeckt. — Eine sichere Diagnose der Multiplicität
konnte Krogius (1. c.) in seinem Falle stellen, weil er drei
Tumoren palpiren konnte, von denen einer dem Cöcum, die
beiden anderen dem Dünndarm angehörten. Strehl (1. c.)
macht in seiner Arbeit auf einen Punkt aufmerksam, welchen
er für Verwerthung bei der Diagnose der multiplen Strictur
vorschlägt, nämlich die zunehmende Dauer der einzelnen
Kolikanfälle, welche nicht nur auf eine zunehmende Enge der
Strictur, sondern auf die zunehmende Länge der stenosirten
Partie zu beziehen wäre.
Ich möchte mir noch erlauben, auf eine Ansicht
Sklodowski’s (l. c.) aufmerksam zu machen, welche, falls
sie sich als richtig herausstellen sollte, für die sichere Diagnose
ver werth et werden könnte.
Sklodowski bemerkte nämlich, dass der Darm zwar
auf weite Strecken vor der Strictur Peristaltik zeigt, die teta-
nische Steifung der Därme hingegen nur knapp vor der
Strictur sichtbar sei. Es wäre daher bei Verdacht
auf multiple Stenose darauf zu achten, ob diese tetanische
Steifung nicht an mehreren Stellen eintritt; was dann die Ver-
muthungsdiagnose unterstützen würde.
Unser chirurgisches Eingreifen bestand in drei I allen im An¬
legen einer weiten Comminicationsöllnung zwischen dem ober¬
und unterhalb der sichtbaren Stenosen sich befindlichen Darm-
theil, im Falle 3 wurde, um nicht zu grosse Strecken des
Darmes auszuschalten, an zwei Stellen die Lnteroanastomose
angelegt. Im Falle 4, wo keine1 Infiltration der Mesenterial
drüsen gefunden wurde, wurde die Resection eines 'circa 8 cm
langes Dünndarmstückes, welches die Strictur enthielt, vorge¬
nommen. Von diesen Eingriffen ist die Resection der stenosirten
Partie zusammen mit den vergrösserten Mesenterialdrüsen das
eigentlich radicale Verfahren, welches in allen Fällen, wo keine
Contraindication in dem Collapse des Patienten oder in der
grossen Ausbreitung des Processes gegeben ist, eingeschlagen
werden sollte, in den anderen Fällen ist die Anlegung einer
weiten Communication zwischen zu und abführendem Schenkel
zu empfehlen und da es sich hier an und für sich um Fälle
handelt wo der tuberculöse Process entweder bereits geheilt
ist oder zur Heilung und Schrumpfung neigt, ist von einer
Ableitung des Darminhaltes von der afficirten Partie eine Be¬
günstigung der Heilung zu erhoffen, während durch die Ope¬
ration &die den Patienten belästigenden Symptome: die Kolik¬
anfälle, das Aufstossen und Erbrechen fast mit einem Schlage
behoben werden.
Prof. v. Mosetig betont, dass es nothwendig sei, um
diesen Erfolg prompt zu erzielen, die Communicationsöffnung
sehr weit zu machen, es wird daher auf unserer Abtheilung
stets darauf geachtet, dass die Oeffnung mindestens für zwei
Querfinger durchgängig sei und ausserdem wird, um einer
eventuellen späteren Verengerung dieser Oeffnung vorzubeugen,
immer eine fortlaufende Schleimhautnaht angelegt. Auf diese
Weise ist es uns in allen Fällen, mit Ausnahme des Falles 5,
gelungen, die Schmerzanfälle sofort zu beheben.
Hingegen ist das Plätschern in der vor der Strictur ge¬
legenen Schlinge noch einige Zeit hindurch nachzuweisen, weil
dasselbe von der Ausdehnung des Darmes abhängig ist, welche
zwar, ähnlich wie die Hypertrophie, sich zurückbildet, jedoch
hiezu einer längeren Zeit bedarf.
Literatur.
1) Hofmeister, Ueber multiple Darmstenosen tuberculösen Ur¬
sprunges. Beiträge zur klinischen Chirurgie. Bd. XVII.
2) Tr oje, Münchener medicinische Wochenschrift. 1897.
3\ Lenander, Ein Fall von multiplen tuberculösen Stenosen im
Ileum Berliner klinische Wochenschrift. 1898, Nr. 32.
4) Strahl, Ein Fall von löfacher, zum Theile spastisch-entzünd¬
licher Darmstenose tuberculösen Ursprunges. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie.
L 5) Krogius, Ein Fall von multiplen stenosirenden tuberculösen
Darmtumoren. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. Bd. LII.
6) Fraenkel, ref. : Schmidt’s Jahrbücher. 1898, Bd. CCLV1I.
7) Deppe, Multiple tuberculöse Stricturen. Inaugural-Dissertation.
Referiit: Centralblatt für Chirurgie. 1899, Nr. 39. _
8) M a tas, Multiple strictur of probatle tubercular orig. Philadelphia,
medic, journal. 1898. Referirt: Centralblatt für Grenzgebiete der Medicin
und Chirurgie. 1899, Nr. 20. .
9) Guinard, lietrecissements tbc. de Tintestin. Bull, et memoir.
de la Societe de Chir. de Paris. 1899. Nr. 12.
10) Schnitzler, Wiener klinische Wochenschrift. 1899, Nr. 49,
pag. 1241.
it) Nothnagel, Die Erkrankungen des Darmes und des Peritoneum.
Specielle Pathologie und Therapie. Wien 1898.
12) Citirt nach Conrath, Chronische Tuberculöse des Cöcums. Bei¬
träge für klinische Chirurgie. Bd. XXI.
m Billroth, Archiv für klinische Chirurgie. Bd. XLIIT.
14) Esmarch (Mockenhaupt.) Zwei Fälle von Darmtuberculose mit
Stenose. Inaugural-Dissertation. Kiel 1894. Citirt nach Com ath.
io) Frank, Wiener klinische Wochenschrift. 1892.
16) Litten, Zur Diagnostik der Flüssigkeitsansammlungen im
Abdomen nebst Bemerkungen über ileusartige Zustände in lolge tuberculösei
Darmstenosen. Zeitschrift für klinische Medicin. Bd. II, pag. ÖL.
17) o b r a s z t o f f, Zur Diagnose des Blinddarmcarcinoms, der
Cöcumtuberculose und der Ileumtuberculose. Archiv für Verdauungskrank-
Bd. IV. , ,
>8) Sklodowski, Ueber chronische Verengerung des Dünndarmes
Mittheilungen aus den Grenzgebieten der Medicin und Chirurgie. Bd. \ ,
Heft 3. . 1lJ8n
m Orth. Lehrbuch der speciellen pathologischen Anatomie, trfw.
Zur Technik der Gastrostomie.
Von Dr. Robert Lucke in Altenburg.
Unter den Methoden der Gastrostomie haben wohl heut
zutage diejenigen, welche auf dem Princip der Lanaltistel
bildung am Magen beruhen, als die bei genügender Leistungs-
84
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 4
fähigkeit einfachsten, die meisten Anhänger gefunden. Ein¬
geführt hat das Princip Witzei mit seiner Schrägcanalfistel1);
später erkannte man, dass es auf den Schräg canal weniger
ankommt und jetzt darf von den auf dem erwähnten Princip
fassenden Methoden die Kader’sche2) als die beste gelten.
Ich möchte nun im Folgenden eine ebenfalls auf diesem
Princip beruhende Methode beschreiben, welche sich durch
Einfachheit und Schnelligkeit in der Ausführung empfiehlt,
ohne in der Function hinter den anderen Verfahren zurück¬
zustehen.
Ich gehe so vor:
4 — 8 cm langer Schnitt im linken Musculus rectus ab¬
dominis vom Rippenbogen abwärts.
Nach Eröffnung der Bauchhöhle — das Peritoneum nebst
der hinteren Rectusscheide wird in möglichst geringer Aus¬
dehnung eingeschnitten — wird der Magen vorgezogen und eine
kreisförmige Partie desselben im Magenkörper, mehr nach dem
pvlorischen Theil als nach dem Fundus zu, mittelst Tabaks¬
beutelnaht, welche nur Serosa und Muscularis, aber breit fasst,
umgangen. Die Naht wird nicht angezogen, die Enden des
Fadens bleiben lang. Die umnähte Stelle hat etwa einen
Durchmesser von 3 c?n, die Naht nähert sich der grossen
Curvatur auf ungefähr 2 — 3 cm. Jetzt wird in der Mitte der
Partie ein Troicart, welcher etwas dünner als ein Bleistift
ist, eingestossen; dabei muss man darauf achten, nicht die
hintere Magenwand zu verletzen. Um den Austritt von
Mageninhalt zu verhüten, schliesst man, ehe man den Troi¬
cart wieder auszieht, durch Assistentenfinger oder Klemmen
den übrigen Magen ab. In das gesetzte Loch wird ein blei¬
stiftdickes Gummirohr auf Fingerlange in den Magen ein-
gcschoben.3) Das '/2 m lange Rohr ist an seinem äusseren Ende
zugebunden oder abgeklemmt.
Wenn das Rohr gut liegt, ist von der Mucosa nichts
sichtbar, eventuell muss man kleine Stücke derselben mitScheere
und Pincette abtragen oder das Loch im Magen durch Naht
verkleinern, jedenfalls muss das Rohr fest in dem Magenloch
liegen.4) Es ist daher rathsam, von vornherein die Oeffnung nicht
grösser als eben nöthig zu machen. Jetzt wird die Tabaks¬
beutelnaht, während das Drainrohr, beziehungsweise die Gegend
des Magenloches mit stumpfer Sonde oder Pincette in die
Tiefe gedrückt wird, langsam und gleichmässig angezogen,
bis das Drainrohr fest umschlossen ist, dann wird die Naht
geknüpft. In einer Entfernung von 72em von dieser Naht
wird eine gleiche, das Parietalperitoneum und die Magen-Serosa
und Muscularis fassende angelegt und ebenfalls nicht eher ge¬
knüpft, als bis sie das Rohr fest umschliesst. Nur wenn das
Peritoneum zu straff ist, muss man es durch Knopfnähte
rings um die Canalfistel herum mit dem Magen vernähen.
Falls das Peritoneum noch nicht völlig verschlossen ist, ge¬
schieht das, dann Schluss der übrigen Wunde. Nur im Fall,
dass Mageninhalt während der Operation ausgetreten ist,
werden an dem Rohr entlang rings um dasselbe herum feine
Mullstreifen bis zum Peritoneum geführt, sonst aber auch die
Haut so um das Rohr vernäht, dass keine Lücke bleibt. Ueber
das Rohr wird eine kreisförmig zugeschnittene Schicht von
steriler oder Airolgaze gestreift, welche mit Collodium oder
Heftpflaster befestigt wird. Obgleich das Rohr nicht leicht in
den ersten Tagen herausgeht, thut man doch gut, es durch
Sicherheitsnadel oder ähnlich zu fixiren. Nach einer Woche
wird das Rohr zum ersten Male entfernt und weiterhin wöchent¬
lich einmal. Ich hoffe, dass sich diese kleine Modification des
K n d e r’scken Verfahrens hier und da Freunde erwirbt.
') Centralblatt für Chirurgie. 1891, Nr. 32.
-) Centralblatt für Chirurgie. 1896, Nr. 28.
3) Die Einführung des Schlauches erleichtert man sich dadurch, dass
die Magenwunde mit zwei feinen stumpfen Häkchen auseinander gehalten
wird; der Schlauch wird zusammengefaltet mit der Pincette eingeschoben
oder über eine Sonde ausgezogen nach v. Hacker’s Vorgang.
4) Der Sicherheit halber kann man auch das Rohr am Rande der
Magenöft'nung mit zwei Catgut nähten befestigen, jedoch dürfen die
Fäden weder in das Lumen des Magens, noch in das des Rohres ein-
dringen (vgl.: Centralhlatt. 1896, pag. 666).
FEUILLETON.
Bemerkungen zur neuen Rigorosen-Ordnung.
Von Prof. Albert, vorgetragen in der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
am 19. Januar 1900.
Die Unterrichtsverwaltung hat unserer Gesellschaft eine sehr
schätzenswerthe Aufmerksamkeit erwiesen, indem sie die Bedeutung der
soeben eingeführten neuen Studien- und Prüfungsordnung für Mediciner
vor uns darlegen liess uud durch hochansehnliche Vertreter der Sitzung
einen hier ungewohnten, ich möchte sagen festlichen Charakter ver¬
liehen hat. Der Dank hiefür darf nicht nur ein formeller sein; er
muss auch darin seinen Ausdruck finden, dass wir die angeregte Dis¬
cussion innerhalb rücksichtsvoller Grenzen führen. Ich habe schon bei
der Stellung des Antrages auf eine Discussion dies bedacht und die
Linien angedeutet, welche den Inhalt der Discussion einschliessen
sollen. Die einstimmige Annahme meines Antrages bedeutet wohl eine
Zustimmung auch zu dieser Rücksichtnahme.
Was zunächst den Gesammteindruck der neuen Studien- und
Prüfungsordnung betrifft, so will ich im Voraus sagen, dass sie sehr
viel Gutes enthält, einestheils indem sie einzelne crasse, unheilvolle
Einflüsse der Studienordnung vom Jahre 1872 behebt, andererseits
manche Fortschritte, welche diese enthielt, in entschiedener Weise noch
weiter entwickelt.
Die Studienordnung, unter welcher wir älteren Mitglieder stu-
dirten und geprüft wurden, hatte einen Hauptübelstand, der sich in
einem Satze zusammenfassen lässt. Es konnte irgend Jemand Doctor
der Medicin werden, ohne je eine Leiche eröffnet, ja unter Umständen
auch ohne je einen Kranken auf der Klinik gesehen zu haben. Es
wurde nur am grünen Tische geprüft.
Die Studienordnung vom Jahre 1872 schaffte diese Möglichkeit
ab, indem sie praktische Prüfungen einführte.
Aber sie hatte drei grosse Uebelstände eingeführt. Der eine
bestand in der Einführung der Vorprüfungen aus den drei Fächern
der Naturgeschichte.
Dieser Uebelstand, der so oft besprochen wurde, dass ich auf
ihn nicht näher eingehen will, verdarb den Anfang des Studiums. Statt
sich im ersten Studienjahre mit Anatomie und Chemie zu beschäftigen,
suchten die besseren Köpfe die Vorprüfungen rasch abzulegen und
vergassen in wenig Wochen das rein „eingebüffelte“ Lehrmateriale.
Der zweite Uebelstand lag darin, dass man das erste Rigorosum in
einer beliebigen Zeit ablegen durfte. Wiederum hatten die besten
Studenten einen Nachtheil davon und naturgemäss auch die grosse
Zahl des mittelguten Studentenmateriales. Statt sich mit den klinischen
Fächern näher zu beschäftigen, legten die Studenten das Rigorosum
ab; Vormittags besuchten sie die Kliniken, Nachmittags und Abends
studirten sie aber Anatomie, Physiologie und Chemie nebst Physik.
Der dritte Uebelstand betraf mehr das unter werthige Studenten¬
material. Da nur zehn Stunden wöchentlich obligat waren, so schrieben
sich viele Studenten oft in die wichtigsten Fächer gar nicht ein. Sie
benützten die Lernfreiheit. Schon vor Jahren äusserte man sich hier¬
über in damals abveriangten Gutachten sehr missfällig. „Eine Freiheit,
deren Benützung man Niemandem anempfehlen kann“, sagte, glaube
ich, Hofrath Schnabel damals, „ist gar nichts wTerth“. Damals konnte
man noch die Kritik hören, dass die Professoren gegen nur zehn
Stunden blos darum seien, um höhere Collegiengelder herauszuschlagen.
Aber heute muss auch diese Kritik verstummen, da ja der Bezug des
Collegiengeldes durch die Professoren principiell abgeschafft ist.
Diese Uebelstände schafft die neue Ordnung ab und das sind
ganz bedeutende Errungenschaften. Da ich nicht nur Referent des
medicinischen Professorencollegiums war, sondern auch an der Enquete
betheiligt war, so kann ich auch persönlich meine grösste Befriedigung
aussprechen, dass diese unsere Anträge von der hohen Regierung an¬
genommen wurden. In dem Punkte der Vorprüfungen war die Sache
nicht ganz leicht.
Auch die Erweiterung der Prüfungsgegenstände, einerseits näm¬
lich die Einführung praktischer Prüfungen aus einzelnen theoretischen
Fächern, andererseits die Einführung der Prüfung aus gewissen ganz
neuen Fächern muss als entschiedener Fortschritt bezeichnet werden,
und auch hier müssen wir Freude empfinden, dass die fachmännischen
Anträge angenommen wurden.
Es kann nun nicht Gegenstand einer Verhandlung im Schosse
unserer Gesellschaft sein, zu bestimmen, ob dieser oder jener Punkt
der neuen Ordnung diesem oder jenem Standpunkte zusage oder nicht.
Wie ich schon in der vorigen Sitzung andeutete, wären hier
vor Allem drei Punkte ins Auge zu fassen, zu deren Erörterung dei
Vortrag des Herrn Hofrathes Einer Anregung gab, deren Beleuch¬
tung hier ein, glaube ich, legitimes Forum vorfindet.
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
85
I. Die Stellung des Arztes zu Unterrichtsfragen im
Allgemeinen.
Meine Herren! Während der ärztliche Stand in unseren Tagen
in einen Kampf um die materielle Existenz hineingeräth und man den
angehenden Medieiner aufmerksam machen könnte, er fange nicht ein
Brotstudium, sondern vielleicht ein Hungerstudium an, muss es uns
einigermassen trösten, dass auf der anderen Seite Fragen auf die Tages¬
ordnung gelangen, welche die Wichtigkeit des ärztlichen Standes für
das allgemeine Wohl in helles Licht setzen. Es ist, als ob die uralte
Heilkunde, die gerade in unseren Tagen positive und wichtige, unbe¬
strittene Erfolge aufzuweisen hat, zu den Einzelnpatienteu sagen würde :
„Mein Lieber! Wenn Du Dich von Naturheilkünstlern, Handwerkern,
Dienstboten u. dgl. behandeln lassen willst, so ist das Deine Sache;
wir stehen nicht darauf an. Aber das Allgemeinwohl und das Wohl des
Anderen darf nicht gefährdet werden. Und dieser Andere wird
sprechen. Und in seinem Namen auch der Staat.“
Es werden neue Agenden des ärztlichen Standes geschaffen
werden. Und zu diesen Agenden wird auch die Agende des künftigen
Schularztes gehören.
Bei uns erscheinen ab und zu schon Artikel, welche sich mit
Entwürfen über die Agenda eines künftigen Schularztes befassen. In
einem solchen Entwürfe las ich den Paragraphen: „Der Schularzt sei
zu Beginn des Schuljahres jener Lehrerconferenz beizuziehen, in
welcher die Stundeneintheilung getroffen wird, um geltend zu machen,
ob diese in einzelnen Punkten nicht hygienische Bedenken hervorrufen“.
Wenn schon bei dem jetzigen Stande des Unterrichtes derlei Be
denken wachgerufen werden können, um wie viel mehr wird es in der
Zukunft möglich sein, wenn in dem Elementarunterrichte jene grossen
Reformen eingeführt werden, auf welche das Denken der Zeit noth-
wendig führen muss.
Seit Jahren habe ich in Gesprächen mit Lehrern und Beamten
des Unterrichtsressorts folgendes Beispiel angeführt. Man gibt den
Schülern die Aufgabe: Beschreibung eines Frühlingsmorgens. Hat man
je gesehen, dass ein Lehrer mit seiner Classe an einem Morgen hinaus¬
geht, um ihnen die Beobachtung der Natur praktisch zu zeigen? Es
wurde mir geantwortet, da«s die in diesem Beispiele angedeutete Ge¬
dankenrichtung in dem Unterrichtssysteme von Haufe weit aus¬
greifender und eingehender durchgeführt erscheint; aber die Sachen
seien nicht reif. Da wurde ich in der letzten Sitzung, wo ich hinwies,
dass unser ganzes Unterrichtssystem an dem Uebermasse des „Wortes“
leide, aufmerksam gemacht auf ein soeben erschienenes Werk, aus
welchem ich nur folgende Sätze citire:
a ) Wo wir die Kinder Tugenden lehren wollen, lassen wir sie
nicht handeln, sondern sprechen zu ihnen Worte.
l>) Wir wollen sie die Arbeitsamkeit lehren, aber wir lassen
sie nicht arbeiten, sondern sprechen zu ihnen Worte.
c) Wir wollen, dass sie Ordnung und die Gesetze der Aussen-
welt kennen lernen, aber wir erlauben ihnen nicht, die Aussenwelt zu
beobachten, sondern wir sperren sie in die vier Schulwände ein und
dort sprechen wir zu ihnen Worte.
d) Wir wollen, dass das Kind mit der ganzen Kraft der jugend¬
lichen Seele für die Schönheit erglühe und darum sperren wir sie
zwischen die Schulwände ein und sprechen zu ihnen Worte.“
Ich brauche zu diesen Worten nichts hinzuzufügen. Es sind die
Worte eines Schullehrers. Und solche Stimmen aus den Lehrerkreisen
selbst werden immer häufiger ertönen, bis wir uns aus dem heraus¬
gearbeitet haben, was man den Schatten der Renaissancezeit nennt,
die übergrosse Macht des Wortes. Und mit dem Worte ist auch das
Schlagwort, die Phrase gemeint. Wenn ich nicht irre, wird das Ueber-
handnehmen des Sportes die Uebermacht des Wortes brechen, und
Faust könnte an der Entwicklung des Zeitgeistes seine Zweifel prüfen,
was richtiger sei, ob der Satz: „Im Anfang war des Wort“, oder der
Satz: „Im Anfang war die That“.
Wenn, wie nicht zu zweifeln, der Thätigkeit des Kindes
beim Elementarunterrichte der Zukunft ein grösserer Raum wird zu¬
gemessen werden müssen, so wird auch der Schularzt eine Agenda er¬
halten, die wichtiger und befriedigender sein wird, als die Kämpfe, die
der Arzt jetzt zu führen hat.
Herr Hofrath Exner hat bei seinen Auseinandersetzungen auf
die Grundsätze des Elementarunterriches verwiesen und den sogenannten
geradlinigen Unterricht mit jenem in concentrischen Kreisen ver¬
glichen. Der letztere Unterrichtsgang ist alt, uralt. Am lieblichsten
zeigte seine Bedeutung der grosse C o m e n i u s, von dem Professor
D i 1 1 h e y in Berlin den Auspruch that, dass Comenius päda¬
gogische Fragen aufwarf, die über Jahrhunderte zu uns und in die
Zukunft hinausreichen. Comenius that dies in einem Werkchen,
welches betitelt ist: „Informatorium der Mutterschule“, und führt hier
aus, was das Kind unter erziehlicher Leitung der Mutter an Geographie,
Geschichte, Mathematik, Sprachlehre u. s. w., im ersten Lebensjahre
lernt, dann im zweiten, dritten u. s. w., bis es von der Mutter dei
Schule übergeben wird. Immer erweitert sich der Kreis des M issens
schon in der Nähe der Mutter.
Unser Gymnasium zeigt den concentrischen Unterrichtsgang sein
deutlich. Alterthum, Mittelalter, Neuzeit im Untergymnasium, Alter¬
thum, Mittelalter, Neuzeit im Obergymnasium. Ebenso Zoologie, Botanik,
Mineralogie im Untergymnasium — Mineralogie, Botanik, Zoologie im
Obergymnasium u. s. w.
Im Unterricht auf der Universität wird der Gegenstand aber
complicirter.
Sollte die Analogie stimmen, so müsste der Unterricht so sein,
dass man auf einer unteren Stufe etwas Physik, etwas Chemie, etwas
Anatomie, etwas Physiologie u. s. w. lehrt, dann auf einer höheien
Stufe etwas mehr Physik, etwas mehr Chemie u. s. w. und aut einei
dritten Stufe den nothwendigen Rest von Physik, Chemie u. s. w.
lehren würde.
So stimmt die Analogie allerdings nicht. So müsste sie abei
stimmen, wenn man den Gegensatz des geradlinigen Unterrichtes dazu
hinstellt, wo die Geographie der fünf Welttheile so hintereinander
genommen wird, dass man zuerst Europa ganz voi nimmt, dann
Asien u. s. w.
Herr Hofrath Exner ruft eine ganz andere Analogie an. Er
meint, bezüglich der Niere würde der Unterricht dann ein concentiischei
sein, wenn der Studirende im ersten Jahre die grobe Anatomie dei-
selben, im zweiten Jahre deren mikroskopischen Bau und 1 hysiologie,
im weiteren Verlaufe der Studien ihre pathologische Anatomie, dann
ihre Krankheiten und deren interne und chirurgische Behandlung
kennen lernen würde, wobei jedes Mal alles \ orkerbehandelte
recapitulirt wird. Reisst der Zusammenhang z. B. zwischen der Phy¬
siologie der Niere und ihrer Anatomie ab, dann haben wir es mit einem
geradlinigen Unterrichte zu thun, der von recht geringem Werthe ist.
Dagegen erlaube ich mir Folgendes zu bemerken :
Im Vniversitätsleben tritt ein neues Moment auf. Das ist der
Systemunterricht. Gymnasien sind Lehranstalten, welche — nebst ge¬
wissen Daten — eine solche formale Ausbildung des Geistes ei zielen
sollen, dass der Abiturient für den Unterricht an der Hochschule reit
wird. Es soll reif sein, um den Bau einer Wissenschaft zu erfassen.
Er soll z. B. reif sein, das System des römischen Rechtes zu ver¬
stehen; er soll den inneren Zusammenhang und das Werden aller jener
Begriffe erfassen, welche zum Aufbau dieser merkwürdigen Geistes¬
leistung geführt haben. Hört er dann das canonische Recht, das posi¬
tive österreichische Recht, so hat er mehrere Systeme vor sich; aber
man könnte nicht sagen, dass er einen concentrischen Unterricht über
Ehe, Diebstahl, Bürgschaft u. s. w. genossen hat. Er hat eben den
Inhalt und den Geist verschiedener Systeme studirt, in denen selbst¬
verständlich gewisse Rechtsgegenstände immer wiedeikekien.
An der medicinischen Facultät ist die Sache so. Zuerst beti achtet dei
Student den Menschen von seiner morphologischen Seite, gewisser-
massen in zwei Stufen, weil zwei in ihrer ganzen Technik verschiedene
Methoden bereit sind: die anatomische und die histologisehe. Dann
lernt er — nachdem die allgemeine Chemie, die am Gymnasium nicht
gelehrt wird, vorausgeschickt war — die physiologische Chemie und damit,
ein ganz neues Wissenssystem und sieht im Lichte des Systems sein Object
von einer ganz anderen Seite, die von der morphologischen toto coelo
verschieden ist. Ebenso lernt er dasselbe Object mit der physikalischen,
und beim physiologischen Experimentiren auch mit dei physiologischen
Methode kennen. Er lernt also vor AllemMethoden und Wissenssysteme. Und
wenn man auf diesem Wege selbstverständlich von den verschiedensten
Seiten einmal auf die Niere, ein zweites Mal auf das Herz und ein
drittes Mal auf die Lunge zu sprechen kommt, so kann das kein con-
centrischer Unterricht über Niere, Herz, Lunge genannt werden. Wenn
man ihn trotzdem so nennen wollte, bei uns besteht er ja nicht nui
vermöge der Folge der Fächer aufeinander, sondern auch darum, weil
jeder Praktiker bei Besprechung eines Capitels die Anatomie, Physio¬
logie und Pathologie des Gegenstandes recapitulirt und die Prüfer
auch wegen Unkenntniss aus einem voraussetzenden Fache werfen, ln
dieser Beziehung führt also die neue Ordnung durchaus nicht ein
Novum ein. Das wäre also über den Gang des Unterrichtes zu sagen.
Ich würde gar nicht darauf eingegangen sein, wenn nicht noch
weitere, uns näher berührende Momente im Spiele wären. Setzt der
Universitätsunterricht den Geist eines wissenschaftlichen, systematischen
Unterrichtes voraus, und ist er bei uns — Gott sei Dank — auch
auf der Höhe, dass man den Schülern in jedem Fache den Gang der
Forschung bis auf ihren tiefsten Punkt wenigstens an einzelnen Capiteln
— in der Regel die Lieblingscapitel der betreffenden Lehrer — vor
die Auo-en legt; so hat der Facultätsunterricht auch eine zweite gerade¬
zu fundamentale Seite aufzuweisen, welche beim vorausgegangenen
niederen und mittleren Unterricht gar nicht in Betracht kommen kann.
Es ist nämlich die Vorbereitung zu einem gelehrten Berufe. Hie
Facultät ist auch eine Erziehungsanstalt für bestimmte Stande.
Sie muss also schon in ihrem Programme und in allen ihren
Einrichtungen diesen Zweck vor Augen haben und cs ist emei
HO
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 4
wichtigsten Punkte, zu bestimmen, wie weit der Faeultätsunterricht
zu gehen habe, um diesen Zweck zu erfüllen.
An der theologischen Facultät wird dieser Zweck so ziemlich
voll erreicht. Der absolvirte Schüler ist im Stande, seine Functionen
sofort anzutreten, und die Pastoraltheologie bildet eine Art praktischen
Seminars.
An der philosophischen Facultät wird der Candidat des Mittel¬
schullehramtes im theoretischen und im Seminarunterricht eingehend
ausgebildet; man hat aber doch ein sogenanntes Probejahr eingeführt,
um dem Mann zunächst Gelegenheit zu geben, sich im praktischen
Unterricht umzusehen.
llei den juridischen Facul täten ist die Anforderung oft erhoben
worden, dass bestimmte Seminarübungen eingeführt werden, in welchen
die Studenten casuistische Typen ihrer zukünftigen Praxis zur Behand¬
lung erlangen sollten. Aber hervorragende Lehrer des Rechtes haben
dem entgegen betont, dass der Absolvent die Praxis i n der Praxis
erlernen solle. Bedenkt man, dass der Absolvent entweder zu einer
Behörde oder zu einem Advocaten u. dgl. kommt, wo er die Vorgänge
und Formen der Praxis erlernen kann ; bedenkt man, dass selbst gegen
den Ausspruch des erfahrensten unteren Richters Berufung eingelegt
werden kann, so kann die Frage über das Ausmass der praktischen
Einschulung eines Juristen hin- und herschwanken, ohne dass hiedurch
die Rechtspflege ernstlich gefährdet werden könnte.
Nicht so beim Mediciner. Das Doctorat ist auch Staatsexamen.
Und mit der Erlangung des Doctordiploms kann der damit Ausge¬
stattete noch am Tage der Promotion über Leben und Gesundheit der
Menschen entscheiden. Das Ziel des Facultätsunterrichtes kann also
kein anderes sein, als den jungen Doctor so weit auszubilden, dass er
die casuistischen Probleme, die ihm die Praxis entgegenbringt, richtig
lösen kann. Nicht selten sind promovirte Doctoren am ersten Tage ihrer
Praxis von sehr schwierigen Problemen, so z. B. von einem eomplicirten
Geburtsfall, auf die Probe gestellt worden, und die ernstesten Er¬
innerungen dieser Art erklären den in Kreisen der praktischen Aerzte
laut erhobenen Ruf nach dem praktischen Probejahre, i. e. Spitalsjahr.
Dies führt nun zur Besprechung des zweiten Punktes.
II. Verhältniss zwischen Theorie und Praxis.
Mit diesem Problem haben sich manche Philosophen, insbesondere
westländische Denker beschäftigt. Auguste Comte und Stuart
Mill sind nvr in dieser Beziehung bekannter geworden. Namentlich
Stuart AI ill fesselte mich durch die Einfachheit seiner Auseinander¬
setzungen. Man muss, sagte der englische Denker, zwischen Wissen¬
schaft und Kunst unterscheiden, wobei unter Kunst im weitesten Sinne
des Wortes jede Praxis verstanden werden soll, nicht nur die schönen
Künste, sondern auch die Kriegskunst, Staatskunst u. dgl. Die Wissen¬
schaft behauptet, die Kunst schafft. Die Wissenschaft dringt zum All¬
gemeinen hinauf, die Kunst zum Einzelnen hinunter. Wenn man Mi 1 l’s
Auseinandersetzungen auf die Heilkunde bezieht, so kann man in ihr
selbstverständlich nur eine Kunst, eine Praxis erblicken ; ist ja doch ihr
Ziel die praktische Auflösung concreter Probleme zumeist rein casu-
istischer Natur.
Jeder Kunst steht eine Wissenschaft, jeder Praxis eine Theorie
gegenüber.
Wäre die Wissenschaft so entwickelt, dass wir eine vollkommene
Durchschau des Weltganges besässen, so wäre unsere Praxis aus der
Theorie ableitbar, sie wäre nur die Anwendung der Wissenschaft.
Denkt man sich dann das Verhältniss der Praxis zur Theorie, so würde
das in der Heilkunde etwa so aussehen: Die Praxis bemerkt, dass die
Lösung eines concreten Problems wünschenswerth wäre, z. B. die Be¬
seitigung eines mechanischen Hindernisses im Darm, welches das Leben
gefährdet. Die Kunst schickt diesen Fall der Wissenschaft, diese über¬
legt die Bedingungen und schickt ihr Verzeichniss an die Kunst, unter
welchen die Sache möglich ist. Die Praxis hat dann zu wählen und
auszuführen. Schon in dieser Allgemeinheit ist der Unterschied zwischen
Theorie und Praxis zu bemerken. Die Wahl unter den Mitteln je nach
Umständen und die Durchführung der Mittel ist das Gebiet der Praxis
und lässt den guten Praktiker von dem weniger guten unterscheiden.
Aber die Wissenschaft ist nicht vollkommen ausgebildet; die
Naturwissenschaften werden es niemals sein. Denkt man sich den Fort¬
schritt noch so grossartig, jedes neue Problem ruft andere neue her¬
vor und niemals wird eine vollkommene Durchschau des Weltganges
erreicht werden. Die Praxis kann nie hoffen, eine vollkommene Orien-
tirung zu gewinnen.
Im Anfänge der Cultur war die Theorie und die Praxis kaum
von einander zu trennen. Ganz beschränkte Orientirungen in der Natur
waren die Keime einer Wissenschaft, und wenn auch die Praxis eines
Wilden ein Jagdinstrument schuf, das, nach dem Vogel geworfen,
wieder zurückkehrt — gewiss ein imposantes praktisches Problem —
so war die rI heorie, die dem gegenüberstand nur eine sehr eingeschränkte,
wenn auch vielleicht recht vertiefte. Der Fuchs, der sich den
Fuss selbst abbeisst, um aus der Falle zu entkommen, hat den
thierischen Keim zu einer solchen Theorie, die der Urmensch weiter
zu entwickeln begann.
Auf höheren Stufen der Cultur gehen Theorie und Praxis aus¬
einander, indem die Theorie sich selbstständig macht. Der Mensch for-
mulirt Erfahrungen und endlich auch Lehrsätze. Endlich gelangen beide
in ein gewisses Verhältniss der Eifersucht. Der theoretische Mensch
blickt geringschätzig auf den Praktiker und umgekehrt. Und doch lehrt
die ruhige Erwägung, dass beide Formen der menschlichen Bethätigung
einander ergänzen.
Von irgend einem Parallelismus beider kann aber geschichtlich
auch nicht im Entferntesten die Rede sein. Die Lehre von der Reibung
war formulirt, die Erfahrungen über die Reibung viele Tausende von
Jahren allgemein bekaunt, und doch fiel es erst eiuem Menschen des
neunzehnten Jahrhunderts ein, dass man Räder auf Schienen rollen
lassen könnte und die erste Pferdeeisenbahn entstand. So insbesondere
auch in der Medicin. Ganz bedeutende Leistungen waren in der Heil¬
kunde vorhanden, ohne dass ihr theoretischer Theil dem entsprach.
Zur Zeit, wo der Kreislauf des Blutes noch ganz merkwürdig verkannt
wurde, operirten die griechischen Chirurgen der Imperatorenzeit An¬
eurysmen mit einer geradezu imponirenden Unternehmungsfertigkeit. Be¬
züglich eines Hindernisses im Darme lehrte Hippokrates und nach
ihm Jahrhunderte, der Grund eines Ileus liege in der Verletzung der
oberen und Verkühlung der unteren Theile des Bauches, und mit wahr¬
haft Hippokratischer Ruhe berichtet er: sie starben am siebenten
Tage. Als die wissenschaftliche Medicin hier in Wien begründet wurde,
war die Verschliessung des Darmes die classische Erstlingsarbeit eines
Rokitansky. Und hier hat der Arzt erst erfahren, welchen Mechanis¬
mus die innere Darmverschliessung besitze und den Rath gehört, dass
bei diesem Zustande der Bauchschnitt erforderlich sei. Wenn das Jemand
zu der Zeit gesagt hätte, in welcher die Hippokratis e h e Lehre
von der Verkühlung galt, würde er ausgelacht worden sein. Ein solcher
Mann existirte aber im Alterthum thatsächlich. CoeliusAurelianus
erzählt uns über Praxagoras von Kos, nicht nur, dass er ein¬
geklemmte Hernien reponirte (manibus premens intestina magna quas-
satione vexavit), sondern auch rieth, den Bauch zu öffnen, den Darm
aufzuschneiden, das Hinderniss zu entfernen und den Darm zusammen¬
zunähen. Der Mann wurde auch — selbstverständlich — getadelt.
Man sieht, wie Theorie und Praxis stark auseinaudergehen können.
Die Praxis kann der Theorie vorauseilen; aber oft vollführt sie Missgriffe,
die bei einer richtigen Kenntniss der Theorie weniger schlimm hätten
ausfallen können.
Bei organisatorischen Fragen, wie es die Fragen der Unterrichts¬
regelung sind, kann naturgemäss nur die Ueberlegung dahin lauten :
1. Wie steht dermalen die Praxis?
2. Wie die Tüeorie?
3. Welche Beziehung besteht zwischen beiden?
Unsere dermaligen Zustände bieten einen relativ schon hoch¬
gradig entwickelten Stand der Theorie sowohl wie der Praxis, und
eine innige Beziehung beider dar.
Sowie in den technischen Fächern grossartige Leistungen der
Praxis hochentwickelten theoretischen Ueberlegungen gegenüberstehen,
so können wir uns freuen, dass auch die Medicin einen blühenden Zustand
bietet. Ihre praktischen Leistungen, zumal auf dem Gebiete der opera¬
tiven Fächer, sind beachtenswerth. Der Zustand der Theorie ist, zumal
auf dem Gebiete der ätiologischen Forschung, ein epochaler.
Welches ist die Beziehung zwischen Theorie und Praxis? Welche
Wissenschaften sind es, aus denen die Praxis die Begründung ihrer
Regeln ableiten könnte?
Hier muss vor Allem eine klare Auffassung herrschen. Weder
die Physik, noch die Chemie, weder die Anatomie, noch die Physiologie
stehen der Heilkunde gegenüber; sie haben mit der Heilkunde direct
gar nichts zu tliun.
Das medicinische Wissenschaftsgebiet ist die Lehre
von den Krankheiten, die Pathologie im weitesten Sinne des
Wortes. Diese Wissenschaft ist hier gegründet worden. Im Arcaden-
hofe des Universität steht es unter Rokitansky’s Büste geschrieben:
„Novae scientiae, anatomiae pathologicae conditor.“ Die Inschrift sagt
zu wenig. Diese Nova scientia ist mehr als ein Fach für sich. Sie ist
das Fundament der wissenschaftlichen Medicin überhaupt, und als ihr
Begründer das Alles überblickte, was er gesehen und gefunden, sprach
er die berechtigten Worte aus, die pathologische Anatomie enthalte
eigentlich alles positive Wissen der Medicin. Aber schon während
seiner Lebzeiten entstand auch die pathologische Chemie und die
Experimentalpathologie. Die in derselben Richtung, aber in grössere
Tiefen geführte Forschung Virchow’s schuf die Cellularpathologie.
Die erstaunlichen Leistungen K o c h’s und seiner ungeheueren Schüler¬
zahl schufen die ätiologische Forschung und stellten der Medicin die
Hygiene zur Seite, die neben der Medicin als solcher, als eine Schwester
dastehen wird. Und in derselben Zeit entwickelten sich die speciellen
Pathologien: Die Pathologie der inneren, der chirurgischen Krank¬
heiten, der Frauen- und Kinderkrankheiten, der Augen- und Ohren-
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
87
kränkelten, der Hautkrankheiten, der Nervenkrankheiten u. s. w. Es
sind das heute lauter umfassende Wissenschaften, die zu den Aufgaben
der Praxis in erster Beziehung stehen.
Alle diese Wissenschaften, die eine überwältigende Literatur
besitzen und auch überall gelehrt werden, bilden zusammen die der
mediciuischen Praxis gegenüberstehende Wissenschaft. Sie haben die
Methoden der strengsten Forschung angenommen und stehen den
anderen theoretischen Wissensgebieten in keiner Beziehung nach.
Während also früher der praktischen Heilkunde als Kunst die
Chemie, die Physik, die Anatomie, die Physiologie — in früherer Zeit
auch die Naturgeschichte — als medieinisch- theoretische Wissenschaften
gegenübergestellt werden konnten, hat sich seit Rokitanskys grund¬
legenden Arbeiten zwischen die Theorie und Praxis der früheren Zeit
ein ungeheueres Gebiet hineingezwängt, das Gebiet der pathologischen
Wissenschaften, und stoht jetzt der Medicin gegenüber, während die
früheren theoretischen Wissenschaften in das Gebiet der einfach vor
bereitenden zurücktreten.
Wenn wir also über die Beziehung zwischen Theorie und Praxis
in der Medicin reden wollen, so steht den klinischen Fächern als den
Richtungen der ausübenden Kunst die Gruppe der pathologischen
Wissenschaften gegenüber. Diese haben die Methoden ihrer Unter
suchung von den Naturwissenschaften vollkommen übernommen. Der
pathologische Anatom und Histolog arbeitet genau nach der Methode
der Anatomie und Histologie, der pathologische Chemiker nach der
Methode der Chemiker überhaupt, der Experimentalpathologe . genau
nach der Methode des Experimentalphysiologen. Nun kennen die \ er-
treter der pathologischen Wissenschaften auch jenes Object, welches
die ärztliche Kunst behandelt, nämlich die Krankheiten, beziehungs¬
weise ihre Erscheinungen, während die Vertreter der rein theoretischen
Fächer mit diesem Objecte, dem kranken Organismus, in keiner
fachlichen Beziehung stehen.
Es gruppiren sich demnach die Fächer so, dass die eine Gruppe
(Anatomie, Histologie, Physik, Chemie und Physiologie) die vorberei¬
tenden Fächer vorstellen. Die Vertreter derselben repväsentiren die
wissenschaftlichen Methoden (morphologische, chemische, physikalische
und biologisch-experimentelle Methode). Bei diesen Männern müssen
die Candidaten gelernt haben, bevor sie das Studium der eigentlichen
Heilkunde beginnen.
Dann kommt die Gruppe der medieinisch - theoretischen Fächer:
Pathologische Anatomie und pathologische Histologie als Morphologie,
pathologische Chemie, Experimentalpathologie ; neben ihnen die I hai-
makologie, deren streng wissenschaftliche Entwicklung eine trage der
nächsten Zeit und für deren Ausbäu wir in der Facultät schon vor
Jahren Anträge gestellt haben, und die Hygiene, deren Object ein so
allgemeines ist, dass sie neben dor Pathologie zu stehen kommt.
Die dritte Gruppe bilden die praktischen Fächer ; die zwei
letzten Gruppen zusammen bilden die eigentliche medicinische F ach-
männergruppe.
Ich berühre diesen wichtigen Punkt aus zwei Gründen Erstlich
wird gerade in unseren Tagen in Deutschland eine sehr tiefe und
bedeutungsvolle Discussion darüber geführt, wie die polytechnischen
Schulen den Bedürfnissen der Zeit entsprechend einzurichten wären.
Wie ich aus den Fragmenten der Discussion gesehen, stehen sich da
gegenüber: Die eine Gruppe, die auf die rein wissenschaftliche Rich¬
tung des Unterrichtes das Hauptgewicht legt, die andere, die die in
unserer Zeit so bedeutsame praktische Schulung sehr betont. Dem
Fernstehenden macht es den Eindruck, dass die rein wissenschafiliche
Richtung, wenn sie zu sehr berücksichtigt würde, den polytechnischen
Hochschulen das Adjectiv „polytechnisch u, die rein praktische Richtung
ihnen das Substantiv „Hochschule“ rauben würde. Es wird also in der
richtigen Abwägung beider Momente die glückliche Entscheidung zu
suchen sein.
Die neue Studienordnung hat mich nun — und ich muss
sagen sehr angenehm — dadurch überrascht, dass die drei Rigorosen
jene Gruppiruug der Fächer enthalten, die früher skizzirt wurde.
Zuerst hat der Candidat die vorbereitenden Fächer zu absol viren
und aus ihnen die Prüfung abzulegen (erstes Rigorosum).
Dann kommt das Studium der eigentlichen Heilkunde. Am
Schlüsse dieses Studiums hat er beim zweiten Rigorosum die theoreti¬
schen, beim dritten die praktischen Fächer zu absol viren.
Kehren wir nun zu unserem früheren Gedankengange zurück, so
ist die Discussion über das Verhältniss der Theorie zur Praxis eine
Discussion zwischen der zweiten und dritten Gruppe. Denn nur in
diesen Gruppen ist wirkliches medicinisches Verständniss. Die tragen
der heutigen Medicin sind heute so wichtig, so complicirt und die Me¬
thoden ihrer Erledigung so streng, dass zur Discussion eine fachmän¬
nische Orientirung unerlässlich ist. Der Vertreter eines theoretischen t aches
kann, wenn er selbst zufällig Arzt war, nur einen sehr ungenauen
Einblick haben; war er aber überhaupt kein Arzt, so steht er tragen
verständnislos gegenüber. Es ist durch die heutige Arbeitsteilung
eine solche Unmasse medicinisch-wissenschaftlichen und praktischen
Stoffes aufgehäuft, dass der Fachmann mit Mühe auf seinem eigenen
Gebiete die Ueberschau behält.
Ein Beweis dafür ist die gewaltige Entwicklung der fachlichen
Literatur und die Nothwendigkeit, dass eine Reihe von referirenden
Centralblättern erscheint, nur um die Fachmänner rasch über die in der
Welt erscheinenden Publicationen zu orientiren.
Jede Discussion über medicinische Unterrichtsfragen ist also in
erster Linie zwischen der medicinischen Wissenschaft (zweite Gruppei
und der ausübenden Praxis zu führen.
Welche Abgrenzung immer aber zwischen diesen zwei — sagen
wir — competenten Instanzen getroffen werden möge, immer müssen
wir hervorheben, dass Theorie und Praxis zwei wesentlich verschiedene
Bethätigungsarten der menschlichen Natur sind. Die Theorie wird
immer ein Mass von Anregungen haben, welche die Praxis mit ent¬
sprechenden Leistungen nicht beantworten kann, und die Praxis wird
vermöge der Eigenthümlichkeit des praktischen Denkens Leistungen
vollführen, zu welcher mehr gehört, als theoretische Ausbildung.
Ich will über dieses Verhältniss der Theorie zur Praxis Beispiele
an führen.
Das militärische Beispiel ist folgendes: In einer Schlacht im
letzten Balkankriege, erzählt Vereschtschagin, war er in der Nähe des
General Skobeljew, welcher auf einmal Soldaten herbeirief, dass sie
eine kleine, in der Nähe stehende Capelle niederreissen mögen, was
auch sofort geschah. Auf Veresclitschagin’s Anfrage, warum das ge¬
schehen sei, antwortete Skobeljew, er habe bemerkt, dass die feind¬
lichen Geschosse angefangen hätten, reichlich in die Nähe der Capelle
einzuschlagen, offenbar weil sie durch ihre weisse Färbung das Zielen
erleichterte.
Das Erfassen der augenblicklichen Lage demonstrirt den Praktiker !
Zu einem Chirurgen kam ein alter Herr mit Harnröhrenstrictur
und legte sich endlich auf das Sopha nieder, um sich mit der Sonde
untersuchen zu lassen. In dem Augenblicke wurde er blau und gerieth
in die grösste Erstickungsgefahr. Mit einem Griffe war der Chirurg im
Munde des Kranken und zog ein falsches Gebiss aus dem Schlunde.
Die blitzschnelle Ueberlegung, dass bei der plötzlich eingenommenen
horizontalen Lage höchst wahrscheinlich ein Fremdkörper im Spiele
sei, führte den Chirurgen auf die richtige Spur.
Das sind Beispiele für das, was man praktisches Denken nennt.
Das ist kein Drill in technischen Verrichtungen, sondern eine eigen-
thümliche Thätigkeit, die Umstände des Augenblickes zu einem Wahr-
scheiulichkeitscalcul zusammenfassen. Das waren nur Beispiele, denn
es muss nicht Schnelligkeit sein, was diese Raisonnements charakteiisiit.
Ein praktischer Unterricht im wahren Sinne des Wortes muss
den Schülern stets vor Augen halten, was bei einem gegebenen Falle
unter anderen Umständen zu thun wäre, und hat immer zu berück¬
sichtigen. dass der Arzt oft unter den allerschwierigsten Verhältnissen
zu thun habe. Die Thätigkeit von heutzutage ist anders, als vor
30 Jahren. Ganz abgesehen von den Fortschritten der einzelnen Fächer
ist seine Stellung eine andere.
In meiner Vaterstadt, die etwa 4000 Einwohner zählt, sind drei
Aerzte. Der eine ist k. k. Bezirksarzt, die anderen zwei sind Districts-
ärzte im öffentlichen Dienste des Landes. Genau so ist es in den be¬
nachbarten Städten. Eine geradezu überwiegende Zahl von Aerzten ist
also in öffentlicher Stellung und unter amtlicher Controle. Fügt man
hinzu, dass auch die öffentliche Controle heute eine ganz andere ist,
indem die kleinen Blättchen in den Provinzstädten jeden Augenblick
über die Aerzte herfallen; dass die Agitation der Naturheilkünstler die
Stimmung gegen die Aerzte nährt: so muss getrachtet weiden, dass
den Aerzten ein weit grösseres Ausmass der praktischen Ausbildung
und Schulung ertheilt werde, als vordem. Es kommen aber auch andere
Momente in Betracht. Das Unfallsversicherungswesen hat einen Umfang
erlangt, dass die Aerzte als Sachverständige in ganz neuen Arten von
Fällen zu fungiren haben. Es ist mir erzählt worden, dass es form
liehe Privatschulen gebe, wo die Laien sich unterrichten, ■welch'
Symptome sie anzugeben haben, um eine traumatische Neuiose zu
simuliren, da man ja weiss, dass bei Unfällen auf Eisenbahnen die
Beschädigten tüchtig bezahlt werden. Ich war vor einem Jahre Sach¬
verständiger in zwei Processen, wo die Parteien, nachdem der Arzt voi
dem Strafrichter freigesprochen worden war, sich an den Civilrichtei
wandten, um hohe Ersatzansprüche von dem Arzte zu fordern ; der
eine Ersatzanspruch belief sich auf 20.000 fl. Der materielle Kampf,
der heute die Menschheit durchzieht, legt uns die Pflicht aut, den Aizt
vor Allem mit neuer Waffe und Wehre auszurüsten in den Krieg,
den er zu führen hat. Noch so abgerundete Ideen aus der Theorie werden
ihm wenig nützen, da der Beruf, bei Gott, kein contemplativer ist.
III. Einfluss der neuen Prüfungsordnung auf die
psychische Oekonomie des Studierenden.
Jene Studien- und Rigorosenordnung, welche vor dem Jahre \> r2
bestand und unter welcher wir geprüft wurden, muss beute m Er¬
innerung gebracht werden. Damals bestand ein Doctorat der Medicin,
88
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
Nr. 4
ein selbstständiges Doctorat der Chirurgie und einzelne Magisterien,
unter welchen jenes der Geburtshilfe von sehr Vielen von uns gemacht
wurde. Diese drei Grade entsprechen beiläufig demjenigen, was heute
das Doctorat der gesammten Heilkunde bedeutet. Ja, wenn man die
Bestimmungen der soeben publicirten Rigorosenordnung ins Auge fasst,
würde dem künftigen Doctorat der gesammten Heilkunde Alles das
entsprechen, und noch dazu müsste das Magisterium der Augenheil¬
kunde und der Zahnheilkunde hinzugerechnet werden. Von den natur¬
historischen Vorprüfungen war damals keine Rede. Dafür bildeten
aber zwei naturgeschichtliche Fächer, und zwar constant die Botanik,
daneben abwechselnd die Zoologie oder Mineralogie einen Gegenstand
des ersten Rigorosums. Das ersto Rigorosum begriff folgende Fächer
in sich: Naturgeschichte, Anatomie, Physiologie, pathologische Ana¬
tomie. Beim zweiten Rigorosum wurde geprüft: Pharmakologie und
Pharmakognosie, Chemie, interne Medicin, theoretische Augenheilkunde
und gerichtliche Medicin. Die Prüfungen waren sämmtlich nur theo¬
retisch. Der Studiengang war durch keine Prüfung unterbrochen, so
dass das Rigorosum in der That ein Schlussexamen, eine so zu sagen
am grünen Tische abgehaltene Matura aus der Heilkunde vorstellte.
Die Erfahrung zeigte nun, dass Anatomie und Physiologie fast von
allen Studenten auch noch im fünften Jahre, also das zweite Mal, ge¬
hört wurden, und dass die Kliniken fleissig besucht wurden, dass
namentlich das Prakticiren auf der Klinik in einem erfreulichen Masse
vorhanden war, dass die Studenten die Nachmittagsvisiten schaaren-
weise besuchten und hier den Auseinandersetzungen der Assistenten
mit grossem Interesse folgten. Wer sich zum zweiten Rigorosum meldete,
musste auch zwei rein geschriebene Krankengeschichten beilegen, und
das Führen von Krankengeschichten war sogar behufs Bestätigung des
Semesters obligat. In den klinischen Fächern war eine erfreuliche Er¬
scheinung zu beobachten, die heutzutage nicht mehr zu sehen ist,
nämlich der fleissige Contact mit dem Krankenzimmer, die continuirliche
Beobachtung der Krankheitsfälle und das durch kein Nebenstudium
unterbrochene klinische Lernen. Das fünfte Jahr war zum grossen
Theil schon ein Lernjahr, daher kam es, dass sich schon im Beginne
des Rigorosenjahres eine beachtenswerthe Zahl von Candidaten zum
ersten Rigorosum meldete. Das zweite Rigorosum wurde nun auch
relativ bald abgelegt. Die ausgezeichneten und fieissigen Studenten
meldeten sich mitunter schon nach sechs bis acht Wochen. Die mittel¬
guten Schüler legten das zweite Rigorosum erst nach mehreren
Monaten ab. Hätte man damals zwischen das erste und zweite Rigo¬
rosum eine bestimmte Frist gesetzt, etwa sechs Wochen, so hätte das
für die besten Schüler keine nennenswerthe Belastung gebildet. Auch
eine gewisse Zahl der mittelguten Schüler wäre der Pression gefolgt
und hätte das Rigorosum auch bestanden. Wenn man aber damals
gesagt hätte, dass nach dem ersten Rigorosum eine Frist von sechs
Wochen zu verstreichen habe, und dass dann unmittelbar darauf nicht
nur das zweite Rigorosum, sondern auch alle andere Grade (Doctorat
der Chirurgie, Magisterium der Geburtshilfe, der Augenheilkunde und
Zahnheilkunde) abzulegen sei, so wäre von allen Seiten die einstimmige
Antwort erfolgt: „Das ist unmöglich!“
Auch an der Josefs-Akademie, wo die Studenten in militärischer
Zucht waren, zu den Vorlesungen und auf die Kliniken gehen mussten,
war keine Rede davon, dass das ganze Doctorat der gesammten Heil¬
kunde in Form einer auf einen kurzen Zeitraum zusammengedrängten
Maturitätsprüfung abzulegen sei. Vergleicht man die damaligen An¬
forderungen mit den jetzigen, so ergeben sich folgende Unterschiede:
In Wien wurde die Naturgeschichte ausserordentlich nachsichtig
geprüft, weil die Lehrer derselben Doctoren der Medicin waren und von
ihrer medicinischen Bildung her wussten, dass das Studium der Natur¬
geschichte für den Arzt eine besondere Bedeutung nicht habe. Wenn
also jetzt an die Stelle der Naturgeschichte die allgemeine Biologie
tritt, so kann man annehmen, dass der gegenwärtige Zustand keine
besondere Belästigung bilde. Die Chemie wurde von Redtenbacher
ebenfalls sehr nachsichtig geprüft. Die in Aussicht genommene Art
ihrer Prüfung wird jedenfalls ein Plus an Erforderniss bilden. Die
Prüfung aus der Physik bildet ein neues Plus. Aber diese neuen An¬
forderungen werden nach der neuen Rigorosenordnung schon beim
ersten Rigorosum während der Studienzeit erledigt werden. Anatomie
und Physiologie wird sowohl theoretisch, wie praktisch auch beim
ersten Rigorosum absolvirt. Aber der eine oder der andere dieser
Gegenstände erscheint abermals am Schlüsse des Studiums als Prüfungs¬
gegenstand. Ueber diesen sonderbaren Punkt der neuen Rigorosen¬
ordnung will ich hier nicht sprechen. Ich führe nur an, welche neue
Prüfungsanforderungen zu den alten hinzukommen werden. Es sind
dies die Hygiene, die Haut- und syphilidologischen Krankheiten, die
Kinderkrankheiten, die Psycho- und Neuropathologie. Dafür also, dass
die Chemie entfällt, die Anatomie und Physiologie nur in geringem
Masse in Betracht kommt, erhält der Candidat zu den Anforderungen
des damaligen Doctorates der Medicin, der Chirurgie, des Magisteriums
der Augenheilkunde und der Geburtshilfe noch die Prüfung aus den
genannten Fächern, Hygiene und den klinischen Nebenfächern.
Bedenkt man aber, dass der Umfang der alten grossen Dis-
ciplinen sich bedeutend erweitert, das Wissen ganz merkwürdig ver¬
tieft hat, so muss man zugeben, dass nicht nur in dem Hinzutreten
neuer Fächer, sondern auch in der Entwicklung der alten ein ganz
gewaltiges Plus an Prüfungsanforderungen vorliegt. Was ist aus der
pathologischen Anatomie mit ihrem histologischen und bacteriologischen
Theile geworden ! Wie hat sich die klinische Medicin durch Ausbau
ganz neuer Capitel erweitert! Welche Bereicherung hat die Geburts¬
hilfe durch den Ausbau der Gynäkologie erhalten! Wer alles das kennt,
wer das aus eigener Erfahrung kennt, der mag sich eine mathematische
Schätzung entwerfen, um wie viel das Quantum des Prüfungsstoffes
seit dreissig Jahren zugenommen hat.
Der Umstand, dass jetzt mehr demonstrirt und praktisch ein¬
geübt werden soll, ändert an dem Quantum nichts. Denn dafür ist das
Quantum wieder in seiner Art complicirter und schwieriger. Ja vielleicht
würde diese vergrösserte Complicirtheit des Materiales, wenn man sie
quantitativ bestimmen könnte, das Prüfungsquantum noch grösser er¬
scheinen lassen.
Man kann also sagen, dass auch nach Ausscheidung der Chemie
und theilweiser Ausscheidung der Anatomie und Physiologie die
Prüfungsanforderungen der in Aussicht genommenen Matura vielmals
jene Prüfungsanforderungen übersteigen, welche vor 30 Jahren dem
Doctorat der Medicin, der Chirurgie und den Magisterien ent¬
sprachen.
Und wenn es damals für unmöglich hätte erachtet werden
müssen, die Prüfungen gewissermassen in einem Gesammtacte abzulegen,
so erscheint es heute umso unmöglicher.
Meines Wissens hat keine von jenen Stellen, welche seinerzeit
um ihre gutachtliche Aeusserung angegangen wurden, einen solchen
Plan gefasst, und es ist daher nicht ganz richtig, wenn Herr Ilofrath
Exner angeführt hat, dass in der neuen Rigorosenordnung nichts
enthalten sei, was nicht von dieser oder jener fachmännischen Seite
beantragt worden wäre. Die Idee dieser Matura ist weder aus den
Collegien noch von anderwärts auch nur angeregt worden.
Man überlege nun, was die Instruction zur Durchführung der
neuen Rigorosenordnung diesbezüglich andeutet. Der Schüler kann,
heisst es, so lange er will, sich vorbereiten. Sei er aber einmal sich
dessen bewusst, dass er auf allen Puncten des Prüfungsgebietes zu
Hause sei, so habe er die Prüfung abzulegen. Wiederholungsprüfung
aus Anatomie oder Physiologie, Pathologie, pathologischer Anatomie,
Pharmakologie, Hygiene, interner Medicin, Chirurgie, Geburtshilfe,
Augenheilkunde, Syphilis und Hautkrankheiten, Psychiatrie und Nerven-
pathologie, Kinderheilkunde und gerichtlicher Medicin.
Alle diese Gebiete soll er so inne haben, dass er die Prüfung
aus ihnen bestehen kann. Wie viele Semester fieissigen Studiums muss
ein guter und ruhiger Kopf zurückgelegt haben, um aus diesen Gegen¬
ständen Prüfung machen zu können?
Interessant wäre es, zu hören, auf welchen besonderen Erwägungen
die Bestimmung beruht, warum gerade sechs Wochen zwischen dem zweiten
und dritten Rigorosum als Pause dienen sollen, warum nicht vier? Ich
suche vergeblich nach einer Antwort! Ich kann sie nicht finden. Wohl
hat man die Bestimmung getroffen, dass der Decan diese Frist um ein
Kurzes und das Ministerium abermals um ein Kurzes verlängern könne.
Auch hier ist es mir unbegreiflich, warum der Decan dem Studenten
nur jene kurze Fristverlängerung gewähren kann. Beruht das vielleicht
auf einer ganz genauen Berechnung? Auch hier frage ich mich ver¬
gebens.
Da die Zeiten der Ferien nicht zu berechnen sind, wird praktisch
folgendes Resultat zu Tage treten: Die kühnsten Candidaten — und
ich möchte sie geradezu als Wagehälse bezeichnen — werden sich vor
den Osterferien melden, weil sie wissen, dass zu den vier Wochen
Osterferien noch die sechs Wochen der normalen Frist hinzutreten
können, und werdeu sehr wahrscheinlich noch um eine Fristerstreckung
bitten. Es ist dann nicht ausgeschlossen, dass der eine oder andere
bei diesem immensen Wust von Prüfungen wird bestehen können.
Ein ganzer Haufe von Studenten wird aber erst im Juli kommen,
um die Frist zwischen dem zweiten und dritten Rigorosum durch die da-
zwischenfallendenFerien um zehn Wochenzuverlängern. Durch abermalige
Fristerstreckung von Seite des Deeans und Ministeriums kann dann bei
dieser Gruppe der Studenten der Zeitraum zwischen dem zweiten und
dritten Rigorosum so erweitert werden, dass vielleicht eine grössere Zahl
von Studenten die Prüfungen bestehen kann. Darüber wird also mehr
als ein Jahr vergehen.
Eine Zahl von Studenten wird überhaupt in dem einen Jahre
nicht Prüfung machen, da sie die Masse nicht bewältigen kann. Sie
wird bis zu den zweiten Osterferien oder gar bis knapp vor den zweiten
Ferien warten. Wie es dabei dem armen Studenten gehen wird, der auch
noch um sein Brot kämpfen muss, wfie viele von den ärmsten und
fleissig8ten Köpfen durch die Ueberanstrengung und durch den psychischen
Druck, den das Riesenmaterial auf sie ausübt, krank werden, das über-
| lasse ich der Beurtheilung der Fachmänner.
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
80
Ich persönlich, der ich mit einer grossen Menge von Studenten
in stetem Verkehre bin, muss meiner Meinung Ausdruck geben, dass so
gerade die braven und ernsten Studenten der Neurasthenie zugeführt
werden.
Wie aber überall, wird auch hier eine gewisse Schlauheit platz¬
greifen. Eine grosse Zahl von jungen Leuten wird sich zum zweiten
Rigorosum melden, dann nach drei Wochen beim dritten erscheinen
und es darauf abgesehen haben, hier durchzufallen, damit sie durch das
Rejicirtwerden eine mehrmonatliche Frist erlangen.
In Erwägung dessen, dass der Prüfungsstoff wesentlich zu¬
genommen hat, hat das von mir entworfene und vom Wiener Pro¬
fessorencollegium angenommene Referat den Antrag gestellt, dass
gewisse kleine Fächer, wie z. B. Ohrenheilkunde, Laryngologie und
Zahnheilkunde praktisch erlernt werden müssen, dass aber ein Zeugniss
über den gehörten Curs genügt.
Diese Erleichterung nimmt die neue Studienordnung auch in
der That auf. Bezüglich der sogenannten klinischen Nebenfächer
schlugen wir einen anderen Ausweg vor, nämlich den, dass der Gan-
diJat über diese Fächer während der Studienzeit eine theoretische und
praktische Controlsprüfung abzulegen habe. Wenn man erwägt, wie
wichtig jedem Specialisten sein Fach erscheint, so kann man sich nicht
des Eindruckes erwehren, dass für den Studenten die Gefahr vor¬
handen ist, aus Specialfächern über das Mass des unbedingt Noth-
wendigen hinaus geprüft zu werden. Principiell bat auch die neue
Studienordnung dieser geltend gemachten Befürchtung eine gewisse
Rechnung getragen. Aber sie hat leider die bedenkliche Erleichterung
eingeführt, dass der Gesammtcalcul nicht alterirt wird, wenn der Student
aus einem einzigen dieser Fächer nicht genügt. Augenscheinlich war
der Charakter der Controlsprüfung nicht genehm. Dafür aber hat man
die Möglichkeit geschaffen, dass eine Zahl von Studenten das eine,
eine andere Zahl das zweite, und eine dritte Zahl das dritte Neben¬
fach vernachlässigen wird.
Die Stellung des Arztes im Leben ist aber nicht derart, dass
man bei dem Einen ohne Weiteres übersehen darf, er verstehe von
Geisteskrankheiten nichts, bei dem Anderen, er verstehe von Syphilis
nichts. Die praktischen Consequenzen dieser merkwürdigen Einführung
liegen auf der Hand.
Und obwohl wir im Wiener Collegium schon die Nebenfächer
ausgeschieden haben, wagten wir es dennoch nicht, zwischen dem
zweiten und dritten Rigorosum eine so kurze Frist vorzuschlagen. Die
neue Rigorosenordnung reiht diese Fächer ein und bestimmt die kurze
Frist. Sie involvirt also ein Prüfungserforderniss, das zu den ernstesten
Besorgnissen zwingt.
In unseren Tagen ist der ärztliche Stand in einem so harten
materiellem Kampfe befangen, dass der Zudrang zu demselben schon
nachzulassen beginnt. Tritt jetzt noch eine so bedeutende Erschwerung
der Prüfungen hinzu, so ist nicht zu zweifeln, dass der Andrang zu
dem Stande noch mehr abnebmen könnte.
Man darf nicht vergessen, dass keine Facultät, keine Abthei¬
lung der anderen Hochschulen eine so ganz singuläre und noch nie
dagewesene Erschwerung der Prüfungen besitzt.
Die medicinische Facultät wird dadurch geradezu stigmatisirt. Es
ist also zu befürchten, dass durch diesen Umstand die Besorgung dei
Gesundheitspflege der Bevölkerung gefährdet werden kann.
Und noch einen Gedanken muss ich ausführen. Angenommen,
es würden die Studenten in den klinischen Fächern ordentlich ge¬
schult; daher würde das Gedächtnissmaterial geringer ausfallen. Wie
aber an kleineren Schulen, wo das Lehrmateriale au und füi sich
gering ist? Hier muss viel aus Büchern und anderen Behelfen einge¬
lernt werden. Selbst an grossen Schulen ist das Material nie so be¬
schaffen, dass alle Capitel eines jeden Faches eingeschult werden
können. In Wien sieht der Student z. B. von Infectionskrankheiten
nur ein geringes Material. Aber auch das grösste Material voraus¬
gesetzt, könnten nur wenige, ganz ausgezeichnete Köpfe die. grosse
Zahl der Prüfungen bestehen, die sich in einem so kurzen Zeiträume
zusammendrängen soll.
Der Vergleich der Schlussprüfungen mit der Matura am Gym¬
nasium darf nur ein entfernter sein. Die Matura soll die Reite des
Mittelschulzöglings nachweisen; der Modus der Prüfung soll danach
eingerichtet sein. Man kann mit dem allgemeinen Satze sich einver¬
standen erklären, dass auch die Schlussprüfung des Mediciners eine
Reifeprüfung für das Leben sein soll. Jeder Examinator von Erfahrung
wird das auch im Auge behalten und nicht auf Kenntnisse Gewicht
legen, die für das ^Virken des Arztes belanglos sind. Aber um den
Arzt in den wichtigsten Punkten für das Leben wirklich auszurüsten,
dazu muss man ihn sehr umfänglich schulen. Und wenn man sich
überzeugen will, ob er die nöthige Ausrüstung besitze, dann muss man
ihn über sehr viele, positive, streng formulirte Punkte der Lehre
prüfen. Dann muss man ihm aber Zeit lassen, sonst ist die Getahi da,
dass er grossen Schaden leide.
Zeit lassen!
REFERATE.
Zur Krebsfrage.
Eine Uebersicht der neuesten einschlägigen Arbeiten. Von Dr. J. Pichler
in Wien.
Wie aus den am Schlüsse angeführten und in dieser Arbeit
besprochenen Publicationen ersichtlich ist, hat die Krebsfrage in
jüngster Zeit, namentlich nach ihrer theoretischen Seite hin, be¬
sonders in der englischen Literatur einen sehr breiten Raum ein¬
genommen. Vorzüglich sind es die Ausbreitung, Zunahme und
Aetiologie des Carcinoms, welche Gegenstand lebhafter Erörterungen
gewesen sind und manche neuartige, interessante Beleuchtung ge¬
funden haben.
Nach Park sind im Staate New-York 1887 2863, im Jahre 1898
4456 Krebstodesfälle vorgekommen. Payne stellt mit Hilfe der
in London veröffentlichten officiellen Tabellen fest, dass in England
und Wales von je einer Million Einwohner von 1851 — 1860 317,
in den darauffolgenden Decennien 387, 473 und von 1881 bis
1890 589 Personen an Krebs gestorben sind, was einer Zunahme
des Krebses um 86% innerhalb 40 Jahre, oder wenn man nur
die Altersjahre über 55 in Betracht zieht, um mehr als 100%
gleichkommt. Diese Zunahme ist besonders durch den Krebs der
Verdauungsorgane, weniger durch jenen der Genitalsphäre bedingt.
Nach Newsholme betrug die Zahl der Krebstodesfälle in
England von 1891 — 1895 durchschnittlich im Jahre 712 pro Million
Lebender, 1896 aber 764. Nach diesen Berechnungen gehen an
Krebs mehr Menschen zu Grunde, als an jeder anderen Krankheit
mit Ausnahme von Bronchitis, Pneumonie und Tuberculose, welche
für 1896 mit 1539, 1149, beziehungsweise 1307 Fällen pro Million
der Bevölkerung verantwortlich zu machen waren. 1896 war durch¬
schnittlich jeder 14. Todesfall bei Männern, jeder 9. bei Frauen
durch Krebs bedingt gewesen.
Während also die Mortalität im Hinblicke auf alle übrigen
Krankheiten, seihst auf die Tuberculose herabgeht, ist es nicht zu
verkennen, dass jene an Krebs zusehends ansteigt, und zwar sind
es besonders die allerletzten Jahre, welche im Entgegenhalt zur Be¬
völkerungszunahme ein geradezu unverhältnissmässiges Ansteigen der
Krebstodesfälle und, wie es scheint, in allen Ländern erkennen
lassen. Prof. Park, welcher von den New-Yorker Verhältnissen
spricht, sagt geradezu: Ein genaues Studium der veröffentlichten
Sterblichkeitstabellen drängt förmlich zu der beunruhigenden Prophe¬
zeiung: »Wenn das relative Mortalitätsprocent in den nächsten
zehn Jahren ebenso ansteigt wie bisher, dann werden wir von jetzt
an in zehn Jahren, also bis 1909, im Staate New-York mehr Todes¬
fälle in Folge von Krebs haben, als durch Tuberculose, Blattern
und Typhus zusammengenommen«. Wenn diese Ausicht Park’s
Vielen auch übertrieben scheinen wird, so ist sie doch vorläufig
beunruhigend genug, um alle berufenen Factoren zu einer Stellung¬
nahme hinsichtlich der Krebsfrage, namentlich nach jener Richtung
hin zu veranlassen, welche das noch bestehende Dunkel der Aetiologie
dieser Krankheit aufzuhellen im Stande sein könnte.
Eine numerische Zunahme des Krebses ist sicher vorhanden;
die Frage ist nur die, ob diese Zunahme eine wirkliche oder blos
scheinbare ist. Payne hält sie für eine wirkliche. Es liegt nahe,
anzunehmen, dass der Krebs jetzt einfach besser und häufiger
diagnosticirt und als solcher in die öffentlichen Sterblichkeitstabellen
eingetragen wird, dass früher manches unter die Rubrik »Alters¬
schwäche« eingereiht worden war, was jetzt als Krebs erkannt wird.
Das war auch die Meinung der registrirenden Behörde in England :
aber schon 1889 findet sich in ihren Veröffentlichungen die Be¬
merkung, dass diese Ansicht als eine optimistische aufgegeben
werden müsse. Es ist auch kaum anzunehmen, dass innerhalb der
letzten zehn Jahre die Diagnostik sich so bedeutend gebessert hätte,
als dass dadurch die auffallende Zunahme der Krebsfälle erklärt
würde. Hätte sich aber die Diagnostik wirklich so wesentlich ge¬
bessert, so könnte man wieder sagen, dass früher manches b'n
Krebs erklärt wurde, was gewiss jetzt unter einem anderen Namen
ausgewiesen wird.
Newsholme nimmt in dieser Frage einen gegensätzlichen
Standpunkt ein. Das Grösserwerden der Krebsziffern ist kein Beweis
für eine absolute Zunahme des Carcinoms, sondern nur eine F olgc
der wachsenden Genauigkeit hinsichtlich der Feststellung der Fodes-
ursachen. Die Eintragung der Todesfälle beginnt in F.ngland und
90
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 4
Wales 1839. Es ist leicht einzusehen, dass in früheren Jahren bei
der noch mangelhaften Diagnostik viele Krebsfälle unter anderen
Rubriken verzeichnet worden sein müssen, so z. B. in jener: »Tod
aus unbekannter Ursache«. Letztere Rubrik musste dann im Laufe
der Zeit in Folge der besseren Kenntniss der Todesursachen immer
kleinere, jene von Krebs grössere Werthe aufweisen. So sehen wir in
den Registern von* England und Wales I860 — 18G8 143.472 Todes¬
fälle aus unbekannter Ursache und 25-567 in Folge von Krebs ver¬
zeichnet; 1894 — 1896 dagegen nur mehr 68.650 Todesfälle aus
unbekannter Ursache und 67.888 in Folge Krebs. Dass die neueren
Berichte des »Registrar General eine grössere Genauigkeit erlangt
haben, ist auch darauf zurückzuführen, dass seit 1881 die Hebung
besteht, in jenen Fällen, in welchen die Todesursache von einem
Arzte zu unbestimmt angegeben wird, z. B. Tumor, Leber¬
erkrankung etc., brieflich eine genauere Angabe der Todesursache
einzuholen. Auf diesem Wege wurden 1896 allein von 111 Fällen,
von » Oesophagusstricturen « bei 74 derselben deren maligne Natur
erwiesen. 1889 waren 3175 solcher brieflicher Anfragen ergangen
denen zufolge 421 Todesfälle noch nachträglich als durch Krebs
bedingt eingetragen^ wurden.
Für einc~nur*"scheinbaiVZunahme der Krebssterblichkeit mag
unter Anderem* noch der Umstand sprechen, dass die Zunahme bei
den Männern ungleich grösser als bei den Frauen sich darstellt.
8o betrug der Zuwachs an Krebstodesfällen in England von 1881 bis
1891 bei den Männern 69%, hei den weiblichen Individuen blos
28%. Diese Ziffern scheinen nicht der Wirklichkeit zu entsprechen,
sondern nur anzuzeigen, dass jetzt auch bei den Männern, bei
denen der Krebs häufig einen versteckteren Sitz hat, besser erkannt
wird. Auch die Daten der Versicherungsgesellschaften sollen nicht
für eine Krebszunahme sprechen.
Angenommen, die Krebssterblichkeit habe wirklich zugenommen,
dann ist die Frage nach den Ursachen dieser Zunahme
eine besonders dringende. Es werden deren mehrere, doch keine
ganz befriedigenden, angegeben. Lässt man die Vererbbarkeit als
Ursache gelten, so wäre allerdings das Anwachsen der Krebsfälle
eine arithmetische Nothwendigkeit; ferner könnte man daran denken,
dass die Abnahme der Tuberculose, der Infectionskrankheiten, die
für einen Theil der Menschen besser gestalteten wirthschaftlichen
Verhältnisse diese ein höheres Alter und damit auch jene Jahre
erreichen lassen, in denen der Krebs sich häufiger einzustellen pflegt;
möglich, dass auch der zunehmende Alkoholismus eine grössere
Disposition für diese Krankheit schafft.
ln dieser Hinsicht ist auch der Einfluss der Be¬
schäftigung beach tenswerth, bezüglich dessen die englischen
Tabellen für das Jahr 1891 unter Anderem folgende relative
Zahlen bringen. Während von den Schornsteinfegern 156, von
Kupferbergwerkarbeitern 86, von Brauern und Wirthen 70, von
Gasthausbediensteten 67, Kutschern 58, Fleischern 57, Kohlen-
trägern 56, Hafenarbeitern 51 an Krebs zu Grunde gingen, sind von
Aerzten 43, Farmern 37, von Landarbeitern, Gärtnern und Arbeitern
in Kohlenbergwerken 36, von Geistlichen 35 dieser Krankheit er¬
legen. Abgesehen von den Rauchfangkehrern, welche eine förmlich
exceptionelle Disposition für den Krebs zu erwerben scheinen, er¬
lauben diese Zahlen die Annahme, dass der Alkohol nicht ohne
Einfluss auf das Auftreten von Krebs sei. Bergleute scheinen gegen¬
über Krebs sich einer grösseren Immunität zu erfreuen, als gegen¬
über der Phthise. Die Aufhellung des Dunkels der Krebsätiologie
wird ja auch zeigen, welche Factoren bei einer Beschäftigung für
das Auftreten von Krebs als ursächliche zu gelten haben.
Nicht ohne Wichtigkeit ist es, die territoriale Ausbreitung
des Krebses, beziehungsweise die geologischen, klimatischen, mine¬
ralischen, pflanzlichen, thierischen Verhältnisse kennen zu lernen,
unter welchen das Carcinom auftritt, insofern all das für die
Aeliologie dos Krebses in Betracht kommen kann. Nach den An¬
gaben von Behl a ist der Krebs auf einem sehr grossen Theile
der Erde häufig; er ist selten in Griechenland, der Türkei, noch
seltener in China und Indien, etwas häufiger in Japan. Sehr gering
soll die Zahl der Krebsfälle in Aegypten, Abessinien, Tunis und
Tripolis sein; noch weniger soll er im nördlichsten Europa und
Amerika, in Syrien, Persien, Arabien und Südcalifornien Vorkommen;
in den tropischen und subtropischen Gegenden von Amerika, in
Westindien, in West- und Centralafrika fehlt er fast ganz. Auf den
Faröerinseln soll bisher nur ein Fall, in Grönland und im nördlichen
Sibirien noch gar keiner beobachtet worden sein.
H a v i 1 a n d hat seit '30 Jahren die Häufigkeit des Auftretens
von Krebs in verschiedenen Theilen von England verfolgt und will
dabei die Erfahrung gemacht haben, dass im Kalkgebiete von
England und Wales immer die niederste, in den Gegenden mit
Lehmboden die höchste Krebssterblichkeit vorhanden sei.
In Anbetracht der zwischen Krebs und manchen Oertlich-
keiten bestehenden Beziehungen könnte man mit Power meinen,
dass der Krebs von Organismen hervorgerufen werde, welche unter
ähnlichen Bedingungen wie die Malariaparasiten leben, aber eine
viel längere Incubationszeit besässen, aus dem Blute in die Organe
träten, aber nur die mehr oder minder schon voraus geschädigten
Gewebe beeinflussen und zur Proliferation reizen.
Einen E i n fl u s s der örtlichen Verhältnisse auf
den Krebs hält auch Jackson für wahrscheinlich; er ist der
Meinung, dass das Carcinom häufiger an Orten vorkomme, die an
Flüssen liegen, welche öfters über die^Ufer treten; vielleicht sind
da weniger Wasser und Feuchtigkeit an sich, als vielmehr die un¬
hygienischen Verhältnisse schuld, welche die Widerstandskraft des
Körpers und seiner Gewebe herabsetzen und dadurch dem Krebs¬
agens — dieses zugegeben — den Boden bereiten. Es ist zweifel¬
los, dass Krankheiten, welche den Körper schwächen, von Einfluss
auf das Wachsthum einer Neubildung sind. Jackson weist auf
einen Fall hin, in welchem nach einer Influenza ein früher sehr
langsam wachsender Tumor ausserordentlich rasch fortschritt; ferner
auf ein vor Jahren exstirpirtes Epitheliom der Zunge, das nach
einem Influenzaanfall rasch recidivirte und schnell zum Tode führte.
Ist es bei diesem Sachverhalte nicht denkbar, dass die Influenza¬
epidemien, die vor zehn Jahren aufzutreten begannen und über die
ganze Erde zogen, zum Theile wenigstens für die augenscheinliche
Zunahme des Krebses seit jener Zeit verantwortlich gemacht werden
könnten?
Auch in Bezug auf sein Auftreten an einzelnen Orten
bietet der Krebs manches Auffällige, besonders dann, wenn
wir dabei bleiben, für seine Entstehung eine örtliche Ursache,
ein Trauma, eine Irritation zu verlangen, nicht aber wenn wir unter
Krebs ebenso eine Infectionskrankheit verstehen, wie unter Tuber¬
culose, Aktinomykose u. s. w. Bei dieser Auffassung wird man ein
gehäuftes, endemisches Auftreten von Krebsfällen, wie sie Power
berichtet, besser verstehen als durch andere Erklärungsversuche.
Power hat in der Nähe von London auf einem District von etwa
60 englischen Quadratmeilen mit einer Ackerbau treibenden, unter
annehmbaren wirthschaftlichen Verhältnissen lebenden Bevölkerung
von rund 12.000 Menschen seine Krebsstudien gemacht und unter
diesen von 1872 — 1898 173 Carcinomfälle (59 Männer, 113 Frauen)
feststellen können; darunter waren 49 Carcinome des Verdauungs-
canales, 10 Lippen-, 37 Brust- und 31 Uteruskrebse. Die nähere
Betrachtung einzelner Fälle ergibt folgende Besonderheiten. Ein
26jähriger Mann, dessen Grosstante an Brustkrebs gestorben, war
an derselben Krankheit, dessen Nachfolger in der Wohnung an Mast¬
darmkrebs und der Nachfolger dieses mit 36 Jahren an einem
Sarcoma testis zu Grunde gegangen. Eine andere Reihe maligner
Neubildungen tritt in drei unter einem Dache vereinten Wohnungen
auf. Eine verheiratete Tochter war 1892 mit 22 Jahren an einem
Beckensarkom, deren Mutter 1894, 52 Jahre alt, an Gebärmutter¬
krebs, 1898 ein 74jähriger Mann gestorben, der einige Jahre vorher
an einem Epitheliom der Lippen operirt worden war.
Bezüglich des familiären Auftretens sind noch folgende Fälle
interessant: Zwei Brüder starben an Mastdarmkrebs, zwei Schwestern
der nächsten Generation an Brust-, beziehungsweise Uteruskrebs;
oder die Mutter stirbt an Brustkrebs, ebenso ihre zwei Töchter,
eine dritte an Gebärmutterkrebs; ferner: Vater an Mastdarmkrebs,
Mutter und Tochter an Brustkrebs.
Ein anderer Fall von mehreren herausgenommen, die Power
veranlassen, geradezu von Krebshäusern zu sprechen, ist
folgender: Eine 45jährige Frau hatte durch 13 Jahre in der Um¬
gebung von London gelebt und war 1884 an Magenkrebs, ihre
Nachfolgerin in der Wohnung, welche dasselbe Schlafzimmer benützt
hatte, im folgenden Jahre, 47 Jahre alt, an Leberkrebs gestorben;
darauf wird derselbe Schlafraum von einer 67jährigen Dame benützt,
welche 1893 an Brust- und Gebärmutterkrebs stirbt. Jede dieser
Frauen, zwischen denen gar keine Blutsverwandtschaft bestanden
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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hatte, schien sich so lange der besten Gesundheit zu erfreuen, bis
sie an die Stelle ihrer jeweiligen Vorgängerin in der Wohnung ge¬
kommen war. Seit das Zimmer desinficirt und das Bett verbrannt
worden war, ist kein neuer Krebsfall in der Wohnung mehr vor¬
gekommen.
Solche Fälle und damit auch die vielfach herangezogene
Vererbbarkeit des Krebses lassen sich mit Jackson
sehr gut in der Weise erklären, dass irgend ein beliebiges Organ
durch Generationen hindurch eine von den Vorfahren ererbte ver¬
minderte Widerstandskraft besitzt, in welchem Organe — wenn wir
eine parasitäre Entstehung des Carcinoms annehmen — dessen Er¬
reger sich entwickeln kann. Jackson erwähnt selbst einen Fall,
in dem drei Schwestern fast zur selben Zeit an Uteruskrebs starben
und weiters fünf oder sechs Descendenten aus einer Familie, die dem
Krebs an einer und derselben Körperstelle erlegen sind. In solchen
Fällen ist man fast gezwungen, anzunehmen, dass die betreffenden
Organe ihrer geweblichen Structur nach hereditär minderwerthig
und einer Infection daher zugänglich waren.
Solche Thatsachen lenken von selbst die Gedanken auf einen
parasitären Ursprung desKrebses, denn wenn der Krebs
nur in Folge eines Traumas, einer localen Reizung entstehen würde,
so wäre es doch sehr sonderbar, wenn Generationen hindurch ein
Trauma, eine Reizung immer dieselbe Körperstelle getroffen hätte;
halten wir den Krebs aber für eine Krankheit infectiöser Art, wie
so viele andere, dann ist es leicht begreiflich, dass bei weiter ver¬
erbter abnormer Structur immer dasselbe Organ einen günstigen
Angriffspunkt für den Parasiten bieten muss. Dass das Trauma in
irgend einer Beziehung bei der Entstehung des Krebses betheiligt
sei, kann nicht a priori von der Hand gewiesen werden. Dafür sind
zu viele Fälle aus der Literatur bekannt, in welchem der Zusammen¬
hang zwischen diesem und einem entstehenden Carcinome ein in
die Augen springender ist. In neuester Zeit sind aus der Eiseiber g-
schen Klinik in Königsberg 31 Fälle (12 Carcinome, 19 Sarkome),
berichtet worden, in welchen zwischen Neubildung und Trauma
mit mehr oder minder grosser Wahrscheinlichkeit eine Beziehung
nachgewiesen werden konnte. Es handelt sich in allen derartigen
Fällen nur um die Deutung des Werthes, welcher dem Trauma bei
der Auslösung einer Neubildung zukommt.
Die bisher gangbaren Theorien über die Entstehung des
Krebses: Irritation, nervöser Ursprung, Heredität (im vulgären
Sinne) u. s. w. genügen augenblicklich nicht mehr. Sicher ist, wenn
man so sagen darf, dass auf die Zellen des vom Krebs befallenen
Organes ein Reiz einwirkt, welcher die Zellen zur Wucherung
anregt; welcher Art dieser Reiz ist, ist heute noch nicht bekannt,
doch scheint sich Alles auf die Frage zuzuspitzen:
Ist der Krebs eine durch einen pflanzlichen
oder thie rischen Parasiten bedingte Inlections-
krankheit oder nicht?
Ist der Krebs eine Infectionskrankheit, dann gehört er, wie
Park bemerkt, zu jenen, die durch ein ausserordentlich langsames
Vorwärtsschreiten ausgezeichnet sind. Es ist bekannt, dass die In-
fectionskrankheiten innerhalb sehr weiter Zeitgrenzen zum lode
führen: Gelbfieber und Cholera innerhalb Stunden, Typhus in
Wochen, Tuberculose nach Jahren. Der zeitliche Verlauf der Krebs¬
krankheit spricht also nicht gegen deren infectiöse Natur. Direct
spricht vorläufig dafür die erwiesene Möglichkeit, den Krebs von
einem Körpertheil auf einen anderen zu übertragen, sowie die in
den späteren Stadien der Krankheit auflretende Kachexie.
Wir kennen ferners zweifellos Geschwülste, die durch Mikro¬
organismen bedingt sind, ja durch verschiedene Organismen bedingt
sind, und doch, wie Czerny aufmerksam macht, einander ganz
ähnlich sehen. Syphilome können Sarkomen zum Verwechseln
gleichschauen, die Aktinomycesgeschwülste bei Rindern sind längst
als Osteosarkome beschrieben worden und dass Staphylococcen,
Tuberkel-, Lepra-, Rhinosklerombacillen, Bilharzia u. a. zu 1 umor-
bildung führen oder führen können, ist bekannt.
Die Anschauung, dass der Krebs eine Infectionskrankheit sei,
datirt nicht erst von heute: im Glauben des Volkes steht sie von
jeher fest und 1773 ist sie, wie Plimmer in einem geschicht¬
lichen Ueberblick erwähnt, schon Gegenstand der Gontroverse gewesen.
Seitdem ist darüber viel, aber bis in die neuere Zeit nichts aul
reeller Basis geschrieben worden. Von rein historischem Interesse
ist die Blastematheorie von Broca (1849) und Robin (1865).
Thiersch (1865) schrieb die Entstehung des Krebses einem
Antagonismus zwischen Epithel und benachbartem Bindegewebe zu;
ist das letztere, beispielsweise durch Alter, minderwerthig geworden,
so kann dies für das Epithel eine Veranlassung werden, in die
Tiefe zu wuchern. Gegen diese Theorie scheint schon die Er¬
fahrung zu sprechen, dass gerade bei jüngeren Personen die
Krebse sehr schnell sich ausbreiten. Verneuil (1884) sprach
von einer neoplastischen Diathese. Inzwischen war C o h n h e i m
(1875) mit seiner glänzend vertheidigten Theorie aufgetreten, dass
die Neubildungen aus Gewebskeimen ihren Ursprung nähmen, die
schon zur Embryonalzeit verlagert worden waren, womit aber eigent¬
lich noch gar nicht gesagt ist, warum oder wie aus diesen ver¬
sprengten Embryonalzellen Krebse entstehen. Wie Czerny bemerkt,
ist diese Theorie für die Entstehung der Krebse, wenigstens der
meisten, nicht mehr haltbar, wenn man die last gesetzmässige
Localisation des Carcinoms in Betracht zieht; ebensowenig jene von
R i b b e r t, welche sich von der C oh n h e i m’schen Theorie im
Allgemeinen nur dadurch unterscheidet, dass behauptet wird, es sei
nicht nothwendig, anzunehmen, dass die Krebse aus Zellen oder
Zellverbänden entstünden, welche schon zur Zeit des Embryonal¬
lebens verlagert worden wären, da diese Verlagerung auch in Folge
von Entzündungen während des späteren Lebens vor sich gehen
könne. Abgesehen davon, dass auch gegen diese Theorie die gleichen
Einwände, wiegegen die C o h n h e i m’sche gelten, sollte eigentlich,
wie Czerny bemerkt, nach derselben jede Thiersch sehe
Transplantation die Veranlassung zu einem Krebse werden können.
Nachdem V i r c h o w schon 1851 auf Hohlräume und doppelte
Contouren in den Krebszellen aufmerksam gemacht hatte, haben in
neuerer Zeit Forscher in Folge ihrer Ueberzeugung vom parasitären
Ursprünge des Krebses nach dem Erreger desselben gesucht.
Namentlich ist Güssen bau er in dieser Richtung vorangegangen;
Thoma hat 1889 die sogenannten Zelleinschlüsse tür Parasiten
gehalten, Malasse z im selben Jahre Coccidien in einem Zahn¬
fleischtumor beschrieben, Metschnikoff 1892 die Zelleinschlüssc
direct als Parasiten erklärt.
Es folgt nun die neueste Epoche mit den Forschungsergeb¬
nissen der italischen Schule. San Felice in Cagliari und Ron-
cali in Rom haben in den Krebszellen Organismen entdeckt,
welche von ihnen als Blastomyceten, beziehungsweise als eine
Varietät von Saccharomyces oder Hefepilzen, von Metschnikoif
als Protozoen erklärt wurden.
Diese letztgefundenen » Zelleinschlüsse« stehen augenblicklich
im Vordergründe des Interesses. Manche dieser Einschlüsse mögen,
wie behauptet wird, blosse Degenerationsstadien im Inneren der
Zellen sein; sicher ist jedoch, dass nicht Alles davon unter die bis jetzl
bekannten Formen der Zelldegeneration eingereiht werden kann.
Plimmer, welcher sich selbst auf das eifrigste mit dem Studium
dieser Frage beschäftigt hat und wichtige Ergänzungen zu den
Forschungsresultaten Sanfelices liefert, beschreibt diese Zellein¬
schlüsse, respective Parasiten, als runde Körperchen von 0 004 bis
0 04 mm Durchmesser mit einem differenzirten centralen Theile, der
•sich mikrochemisch ganz anders verhält, als ein Zellkern, aber
auch als Kern bezeichnet wird. Dieser Kern ist von einer homo¬
genen Protoplasmaschichte umgeben, welche wiederum von einer
Kapsel umhüllt ist. Ausser dieser gewöhnlichen Art gibt es noch
andere Einschlüsse, seltenere, die besonders in schnellwachsenden
Krebsen Vorkommen und sich von den ersteren durch einige Ab¬
weichungen im Verhalten des Kernes, der Kapsel u. s. w. unten -
scheiden.
Wie Plimmer ausführt, gibt es bezüglich dieser sicher
vorkommenden Gebilde zwei Möglichkeiten: entweder sind sie de-
generirte Theile der Zellen, oder sie sind parasitäre Einschlüsse.
Dass es sich nicht um einen Degenerationszustand handle, geht daiaus
hervor, dass sie keine der bisher bekannten Reactionen irgend
einer Degenerationsform geben, dass sie nicht in den degeneriiten,
sondern in den wachsenden Theilen der Neubildung gefunden
werden, und dass sie bisher in keinem anderen Gewebe, wedei in
einem entzündeten, noch in einem degenerirten, noch in einem
neoplastischen — mit Ausnahme in Sarkomen, die ja eigentlich
nichts Anderes sind, als Krebse des Bindegewebes — gesehen
worden sind; sie können sich ferner auch ausserhalb des Küipeis
vermehren!
92
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 4
Es wurde schon erwähnt, dass jetzt dieser eine Parasit als
möglicher Krebserreger angesehen wird, wobei es vorläufig ziemlich
gleichgiltig ist, oh dieser Krebskeim thierischer, wie Metschni-
koff behauptet, oder pflanzlicher Herkunft, wie Sanfelice an¬
nimmt, sei.
Flimmer hat in den letzten Jahren 1278 Krebse mikro¬
skopisch untersucht und in diesen in 1180 Fällen die in Rede
stehenden Parasiten, und zwar in- und ausserhalb der Zellen ge¬
funden; von den übrigen waren 30 fibröse und 27 in Degeneration
befindliche Krebse gewesen. Im Allgemeinen wurden sie in langsam
wachsenden Tumoren nur spärlich, bei den seltenen, schnell¬
wachsenden, gewissermassen acuten Formen in überaus grosser Zahl
gefunden. P 1 i m m m e r hat nur neun solcher Fälle zu untersuchen
Gelegenheit gehabt. Klinischer Verlauf des Krebses und Zahl der
Parasiten scheinen demnach in einem gleichen Verhältniss zu ein¬
ander zu stehen.
Es gelang nun Flimmer weiters, diese Organismen zu iso-
liren, nach einem eigenen Verfahren aus einem schnellwachsenden
Krebse zu cultiviren, wobei er den Eindruck gewann, dass sie
anaerob wären und in dieser Richtung behandelt, nicht nur besser
wachsen, sondern auch ihre Virulenz beibehalten würden.
Nach mehreren missglückten Versuchen ist es PI immer
vorläufig gelungen, durch intraperitoneale Injection seiner Culturen
bei Meerschweinchen in den Bauchorganen Tumoren endothe¬
lialer Natur zu erzeugen, von diesen Geschwülsten abermals
Culturen zu gewinnen und mit denselben aufs Neue die gleiche
Geschwulstbildung hervorzurufen. Die injicirten Thiere sind zwischen
dem 18. und 20. Tage eingegangen.
Fasst man zusammen, was von den genannten Autoren hin¬
sichtlich der Feststellung der parasitären Natur des Krebses angeblich
gefunden worden ist, so ergibt sich nach Barling: Pli m m e r, be¬
hauptet er, habe denselben oder mindestens einen ähnlichen Parasiten
wie Sanfelice aus einem menschlichen Krebs isolirt und cultivirt
und ferner durch Injection seiner Culturen bei Meerschweinchen
Tumoren, aber nicht von zweifellos krebsiger Natur erzeugt. San¬
felice hingegen soll es gelungen sein, mit seinen Culturen typische
Krebsgeschwülste zu erzeugen, jedoch aus diesen nicht wieder den
Erreger zu cultiviren. Haben alle diese Versuche uns bisher noch
keinen absoluten Beweis für den parasitären Ursprung des Krebses
gebracht, so berechtigen sie uns doch zur Hoffnung, dass sich in
absehbarer Zeit die Aetiologie des Krebses klarlegen lassen könnte.
Man darf nicht vergessen, dass zur Beantwortung dieser
wichtigen Frage das Thierexperiment nothwendig ist, die Thiere
aber allem Anscheine nach gegen Krebs ziemlich immun sind.
Dennoch kommt das Carcinom auch bei Thieren vor. Fadyean,
Director des Thierarzneiinstitutes in London, hat daselbst 63 Thiere
gesehen, die an Krebs operirt worden waren. Alle Hausthiere waren
darunter vertreten, nur das Schwein nicht. Bemerkenswerth ist,
dass das Euter der Kuh, eine Gegend so häufiger Irritation bei der
Lactation und von Entzündungsvorgängen gegen Krebs nahezu
immun ist, wie andererseits kein Pferd den Krebs an einer Stelle
hatte, welche vom Sattel gedrückt worden war. Bei 25 mit Krebs
behafteten Pferden war derselbe 15mal am Penis localisirt; an eine
locale Reizung des Penis ist dabei kaum zu denken, da sieben
dieser Pferde Walachen waren. Guillebeau berichtet über fünf
Fälle von Uteruskrebs bei Kühen.
Eine andere Frage ist die, wie die Parasiten in den
Körper gelangen. Durch die Respiration, wie Jackson aus¬
führt, kaum, sonst müsste der primäre Krebs der Lunge nicht so selten
sein. Möglicher Weise gelangt er mit den Nahrungsmitteln in den
Magen, in welcher Beziehung man schon auf die Paradiesäpfel,
sowie Fischgräten den Verdacht gelenkt hat. Vom Verdauungstract
geht der Organismus wahrscheinlich ins Blut, von wo er in jenes
Organ Übertritt, welches ihm seine Weiterentwicklung erlaubt, also,
wie früher bemerkt, in ein solches, dessen Widerstandskraft herab¬
gesetzt ist. In dieses Capitel gehört vielleicht auch das oft beobach¬
tete Auftreten von Recidiven im Bereiche der angelegten Nähte,
während die Stellen zwischen denselben frei bleiben. Dort wo die
Nähte liegen, sind die Gewebe am meisten gespannt, daher blut¬
leerer und weniger widerstandsfähig, weshalb die Krebserreger
gerade hier und so lange die Nähte noch an Ort und Stelle liegen,
eine günstige Gelegenheit zur Ansiedlung finden. Ist diese Schluss¬
folgerung richtig, so ginge daraus hervor, wie wichtig es sein
würde, hei Vereinigung der Wundränder nach einer Krebexstirpalion
jede Spannung der Haut möglichst zu vermeiden.
Hinsichtlich des Infectionsvorganges ist Czerny der Meinung,
dass die Krebskrankheit nicht von innen heraus entstehe, kein
malum primae formationis sei, sondern durch eine äusserliche
Schädlichkeit, welche den allgemein oder local disponirten Körper
trifft, bedingt wird. Wenn man besonders die Localisation der
Krebse ins Auge fasst, so fällt es auf, dass die Carcinome in der
Regel von solchen Stellen der Haut oder Schleimhaut ausgehen,
welche durch chronische Entzündung oder Narben local disponirt
sind, an welchen leicht Schmutz oder Darminhalt längere Zeit
haftet. Aber nicht jeder beliebige Schmutz macht Krebs, sondern
ein solcher, in welchem die specifischen Krebserreger vegetiren.
Für diese Ansicht kann die Localisation des Krebses an der
Haut herbeigezogen werden; man findet da die merkwürdige That-
sache, dass fast ausschliesslich die unbedeckte Haut befallen ist.
Am Rücken hat Czerny nur ein einziges Mal Krebs gesehen. Im
Gesicht entstehen die Hautkrebse häufig bei Leuten, welche Seife
gern vermeiden und das Unterlippencarcinom wird allem Anscheine
nach durch schlecht gehaltene Zähne, Zahnstein, schmutzig gehaltene
Tabakspfeifen, die Krebse der Mamma, des Uterus, des Verdauungs-
tractes durch die vorhin erwähnten Umstände begünstigt.
Ist der Krebs eine Infectionskrankheit, so wird man sich
auch mit der Frage seiner Contagiosität zu befassen haben.
Dass der Krebs vom Thier auf den Menschen, von einem Körper-
theil eines Menschen auf den anderen übertragen werden könne,
bestätigt Park durch mehrere Beispiele, ebenso wie mancher Arzt
seinen Krebs mit Gewissheit mit einer bestimmten Carcinomoperation
in Zusammenhang bringen kann.
Hinsichtlich der Behandlung des Carcinoms ist es klar,
dass vorläufig jedes noch operable Carcinom möglichst frühzeitig
und radical mit dem Messer zu entfernen ist. Da aber eine sehr
grosse Zahl der Krebse von vorneherein inoperabel ist, oder nach
Auftreten der Recidive inoperabel werden kann, lag es nahe, für
diese verzweifelten Fälle verschiedene therapeutische Wege einzu¬
schlagen. Man hat die mannigfachsten Mittel versucht und so weit
aus der Literatur ersichtlich, angeblich bei jedem die eine oder
andere Heilung gesehen. Auf diese Weise wurden Thyreoideaextract,
Electricität, Kataphorese, Injectionen von Schöllkrautextract (Gheli-
donium majus), von Alkohol angewendet. 1896 hat Etheridge,
Professor der Geburtshilfe zu Chicago, Calciumcarbid bei Uterus¬
krebs und Snow, Chirurg am Londoner Krebsspital, Lymphdrüsen-
extract empfohlen. Da man bei Complication des Krebses mit
Erysipel Heilung hat eintreten sehen, hat man bei inoperablen
Fällen die Heilung durch künstliches Hervorrufen von Erysipel an¬
streben wollen.
Coley erwähnt noch ausführlich die Therapie der inoperablen
Sarkome durch Injectionen von einem sterilisirten Gemisch der
Toxine der Erysipelcoccen und des Bacillus prodigiosus. Coley
hat damit 148 Fälle behandelt und angeblich in 15% Heilung er¬
reicht. 8 Fälle waren 3 bis 6 Jahre gesund geblieben, in 6 von
24 Fällen innerhalb 6 Monate bis 3'/4 Jahre Recidive aufgetreten.
Czerny hat unter 18 von ihm derartig behandelten Fällen
3 Heilungen beobachtet. Coley beschreibt die Wirkung der In¬
jectionen dieses Mischcultursterilisates als einen ausserordentlich
schnellen Eintritt von Nekrobiose, die zur fettigen Degeneration
der Tumoren führt. Dieser Effect soll ein specifischer sein, da er
auch eintritt, wenn entfernt vom Tumor injicirt wird. Coley hat
im Anschlüsse an diese Therapie nur zwei der Behandlung zur
Last zu legende Todesfälle eintreten gesehen.
Literatur.
The statistics of cancer. By A. Newsholme (London). The practi¬
tioner, April 1899. — A Further inquiry into the frequency and nature
of cancer. By R. Park (Prof, of surgery, New York). Ibidem. — The me¬
dical geography of cancer in England and Wales. By A. H a v i 1 a n d.
Ibidem. — The local distribution of cancer and cancer houses. By D’Arcy
Power. Ibidem. — On the aetiology and histology of cancer. By
H. PI immer (London). Ibidem. — The occurence of cancer, in the
lower animals. By J. Fadyean (London). Ibidem. — The treatment
of inopprable cancer By W. Coley (New York). Ibidem. The increase of cancer.
By J. F. Payne. Lancet 16. September 1899. — Aus der chirurgischen
Klinik des Prof. v. Eiseisberg zu Königsberg: Leugnick, Ueber
den ätiologischen Zusammenhang zwischen Trauma und der Entwicklung
von Geschwülsten. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. Bd. LII. — Warum
dürfen wir die parasitäre Thec rie für bösartige Geschwülste nicht aufgeben?
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
93
Von Prof. Czerny (Heidelberg). Beiträge zur klinischen Chirurgie
Bd. XXV, Heft 1. — Die geographische Verbreitung des Krebses auf der
Erde. Von Dr. B e h 1 a (Luckau). Centralblatt für Bacteriologie. Bd. XVI,
Nr. 20 und 21. — Fünf Fälle von Uteruskrebs bei Kühen. Von A. Guil-
lebeau (Bern). Schweizer Archiv für Thierheilkunde. Bd. XLI, Heft 6. —
A modern view of cancer. By Prof. Barling (Birmingham). Brit. med.
J. 25. Nov. 1899. — The incidence of cancer. By A. Jackson. Ibidem.
Atlas der topographischen Anatomie des Menschen.
Von Prof. Dr. E. Zuckerkandl.
I. Heft: Kopf und Hals.
In 219 Figuren mit erläuterndem Text.
Wien und Leipzig, 1900. Wilhelm Braumüller.
Einen Wunsch, den wohl viele Chirurgen, besonders die
klinischen Lehrer, mit mir gemeinsam haben dürften, will ich der
Besprechung dieses Werkes vorausschicken. Es ist der Wunsch nach
einem Atlas der pathologisch-topographischen Anatomie. Denken wir
uns den Fall einer Darmverschliessung und den Moment der Er¬
öffnung der Bauchhöhle. Die reichste Erfahrung des Einzelnen wird
hier Situationen vorfmden, deren Entwirrung viel leichter wäre, wenn
die Anschauung an zahlreichen Bildern von Leichen geübt wäre,
bei denen nach ausgiebiger Eröffnung der Bauchhöhle der Status quo
im Bilde aufgenommen worden wäre. Im Franz Josef-Spitale sah
ich bei Kretz schon eine kleine Sammlung von photographischen
Aufnahmen dieser Art angelegt. Ich brauche nicht erst andere
Beispiele anzuführen; Jedermann kennt die Fülle des Stoffes, der
abzubilden wäre, um den Situs der Theile bei so vielen dem
chirurgischen Messer zugewiesenen Geschwülsten und anderen patho¬
logischen Befunden der Körperhöhlen zu illustriren. In der Literatur
ist dieses Material als zerstreute Bausteine reichlich vorhanden; es
gilt nur, das Material zusammenzufassen. Vielleicht vor Allem
capitelweise. Nicht nur der Chirurg, auch jeder andere medicinische
Fachmann würde von einer solchen Bildersammlung viel Nutzen
haben. Insbesondere würde der Unterricht gewinnen.
Einen solchen Wunsch erfüllt das vorliegende Werk nicht
und will ihn auch nicht erfüllen. Es handelt sich bei demselben
um die topographische Anatomie des normalen Menschen. Und doch
fiel der Verfasser aus der Rolle. In Fig. 173 stellt er die Topo¬
graphie der hinteren Rachenwand bei Gegenwart eines Retro-
pharyngealabscesses dar. Kein Wunder! Wenn Jemand der Ver¬
suchung unterliegen sollte, so war es Zuckerkandl, der be¬
kanntlich alsRokitansk y’s Assistent auch bei der pathologischen
Anatomie gedient hat. Dieser kleine Umstand, scheint mir, wirft
auf die ganze Anlage des Werkes einiges Licht. Und es ist eine
für den Chirurgen sympathische Beleuchtung. Der Verfasser hat
eine gewisse Freude, uns Dinge abzubilden, die wir in der Praxis
auch dann fragend anschauen, wenn wir mit der praktischen Chirurgie
ein gewisses Mass der topographischen Orientirung schon erlangt
haben. Das fiel mir ein, als ich das Bild »Topik des retrobulären
Raumes« ansah. Nicht selten stehen wir im Leben vor diesem
Bild, nachdem mit dem Sarkom auch der Bulbus entfernt worden
war; was nun? wie weit können wir noch Vorgehen? Mit ähnlicher
Vertraulichkeit mag den Otochirurgen die Abbildung des Topik
des Sinus sigmoideus anblicken, den Laryngologen die verschiedenen
Formen der Tonsillartasche, während dem Internisten, dem Neuro-
patholögen so manche Abbildung zwar nicht als optisch bekanntes
Bild Interesse abgewinnen, aber seinem geistigen Auge zu Hilfe
eilen wird, um diagnostische Ueberlegungen leichter zu fundiren,
so z. B. die Topographie der Gehirnwindungen, auch der basal ge¬
lagerten.
Nicht ohne eine gewisse Gemüthsbewegung sah ich das Bild
Nr. 208, enthaltend die Topographie des Ductus thoracicus. Im
Jahre 1871 war ich einige Zeit in Leipzig, um Karl Ludwig
in seinem Laboratorium wirken zu sehen. Vor einer Vorlesung ging
ich in das Zimmer, wo der grosse Vivisector, einen Hund zur Vor¬
lesung präparirend, ihm den Ductus thoracicus unterband. Der Diener
winkte mir energisch ab. Ich aber war schon entschieden, die Gunst
des Augenblickes auszunützen und trat entschlossen ein, aber ebenso
demüthig den grossen Meister bittend, mich — den jungen Chirurgen -
Zusehen zu lassen. Ludwig gewährte dies gütigst und bemerkte:
»Ich unterbinde den Ductus thoracicus — da können wir keine
Blutung brauchen; grossen Sie Herrn v. Dum reicher«. Ich war
tief ergriffen von der Meisterschaft, mit welcher Karl Ludwig
sein Ziel erreichte. Heute ist die Topographie des Ductus thoracicus
nicht nur ein anatomisches, sondern auch ein klinisches Interesse.
Und so gewinnen die Bilder der Incisura mandibularis, der
Fossa retromandibularis für mich heute, der ich inzwischen ein
alter Chirurg geworden bin, ein grosses praktisches Interesse. Wir
gehen ja darin häufig herum, nicht allein die Anatomen.
Da dies Zuckerkandl wohl bekannt ist, so fasst er ge¬
wisse topographische Regionen nicht als blosse Bilder auf, die man
vor sich sieht, sondern er erblickt in ihnen Gebilde, die man i n
die Hand nimmt, wegzieht, wegschiebt, auf hebt, durchtrennt,
und nähert sich so intim, wie sonst keiner der bisherigen Be¬
arbeiter, dem Chirurgen. Darin, meine ich, liegt ein gewisser indi¬
vidueller Charakter dieses Werkes; man hat den Eindruck eines
ganz bestimmten Milieus, in dem sich Zuckerkandl entwickelt
hat. Diesen Eindruck hatte ich besonders bei der Abbildung der
Topik der Parotis zu den Gefässen, der Rachenwand nach Ent¬
fernung des harten Gaumens, der Halsfascie mit den Kapseln für
die Glandula submaxillaris und der Parotis, besonders der Incisura
mandibularis. Aus diesem Milieu heraus erklärt sich die Aufnahme
zahlreicher Abbildungen, die in der bisherigen Literatur nicht Vor¬
kommen. (So 20, 21 — 16, 17 — 31, 32 — 39, 40, 41 —
83, 84 — 103 — 104 — 135 — 139 — 163 u. A.)
Besonderen Vortheil wird das Werk Denjenigen gewähren,
welche bei der Aufnahme gerichtsärztlicher Befunde den Verlauf
tiefer gehender Stich- und Schussverletzungen zu beschreiben haben.
Hier werden die Abbildungen mit dem kurzen knappen Texte eine
äusserst willkommene Stütze bieten.
Die Ausführung der Abbildungen ist sehr gelungen; da auch
hier Geschmack am Platze ist, müssen wir im Ganzen die dar¬
stellenden Mittel als sehr gut gewählt loben und betrachten das
Werk als eine schöne Leistung heimischer Wissenschaft und ihrer
Darstellung, der das individuelle Gepräge des Autors tüchtig aul-
gedrückt ist. E. A 1 b e r t.
Traitement chirurgical du Cancer du gros intestin.
Par le Docteur Henri Larclennois.
Paris 18h9, S t e i n h e i 1.
In einem 200 Seiten starken Buche behandelt der Autor
alles Wissenswerthe über die chirurgische Behandlung des Dick¬
darmkrebses. Nach einer historischen Einleitung über die ersten
Operationen beim Dickdarmkrebs, sowie über das Wachsthum des¬
selben, welches besonders durch die Verstopfung des Darmcanales
sowie durch die Infection alterirt wird, begibt sich der Autor auf
das Gebiet der Diagnose und diagnostischen Irrthümer, die am
besten durch die Explorativlaparotomie verhütet werden können.
Hierauf werden eingehend die Vorbereitungen zur Darm-
resection besprochen, die Technik der letzteren selbst und die
Methoden der Darmvereinigung. Sodann wird des Besonderen die
ileocöcale Resection und die der Flexura sigmoidea erörtert.
Bei letzterer empfiehlt der Autor statt der Anlegung eines
Anus praeternaturalis die entero-rectale Anastomose.
Ist ein radicaler Eingriff nicht möglich, so wird versucht, eine
Anastomose der gesunden Darmpartien herzustellen; hiebei wird die
Ausführung der entero-rectalen Anastomose besonders ausführlich
besprochen.
Zum Schluss der Technik wird noch der Darmausschaltung
und der Colostomie gedacht. Hierauf bespricht der Autor die un¬
mittelbaren und definitiven Resultate, welche in der Neuzeit
erreicht wurden, sowie die Lebensverlängerungen, welche durch die
palliative Behandlung erzielt werden.
38 Krankengeschichten sowie eine ausführliche labelle über
die operativen Eingriffe, welche beim Dickdarmkrebs vorgenommen
wurden, bescliliessen diese fieissige Arbeit.
W ö 1 f 1 e r (Prag).
I. Operations on 459 cases of Hernia.
By Jos. C. Bloodgood.
The John Hopkins’ Hospital reports. 1899, Vol. VII, Nr. 5, 6, i, 8, J
II. Ein Fall von solitärer Nierencyste.
Von A. v. Brackei.
Sammlung’ klinischer Vorträge. 1899, Nr. 250.
Leipzig 1899, Breit köpf & Härtel.
lJ4
WIENER KLINISCHE W< XJH EN SCH Kl FT. 1900.
Nr. 4
III Die moderne Behandlung des Klumpfusses.
Von A. Hoffa.
Separat- Abdruck aus: Deutsche Praxis. 1899, Nr. 11, 12, 13.
M ü n c h e n 1899, Seitz & S c li a u r r.
IV. Inesti ossei.
Giovanni Pascale.
Napoli.
I. Ein dicker Band, in welchem die Krankengeschichten über
200 Seiten einnehmen, berichtet über die am John Hopkins’
Hospital gemachten Erfahrungen über Hernien. Bei uns zu Lande
kann man wohl nur mit Neid auf Anstalten sehen, deren Mittel
eine derartige Breite der Berichterstattung zulassen. Man muss auch
sagen, dass ein so grosser Strom von Druckerschwärze weniger
fruchtlos vergossen ist, als viele kleinere, welche Berichte euro¬
päischen Styles füllen. Hier ist wenigstens eine genaue Be-
urtheilung der einzelnen Fälle möglich, wenn sich Jemand für
spceielle Fragen interessirt; bei uns sind ähnliche Veröffentlichungen
mangels der nöthigen Geldmittel oft genug weder Fisch noch Fleisch
nur Druckerschwärze. 268 Fälle von Inguinalhernien sind nach
der Methode von H a 1 s t e d operirt worden, welche ungefähr gleich¬
zeitig mit der von Bassini und unabhängig von derselben ent¬
stand. Sie besteht in Kürze aus folgenden Abschnitten: 1. Ilaut-
schnitt, dessen oberes Ende mehr medial liegt, als bei unseren
Methoden. 2. Blosslegung der Aponeurose des Obi. ext., des
P o u p a r Eschen Bandes und äusseren Leistenringes. 3. Trennung
der Aponeurose (wie bei Bassini), dann aber wird dem oberen
Theil dieses Schnittes entsprechend der M. obliq. int. senkrecht
auf die Richtung seiner Muskelfasern 3 4 cm weit durchtrennt.
4. Freilegung und Excision des Sackes; Ligatur und Excision der
Venen und Verschluss der Bauchhöhle. 5. Naht: Die tiefen Nähte
sollen den Samenstrang in den getrennten Obi. intern, transplan-
tiren. indem eine Naht oberhalb, vier unterhalb des Stranges an-
gelegt werden. Die erstere fasst die Aponeurose und den Obi. int.
über der Trennungslinie, die unteren Nähte fassen einerseits
die Aponeurose des Obi. ext., den durchtrennten Obi. internus
andererseits wieder den Rand des Obi. int., die Aponeurose und
das Poupart’sche Band. Der durchschnittene Obi. int. wird mit
den Nähten abwärts gezogen und an die »gemeinsame Sehne«
fixirt. Der transplantirte Samenstrang liegt zwischen Aponeurose
des Obi. ext. und subcutanem Gewebe. Zur Naht wird neuerdings
nach vielfachen Versuchen ausschliesslich Silberdraht verwendet,
ln Fällen, bei denen die sehnigen Theile stark atrophirt sind,
wendete Bloodgood eine von ihm erdachte Modification an, die
I ransplantation des M. rectus. Die Scheide des Muskels wird am
äusseren Rande gespalten, der Muskel frei gemacht, lateral ver¬
zogen und bei den tiefen Nähten mitgefasst, so dass er den
Leistencanal zuschliessen hilft. Die erzielten Resultate, welche seit
Jahren fortwährend nachgeprüft werden, sind sehr günstige, doch
würde ihre Besprechung, welche in dem Werke aufs Ausführlichste
durchgefiihrl wird, sowie die Wiedergabe der daselbst beschriebenen
Methoden der Operationen bei Hydrocele und Varikocele den Rahmen
dieses Referates weit übersteigen. Es sei nur erwähnt, dass eine
löbliche Offenheit und Selbstkritik nicht zu verkennen ist.
*
II. Die Mittheilung betrifft eine von Zöge v. M an¬
teuf fei bei einem 18jährigen Mann operirte Nierencyste mit
2]/2I Inhalt, welche nach Compression der Nierengefässe
durch keilförmigen Schnitt aus dem gesunden Nierengewebe des
unteren Poles excidirt wurde. Die Nierenwunde wurde mit drei
tiefer greifenden und vier oberflächlichen Seidensuturen vernäht,
die Niere am Quadratus lumborum fixirt. Brackei hat ausser
dem beschriebenen nur 21 Fälle von solitärer Nierencyste (zum
Unterschied von Cystenniere oder polycystischer Entartung der
Niere) finden können und schliesst sich der allgemeinen Annahme
an, dass es sich um Retentionscysten handle. Einige landläufige
Bemerkungen über partielle Nierenresectionen und die Wege dei¬
ch irurgischen Nierenbehandlung schlossen den Aufsatz.
*
III. Kurz, klar und das Wichtige erschöpfend führt Hoffa
die Principien der modernen Klumpfussbehandlung dem praktischen
Arzte vor, wobei eine verhältnissmässig grosse Zahl von Abbildungen
das Verständniss unterstützen. Die Abhandlung enthält keine aus¬
führliche Beschreibung vieler Methoden, sondern in bündiger Dar¬
stellung ein Resume der Hol faschen Behandlungsweise bei den
verschiedenen Formen des Klumpfusses. Zunächst wird die Massage
und der redressirende Verband beim Neugeborenen beschrieben;
als erste Schiene bei einige Monate alten Kindern soll die von
B e e I y construirte, später ein vom Autor erfundener und bezüglich
Anfertigung und Gebrauch genau beschriebener Schienenhülsen¬
apparat angewendet werden. Bei jungen Kindern soll das Redresse¬
ment nach König oder besser mit dem in Deutschland fast un¬
bekannten »Thomas wrench« gemacht werden, der aus zwei
mit Gummi überzogenen festen Branchen besteht, welche sich an
einen Stiel beliebig nähen lassen und von Hoffa wärmstens em¬
pfohlen wird. Für ältere Klumpfüsse verwendet der Autor seine
Modification des Lorenz’schen Redresseur-Osteoklaslen, und lässt
den ersten Gypsverband nur vier Wochen liegen, um ihn dann
durch seinen Apparat zu ersetzen und gleichzeitig die Haut und
Musculatur entsprechend zu kräftigen. Blutige Operationen hat
Hoffa seit zehn Jahren keine gemacht und hält sie selbst bei
den schwersten Klumpfüssen Erwachsener für nnnöthig.
*
IV. Die auf dem römischen Congress mitgetheilten Resultate
dieser Arbeit divergiren vielfach von den Ansichten, welche in dem
hitzigen Federkriege der deutschen Autoren so lebhaft discutirt
worden sind, fheilweise nehmen sie eine vermittelnde Stellung ein.
Nach Pascale können nur die Knochenstücke, welche in
vollkommener Continuität mit den darüberliegenden Weichtheilen
bleiben, wachsen und die Lebensfähigkeit bewahren. Auf die
Consolidation des Knochens üben dessen Lebensfrische, das Aller
des Thieres und die Grösse des eingepflanzten Stückes sehr wichtige
Einflüsse aus, während das Erhalten von Periost am Knochen bei
nicht an den Weichtheilen hängenden Stücken werthlos ist, weil
dasselbe stets der Nekrose verfällt. Die Elemente eines solchen
Knochenstückes verfallen auch immer der Nekrose, nur bei sehr
jungen Thieren können einzelne Theile am Leben leiben, es handelt
sich nicht nur um einen vorübergehenden Stillstand der Vitalität.
Die nekrotische Knochensubstanz wird langsam von neugebildeter
ersetzt, aber diese vermag nicht in wenigen Wochen das implan-
tirte Stück zu vernichten, sondern das Regenerationsvermögen ist
begrenzt. Wenn sieh einmal der Callus gebildet und die Neu¬
bildung die Hohlräume und Lacunen des Discus ausgefüllt hat,
indem sie neue Knochensubstanz bildete, bleibt der Process stehen
und die noch übrige nekrotische Knochensubstanz, welche in
manchen Fällen dem grössten Theil des Stückes entspricht, bleibt
am Orte. Oft aber kann das Knochenstück bei langsamer Atrophie
und ungenügender Neubildung fast intact bleiben (auch nach
Jahren), gleichsam in eine knöcherne oder fibröse Scheide ein¬
gebettet; das fibröse Gewebe erfüllt auch die Canäle des Knochen¬
stückes, vermag es aber nicht zu resorbiren. Es ist nach Pascale
nicht gleichgiltig, ob man lebende, todte oder decalcinirte Substanz
implantirt, da die Osteoblasten in ersterem ein geeignetes Material
finden.
Einige gelungene Tafeln geben die mikroskopischen Befunde
der sehr fleissigen Arbeit wieder. K. Bü ding er.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
24. U e b e r den Einfluss der Nierenspaltung
auf acute und chronische Kr ankheitsprocesse des
Nierenparenchyms. Von Prof. Israel (Berlin). Der Autor
bespricht den heilenden Einfluss der Nierenspaltung auf die totale
Suppressio urinae in Folge acuter Nierenentzündung, ferner auf die
einseitigen Koliken und Nierenblutungen, überhaupt jene Krank¬
heiten, die man bisher als Nephralgie, Nephralgie hematurique,
essentielle Nierenblutung, angioncuritische Nierenblutung bezeichnet
hatte. Die Veranlassung, den günstigen Einfluss der Nierenspaltung auf
gewisse Krankheitsformen kennen zu lernen, hatte folgender Fall ge¬
geben: Bei einem 61jährigen Patienten, dem bereits die rechte tuber-
culöse Niere exstirpirt worden war, war plötzlich eine vollständige,
andauernde, mit linksseitiger Kolik, Uebelkeit und Erbrechen ein¬
geleitete Anurie aufgetreten, die auf eine Steineinklemmung, beziehungs¬
weise Pyelonephritis bezogen wurde. Die auf Grund dieser Diagnose
ausgeführte Spaltung der Niere bis zum Becken erwies das Vor¬
handensein disseminirter miliarer Abscesse im Parenchym. Der
Effect war hinsichtlich der Behebung der Anurie ein vollkommener.
Von Interesse ist die Erklärung der Entstehung der Anurie. ln
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
95
Folge des acut-entzündlichen Processes vwar es in der von einer
ziemlich resistenten Kapsel umgebenen Niere zu einer Schwellung
des Parenchyms gekommen, die wiederum eine Compression der
Venen mit Blutstauung zur Folge hatte, welche ihrerseits wieder
das Gewehsödem und damit den intrarenalen Druck steigerte,
schliesslich zu einer Compression der Capillaren und damit zum
Versiegen der Secretion führte. Die plötzliche Spannungszunahme
in der Niere ist auch der Grund für die aufgetretene Nierenkolik.
Bei dem Bestehen dieser hohen Spannung in der Niere wird auch
der therapeutische Einfluss einer Nierenspaltung ohne Weiteres ver¬
ständlich; er ist mit jenem in eine Linie zu setzen, welcher durch
die Spaltung eines entzündeten Gewebes überhaupt beabsichtigt
wird. Durch die Entleerung von Blut, gestauten Secreten und Ent-
zündungsproducten wird der aul den Capillaren lastende Druck
so weit erniedrigt, dass die Blutcirculation und mit ihr die Secretion
wieder in Gang kommen kann. In Folge irrthümlicher, auf Stein
oder Neubildung lautender Diagnosen, kam es noch in einer Reihe
von Fällen (14) zur Nierenspaltung, wobei in der Mehrzahl der
Fälle der günstige Einfluss dieses Eingriffes auf die vorher be¬
standenen Symptome, einseitige Nieren-Koliken, Nierenblutungen,
irradiirende Schmerzen beobachtet wurde, sowie eine ganze Reihe
sehr wichtiger Thatsachen constatirt werden konnte. Diese sind
nach Israel: Es gibt einseitige Nierenentzündungen, die
Koliken veranlassen können, welche völlig den Nierensteinkoliken
gleichen; es gibt doppelseitige Nephritiden, welche nur einseitige
Koliken erzeugen; ferners schwere Nephritiden mit eiweissfreiem
Urin und Abwesenheit von Cylindern; andererseits kann hei reichlich
vorhandenen hyalinen, gekörnten und epithelialen Cylindern der
Urin eiweissfrei sein; weiters kommen Nephritiden mit anfallsweise
auftretenden profusen Blutungen vor, die mit oder ohne Kolik ver¬
laufen. Eine grosse Zahl der bisher als Nephralgie, angioneurotische
Nierenblutung etc. bezeichneten Krankheitsbilder sind auf nephri-
tische Proccsse zu beziehen, die durch Incision der Niere in vielen
Fällen günstig beeinflusst werden. Die Nierenwunde soll nicht
genäht, sondern der Heilung durch Granulation überlassen werden.
— (Mittheilungen aus den Grenzgebieten der Medicin und Chirurgie.
Bd. V, Heft 3.)
*
25. (Aus der chirurgischen Klinik zu Upsala.) lieber Aus¬
räumung der Lymphdrüsen in derLeiste und längs
der Vasa iliaca und der Vasa obturatoria in einer
Operation. Von Prof. Lennander. Durch die vom Verfasser
selbst zweimal ausgeführte Operation soll es möglich sein, die
Drüsen bis zur Theilung der Aorta hinauf auszuräumen. Der Haut¬
schnitt geht von der Symphyse längs dem Lig. Poup. bis zur Spina
und von da bis zur Mitte der Crista ossis ilei; auf diesen Schnitt
folgt einer längs der Art. fern, gegen den Oberschenkel zu. Dadurch
wird die Leistengegend zugänglich. Das Poupartsche Band wird
vom Tuberculum, Pecten ossis pubis, von der Fascia lata und
iliaca abgeschnitten, die Vasa epig. inf. und circumfl. il. int. unter¬
bunden und durchtrennt. Die Bauchmuskeln werden dicht an der
Crista durchschnitten und das Peritoneum von der Fossa iliaca
abpräparirt. Auf diese Weise sollen die Drüsen vollkommen zu¬
gänglich und im Zusammenhänge exstirpirt werden können. Von
den Vasa iliaca wird ein mit Gaze umwickeltes Drainrohr gegen
den äusseren Wundwinkel geführt, während ein zweites von der
V. obturia längs der Iliaca unter dem Lig. Poup. nach aussen ge¬
leitet wird. Das Lig. Poup. wird an seine alte Stelle festgenäht,
die Bauchmuskeln an die Crista nur so weit, dass eine genügende
Oeffnung für das Drain bleibt. Diese Schnittführung ist bei eitern¬
den Lymphadenitiden contraindicirt, da hier nicht auf die An-
heilung des Poupart’schen Bandes per primam gerechnet werden
könnte. — (Centralblatt für Chirurgie. 1899, Nr. 37.)
*
26. (Aus dem pharmakologischen Laboratorium zu Stockholm.)
Einige Versuche über die Athmungswirkung des
Heroins. Von Prof. Santesson. Dreser hat unter Anderem
gefunden, dass auf Heroin bei Kaninchen die Athemfrequenz herab¬
gesetzt und gleichzeitig die Athemzüge vertieft werden. Ersteres
kann Santesson bestätigen nicht aber letzteres.
(Aus dem Hospital zum heiligen Geist in Frankfurt a. M.)
Grosse Heroindosen ohne Intoxicationserschei-
nunsen Von Dr. Klink. Die toxische Dosis des Heroins wird
£3
sehr verschieden angegeben. Es wurden mit zwei- bis dreimal
täglich 0005 schon Nebenwirkungen, wie Uebelkeit, Schwindel,
Kopfschmerz beobachtet. Klink berichtet über zwei Fälle aus dem
Hospital, in denen aus Versehen durch fünf Tage dreimal täglich
0 05 Heroin nicht nur ohne alle toxischen Erscheinungen, sondern
überhaupt ohne jeden besonderen Effect verabreicht worden waren.
Selbstverständlich geht daraus nicht hervor, dass in jedem Falle
diese Dosis ohne üble Folgen gereicht werden könnte. — (Mün¬
chener medicinische Wochenschrift. 1899, Nr. 42.)
*
27. (Aus der Klinik des Prof. Jadassohn in Bern.) Zur
Histologie der Röntgen-Ulcera. Von Dr. Gassmann.
Es wird über zwei Fälle berichtet, in welchen an den mit Röntgen-
Strahlen behandelten Stellen der unteren Extremitäten je ein Ulcus
auftrat, von denen das eine erst jetzt nach einem Jahre eine
Neigung zur Heilung bekundet, während das andere nach mehr als
1 '/Jährigen Bestände trotz Transplantation nach Thiersch noch
nicht geheilt werden konnte. Von beiden Geschwüren konnten
Gewebsstücke histologisch untersucht werden, wobei hochgradige
Gefässveränderungen constatirt werden konten, die vornehmlich in
einer Wucherung und Degeneration der Intima, Auffaserung der
Elastica und Schwund der Muscularis bestanden. Diese Schädigungen
der Gefässe sind vielleicht eine Folge der Einwirkung der Röntgen-
Strahlen und würden auch den chronischen Verlauf des Geschwürs-
processes, sowie die mangelnde Heilungstendenz erklären. — (Fort¬
schritte auf dem Gebiete der Röntgen-Strahlen. Bd. II, Heft 6.)
*
28. (Aus dem hygienischen Institute in Würzburg.) U e b e r
Soson, ein aus Fleisch her gestelltes Eiweiss-
präparat. Von Dr. Neumann. Soson stellt ein graues, pulveri-
sirtes, im Wasser unlösliches, geschmack- und geruchloses Prä¬
parat dar, welches von der Eiweiss- und Fleischextract-Compagnie
Altona-Hamburg aus Fleisch dargestellt wird. Den Analysen zutolge
besitzt es einen Gehalt von 92'5% Eiweiss, das ist eine Menge,
wie sie bisher noch in keinem anderen Präparate angetroffen wurde.
Der Preis pro Kilo beträgt 5 Mark. Nach den angestellten Ver¬
suchen wird es etwas weniger als das Fleisch im Stoffwechsel aus¬
genützt, kommt jedoch in der Assimilirbarkeit diesem gleich; das
Soson kann auf die Dauer ohne Widerwillen genommen werden
und stört auch das Allgemeinbefinden nicht. Neumann glaubt,
dass es das Eiweiss der Nahrungsmittel zu ersefzen im Stande
sei. — (Münchener medicinische Wochenschrift. 1899, Nr. 40.)
*
29. Ein Fall von rechtsseitigem Chylo thorax
und Lymphangiektasie am linken Beine. Von Doctor
Simon (Heidelberg). Bei dem 20jährigen, früher immer gesund
gewesenen Patienten wurde ein Chylothorax und eine sehr um¬
fängliche Lymphangiektasie im Bereiche der Innenseite der ganzen
linken unteren Extremität festgestellt. Während der bis zu seinem
nach zwei Monaten erfolgten Tode dauernden Beobachtungszeit
wurden durch elf Pleurapunctionen 34 1 , durch sieben Punctionen
am linken Oberschenkel 6 1 chylöser Flüssigkeit entfernt. Bei der
Section fanden sich grosse cavernöse Lymphangiektasien am Beine,
die sich über die Cysterna chyli längs der Aorta in die rechte
Pleurahöhle fortsetzten. Die eigentliche Ursache dieses pathologischen
Verhaltens liess sich nicht feststellen. • — (Mittheilungen aus den
Grenzgebieten der Medicin und Chirurgie. Bd. V, Heft 2.)
*
30. (Aus der Districtspoliklinik des Prof. Hoff m a n n zu
Leipzig.) Zur Kenntniss der Alexander’schen Behand¬
lungsmethode der Phthisis durch Injectionen von
Ol. ca mp ho rat um P h. G. Von Dr. v. Criegern. Es wurde
durch je vier Tage U0 Ol. camph. injicirt. und dann durch zehn
Tage pausirt. Eine specifische antituberculöse Beeinflussung konnte
nicht beobachtet werden, sondern nur die excitirende Wirksamkeit
desselben. Auf Athemnoth, Hustenreiz hat der Kampher keine
lindernde Wirkung, dagegen hat sich unter seiner Medication die
Menge des Auswurfes oft vermindert, ein Effect, der auch hei An¬
wendung harziger balsamischer Mittel sonst ein tritt. Wie diese ist
auch der Kampher hei bestehender Nierenentzündung und Neigung
zu Blutungen contraindicirt. — (Berliner klinische Wochenschrill.
1899, Nr. 43.)
*
96
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 4
31. Arsen- und Thyreoideapräparate (Jodo-
t h y r i n). Von E w a 1 d (Berlin). Ueber die Erfolge der Schilddrüsen¬
präparate bei Strumen jugendlicher Individuen, sowie bei Myxödem
zu reden, ist überflüssig. Anders steht es mit den Erfolgen bei
Fettleibigkeit und Psoriasis. In dieser Hinsicht ist eine Hypothese
von Hertoche erwähnenswerth. Nach ihm soll die Thyreoidea
nur dann gegen die beiden genannten Krankheiten wirken, wenn
sie nicht idiopathischer Natur, sondern als Folge einer geschwächten
Function der Schilddrüse, einer Hypothyreoidie, aufzufassen sind.
E w a 1 d war es gelungen, nach Verbrauch von 125 Tabletten einen
ausgedehnten Fall von Psoriasis zur vollständigen und anscheinend
dauernden Heilung zu bringen. Gar keinen Nutzen, ja manchmal
sogar Verschlimmerung sah Ewald bei Anwendung der Schild¬
drüse gegen Basedow. Von besonderem Belang ist noch eine Mit¬
theilung von Dr. Mabille in Reims, nach welchem durch gleich¬
zeitige Arsendarreichung die Nebenwirkungen bei der Schilddrüsen¬
therapie zu vermeiden sein sollen, wovon auch Ewald sich hatte
überzeugen können. In einem Falle wurden Tabletten zu 025 Jodo-
thyrin, täglich um eine steigend bis zu acht und zehn pro die und
gleichzeitig Sol. arsen. Fowleri oder Arsenpillen (zu 1 mg arseniger
Säure) verordnet und bis G und 8 mg pro Tag gestiegen. — (Die
Therapie der Gegenwart. 1899, Nr. 9.) Pi.
NOTIZEN.
Ernannt: Prof. J. H. Rille zum correspondirenden Mit-
gliede der Socielä, Italiana di Dermatologia e Sifilogiafia zu Rom. —
Dr. Wertheim Salomon son zum a. o. Professor der Neuro¬
logie, Elektrotherapie und Radiographie in Amsterdam.
*
Dem Salinenphysicus in H a 1 1 e i n, kaiserlichem Rathe Doctor
Robert Funk e, wurde die Allerhöchste Anerkennung bekannt
gegeben.
*
Gestorben: Oberstabsarzt Dr. Hermann K r a s k a in
Brünn. — Der Stabsarzt d. R. Dr. Anton Mayer in Wien. — -
Assistent Dr. Ko stau eck i in Krakau. — Dr. F. 0 r s i, Pro¬
fessor der medicinischen Klinik zu Pavia.
*
9
In der am 13. Januar d. J. abgehaltenen Sitzung des
Obersten Sanitätsrathes berichtete Sections-Chef Dr. V. K u s y
nach Mittheilung der eingelaufenen Geschäftsstücke durch den Vor¬
sitzenden Obersanitätsrath Hofrath Dr. R. v. Vogl über die auf die
Verbreitung der Pest im Auslande bezüglichen Verhältnisse, und über
die vollzogene Durchführung der den Lloyd Dampfer „Berenice“ und
dessen Ladung betreffenden sanitären Massnahmen im Seelazareth San
Bartolomeo bei Triest. Hierauf gelangten nachstehende Referate zur
Erledigung: 1. Begutachtung der Qualification der Bewerber um eine
Ober-Bezirksarztesstelle in Galizien. (Referent Sections-Chef Dr. Ritter
v. lvusy.) 2. Gutachten über die sanitäre Zulässigkeit der Ableitung
der Abwässer aus einer Bierbrauerei in das offene Gerinne der Moldau.
(Referent Obersanitätsrath Prof. Dr. K rat schm er.) 3. Gutachten
über die Zulässigkeit der Verwendung eines Weinconservirungsmittels.
(Referent Obersanitätsrath Prof. Dr. Max Gruber.)
*
1 n der Sitzung des nieder österreichischen Landes"
Sanitätsrathes vom 8. Januar d. J. begrüsste der Vorsitzende
das für die restliche Functionsdauer des Landes-Sanitätsrathes neu er¬
nannte ordentliche Mitglied Prof. Dr. Richard Pal tauf. Der
Sanitätsrath nahm Anlass, wiederholt auf den durch die aussergewühn-
liehen Witterungs Verhältnisse bedingten sanitätswidrigen Zustand
der Strassen Wiens hinzuweisen ; für die Zukunft wurde eine
rasche Entfernung der Schneemassen empfohlen und überhaupt die
endliche Einführung einer rationellen Strassenpflege als dringend noth-
wendig bezeichnet. Hierauf wurde der Entwurf einer Instruction für
den Moulagenpräparator an der Wiener medicinischen Facultät begut¬
achtet und schliesslich ein Comite mit der Ausarbeitung eines Mobili-
sirungsplanes für den Transport und die Unterbringung Infections-
kranker beim Auftreten einer schweren Epidemie in Niederösterreich
betraut.
*
Dio Constituirung des Ae rzteve reines des X. Bezirkes
in Wien ist am 5. Januar 1900 erfolgt. Der neue Verein, der sich
zur Aufgabe gestellt hat, das gemeinsame Vorgehen der Wiener
Aerzteschaft in jeder Weise zu unterstützen und zu fördern, hat
folgende Collegen in die Leitung berufen: Zum Obmann Dr. C. Koch,
X., Himbergerstrasse 50; Obmann Stellvertreter Dr. H. Steiner;
I. Schriftführer Dr. L. Wein hard, II. Schriftführer Dr. R. Back;
Cassevenvalter Dr. N. II a n a 1 ; Ausschuss Dr. S. Lichtenstein.
*
Der 18. Congress für innere Medicin findet vom
18. — 21. April 1900 in Wiesbaden statt. Präsident ist Herr
v. Jak sch (Prag). Folgende Themata sollen zur Verhandlung
kommen: Am ersten Sitzungstage, Mittwoch, den
18. April 1900. Die Behandlung der Pneumonie. Re¬
ferenten: Herr v. Koranyi (Budapest) und Herr P e 1 (Amsterdam).
Am dritten Sitzungstage, Freitag den 20. April 1900.
Die Endocarditis und ihre Beziehungen zu anderen
Krankheiten. Referent : Herr Litten (Berlin). Folgende Vor¬
tragende haben sich bereits angemeldet: Herr Neuss er (Wien):
Thema Vorbehalten. Herr Wenkebach (Utrecht): Ueber die
physiologische Erklärung verse bieder Herz-Puls-
Arhythmien. Herr K. Grube (Neuenahr- London) : Ueber
gichtische Erkrankungen des Magens und Darmes.
Herr M. Bresgen (Wiesbaden) : Die Reizung und Ent¬
zündung der Nasenschleimhaut in ihrem Einflüsse
auf die Athmung und das Herz. Herr Schott (Nauheim):
Influenza und chronische Herzkrankheiten. Herr
Martin Mendelsohn (Berlin) : Ueber ein Herztonicum.
Herr Weintraud (Wiesbaden) : Ueber den Abbau des
Nucleins im Stoffwechsel. Herr Herrn. Hildebrandt
(Berlin) : Ueber eine Synthese im Thierkörper. Theil-
nehmer für einen einzelnen Congress kann jeder
Arzt werden. Die Theilnehmerkarte kostet 15 Mark. Die Theil-
nehmer können sich an Vorträgen, Demonstrationen und Discussionen
betheiligen und erhalten ein im Buchhandel circa 12 Mark kostendes
Exemplar der Verhandlungen gratis. Mit dem Congresse ist eine A u s-
Stellung von neueren ärztlichen Apparaten, Instru¬
menten, Präparaten u. s. w., so weit sie für die innere Me¬
dicin Interesse haben, verbunden. Anmeldungen für dieselbe sind an
Herrn Sanitätsrath Dr. Emil Pfeiffer, Wiesbaden, Parkstrasse 13,
zu richten.
=t=
Im Zusammenhänge mit dem vierten internationalen
dermatologischen Congresse (vereinigt mit dem inter¬
nationalen medicinischen Congresse, Paris 2. — 9. August 1900) findet
eine Ausstellung von Moulagen, anatomischen und histologischen Bac-
tevienculturen statt. Ausserdem gelangen Abbildungen, Photographien
und sonstige Reproductionen, welche in dieser Richtung von Interesse
sind, zur Ausstellung • — unter diesen auch Porträts von verstorbenen
Dermatologen. — Herren, welche ihre Objecte für die Dauer des Con¬
gresses zur Verfügung stellen wollen, werden gebeten, sich hierüber
mit dem Secretär für Oesterreich des vierten internationalen dermato¬
logischen Congresses, Docent Dr. Eduard S p i e g 1 e r, Wien,
I., Ebendorferstrasse 10, ins Einvernehmen setzen zu wollen.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeinde gebiete. 1 . Jabreswoche (vom 31. December 1899
bis 6. Januar 1900). Lebend geboren : ehelich 690, unehelich 283, zusammen
973. Todt geboren: ehelich 47, unehelich 18, zusammen 65. Gesammtzahl
der Todesfälle 615 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
19 5 Todesfälle), darunter an Tuberculose 116, Blattern 0, Masern 14,
Scharlach 8, Diphtherie und Croup 6, Pertussis 2, Typbus abdominalis 2,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 0, Neu¬
bildungen 41. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
129 (-(- 31), Masern 398 (-(-64), Scharlach 42 (~j~ 14), Typhus abdominalis
1 ( — 3), Typbus exanthematicus 0 (=), Erysipel 47 (-(- 31), Croup und
Diphtherie 61 (-(- 7), Pertussis 43 (-(-22), Dysenterie 0 (=), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 3 (-(- 1), Trachom 0 ( — 3;, Influenza 0 (=)•
EINBANDDECKEN
in Leinwand mit Goldpressung zum XII. Jahrgang (1899)
stehen den P. T. Abonnenten zum Preise von 2 Kronen,
bei directem Postbezüge von 2 Kronen 72 Heller zur
Verfügung. — Zu gleichen Bedingungen sind ferner noch
Einbanddecken zum VI. bis XI. Jahrgang (1893 — 1898) zu
haben. — Ich bitte um baldgefällige geschätzte Aufträge.
Hochachtungsvoll
WILHELM BRAUMÜLLER
k. u. k. Hof- und Univeraitätsbuchhändler.
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
97
Verhandlungen
ärztlicher Gesellschaften und Oongressberichte.
XIDTIK-A-ILT:
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in W icn.
Sitzung vom 19. Januar 1900.
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien. Sitzung vom
9. Januar 1900.
Verhandlungen des Physiologischen Clubs zu Wien. Sitzung vom
12. December 1899.
Greifswalder medicinischer Verein. Sitzung vom 2. December 1899.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in München.
Vom 17.— 22. September 1899. (Fortsetzung.)
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
Sitzung vom 19. Januar 1900.
Vorsitzender: Prof v. Reuss.
Schriftführer : Dr. Alois lvreidl.
Der Vorsitzende begrüsste als Gäste die Herren Dr. Kehrer
aus Heidelberg, Dr. Kies ling er aus Karlsruhe und Dr. Kaiser
aus München.
Regimentsarzt Dr. C. Riehl demonstrirt eine trauma¬
tische, periphere Gesichts-Nervenlähmung, in deien
Gefolge Störungen der Sensibilität und V a somotoren-
thätigkeit zu beobachten sind. (Erscheint ausfühl lieh in
dieser Wochenschrift.)
Dr . R. Kraus berichtet über seine Versuche über
Hämolysine und Antihämolysine. (Bereits ausführlich
erschienen in dieser Wochenschrift. Nr. 3.)
Discussion über die neue medicinische Rigorose n-
und Studienordnung: Hofrath Prof. Ed. Albert (siehe Feuilleton
dieser Nummer).
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien.
Sitzung vom 9. Januar 1900.
Vorsitzender: Hofrath v. Krafft-Ebing.
Schriftführer: Dr. y. Sölder.
1. Privatdocent Dr. E. Redlich demonstrirt einen Fall, bei
dem er einen Tuberkel im Pons diagnosticirt.
Der 45 jährige Kranke, früher gesund, litt vor zwei Jahren an
einer linksseitigen Pleuritis, wahrscheinlich tubercuUEer Natur; später
trat eine linksseitige tuberculöse Epididymitis auf. 1 or einem Jahre
entwickelte sich allmälig eine linksseitige Hemiparese. Vor mehreren
Wochen stellten sich Doppelbilder, Schwindel, Zwangsstellung des
Kopfes ein. Lues, Potus wurde negirt.
Der Kranke suchte zunächst die Abtheilung des Docenten
Dr. Kunn im Kaiser Franz Josef-Ambulatorium auf, woselbst folgender
Augenbefund erhoben wurde: Die Lidspalten meist sehr erweiteit, die
Augen nach rechts gewendet, hier fixirt. Beim Blick nach links eiiolgt
meist blos Drehung des Kopfes nach links; bisweilen gelingt jedoch
die Linkswendung, freilich in sehr verschiedenem Grade. Convergenz
prompt. Für gewöhnlich keine Schieistellung, nur beim Blick nach
links tritt manchmal eine leichte Incongruenz der Bewegungen aut.
Auf- und Abwärtssehen geht anstandslos vor sich.
Sehschärfe normal, desgleichen der ophthalmoskopische und pen-
metrische Befund.
Bei der Untersuchung durch den Vortragenden war das Bild in
manchen Punkten verändert, wie denn überhaupt die Erscheinungen
speciell an den Augen einen beträchtlichen Wechsel zeigen. Es ergab
sich folgender Status: Percussion des Schädels nicht schmerzhaft, zeit¬
weilig Schwindel, kein Kopfschmerz. Die linke Lidspalte etwas weiter
wie die rechte. Beim Fixiren öffnet Patient beide Lidspalten abnorm
weit. Die Bulbi für gewöhnlich in extremer Rechtsstellung fixirt. Um
nach links zu sehen, muss Patient den Kopf nach links drehen. Bis¬
weilen gelingt es dem Patienten, die Augen in die Mittelstellung zu
bringen, doch tritt dabei am linken Auge Strabismus convergens ein.
Beim Blick nach links geht das rechte Auge etwas nach links, das
linke bleibt für gewöhnlich ganz unbewegt. Bei Convergenz werden
beide Augen gut gegen die Mittellinie eingestellt. (Bei der Vorstellung
ist die Zwangsstellung nach rechts weniger ausgesprochen, beim Blick
nach rechts wird das rechte Auge meist unvollständig in die Seiten¬
stellung gebracht, heim Blick nach links fehlt jede Bewegung am
linken Auge, am rechten ist sie mangelhaft.) Auf- und Abwartsbe
wegung der Augen ohne Störung. Linke Pupille etwas weitei wie
die rechte, beide auf Licht und Convergenz prompt reagirend.
Leichte Parese im linken Facialis, hauptsächlich im mittleren
unteren Zweige kenntlich und auch bei mimischen Bewegungen deut¬
lich. Die Zunge weicht etwas nach rechts ab. Parese des rechten
Gaumenbogens; zeitweilig leichtes \ erschlucken.
Die Würgreflexe links weniger prompt wie rechts. Die Sprache
leicht näselnd und verwaschen. Andeutung von Zwangslachen, I, V, IX
intact. Spastische Parese der linken oberen und unteren Extremitäten
mit Patellar- und Fussklonus. Die oberflächliche und tiefe Sensibilität
links ohne Störung. Leichte Ataxie bei Bewegungen der linksseitigen
Extremitäten. Sehr ausgesprochenes Schwanken beim Stehen, insbe¬
sondere bei geschlossenen Fersen und Augen, auch beim Gehen deut¬
liche Ataxie. Beim Athmen bleibt die linke Brusthälfte zurück, links
Schwarte und Infiltration der Lunge. Im Harn keine abnormen Be¬
standteile.
Bezüglich der Diagnose scliliesst Redlich eine funetionelle
Erkrankung aus, nimmt vielmehr eine im Pons localisirte Affection
an. Für diese Localisation sprechen insbesondere die associirten Augen¬
muskellähmungen (links) und Augenmuskelkrämpfe (rechts), die mit
einer Affection des Pons, speciell des Fasciculus longitud. post, in Be¬
ziehung gebracht werden. Die Affection muss nahe der Mittellinie
liegen, da Erscheinungen von beiden Seiten vorliegen. Mit der ange¬
nommenen Localisation lassen sich auch die anderen Erscheinungen in
Zusammenhang bringen. Bezüglich der Natur des Processes ist ein
kleiner Tumor (Tuberkel) das Wahrscheinlichste.
2. Dr. Julius Epstein demonstrirt einen Fall von trau¬
matischer Rückenmarkserkrankung.
Ein 33jähriger, bis dahin gesunder Mann fiel von einem Gerüste
mit dem Nacken auf ein Querholz auf, blieb mit Lähmung aller vier
Extremitäten liegen.
Nach Extensionsbehandlung auf einer chirurgischen Abtheilung
Besserung der Lähmungen, so dass Patient leichte Arbeiten verrichten
konnte. Drei Monate später neuerliche Verschlimmerung. Beim Eintritte
in die Nervenklinik Lähmung im Ulnarisgebiete, sowie leichtere Parese
im Radialis- und Medianusgebiete beider Oberextremitäten. Spastische
Parese beider Beine. Patellar- und Fussklonus. Hypalgesie und Thermo-
anästhesie in der Ulnarseite beider Arme und von der Höhe der Ma¬
millen und Spinae scapulae nach abwärts. Keine Blasenstöiung.
Vortragender stellt die Diagnose auf Hämatomyelie, ohne Com-
plicationen von Seite der Knochen auszuschliessen. (Wird ausführlich
publicirt.)
Discussion: Privatdocent Dr. H. Schlesinger bemerkt,
dass Progredienz der Erscheinungen bei den eigentlich traumatischen
Rückenmarkserkrankungen, die unmittelbar nach dem Trauma schwere
nervöse Symptome darboten, so selten seien, dass auch in dem voi-
geführten Falle eine Complication, wie auch Vortragender gemeint hat,
das Wahrscheinlichere ist. Vielleicht liegt der Verschlimmerung Druck
des Rückenmarks bei einem erweichten Callus zu Grunde.
Bezüglich der Diagnose hebt Schlesinger hervor, dass nach
einer gemeinschaftlich mit Dr. Kienböck vorgenommenen genauen
Durchsicht der Literatur der traumatischen Rückenmarksaftectionen
keine stricte anatomische Diagnose gemacht werden könne; denn
Hämatomyelie und traumatische Nekrose des Rückenmarkes (ob mit
oder ohne Blutungen) verlaufen unter den vollkommen gleichen Sym-
ptomenbildern und können klinisch nicht unterschieden werden. Es
dürfte sich daher auch nach dem Vorschläge von Lax und Müller
empfehlen, von traumatischen Rückenmarksläsionen schlechtweg zu
sprechen und die noch genauere anatomische Diagnose zu unterlassen.
Dr. Epstein: Eine traumatische Knochenerweichung konnte
vorderhand wegen Fehlens einer deutlichen Difformität der Wirbel¬
säule im Sinne einer angularen oder bogigen Kyphose nicht angenommen
werden . Eine von Dr. Weinberger auf der Klinik Schrotte r
gemachte Radiographie zeigte auch keine Abnormitäten.
Die Diagnose der Hämatomyelie wurde nicht in dem sinne
gemacht, als ob daneben stehende nekrotische Veränderungen des
Rückenmarkes ausgeschlossen seien.
98
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900
Nr. 4
3. Privatdocent Dr. Hermann Schlesinger berichtet über
einen Fall von atypischer amyotrophischer Lateral¬
sklerose mit subacnten bulbären Beginn, acht Monate währendem
Trismus, spastischer Harnverhaltung und nicht ausgesprochenen Muskel-
atrophien bei spastischen Zuständen und fibrillären Zuckungen in der
ganzen Körpermusculatur, sowie reflectorischer Pupillenstarre.
Die Autopsie ergab symmetrische Degeneration beider Pyramiden¬
bahnen von den Grosshirnschenkeln bis in das Lendenmark mit dem
Maximum der Degeneration in der Medulla oblongata, diffuse Degene¬
ration der Vorderseitenstränge in der ganzen Höhe des Rückenmarkes,
hochgradige Ganglienzellenveränderungen in den Vorderhörnern der
oberen Abschnitte des Halsmarkes, Degeneration des Hypoglossuskernes
beiderseits, der Facialiskerne und des motorischen Trigeminuskernes
einer Seite, fettige Degeneration der Zunge. Hirnrinde frei, ebenso die
anderen Faserzüge intact.
Vortragender bespricht eingehend den klinischen und anatomi¬
schen Befund und die Rückschlüsse, welche sich aus dieser Beobach¬
tung für die Pathologie und pathologische Anatomie der amyotrophi-
schcn Lateralsklerose ziehen lassen.
(Der Vortrag wird in extenso in den „Mittheilungen aus dem
Institute des Prof. Obersteiner“, Wien, Heft 7, publicirt.)
Discussion: Privatdocent Dr. H i r s c h 1 : Der Fall Schle¬
singer bot neben anderen Symptomen auch das A r g y 1 1 - R o b e r t-
s o n’sche Symptom. Da nach Untersuchung auf Tabes und Paralyse
sich keinerlei Anhaltspunkt für die Annahme einer dieser beiden Krank¬
heiten fand, ist Schlesinger geneigt, die reflectorische Starre der
Pupillen als ein neues Symptom der amyotrophischen Lateralsklerose
anzusehen. Ich glaube, dass dieser Ansicht entgegengetreten werden
muss, so lange nicht eine relativ grössere Reihe von Fällen von amyo-
trophischer Lateralsklerose bekannt werden, bei denen das Argyll-
R o b e r t s o n’sclia Phänomen zu constatiren ist. Trotzdem wir bei
Delirium tremens und beispielsweise auch bei Paranoia reflectorische
Pupillenstarre in einer allerdings bescheideneren Zahl von Fällen be¬
obachtet haben, ist es wohl nicht gerechtfertigt, die reflectorische
Pupillenstarre etwa als ein Symptom des Delirium tremens oder der
Paranoia zu betrachten; wir sahen in ihr eine Complication, eine iso-
lirte Folge luetischer Infection, obzwar in einigen Fällen diese Infection
sich nicht naehweisen Hess. Ich glaube, dass es sich im Falle Schle¬
singer um etwas Aehnliche3 gehandelt hat.
In einem Falle von amyotrophischer Lateralsklerose, der in der
Klinik zur Obduction kam, konnte in der hinteren Central Windung an
M archi - Präparaten Degeneration der Rindenfasern nachgewiesen
werden; ich stelle an den Vortragenden die Anfrage, ob er March i-
Präparate der Rinde angefertigt habe und ob sich auch in seinem
Falle eine Veränderung an diesen Präparaten naehweisen Hess.
Dr. Schlesinger betont nochmals, dass bei dem Kranken
bis an sein Lebensende psychische Defecte vollkommen mangelten und
weder aus klinischen Erscheinungen, noch aus den anatomischen Be
funden eine zweite concurrirende Affection habe erschlossen werden
können, welche die reflectorische Pupillenstarre hätte verursachen
können, andererseits waren die anatomischen Veränderungen derart,
dass die Möglichkeit einer anatomischen Läsion der Augennmskelcentren
nicht von der Hand gewiesen werden könne; jedenfalls aber liege eine
äusserst interessante und sehr beaehtenswerthe Complication der amyo¬
trophischen Lateralsklerose vor.
Was den zweiten Punkt der Anfrage betrifft, theilt Vortragender
mit, dass in der Medulla oblongata und im ganzen Hirnstamme bei
der Untersuchung nach March i von Fasersystemen nur das der
Pyramidenbahnen erkrankt war, was umso bemerkenswert her ist, als
bereits mehrmals mit Hilfe feinerer Untersuchungsmethoden, wie dies
Ho che, Pilcz u. A. mittheilen, auch die Degeneration anderer
Bahnen gefunden wurde.
Im Bereiche der inneren Kapsel und der Hirnrinde fehlten an
sonst wohlgelungenen M archi- Präparaten Faserndegenerationen voll¬
kommen, die Ganglienzellen der Hirnrinde (allerdings nicht nach
Xissl untersucht), erschienen vollkommen normal.
Verhandlungen des Physiologischen Clubs zu Wien.
Jahrgang 1899 — 1900.
Sitzung am 12. December 1899.
Vorsitzender: Herr J. Breuer.
Schriftführer: Herr Sig'in. Fuclm.
1. Herr S. Federn (a. G.) hält den angekündigten Vortrag:
,. B e o b a c htungen übe r d e n Blut d ruck a m Mensch e n.w
Ich darf wohl annehmen, dass Ihnen das Sphygmomanometer von
Base h’s und G ä r t n e r’s Tonometer, sowie deren Anwendung bekannt
sind und gehe daher gleich auf die Beobachtungen über, zu welchen
sie mir Gelegenheit gegeben.
Als Gärtner die Güte hatte, mir sein Tonometer zujdemon-
striren, bestimmte er auch meinen Blutdruck, und da fiel mir auf,
dass er einen höheren Blutdruck bekam, als ich ihn unzählige Male
durch das Sphygmomanometer gefunden hatte.
Ich habe später an sehr vielen Individuen den Blutdruck mit
beiden Instrumenten bestimmt und es ergab sich immer, dass das
Tonometer einen höheren Blutdruck zeigte, als das Sphygmomano¬
meter. Ich stand liier vor einem Räthsel. Ich überlegte, dass die Ur¬
sache entweder in dem Messinstrumente liegen könne, oder dass der
Blutdruck wirklich höher sei. Mit dem Sphygmomanometer war ich durch
viele Jahre vertraut und wusste, dass es den Blutdruck richtig angab;
das Tonometer andererseits ist so einleuchtend und einfach, dass ich
seinen Angaben nicht misstrauen konnte. Ich machte daher folgenden
Versuch: ich bestimmte den Blutdruck an einem Individuum mit dem
Sphygmomanometer, anämisirte dann den Finger nach G ä r t n e r’s Me¬
thode mit dem elastischen Ringe und mass wiederum den Blutdruck,
und siehe da, bei fast allen Individuen mit seltenen Ausnahmen, die
nicht ins Gewicht fallen, war der Blutdruck um 20 mm Quecksilber
und mehr gestiegen. Wenn ich dann noch den zweiten und dritten
Finger auf dieselbe Weise anämisirte, so stieg der Blutdruck wieder,
wenn auch bedeutend weniger.
Es wurde mir also klar, dass die Anwendung des anämisirenden
Ringes den Blutdruck steigen macht.
Es ergab sich nun die Frage, ob durch eine Reizung der
vasomotorischen Centren eine allgemeine Steigerung des Blutdiuckes
erfolgte, oder ob die Blutdrucksteigerung nur local sei. Ich wieder¬
holte also denselben Versuch, bestimmte aber zugleich den Blutdruck
an der Radialis der anderen Seite, wo ich die Finger nicht
anämisirt hatte; hier war der Blutdruck nicht gestiegen. Es ergab sich
also aus diesem Versuche, dass die Blutdrucksteigerung eine
locale sei.
Ich stellte mir nun weiter die Frage, ob die Anämisirung des
Fingers die Blutdrncksteigernng veranlasse oder vielleicht der Reiz
der Einschnürung mit dem Ringe. Ich erweiterte daher den Ring und
führte denselben sodann an dem Finger hinab bis zur betreffenden
Stelle, wo ich den Finger einschnürte, ohne ihn anämisirt zu haben,
und nun blieb der Blutdruck derselbe. Es konnte also nicht die Ein¬
schnürung des Fingers, sondern nur die Anämisirung desselben die
Steigerung des Blutdruckes bewirkt haben.
Ich bemerke noch, dass man auch durch das Tonometer die
blutdrucksteigernde Wirkung durch die Anämisirung mehrerer
Finger, wenn auch nicht so deutlich, naehweisen kann.
Gestatten Sie mir, meine Herren, an diese Mittheilung einen Ge¬
danken auzuschliössen, der mich schon früher beschäftigte, aber durch
diese Beobachtungen aufs Neue angeregt wurde.
Mir scheint, dass unsere physikalische Anschauung über den
Blutdruck einer Ergänzung bedarf. Wir betrachten unser Gefässsystem
als ein abgeschlossenes Röhrensystem. Die Versuche, die z. B. A. Fick
im XLVI. Bande von Pf lüge r’s Archiv über den Blutdruck in
den Capillaren publicirt hat, gehen auch von dieser Anschauung aus.
Ich glaube aber, dass unser Gefässsystem nur bis zu den Capillaren
gegen das umgebende Gewebe abgeschlossen ist, von den Capillaren
bis zu den Anfängen dor Venen communicirt es, wenn der Ausdruck
gestattet ist, gewissermassen mit den Gewebsflüssigkeiten, mit den
Zellen ; osmotische Strömungen, chemische Affinitäten wirken auf
den Inhalt der Capillaren und beeinflussen vielleicht den Druck
in denselben.
Zu dieser Erwägung führte nachfolgende Beobachtung:
Wenn ich durch den einschnürenden Ring den Finger anämisirte,
so wird der anämisirte Theil des Fingers deutlich schwächer und der
untere Theil deutlich stärker, weil mit dem Blute auch Gewebsflüssig¬
keit verdrängt wird, es wird daher die Spannung in den Geweben
geändert und vielleicht hat diese veränderte Spannung Einfluss auf
den Blutdnrck.
Ich habe Versuche in Vorbereitung, welche diese Erwägungen
auf ihre Richtigkeit prüfen sollen.
2. Herr S. v. Schumacher hält den angekündigten Vor¬
trag : „Ueber Phagocytose und die A b f u h r w e g e der
Leukocyten in den Lymph drüsen.“
Die Untersuchungen sind im Archiv für mikroskopische Anatomie,
L1V, 3, pag. 296, in extenso publicirt.
Herr St. Bernheimer demonstrirt Affengehirne mit
Zerstörung der vorderen Vierhügel.
Vortragender hat, um die Bahnen der synergischen Augenbe¬
wegungen und die Beziehungen der vorderen Vierhügel zu denselben
zu erforschen, eine Reihe von Experimenten am Affen ausgoführt.
(Siehe Sitzungsber. d. kais. Akad. d. Wissensch. Mathem. naturw. CI.
CVIII, Abth. III, pag. 299.)
Ein Theil dieser Versuche betraf beidei'seitige und einseitige
Zerstörung der vorderen Vierhügel bis zum Aquaeductus Sylvii.
Nr. 4
99
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Alle diese operirten Thiere konnten trotz Zerstörung der vorderen
Vierhügel, sowohl spontan als nach Reizung des Gyrus angularis,
tadellose synergische Augenbewegungen ausführen.
Zwei Thiere mit einseitiger Vierhügelzerstörung konnten drei
Wochen am Leben erhalten werden ; auch diese führten während der
dreiwöchentlichen Beobachtungsdauer tadellose synergische Augenbe¬
wegungen aus.
Demnach sind die vorderen Vierhügel, entgegen der bis jetzt
gangbaren Anschauung Adamük’s, für die Auslösung von synergi-
schen Augenbewegungen vollkommen belanglos.
Die Verbindungsneurone zwischen den Augenmuskelkernen und
dem entsprechenden Rindencentrum (Gyrus angularis) verlaufen voll¬
ständig gekreuzt. Die Kreuzung findet unter dem Aquaeductus Sylvii
mit Ausschluss der vorderen Vierhügel statt.
Ferner demonstrirt derselbe Chiasm aschnitte von einem
Neugeborenen mit beiderseitigem Mikrophthalmus.
Die Markscheidenbildung im Gehirn und in den Sehbahnen
dieses Neugeborenen war auf einer früheren embryonalen Entwicklungs¬
stufe stehen geblieben.
In zahlreichen Schnitten der oberen Chiasmahälfte sind nur un¬
gekreuzte Sehnervenfasern mit Markhüllen versehen. Durch Weigert-
Färbung erscheinen diese Fasern in natürlicher Isolirung, es gelingt
daher, an diesen 20 Schnitten Sehnervenbündel und Einzelfasern in
ein und demselben Schnitte ununterbrochen vom Sehnerv bis weit in
den gleichseitigen Tractus zu verfolgen. — Es ist dies der erste
rein anatomische Nachweis der ungekreuzten Seh¬
nervenfasern beim Menschen.
(Siehe Archiv für Augenheilkunde. XL, 2, pag. 155.)
Greifswalder medicinischer Verein.
Sitzung am 2. December 1899.
Vorsitzender: Laiidois.
Schriftführer : Busse.
1. Palleske-Loitz demonstrirt einen T h orakopagus
und schildert den Geburtsverlauf.
2. Rosemann: Ueber die angebliche eiweisssparende Wirkung
des Alkohols. R o s e m a n n hat als Ergebniss seiner Stoffwechsel¬
versuche über den Alkohol gefunden, dass der Alkohol wohl Fett
aber nicht E i w e i s s zu sparen vermöge, deshalb als Nähr u n g s-
mittel nicht geeignet sei. Diese Ergebnisse sind neuerdings von
Neumann (Archiv für Hygiene. Bd. XXXVI) undOffer (Wiener
klinische Wochenschrift. Bd. XII, Nr. 41) angegriffen worden. Rose¬
mann weist nun die Angriffe zurück, indem er einmal die Einwände
widerlegt und zum Anderen die Untersuchungsresultate von Neumann
als fehlerhaft, die von Offer als völlig unzutreffend nachweist.
Neumann hatte sich zunächst in Stickstoffgleichgewicht gesetzt,
darauf von seiner Nahrung Fett fortgenommen und dabei l-63</ Stick¬
stoff täglich abgegeben; nun wird dieser Nahrung Alkohol zugegeben
und es tritt zunächst ein täglicher Stickstoffverlust von 3-05^ ein,
dann aber stellt sich ungefähr Stickstoffgleichgewicht ein. Jetzt wird
unter Beibehaltung des Alkohols die erste Menge Fett wieder zur
Nahrung verwendet und ein Stickstoffansatz von 1’35 g erzielt. Neu-
m a n n vergleicht die letzte Periode mit der ersten und führt den
Stickstoffansatz von P35# auf den Alkohol zurück, während Rose-
m a n n dagegen geltend macht, dass so weit auseinanderliegende
Perioden nicht verglichen werden dürfen, sondern vielmehr die un¬
mittelbar aufeinanderfolgenden verglichen werden müssen. Diese
unterscheiden sich nicht durch die Menge des Alkohols, sondern durch
die Menge des Fettes in der Nahrung; mithin ist der Stickstoffansatz
alias die Ersparniss an Eiweiss auf das Mehr von Fett zurück¬
zuführen.
Einer eingehenden Kritik unterzieht Rosemann darauf die
Arbeit von Offer, dessen Methodik und Versuchsresultate als in
vielen Punkten unzuverlässig und zweifelhaft geschildert werden ;
als Widerlegung der R o s e m a n n’schen Arbeiten dürfte diese Arbeit
wohl kaum ernstlich in Betracht kommen.
3. Grawitz demonstrirt a) Präparate von schwieliger Ver¬
dickung des Bauchfelles, welche der Leiche einer etwa
50jährigen Frau entstammen. Wegen eines 36 Pfund schweren Ovarial¬
kystoms hatte Herr Martin die Ovariotomie gemacht und hiebei
bereits grosse Stücke einer mächtigen Schwiele entfernt, welche nahezu
die ganze Innenfläche der stark ausgedehnten Bauchdecken wie ein
1 cm dicker, knorpelharter Panzer überzogen hatte.
Es war acute Peritonitis eingetreten und bei der Section fanden
sich die Darmschlingen von chronisch verdickter, grauweisser Serosa
überzogen, mit frischer, eiteriger Peritonitis, während die Reste der
grossen Bauchdeckenschwiele ein gerunzeltes, sammtartig rauhes Aus¬
sehen hatten, welches mikroskopisch am frischen wie am gehärteten
Präparate viel klarer als die normale Serosa die fibrinoide Umwand¬
lung des Bindegewebes erkennen Hess. Unter Erwähnung der fibrösen
Perisplenitis und der Perihepatitis (Zuckergussleber) weist Grawitz
auf die grosse Seltenheit derartiger peritonealer Bauchdeckenschwielen
hin, und erörtert die dadurch die bedingten Hindernisse in der Re¬
sorption und die Gefahr für die Ansiedlung von Eitererregern.
b) Demonstration eines Falles von Porenenphalie bei
einer Frau, welche vor Jahren eine schwere Schädelverletzung er¬
litten hatte.
Die Spuren dos Traumas waren in einem Knochendefect am
rechten Tuber parietale und elfenbeinerner Hyperostose der Tabula int.
an der Stelle des Stosses und des Gegenstosses deutlich zu erkennen.
Das Gehirn zeigte hier einen grossen, von der Oberfläche bis in den
Seitenventrikel führenden Canal, an dessen Grunde man das Ammons
horn liegen sah. Die Ausheilung dieser Gehirncontusion war so voll¬
ständig, dass nur mit Hilfe des Mikroskrops Reste von Pigment in
dem zarten Narbengewebe nachgewiesen werden konnten.
4. So 1 g er demonstrirt a ) die durch einen Medianschnitt halbirte
Nasenhöhle eines etwa 48jährigen weiblichen Individuums, deren
Wandung die Muscheln ganz oder grösstentheils fehlen. Gegenbaur
führte in einem ähnlichen Falle diese Veränderung auf mangelhafte
Ausbildung zurück. S o 1 g e r sieht sie als Product ,, tertiärer Syphilis“
an, woran das Individuum nachweislich gelitten hatte.
Er demonstrirt b) Querschnitte von Rippen junger Kätzchen, in
denen sich nach Fixirung in Zenke r’scher Lösung und Hämatoxylin-
färbung an der Grenze zwischen alten und neuem Knochen eine Zone
violett gefärbter Körnchen zeigt.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
in München.
Vom 17. bis 22. September 1899.
(Fortsetzung.)
Section für Kinde rheilkund e.
Referent Dr. B. B e n d i x (Berlin).
I. Sitzung: Montag den 18. September 1899.
II. W. Ca merer jun. (Stuttgart) : Die chemische Zu¬
sammensetzung des Neugeborenen. (Mit analytischen Bei¬
trägen von Dr. S ö 1 d n e r.) (Fortsetzung.)
Die von mir bisher untersuchten drei Leichen stammen von
normalen, ausgetragenen Kindern, welche kurz vor Beendigung de:
Geburt gestorben waren, oder einige Minuten gelebt hatten. Dieselben
wurden sofort nach der Geburt gewogen. Die zunächst nothwendige
Zerkleinerung geschah an der gefrorenen Leiche mit Messer,
Scheere und Knochenzange zu etwa erbsengrossen Stücken. Auf d ese
Weise wurde jeder Substanzverlust vermieden. Sodann wurde das
Ganze mit Alkohol und Aether extrahirt und die so wasser- und
fettarm gemachte Substanz pulverisirt. Aus der Summe der Irocken-
substanzen des Alkoholextractes, Aetherextractes und Pulvers eigab
sich die Gesammttrockensubstanz, und die Differenz von dieser letzteren
und dem Gewichte der frische Leiche lieferte den Wassergehalt
des Kindes.
Die chemischen Analysen wurden am Alkoholextracte, Aethei-
extracte und Pulver von m i r und S ö 1 d n e r ausgeführt. Wirerhielten
folgende Zahlen:
Nummer
des
Kindes
Gewicht
Wasser
Trocken
Substanz
Fett
Asche
Eiweiss
und
Leim
Extractiv
Stoffe
C
H
N
I . . .
2616
1874
742
358
54
27 8
52
434-2
64-1
46-8
11 . . .
2755
1905
850
443
74
29-6
37
5069
75-9
50 5
Ill . .
2683
1 955
728
270
67
350
41
—
59'6
Mitttel
2685
1912
773
357
65
308
43
—
5P4
Hieraus folgen die Verhältnisszahlen. 100 cj Leibessubstanz ent
halten :
Nummer des
Kindes
Wasser
Trocken¬
substanz
- 1
Fett
Asche
Eiweiss
und
Leim
Extractiv-
stofte
N
I .
71-6
28 4 1
13-7
2 06
10-6
20
1-79
II .
62-2
308
16 1
269
10-8
1-3
1-83
III .
72-9
271
10-1
2-50
13T
1-5
2 22
i Mittel .
7P2
28-8
133
2-40
115
1-6
1-92
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
Nr. 4
100
Die Gesammtmenge des im Körper enthaltenen Lecithins
wurde zu 1 6 • 5 1 <7 bestimmt. >
Zum Vergleiche fügt Camerer die von B i s c h 0 f f und
Volk mann für den Erwachsenen gefundenen Werthe bei.
100 Theile Mensch enthalten:
Wasser |
Eiweiss
und
Leim
Fett
Asche
!
Nach Volk mann .
Nach B i s c h 0 f f .
66
60
16
16
13
19
5
5
Es enthält also der Körper des Neugeborenen im Vergleich zum
Erwachsenen sehr viel W a s s e r und F e 1 1, letzteres beinahe die Hälfte
der Trockensubstanz, während der Gehalt an Asche und stick¬
stoffhaltigen Bestan dt heilen geringer ist. Weitergehende
Schlüsse möchte Cammerei' aus dem bisher vorliegenden Material
vorerst noch nicht ziehen.
Von der Asche wurden auch quantitative Analysen ihrer Einzel-
bestandtheile gemacht. Es hat ja die Erforschung dieser Verhältnisse
ein besonderes Interesse gewonnen durch die Theorie Bung e’s, dass
bei den Säugethieren das Verhältniss der anorganischere Stoffe im Ge-
sammtorganismus des Säuglings und in der betreffenden Milch fast
identisch sei. Dies trifft für die menschlichen Verhältnisse nicht zu,
wie die folgende Tabelle zeigt.
100 g Asche enthalten:
K2 0
Na3 0
CaO
Mg 0
Fe203
%o5
CI
Neugeborenes Kind
78
9 1
36 1
09
08
38 9
7-7
Muttermilch . . .
31-4
11 9
16-4
26
0 16
13 5
20 0
Eine ausführliche Beschreibung dieser' Arbeit, von Camerer
und Söldner gegeben, wird in der Zeitschrift für Biologie demnächst
erscheinen.
Discussion zu den beiden Vorträgen von Camerer.
1. Baginsky (Berlin) macht darauf aufmerksam, dass
demnächst aus seinem Institute von seinem Assistenten, Herrn
Sommerfel d, Untersuchungen über das gleiche Thema erfolgen
werden.
2. B e n d i x (Berlin) hat gleichfallsTUntersuchungen über die
chemische Zusammensetzung des Säuglings angestellt. Allerdings
handelt es sich hiebei um atrophische Säuglinge, und zwar wurden
vorerst an sieben Säuglingen Bestimmungen des Wassergehaltes
und des Stickstoffes ausgeführt. Im Mittel betrugen die Werthe
75% Wasser und 2% N im frischen, circa 10% N im trockenen
Muskel.
3. Camerer sen. (Urach) stimmt zu, dass auch Fehling
im Jahre 1873 an atrophischen Säuglingen weniger Wasser und
Fett, aber mehr Eiweiss als normal angegeben hat. Analysen ein¬
zelner Organe und des Gesammtkürpers seien indess nicht wohl ver¬
gleichbar.
III. Wilhelm Knöpfelmacher ( Wien) : Zur Kenntniss
der Caseinflocken.
Vortragender hat die in den Fäces dyspeptischer Säuglinge oft
vorhandenen weissen Klümpchen, die man mit dem Namen „Casein-
flocken'* bezeichnet, chemisch untersucht. Der Stickstoffgehalt eines am
Wasserbade getrockneten Präparates betrug 3-5%, der Fettgehalt 40%,
der Aschengehalt 18%. Ein anderes Präparat hatte 2,98°/0 Stickstoff
und 25% Fett. Die Asche enthielt 03% Kalk uni 9% Phosphor
(= 21%, P2 05). Berechnet man Asche, Kalk, Phosphor auf einen
Theil Stickstoff’, so zeigt sich, dass in den Caseinflocken auf einen
Theil Stickstoff dreimal soviel Asche und neunmal soviel Kalk entfällt,
als in Caseingerinnseln. Schon daraus wird die Annahme, dass
die Caseinflocken nichts Auderes als Caseingerinnsel sind, hinfällig.
Das wird noch deutlicher durch Untersuchung des Fettes und der
stickstoffhaltigen Körper der Caseinflocken. Die Fettsäuren derselben
hatten bei zwei Präparaten einen Schmelzpunkt von 49u, respective
40 — 47° C., einen Erstarrungspunkt von 46°, respective 42° C. Der Oel-
säuregehalt dos Fettes betrug einmal 9 1 7 % , in einem zweiten Prä¬
parate 1 9 *5°/o- Bei dem Vergleich dieser Zahlen mit den Werthen
für den Schmelz- und Erstarrungspunkt der Fettsäuren des Kuhmilch¬
fettes und dem Oelsäuregehalt desselben, besteht kein Zweifel, dass
das Fett der Caseinflockeu kein unverändertes Milchfett sein kann. Es
ist vielmehr in seiner Zusammensetzung dem Kothfette nach Milch¬
nahrung ähnlich.
An den stickstoffhaltigen Körpern wurde vorerst das Ver¬
hältniss von Stickstoff zu organisch gebundenem Eiweissphosphor
bestimmt und N : P — 36 : 1, in einem zweiten Versuche N : P = 31 : 1
gefunden.
Ferner wurden die Caseinflocken mit Wasser, Kochsalzlösung,
Sodalösung und verdünnter Natronlauge extrahirt und die einzelnen
Extracte mit Hilfe der qualitativen Eiweissreactionen untersucht. Die
Lösungsverhältnisse der die Biuretreaction gebenden Körper, wie auch
ihr Verhalten gegen die Eiweissreactionen Hessen die Anwesenheit von
Casein oder Paracasein ausschliessen. Durch Sättigen mit Ammonsulfat
in der Kälte konnte eine bei Erwärmen zum Theile sich lösende Fällung
erzielt werden. In den Extracten eines Präparates konnte auch Am¬
moniak nachgewiesen werden. So wurde, wie an den Salzen und dem
Fette, auch an den stickstoffhaltigen Körpern gezeigt, dass dieselben
der Einwirkung von Verdauungsprocessen unterworfen waren, dass daher
von unveränderten Casein- oder Paracaseingerinnseln nicht die Rede
Sein kälin. (Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag, den 26. Januar 1900, 6 Uhr Abends,
unter dem Vorsitze des Herrn Prof. V. ReuSS
stattfiudenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Prof. Schauta: Ueber die Einschränkung der Laparotomie zu Gunsten
der vaginalen Cöliotomie.
Vorträge haben angemeldet die Herren: Docent Dr. Herzfeld, Docent
Dr. Max Herz, Docent Dr. Kretz, Prof. A. Politzer, Prof. Benedikt,
Prof. Weinlechner, Dr. J. Tlienen, Dr. A. Pilcz, Dr. R. Offer, Hofrath
Prof. Schnabel, Oberstabsarzt Docent Dr. Habart und Dr. A. Jolles.
Bergmeister, Paltauf.
Wiener laryngologische Gesellschaft.
Programm
der am
Donnerstag, den 1. Februar 1900, 7 Uhr Abends,
im Hörsaale der laryngologischeu Klinik unter dem Vorsitze des Herrn
Prof. Chiari
stattfinden den Hauptversammlung.
A. Administrative Sitzung.
1. Jahresbericht, erstattet vom Secretär Dr. Ronsblirger.
2. Rechnungslegung des Oekonomen Docent Dr. Roth für 1899.
3. Wahl neuer Mitglieder.
4. Wahl der Functionäre.
•
B. Wissenschaftliche Sitzung.
Demonstrationen. (Angemeldet Dr. Hanszel und Prof. Chiari.)
*
Gemäss § 26 der Statuten ist zur Beschlussfähigkeit die Anwesenheit
von mindestens zwei Drittel der ordentlichen Mitglieder erforderlich. Ist diese
Anzahl in einer Hauptversammlung nicht vorhanden, so kann eine neue
eine Stunde später einberufen werden, welche ohne Rücksicht auf die Zahl
der anwesenden Mitglieder über das Programm der ersten Hauptversamm¬
lung zu beschlossen berechtigt ist.
Wiener medicinisches Doctoren-Collegium.
Programm
der am
Moutag, den 29. Januar 1900, 7 Uhr Abends
im Sitzungssaale des Collegiums: I., Kothenthurmstrasse 21,23
unter dem Vorsitze des Herrn Prof. Obersteiner
stattfindenden
Wissenschaftlichen Versammlung.
Docent Dr. Rieh. Braun-Fernwahl: Ueber Perforation des Uterus bei
gynäkologischen Eingriffen.
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumiiller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, Jos. Gruber,
M. Gruber, M. Kaposi, Ph. Knoll, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing,
I. Neumann, R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. v. Vogl, J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gussenbauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Verlagshandlung :
Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel. Telephon Nr. 6004.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VI 1 1/1, Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang. Wien, 1. Februar 19ÖO. Nr. 5.
Oie „Wiener klinische
Wochenschrift“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von minde¬
stens zwei Bogen Gross-
qnart.
Zuschriften für die Kedac-
tion sind zn richten an
Dr. Alexander Fraenkel,
IX 3, Maximilianplatz,
Günthergassei. Bestellun¬
gen nnd Geldsendungen an
die Verlagshandlung.
Redaction :
Telephon Nr. 3373.
Verlagshandlung :
Telephon Nr. 60U4.
INHALT:
I. Originalartikel : 1. Ueber die Einschränkung1 der Laparotomie zu
Gunsten der vaginalen Cöliotomie. Von Prof. F. Schauta.
2. Ovariotomie per anum. Von Docent Dr. Hubert Peters.
3. Aus der Klinik G. Braun in Wien. Ueber Luftembolie bei Pla¬
centa praevia. Von Dr. Hugo H ü b 1, Assistenten der Klinik.
4. Aus der k. k. pädiatrischen Klinik des Prof. Eseherich in
Graz. Ueber die nach Gram färbbaren Bacillen des Säuglings¬
stuhles. Vorläufige Mittheilung. Von Dr. Ernst Moro, klinischem
Assistenten.
II. Referate: Geburtshilfliche Propädeutik. Von Dr. Ludwig Knapp.
Ref. Piskacek. — I. Ueber epitheliale Gebilde im Myometrium
des fötalen und kindlichen Uterus, einschliesslich des Gartner-
schen Ganges. Von Robert Meyer. II. Die gestielten Anhänge
(Alle Rechte Vorbehalten.)
des Ligamentum latum. Von Docent Dr. Emil R o s s a. III. Die
Einschränkung des Bauchschnittes durch die vaginale Laparotomie
Kolpokoeliotomia anterior). Von Prof. A. Dührssen. Referent
H. Ludwig. — Die Pathologie und Therapie der Sterilität
beider Geschlechter. Von E. Finger und M. Sänger. Referent
Redlich. — I. Lehrbuch für Heilgehilfen und Massöre. Von
Sanitätsrath Dr. Granier. II. Anleitung zur Krankenpflege. Von
Sanitätsrath Dr. E. Aufrecht. III. Monatsbuch für Kranken¬
pflegerinnen. Von E. H. v. Z a g o r y. Ref. Julius Sternberg.
III. Alis verschiedenen Zeitschriften.
IV. Notizen.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
Ueber die Einschränkung der Laparotomie zu
Gunsten der vaginalen Cöliotomie.
Von Prof. F. Schauta.
Vortrag, gehalten in der k. k. Gesellschaft der Aerzte am 26. Januar 1900.
Von den sämmtlicken Fächern der praktischen Medicin
hat wohl keines im Laufe der letzten Jahrzehnte so einschnei¬
dende Umwandlungen, so rapide Fortschritte aufzuweisen, wie
das Fach der Gynäkologie. Das kommt wohl zum Tlieile daher,
dass man vor einem Zeiträume von etwa 50 Jahren kaum
von einer Gynäkologie als einer wissenschaftlich betriebenen
und zielbewusst therapeutisch vorgehenden Disciplin sprechen
konnte. Selbst in dem Lande, von dem die grossen Neuerungen
der operativen Gynäkologie, Ovariotomie und Myomotomie,
ausgegangen waren, war Anfangs der Fünfziger- Jahre die Gynä¬
kologie noch in den ersten Anfängen. Charakteristisch dafür
ist die folgende Geschichte: Emmet erzählt in seiner Ge-
dächtnissrede auf Marion Sims, dass ein hervorragender
New Yorker Arzt und Chirurg den Vorschlag Sims’ auf Er¬
richtung eines Frauenhospitals mit den Worten ablehnte, es
sei wohl leicht Eiehenrinde gegen Leukorrhoe zu verschreiben,
eine Erosion der Portio mit Silbernitrat zu ätzen oder einen
Ring bei Prolaps einzulegen, aber wozu man zu alledem ein
Spital brauche, das verstehe er nicht. Es würden sich für ein
solches kaum genug Kranke finden. Das war im Jahre 1853.
Viele von Ihnen erinnern sich noch des grossen Auf¬
sehens, welches in den Sechziger-Jahren das Erscheinen der Ge¬
bärmutterchirurgie Marion Sims’ erregte. Doch wenn Sie
in diesem Werke blättern, so finden Sie nebst einer umfäng¬
lichen Abhandlung über die Sterilität des Weibes, über künst¬
liche Befruchtung doch nur die Schilderung vaginaler Ope¬
rationen ohne Eröffnung des Bauchfelles. Auf diesem Stand¬
punkte stand eben zu jener Zeit, die ja gar nicht so weit
hinter uns liegt, noch die operative Gynäkologie.
Allerdings müssen wir zugeben, dass schon lange vorher
Versuche gemacht worden waren, gynäkologische Leiden durch
Cöliotomie, d. h. durch Operationen mit Eröffnung des Peri¬
toneums auf vaginalem und abdominalem Wege zu heilen. Ich
brauche ja nur zu erinnern an die Thatsache, dass schon 1809
Mac Dowell in Kentucky die erste Ovariotomie in Amerika,
1825 Lizars in Edinburgh und 1844 Kiwi sch in Prag
dieselbe Operation ausgeführt haben ; dass ferner 1822 Sauter
in Constanz die erste vaginale Totalexstirpation und 1825
Langenbeck die erste abdominale Totalexstirpation des
Uterus vollfükrten. Aber alle diese Operationen waren nichts
mehr als kühne Versuche, denen der Erfolg zum Theile fehlte
und die erst durch Einführung der Antisepsis ihre Wiedergeburt
zu feiern bestimmt waren. Ein hervorragender Chirurg jener Zeit,
Johann Friedrich Dieffenbach, bezeichnete die Re¬
sultate jener Operationen als Beweis, dass dieselben aus dem
Gebiete der Chirurgie gänzlich zu verbannen seien. Die unter¬
nommenen Ausschneidungen der Gebärmutter trügen mehr
den Charakter von Mordgeschichten, als den heilbringender
chirurgischer Operationen. Eine Operation habe sich deshalb
kaum noch Bürgerrecht erworben, weil irgend ein Mensch
dieselbe einmal überlebt habe. Wenn der englische Kutscher,
dem die Deichsel quer durch die Brust fuhr, oder der amerika¬
nische Matrose, dem ein Ankerhaken durch den Leib ging,
geheilt wurden, so sind das nur Zufälle, schwerer zu Stande
zu bringen als das grosse Los zu gewinnen. So schrieb
Dieffenbach im Jahre 1848. Es ist begreiflich, dass durch
diese und ähnliche Verdammungsurtheile die operativen B -
Strebungen der Chirurgen und Gynäkologen auf dem Gebiete
der peritonealen Operationen für lange Zeit hinaus unmöghe i
gemacht wurden. Erst in den Siebziger- Jahren feierten diese
102
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 5
Operationen unter dem Einflüsse der Antisepsis ihre Re¬
habilitation. Der erste, der die Antisepsis in Deutschland bei
Laparotomien in Anwendung zog, war Hegar. Bei uns in
Wien wies Billroth den Chirurgen und Gynäkologen in
dieser Hinsicht den Weg. Unter dem Einflüsse der Antisepsis
feierten alle die Operationen, welche schon in der ersten Hälfte
unseres Jahrhundertes von kühnen Männern versucht worden
waren, ihre Wiedergeburt. So führte 1878 W. A. Freund
die abdominale Totalexstirpation wieder in die Gynäkologie
ein, 1879 vollführte Czerny die erste vaginale Totalexstir¬
pation unter dem Einflüsse der Antisepsis. Aus dem Jahre
1872 stammen die ersten Castrationen durch Battey und
Hegar und 1879 führte Lawson Tait die Salpingotomie
in die Reihe der gynäkologischen Operationen ein. Aus der¬
selben Zeit (1876) stammt auch die Einführung der Porro-
Operation in die Geburtshilfe und die Untersuchungen über
die Verbesserungen des conservativen Kaiserschnittes durch
Sänger. In den Achtziger-Jahren entstanden dann dieOperationen
der abdominalen und vaginalen Fixation des Uterus durch
01 shausen, Dührssen, Mackenrodt, die, obwohl auch
heute noch ein viel umstrittenes Gebiet, doch den grossen
Werth hatten, dass sie die Gynäkologen die vaginalen Wege
in die Bauchhöhle kennen lehrten und so zu bedeutenden
Verbesserungrn der Technik der vaginalen Cöliotomie den
Anstoss gaben.
Heute stehen fast auf allen Gebieten der operativen
Gynäkologie vaginale und abdominale Methoden einander
gegenüber. Doch bestehen bezüglich der Abgrenzung der
Methoden gegeneinander noch immer wesentliche Differenzen.
Die Mehrzahl der deutschen Gynäkologen zählt zu den An¬
hängern der Laparotomie und die Anhänger der vaginalen
Cöliotomie finden wir in zwei Lager gespalten, indem die
Einen die Versorgung blutender Gefässe durch Ligaturen, die
Anderen mit Klemmen und in neuerer Zeit durch die so¬
genannte Angiotripsie systematisch durchführen. Die Frage
der Blutstillung bei vaginalen Radicaloperationen scheint mir
aber nicht so sehr eine Frage über die Art der Blutversorgung
als eine Frage der Technik überhaupt zu sein, worauf ich
übrigens hier nicht näher eingehen will.
Wenn wir hier von einer Gegnerschaft zwischen den
Anhängern der abdominalen und vaginalen Methode sprechen,
so ist dieselbe keine absolute, etwa in dem Sinne, dass die
Einen nur vaginal, die Anderen nur abdominal operiren. Es
gibt Fälle, in denen zweifellos nur die vaginale, und Fälle, in
denen ebenso nur die abdominale Methode in Betracht
kommen kann.
Ein Myom, das den Bauchraum vollkommen ausfüllt,
wird Niemand anders als durch Laparotomie operiren, ob er
nun ein Anhänger oder Gegner der vaginalen Operation in
dem oben genannten Sinne ist, und wenn es sich um die Ent¬
fernung eines prolabirten Uterus handelt, so wird ebenso
sicher der vaginale Weg sich Jedermann aufdrängen, ob er
nun jener oder dieser Richtung angehört.
Aber diejenigen Operationen, welche die Grenzgebiete
einnehmen, sind es. welche noch Streitobjecte bilden und für
welche von den Einen der vaginale, von den Anderen der ab¬
dominale Weg bevorzugt wird. Die Frage scheint nicht un¬
berechtigt zu sein, ob denn dieser Streit nicht überhaupt ein
müssiger sei? Jeder Operateur verfolgt doch ein und dasselbe
Ziel, das ist: die Kranke zu heilen, und es erscheint wohl
gleichgültig, ob man dieses Ziel auf dem vaginalen oder ab¬
dominalen Wege zu erreichen sucht.
Geht man aber näher in die Betrachtung der hier mass¬
gebenden Factoren ein, so scheint die Frage denn doch nicht
so gleichgiltig, wie sie auf den ersten Blick erscheinen könnte ;
denn für die vaginale Operation sprechen gewisse Gründe, die
tür die Patientin von schwerwiegender Bedeutung sind. Zunächst
hat die vaginale Operation den Vortheil des Wegfalles der
Bauchnarbe. Mit der Eröffnung der Bauchdecken stehen in
\ erbindung die Gefahren der Stichcanaleiterung, der Infection
von den Bauchdecken aus, die Gefahr der späteren Hernien¬
bildung, die Gefahr der Verwachsung der Bauchdeckennarbe
mit Netz und Darm. Ferner spricht für die vaginalen Opera¬
tionen die Möglichkeit der breiten Drainage in der natürlichen
Richtung gegen die Scheide und endlich vor Allem ihre ge¬
ringere Mortalität. Denn wenn wir die sämmtlichen vaginalen
Cöliotomien gegen die abdominalen Cöliotomien vergleichen,
so ergibt sich immerhin ein Mortalitätsprocent, das bei vaginaler
Operation etwa halb so gross ist als bei abdominaler Aus¬
führung derselben Operation. Andererseits sprechen gegen die
vaginale Ausführung der Cöliotomie erstens die grösseren
technischen Schwierigkeiten, zweitens die geringere Ueber-
sichtlichkeit des Operationsterrains, die schwierigere Blut¬
stillung und endlich die engeren Grenzen, welche der Operation
naturgemäss gezogen sind. Deshalb darf die Frage der Ein¬
schränkung der Laparotomie zu Gunsten der vaginalen Cölio¬
tomie niemals in dem Sinne beantwortet werden, als ob es
sich hier jemals um einen vollkommenen Ersatz, um eine voll¬
kommene Verdrängung der Laparotomie zu Gunsten der va¬
ginalen Operationen handeln könne. Ein solcher Ersatz, eine
solche Verdrängung ist absolut nicht denkbar, selbst wenn
sich unsere technischen Hilfsmittel noch bedeutend verbessern
würden.
Es handelt sich also im Einzelfalle darum, sorgfältig die
Gründe für und wieder jeden der beiden in Betracht kom¬
menden Wege gegen einander abzuwägen und ich will sofort
erwähnen, dass diese Erwägungen durchaus keine allgemeinen,
für alle Fälle gütigen sein können, sondern dass sie immer
wieder im Einzelfalle von Neuem angestellt werden müssen und
dass nur auf diese Weise für jeden einzelnen Fall der richtige
Weg ausfindig gemacht weiden kann. Bezüglich der Art der
Operation entscheiden im einzelnen Falle die anatomischen
Verhältnisse, der Zustand der Patientin und auch individuelle
Verhältnisse, die mitunter schwer in die Wagschale fallen.
Der Arzt entschliesst sich vielleicht im einzelnen Falle leichter
zur Laparotomie; sie gewährt ihm die bessere Uebersicht und
ist im Allgemeinen auch technisch leichter auszuführen; die
Patientin hingegen entschliesst sich leichter zu dem vaginalen
Eingriffe.
Ich möchte mir nun erlauben, Ihnen die Grundsätze
mitzutheilen, nach denen ich nun nach langjähriger Erfahrung
bei der Wahl des Operationsweges vorzugehen gewohnt bin.
Diese Grundsätze haben sich mir allmälig herangebildet an
einem Materiale von mehr als 2500 Cöliotomien, die bis Ende
1899 in privater und klinischer Thätigkeit theils von mir
selbst, theils unter meiner Leitung von meinen Assistenten
ausgeführt wurden. Ausser der Feststellung des Operations¬
erfolges war ich jedoch bestrebt, in jedem Falle auch
über das spätere Befinden meiner Operirten Nachrichten zu
erhalten. Der vorliegenden Betrachtung über die Dauererfolge
lege ich jedoch nur das Material zu Grunde, das ich bis
Ende 1898 operirt habe, und zwar deshalb, weil ja natur¬
gemäss von Dauererfolgen erst nach einem längeren Zeiträume
gesprochen werden kann und auch die Nachforschungen
längere Zeit in Anspruch nahmen.
In der Statistik von operativen Eingriffen spielten bis
vor Kurzem noch die unmittelbaren Operationserfolge eine
grosse Rolle; das gilt besonders von den hier in Frage
stehenden Operationen, welche bis in die jüngste Zeit noch
zu den gefährlichsten Operationen überhaupt gehörten. Es war
also gewiss ein Verdienst, bei dieser oder jener Operations¬
methode die Sterblichkeitsziffer herabgedrückt zu haben. Aber
allmälig wurde das Resultat fast aller der so verschiedenen
Operationsmethoden so günstig, dass wesentliche Unterschiede
— wenn man absieht von den zufälligen Schwankungen, wie
sie unter Zugrundelegung grösserer oder kleinerer Zahlen sich
ergeben — sich nicht mehr erkennen Hessen. Nunmehr scheint
es an der Zeit zu sein, für den Werth oder Unwerth einer
Operationsmethode nicht mehr ausschliesslich den augen¬
blicklichen Operationserfolg ins Auge zu fassen. Heute
erscheint es nicht mehr als ein so grosses Verdienst, eine
Frau, welche man wegen eines an sich doch nicht immer
unmittelbar zum Tode führenden Leidens operirt hat, am
Leben erhalten zu haben, wir haben vielmehr die Aufgabe,
zu untersuchen, ob es uns auch gelungen ist, die Beschwerden,
wegen welcher wir die Frau operirten und welche ihr Lebens-
farbeujabriken v»™. frieDr. Bayer S Co..
ELBEKFHLl).
Abtheilung für pharmaeeutisehe Produkte.
allen Krankheiten, bei denen bisher Salicylsäure und
salicyl saures Natron in Anwendung kamen, also ins¬
besondere Gicht, Gelenk- und Muskelrheumatismus, Ischias, Pleu¬
ritis sicca, etc., hat sich infolge seiner vielen Vorzüge das ASPIRIN
als ein vollwertiger Ersatz für die genannten Salicylate
erwiesen.
Das ASPIRIN ist Acetylsalicylsäure und bildet weisse
Krystallnädelchen vom Schmelzpunkte 135°, welche sich in Wasser
von 37° zu l°/o lösen.
„Es wird durch Säuren nicht zersetzt, dagegen löst es sich
leicht in verdünnten Alkalien und zerfällt darin nach kurzer Zeit
in seine beiden Componenten, sodass der Schluss gerechtfertigt
erscheint, dass die Substanz erst in Berührung mit alkalischen
Flüssigkeiten in ihre Bestandteile gespalten wird. Der wichtigste
Unterschied des ASPIRINS gegenüber der gewöhnlichen Salicyl¬
säure wäre also der, dass es den Magen nicht angreift, den¬
selben unverändert passirt und erst im alkalischen Darm¬
saft, im Blut und in den Gewebslymphen zur Spaltung gelangt.“
(Witthauer.)
Künstliche Verdauungsversuche, welche an der vonLeyden-
sehen Klinik in Berlin von Dr. Wohlgemuth (Therap.
Monatsh. 5 9) mehrfach angestellt wurden, bestätigen diese schwere
i>. l.
Löslichkeit und langsame Zerlegung des ASPIRINS bei Gegen¬
wart verdünnter Säuren, sodass eine nennenswerthe Abspaltung
von Sali cylsäure im Magen als vollkommen ausgeschlossen
gelten kann. Daher erklärt denn auch Wohlgemuth das ASP IRI N
insofern als ein „verbessertes E r sa tz m it tel“ für das salicyl-
saure Natrium, als es, bei gleicher Heilkraft, die unan¬
genehmen Begleiterscheinungen, wie Magenbeschwerden ,
Appetitlosigkeit n i ch t zur Folge hat. Seine Patienten, die teils
an akutem Gelenkrheumatismus, teils an rheumatoiden Schmerzen
in den Muskeln und Gelenken im Gefolge anderer Krankheiten
(Scharlach, Diphtherie, Angina) litten, erhielten sämtlich bis 8 Tage
hintereinander dreimal täglich ASPIRIN mit gutem Erfolge,
ohne jemals über irgend welche Nebenwirkungen
zu klagen.
Dr. Witthauer, Oberarzt am Diakonissenhaus zu
Halle a. S. (Heilkunde 7/98) hat das ASPIRIN an über
50 Patienten erprobt, von denen nicht ein einziger sich in
irgend einer Beziehung über dasselbe beschwert hat. Stets nahmen
es die Kranken gern und ohne Wiederstreben und solche, die schon
vorher andere Salicylpräparate bekommen hatten, r ü h m te n den
bei weitem angenehmeren Geschmack. Es wurde bei
allen Krankheiten versucht, die sonst mit salicykaurem Natron
behandelt werden, vorwiegend bei Gelenk- und Muskel¬
rheumatismus und Pleuritis sicca und exsudativa.
Die Wirkung war mindestens die gleiche, wie die des Natrons,
zuweilen brachte es auch d.a Erfolg, wo dieses beim
Natron ausgeblieben war. Bei der Gicht schien es zweifel¬
los besser zu helfen als dieses. Das Mittel versagte nie
in seiner Beeinflussung der Schmerzen, der Schwellungen und des
Fiebex-s und übte nie eine ungünstige Wirkung auf
Herz und Magen, auch bei den Schwerkranken, aus. Auch war
es erstaunlich, wie gut sich der Appetit erhielt, selbst bei
Patienten, die längere Zeit hindurch ASPIRIN nehmen mussten.
Dr. Lengyel-Bu dap es t (Heilkunde 8/99) bringt in aus¬
führlich mitgeteilter Casuistik besonders zwei Fälle in Erwähnung^
in denen bei Aspiringaben rasch eine allgemeine Besserung
eintrat, während sich die gewöhnlichen Salicylpräparate als un¬
wirksam erwiesen.
B
Besonders hebt er hervor, dass die Herzarbeit sine geregeltere
wurde. Bei dem einen Fall, in welchem durch Verabreichung
von Natrium salicylicum die Herzleistung so schwach und regellos
wurde, dass man dasselbe eine zeitlang aussetzen musste, blieb
nach Eingabe von ASPIRIN die Herzarbeit gut,
kräftigte sich sogar.
Das entspricht den Beobachtungen, welche Herr Prof.
H. Dreser (Archiv f. d. ges. Physiolog. 1899. p. 76) bei seinen
umfangreichen pharmakologischen Untersuchungen über das
ASPIRIN hinsichtlich dessen Verhalten zum Herzen gemacht hat.
In derselben äquimolekularen Concentration drückte Natriumsalicylat
die Arbeitsleistung des Herzens herab, während ASPIRIN-
N atrium sie steigert.
Dr. Wolff berg-lüv eslau (Wochenschr. f. Therap. und Hyg.
d. Auges 47. 99) bediente sich des ASPIRINS in seiner Augen¬
praxis in etwa 20 Fällen, in denen es ohne jede Beschwerde
vertragen wurde und niemals wirkungslos blieb. Besonders an¬
geführt sind Glaucoma chronic, und haemorrhagic, Iritis
nach Gonorrhoe, wobei der günstige Einfluss des ASPIRINS
unverkennbar war; ferner Episcleritis im Verein mit rheuma¬
tischen Beschwerden, Episcleritis mit schmerzhafter
Ischias, sowie Gichtanfällen, wo die Darreichung von salicyl-
saurem Natrium stets von Erbrechen gefolgt war, während
ASPIRIN tadellos vertragen wurde.
Desgleichen erwähnt Dr. Schmeichler- Brünn (Wiener med.
Wochenschrift 88, 99) einen Fall von Iritis rheumatica,
sowie einen solchen von Glaskörpertrübung, wo salicylsaures Natron
in jeder Form Magenbeschwerden verursacht, während ASPIRIN
mit Vorteil angewendet werden konnte. Bei einer Frau, die an
Migräne, in Form von Supraorbitalneuralgie litt, brachten
2,0 gr. ASPIRIN in halbstündigem Intervalle genommen, den
Anfall zum Schwinden.
Aus der zweiten med. Universitätsklinik zu Buda¬
pest berichtet Dr. Ketly über 12 Fälle von akuter Polyarthritis
und sechs Fälle von rheumatischen Schmerzen, in denen er die
Vorzüge des ASPIRINS vollauf bestätigt fand.
Die Kranken verspürten nie Kopfschmerzen, Ohrensausen
oder Brechgefühl, die Herzt hätigkeit und Temperatur
4
wurde überhaupt nicht beeinflusst, auch bei längerem
Gebrauche nicht. In einzelnen Fällen konnten selbst bei
wochenlanger Anwendung keine unangenehmen
Nebenerscheinungen beobachtet werden. Die Wirkung stellte
sich spätestens nach einer halben Stunde in Form von starkem
Schwitzen ein; das Schwitzen übertraf bei weitem die
Wirkung des Natrium salicylicum. Es wurde die Er¬
fahrung gemacht, dass auch das Aspirin, wie Salophen und Natrium-
salicylat, am energischesten und anhaltendsten dann wirkt, wenn
die Einzeldosen (in Oblaten) nicht in grossen Zwischenräumen
gegeben werden, sondern möglichst concentrirt in den Abendstunden
in stündlichen Intervallen ; dann übt das ASPIRIN am erfolg¬
reichsten seine schmerzstillende, antipyretische antiphlogistische
und spezifische Wirkung und sichert am besten die Nachtruhe.
Die ausserordentlich günstige Beurteilung, welche das
ASPIRIN allgemein gefunden hat, dürfte seine weitere Verwendung
an Stelle der bisher gebräuchlichen Salicylate in allen einschläg-
liclien Fällen rechtfertigen, umsomehr, als zu seinen sonstigen
hervorragenden pharmakologischen Eigenschaften als ein weiterer
nicht zu unterschätzender Vorzug, der angenehm schwach säuer¬
liche Geschmack des ASPIRINS gegenüber dem widerlich
süss schmeckenden Natrium salicylicum, sich hinzugesellt.
Als Einzeldosis wird vom ASPIRIN 1,0 gr. 4 — 5 mal täglich,
am zweckmässigsten mit der 3 — 4 fachen Menge Zucker in etwas
Wasser eingerührt, in Form eines limonadeartigen Getränkes,
verabreicht.
Litteratur :
Dr. R. Witthauer. ASPIRIN, ein neues Salicylpräparat. Die Heilkunde.
Heft 7, April 1899.
Dr. J. Wohlgemuth. Ueber ASPIRIN (Acetylsalicylsäure). Therapeut. Monats¬
hefte, Heft 5, Mai 1899.
Prof. H. Dreser. Pharmakologisches über ASPIRIN. Archiv für d. ges.
Physiologie, B. 79, 1899.
Dr. L. Lengyel. ASPIRIN, ein neues Salicylpräparat. Die Heilkunde.
Heit 18, August 1899.
Dr. Wolffberg, ASPIRIN. Wochenschr. f. Therap. u. Hygiene d. Auges.
No. 47, August 1899.
Dr. Schmeichler. ASPIRIN. Wiener med. Wochenschrift, No. 38, Sept. 1899.
Dr. Ketly. ASPIRIN. Die Heilkunde. Heft 1, Oktober 1899.
Proben stehen den Herren Aerzten gratis zur Verfügung.
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terienhaltigen Schuppen und Fett par tikeln. Für Aerzte,
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bei nötiger Uebung des Keinigungsmodus vollkommen
jede chemische Desinfection für Hände und Operations¬
gebiet. Bestes Reinigungsmittel nach ärztlicher Ver¬
unreinigung mit Blut, Eiter etc., auch für Scheide,
Rectum, Mundhöhle vorzüglich.
Wegen des hohen Gehaltes an löslichem Wachs
ein vorzügliches kosmetisches Mittel zur Erzielung
zartester Hände. Der Marmorstaub wirkt, in Seife¬
körper, Stearinpaste und Wachs eingehüllt, in mildester,
ganz reizloser Form.
Zur Schuppenentfernung bei Psoriasis, Scharlach,
etc., zur Befreiung von Acne, Comedonen und Furun¬
culosis unions
500, o 0,75, 1 Ko. 1,40 Mk.
2. pasta jjeptonata
Reizlose Klebpaste, organischer Hautleim, auch
über die Kopfhaare verstreichbar und fixirbar, circu-
lär umWunden zu streichen, Fixation des Gazebausches
über der Wunde durch Bedeckung mit einem Gaze¬
schleier, dessen Peripherie an dem circularen Pasten¬
ring fixirt wird.
Ulcus cruris therapii, Ersparung von Rinden an
Kopf, Extremitäten etc.
Mit Jodoform, Ichthyol, Dermatol, etc. (10%) auf
Schleimhäuten, Mund, Nase, Endometrium, Scheide
verstreichbar. Verbände mit warmem Wasser auf¬
lösbar.
50, 0 I , — , 100, 0 1,75, 1 Ko. 15 Mk.
3. pasta pcpton c. Jiydrargyr.
Wasserlösliche Quecksilber-Streichpaste (Schleich-
sche Iuunctionscur) mit einem Pinsel bis zur vollendeten
Auftrocknung zu 5 bis 10 Gr. über Brust, Rücken
und Bauch aufzutragen. Bei ersten Symptomen von
Salication und Gingioitis ist durch ein Bad die In¬
toxication zu beseitigen. Daher Ermöglichung hoher
Inunctions-Dosen (20 - 25 Gr.) bei gefahrbringenden Lues¬
symptomen durch Arzt oder Patienten selbst ausführ¬
bar. Mit Zinnober färbbar zur Verheimlichung der
Schmiercur.
50
)C
1,25.
1<X),0 2,—, 200, j 3,50 Mk.
4. pasta serosa.
Aus sterilem Rinderblutserum bereitete, völlig-
reizlose Zinkpasta. Ueberaus wirksam bei Dermatitis,
Intertrigo, .Wunddesquamation- und Maceration, bei
Verbrennungen (1. und 2. Stadium). Zur Austrock¬
nung der Unterschenkelexzeme und Coriumentblössungen
nach Scheidencatarrhen. Bei scrophulösen Exzemen
mit Ungt. hydrarg. oxyd. flav. (10?/0) aa mischbar.
10, 0 0.30, 10(),0 2,—, 1 Ko. 10,— Mk.
5. Kosmetischer Hautcreme.
Ungt. ceratum via frigid, paratum hydric mit
Zinc. oxyd. Mittel zur ständigen Salbung von Arm
und Hand des Chirurgen, bis zur völligen Fettlosig-
keit einreibbar. Creme für Kinderhaut, Rhagaden,
Frostbeulen, eingesprungene Haut und Lippen.
20,o 0,50, 50, 0 1,-, 100, o 1,50, 200, 0 2,25 Mk.
6. pnWis serös sterilis.
Streupulver für nässende Flächen und zur Reini¬
gung beschlagener Geschwüre.
50,0 1,50. 1 00, o 2,50, 1 Ko. 20,— Mk.
7. puWis serös c. Glutol („Schering“).
Wundpulver für inficirte, beschlagene, Nekrosen-
haltige Wunden und Wundhöhlen. Es empfiehlt sich
für nicht aseptische Wunden unmittelbar nach der
Operation reines Glutol, für die folgenden Verbände
das Glutol mit Serum gemischt zu verwenden.
10.0 0,80, 100, 0 7,50 Mk.
8. Pasta ccrata.
Wasserhaltiges Waschpräparat, in jedem Ver¬
hältnis mischbar.
50,o 0,30, 100, o 0,50, 1 Ko. 4,50 Mk.
9. Jtydrocerin (Schutzmarke).
Wasserhaltiges Wachsvaselin, (Ungt. cerovaselis.
hydric via frigida parat.) Beste Salbengrundlage zum
Ex’satz von Lanolin und Adeps lanae, deren wirksames
Prinzip der Wachsgehalt ist. Vorzügliches Massage¬
mittel wegen Erzeugung eines hohen Wärmegrades
über den massirten Partien.
50,(, 0,40, 100, 0,75, 1 Ko. 6,— Mk.
10. Jtydwtcrin (Schutzmarke).
Wasserhaltiges Stearin-Vaselin; billigste Salben¬
grundlage und brauchbarstes Touchirfett.
50,0 0,20, 100,o o.30, 1 Ko. 2,— Mk.
11. Jalia auaesthetica.
Zur Infiltrations-Anestesie. Die stenlisirten Salz¬
mischungen in Tablettenform genau dosirt.
No. I für starke Lösung 10 Stück 3,50 Mk.
„ II „ normale „ 10 „ 1,75
III
schwache
10
0,60
12. Pr. Schleich'; ptarljosengemischc.
Narkose mit eingestelltem Verdunstungsoptimum
Für Narkosen
Schleichs Narkosengemische I.
(Verdunstungsoptimum bei 38°)
100, o 1,75, 200, o 3,- Mk.
Schleichs Narkosengemische 11.
(Verdunstungsoptimum bei 4o°)
100.0 1,75, 200, o 3,— Mk.
Schleichs Narkosengemische III.
(Verdunstungsoptimum bei 42°)
100/0 1,75, 200, o 3,— Mk.
13. Die Dr. Schleich’schen Masken aus Pappestreifen
und einem Handtuch in einfacher und sehr zweck¬
dienlicher Weise hergerichtet, sind stets vorräthig.
14. pasta dentifricia Schleich
Zur exakten Sterilisation und Kosmetik der
Mundhöhle.
In Tuben 0,75, 10, e 0,15, 100, 0 1,00, 1 Klo. <;50.
15. Vlachs-Vaselinbinden
5 mtr. lang, 8 cm breit 1,50 M., 1 m 0,50
5 >, ?! ° » » 1,2» „ „ „ 0,40
Mit Zusatz von Zink, Borsäure, Ichthyol, in jedem
Verhältnis zu haben.
Diese Präparate und ihre Anwendung findet man
beschrieben in Dr. Schleich s „Neue Methoden der
Wundheilung“ bei Julius Springer, Berlin (neueste Auf¬
lage), in den Verhandlungen des Chirurgencongresses
(1892—95). ln verschiedenen Nummern der Therapeu¬
tischen Monatshefte, ferner in Liebreich’s „Encyclo¬
paedic der Therapie“, s. Artikel „Asepsis“, „Antisepsis 1
und „Auaesthetica“.
Die hier angeführten Preise sind Verkaufspreise für das Publikum.
*H7ictoria~<JlpotReRQ9 ^erlitt riefisfr. 19
Inh. Dr. Iiaboscliin.
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Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
103
gcnuss und Arbeitsfähigkeit schmälerten, zu beseitigen; wir
müssen es geradezu fordern, dass die Operationsstatistiken uns
nicht nur die nackten Zahlen der Mortalität geben, sondern
uns auch über die Frage der Dauererfolge unterrichten. Erst
wenn wir auch diese Zahlen besitzen und mit denen der Mor¬
talität vergleichen, wird sich uns der Schluss für diejenige
Operationsmethode, welche wir bei sonst gleichen Bedingungen
bevorzugen sollen, fast von selbst ergeben.
Eine Kritik des vaginalen und des abdominalen Ope¬
ration sweges kann nur dann erfolgreich an gestellt werden,
wenn wir gleichartige Anomalien vergleichen.
Ich möchte nun, bevor ich auf mein Thema näher ein¬
gehe, die Bemerkung einschalten, dass ich in die Besprechung
der palliativen Incisionen bei Tubercnlose des Bauchfelles,
Ascites, maligner Neubildung, bei Peritonitis und retroperito-
nealen Abscessen, Darmstenose u. dgl. m. hier nicht eingehe,
da dieselben keine Vergleichsobjecte zwischen vaginaler und
abdominaler Cöliotomie bilden, indem bei ihnen wohl ausschliess¬
lich der abdominale Weg in Betracht kommt. Ebensowenig
werde ich auf die Cöliotomie auf sacralem und perinealem
Wege hier näher eingehen, zunächst wegen ihrer Seltenheit
und dann auch deshalb, weil sich diese Wege nicht ohne
Weiteres mit den abdominalen und vaginalen Wegen ver¬
gleichen lassen.
Ich beginne mit der ältesten gynäkologischen Peritoneal¬
operation, mit der Ovariotomie. Die Gfeschichte der abdo¬
minalen Ovariotomie kann ich als bekannt voraussetzen. Erst
der neueren Zeit war es Vorbehalten, die Operation \ on
Ovarialcysten in gewissen Fällen auf dem vaginalen Wege aus¬
zuführen. Allerdings reicht auch hier schon die Geschichte
weiter zurück, denn schon aus dem Jahre 1857 stammt dei
erste Fall vaginaler Ovariotomie, ausgeführt von Atlee; doch
erst in den Siebziger-Jahren finden wir eine methodische Aus¬
führung dieser Operation bei Gaillard Thomas, Goo¬
de 11 1877 undBouilly 1886. Wenn bis dahin nur einzelne
Fälle derartiger Operationen vorgekommen waren, so konnte
1889 Bvford in Chicago über zwölf derartige Operationen
ohne Todesfall berichten. Von deutschen Operateuren stammen
die ersten derartigen Operationen von Leopold aus dem
Jahre 1891 und Bumm (1896). Dagegen sprachen sich jedoch
auch aus Fehling (1896), Steinthal und Hegar (1897).
Ich selbst konnte im Jahre 1897 23 Fälle von vaginaler
Ovariotomie mittheilen und stellte schon damals die Inoi-
cationen und Contraindicationen zur Operation fest, nach
denen ich auch heute noch vorgehe. Endlich will ich er¬
wähnen, dass auch Martin vor Kurzem bereits 131 Fälle
vaginaler Ovariotomie mit zwei Todesfällen bekannt machen
konnte.
Es ist nun an sich klar, dass für vaginale Ovariotomie
ganz besondere Bedingungen nothwendig sind. V ährend füi
die abdominale Ausführung dieser Operation besondere Ein¬
schränkungen nicht mehr geltend gemacht werden, muss man
für die vaginale Ovariotomie zunächst gute Beweglichkeit und
vollkommene Abwesenheit peritonealer Adhäsionen verlangen.
Sind schon Verwachsungen da. dann sollen sie entweder nui
sehr zart sein, oder sich an gut zugänglichen Stellen be¬
finden.
Die Diagnose der freien Beweglichkeit der Ovarientumoren
ergibt sich bei der bimanuellen Untersuchung, ferner aus dei
Thatsaehe, dass der Uterus nach hinten liegt, indem man
hicraus*den Schluss ziehen kann, dass der von H.. W. Fr eun d
als für Ovarialtumoren typisch angeführte Wanderungsmecha¬
nismus aus dem kleinen in das grosse Becken stattgefunden
hat. Ein weiteres sehr werthvolles Zeichen ist die respiratori¬
sche Verschiebung der Bauchdecken über die Kuppe des
Tumors und die Verschiebbarkeit des Uterus nach unten. In
der Kegel wird die Diagnose der freien Beweglichkeit der
Cyste auf dem Operationstisch in tiefer Narkose mit Sicherheit
gestellt werden können.
Als Contraindicationen ergeben sich erstens ausgebreitete
Verwachsungen, zweitens Stieldrehung längeren Bestandes,
dickflüssiger colloider Inhalt der Cysten, vielkämmerige Cysten
wegen der Nothwendigkeit des Morcellements, maligne Degene¬
ration mit Ausnahme der kleinen Tumoren, welche unver-
kleinert entwickelt werden können und intraligamentäre
Entwicklung bei Tumoren über Kindskopfgrösse; endlich die
Dermoide.
Sie werden nun mit Recht die Frage aufwerfen, ob alle
diese diagnostischen Details jedes Mal vor der Operation mit
Sicherheit feststellbar sind? Ich muss allerdings zugeben, dass
dies nicht immer der Fall ist. Aber bei wiederholter Unter¬
suchung, besonders in der Narkose, ergeben sich doch mit
annäherungsweiser Sicherheit die Symptome, welche für oder
gegen die vaginale Operation sprechen; in Fällen, in denen
ein Zweifel darüber besteht, halte ich es für besser, den ab¬
dominalen als den vaginalen Weg zu wählen. Uebrigens ver¬
schlägt es gar nichts, wenn man den vaginalen Weg begonnen
hat, denselben zu verlassen und die Laparotomie anzu-
schliessen.
Unter meinem Materiale finde ich zehn Fälle, wo ich
zum Verlassen des vaginalen Weges bei Ovariotomie gezwun¬
gen war: Dreimal waren ausgebreitete Verwachsungen, zweimal
Stieldrehung, zweimal maligne Degeneration, einmal ein col¬
loider Tumor, einmal intraligamentäre Entwicklung und einmal
besonders grosser Venenreichthum der hinteren Blasenwand
die Ursache für das Aufgeben des vaginalen Weges. In keinem
einzigen dieser Fälle hat der Wechsel des Operationsweges der
Patientin irgend einen Nachtheil gebracht; alle Fälle wurden
geheilt.
Bezüglich der Technik der Operation stehen sich zwei
Richtungen gegenüber: ein T heil der Operateure wählt den
vorderen Scheidenschnitt und sucht nach Ablösung der Blase
von hier aus in die Bauchhöhle zu gelangen, andere wählen
wieder den hinteren Scheidenschnitt. Für typische Fälle eignet
sich meines Erachtens der vordere Scheidenschnitt besser füi
die vaginale Ovariotomie. Denn wie schon früher erwähnt,
liegt das Cystom bei freier Beweglichkeit meist vorne, der
Uterus retrovertirt und die untere Kuppe des Tumors ist
vorne hinter der Symphyse leichter zu erreichen. Nur bei ganz
kleinen Eierstockstumoren, welche die Wanderung aus dem
kleinen Becken in die Becken-Bauchhöhle noch nicht vollzogen
haben und hinter dem Uterus im Douglas liegen, kann der
hintere Scheideu-Bauchschnitt den Vorzug verdienen.
Bis Ende des Jahres 1899 habe ich nun auf diesem
Wege 52 Fälle von Ovarialcystomen operirt, und zwar in
51 Fällen einseitige, in einem Falle beiderseitige Tumoren.
Alle diese Fälle wurden geheilt. Bezüglich der weiteren Schick¬
sale dieser Patientinnen muss ich erwähnen, dass ich unter
41 Fällen, die bis Ende 1898 operirt worden waren, in 79%
positive Erfolge in Bezug aut die Dauernachforschungen erhielt.
Unter diesen Fällen waren vollkommen geheilt und erfreuten
sich eines ungestörten Befindens 80*5%; in drei! allen wuide
eine neuerliche Gravidität mit spontanem Geburtsverlaufe be¬
obachtet. ')
An diese Fälle von reiner Ovariotomie auf vaginalem
Wege schliesst sich aber eine Reihe von Fällen an, in denen
die *Ovariotomie aus bestimmten Gründen mit Exstirpatio uteri
combinirt werden musste, und zwar entweder bei maligner
Neubildung, oder bei zu festen Verwachsungen, oder wenn es
sich darum handelte, eine ausgiebige Drainage durch die
Scheidenhöhle zu setzen, besonders aber bei Dermoiden och. i
bei vereiterten Cysten. Massgebend für das radicale Vorgehen
war ausserdem in einigen Fällen das hohe Alter der Kranken
und die Doppelseitigkeit der Erkrankung. In dieser Gruppe
finden sich 21 Fälle, welche also demgemäss als sehr schwere
Fälle anzusehen waren und habe ich auch in dieser Gruppe
drei Todesfälle zu beklagen, von denen jedoch nur zwei als
in directem Zusammenhänge mit der Operation stehende an¬
zusehen sind. . ,
Vergleiche ich mit diesen Erfolgen meine Resultate der
abdominalen Ovariotomie, so kann ich berichten über 273 Talle
einseitiger abdominaler Ovariotomie mit 24 T odesfällen, wovon
' i) O. Bürger, Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. 1900,
pag. 1.
K)4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. o
als direct der Operation zur Last fallend 6 angesehen werden
müssen, ferner beiderseitiger abdominaler Ovariotomie 68 Fälle
mit 10 Todesfällen, und directer Abhängigkeit von der Ope¬
ration 5 Fälle; endlich abdominaler Ovariotomie combinirt mit
Exstirpatio uteri 19 Fälle mit 3 Todesfällen.
Aus den Resultaten der weiteren Nachforschungen über
das Befinden dieser durch Laparotomie Operirten möchte ich
nur die eine Thatsache hervorheben, dass in 23'5°/o aller Fälle
Bauchhernien beobachtet wurden.
Wir kommen nun zu einem weiteren Capitel, das im
Laufe der letzten Jahre mannigfache Wandlungen erfahren
hat und das, wenigstens an meiner Klinik, fast vollständig aus
dem Capitel der abdominalen Cöliotomie in das der vaginalen
übergeführt wurde. Das ist nämlich das Capitel der ent¬
zündlichen Erkrankungen der Adnexe. Ueber die
operative Behandlung der entzündlichen Erkrankungen der
Adnexe, über deren Indicationen, Berechtigung, Technik und
Erfolge wurde in dieser Gesellschaft schon vor sechs Jahren
durch Chrobak berichtet. Damals und noch geraume Zeit
später handelte es sich, abgesehen von palliativen von der
Vagina ausgeführten Incisionen, fast nur um die auf dem
Wege der Laparotomie ausgeführten einseitigen oder beider¬
seitigen Entfernungen der entzündeten Adnexe mit Zurück¬
lassung des Uterus. Ich selbst habe in den Jahren 1893 und
1895 Gelegenheit gehabt, meine Anschauungen und Erfahrungen
auf den gynäkologischen Congressen zu Breslau und Wien
vorzulegen. Auch ich stand damals noch unter dem Eindrücke,
dass derartige Operationen mit seltenen Ausnahmen wohl nur
auf dem abdominalen Wege ausführbar seien. Auch schien es
uns, was ja zweifellos wichtig, dass die von uns Allen an¬
gestrebte Conservirung der Adnexe einer Seite nur auf dem
abdominalen Wege in sicherer Weise ausführbar sei. Erst
die mit einer grösseren Zahl
gemachten Erfahrungen haben
bei entzündlichen und eiterigen
Zunächst ergab sich, dass bei
ration nur in 23'5% der Fälle
in den anderen, also in mehr
von abdominalen Operationen
gelehrt, dass das Conserviren
Adnexen nicht am Platze sei.
abdominaler, einseitiger Ope-
vollkommene Genesung eintrat,
als drei Viertel der Fälle be-
Lageveränderungen fort
war für die Patientinnen
standen Schmerzen, Blutungen und
und der Erfolg der Operation
gleich Null.
Aber auch bei doppelseitigen Adnexoperationen waren
die Resultate nicht vollkommen befriedigende; ich fand in
meinen Fällen 59‘8% vollkommener Heilung. Legte man die
einfachen und doppelseitigen Adnexoperationen zusammen, so
ergab sich ein befriedigendes Dauerresultat in 56% der Fälle,
ein Resultat, das sich mit dem von Chrobak zur selben
Zeit mitgetheilten fast völlig deckte, indem Chrobak in
etwas mehr als der Hälfte der Fälle befriedigende Erfolge
erzielte.
Es warf sich nun die
Frage
auf, woher denn die Be¬
schwerden auch bei doppelseitiger Entferung der Adnexe her-
rühren könnten? Die Antwort ergab, dass es sich um Blutungen,
um Fluor und in vielen Fällen um Lageveränderungen des
Uterus, sowie auch um Stumpfexsudate handelte, Anomalien,
welche alle auf die Anwesenheit des Uterus zurückzuführen
waren. Die logische Consequenz dieser Erfahrungen war die,
den Uterus, der ja ohne Adnexe keine Function mehr
hatte, ebenfalls mitzuentfernen. So kamen wir zunächst zur
abdomina len Exstirpation des Uterus und der Adnexe.
Der Erfolg in Bezug auf die dauernde Heilung war nunmehr
ganz entsprechend unseren Erwartungen: in 81% würdevoll-
ständige dauernde Heilung von allen früher bestandenen Be¬
schwerden erreicht; nur die Mortalität war nunmehr ent¬
sprechend der längeren Dauer und der grösseren Schwere des
Eingriffes eine bedeutendere, sie betrug unter meinen Fällen
10‘5%-
Zu jener Zeit hatte man bereits in Frankreich und
Deutschland begonnen, derartige Fälle vaginal zu operiren.
Pean hatte die vaginale Uterusexstirpation, die sogenannte
Castratio uterina mit Zurücklassung der erkrankten Adnexe
ausgeführt. Die Resultate dieser Operation waren zunächst
keine sehr befriedigenden. Später gingen Leopold, Doyen
und Leopold Landau einen Schritt weiter, indem sie von
der Vagina aus nicht nur die Exstirpation des Uterus, sondern
auch die der Adnexe ausführten.
Der Grund warum ich selbst und viele Andere so lange
Zeit mit der Ausführung derartiger Operationen zögerten, war
der Umstand, dass man die Ausführung dieser Operationen
nur mit der Anwendung von Dauerklemmen als möglich
hinstellte. Durch die Erfahrungen mit den abdominalen Adnex¬
operationen, wie ich sie oben mitgetheilt habe, immer mehr zu
einem radiealen Verfahren gedrängt, war zunächst der Haupt¬
grund gegen die vaginalen Radicaloperationen für mich er¬
ledigt und ich begann nun den Versuch, ob es nicht möglich
sei, in allen den Fällen, in denen die oben genannten Ope¬
rateure die vaginale Radicaloperation nur mit Klemmen für
technisch ausführbar erklärt hatten, die Blutstillung auch mit
Hilfe der Ligatur zu bewältigen und dieser Versuch gelang.
Und so habe ich denn bis Ende des Jahres 1899 264 Fälle
von vaginaler Radicaloperation ausgeführt mit sechs Todesfällen,
d. i. 2'2%> von denen nur vier in directen Zusammenhang
mit der Operation gebracht werden können, d. i. 1'5%. Die
Nachforschungen in Bezug auf die Dauererfolge ergaben in
86'8% vollständige Heilung. 2)
Aus allen diesen Erfahrungen haben sich mir nun die¬
jenigen Grundsätze herausgebildet, welche ich in Bezug auf
die Behandlung der Adnextumoren entzündlichen Ursprunges
seit längerer Zeit consequent zur Anwendung bringe. Ich
behandle Adnexerkrankungen entzündlicher Natur so lange
conservativ als nur möglich; bei Anwesenheit von Eitersäcken,
bei lange dauernder und schwerer Arbeitsstörung, bei Erwerbs¬
unfähigkeit, also bei Zusammentreffen schwerer anatomischer
Veränderungen mit andauernden Beschwerden und bestehender
Arbeitsunfähigkeit, kurz in allen denjenigen Fällen, in denen
die Operation dringend indicirt ist, operire ich jedoch radical,
d. h. ich entferne den Uterus und die Adnexe beiderseits und
zwar am besten auf dem vaginalen Wege. Ich muss dabei be¬
merken, dass die Erfahrung gelehrt hat, dass die Durch¬
führung der Operation auf vaginalem Wege fast immer
möglich ist.
Als Ausnahmen können gelten sehr feste Verwachsungen,
besonders solche mit dem Darme; solche Verwachsungen sind
allerdings von unten sehr schwer sicher zu lösen. In solchen
Fällen würde dann der vaginale Weg aufgegeben und der
abdominale betreten werden müssen. Dass dieses jedoch nur
selten nothwendig ist, lehrt die Thatsache, dass in der Zeit,
aus welcher jene 264 vaginalen Radicaloperationen stammen,
nur siebenmal der vaginale Weg aufgegeben und die Laparo¬
tomie angeschlossen werden musste, und dass sich aus diesem
Wechsel des Operationsweges niemals ein Nachtheil für die
Patientin ergeben hat. Ich stehe demgemäss heute auf dem
Standpunkte, dass Adnexoperationen vaginal zu beginnen sind,
und dass sie auch meist vaginal vollendbar erscheinen, und
dass nur in seltenen Fällen die abdominale Operation anzu-
schliessen ist.
Wir kommen nun zu einem weiteren Indicationsgebiete,
bei dem ebenfalls die Frage des vaginalen und abdominalen
Weges zu erörtern sein wird, nämlich zum Capitel der
Hämatocele und der Extrauteringravidität. Ich
glaube, dass es ohne Widerspruch bleiben wird, wenn ich
sage, dass die vorgeschrittenen Fälle von Extrauterinschwanger¬
schaft nur durch den Bauchschnitt zu operiren sind. Eine
Discussion bezüglich der Wahl des Weges kann also nur
bei Hämatocelen und Extrauterinschwangerschaften der
ersten Wochen oder Monate in Betracht kommen, wenn
der gesammte Tumor Faustgrösse bis Kleinkindskopfgrösse
nicht überschreitet.
Ich will nicht unerwähnt lassen, dass bei stationärer
Hämatocele in vielen Fällen die exspectative Behand¬
lung mit Erfolg angewendet werden kann. Bei Anwen¬
dung von Ruhe, Eis, Opiaten resorbirt sich allmälig der
Bluterguss; aber das Eine ist sicher, dass die Resorption oft
lange Zeit in Anspruch nimmt. Nach V o i s i n vergehen
•) Schauta, Archiv fiir Gynäkologie. Bd. LIX, pag. 49,
Nr. O
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
105
1 1/2 — 8 Monate bis zur vollständigen Resorption und nach I
Fehling dauert dieselbe im Durchschnitte 546 Tage. End¬
lich bliebe zu berücksichtigen, dass auch im Anschlüsse an die
Resorption der Hämatocele bei Extrauteringravidität patholo¬
gische Processe Zurückbleiben und vollkommene Heilung und
Befreiung von den Beschwerden sehr selten erfolgt. Deshalb
werden auch in der Folge noch viele Fälle der operativen
Behandlung zugeführt werden müssen. Das gilt zunächst von
allen Fällen, in denen die Blutung andauert, der Tumor eine
stete Zunahme zeigt, heftige Beschwerden besonders seitens
der Blase und des Mastdarmes bestehen, dann bei fehlender
Neigung zur Resorption trotz längerem Liegen und endlich bei
beginnender Vereiterung und Infection. Oftmals wird auch die
Operation dictirt durch die socialen \ erhältnisse der Patientin,
welche ein längeres Krankenlager nicht gestatten.
Der einfachste und älteste Eingriff bei Hämatocele, den
schon Nelaton 1850 ausgeführt hat, besteht in der Spaltung
auf dem Wege durch das hintere Scheidengewölbe. Auch heute
noch wird bei vereiterten Hämatocelen, bei bestehender In¬
fection dieses Verfahren als das zweckmässigste bezeichnet
werden müssen. Weniger zu empfehlen dürfte die vaginale
Incision sein bei auf Extrauteringravidität beruhender pro¬
gredienter Hämatocele, da mit der einfachen Spaltung des
Blutherdes die Quelle der Blutung nicht entfernt wird und die
Blutung in vielen Fällen audauert. So hat Fehling einen
Fall verloren durch Nachblutung aus der eröffneten Hämato¬
cele. Aber auch bei frischen Blutergüssen kann die vaginale
Incision eine gewisse Berechtigung beanspruchen als Explorativ-
incision behufs Stellung der Diagnose in zweifelhaften Fällen,
um eventuell die Laparotomie anschliessen zu können.
Dührssen, einer der lebhaftesten \ ertheidiger der
vaginalen Cöliotomie, hat im Jahre 1895 die Colpotomia anterior
in Vorschlag gebracht für Extrauterinschwangerschaft der ersten
Wochen mit oder ohne Hämatocele. Ich würde mich diesem
Vorschläge nur auschliessen bei ganz kleinen Tumoren, bei
Fehlen von Verwachsungen, Bedingungen, welchegeradebei Extra¬
uteringravidität sehr selten anzutreffen sind. In allen anderen
Fällen ist die Zugänglichkeit, welche der vordere Scheiden¬
schnitt gewährt, bei Extrauterinschwangerschaft eine unge¬
nügende; es besteht die Gefahr der Zerreissung der morschen
graviden Tube, die Gefahr der inneren Blutung. Deshalb halte
ich es für besser, nach Ausführung der Colpotomia anterior
nach Erhebung des Befundes bei nicht sehr günstigen Ver¬
hältnissen lieber den vaginalen W eg aufzugeben und den
Bauchschnitt anzuschliessen, falls man vorher nach der bi-
manuellen Untersuchung doch etwa den Eindruck gewonnen
hätte, der Fall wäre auf vaginalem Wege zu Ende zu führen.
Wie selten diese Indication eintritt, zeigt die Thatsache, dass
ich überhaupt nur sechs Fälle einseitiger Tubarschwangerschaft
vaginal auf dem Wege der Colpotomia anterior operirt habe.
In allen diesen Fällen trat Heilung ein. In vier Fällen erhielt
ich weitere Nachrichten seitens der Operirten, die in allen
Fällen vollkommen befriedigend lauteten. In zwei weiteren
Fällen wurde die Operation vaginal begonnen und musste die
Laparotomie angeschlossen werden, und zwar einmal wegen
zu starker Blutung und einmal wegen zu fester Verwach¬
sungen. Auch in diesen beiden Fällen waren die Erfolge
günstige.
Die Ursache der Schwierigkeiten und der Gefährlichkeit
der vaginalen Cöliotomie bei Tubarruptur und Tubarabort
liegt in der geringen Uebersichtlichkeit des Operationsfeldes,
in der schwierigen Blutstillung und in der mangelhaften Be¬
leuchtung. Denn in Folge der Blutung ist die Beckenhöhle
wie mit einem Tapetum nigrum ausgekleidet, reffectirt das
Licht kaum und die Unterscheidung der einzelnen Gebilde
ist eine sehr schwierige. Anders liegt die Sache, wenn es
möglich ist, sich durch vorherige Exstirpation des Uterus
breiten Zugang zur Beckenhöhle zu verschaffen. Für gewöhn¬
liche Fälle von Extrauterinschwangerschaft kann die Exstir-
pation des Uterus jedoch nicht in Betracht kommen, da ja
die Anomalie der Tubargravidität nur eine Tube betrifft. In
Fällen jedoch, in denen auch die Tube der anderen Seite er¬
krankt ist, und diese Erkrankung, wenn sie schon vor der
Operation oder nach einer zum Zwecke der Diagnose aus¬
geführten vaginalen Probeincision erkannt worden ist, in
einem derartigen Grade besteht, dass auch ohne Tubargravi¬
dität die Entfernung der erkrankten Tube indicirt wäre, kann
man den vaginalen Weg wählen, der dann mit der Exstir¬
pation des Uterus beginnt und mit der Entfernung der Adnexe
endigt. Derartige Fälle vaginaler Totalexstirpation bei Tubar¬
gravidität, complicirt mit entzündlichen Erkrankungen der
Adnexe der anderen Seite, habe ich 18 operirt mit einem
Todesfall an Peritonitis. Sämmtliche 13, welche bis Ende 1898
derart operirt worden waren, befinden sich nach unseren
Nachforschungen vollkommen wohl.
Ziehe ich nun auch zum Vergleiche die abdominale
Operation bei Extrauterinschwangerschaft heran, so verfüge
ich über 114 derartige Operationen mit neun Todesfällen, d. i.
7'8%. Diesen stehen die eben erwähnten 24 vaginalen Opera¬
tionen mit einem Todesfälle, d. i. 5% gegenüber. Von 53
Patientinen, welche bis Ende 1898 abdominal operirt wurden
und über deren weitere Schicksale etwas zu erfahren war,
zeigen 46 vollkommen befriedigendes Befinden und sieben klagen
über Beschwerden, und zwar über Schmerzen bei schwerer
Arbeit.3) Dass die sämmlichen vaginal Operirten, deren weiteres
Schicksal in Erfahrung gebracht werden konnte, sich voll¬
kommen wohl und frei von Beschwerden befinden, habe ich
bereits früher erwähnt.
Wenn sich also dem Gesagten zufolge auch für das
Thema »Extrauteringravidität« gewisse Vortheile für die vaginale
Operation ergeben, so muss ich doch andererseits sagen, dass
das Indicationsgebiet für die vaginale Cöliotomie gerade
bei Extrauterinschwangerschaft ein sehr beschränktes ist.
Ich halte dieselbe für angezeigt erstens bei grossen
Hämatocelen, bei denen die Resorption zögert und lebhafte
Beschwerden vorhanden sind, zweitens bei vereiterten Hämato¬
celen, gleicbgiltig ob dieselben in Folge von Extrauterin¬
schwangerschaft oder ohne eine solche aufgetreten sind. In
allen diesen Fällen würde die Coeliotomia posterior in Betracht
kommen; drittens bei kleinen, nicht adhärenten, gut beweg¬
lichen Tuben; in diesen Fällen wäre die Exstirpation der
schwangeren Tube auf dem Wege der Colpotomia anterior
auszuführen ; und endlich viertens in Fällen schwerer Er¬
krankung auch der Adnexe der anderen Seite. Hier käme die
vaginale Totalexstirpation in Betracht.
Ich komme nun zu dem Capitel »Myomoperationen«.
Ich gehe hier nicht ein auf die Abtragung von myomatösen
Polypen, auf die Enucleation mit oder ohne Zerstückelung von
submucösen Myomen von der Scheide aus, sondern werde nur
diejenigen vaginalen Myomoperationen in Betracht ziehen, bei
denen es zur Eröffnung der Peritonealhöhle kommen muss,
also die vaginale Cöliotomie behufs Enucleation oder Abtra¬
gung von Myomen mit Erhaltung des Uterus und zweitens
die vaginale Radicaloperation bei Uterusmyomen, da nur diese
Operationen in Vergleich gezogen werden können mit den
analogen Operationen auf dem abdominalen Wege.
Die Enucleation von Myomen durch die vaginale
Cöliotomie wurde zuerst 1877 und 1879 von Stansbury
Sutton und Der veer, 1881 von Czerny ausgeführt.
Doch bandelte es sich in diesen Fällen um Myome, welche,
breit im Becken liegend, die Scheidenwand stark vorwölbten
und so direct zur vaginalen Incision aufforderten. Lei der¬
selben wurde der Weg durch das hintere Scheidengewölbe
genommen, ja in manchen dieser Fälle kam es bei subperi¬
tonealem oder intraligamentärem Sitze nicht einmal zur Eröff¬
nung der freien Bauchhöhle.
Einen wesentlichen Schritt nach vorwärts hat die vaginale
Cöliotomie bei Myomen gemacht, als Dührssen (1894) die
vaginale Laparatomie oder vaginale Laparo-Myektomie durch
das vordere Scheidengewölbe in Vorschlag brachte. Bei diesei
Operation wird ein Querschnitt, eventuell auch Längsschnitt
durch die vordere Scheidenwand in der Höhe des Scheiden¬
gewölbes ausgeführt, die Blase abgelöst, die Plica eröffnet, c ei
Uterus vorgezogen, das Myom enucluirt, das V undbett soig-
3) O. Lindenthal, Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäko¬
logie. 1900, pag\ 175.
106
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 5
fältig vernäht und die Nahtlinie entweder in die Scheidewunde
eingenäht oder der Uterus mit der Naht versenkt. Diese Operation
ist leicht und gefahrlos auszuführen bei kleinen Myomen; doch
gerade hei diesen ergibt sich nur sehr selten die Indication
zur Operation. Bei grösseren Myomen bis zu Faustgrösse, bis zu
welcher Grösse man nach Dührssen die Operation von der
Scheide aus vornehmen kann, ist die Zugänglichkeit durch
den vorderen Schnitt unzureichend, die Hervorziehung des
Uterus schwer, ja oft unmöglich und die Blutstillung unsicher.
Die Operationen machen einen peinlichen Eindruck. Deshalb
wird, da kleine Myome, bei denen die Operation exact aus¬
führbar wäre, nur selten Beschwerden machen, die zur Opera¬
tion zwingen und bei grossen die Operation vaginal unsicher
und gefährlich ist, der Eingriff wohl nur auf jene seltenen
Fälle beschränkt bleiben, in denen kleine bis walnussgrosse
Myome bereits heftige Beschwerden machen. Daraus ergibt
sich wohl ohne Weiters die Seltenheit der Indication zur Enu¬
cleation von Myomen durch die vaginale Cöliotomie. Dafür
spricht auch die Thatsache, dass ich unter mehr als 2500
Cöliotomien bis Ende 1899 nur siebenmal in die Lage kam,
den eben geschilderten operativen Eingriff auszuführen, aller¬
dings in sämmtlichen Fällen mit Erfolg. In der überwiegenden
Zahl der Fälle von Myomen sind dieselben, wenn sie Be¬
schwerden machen, bereits so gross, dass von einer Enuclea¬
tion auf vaginalem Wege mit Erhaltung des Uterus nicht mehr
die Rede ist, auch sind sie ja meist multipel. Bis vor kurzer
Zeit wurde in diesen Fällen die Laparotomie ausschliesslich
ausgeführt. Erst durch P e a n und Doyen hat man gelernt
solche Fälle bis zu einer gewissen Grösse der Myome auch
von der Vagina aus zu operiren, allerdings aber nicht mit
Erhaltung des Uterus, sondern durch die vaginale Radical-
operation.
Die vaginale Totalexstirpation des Uterus, welche
S a u t e r in Constanz (1822) und R 6 c a m i e r (1829) zum ersten
Male ausgeführt haben, war fast vergessen, als Ende der Siebziger-
Jahre Czerny, Billroth und Schröder sie gewissermassen als
Concurrenzoperation der 1878 von F reund ersonnenen abdomi¬
nalen Totalexstirpation wieder in den Vordergrund des ärzt¬
lichen Interesses stellten. Mit seltenen Ausnahmen bezogen sich
jedoch alle Operationen nur auf den Gebärmutterkrebs. Erst
als Pean und Doyen lehrten, durch das von ihnen ange¬
gebene Verfahren der Zerstückelung, Verkleinerung (Mor¬
cellement) auch grössere Tumoren mit Erfolg anzugreifen,
erhielt diese Operation auch bei Myomen ihre heutige Be¬
deutung und Verbreitung.
Doch nicht allerseits ist selbst heute noch die Berech¬
tigung dieser Operation anerkannt. Viele Operateure stehen
auch heute noch auf dem Standpunkte der abdominalen Myo-
motomie und verwerfen die vaginale Operation oder wollen
sie zumindest auf die einfachsten, leicht auszuführenden Fälle
beschränkt wissen. Dieser Widerstreit der Anschauungen trat
noch jüngst auf dem zu Pfingsten in Berlin abgehaltenen
Gynäkologen-Congresse zu Tage.
Wenn es mir nun erlaubt sein soll, meinen eigenen
Standpunkt in dieser Frage zu charakterisiren, so müsste ich
Folgendes sagen: Die vaginale Totalexstirpation ist jene Ope¬
ration, welche heute die besten Erfolge aufzuweisen hat von
sämmtlichen Myomoperationen, bei denen das Peritoneum eröffnet
werden muss; sie müsste demgemäss ihre Indication finden in
allen Fällen, in denen überhaupt radicale Myomoperationen an¬
gezeigt wären. Doch findet die technische Ausführbarkeit,
wenigstens bei unseren heutigen Hilfsmitteln, ihre Grenzen.
Dieselben werden von verschiedenen Operateuren verschieden
gezogen; in erster Linie nach der Grösse. Während Einige
nur kleine, faustgrosse bis doppelfaustgrosse, andere bis kinds-
koptgrosse Tumoren von der Vagina aus entfernen wollen, ziehe
ich die Grenze, so weit es die Grösse betrifft, zwischen vaginaler
und abdominaler Myomotomie bei Tumoren, die an die Nabel¬
linie reichen. Doch die Grösse bildet nicht das einzige Kriterium;
auch die Beweglichkeit, die Eindrückbarkeit des Tumors ins
Becken, der Mangel von hochsitzenden Verwachsungen und
das Fehlen von intraligamentärer Entwicklung bilden eben-
soviele Kriterien für, beziehungsweise gegen den abdominalen
Weg. Nun ist die Diagnose aller dieser anatomischen Verhältnisse
mitunter recht schwierig. Andererseits wird der Patientin kein
Schaden zugefügt, wenn man die Operation vaginal begonnen
hat und sie abdominal vollendet. D ö d e r 1 e i n hat sogar den sehr
beherzigenswerthen Vorschlag gemacht, alle radicalen Myom¬
operationen von der Vagina aus zu beginnen, da hiedurch
derjenige Act der abdominalen Totalexstirpation, welcher als
der schwierigste angesehen werden muss, nämlich die Aus¬
lösung der Cervix aus dem Scheidengewölbe, entfällt.
So habe ich denn bis zum Ende des Jahres 1898 zwölf
Fälle radicaler Myomoperationen vaginal begonnen und ab¬
dominal vollendet und nur in einem Falle hochgradiger Anämie,
welche schon vor der Operation bestanden hatte, erlebte ich
einen Misserfolg. In dem eben vergangenen Jahre habe ich
eine grosse Reihe von Fällen principiell auch dann, wenn ich
von der vaginalen Undurchführbarkeit von vorneherein über¬
zeugt war, dem Vorschläge D ö d e r 1 e i n’s entsprechend, vaginal
begonnen, um sie dann abdominal zu vollenden.
Mit der Schilderung der Technik der vaginalen Total¬
exstirpation und des Morcellements glaube ich Sie verschonen
zu dürfen, umsomehr als ja über dieses Thema von berufener
Seite hier wiederholt bereits gesprochen wurde.
Die Erfolge, welche ich mit der vaginalen Radicalope-
ration erreicht habe, scheinen mir sehr ermuthigende zu sein.
Unter 191 Fällen habe ich 7 verloren, d. i. 3'6%; davon
kommen jedoch 2 nicht direct auf Kosten der Operation, wo¬
nach sich das eigentliche Mortalitätsprocent auf 1'5% stellen
würde. Dabei handelte es sich in den meisten Fällen um
Myome, welche Doppeltfaustgrösse, ja Kindskopfgrösse erreicht
hatten, Myome von 600 bis 800 g, viele auch über 1000 bis
zu 2000 g, gewiss also nicht nur um leichte Fälle. Die bis
Ende 1898 erlangten Resultate hatte ich die Ehre, in diesem
Jahre bereits den Congressen in Berlin 4) und Amsterdam 5)
vorzulegen. Ich bin jedoch in der Lage. Ihnen heute noch
eine Ergänzung der eben gemachten Ausführungen zu geben,
insoferne, als ich auch über die unterdessen gesammelten
Nachforschungen über die Dauererfolge meiner Myomope¬
rationen berichten kann.
In 83 Fällen erhielt ich weitere Nachrichten über das
Befinden meiner vaginal Myomoperirten. Von diesen sind vier
im weiteren Verlaufe an intercurrenten Erkrankungen ge¬
storben, von den verbleibenden 79 sind 77 vollkommen ge¬
heilt und frei von Beschwerden, zwei Patientinnen klagen der¬
zeit noch über Beschwerden, die eine über hochgradige Nervo¬
sität, die andere über Schmerzen im Unterleibe in Folge von
Wanderniere.
Diesen Nachforschungen zufolge würde sich das Heilungs¬
procent in Bezug auf die Dauererfolge auf 97% stellen.
Es bleibt uns nur noch übrig, den Vergleich zu ziehen
zwischen den vaginalen Myomoperationen und den abdominalen.
Auch hier kommen conservirende und radicale Operationen
in Betracht. Die ersteren werden durch die Enucleation von
Myomen per laparotomiam repräsentirt. Die Indication
hiezu ergibt sich wohl ebenso selten, wie die für die vaginale
Euncleation. Tumoren bis Faustgrösse, höchstens bis Kindskopf¬
grösse, wenn sie isolirt sind, können bei besonderen Indica-
tionen, zu denen besonders das jugendliche Alter der Patientin
gezählt werden muss, zur Enucleation auffordern. Als Bedin¬
gungen muss man aber die Möglichkeit der exacten Blut¬
stillung und dann die Nichteröffnung der Uterushöhle bei der
Enucleation aufstellen. Verhältnissmässig einfach stellen sich
die Fälle von Abtragung gestielter Myome durch die Laparo¬
tomie, doch auch diese Operation kann nur sehr selten aus-
geführt werden.
Darin liegt eben der wesentliche Unterschied zwischen
der Abtragung von Polypen per vaginam und gestielten sub-
peritonealen Myomen. Denn es gehört kein grosser Entschluss
dazu, weder für den Arzt noch für die Patientin, in Folge
von Nachwachsen oder Herabrücken anderer in der Uterus¬
wand befindlichen Myome die Operation von der Vagina aus
4) Verhandlungen der deutschen Gesellschaft für Gynäkologie. Berlin.
1899, pag. 182.
•’) Referat. Centralblatt für Gynäkologie. 1899, pag. 1064.
Nr. 5
107
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
zu wiederholen, währenddem weder der Operateur noch die
Patientin sich leicht zu einer Wiederholung der Laparotomie
zu demselben Zwecke entschliessen werden.
Ich verfüge über 29 Fälle solcher Myomenucleationen
durch Laparotomie mit fünf Todesfällen, wovon allerdings nur
zwei in directem Zusammenhänge mit der Operation stehen.
ln einem dieser Fälle erfolgte bei Eröffnung der IJterus-
höhle Infection von dieser her und in einem anderen halle
der Gesammtliteratur der deutschen Kliniken finden sich bei
Cervixcarcinom
nach 1 Jahre 58'5% geheilt und recidivfrei
» 2 Jahren 44*7% * * *
» 3 » 37-5% » » »
» 4 » 29,5°/0 * » *
» 5 » 17-6%
Blutung aus dem vernähten Wundbette.
Diese Zahlen sind allerdings klein und lassen bestimmte
Schlüsse nicht zu, aber auch bei grösseren Zahlen sind die
Resultate nicht wesentlich andere. So berichtet Olshausen
in Veit's Handbuch über 117 abdominale Enucleationen mit
23 Todesfällen, das ist 13%.
Vergleichen wir nun die abdominalen Radicalopera-
tionen mit den vaginalen, so ergeben sich die folgenden Ge¬
sichtspunkte. Ich will hier nicht eingehen auf die Frage, welche
von den Methoden der abdominalen Radicaloperationen die
beste sei; ich habe mich über diesen Punkt zu wiederholten
Malen, so auch in diesem Jahre, auf den Congressen in
Berlin und Amsterdam geäussert. Mein Standpunkt ist nach
wie vor der, dass ich für die beste Methode der abdominalen
radicalen Myomoperation die Totalexstirpation halte. Damit
will ich nicht sagen, dass nicht in gewissen Fällen die supra¬
vaginale Amputation mit ihren verschiedenen Arten der Stiel¬
behandlung Berechtigung hätte.
Fasse ich nun alle diese abdominalen Myomoperationen
zusammen, so habe ich unter 226 lällen 32 lodesfalle, das
ist 14T%, aufzuweisen. Rechne ich die zufälligen, nicht mff
der Operation direct in Zusammenhänge stehenden Verluste
ab, so bleiben 20 Todesfälle, i. e. 9*3%.
Auch in diesem Capitel ergibt sich also die weit
geringere Gefährlichkeit der vaginalen gegenüber der abdomi¬
nalen Radicaloperation.
Auch die Frage der Carcinombehandlung des
Uterus gibt uns Anlass, den vaginalen und abdominalen Weg
gegen einander abzuwägen.
Nachdem man durch unbefriedigende Erfolge der pallia¬
tiven und partiellen Operationen bei Uteruscarcinom zui Ein¬
sicht gekommen war, dass nur ein radicaler Eingriff Aussicht
auf Erfolg habe, war Freund der Erste, welcher 1878 den
Uterus per laparotomiam total entfernte, wenn wir von den
ersten früher erwähnten Versuchen der vorantiseptischen Zeit
absehen.
Die hohe Mortalität der abdominalen Operation, welche
bei verschiedenen Operateuren zwischen 71 und 74% schwankte,
gab den Anlass zur Einführung der vaginalen Totalexstirpation
durch Czerny, welche sich seitdem, seltene Ausnahmen ab¬
gerechnet, der unbeschränkten Herrschaft auf dem Gebiete
der Radicaloperationen des Uteruscarcinoms erfreut. Auch meine
eigenen Resultate sprechen zu Gunsten der vaginalen gegen¬
über der abdominalen Radicaloperation.
Von 259 Fällen vaginaler Radicaloperationen bei Uterus¬
carcinom starben 25, das ist 9-6%, davon an den directen
Folgen der Operationen 16, das ist 6’4%- Von 15 abdomi¬
nalen Totalexstirpationen starben neun, das ist 60%, an c*en
directen Folgen der Operation sieben, das ist 53 8%- Ausser¬
dem verfüge ich über 16 sacrale Totalexstirpationen mit fünf
Todesfällen und zwei erfolgreiche perineale Totalexstirpationen
des carcinomatösen Uterus, auf welche ich aus dem schon
früher erwähnten Grunde hier nicht näher eingehe.
Es ergibt sich aus dem Vergleiche mit den Resultaten
der Uterusexstirpation aus anderen Indicationen, . wie Myom,
Adnexe u. s. w., dass die Radicaloperation bei Carcinom,
sowohl bei vaginaler, als besonders bei abdominaler Ausfühl ung
weitaus die grössten Gefahren darbietet. Die Ursache liegt in
der Möglichkeit der Infection von dem zerfallenen Neu¬
gebilde aus. .
Bei einem so furchtbaren Leiden, wie es der Gebär¬
mutterkrebs darstellt, wäre jedoch diese grosse Mortalität
nicht zu theuer erkauft, wenn die Dauerresultate bessere
wären. Aus den Zusammenstellungen Kruken berg’s aus
Da nun nach vier, beziehungsweise fünf Jahren Reci-
diven zu den grössten Seltenheiten nach Uterusexstirpation
wegen Carcinom gehören, so können wir die letzten Zahlen
von 29%, beziehungsweise 17% als die definitiven be¬
trachten.
Wenn wir aber bedenken, dass von den sämmtlichen an
Uteruscarcinom kranken Frauen kaum ein Viertel sich mehr
zur Operation eignet, von diesen etwa 10% der Operation
unterliegen, und von den Ueberlebenden nach fünf Jahren nur
mehr 17% gesund sind, so ist dieses Resultat in Bezug auf
die Gesammtheit der von dieser entsetzlichen Krankheit be¬
fallenen Frauen ein sehr wenig befriedigendes. Auch die An¬
wendung der sacralen und perinealen Methode, auf welche
man anfänglich so grosse Hoffnungen setzte, hat daian wenig
geändert. .
Was nun meine eigenen Resultate in Bezug auf die
Dauererfolge betrifft, so starben von 274 Totalexstirpationen
39 an den Folgen der Operation; von den 235 Ueberlebenden
liess sich in 164 Fällen das weitere Schicksal der Patientinnen
verfolgen. Von dieser Zahl waren, wenn ich das Verhältniss
in Procenten ausdrücke, noch am Leben
am Ende des 1. Jahres 771%
» » »2. » 58 4%
» » »3. » 44*8%
» » »4. ■> 350%
» » v> 5. » 31*5%
, » » 6. » 23-3%
» » » 7. » 19 7%
» » * 8. » 13*9%
» » » 9. » 12 0%
» » » 10. * o 3%
» » »11. » 3*2 %
» » » 12. » 2*2%.
Ueber einen längeren Zeitraum als zwölf Jahre habe
ich bis jetzt keine Patientin verfolgen können.
Da nun nicht alle Frauen dieser Tabelle an Carcinom-
recidive, sondern manche auch an anderen, intercurrenten
Erkrankungen verstorben sind, so ist es nothwendig, zum Ver¬
gleiche auch noch die Frage aufzuwerfen, wie viele Frauen
nach der Operation an Carcinomrecidive zu Grunde gingen.
Hierbei ergibt sich Folgendes: Von den an Carcinom ope-
rirten Frauen, über deren Schicksal etwas in Erfahrung ge¬
bracht werden konnte, waren an Carcinomrecidive gestorben
1
Jahr
nach
der
Operation
2U4%
2
Jahre
»
y>
39*2%
o
o
»
»
p
53*1%
4
»
»
»
62*7%
5
>>
»
»
»
66*4%
6
»
»
p
75*0%
Von den Frauen, welche bereits das sechste Jahr nach
der Operation überschritten hatten, findet sich in unserer
Tabelle keine weiter, welche an Carcinom zu Grunde gegangen
wäre. Das Absinken des Procentsatzes der Ueberlebenden der
früheren Tabelle bis zum zwölften Jahre post Operationen^
kommt also nicht mehr auf Carcinomrecidive, sondern aut
Todesfälle an intercurrenten Erkrankungen.
Unsere eigenen Erfahrungen sind also nur um ein weniges
günstiger, als die in der grossen Tabelle Kr u ke n be rg s
zum Ausdrucke kommenden. Deshalb verdienen die >es u‘
bungen von Veit, Mackenrodt, K u m p t x 1 ® s? v ,u t
ner Beachtung,
aufnahmen zum
welche die Freund’sche Operation wieder
Zwecke einer umfänglichen Freilegung des
108
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. o
Operationsfeldes, um nicht nur das parametrane Bindegewebe,
sondern auch die iliacalen und retroperitonealen Lymphdrüsen
zugänglich zu machen und dieselben mitzuentfernen, analog
den bereits seit längerer Zeit durchgeführten Grundsätzen,
welche die Chirurgen bei Operationen des Mammacarcinoms
verfolgen. Ich persönlich verfüge in Bezug auf diese Ope¬
rationstechnik noch über keinerlei Erfahrungen.
Ein auch schon früher allgemein anerkanntes Indications-
gebiet für die vaginale Radicaloperation ergeben die Fälle von
Sarkom des Uterus, von Adenom, Infarct und P r o 1 a p s,
bei denen die schweren Symptome zur Radicaloperation
zwingen. Die Indication tritt aber gerade bei dieser Gruppe
von Erkrankungen sehr selten auf, fast ausnahmslos gestatten
Grösse und Beweglichkeit des Uterus, den vaginalen Weg zu
wählen.
Aus dieser Indication habe ich zusammengenommen
77 vaginale Totalexstirpationen ausgeführt mit vier Todes¬
fällen, von denen einer in directem Zusammenhänge mit der
Operation erfolgte, und nur eine Laparotomie bei Sarkom und
Complication mit Extrauterinschwangerschaft und Ausgang in
Genesung, wobei also die Laparotomie weniger wegen Sarkom¬
bildung, als wegen Complication mit Extrauterinschwangerschaft
nothwendig war.
Auch der Kaiserschnitt, die älteste geburtshilfliche
Operation sowohl, als auch die älteste Indication zur Laparo¬
tomie, ist von den neuesten Bestrebungen und Umwälzungen
der operativen Gynäkologie nicht unberührt geblieben. Ab¬
gesehen davon, dass schon Ende der Siebziger-Jahre P o r r o
den alten Kaiserschnitt durch Hinzufügung der Amputatio
supravaginalis ergänzte und diese Operation, bei der nach der
ursprünglichen Angabe nach Porro der Stiel extraperitoneal
befestigt wurde, später wieder entsprechend den veränderten
Methoden der Stielbehandlung bei Myomen durch die intra¬
peritoneale Stielbehandlung und schliesslich auch durch die
abdominale Totalexstirpation modificirt wurde, fand in neuester
Zeit auch die Methode der vaginalen Radicaloperation sinn¬
gemässe Anwendung auf den Kaiserschnitt; zunächst in der
Weise, dass man, um die Laparotomie zu umgehen, in Fällen,
in denen nicht Beckenenge die Indication zum Kaiserschnitte
gab, sondern Neubildungen, besonders Cervixcarcinom, nach
Entfernung des carcinomatösen Gewebes per vaginam den
Uterus durch Spaltung seiner vorderen Wand eröffnete, die
Frucht nach geburtshilflichen Grundsätzen auf dem natür¬
lichen Wege entwickelte und den Uterus auf demselben Wege
entfernte.
In zwei Fällen habe ich selbst bei Carcinom am normalen
Schwangerschaftsende in dieser Weise operirt.
In anderen Fällen war nach spontaner oder operativer
Geburt die vaginale Exstirpation des Uterus angeschlossen
worden aus verschiedenen Ursachen: so habe ich einmal wegen
Uterusruptur, einmal wegen Myom und einmal wegen Atonie
den Uterus kurz nach Beendigung der Geburt vaginal ex-
stirpirt, mit drei Todesfällen, letztere in Fällen von bereits
vor der Operation bestehender Anämie und septischer
Infection.
In neuester Zeit ist man bestrebt, in gewissen Fällen
puerperaler Infection des Uterus die Frau zu retten durch die
vaginale Entfernung des Uterus, als des Infectionsherdes.
Theoretisch ist dieser Gedanke gewiss ein richtiger, aber
über eigene grössere Erfahrungen kann ich vorläufig noch
nicht berichten. In zwei Fällen, die ich in jüngster Zeit nach
dieser Indication operirte, hatte der Eingriff nicht den gering¬
sten Erfolg.
Wenn ich nun noch eine kurze Zusammenstellung meiner
eigenen Erfahrungen bezüglich des Kaiserschnittes bis Ende
1899 geben darf, so zähle ich conservirende Kaiserschnitte 82
mit 0 Todesfällen, wovon nur 2 direct der Operation zur
Last fallen, 13 Porrooperationen mit 4 Todesfällen, davon
2 direct, 5 abdominale Totalexstirpationen des graviden Uterus
mit 2 Todesfällen und endlich die schon erwähnten 6 va¬
ginalen Totalexstirpationen des puerperalen Uterus mit
4 Todesfällen, wovon allerdings nur einer in directem Zu¬
sammenhänge mit der Operation steht.
Auch an der Entwicklung derjenigen Operationen, welche
zur Fixation des retrovertirten und retroflec-
tirten Uterus angegeben wurden, können wir den Werth
der vaginalen und abdominalen Operationen gegen einander
abwägen. Die systematische Ausbildung der Fixation des
Uterus bei Lageveränderungen beginnt mit der Mittheilung
Olshause n’s auf der Naturforscherversammlung in Berlin
(1886). Es handelte sich hierum die abdominale Fixation. Die
Technik kam in der Folge in verschiedener Weise zur Aus¬
führung. Ols hau sen und Sänger fixirten den Uterus
durch Annähung des Ligamentum rotundum an die vordere
Bauch wand, währenddem Czerny und Leopold den Uterus
direct daselbst fixirten. Die ersten, wenn auch unvollkommenen
Versuche, diesen Zweck auch auf dem vaginalen Wege zu
erreichen, rühren von Schuecking her (1888). Durch
Dührssen, Mackenrodt und W e r t h e i m ist diese Ope¬
ration weiter ausgebildet worden. In neuerer Zeit wird die
vaginale Fixation als Theiloperatien der Prolapsoperation
ausgeführt und hat sich diese Indication allgemeine Anerkennung
erworben.
Wenn wir nun daran gehen sollen, die abdominalen
Methoden gegenüber den vaginalen behufs Hysteropexie gegen
einander abzuwägen, so dürften für die abdominale Methode
sich jene Fälle von Retrodeviation eignen, welche gelegentlich
anderweitiger abdominaler Operationen gefunden werden — die
sogenannte occasionelle Indication. Als intentionelle Operation
ohne weitere Complication würde die Laparotomie nur bei
denjenigen Lageveränderungen nothwendig werden, bei denen
sehr schwer trennbare, feste und umfangreiche Verwachsungen
bestehen. Für die vaginale Methode eignen sich Fälle von
leicht trennbaren, lockeren Verwachsungen, sowie auch frei
bewegliche Retrodeviationen, natürlich mit der Einschränkung,
dass nicht alle diese Fälle sich zur Operation eignen, dass viel¬
mehr unter dem grossen Materiale der Uterusverlagerungen
eine strenge Auswahl getroffen werden muss, indem die Mehr¬
zahl für die Massage, Pessartherapie u. dgl. sich eignet, und
nur eine geringe Zahl der Operation anheimfällt. Das ergibt
die Thatsache, dass unter einem Materiale von mehr als
4700 Lage Veränderungen an meiner Klinik nur 178 vaginale
und 18 abdominale Hysteropexien bei Retroversionen und
Flexionen, sowie bei Prolaps, und zwar sämmtliche ohne Todes¬
fall ausgeführt wurden.6)
Endlich das letzte Indica ionsgebiet für diese Operationen
betrifft die Castration. Dieselbe wurde bei Entwicklungs¬
anomalien der Genitalien, bei schweren Menstruationsstörungen,
Psychosen, Osteomalacie und bei Myomen ausgeführt. Durch
die Entwicklung der anderen Operationsmethoden, besonders
bei Myomen und die nicht immer befriedigenden Erfolge bei
Osteomalacie und Psychosen wurde das Indicationsgebiet dieser
Operation in neuerer Zeit sehr stark eingeschränkt. So habe
ich in der ersten Serie meiner 1000 Operationen 57, in der
zweiten nur 11 und in der dritten nur mehr 2 Castrationen
per laparotomiam auszuführen Gelegenheit gehabt, zusammen
70 Fälle mit 2 Todesfällen, letztere bei Myom. Die vaginale
Castration wurde in 6 Fällen ohne Verlust ausgeführt, jedoch
jedes Mal mit Exstirpatio uteri verbunden: dreimal bei Osteo¬
malacie und dreimal wegen Entwicklungsfehler und schweren
Menstruationsstörungen. Ist die Operation per vaginam möglich,
so ist gewiss der vaginale Weg vorzuziehen und es schadet
nichts, wenn dann auch der Uterus, der ja nach Wegfall der
beiden Ovarien keine Function mehr hat, aus technischen
Gründen mit in Wegfall kommt.
*
Ueberblicken wir die im Vorstehenden angeführten
Gruppen von gynäkologischen Operationen und ihr Verhältniss
zur vaginalen, beziehungsweise abdominalen Cöliotomie, so er¬
gibt sich, dass von einem vollständigen Verdrängen der Laparo¬
tomie durch die vaginale Cöliotomie auf keinem einzigen Ope-
6) Bezüglich der Technik und der Dauererfolge siehe: Hal ban,
Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. 1900, ]>ag. 122, und:
Schnait, Ibidem, pag. 295.
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
109
rationsgebiete der Gynäkologie die Rede sein kann. Diejenigen
Operationen, welche bisher fast ausschliesslich der vaginalen
Methode zufielen, die Radicaloperation bei Adenom, Infarct,
Sarkom und Prolaps und wohl auch bei Carcinom, dürften auch
in nächster Zeit der vaginalen Methode erhalten bleiben.
Die Fixation des prolabirten und retrofieetirten Uterus dürfte
ebenso, seltene Ausnahmen abgerechnet, der vaginalen Methode
zufallen. Dasselbe möchte ich von der Operation chronisch
entzündeter und vereiterter Adnexe behaupten, wenn man sich
entschliesst, den Standpunkt einzunehmen, dass bei chronisch¬
entzündlichen Adnexen, bei denen man überhaupt zum Messer
greifen muss, die Radicaloperation allein einen befriedigenden
Dauererfolg verspricht. Für die seltenen Fälle, in denen man
sich heute noch zu einer Castration entschliesst, wird mit Aus¬
nahme der Castration bei Myom, welche fast aufgegeben ist
und bei der wohl nur der abdominale Weg denkbar wäre,
ebenfalls der vaginale Weg dem abdominalen vorzuziehen
sein. Damit wäre die erste Gruppe von Cöliotomien, bei
welchen die vaginale Operation als Operation der Wahl an¬
zusehen ist, abgeschlossen.
In eine zweite Gruppe würde ich jene Operationen ein¬
reihen, bei denen, je nach den anatomischen Verhältnissen,
bald der abdominale, bald der vaginale Weg betretbar er¬
scheint. Dazu gehören die Ovariotomie und die Uterusmyome.
Freibewegliche uniloculäre oder parviloculäre Eierstockcystome
gutartiger Natur fallen ebenso wie die gutbeweglichen, die
Nabellinie nicht überschreitenden Myome dem vaginalen Wege
zu; alle anderen sind der Laparotomie vorzubehalten.
In die dritte Gruppe möchte ich einreihen jene Opera¬
tionen, bei denen in erster Linie der abdominale Weg ins
Auge gefasst werden muss und nur ausnahmsweise der vagi¬
nale Weg in Betracht kommt. Dazu gehört die Extrauterin¬
gravidität, und zwar sowohl in vorgeschrittenen Stadien, als
auch in den ersten Wochen, falls Tubarabort oder Ruptur die
Indication zur Operation abgibt und die normale Beschaffen¬
heit der Adnexe der anderen Seite deren Erhaltung fordert.
Für die vaginale Radicaloperation kämen jene Fälle von Tubar-
gravidität der ersten Wochen in Betracht, bei denen mit
der Erkrankung der Adnexe auch der anderen Seite die Noth-
wendigkeit der Radicaloperation vorhanden ist. Operationen,
welche also, genau genommen, nicht allein in das Gebiet der
Extrauterinschwangerschaft, sondern ebenso auch in das der
Operation entzündlicher Adnexe fallen und demgemäss auch
in die erste der oben genannten Operationsgruppen eingereiht
werden müssten. Ebenso wird auch wohl der Kaiserschnitt
der abdominalen Methode auch fernerhin verbleiben; die Fälle
von vaginalem Kaiserschnitte werden immer Ausnahmsfälle
darstellen.
Will man das Gesagte noch allgemeiner fassen, so kann
man sagen: die vaginale Cöliotomie eignet sich in erster
Linie zu radicalen Eingriffen, bei denen es sich um die Ent¬
fernung des gesammten inneren Genitales handelt. Als Aus¬
nahme von dieser Regel sind zu betrachten gewisse Fälle von
Ovariencysten, bei denen trotz Betretens des vaginalen Weges
doch conservativ vorgegangen wird und die Fälle von vaginaler
Fixation des Uterus, also ebenfalls einer conservirenden
Operation.
Dagegen eignen sich im Allgemeinen Fälle, in denen
conservativ operirt werden muss, besser für die abdominalen
Wege, also die festen Eierstockstumoren, die adhärenten oder
multiloculären cystischen Tumoren und endlich alle malignen
Eierstockgeschwülste, bei denen allerdings nicht der Standpunkt
des Conservirens in erster Linie in Betracht kommt, sondern
bei denen die durch die Enge des vaginalen Weges noth-
wendige Verkleinerung verboten ist. Ferner eignen sich vor¬
zugsweise für den abdominalen Weg die Fälle von Myom-
enucleation und endlich der conservative Kaiserschnitt.
Die im Vorstehenden dargelegten Grundsätze haben sich
mir allmälig im Laufe von fast zwei Jahrzehnten operativer
Thätigkeit herausgebildet. Ich weiss, dass ich mit diesen meinen
Anschauungen noch vielfach auf Widerspruch bei meinen Fach¬
genossen stossen werde und bin auch überzeugt, dass an den
heute gegebenen Indicationen die Zeit noch manche Aenderung
und Verschiebung vollführen wird, aber in einer Hinsicht steht
meine Ueberzeugung fest, dass die vaginale Technik der
Cöliotomie als eine der grössten Errungenschaften der ope¬
rativen Gynäkologie der jüngsten Zeit einen bleibenden Platz
finden wird unter den gynäkologischen Operationen. Sie stellt
Uebersichtstabelle über die im Vorstehenden besprochenen Cöliotomien zum Vergleiche der abdominalen und der
vaginalen Methode.
Vaginal
A
odominal
Art der Operation
gestorben
gestorben
Zahl
überhaupt
davon an den
directen
Folgen der
Operation
Zahl
überhaupt
davon an den
directen
Folgen der
Operation
Mit Erhaltung- des
Uterus
Einseitige Ovariotomie .
Beiderseitige Ovariotomie .
Einseitige Entfernung entzündlicher Adnexe ....
Beiderseitige Entfernung entzündlicher Adnexe . . •
Entfernung des Fruchtsackes bei Tubargravidität . .
Enucleation von Myomen .
Castration .
Kaiserschnitte .
Hysteropexie .
51
1
26
1
6
7
178
3
(3)
273
68
22
286
110
29
70
82
18
24
10
1
20
8
5
2
6
(6)
(5)
(1)
(17)
(3)
(2)
(2)
(2)
|
Mit Entfernung des
Uterus
Ovariotomie mit Exstirpatio uteri .
Radicaloperation wegen entzündlicher Adnexe ....
Radicaloperation bei Tubargravidität .
Radicaloperation wegen Myom .
Radicaloperation wegen Carcinom .
Radicaloperation wegen Sarkom, Adenom und Prolaps
Castration mit Exstirpatio uteri .
Sectio caesarea mit Entfernung des Uterus .
21
264
18
191
259
77
6
6
3
6
1
7
25
4
(2)
(4)
(1)
(3)
(16)
(1)
(1)
19
38
4
226
15
1
18
3
4
1
32
9
6
(4)
(20)
(?)
(4)
Gesammtsumme . ...
1112
53
(31)
1279
131
(73)
Gesammtmortalität ohne Abzug (in Procenten) .
4-7
10-2
2 8
5-9
110
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr 5
freilich an die diagnostische Fertigkeit, Ausdauer, Geduld und
operative Technik in der Regel weit grössere Anforderungen, als
die abdominale Methode. Aber ihre um etwa die Hälfte geringere
Mortalität, der schmerzlose, uncomplicirte Heilungsverlauf, der
Wegfall der Wunde an der äusseren Oberfläche mit ihren Folge¬
zuständen, der Narbenbildung, Eiterung und Hernienbildung,
stellen sie weit über die abdominale Cöliotomie. Der Vorwurf der
geringen Uebersichtlichkeit, des Operirens im Finsteren, der
schwierigen Blutstillung, den man den vaginalen Methoden
gemacht hat, fällt bei sorgfältiger Auswahl der Fälle und bei
Anwendung derjenigen Technik, die ich seit Jahren übe, weg.
Ich lege besonderes Gewicht darauf, dass
man die vaginale Cöliotomie vom Anfänge bis
zum Ende ebenso unter Leitung des Auges aus¬
führen könne und müsse, wie jede andere chi¬
rurgische Operation. Ihre weitere Ausbildung
und allgemeine Verbreitung in den hier vorge¬
zeichneten Grenzen liegt im Interesse unserer
Kranke n.
Ovariotomie per anum.
Von Doceut Dr. Hubert Peters.
Unter den mannigfachen behufs Exstirpation von den
inneren Genitalorganen ausgehender Tumoren betretenen Wegen
dürfte der im nachstehenden Falle gewählte wohl zu den aller¬
seltensten gehören. Er kommt eben nur dann in Betracht,
wenn diese Tumoren mit einem Rectumprolaps combinirt sind,
der die Operation dringend erfordert und so hochgradig ist,
dass bei der Amputation desselben der Douglas breit eröffnet
werden muss. Die dadurch geschaffene Eintrittspforte in das
Peritonealcavum kann, wie unser Fall lehrt, leicht zur Exstir¬
pation von Ovarialtumoren, die gut gestielt und nicht durch
schwierig zu lösende Adhäsionen complicirt sind, benützt werden.
Ob auch andere Tumoren, wie z. B. subserös sitzende Cysten
oder günstig gelegene Myome auf diesem Wege entfernt werden
können, müssen erst weitere Erfahrungen lehren, voraus¬
gesetzt, dass der Zufall weitere solche seltene Combinationen
brächte.
Wenn auch die Literatur drei unten citirte Fälle bietet,
bei denen Ovarialcysten durch die vordere Mastdarmwand
entfernt wurden, so ist doch keiner von diesen dem unserigen
gleich und besitzt dieser daher bisher kein Analogon. Dies
rechtfertigt wohl die Publication desselben.
Der Fall ist kurz folgender: Es handelt sich um eine 37 Jahre
alte Patientin K. aus Russland, die, seit ihrer frühesten Jugend an
hartnäckiger Obstipation leidend, von ihrem 20. Jahre an ein Her¬
vortreten der Rectumschleimhaut bei der Defäcation bemerkte.
Der Prolaps nahm allmälig an Grösse zu und vor circa
sieben Jahren hatte er beiläufig die Grösse einer Faust erreicht.
Seit dieser Zeit blieb er constant.
Patientin hat dreimal geboren, das letzte Mal vor neun Jahren.
Die Geburten und Puerperien sollen normal gewesen sein. Vor
sieben Jahren soll Patientin sowohl eine Entzündung im Unterleib,
als auch eine heftige Pleuritis mit Thorakopunction durchgemacht
haben, die Menses waren stets regelmässig, etwas schwächer als
normal, schmerzlos.
Ausser den durch den Prolaps und durch die Darmparese
bedingten Beschwerden bei der Defäcation klagt Patientin über con-
slante heftige Kreuzschmerzen, die auch fortbestanden, wenn sie
den Prolaps reponirt hatte. Incontinentia alvi besteht nicht.
Die Untersuchung der gracil gebauten, etwas anämischen,
fettarmen Patientin ergab eine solche Erweiterung des Anus, dass
die halbe Hand leicht in das Rectum eindringen konnte. Beim
Pressen prolabirte das letztere vollständig auf eine Länge von circa
8 — 10 cm überall gleichmässig in seinen Wandungen. Eine Hernia
rectalis war nicht vorhanden, selbst beim heftigen Pressen trat
nichts von Intestinis in die tief herabreichende Plica Douglasii
herab. Bei der Genilaluntersuchung fand sich der Uterus normal
gross, in mobiler Retroflexion, leicht descendirt, zwei ziemlich
tiefe Lacerationen am Cervix aufweisend. Die Vagina weit, äusseres
Genitale normal. Die Para- und Perimetrien vollkommen frei, die
rechten Adnexe normal. Links war ein cystischer Tumor von Faust¬
grösse zu constatiren, der seiner Lage nach dem Ovarium entsprach
und ziemlich beweglich war. An der rechten Lunge konnten die
Ueberbleibsel der abgelaufenen Pleuritis nachgewiesen werden.
Tuberculose nicht constatirbar, Herz gesund. Ernährungs¬
und Kräftezustand im Allgemeinen ein wenig befriedigender.
Da die Beschwerden der Hauptsache nach auf den Rectum¬
prolaps zurückzuführen waren, so schien dessen operative Entfer¬
nung in erster Linie geboten; nachdem aber auch nicht ausge¬
schlossen werden konnte, dass ein Theil der Klagen aus dem Vor¬
handensein der Ovarialcyste resultire, andererseits die Patientin
dringend die Entfernung des Tumors wünschte, so musste die
gleichzeitige Exstirpation desselben in Betracht gezogen werden. Der
Tumor schien für eine vaginale Cöliotomie sehr geeignet und wurde
der Patientin vorgeschlagen, sich zuerst den Rectumprolaps und in
einem späteren Zeitpunkte den Tumor exstirpiren zu lassen, wobei
man dann auch eine Verkürzung der Ligamenta rotunda zur Behebung
ihrer Retroflexion und die Naht der Cervixrisse hätte verbinden können.
Die Patientin wollte jedoch von zwei Operationen nichts wissen
und drang darauf, mit Rücksicht auf die weite Entfernung ihrer Heimat
möglichst schnell, und zwar durch eine Operation, von ihrem
Leiden befreit zu werden. Der prekäre Kräftezustand der Patientin
liess es als etwas bedenklich erscheinen, der Amputation des Pro¬
lapses die vaginale Cöliotomie vorauszuschicken und auf diese
Weise die Patientin einer langdauernden Narkose zu unterwerfen,
ganz abgesehen davon, dass dabei das Peritonealcavum an zwei
Stellen eröffnet werden musste, nachdem es als sicher anzunehmen
war, dass bei der Rectumamputation der Douglas breit eröffnet
werden würde. Es wurde daher beschlossen, den Prolaps zu ampu-
tiren und wenn es sich zeigen sollte, dass durch den eröffneten
Douglas sich die Cyste als exstirpirbar erwiese, die Ovariotomie
auf diesem Wege anzuschliessen, wenn nicht, den Tumor unberührt
zu lassen.
Die damit verbundene Infectionsgefahr und der Umstand,
dass eine eventuelle Drainage von vornherein ausgeschlossen war,
Hessen es räthlich erscheinen, die beiden Operationen unter zwei
Operateure zu theilen, wobei der pro consilio beigezogene Professor
H o c h e n e g g die Rectumresection, der Autor die Ovariotomie aus¬
zuführen hatte.
Das Rectum wurde nach seiner maximalen Ausstülpung
typisch am Analring Umschnitten, vom perirectalen Gewebe abprä-
parirt, vorne der Douglas breit eröffnet, hierauf das Rectum herab-
und nach hinten geschlagen und provisorisch abgebunden. Nach
Desinfection des äusseren Schauplatzes exstirpirte ich leicht
die Cyste.
Diese wurde durch Expression von oben mit dem unteren
Pol tief in den Douglas herabgedrängt, mit dem Scalpell punctirt
und dabei klare, seröse Flüssigkeit entleert; einige leichte strang¬
förmige peritoneale Adhäsionsstränge wurden stumpf gelöst, der
leicht zugängliche Stiel in drei Partien unterbunden und der Cysten¬
sack abgetragen. Nach exacter Blutstillung wurde der Stiel reponirt
und nun der Douglas so geschlossen, dass das vordere Blatt mit
dem Serosaüberzuge der oberen Rectalpartie vereinigt wurde.
Daraufhin wurde das Rectum resecirt und unter Ver¬
kleinerung des ad maximum erweiterten Analringes die Operation
vollendet.
Der Decursus war bis auf geringfügige Temperatursteigerungen
in den ersten Tagen ein vollkommen glatter und die Analwunde
heilte per primam. Im weiteren Verlaufe stellte sich allerdings
heraus, dass der Sphincter ani durch die langdauernde Dilatation
in seiner Functionstüchtigkeit wesentlich gelitten hatte und war die
Incontinentia alvi auch nach einer mehrwöchenttichen Massage und
Faradisirung bei der Entlassung der Patientin in ihre Heimat noch
ungebessert. Wie ich höre, soll diese auch heute, also drei Viertel¬
jahre nach der Operation, noch theil weise bestehen.
Die Retroflexion war, trotzdem der Uterus nach der Operation
aufgerichtet und durch Vaginaltampons in der Normallage erhalten
worden war, nach erfolgter Heilung nach wie vor vorhanden und
der Uterus hielt nur im Pessar. Patientin wurde daher mit einem
gut sitzenden Thomas-Pessar entlassen.
Die Hoffnung, dass durch die Abtragung des ganzen
Rectums in Folge des nach der Operation sich vielleicht geltend
machenden Zuges nach oben sich die Tiefe des Douglas wesentlich
r. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Ill
vermindern und dadurch ein günstiger Einfluss auf die Retroflexion
durch die dadurch zu erhoffende Nachhintenlagerung der Cervix
ausgeübt werden würde, hatte sich also als trügerisch erwiesen
und wäre es bei einem zweiten ähnlichen Falle empfehlenswerth,
durch möglichst hoch hinaufgelegte Tabaksbeutelnähte den Douglas
breit zu vernähen und dadurch die Cervix hoch nach hinten zu
fixiren.
Die Ligamenta sacro-uterina sind bei solch tiefer Aussackung
des Douglas bis zur Unkenntlichkeit gedehnt und können daher in
typischer Weise (Sänger, Frommel-Freund) nicht verkürzt
werden, auch würden vereinzelte Knopfnähte, welche die Cervix
an die hintere Beckenwand fixirten, in einem solchen Falle
hochgradigster Dehnung des Douglas ebensowenig einen bleibenden
Erfolg erzielen, wie dieses Verfahren (W. A. Freund) bei Prolaps
gute Resultate ergab. Die flächenhafte Verödung der weiten Peri¬
tonealtasche dagegen müsste, da die Ueberdehnung der Lig. sacro-
uterina ja doch das ätiologische Moment der sich daran an¬
schliessenden Retroflexion abgibt, und da bei dieser Vernähung des
Douglas sicher die Ligamente ausgiebig verkürzt und die Cervix
wieder retroponirt würden, von Erfolg begleitet sein.
Mit Rücksicht auf die ungünstigen Resultate bei Verkürzung
der Lig. sacro-uterina bei Retroflexion nach Sänger und der
geringen Erfolge nach der Methode Frommel-1 reund (eine
Heilung unter sieben Fällen) ist dieses Verfahren bei den Gynäko¬
logen in Misscredit gekommen, ja bei Verhandlung dieses Themas
auf dem Gynäkologen- Congresse in Wien als werthlos verworfen
worden (Referat : 0 1 s h a u s e n).
Nichtsdestoweniger wäre für einen ähnlichen Fall obiger
Vorschlag empfehlenswerth.
Die Untersuchung des anderen Ovariums hatte ergeben, dass
dieses gesund; die exstirpirte Cyste erwies sich als ein einkamme-
riges, seröses Cystadenom.
Der Stiel, der nicht übermässig lang war, liess sich, wie
erwähnt, ziemlich tief herabziehen, und die Anbringung der obersten
Ligatur um das Lig. infundibulo-pelvicum bereitete keine besonderen
Schwierigkeiten. Man hatte durch die Oeffnung des weiten Anal¬
ringes einen guten Einblick in den hinteren Beckenraum und ich
hatte den Eindruck, als wäre dieser in unserem Falle ein besserer
gewesen, als bei so mancher vaginalen Cöliotomie.
Von den oben angeführten, in der Literatur bekannt
gewordenen drei ähnlichen Fällen ist der ball Kluiskens
von Lach a pelle1) erwähnt, der tödtlich endete; der zweite,
auch eine Geburt betreffend, von Aleksenko2) beschrieben.
In beiden Fällen wurde die Geschwulst nach Durchtrennung
der Rectalschleimhaut entfernt. Letzterer F all betraf eine
25jährige Viertgebärende, die nach vorzeitigem Blasensprunge
nach 26stündiger Wehen thätigkeit bei nicht vollkommen ei-
öffnetem Orificium und Endometritis sub partu mittelst Forceps
von einem 4550 g schweren, nicht wieder belebbaren Kinde
entbunden wurde. Der schon in der Eröffnungsperiode unter (?)
dem Kopfe fühlbare apfelgrosse elastische Tumor fiel beim
Forceps aus dem After vor. Die Geschwulst war von der von
vielen Extravasaten durchsetzten Rectalschleimhaut bedeckt.
Von ihr ging ein gänsefederkieldicker Strang nach rechts
oben. Der Stiel wurde abgebunden, mit Catgut umnäht^ und
reponirt und der gerissene Damm genäht. Daraufhin Endo¬
metritis, einmonatliches Krankenlager, im Mastdarm kleine,
das Lumen nicht verengernde Narbe.
Der Tumor war ein Dermoid des Ovariums.
Der dritte Fall ist der von Stocks.3) Dabei handelte
es sich um eine 45jährige, bereits im Klimax befindliche Frau,
die seit ihrem 34. Lebensjahre einen Tumor von Walnuss¬
grösse am Anus bemerkte, der ihr besonders bei der Defäca-
tion arge Beschwerden verursachte.
Als die Patientin zur Operation kam, war der Prolaps,
der für einen einfachen Rectumprolaps gehalten wurde, circa
ldeincocosnussgross. Erst bei der Operation erkannte man, dass
sich die Analöffnung nicht an der unteren Spitze, sondern an
der hinteren Seite des Tumors befinde und konnte constatiren,
dass die per rectum und vaginam eingeführten Finger einen
den untersten Theil der vorderen Wand der Rectumampulle vor¬
drängenden Tumor umgreifen konnten. Die Exstirpation des¬
selben wurde durch einen Längsschnitt in den Prolaps so aus¬
geführt, dass die Stielligaturen durch die mittelst fortlaufender
Naht geschlossene Wunde herausgeleitet wurden (dabei angeb¬
lich eine bedeutende Blutung?) und der P< olaps in seiner
Situation belassen wurde. Letzterer verkleinerte sich innerhalb
drei Wochen so, dass er dann leicht reponirbar war, jedoch
als walnussgrosser Prolaps fortbestand, ohne besondere Be¬
schwerden zu verursachen. Der exstirpirte Tumor war eine
einkammerige Ovariencyste.
Von diesen drei ähnlichen Fällen unterscheidet sich unser
Fall insbesondere dadurch, dass in allen dreien in einer Hernia
rectalis liegende Ovarialcysten exstirpirt wurden, während in
dem beschriebenen der Tumor von seinem normalen Sitze ent¬
fernt wurde, wodurch gezeigt wurde, dass ausser auf den be¬
kannten Wegen, nämlich durch abdominelle, vaginale Cölio¬
tomie, oder durch die perineale oder sacrale Methode (Hohen-
e g g) in solchen Ausnahmsfällen von Combination mit Rectum¬
prolaps auch auf analem Wege eine Ovariotomie ausführ¬
bar ist.
') Mme. Lachapell e, Pratique des accoutrements.
2) Aleksenko, Ovariotomie per rectum. Zeitschrift für Geburts¬
hilfe und Frauenheilkunde (russisch). Referirt im: Centralblatt für Gynäko¬
logie. 1890, Bd. XXI, pag. 392.
3) W. Stocks, Prolaps of an ovarian cyst. Brit. med. Journ. 1875,
pag. 487.
Aus der Klinik G. Braun in Wien.
Ueber Luftembolie bei Placenta praevia.
Von Dr. Hugo Hiibl, Assistenten der Klinik.
Nach einem Vortrage, gehalten in der Sitzung der geburtshilflich-gynä¬
kologischen Gesellschaft in Wien am 12. December 1899.
Die Frage der Luftembolie im Allgemeinen ist
heute durch mannigfache klinische MittheiluDgen beleuchtet,
und viele dunkle Punkte in diesem Thema hat vor Allem
das Thierexperiment geklärt.
Ich erwähne besonders die überaus fleissige Arbeit von
Heller, Mager, v. Schrötter und entnehme namentlich
dieser die folgenden Vorstellungen:
1. Tritt so viel Luft in die Vene, dass das rechte Herz
von Luft vollgefüllt wird, dann wird das sich contra-
hirende Herz die Luft, weil sie ein compressibles Gas ist,
wohl zusammendrücken, aber nicht fortbewegen. Die Pro¬
pulsionskraft des Herzens wird umgesetzt in Compression,
und es tritt plötzlich der Tod ein.
2. Kommt aber nur weniger Luft in die Vene, dann be¬
findet sich im rechten Herzen ein L u f t-B 1 u t g e m i s c b. Die
Propulsionskraft des Herzens wird nur theilweise in Com¬
pression umgesetzt, und es ist eine Fortbewegung im Blutkreis¬
läufe noch möglich. Diese Fortbewegung hängt ab von der
Kraft des Herzens, und es kommt nun Luft in die Lungen,
oder es dringen sogar Luftblasen bis ins linke Herz und von
dort in den Körper. Solche Kranke bieten die verschiedensten
Erscheinungen, und es kommen oft die gleichen Bildei zu
Stande, wie bei den Embolien durch Ihiomben. Ls gibt sichei-
gestellte Fälle, in denen man Luft in den Lungengefässen, in
Coronargefässen, in den Gehirnarterien und selbst im Rücken¬
marke gefunden hat.
Hierher gehören auch die Fälle von Heilungen, weil
die Luft auf dem oben beschriebenen Wege auch aus¬
geschieden oder resorbirt werden kann. Doch diese Fälle
will ich nicht besprechen.
Die Todesfälle bei Luftembolie aber möchte ich trennen
in acute und in protrahirte Todesarten.
Ueber Luftembolie bei Pia cente praevia hat
fast ausschliesslich die 0 1 sha u s e n’sche Klinik publieirt.
Schon im Jahre 1864 hat Olshausen in seiner umfassenden
Arbeit über Lufteintritt in die Uterusvenen bezüglich der
plötzlichen Todesfälle bei Placenta praevia, welche sich nicht
durch Anämie erklären Hessen, Folgendes geschrieben
112
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
\i .
5
»Erwägt man, dass, wie die Erfahrung genugsam ge¬
zeigt hat, vorzugsweise das bei Placenta praevia ausgeführte
Accouchement force solche Todesfälle, ohne dass neue Blutung
bei der Operation eintrat, veranlasst, so liegt die Erklärung
um so viel näher, dass, wenn unter solchen anatomischen
Verhältnissen durch die Einführung der ganzen Hand in die
Genitalien der Luftzutritt zu dem Muttermund bewerkstelligt
ist, derselbe auch in die Gefässe stattfinden kann und Ursache
des plötzlichen Todes wird. Mir scheint in der That diese Er¬
klärung nicht gesucht, wenn ich auch nicht im Stande bin,
ihre Richtigkeit durch auch nur einen einzigen Sectionsbefund
zu erweisen.«
Bis dahin hatte man für diese plötzlichen Todesfälle beim
aufsitzenden Mutterkuchen entweder gar keine Erklärung,
oder es wurde hiezu eine vom Cervix ausgehende Lähmung
des gesammten Nervensystemes herangezogen.
Erst im Jahre 1887 beschrieb Kramer aus der Berliner
Klinik den ersten Fall, welcher den Beweis für die Richtigkeit
der Annahme Olshau sen’s lieferte, und dann folgen in den
Jahren 1892 und 1894 zwei ganz analoge Fälle, welche die
Assistenten 0 1 s h a u s e n’s, K ruckenberg und Heuck, be¬
richten. In diesen drei Fällen trat der Tod plötzlich, un¬
mittelbar nach der Wendung in Narkose ein, und bei der
Section fand sich jedes Mal das rechte Herz voll von Luft.
Der vierte Fall wurde von Boss in Breslau mitgetheilt,
welchen ich leider nicht im Originale nachlesen konnte.
Der fünfte Fall stammt wieder aus der Klinik Ols-
h au sen’s; er wird von Lesse beschrieben und ist deshalb
von ganz besonderem Interesse, weil der Tod erst fünf Stunden
nach der Operation eintrat.
Es war dies die erste Publication, durch welche eine
protrahirter Tod als die Folge einer Luftembolie bei
Placenta praevia nachgewiesen wurde.
Einen ganz gleichen Fall, den sechsten in der Reihe der
Luftembolien beim aufsitzenden Mutterkuchen, berichtet Zorn
im Jahre 1898.
Auch diese beiden Fälle von protrahirten Tod wurden
secirt, und bei der Section fand sich das Herz theilweise mit
Luft gefüllt.
Die sicheren Mittheilungen über den Tod an Luftembolie
bei Placenta praevia sind also noch sehr gering, und deshalb
erlaube ich mir, die folgenden zwei Krankengeschichten aus
der Klinik G. Braun zu publiciren.
Fall I. (Acuter Tod). Am 28. November 1899 wurde die
40jährige, schlecht genährte Rachitica W. A. zum fünften Male
schwanger, sub Prot.-Nr. 2657 ex 1899 wegen Placenta praevia
an die Klinik aufgenommen. Tags vorher war zum ersten Male eine
geringere Blutung aufgetreten. Die Frau war im achten Monate der
Schwangerschaft, das Becken war ein allgemein ungleichmässig ver¬
engtes, platt rachitisches geringen Grades, die Frucht befand sich
in beweglicher Lage, es bestand vermehrte Fruchtwasser-
meng e.
Bei der inneren Untersuchung fand ich den Halscanal B cm lang,
der innere Muttermund war für einen Finger durchgängig, überall von
Placentargewebe bedeckt. Es wurde die Tamponade der Cervix und
der Vagina ausgeführt, und bei der Entfernung derselben nach
48 Stunden war der Muttermund gerade für zwei Finger durch¬
gängig und der Halscanal fast verstrichen. Am 30. November um
i Uhr Abens führte ich bei diesem Befunde die Wendung nach
Braxton Hicks aus. Ich schätze den gesammten Blutverlust vor der
Operation auf circa '/., /. Die Frau wurde mit Billroth-Mischung
narkotisirt; die zur Narkose verbrauchte Menge betrug 30 cvv\ Die
Gebärende war in horizontaler Rückenlage, die Beine wurden von
zwei Hebammen im Hüft- und Kniegelenk gebeugt gehalten. Die
trau war vollständig narkotisirt. Die Operation gelang sehr rasch.
Ich ging mit den zwei Fingern dem Mutterkuchen entlang und kam
circa 3 cm vom Muttermund entfernt auf die Eihäute. Die Frucht-
wassermenge war vermehrt, ich liess das Fruchtwasser langsam
neben der Hand abfliessen. Als der Fuss vor der Scheide lag,
liess ich den Narkosekorb entfernen. Bis jetzt hatte sich die Frau
vollständig gut befunden, da wurde sie plötzlich cyanotisch, und
der Puls wurde klein. Die Frau machte noch einige, etwas raschere,
leichte Athemzüge, und dann stockte die Athmung mit einem Schlage.
Es wurde sofort künstliche Athmung gemacht, lvampherinjectionen
verabreicht, heisse Tücher gegeben, Herzmassage ausgeführt. Dann
bekam die Frau zwei Ballons Sauerstoff zur Inhalation und elektrische
Reize wurden applicirt. Der Tod war sehr rasch eingetreten, und
als ich etwa fünf Minuten nach der Wendung das Herz auscultirte,
war über demselben nichts zu hören. Ich schrieb die Frau als »in
der Narkose gestorben« zur gerichtlichen Section. Das todte Kind
blieb in utero.
Der Sectionsbefund von Prof. K o 1 i s k o lautete : ». . . . Im Herz¬
beutel zwei Esslöffel einer gelblich-wässerigen Flüssigkeit. Das Herz
etwas grösser, die linke Kammer zusammengezogen und starr, seine
rechte Kammer blasig ausgedehnt, beim Anklopfen Luftschall gebend,
auch der Conus der Lungenschlagader ist derartig ausgedehnt. Diese
Ausdehnung der rechten Herzkammer ist durch Luft bedingt, neben
welcher in dieser Herzkammer nur wenige Tropfen dunklen flüssigen
Blutes sich finden. Die linke Herzkammer ist leer. In beiden Vor¬
höfen befindet sich wenig dunkles, flüssiges Blut. Die Auskleidung
des Herzens, die Klappen und die Innenhaut der grossen Gefässe
sind zart, das Herzfleisch röthlichbraun und starr .
In der Gebärmutterhöhle befindet sich eine wohlentwickelte,
40 cm lange weibliche Frucht, dieselbe ist mit den Füssen nach
abwärts gelagert, ihr linker Fuss ist durch den Gebärmutterhals¬
canal vorgetreten, der Kopf ist rechts oben . . . Der Mutterkuchen
in der unteren Gebärmutterhälfte zum grössten Theile an der hinteren
Wand, der linken Seite und vorne auch noch über die Mittellinie
nach rechts hinüberreichend, derart gelagert, dass sein Gewebe mit
den unteren Randpartien den inneren Muttermund vollkommen
bedeckt. Die Nabelschnur ist zwei Finger breit ober dem inneren
Muttermund an der hinteren Partie des Mutterkuchens eingepflanzt.
Der Mutterkuchen erscheint vom hinteren Rand des inneren Mutter¬
mundes nach links hinten hin auf eine 4 cm breite Strecke von
der Gebärmutterwand abgelöst. Das Gewebe daselbst ist blutig unter¬
laufen und in der oberen Grenze der Ablösung, genau in der Mittel¬
linie, befindet sich das Lumen einer rabenfederkieldicken Blutader,
weit klaffend. . . . Sonst Alles normal.«
Dieser Fall ist also ein sichergestellter Fall von acutem
Tod als Folge von Luftembolie bei Placenta praevia, ist den
vorher publicirten vollkommen analog und reiht sich als vierter
an die Fälle von Kramer, K ruckenberg und Heuk.
Fall II. (Protrahirter Tod.) Am 26. December 1898 wurde
die 36jährige, gut genährte G. B., zum vierten Male schwanger,
sub Prot.-Nr. 3351 ex 1898 mit der Diagnose »Placenta praevia« an
die Klinik aufgenommen. Vor vierzehn, vor zwei und vor einem Tage
hatten Blutungen geringeren Grades bestanden. Die Frau war am
Ende der Schwangerschaft, das Becken war regelmässig, der Schädel
der Frucht befand sich am rechten Darmbeinteller und die Fruch t-
wasser menge war bedeutend vermehrt. Bei der inneren
Untersuchung fand ich den Halscanal fast verstrichen und der für
zwei Finger durchgängige Muttermund war überall von Placenta
überdeckt. Obwohl noch keine Wehen vorhanden waren, führte ich
bei diesem Befunde sofort die Wendung nach Braxton Hicks aus.
Die Frau war vor der Operation absolut nicht anämisch. Sie lag
auf dem Tische in horizontaler Rückenlage, die Beine wurden von
zwei Hebammen im Hüft- und Kniegelenke gebeugt gehalten. Die
Narkose mit Billroth-Mischung verlief anstandslos, sie wurde von
einem verlässlichen Arzte gemacht, die verbrauchte Menge der
Mischung war 30 cm3. Die Operation gelang sehr rasch. Ich ging
mit den zwei Fingern mitten durch die Placenta durch und liess
beim Herunterleitcn des Fusses das Fruchtwasser langsam heraus.
Die Frau erwachte rasch aus der Narkose und befand sich voll¬
ständig wohl. 8 72 Stunden nach der Wendung kam die 4200 g
schwere, todte Frucht spontan zur Well. Der Schädel wurde durch
eine kräftige Wehe rasch geboren und demselben stürzte un¬
gefähr '/2 1 blutiges Fruchtwasser nach. Die Nachgeburt folgte
gleich und nun tastete ich, wie wir es immer nach Operationen
zu thun pflegen, das Genitale aus. Der Uterus war voll¬
ständig unverletzt. Intrauterine Rothkali-Irriga-
t i o n mit der ii b 1 i c h e n V o r s i c h t. Die Frau lag dabei
auf dem Steckbecken, so dass der Steiss etwas erhöht war.
Die Blutung während und nach der Operation war
gleich Null. Die Lippen waren roth, der Puls war gut,
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
113
doch schien mir die Frau nach der Irrigation etwas unruhig.
Die Temperatur stieg rasch auf 39° und drei Viertelstunden
nach der Irrigation kam ein schwerer Schüttelfrost, der l3/4 Stunden
dauerte. Die Temperatur betrug 39'5°. Der Puls wurde kleiner, die
Frau wurde livid verfärbt und sie hatte bedeutende Athemnoth.
Die Pulszahl stieg bis auf 170, die Cyanose nimmt zu, die Kranke
seufzt tief auf und verfällt immer mehr. Auf die üblichen Analeptica
erholt sich die Frau, kommt zum klaren Bewusstsein, bis 11 Stunden
nach der Geburt ein zweiter schwerer Collaps folgt. In den Vorder¬
grund der Erscheinungen stehen wieder tiefe Cyanose und Athemnoth.
Das Bewusstsein ist auffallend klar. Die Analeptica bessern den Zustand
vorübergehend, und schliesslich stirbt die Frau 14 Stunden nach
dem Austritt der Frucht unter den Erscheinungen absoluter Herz-
insufficienz. Die Temperatur war bis zum lode auflallend hoch.
Obwohl in diesem Falle die Section auf den dringenden
Wunsch des Gatten unterblieb — die Frau war eine Jüdin —
so halte ich doch die Diagnose »Luftembolie« für feststehend
und möchte mir erlauben, diesen Fall als dritten an die ganz
analogen Publicationen Lesse’s und Z o r n’s von p r o t r a-
hirtem Tod als Folge von Luftembolie bei Placenta praevia
anzureihen.
Dass diese Kranke nach der intrauterinen Irrigation
plötzliche Temperatursteigerungen und Schütteltröste hatte,
hat uns nicht verwundert. Diese Beobachtung haben wir nach
Uterusspülungen zu wiederholten Malen gemacht. Unser Fall
war sicher rein, und an eine acute Sepsis war bestimmt nicht
zu denken.
Der Vollständigkeit halber will ich noch die Möglich¬
keit einer Vergiftung durch die Spülflüssigkeit erwähnen. Wir
haben eine Unzahl von intrauterinen Irrigationen mit Roth-
kali ausgefiihrt und niemals eine schädliche Wirkung vom
hypermangansauren Kali erlebt.
Die Diagnose »Luftembolie bei Placenta praevia«
dürfte in folgender Weise zu stellen sein:
1. Durch das Ausschliessen der übrigen
möglichen Diagnosen.
Namentlich Lesse und Zorn haben so ihre klinische
Diagnose begründet.
Es wäre vor Allem der Tod durch Anämie auszu-
schliessen. In meinen beiden Fällen haben die Frauen vor,
während und nach der Operation fast kein Blut verloren und
boten keine Zeichen von Anämie.
Es ist hier ferner an die Cervix- und Uterusrup¬
turen zu denken, welche nach operativen Entbindungen bei
Placenta praevia doch häufiger Vorkommen. Rupturen waren
in meinen Fällen sicher nicht vorhanden.
Nun kommt der Chloroform tod an die Reihe. Auch
diesen glaubte ich in unseren Fällen ausschliessen zu können.
Namentlich in meinem zweiten Falle, in welchem die Be¬
stätigung der Diagnose »Luftembolie« durch die Section
fehlt, war von Chloroformtod keine Rede. Die Narkose mit
Billroth-Mischung verlief anstandslos, sie wurde von einem
verlässlichen Arzte gemacht, dauerte kaum einige Minuten
und die verbrauchte Menge der Mischung war 30 cm3. Dann
erwachte die Frau rasch aus der Narkose und befand
si c h noch 8l/2 Stunden nach dem Erwachen ganz
normal. Allerdings wird es häufiger schwierig sein, den Chloro¬
formtod vom Tode durch Luftembolie zu differenziren. Die
Bilder des Chloroformtodes und die verschiedenen Bilder des
Todes durch Luftembolie werden sich häufig decken, und
wenn man keinen anderen Anhaltspunkt für die Diagnose
hätte, als den Verlauf des Todes, dann wäre meistens die
Differentialdiagnose nicht zu machen.
Ich habe schliesslich schon eingangs erwähnt, dass klinisch
auch die Bilder von Luft- und Throbusembolien oft
vollständig gleich sind. Für diese Differentialdiagnose
möchte ich hier besonders den Umstand hervorheben, dass die
Luftembolien unmittelbar mit der Geburt in Zusammenhang
stehen. Die Luftembolie erfolgt während oder bald nach der
Geburt, während Thrombusembolien erst mehrere Tage und
selbst Wochen nach dem Partus einzutreten pflegen. In meinem
ersten F alle traten die Erscheinungen der Embolie während
der Geburt, und in meinem zweiten Falle unmittelbar
nach derselben auf.
2. Hört man bei Luftembolie über dem
Herzen ein glucksendes Geräusch und erhält
man dort einen tym panitischen oder gedämpft
tympanitischen Percussionsschall.
Wenn man diese Symptome wahrnimmt, dann ist die
klinische Diagnose auf Luftembolie sicher zu stellen.
Freilich wird man häufig versäumen, diese Erscheinungen
zu beachten.
Man ist bei diesen Fällen durch die Anwendung der
verschiedensten Analeptica so in Anspruch genommen, dass
man auf das rechtzeitige Percutiren und Auscultiren vergisst.
Es wurde meistens an die Luftembolie, die doch nur äusserst
selten vorkommt, nicht gleich gedacht, und man kann höchstens
durch den tympanitischen Percussionsschall über dem Herzen
der Todten die Diagnose »Luftembolie« im nachhinein be¬
kräftigen.
Krücken b erg fand bei dem zweiten Fall von Luft¬
embolie bei Placenta praevia an der Klinik Ols ha use n’s
ein »eigenthiimliches Schwirren« über dem Herzen, während
Heuck über den dritten Fall dieser Klinik schreibt: »Eine
Auscultation des Herzens im Beginn der Asphyxie ist leider
unterlassen worden.«
Auch in unseren Fällen wurden diese Symptome nicht
aufgenommen.
3. Wird die Diagnose »Luftembolie« dann
gestellt werden, wenn die bedrohlichen Er¬
scheinungen nach Ereignissen auftreten, bei
welchen ein Einströmen von Luft in die Uterus¬
venen möglichist.
Zum Beispiel in dem Lelirbuche von Schauta ist das
Vorkommen von Luftembolien durch die Uterus venen gerade
bei Placenta praevia hervorgehoben.
Alle beobachteten Fälle beziehen sich auf Placenta
praevia totalis, nur im Falle Lesse’s sass die Placenta
marginal.
Auch in meinen beiden Fällen war der ganze Mutter¬
mund von Placentargewebe überdeckt.
Was nun die Umstände betrifft, welche den Lufteintritt
in die Venen ermöglichen, so möchte ich dieselben in folgende
zwei Gruppen theilen.
a) Der Druck in den Abdominal-, respective
Uterusgefässen wird plötzlich vermindert, und
so wird Luft in die offenen Gefässe gesaugt.
Von allen Autoren wird in dieser Beziehung die R ücke li¬
la ge der Frau mit erhöhtem Steiss und mit angezogenen
Beinen als die Luftembolie begünstigend bezeichnet.
An unserer Klinik wird den Hebammen strengstens em-
gesebärft, namentlich bei dem Lagewechsel der Frisch¬
entbundenen aus der Seiten- in die Rückenlage
für den guten Contractionszustand der Gebärmutter zu sorgen,
weil wir glauben, dass gerade bei diesem Lagewechsel, be¬
sonders bei schlecht contrahirter Gebärmutter, Luft in deren
Gefässe eindringen könne.
Ferner ist zu berücksichtigen, dass während des
Nachlassens einer Wehe oder während einer Inspi¬
ration der Druck in den Bauchgefässen sinkt.
Lesse betont den ersteren Umstand, während es
Kramer für wahrscheinlicher hält, dass die nach dem Auf¬
hören der Wehe einsetzende tiefe Inspiration eine Luftembolie
begünstigen kann.
Endlich aber muss ich au dieser Stelle hauptsächlich die
rasche Volumsverminderung des Uterus bei der
1 ^1 u a m »t /-> I l-, /-V ri i / 1 |-\ rr r\
1 _ * _ _ 1 . /-\ v\ J\ l v 1 I i a o C A 11
der vermehrten Fruchtwässer ergibt.
Mit Recht legt Freudenberg auf das Hydrammos
für das Entstehen von Luftembolien bei Placenta piaevia ein
ganz besonderes Gewicht, und ertheilt den Rath, das plötzliche
Hervorstürzen des Fruchtwassers zu verhüten.
Im Falle Heuck’s spielte dieser Umstand gewiss eine
Rolle. In meinen beiden Fällen habe ich das Fruchtwasser
mit grosser Vorsicht abgelassen.
114
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 5
Ich komme nun zur zweiten Gruppe der die Luft¬
embolie bei Placenta praevia begünstigenden Vorkommnisse:
b) Der Druck imüterusinnern wird vermehrt,
und auf diese Weise kann dieindieGebär mutter
getretene Luft in die klaffenden Gefässe der¬
selben gepresst werden.
Allgemein ist in dieser Beziehung die Gefahr der intra¬
uterinen Irrigation gekannt.
Lesse und Kramer glauben, dass die durch die
Hand in die Scheide und höher hinauf gebrachte Luft bei der
Wendung mechanisch in die offen da liegenden Gefässlumina
gepresst werden kann.
Schliesslich wird unter Umständen eine Wehe, wie
Heue k meint, oder häufiger das Drücken und Kneten
am Uterus durch Vermehrung des Gebärmutterinnnendruckes
zur Luftembolie führen.
G. Braun hat darüber bei der Publication eines ein¬
schlägigen Falles, Folgendes geschrieben: »Die Luft drang bei
gewisser Schlaffheit der Uteruswandungen in die Uterushöhle
ein, und, sei es, dass die Placenta im Cervicalcanal einen Ver¬
schluss bildete, sei es, dass auf eine andere Weise die Luft
aus der Scheide nicht entweichen konnte, die Luft wurde bei
fortwährendem Drucke der Hand der massirenden Hebamme
in die Uterusgefässe hineingepresst.«
Ich habe nun der Reihe nach die die Luftembolie unter¬
stützenden Momente aufgezählt, und habe die Meinung, dass
in den meisten Fällen die Luftembolie durch das Zusammen¬
wirken mehrerer dieser Umstände zu Stande
kommen wird.
In meinem ersten Falle dürften die Manipulationen bei
der Wendung den Lufteintritt in die klaffende Vene be¬
werkstelligt haben. Die Rückenlage der Frau mit hinaufge¬
schlagenen Beinen hat den Vorgang begünstigt, und es war
ein unglücklicher Zufall, dass die Luft mit dem offenen Ge¬
fässe in Berührung kam.
In unserem zweiten Falle aber hängt die Luftembolie
nicht mit der Wendung zusammen. 8l/2 Stunden nach der¬
selben war die Frau noch vollkommen wohl.
Als aber dann der Schädel rasch austrat und dem
Kopfe noch l/2 l Fruchtwasser nachstürzte, dürfte die Luft
in die Gebärmutter gedrungen sein. Auch diese Frau war
in Rückenlage mit angezogenen Beinen, und dadurch war
der Druck in den Abdominalgefässen herabgesetzt. Bei der
kurz nach der Geburt vorgenommenen intrauterinen Irrigation
wurde sicher keine Luft in die Gebärmutter gebracht. Durch
eine solche Spülung wird aber der Gebärmutterinnendruck
erhöht, und es dürfte die in der Gebärmutter befindliche Luft
in die Venen gepresst worden sein.
Ich habe nun die Sectionsbefunde, also pathologisch¬
anatomische Diagnose der Luftembolie zu besprechen.
lleuck und Lesse sind der Meinung, dass bei den
Sectionen häufiger Luftembolien übersehen werden. Es ist
allerdings anzuempfehlen, bei solchen Fällen, welche auf Luft¬
embolie schliessen lassen, die Eröffnung des Herzens und der
grossen Gefässe unter Wasser vorzunehmen.
Die Sectionsbefunde der bis jetzt bekannten Fälle decken
sich mit unseren Fällen vollständig.
In den Fällen von acutem Tod fand man immer im
rechten Herzen viel Luft, und die Gasblasen waren im Kreis¬
läufe nicht weiter vorgedrungen.
Bei den beiden Sectionen der Fälle von protrahirtem
Tod aber enthielt das rechte Herz ein L u f t - B 1 u t g e m i s c h
und Luftblasen gelangten aus dem rechten Herzen noch weiter
in den Kreislauf.
Lesse fand Luft in den kleinen Lungeugefässen.
In dem Falle Heuck’s war Luft in den Spermatical-
venen, ein Umstand, welcher beweist, dass die Gasblasen auch
nach und nach ins Herz gelangen können.
Diese Möglichkeit scheint mir wichtig!
Es könnte sich ja gelegentlich der künstlichen Athmung,
die doch bei von Luftembolie betroffenen Frauen in An¬
wendung kommt, ereignen, dass gerade durch diese neue
Luft in die Uterusvenen und ins Herz dringt. Ich möchte
deshalb künftighin bei solchen Frauen dieser Eventualität da-
| durch vorzubeugen trachten, dass ich erst nach dem raschen
Anlegen eines Schutzverbandes und nach dem Zusammenbinden
der Beine die künstliche Athmung ausführe.
Zum Schlüsse füge ich über die pathologisch-anatomische
Differentialdiagnose zwischen Luftembolie und anderen ähnlichen
Sectionsbefunden noch Folgendes hinzu:
H a n k e 1 schreibt in seinem Handbuche über Inhalations-
anästhetica: »Die Lunge ist für die im Leben vorkommenden
Druckwerthe nicht luftdicht, sondern es kann bei übermässig
starkem Druck Luft in die Lungengefässe oder auch in den
Pleuraraum dringen. In der Chloroformnarkose kommen solche
maximale Werthe vor, wenn bei gleichzeitigem Glottisver¬
schluss heftige Athembewegungen gemacht werden. Von der
alsdann in die Gefässe hineingepressten Lungen¬
luft geht der Sauerstoff an das ihn begierig aufnehmende
Erstickungsblut, der Stickstoff bleibt zurück.«
Bei unter solchen Umständen vorkommenden Chloroform-
todten finde sich dann Luft in den Gefässen.
Der Anatom wird bei seiner Diagnose eventuell auch
an eine solche Möglichkeit denken müssen. Freilich wird für
ihn diesbezüglich der klinische Bericht über den Verlauf der
Narkose von Wichtigkeit sein.
Ebenso wird sich bei den Sectionen von schon gefaulten
Leichen, oder, wie namentlich Hal ban in letzterer Zeit
ausführlich berichtet hat, bei an Gassepsis gestorbenen
Frauen Luft im Blute finden.
Der Anatom hat für diese Differentialdiagnosen genug
Anhaltspunkte.
Die Fäulniss wird auch sonst an der Leiche zu erkennen
sein, und die Gasblasen finden sich im ganzen Körper. Bei
den an Gassepsis gestorbenen Frauen wird schon meist der
Kliniker die Diagnose gemacht haben und für den Anatomen
ist der bacteriologische Befund von Bedeutung. Auch hier
kommen die Gasblasen in allen Organen vor.
Ich wollte durch diese Mittheilung, namentlich auf die
verschiedenen klinischen Bilder und auf die pathologisch¬
anatomischen Befunde des acuten und des protrahirten
Todes durch Luftembolie bei Placenta praevia hinweisen, und
wieder einmal die Aufmerksamkeit auf dieses ebenso seltene,
als auch besonders gerichtlich-mediciniseh wichtige Vorkommniss
lenken.
Literatur.
Boss, Inaugural-Dissertation. Breslau 1894.
Braun G., Wiener medieinisehe Wochenschrift. Bd. XXXIII,
Nr. 27 und 28.
F r e u d e n b e r g, Centralblatt für Gynäkologie. 1894, Nr. 20.
H a 1 b a n, Centralblatt für Gynäkologie. 1898, Nr. 50. (Sitzungs¬
bericht.)
Hankei, Handbuch der Inhalationsanästhetica. Leipzig 1891.
Heller, Mager, v. Schrötter, Zeitschrift für klinische Me-
dicin. Bd. XXXII. Supplement-Heft.
Heuck, Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. 1894,
Bd. XXVJII, pag. 140.
Kramer, Zeithcbrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. 1887,
Bd. XIV, pag. 497.
Kruckenberg, Centralblatt für Gynäkologie. 1892, pag. 169.
(Sitzungsbericht.)
Lesse, Zeitschrift für Geburtshilfe uud Gynäkologie. 1896, Bd. XXXV,
pag. 184.
Olshauseu, Monatsschrift für Geburtskunde. Bd. XXIV, pag. 369.
Schauta, Lehrbuch der gesammten Gynäkologie. Deuticke 1896,
pag. 758.
Zorn, Münchener medieinisehe Wochenschrift. 1898, Nr. 18.
Aus der k. k. pädiatrischen Klinik des Prof. Escherich
in Graz.
Ueber die nach Gram färbbaren Bacillen des
Säuglingsstuhles.
Vorläufige Mittheilung.
Von Dr. Ernst Moro, klinischem Assistenten.
Die in der Gesellschaft für Biologie (Sitzung vom 2. De¬
cember 1899) gemachte Mittheilung nach M. Henry Tissier1)
') La reaction chromophile d’Es eher ich et le bacterium coli. Par
M. Henry Tissier, Compt. Rend, de la Societe de Biologie. 1899,
Nr. 36, pag. 943.
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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aus dem Laboratorium des Prof. Grancher in 1 aris, veran¬
lasst uns, über einige auf das gleiche Thema bezügliche Unter¬
suchungen, die seit längerer Zeit an unserer Klinik im Gange
sind, kurz zu berichten.
Schon im Sommer 1898 ist es Prof. Es che rieh ge¬
lungen, aus diarrhoischen Säuglingsstühlen eine wohlcharakte-
risirte, echte Verzweigungen aufweisende Spaltpilzart zu iso-
liren, welche im Stuhle in Gestalt gramisch gefärbter Stäbchen
in grosser Zahl vorhanden war, und wahrscheinlich mit den
damals herrschenden epidemischen Darmkatarrhen in ätiologi¬
scher Beziehung stand. Ganz ähnliche Bacillen konnten jüngst
neben Colistäbchen im Harne eines an purulenter Cystitis
leidenden Patienten nachgewiesen werden. Die einschlägigen
Untersuchungen bieten besonders betreffs der Stellung diesei
Bacterien im Systeme besondere Schwierigkeiten und sollen in
Bälde veröffentlicht werden.
Auch die Frage der im normalen Brustkindstuhle vor¬
handenen gramisch färbbaren Bacillen, welche durch die in
Nr. 45, Jahrgang 1894 dieser Wochenschrift veröffentlichte
Arbeit von Alexander Schmidt^) in Fluss gekommen
war, wurde neuerdings in Angriff genommen und es ist uns
— und zwar vor der Mittheilung 1 issiers mit Hilfe
einer neuen, vom T i s s i e Eschen V orgehen verschiedenen
Methode geglückt, in jedem Falle zahlreiche nach Gram
färbbare Bacillen zu züchten und zu isoliren, welche in fäi-
berischer und morphologischer Hinsicht mit den im Brustkind¬
stuhle vorhandenen übereinstimmen.
Das eingeschlagene Verfahren war folgendes: Wird von
einer aus Brustmilchstuhl hergestellten Emulsion auf saure
Bierwürzebouillon reichlich geimpft, so findet man nach 24stün-
digem Aufenthalte der Röhre im Brutschrank ein flockiges
Sediment. Färbt man dieses nach dem von Escherich für Stuhl¬
färbung angegebenem Verfahren, so sieht man vorwiegend
oder ausschliesslich schlanke, blaue Stäbchen, nicht selten in
Reihen angeordnet, die an Grösse und Gestalt mit denen des
Brustmilchstuhles übereinstimmend ausserdem geschwungene
Fäden, zumeist auch Soor.
Legt man vom Bodensatz Plattenculturen mit Bierwtirze-
agar an, so entwickeln sich in der Tiefe des Nährbodens zahl¬
reiche kleine Colonien von unregelmässiger Gestalt mit^ feinen,
strahligen oder verästelten Ausläufern. Oberflächliche Colonien
werden nur auf anaerobiontischen Platten gefunden und lassen
ein dichtes Gewirr längerer, gewundener Fäden erkennen. Das
Klatschpräparat zeigt die typischen, intensiv gramisch gefärbten
Bacillen und Fäden, welche in den Ausläufern zu zopfartigen
Bündeln angeordnet sind. Der Bacillus wächst am besten bei
Körpertemperatur, aber auch bei 20 — i2°C. Sauerstoffabschluss
begünstigt seine Entwicklung, jedoch kann man auch aut
schräg erstarrtem Bierwürzeagar deutliche aerobe Entwicklung
in Form feinster matter Schüppchen erhalten. Auf Bouillon
bildet er flockigen Bodensatz. Milch ist ein minder guter
Nährboden; die ursprünglich schwach saure Reaction der
Milch nimmt an Intensität zu und am Boden des Gefässes,
wo die Bacillen am reichlichsten sind, tritt undeutliche Coagu¬
lation ein. Sporen und echte Verzweigungen wurden noch
nicht beobachtet, jedoch scheint der Bacillus sonst den ein¬
gangs erwähnten, von Escherich aus pathologischen Fällen
isolirten Bacterien sehr nahe zu stehen. Nach der genannten
Methode wurde der gleiche Bacillus auch aus den Stühlen
von Kuhmilchkindern und älteren Kindern isolirt.
Der Bacillus weicht von dem Bacillus bifid us
communis, so nennt Tissier die von ihm gezüchteten
Stäbchen, in mehrfacher Beziehung ab. Letztere sollen nach
Tissier schon im Stuhlpräparate verzweigte und kolbig
aufgetriebene Formen, in den Culturen mehrfach verzweigte,
kolbige, kerzenflammenähnliche Formen bilden. Er ist obligatei
Anaerobiont und schlecht nach Gram färbbar (il prend assez
mal leGram). Dieser letztere Umstand macht es schwer ver¬
ständlich, inwiefern Tissier gerade diesen _ Bacillus mit
den durch die gramische Färbung charakterisirten Stäbchen
2) A. Schmid t, Zur Kenntniss der Bacterien der Säuglingsfäces.
1892, Nr. 45.
des Brustkindstuhles identifleirt. Tissier bedient sich zur
Isolirung der anaerobiontischen Oulturmethoden, während für
unseren Bacillus die stark saure Bierwürzebouillon, auch Molke
oder angesäuerte Bouillon den electiven Nährboden
darstellt. Diese letztere Eigenschaft scheint uns so bedeutungsvoll,
dass es berechtigt sein dürfte, den Bacillus nach dieser Eigen-
thümlichkeit zu benennen. Wir bringen daher für den von
uns isolirten Bacillus den Namen Bacillus acidophilus
in Vorschlag.
Graz, am 21. Januar 1900.
REFERATE.
Geburtshilfliche Propädeutik.
Ein Leitfaden zur Einführung in das Studium der
Geburtshilfe.
Von Dr. Ludwig Knapp, Docent für Geburtshilfe und Gynäkologie,
Assistent an der k. k. deutschen geburtshilflichen Klinik für Aerzte
in Prag.
Mit einem Vorworte von Prof. Dr. Alfons Edlen v. Rost horn und
100 Abbildungen im Texte.
Wien und Leipzig 1899, Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof-
und Universitätsbuchhändler.
Der Verfasser hat seine Aufgabe, den Studenten eine An¬
leitung zur exacten, klinischen Beobachtung aller auf die Schwanger¬
schaft* Geburt und das Wochenbett bezüglichen Vorgänge zu bieten
in gründlicher und vollkommener Weise gelöst. Alles, was geburts¬
hilflich-diagnostisch wichtig ist, lindet an passender Stelle \olle
Berücksichtigung.
Das Eintheilungsprincip des Lehrstoffes, dass im Interesse des
natürlichen Zusammenhanges und wegen der leichteren Uebersicht
die pathologischen Vorkommnisse im unmittelbaren Anschlüsse an
das physiologische Verhalten abgehandelt werden, ist für einen
propädeutischen Curs und zum Nachschlagen für den praktischen
Arzt ganz zweckmässig gewählt. Die vorliegende Propädeutik soll
ja nach der Absicht "des Verfassers den klinischen Vortrag und
das Lehrbuch der Geburtshilfe nicht ersetzen, sondern in den
klinischen Unterricht einführen. Dem praktischen Arzte gewährt sie
eine rasche Orientirung.
Im Speciellen sei aus dem vortrefflichen Werke Nachstehendes
hervorgehoben:
Bei der Diagnose der Schwangerschaft erwähnt der Verfasser,
dass in einzelnen Fällen dem Gebärmuttergrunde entsprechend eine
mehr oder minder ausgesprochene Einbuchtung zu beobachten ist.
Diese soll beim Vorhandensein eines Uterus arcuatus oder bei dei
Anwesenheit von Zwillingen, welche in Längslagen eingestellt sind,
Vorkommen. Für die Zwillingsschwangerschaft mag dies bei vor¬
geschrittener Gravidität gelten; hingegen deutet die Einbuchtung im
Anfangsstadium der Schwangerschaft meist eine extramediane Ein¬
nistung des Eies und Ausladung einei lubenecke an.
Die Untersuchungsmethoden werden detallirt beschrieben und
vor zu häufigen inneren Untersuchungen gewarnt. Zur subjectiven
Desinfection wird Alkohol und Sublimat empfohlen, und nur der
Gebrauch von ausgekochten Handbürsten und desinficirten Wasch¬
schüsseln gestattet. In der Prophylaxe muss auch auf das normale
und pathologische Scheidensecret Rücksicht genommen werden.
Abbildungen mikroskopischer Präparate erläutern den Unterschied.
Die Geburtsmechanismen sind gründlich erörtert und aus den
sehr anschaulichen Abbildungen ersichtlich gemacht.
Ausführlich werden die Anatomie der Nachgeburt, ihi Austiitts-
mechanismus, sowie die pathologischen Zustände der Fruchtanhänge
geschildert. .
Die Syphilis kann ererbt werden, die Tuberculose wird in¬
trauterin nicht übertragen!
Für zweifelhafte Fälle eines Abortus entscheidet der mikro¬
skopische Nachweis von Deciduazellen oder Chorionzotten. Ihe
ersteren sind durch eine Abbildung veranschaulicht. Auch eint
gute mikroskopische Abbildung der Ghorionzotfen ist der mtu
suchung der Nachgeburt beigefügt. . ,
Die Diagnose der ektopischen Schwangerschaft ist durch den
Abgang der Decidua vera in den ersten Monaten sichergestellt; nicht
aber die Diagnose des Fruchttodes.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 5
Für das platt-rachitische und allgemein verengte Becken i
werden die drei Grade der Verengung genau präcisirt. Durch den
Impressionsversuch« soll man sich darüber orientiren, ob der
Eintritt des vorangehenden grossen Fruchttheiles in das kleine Becken
überhaupt möglich sein wird.
Das Stillen befördert am besten eine rasche und vollkommene
Rückbildung der Gebärmutter. Wann dasselbe seitens der Mutter
oder des Kindes gegenangezeigt ist, wird ausführlich geschildert.
Eine besondere Sorgfalt wurde der Besprechung des normalen
und pathologischen Wochenbettes gewidmet. Die Lehre vom Wochen¬
bettfieber ist vom bacteriologischen und klinischen Standpunkte
klar und fasslich, dabei sehr gründlich und streng wissenschaftlich
gehalten. Sehr instructive Temperatur- und Pulscurven erläutern die
einzelnen Formen.
In Bezug der einzelnen Details der mit grossem Fleiss ver¬
fassten »geburtshilflichen Propädeutik«, der wir im Interesse der
Lernenden eine rasche Verbreitung wünschen, müssen wir auf das
Original verweisen.
Der illustrative Theil des Buches ist reichhaltig, das Nach¬
schlagen durch ein sorgsam zusammengestelltes Sachregister sehr
erleichtert, die Ausstattung des Buches, was beim Entgegenkommen
der Verlagshandlung Wilhelm Braumüller immer der Fall
ist, handsam und vornehm. P i s k a ö e k.
I. Ueber epitheliale Gebilde im Myometrium des fötalen
und kindlichen Uterus, einschliesslich des Gartner’schen
Ganges.
Von Robert Meyer.
Berlin 1899, Karger.
II. Die gestielten Anhänge des Ligamentum latum.
Von Doeent Dr. Emil Rossa, Graz.
Berlin 1899, Karger.
III. Die Einschränkung des Bauchschnittes durch die
vaginale Laparotomie (Kolpokoeliotomia anterior).
Von Piof. Dr. A. Dührssen.
Berlin 1899, Karger.
I. Der erste Theil der umfangreichen Arbeit bringt uns nach
einer eingehenden, besonders auch die vorliegende Literatur kritisch
berücksichtigenden Darstellung von Befunden geringerer oder be¬
deutenderer Reste des Gartner’schen Ganges im fötalen oder
kindlichem Uterus, genaue Angaben über den Verlauf des
Gartner’schen Ganges im Uterus, dem unteren Corpus und in
der Seitenwand der Cervix, über dessen Ausstülpungen und Ver¬
zweigungen. Die Gartner’schen Gänge sind Ueberreste der
Wolf f’schen Gänge, welch letztere beim weiblichen Fötus durch
Inactivitätsatrophie in der Regel frühzeitig verschwinden und nur
ausnahmsweise beim Neugeborenen in der Cervix als Canäle oft
mit Ausbuchtungen, Ausstülpungen und mit verzweigten Drüsen
persistiren, Die Persistenz des einfachen Canales ist nicht als
Zwitterbildung zu bezeichnen, jene seiner ampullären Verzweigungen
als Homologon der Pars ampullaris des Vas deferens, jene mit
Drüsenbildung als Adenom anzusehen.
Der zweite Theil behandelt die angeborenen Epitheleinschlüsse
des Myometriums, die Keimverirrung — eine primär überschüssige
Anlage von Geweben oder Organen an falscher Stelle, also ein
error loci vor vollendeter Gewebsdifferenzirung — die Organ¬
verirrung — diesecundäre Versprengung fertiger Gewebs-
oder Organtheile. Von den denkbaren Möglichkeiten embryonaler
Epithelverirrung in den Uterus kommen auf Grund der bisherigen
Befunde jene aus den Epithelien des Urachus, des Rectums, der
Ureteren kaum in Betracht, dagegen aber Epithelverirrungen aus
benachbarten Organen: den Müller’schen Gängen selbst, dem
Wolffschen Gange, der Urniere, dann jene des Eierstockepithels,
des Kölomepithels.
Eine Epithelverirrung vom Müller’schen Gange im Sinne
einer Keimverirrung, eine primär accessorische Anlage desselben,
schliesst Meyer vollständig aus, dagegen kommen Absprengungen
vom Epithel der Müller’schen Gänge vor Ausbildung der Drüsen
der Schleimhaut, speciell bei ihrer Vereinigung im Fundus, sowie
Absprengungen von Drüsen der fertigen Uterusschleimhaut älterer
Fötus sicher vor. Verlagerung von Theilen des Wolf f’schen
Ganges in das Corpus uteri kommen entweder so zu Stande, dass
Müller’scher Gang und Wolff’scher Gang abnorm fest ver¬
kleben und so Theilchen des letzteren retinirt werden oder es
kommt zur Zurückhaltung bedeutenderer Reste des Wolf f’schen
Ganges dadurch, dass Müller'scher Gang und Wolff’scher Gang
im Wachsthume gleichen Schritt halten. Ueber Urnierenreste im
fötalen Uterus konnte Verfasser keine beweisenden Befunde machen.
Rühmend muss die Reproductionsart der dieser schönen Arbeit
beigegebenen histologischen Bilder herv.orgehoben werden.
*
II. Die gestielten Anhänge des Lig. latum in der Nähe des
Parovariums sind entweder fransenförmige, trichterförmige oder
eystische, sie sind immer an der Vorderseite des Lig. latum zu
finden, sie sind sehr häufig, bei Neugeborenen sowohl wie bei Er¬
wachsenen. Die früheren Autoren leiteten ihre Herkunft ab vom
Parovarium, aus dem W o 1 f f sehen Gange, der Urniere, den Neben¬
tuben. Nach Rossa stammen die cystischen Anhänge grösstentheils
aus dem Parovarium, seltener sind sie als gestielte, Epithel¬
einschlüsse enthaltende Fimbrien anzusehen. Die Herkunft der
offenen Anhänge ist nicht sichergestellt; möglicher Weise sind sie
Ueberbleibsel der segmentalen Verbindungen zwischen Urniere und
Leibeshöhle, oder auf pathologische Kölomeinstülpungen zurückzu¬
führen, oder durch Berstung cystischer Anhänge entstanden.
*
III. Die vorliegende Arbeit D ü h r s s e n’s ist in der Tendenz
geschrieben, durch einen klinischen Bericht über die Heilerfolge der
Kolpokoeliotomia anterior, namentlich aber über deren Anwendung
zur Beseitigung der Retroflexio uteri in Form der Vaginaefixatio,
die Vortheile der vaginalen Methoden gegenüber der Laparatomie
ins rechte Licht zu setzen und das gegen die Vaginaefixatio an
vielen Stellen bestehende Misstrauen zu beseitigen. Nach einer
historischen Einleitung über die Operation und einem Capitel über
deren technische Ausführung folgt in tabellarischer Form zunächst
die Darstellung der Retroflexionsoperationen, an Zahl 405 in un¬
gefähr fünf Jahren.
Ungefähr die Hälfte dieser Fälle betraf Retroflexionen, die
mit Erkrankungen der Adnexa uteri oder perimetritischen Adhä¬
sionen complicirt waren, die andere Hälfte mobile Retroflexionen
oder solche, welche nur mit Narbenbildungen in den Parametrien
oder Schrumpfung der hinteren Uterusserosa complicirt waren und
somit die Pessarbehandlung erschwerten oder unmöglich machten;
81mal wurden die Adnexe mit exstirpirt, 97mal gleichzeitig andere
Operationen an den Adnexen ausgeführt. Von den reinen Retro¬
flexionsoperationen starb keine. Die Dauererfolge der Vaginaefixatio
uteri, auf Grund einer zum Theil fünf- bis sechsjährigen Beobach¬
tung aufgestellt, sind gute: unter 349 Fällen 341 Heilungen und
2’3% Recidive. Grosses Gewicht legt Dührssen auf die Technik.
Das beste Nahtmaterial ist Silkworm, die beste Fixationsstelle am
Uterus liegt in der Höhe der Tubeninsertion. Die Dauererfolge der
Vaginalfixation der Lig. rotunda waren weniger gut: 14% Recidive.
Noch weniger gut sind die Dauerresultate nach Vesicifixatio uteri.
Der Grund hiefür liegt darin, dass der fixirende Faden die Vagina
nicht mitfasst und so die bindegewebige Verwachsung der Scheide
mit dem Blasenperitoneum ausbleibt.
Um die Geburtsstörungen nach der vaginalen Fixation des
Uterus zu vermeiden, ist auf den Umstand zu achten, dass die
vordere Uterusserosa an das Blasenperitoneum, nicht aber an die
Vagina selbst bei der Fixation zu liegen, mithin eine seroso-seröse,
nicht aber eine seroso-fibröse Verwachsung zu Stande komme.
Letztere ist nicht dehnbar bei späteren Geburten. Es wird die
seroso-seröse Verwachsung am besten durch sorgfältige Naht der
Wunde in der Plica vesicouterina erzielt. Thatsächlich wrar in
20 Geburtsfällen nach Vaginofixation mit isolirter Naht der Plica
nur zweimal ärztliche Hilfe nöthig. Recidive der Retroflexio traten
nach der Geburt nicht ein.
Die Darstellung der Indicationen der Kolpokoeliotomia anterior
ist gröstentheils recht überzeugend geschrieben, doch ist beim
Capitel »Vaginaler Kaiserschnitt« ein Fall erwTähnt, von dem nicht
einzusehen ist, warum hier eine so eingreifende Methode gewählt
wurde. Es handelt sich um eine Placentaretention nach Abortus.
Der Cervicalkanal war durch Quellstifte wegen Narben zwar nicht
so wreit zu dilatiren, dass ein Finger passiren konnte, doch war
die feste Tamponade der Höhle mit Jodoformgaze möglich. Dennoch
wurde der wralnussgrosse Placentarest durch eine 4 cm lange
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
117
Schnittwunde in der vorderen Corpuswand entfernt. Auch darüber,
ob die in diesem Falle gleichzeitig angeführte Tubenresection streng
indicirt war, lässt sich streiten. H. Ludwig.
Die Pathologie und Therapie der Sterilität beider Ge¬
schlechter.
Von E. Finger und M. Sänger.
I. T heil. Die Pathologie und Therapie der Sterilität
heim Manne, von Prof. Dr. E. Finger in Wien.
Mit 8 Holzschnitten.
Leipzig 1898, Arthur Georgi.
Wie allgemein unterscheidet auch Finge r in seiner lesens-
werthen Schrift die Impotentia genera n di, die Sterilität im
engeren Sinne, und die Impotentia c o e u n d i, respective die
Sterilitas ex impotentia coeundi. Bevor er an die Besprechung dieser
zwei verschiedenen Arten von männlicher Sterilität geht, gibt Finger
in einer Einleitung einen Ueberblick unserer Kenntnisse über die
Physiologie des Geschlechtsactes beim Manne. Das Erectionscentrum,
das in das untere Sacralmark verlegt wird, kann einerseits vom
Gehirn beeinflusst werden, und zwar sowohl im Sinne einer Er¬
regung als einer Hemmung; aber auch von der Peripherie durch
centripetal leitende Nerven erfolgen Erregungen des Erectionscentrums,
sowohl von der Bedeckung des Genitale, als insbesondere vom
Caput gallinaginis.
Für den Geschlechtsact selbst kommt ausser dem Erections¬
centrum noch ein räumlich von diesem getrenntes Ejaculations-
centrum in Betracht. In der Norm ist das Erectionscentrum leichter
erregbar, aber erschöpf barer als das Ejaculationscentrum. Der
ejaculirte Same enthält das Secret der Hoden, der Samenblasen
und der Prostata. Letzteres bedingt die makroskopischen Eigen-
thümlichkeiten des Samens, seine Anwesenheit ermöglicht auch die
Bewegungsfähigkeit der Spermatozoen.
Finger bespricht dann die Impotentia coeundi, die Unfähig¬
keit, den Gopulationsact überhaupt oder wenigstens normaler Weise
auszuführen. Diese Impotenz kann zunächst bedingt sein durch
pathologisch-anatomisch nachweisbare Veränderungen der beim
Copulationsact in Betracht kommenden Organe, z. B. durch an¬
geborene oder erworbene krankhafte Zustände des Penis, der Hoden,
Erkrankungen des Nervensystems. Von den Erkrankungen der peri¬
pheren Organe dürften jene des Caput gallinaginis eine wichtige
Rolle spielen. Letztere selbst können durch Onanie, Excesse in
venere, Coitus interruptus, vor Allem aber durch chronische
Gonorrhoe hervorgerufen sein.
Manche der eben genannten Schädlichkeiten wirken ireilich
auch noch durch allgemeine Störungen des Nervensystems.
Ausserdem gibt es eine Reihe von Krankheiten, die durch rein
functioneile Momente den Mechanismus der Erection schädigen,
Diabetes, chronischer Alkoholismus; endlich ist zu erwähnen die
Impotenz aus psychischen Ursachen, sei es, dass die anregenden
Einflüsse für die Erection fehlen oder psychisch bedingte Hemmungen
in Erscheinung treten. Finger gibt eine recht anschauliche
Schilderung dieser psychischen Impotenz.
Die Impotentia coeundi kann sich nun äussern ent¬
weder durch ungenügende oder fehlerhafte Erection oder unter
dem Bilde der sogenannten reizbaren Schwäche, d. h. meist
vorzeitige Ejaculation bei mangelhafter Erection. Die reizbare Schwäche
kann bedingt sein durch Erkrankungen des Nervensystems oder
auch durch locale Affectionen der Genitalien, Reizzustände derselben
bei Gonorrhoe, Onanie u. s. w., woran weiterhin das Bild der
sexuellen Neurasthenie sich anschliessen kann.
An diesem Orte gibt Finger auch eine Uebersicht seiner
Befunde an der Pars prostatica urethrae bei chronischer Urethritis
posterior. Von paralytischer Impotenz spricht Finger, wenn so¬
wohl Erection wie Ejaculation fehlen, respective schwer gestört sind.
Eine recht genaue Schilderung der Therapie der Impotentia
coeundi schliesst dieses Capitel. Die Therapie variirt natürlich in
erster Linie je nach den Ursachen der Impotenz, danach richtet
sich auch die Prognose. Hervorzuheben ist, dass Finger mit Recht
eine locale Behandlung nur dann ausübt, wenn stricte Indicationen
dafür vorliegen. Auf die Einzelheiten hier einzugehen, erscheint
nicht möglich.
Der zweite Abschnitt des Buches behandelt die Impotentia
generandi, d. h. das Unvermögen eines eopulationsfähigen Mannes,
ein gesundes Weib zu befruchten. Dies kann bedingt sein durch
pathologische Veränderungen des Spermas; entweder fehlen die
Spermatozoen gänzlich, Azoospermie, oder sie ermangeln der
Beweglichkeit, Nekrospermie. Ersteres kann eintreten, wenn
die Samenproduction fehlt, oder die Samenleiter verlegt sind, am
häufigsten bei chronischer Gonorrhoe. Hier weist Finger darauf
hin, dass nach seinen Erfahrungen die Eisbehandlung der acuten
Epididymitis Gefahren mit sich bringt, dass die darnach zurück¬
bleibenden Exsudate stets auffällig derb sind und der Resorption
grosse Schwierigkeiten entgegensetzen.
Nekrospermie findet sich bei Herabsetzung der Functions-
thätigkeit der Hoden, häufiger dann, wenn die dem Hodensaft bei¬
gemischten anderen Componenten, jene der Samenblasen und der
Prostata, krankhaft verändert sind, z. B. bei Vesiculitis seminalis
oder Prostatitis.
Eine zweite Gruppe von Ursachen der Impotentia generandi
bezeichnet man als Aspermatismus, worunter Finger alle
jene krankhaften Zustände zusammenfasst, in denen ein copulations-
fähiger Mann, dessen Sperma auch normal ist, doch zeugungs¬
unfähig bleibt, weil er sub coitu nicht im Stande ist, sein Sperma
in das weibliche Sexualorgan zu ergiessen. Das kann bedingt sein
durch mechanische Hindernisse, z. B. abnorme Ausmündung oder
Verengerung der Harnröhre, durch Verlegungen und Obliteration
der Ductus ej aculatorii.
Ausserdem aber gibt es einen nervösen oder psychischen
Aspermatismus, wo trotz normaler Erection und regelrechter
Cohabitation die reflectorische Auslösung der Ejaculation ausbleibt.
Diese Herabsetzung der Erregbarkeit des Ejaculationscentrums kann
angeboren sein oder aus verschiedenen Gründen erworben sein.
Finger bespricht im Einzelnen die hier vorkommenden Verhältnisse,
sowie deren Behandlung. Als relative Sterilität bezeichnet h i n g e r
endlich jenen Zustand, in dem ein copulations- und zeugungsfähiger
Mann mit einem bestimmten, zweifellos zeugungsfähigen Weibe, meist
seiner Ehefrau, einen befruchtenden Beischlaf nicht auszuüben vermag.
Redlich.
I. Lehrbuch für Heilgehilfen und Massöre.
Im amtlichen Aufträge des königl. Polizeipräsidiums verfasst von Sanitäts-
rath Dr. Gl'anier, königl. Bezirksphysicus.
Berlin 1898, S c h o e t z.
H, 145 8.
II. Anleitung zur Krankenpflege.
Von Sanitätsrath Dr. E. Aufrecht, Magdeburg.
Wien und Leipzig 1898, A. Holder.
VIII, 169 S.
III. Monatsbuch für Krankenpflegerinnen.
Von E. H. v. Zagory.
Marburg 1898, E 1 w e r t.
I. Die vorliegende Schrift entsprang dem Bedürfnisse, den —
seit 1852 in Preussen einer Prüfung unterworfenen — .Heilgehilfen
(Heildienern) nach der Erweiterung dieser Prüfung auf die Massage
(1898) »ein kurzgefasstes Lehrbuch zu bieten, in welchem sie das
finden, was sie bei der Prüfung wissen sollen«.
Demgemäss zerfällt das Buch in füllt grössere Abschnitte.
Der erste Theil behandelt den Bau und die Lebensthätigkeit des
menschlichen Körpers.
Im zweiten und dritten Theile finden wir die Belehrung über
die zwölf Prüfungsgegenstände: Aderlass, Schröpfen, Blutegelsetzen,
Klystiren, Einspritzen unter die Haut, Temperaturmessen, Zahn¬
ziehen, Kathcterisiren, Verbinden, chirurgische Assistenz, Desinfieiren,
Massiren.
Die beiden letzten Abschnitte besprechen die erste Hille bei
Unglücksfällen und die gesetzlichen und polizeilichen Bestimmungen
(über die Zulassung zur Prüfung u. s. w., die Gebühren).
Die anatomisch-physiologische Partie ist trotz der reichen
Gliederung (in 7B Paragraphe) und der 14, zum grössten J heile
sehr guten Bilder nicht klar und einfach genug. Die vielen unnöthigen
Details, die ganz ungebräuchlichen deutschen Bezeichnungen
scheinen dem Referenten nicht glücklich gewählt zu sein.
Bedeutend besser sind die folgenden Abschnitte über die ein¬
zelnen Verrichtungen, beziehungsweise Prüfungsgegenstände. Bei
allen diesen wird in erster Linie auf die peinlichste Sauberkeit der
118
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
Nr. 5
grösste Werth gelegt. Die Wichtigkeit dieser Verpflichtung (l itt auf
jeder Seite immer wieder hervor. Bei den sUmmtlichen Eingriffen
werden ferner die '/gesetzlichen Bestimmungen über die ärztliche
Anordnung als Vorbedingung zur Ausführung des Eingriffes ange¬
führt. Nach der sorgfältigen Beschreibung der Verrichtung selbst
folgt regelmässig eine kurze Besprechung etwaiger abnormer Zufälle,
durch anatomische oder pathologische Anomalien herbeigeführt : für
diese ist aber jeder therapeutische Wink strenge vermieden und
der Auftrag, dann ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, häufig
wiederholt.
Der Massage, den Massören«, ist ein besonders grosser
Theil in der Darstellung gewidmet. Einige gute Bilder, allerdings
zum Theil in recht origineller Pose, sollen jene unterstützen.
Eine Beilage enthält ein Placat: »Die Behandlung Verun¬
glückter bis zur Ankunft dos Arztes« für Nichtärzte von Doctor
P i s t o r, das schon anderweitig lange bekannt und erprobt ist.
*
II. Der Verfasser hat seine Vorträge über Krankenpflege
niedergeschrieben und — offenbar wenig verändert — als Anleitung
herausgegeben. Dadurch ist dem Büchlein der frische Eindruck des
Vortrages geblieben, das subjective Moment tritt in zahlreichen
Seitenblicken, Beispielen u. s. w. stark hervor, ohne dass die syste¬
matische Anordnung darunter leiden würde.
Ausserdem hat Aufrecht seinem Werke einen ganz anderen
Aufbau gegeben, als er bisher in unseren einschlägigen Schriften
als unbestrittener Typus zu finden war. Die »Krankenbeobachtung«
hatte noch nicht den ihr gebührenden Raum in diesen Büchern
gefunden. Der Verfasser findet in ihr den wichtigsten und um¬
fassendsten Theil der Thätigkeit der Pflegerin (männliche Wärter
schliesst er ganz aus) und widmet der Besprechung dieses Capitels
den grössten Theil seines Buches (63 Seiten). Dieser Abschnitt
enthält aber nebst den wichtigeren physiologischen Abschnitten —
die Anatomie ist nur ganz cursorisch bei einigen Sinnesorganen
und dem Kreislaufschema gestreift — eine Menge pathologischer
Details, Erklärungen von Symptomen (so pag. 44, 46, 49, 50,
62 ff., 69 u. s. w.), ja sogar differentialdiagnostische Hinweise, kurz
viel mehr, als wir sonst zu besprechen gewohnt sind, und jeden¬
falls mehr, als eine »Anleitung« zur Krankenpflege enthalten sollte.
Für die Anfängerin erscheint es uns entschieden verwirrend, wenn
ihr Lehrbuch, welches ihr auf die elementaren Fragen eine kurze
und genaue Antwort gehen soll, statt dieser auf mögliche und
auch« Fälle hinweist. Und für die erfahrenere Pflegerin ist ein
solches auch als Nachschlagebuch nur von fraglichem Nutzen, weil
es ihr wieder zu wenig bieten kann. Dieser hat eine eingehende Er¬
klärung von Seiten des unterrichtenden Arztes mehr gelehrt, vor
Allem am lebenden Beispiele, und ist so nicht eine blosse Auf¬
zählung von Krankheitsnamen und Symptomen geblieben.
Ganz unverständlich ist uns die Anleitung zur Harnanalyse
geblieben (pag. 76 ff.). Diese geht die »anzuleitende« Pflegerin gar
nichts an.
Die übrigen Capitel behandeln die Pflegerin, das Zimmer, die
Krankenpflege, die Hilfeleistung bei Verletzungen u. s. w. Diese
Abschnitte sind in der üblichen Weise ausgeführt, vielleicht etwas
kürzer gehalten.
Zum Schlüsse sei uns die Bemerkung gestattet, dass wir die
Schrift als »Anleitung für Pflegerinnen 1 e h r e r« sehr schätzen und
zu diesem Zwecke empfehlen.
*
III. Der” Zweck des Büchleins ist nicht recht klar. Voran
zwölf leere Monatsblätter mit je einem Bibelvers, sodann in wirrem
Durcheinander^ allgemeine Vorschriften für Pflegende, Recepte für
Kinder- und Krankenkost, Instrumentenbeschreibungen, Albumen-
nachweis im Harn (!), Aufzählung von Krankheitssymptomen, un¬
verstandene Asepsis und Desinficientia — kurz, die verehrte Ver¬
fasserin wird der Ansicht wohl beistimmen, dass ihr Werk un¬
geübten Pflegerinnen unverständlich und unschädlich, geübten über¬
flüssig und werthlos ist. Julius Stern borg.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
32. Fünf Wochen anhaltender profuser Aus¬
fluss von Liquor cerebrospinalis ohne 11 i r n er¬
sehe in n ngen. Von Prof. Lucae. Bei dem 17jährigen Gym¬
nasiasten wurde zum Zwecke der Ausführung der Radicaloperation
nach einer chronischen Mittelohrentzündung nach Freilegung des
Warzenfortsatzes am hinteren oberen Umfang desselben ein Sequester
entdeckt, nach dessen Entfernung ein 1 cm1 grosses Loch in der
Dura und Arachnoidea zurückblieb. Dabei floss fortwährend so viel
Liquor ab, dass von der Operation abgestanden wurde. Dieser Erguss
dauerte durch fünf Wochen und war durch 14 Tage so stark, dass
der Verband täglich dreimal gewechselt werden musste. Hervorzu¬
heben ist, dass trotz dieses Zustandes niemals Hirnerscheinungen
aufgetreten waren, kein Fieber vorhanden war und auch der Puls
keine abnorme Beschaffenheit zeigte. Lucae nimmt an, dass es
sich hier um eine Ueberproduction von Liquor gehandelt haben
müsse, die durch den Reiz, welchen der Sequester als Fremdkörper
bedingt habe, verursacht worden sein soll. — (Berliner klinische
Wochenschrift. 1899, Nr. 40.)
*
33. Aus der Poliklinik von Dr. M. N i t z e in Berlin. E i n
gänseeigrosser Stein in einem Vaginalsacke beim
Manne. Von Dr. Georg Kapsammer. Der Fall scheint einzig
in der Literatur zu sein. Ein gegenwärtig 31 Jahre alter Mann ent¬
leerte seit Kindheit stets trüben Harn. Bei seiner ersten Unter¬
suchung (Mai 1895) zeigte sich, dass die ersten Harnportionen klar
und sauer reagirend waren, während die letzten eine alkalisch¬
jauchige Beschaffenheit darboten. Es war damals zwischen beiden
Prostatalappen ein fluctnirender Sack zu constatiren. Im März 1898
wurde aus demselben ein über gänseeigrosser gegenwärtig 162 g
wiegender Phosphatstein entfernt. Derselbe hatte sich innerhalb
von 2V2 Jahren entwickelt und als solcher keinerlei Symptome
gemacht. Die histologische Untersuchung des im November 1899
einer Fistel halber exstirpirten Sackes ergab vollkommen die
Charaktere der Vagina. Es mündete also in die Pars prostatica ein
Vaginalsack, indem es in Folge der Harnretention zur Steinbildung
gekommen war. Weiter folgt eine Zusammenstellung ähnlicher
Missbildungen bei männlichen Hermaphroditen und eine Erörterung
der entwicklungsgeschichtlichen Seite der Frage. Steht man auf dem
Standpunkte, dass sowohl Uterus als auch Vagina aus den ver¬
einigten Müller'schen Gängen hervorgehen, so müsste der sich
beim Manne als Sinus pocularis präsentirende Rest derselben der
Vagina oder dem Uterus entsprechen, je nachdem die Involution
des Organes zu einer Zeit begonnen hat, wo im persistirenden
unteren Theile die Metaplasie der ursprünglichen Cylinderepithel-
auskleidung schon stattgefunden hat oder nicht. Demnach wäre die
Bezeichnung des Sinus pocularis schlechtweg als »Utriculus« mascu-
linus nicht statthaft. — (Centralblatt für Krankheiten der Harn-
und Sexualorgane. 1900, Heft 1.)
*
34. Zur Anwendung von Ortho form. Von Doctor
Wunderlich (Neudorf i. S .). Das Mittel wurde als gut wirken¬
des, unschädliches Anästheticum und Antisepticum, selbst bei An¬
wendung auf grossen Wundflächen erprobt. Es werden aber von
Wunderlich vier Fälle angeführt, in denen die Orthoform-
belmndlung einmal ein schmerzhaftes Erythem, zweimal ein ausge¬
dehntes Ekzem und einmal sogar feuchte Gangrän zur Folge gehabt
hatte. Zu bemerken ist, dass in diesen Fällen das Mittel nicht wie
früher in Pulver-, sondern in Salbenform angewendet worden war. —
(Münchener medicinische Wochenschrift. 1899, Nr. 40.)
*
35. Notiz über Radicalbehandlung zweier
Fälle von Lupus vulgaris disseminatus mittelst
Guajacolpinselungen. Von Dr. Funk (Warschau). Die ge¬
nannte Ilautaffection tritt hauptsächlich bei Kindern in Form zahl¬
reicher miliarer und bis Erbsengrösse heranwaebsender Knötchen
und zwar meist nach Masern, seltener Scharlach und Windpocken
auf. Meist sitzen die Knötchen an den Extremitäten. Die vom Ver¬
fasser beobachteten zwei Fälle waren durch Pinselungen mit reinem
Guajacol in zwei, beziehungsweise drei Monaten unter Zurück¬
lassung einer seichten Narbe vollständig ausgeheilt. — (Monals-
hefte für praktische Dermatologie. Bd. NNIX, Heft 5.)
*
Nr 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
119
36. (Aus der Poliklinik des Prof. Oppenheim, Berlin.)
Zur A e t i o 1 o g i e peripherer U 1 n a r i s- und Medianus¬
lähmungen. Von Dr. Weber. Die zwei Fälle von Ulnaris¬
lähmung sind dadurch bemerkenswert!], dass eine schon vor vielen
Jahren erfolgte Läsion eine Ulnarislähmung zur Folge hatte. Der
eine Fall betraf einen Arbeiter, welcher eine Luxation, beziehungs¬
weise Fractur .im Bereiche des Ellbogengelenkes erlitten batte, die,
unter Difformität geheilt, nach 27 Jahren zur Ulnarislähmung und
schweren Temperatursinnesstörungen führte. Der andere Fall betraf
eine Frau, welche im sechsten Lebensjahre Blattern und im An¬
schlüsse daran eiterige Gelenksentzündungen in beiden Ellbogen¬
gelenken durchgemacht hatte. Die Affectionen waren unter zurück¬
bleibender Difformität und geringer Behinderung der Beweglichkeit
ausgeheilt. Erst in einem Alter von 33 Jahren stellten sich bei der
Frau in der rechten Hand die Zeichen der Ulnarisaffection: Krallen¬
hand, Abflachung des Kleinfingerballens, Atrophie der Interossei ein.
Ganz besonders merkwürdig in ätiologischer Beziehung ist folgender
Fall von Medianuslähmung. Ein 18jähriger Gymnasiast hatte
mehrere Stunden getanzt und dabei die linke Hand in stark hyper-
flectirter Haltung in die linke Seite gestemmt. Darauf Lähmung
der linken Hand, die einen Tag andauert, und beträchtliches Taub¬
heitsgefühl an der volaren Handseite. Wahrscheinlich war es in
Folge der langandauernden anormalen Handstellung zu einer Ueber-
anstrengung des Medianus gekommen oder — welche Erklärung
auch sehr plausibel klingt — der Nerv hatte durch das Lig. volare
propr. über ihm einen starken Druck auszuhalten gehabt.
(Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde. Bd. XV, Heft 3 und 4.)
*
37. (Aus der chirurgischen Abtheilung des städtischen
Krankenhauses Am Urban in Berlin.) Zur c h i r u rgischen
Behandlung der tu bereu lösen Bauchfellentzün¬
dung. Von Dr. Herzfeld. Tn den Jahren 1890—1898 wurde
an der chirurgischen Abtheilung des genannten Spitales bei
29 Patienten wegen tuberculöser Peritonitis 32mal der Bauch¬
schnitt ausgeführt. Die Behandlung beschränkte sich zumeist auf
das Ablassen des Exsudates, das Austupfen der Bauchhöhle und
die Verschliessung der Wunde. Das Alter der Patienten, von
welchen 18 in Bezug auf den peritonitischen Process geheilt er¬
schienen, betrug 2 — 57 Jahre, 13 gehörten dem Kindesalter an.
(Mittheilungen aus den Grenzgebieten der Medicin und Chirurgie.
Bd. V, Heft 2.)
*
38. Z u r conservativen Specialbehandlung der
chronischen Mittelohreiterung. Von Prof. Stet t er.
Die conservative, nicht operative Therapie der chronischen eiterigen
Mittelohrentzündung mit Perforation des Trommelfelles soll nach
S tetter in Folgendem bestehen: Sorgfältige Reinigung des Gehör¬
ganges und Mittelohres mittelst eines in Lysolwasser getauchten
Tampons (nicht mit der Spritze!) nach eventueller Verflüssigung
des zähen Eiters durch Einträufelung von Solut. kali jodati
2-0:1000, Lysoli puri gtt. XX; hierauf Einlegung eines Tampons
von Chinolin-Naphtholgaze bis ins Mittelohr; derselbe ist anfangs
täglich zwei bis dreimal, später seltener je nach der Eitermenge
zu erneuern. Eine fötide Secretion ist. durch drei- bis viermalige
Eingiessungen einer Lösung von Menthoxol und Aq. dest. aa. zu
beseitigen und darnach die genannte Gaze anzuwenden. Granu¬
lationen sind bei genügender Grösse mit Schlinge und Galvano¬
kauter zu entfernen, anderenfalls mit Acid, trichloracet. pur. zu
ätzen. Ist nur eine gleichmässige polsterartige Schleimhautschwellung
vorhanden, so ist die Einlegung eines in 10&/0iger Trichloressigsäure
getränkten Tampons zu empfehlen. Eine Periostitis des Proc. mast,
erfordert nach Verfasser noch nicht unbedingt die Radicaloperation,
sondern es ist nach zweitägiger erfolgloser Anwendung Bur ow schei
Umschläge die W i 1 d e’sche Incision zu machen; lässt dann aber
die gewöhnlich schnelle Vernarbung länger als höchstens drei
Wochen auf sich warten, dann ist die Radicaloperation nach
Stacke anzuschliessen. — (Berliner klinische Wochenschrift.
1899, Nr. 37, 38.)
*
39. Im ärztlichen Central vereine in Zürich besprach Pro-
l'esser Krönlein einen Fall von Nephrolithiasis bei blossem
Vorhandensein einer einzigen Niere. Seit neun lagen bestand bei
dem Patienten vollständige Anurie, Blase war leer. Die Untersuchung
ergab sehr wenig Positives. Man schloss auf eine Nieren- oder
Ureterenaffection und machte die Probelaparotomie in der Mittellinie,
um zu entscheiden, welche der Nieren erkrankt sei. Hiebei ergab
sich, dass die rechte Niere vollständig fehlte. Darauf wurde in
Seitenlage die linke Niere zugänglich gemacht, wobei sich dieselbe
fast doppelt so gross als normal erwies, jedoch der supponirte
Nierenbeckenstein nicht palpirt werden konnte. Von einem weiteren
Vorgehen wurde Abstand genommen. Bei der Section zeigten sich
jedoch zahlreiche Nierensteine in den Galices, ein grösserer im
Nierenbecken und schliesslich ein bohnengrosser im Ureter, 2 cm
unterhalb seines Abganges vom Nierenbecken. — (Correspond enz-
blatt für Schweizer Aerzte. 1899, Nr. 17.)
*
40. (Aus dem Institute für Infectionskrankheiten in Berlin).
Beiträge zur Lyssa-Immunität. Von Dr. Marx. Durch
eine einmalige intraperitoneale Injection einer genügenden Menge
von Virus fixe gelang es, die so empfindlichen Kaninchen gegen
eine subdurale Infection von Virus fixe zu immunisiren. Die
Immunität scheint sicher 14 Tage nach der Impfung einzutreten
und war in einem Falle noch nach elf Monaten vorhanden. Dagegen
wurde niemals eine Immunität erworben, wenn eine Emulsion von
solchen Kaninchen gemacht worden war, die an Strassenwuth zu Grunde
gegangen sind. Eine andere Frage, welche das Institut im Aul¬
trage des Cultusministeriums zu lösen hatte, war die, ob der in
manchen Gegenden bestehende Gebrauch, nach dem Biss toi lei
Thiere die Leber eines wuthkranken Thieres zu essen, wirklich
gegenüber der Erkrankung an Tollwuth einen prophylaktischen Werth
besitze. Diese Frage musste nach allen im Institute ausgeführten
Experimenten mit Sicherheit verneint werden. — (Deutsche medi-
cinische Wochenschrift. 1899, Nr. 41.) Bi.
NOTIZEN.
Ernannt: Privatdocent Dr. Stanislaus Ciechanowski
zum a. o. Professor für pathologische Anatomie in K raka u.
Dr. M. v. Lenhossek in Tübingen zum o. Professor der Anatomie
in Budapest.
*
Verliehen: Dr. David Hoffmann in Constantino-
pel der königl. preussische Rothe Adlerorden IV. CI. Dem Stadt¬
arzte inCettinje, Dr. Georg Marie, der fürstlich montenegrini¬
sche Danilo-Orden IV. CI. und der fürstlich bulgarische Civilverdienst-
orden IV. CI. — Dem kaiserlichen Rathe Dr. J o s e f Zakrzewski
in Aleppo der kaiserlich ottomanische Medschidjeorden IV. CI. und
die französische Verdienstmedaille I. CI. — Dem Vorsteher des Sana¬
toriums in Martinsbru n n bei Meran, Dr. Norbert v. K a a n,
der Titel eines herzoglich sächsischen Sanitätsrathes.
*
Das erste diesjährige Heft der Monatsschrift für Geburts¬
hilfe und Gynäkologie ist anlässlich des 25jährigen Doctor-
jubiläums Prof. Schauta’s als Festschrift erschienen und enthält
ausschliesslich Publicationen von dessen Schülern. Diese sind: Bürger,
Die Ovariotomie an der Klinik Schauta; Frank, Indicationen zui
Sectio caesarea; Hab er da, Nachweis der Defloration; H a 1 b a n,
Uterusemphysem und Gassepsis — Enderfolge der Behandlung dei
Retroversio; Hitschmann, Decidualer Polyp; Lindenthal, Zur
Therapie der Extrauteringravidität; Mandl, Zum Tubarabort; Mira¬
beau, Fötale Cystenniere; Neumann und Ehrenfest, Innei e
Beckenmessung, Bestimmung der Beckenneigung; Pier ring, Tliuro-
Brandt — Schauta; S c h m i t, Carcinoma psammosum corporis uteri;
— Bericht über Prolapsoperationen ; Skorscheban, 44 Fälle
künstlicher Frühgeburt; Stolper, Tuberculose der weiblichen Geni¬
talien; Torggler, Melanosarkom der Schamtheile; Waldstein,
Periphere Tubensäcke; Wertheim, Die Ureterenchirurgie.
*
Von dem „Jahresbericht über die Fortschritte i n
der Lehre von den pathogenen Mikroorganismen“,
herausgegeben bei Harald Brulin in Braunschweig von Professor
Baumgarten (Tübingen) und Prof. Tangl (Budapest), ist die
I. Abtheilung des 14. Jahrganges (1898) erschienen. Dieselbe enthält
nebst den Referaten über die damals erschienenen einschlägigen Lehr¬
bücher, Compendien etc., das Verzeichniss der einschlägigen Literatur
über die Coccen und zum Theile auch schon über die Bacterien samnu
den in bekannter Weise angeschlossenen kurzen Referaten der ein¬
zelnen Originalabhandlungen. (Preis M. 10. .)
120
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. o
Nach einem Berichte des Brit. med. J. waren in der ersten
Januarwoche in London 316 Personen in Folge der Influenza
gestorben, gegenüber 38, 69 und 193 in den drei vorausgegangenen
Wochen. Mehr als die Hälfte der Todesfälle betraf Leute über
60 Jahre.
*
Dr. Oskar Reichel, omoritirter Abtheilungsassistent des
k. k. Allgemeinen Krankenhauses in Wien, wohnt: IX., Frank¬
gasse Nr. 1.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 2. Jahreswoche (vom 7. Januar 1899
bis 13 Januar 1900). Lebend geboren : ehelich 490, unehelich 275, zusammen
765. Todt geboren: ehelich 54, unehelich 35, zusammen 89. Gesammtzahl
der Todesfälle 634 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
20 1 Todesfälle), darunter an Tuberculose 109, Blattern 0, Masern 6,
Scharlach 4, Diphtherie und Croup 8, Pertussis 1, Typhus abdominalis 0,
Typhus exantbematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 0, Neu¬
bildungen 41. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
162 (-|- 33), Maseru 363 ( — 35j, Scharlach 43 (-j- 1), Typhus abdominalis
9 (-|- 8), Typhus exanthematicus 0 (==), Erysipel 42 ( — 5), Croup und
Diphtherie 41 ( — 20 1. Pertussis 40 ( — 3), Dysenterie 0 ( = ), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 3 (=), Trachom 5 (-(- 5), Influenza 0 (— )•
Von der Bibliothek.
Nachstehende Werke wurden seit 18. Januar 1900 (siehe
Nr. 3, 1900 der »Wiener klinischen Wochenschrift«) von
dem Gefertigten für die Bibliothek der k. k. Gesellschaft
der Aerzte in Empfang genommen:
Nr. <7.
Geschenke :
a ) Von Sr. Excellenz Dr. Ritter v. Scherze r.
Hauthal R., Roth S., Lehmann-Nitsche R, El Mamifero Misterioso de la
Patagonia x Grypotherium Dumestieum«. La Plata. 1899. 8°.
Lehmann-Nitsche R., Antropologia y Craneologia. La Plata. 1898. 8n.
Lehmann-Nitsche R., Lepra Precolombiana? La Plata. 1898. 8U.
Lehmann Nitscl.e R., Trois cränes, un tiepane, un lesionne, un perfore. . .
La Plata. 1899. 8°.
Lehmann-Nitsche R., Beiträge zur prähistorischen Chirurgie nach Funden
aus deutscher Vorzeit, Buenos Aires. 1898. 8°.
Vucetich Juan, Instrucciones generalis para el Sistema de Filiacion »Pro-
vincia de Buenos Aires«. Secunda Edieion. La Plata. 1896. 81'.
*
b) Diverse.
Jahresbericht über die Verwaltung des Medicinalweseus, die Kranken¬
anstalten und die öffentlichen Gesundheitsverhältnisse der Stadt
Frankfurt a. M. Jahrgang 1898. Frankfurt a. M. 1899. 8". Vom
ärztlichen Verein.
Hacker Victor, Ritter V., Die geschichtliche Entwicklung der Chirurgie.
Inaugurationsrede. Innsbruck 1899. 8°. Vom Autor.
Sargnon Antoine, Tubage et Tracheotomie en dehors du croup chez l’enfant
et chez l’adulte. Lyon I960. 8". Vom Autor.
Ortner Norbert, Vorlesungen über die Therapie innerer Krankheiten,
Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Wien 1900. 8°. Vom Autor.
Gordon y de Acosta Antonio de. Declaremos en Cuba, gueria a la tuber¬
culosis. Habana 1899. 8°. Vom Autor.
Meyer’s Conversations- Lexikon. 1899, Bd. XIX. Von Herrn Hofrath Pro¬
fessor C h r o b a k.
Archives Russes de Pathologie, de Medecine clinique et de Bacteriologie.
St. Petersbourg 1896 — 1899. Tom I - VI. Complet. Von Herrn
Dr. Ed. Kraus.
Papapan agiotou A., De la Morbidite et la Mortalite des Enfants äAthenes.
Athenes 1899. 8". Von Herrn Dr. Dem. G a 1 a 1 1 i.
Kunn Karl, Lieber dissociirte Augenmuskellähmungen. Hamburg und
Leipzig 1899. 81*. (Separatabdruck.) Vom Autor.
Lang Ed., Acquired Syphilis. New York 1899. 8°. (Separatabdruck.) Vom
Autor.
Ahlfeld F., Lehrbuch der Geburtshilfe. Zweite völlig umgearbeitete Auf¬
lage. Leipzig 1898. 8°. Von der Verlagshandlung Fr. W i 1 h.
Grunow.
*
c) Von der Redaction der Wiener klin. Wochenschrift:
Weekblad van het Nederlandsch Tijdschrift vor Geneeskunde. 1899. Vol. I, II.
Complet.
Gazette des Höpitaux. Paris 1899. Complet.
Ferrannini Luigi, La Morfologia del Cuore nella stenosi mitraliea. (Estr.)
Palermo 1899. 8°.
Voigt W., Die Curmittel des Bades Oeynhausen. Zweite Auflage Oeynhausen
1899. 8".
Morgenstern Emil, Jodbad und Höhenluftcurort Tölz- Kranken heil München
1895. 8“.
Lahs, Professor, I. Zur Kefoim der Kreisphysicate. II. Zur Heilserumfrage.
Marburg 1896. 8".
Francke Karl, Hauptsätze eines Naturforschers und Arztes München
1895. 8°.
Delageniere H. (Le Mans), Statistique des Operations pratiquees au Maus
du 1 Janvier au 31 Decembre 1896 et 1897. Paris 1897/98.
8". 2 Vol.
*
An gekauft:
Kühne Fritz, Beiträge zur Anatomie der Tubenschwangeischatt. Marburg
1899. 8°.
Encyklopädie der Ohrenheilkunde. Herausgegeben von Dr. Louis Blau.
Leipzig 1900. 4°. Bd. I.
Aerztliche Sachverständigen Zeitung. Herausgegeben von Dr. L. Becker
und Dr. A. Leppnnnn. Berlin 1900 fl-.
Rosen bach 0., Die Krankheiten des Herzens. Wien und Leipzig 1897. 8°.
Zweiter Theil.
Sachs H . und Freund C. S-, Die Erkrankungen des Nervensystems nach
Unfällen. Berlin 1899. 8°.
Edinger Ludwig, Vorlesungen über den Bau der nervösen Centralorgane
des Menschen und der Thiere. Sechste umgearbeitete und ver¬
mehrte Auflage. Leipzig 1900. 8°.
W i e n, im Januar 1900. U u g e r.
Freie Stellen.
Sanitätsassistentenstelle bei der k. k. kärntnerisohen Landes¬
regierung in Klagenfurt, mit dem Adjutum jährlicher 1000 Kronen.
Bewerber um diese Stelle haben ihre gehörig doeumentirten, mit den
Nachweisen über Alter, Zuständigkeit, zurückgelegte Studien, sowie über
die mit günstigem Erfolge abgelegte ärztliche Prüfung zur Erlangung einer
bleibenden Anstellung im öffentlichen Sanitätsdienste bei den politischen
Behörden belegten Gesuche bis längstens 10. Februar 1900 entweder
unmittelbar oder, soterne sie bereits im Dienste stehen, im Wege ihrer Vor¬
gesetzten Behörde bei dem k. k. Landes-Präsidium in Klagenfurt einzu-
bringen. Unter Umständen können auch Bewerber ohne Physicatspriifung
Bei ücksichtigung Anden, soferne sie den Nachweis über eine nach Erlangung
des Doctor-Diploms in einem öffentlichen Krankenhause vollstreckte zwei¬
jährige Dienstleistung oder über eine dreijährige ärztliche Privatpraxis zu
ei bringen vermögen.
Städtische Arztesstelle 2. Classe der VII, städtischen Rangs-
classe im Status des Stadtphysicates der Stadt Wien mit dem Jahresgehalte
von 2000 Kronen, dem Quartiergelde von 800 Kronen und zwei Triennien
von je 200 Kronen. Bewerber um diese Stelle haben deu Nachweis des an
einer inländischen Universität erlangten akademischen Grades eines Doctors
der gesammteu Heilkunde oder eines Doctors der Medicin, Chirurgie und
Magisters der Geburtshilfe, ferner einer mindestens zweijährigen spitalsärztli¬
chen Dienstleistung nach der Promotion und einer gründlichen, in allen
Zweigen der medicinischen Wissenschaften erworbenen Ausbildung, eventuell
der Verwendung im staatlichen Sanitätsdienste zu liefern, endlich den Tauf¬
oder Geburtsschein beizubringen. Nicht in Wien wohnende Bewerber haben
ausserdem ihrem Gesuche ein amtsärtliches Zeugniss über die physische
Eignung zur Verseilung des städtischen Dienstes sowie ein Leumunds-
zeugniss beizuschliessen. Auf diese Anstellung finden weiters die §§ 1 — 3
der Dienstpragmatik für die Gemeindebeamten Anwendung. Bemerkt wird,
dass diese Stelle für das ganze Gemeindegebiet von Wien ausgeschrieben
ist, daher die Competenz unter Einschränkung auf einen bestimmten Bezirk
oder Bezirkstlieil unstatthaft ist. Die Ernennung erfolgt provisorisch und
gegen Widerruf auf ein Jahr mit dem Beisatze, dass dieselbe nach zu¬
friedenstellender einjähriger Verwendung vom Wiener Stadtrathe in eine
definitive umgewandelt werden kann. Die Gesuche um diese Stelle sind
vorschrlftsmässig gestempelt bis längstens 28. Februar 1900, 12 Uhr mittags,
im Einreichungsprotokolle des Wiener Magistrates zu überreichen. Auf
später einlangeude oder nicht gehörig belegte Gesuche wird keine Rück¬
sicht genommen.
Gemein de arztessteile für die Gemeinden Maria-Lanzendorf,
Ober- und Unter-Lanzendorf, Rannersdorf und Zwölfaxing, mit dem Wohn¬
sitze in Unter -Lanzendorf, im politischen Bezirke Bruck a. d. Leitha.
Nieder Österreich. Fixe Bezüge: Gemeindebeiträge 800 Kronen,
Laudessubvention 900 Kronen. Haltung einer Hausapotheke erforderlich. Mit
dem Tauf-(Geburts-)seheine, Heimatscheine, Sittenzeugnisse, amtsärztlichen
Gesundheitszeugnisse, sowie mit dem Diplome belegte Gesuche sind bis
längstens 10. Februar 1900 an die Gemeindevorstehung in Unter-
Lauzendotf, Post Maria-Lanzendorf, zu richten.
EINBANDDECKEN
in Leinwand mit Goldpressung zum XII. Jahrgang (1899)
stehen den P. T. Abonnenten zum Preise von 2 Kronen,
bei directem Postbezüge von 2 Kronen 72 Heller zur
Verfügung. — Zu gleichen Bedingungen sind ferner noch
Einbanddecken zum VI. bis XI. Jahrgang (1893 — 1898) zu
haben. — Ich bitte um baldgefällige geschätzte Aufträge.
Hochachtungsvoll
WILHELM BRAUMÜLLEK
k. u. k. Hof- und Universitätsbuchhändler.
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900,
121
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Oongressberichte.
INHALT: -
Officielles Protokoll (1er k. k. Gesellschaft der Aerztc in Wien. 71. Versammlung deutscher Naturforscher und Acrzte in München.
Sitzung vom 26. Januar 1900. | Vom 17. — 22. September 1899. (I oitsetzung.)
Wiener laryngologisclie Gesellschaft. Sitzuug vom 4. Januar 1900.
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
Sitzung vom 26. Januar 1900.
Vorsitzender: Prof V. ReilSS.
Schriftführer : Dr. Alois Kreidl.
Der Vorsitzende begrüsst als Gäste die Herren kaiserlicher Rath
Dr. S chid er aus Gastein und Dr. Löwy aus Marienbad.
Docent Dr. S. Klein demonstrirt einen Fall von Symble¬
pharon anterius bei einem neunjährigen Mädchen, bei welchem
er durch ein eigenes Operationsverfahren, bestehend in der Ablösung der die
Verwachsung des Unterlides mit dem Bulbus vermittelnden und den
grössten Theil der Cornea verdeckenden Narbenmembrau an die Innen-
. fläche des Unterlides einen beachtenswerthen Erfolg erzielte, welcher
sich in verbesserter Kosmetik, in bedeutender Verbesserung des Seh¬
vermögens durch Freilegen der Cornea, so wie in Wiederherstellung der
Beweglichkeit des Augapfels und des Unterlides und in Verhinderung
der Wiederverwachsung des grössten Theiles der Lidbreite mit dem
Bulbus manifestirt.
Docent Dr. S. Klein stellt weiters einen Fall von beiderseitigem
Trachom bei einem circa 26jährigen Manne vor, bei welchem der
Pannus so dicht war, dass der Patient durch denselben ganz erblindete.
Fünf bis sechs Jahre lang wurde Patient an der Poliklinik durch die
gebräuchlichen friedlichen Mittel, später selbst operativ durch Peridek-
tomie behandelt und da Alles erfolglos blieb, wurde eine Jequirity-Gur
durcligeführt. Diese brachte überraschenden Erfolg. Patient, der früher
nicht allein gehen konnte, sondern geführt werden musste, ist jetzt
erwerbs- und arbeitsfähig, liest Schrift Jäger Nr. 2 fliessend in 21/g Zoll
Entfernung, da er hochgradig kurzsichtig ist, welcher Refractionszu-
stand auch ophthalmoskopisch in Folge der beispiellos seltenen Auf¬
haltung der Cornea festgestellt werden konnte.
Prof. v. Reu ss macht die Bemerkung, dass das vom Vor¬
tragenden angewendete Verfahren gegen Symblepharon von A r 1 t an¬
gegeben und geübt wurde.
Docent Dr. J. Tandler demonstrirt eine Reihe von Bildern eines
sich im Embryonalleben abspielenden -eigenthümlichen Processes, Hil¬
den er den Namen Atresia duodeni physiologiea vorschlägt. Tandler
betont den höchst wahrscheinlichen ätiologischen Zusammenhang
zwischen diesem Process und der als Atresia duodeni congenita be¬
kannten Missbildung. (Erscheint ausführlich.)
Discussion: Dr. Alex. F ränkel bemerkt, dass die Be¬
funde Tändle r’s als eine sehr plausible Erklärung für manche ein¬
schlägige Fälle von angeborener Unwegsamkeit des Darmes an¬
gesehen werden können. In der chirurgischen Pädiatrie müsse man
bei der Beurtheilung des Symptomenbildes der mit auf die Welt ge
brachten Impermeabilität des Darmcanales mit dem anatomischen Zu¬
stande der congenitalen Ati esie des Dünndarmes rechnen. I r ä n k e 1
hat zwei einschlägige Fälle operirt, in beiden handelte es sich um
multiple Atresien des Jejuno-Ileums. Es war au einen wirksamen
Eingriff wegen der Multiplicität der atretischen Stellen nicht zu denken.
Herr Prof. Kolisko machte bei der Obduction die Bemerkung, dass
ihm solche Fälle schon mehrfach untergekommen seien. Es war sein-
interessant, heute zu erfahren, dass solche Befunde die Persistenz eines
in einer bestimmten Zeit des embryonalen Lebens physiologischen Zu¬
standes darstellen.
Prof. Dr. F. Schauta hält den angekündigten Vortrag: Ueber
die Einschränkung der Laparotomie zu Gunsten der
vaginalen G ö 1 i o t o m i e. (Siehe Original-Mittheilungen dieser
Nummer.)
Wiener laryngologische Gesellschaft.
Sitzung vom 4. Januar 1900.
Vorsitzender: Prof. O. Cliiari.
Schriftführer: Dr. Harnier.
Der Vorsitzende berichtet über die von ihm seit der letzten
Sitzung unternommenen Schritte behufs Unterbringung der Bibliothek.
Nach längerer Discussion beschliesst die Versammlung, den Vorsitzenden
zu ermächtigen, in dieser Angelegenheit weitere Unterhandlungen zu
pflegen und dieselben eventuell zum Abschlüsse zu bringen.
1. Dr. H e i n d 1 stellt einen Fall linksseitiger Accessoriuslähmung
( Atrophie der Mm. cucullaris und sternocleidomastoideus) combinirt mit
linksseitiger Recurrenslähmung vor. Ebenso ist der linke Antheil des
Velum gelähmt und besteht Anästhesie der linken Laiynx- und Pha¬
rynxhälfte, sowie Atrophie der linken Zungenhälfte. Der ganze Sym-
ptomeneomplex ist etappenweise seit 1897 aufgetreten, hat mit der
Lähmung des Accessorius, welche wohl auch dann vorübergehend einen
Theil des Plexus brachialis (als E r b’sche Lähmung) betroffen, be¬
gonnen, und zwar angeblich in Folge Tragens schwerer Lasten aut
der linken Schulter. Ein Jahr darauf folgte Heiserkeit und einige Monate
darnach die Lähmung derSchlundmusculatur. Gegenwärtig scheint sich der
Process, insoweit er den Plexus brachialis betroffen, gebessert zu haben,
da der M. deltoides, biceps und supinator longus sich erholten. Eine
ebenfalls bestehende linksseitige Taubheit konnte bisher nicht als im
Zusammenhänge stehend betrachtet werden, da Narben am Trommelfell
nach abgelaufener Otitis media constatirt wurden. Da dtr Fall erst
einige Tage in Beobachtung steht, spricht der Vortragende die Ver-
muthung aus, dass es sich hier um eine aufsteigende Degeneration
handelt, welche vom Accessorius auf den Vagus (vielleicht auch
Glossopliaryngeus) übergegriffen hat. Der Fall wird beobachtet und
später wieder besprochen werden.
Discussion: Docent Dr. Grossmann: Der Herr Vortragende hat
die laryngealen Erscheinungen des von ihm demonstrirten interessanten
Palles in der Weise geschildert, dass das gelähmte, stark excavirte,
im Bogen verlaufende atrophische linke Stimmband in der Medianlinie
steht. Gegen diese Schilderung ist nichts einzuwenden. Der Processus
vocalis des gelähmten Stimm bandes steht thatsichlich in maximalei
Adductionsstellung.
Ich habe nicht die Absicht, eine Discussion über die frage der
Recurrenslähmung bei dieser Gelegenheit anzuregen. Nur ganz flüchtig
möchte ich mit Rücksicht auf die noch vor Kurzem allgemein accep
tirte These von der primären Posticusläbmung die Bemerkung machen:
Wenn es sich in diesem Falle um eine totale Recur-
rensläbmung handelt, warum steht das Stimmband
in der Median- und nicht wie gelehrt wurde, in d e i
Cadaver Stellung? Ist aber das angeblich constante
Initialstadium einer i s o 1 i r t e n Posticusläbmung
noch immer nicht vorüber, wie ist dann die Atrophie
des Stimmbandes zu erklären?
Die Auffassung des Collegen Heindl bezüglich der ander¬
weitigen Erscheinungen, welche der demonstrirte Fall darbietet, er¬
scheint mir gleichfalls richtig zu sein. Ich möchte bei dieser Gelegen¬
heit auf eine hierher gehörige, bei der Analyse der vorliegenden Sym¬
ptome vielleicht nicht ganz unwichtige anatomisch physiologische
Eigenthümlichkeit des N. accessorius Willisii aufmerksam machen, die
ich gelegentlich meiner Versuche schon vor vielen Jahren kennen ge¬
lernt, aber bisher noch nicht publicirt habe.
Wenn man nach Durchschneiduug der Membrana obturatoria
zwischen Hinterhaupt und Atlas die Med. oblong, blosslegt, kann man
mit Hilfe eines Irishäkchens den seitlich verlaufenden N. accessorius
Willisi fast der ganzen Länge hervorholen. Wird nun dieser Nerven¬
stamm auf eine Elektrode gelegt und peripher gereizt, bekommt man
stets Contractionen in dem M. cucullaris und sternocleidomastoi eus.
Mau kann aber auch die stärksten Ströme anwenden, ohne dass da¬
durch die Musculatur des Kehlkopfes auch nur die aller genngs en
12 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 5
motorischen Impulse empfangen würde. Dieser Nerv hat also mit der
motorischen Innervation des Larynx sicherlich nichts zu schaffen, wie
dies von so vielen Seiten noch immer angenommen wird, und auch in
dem demonstrirten Falle können wir dementsprechend nur die Lähmung
des M. cucullaris und des M. sternocleidomastoideus nicht aber jene
der Kehlkopfmuskeln auf die linksseitige Paralyse des N. accessorius
Willisii beziehen.
Eine weitere Eigenthümlichkeit dieses Nerven liegt darin, dass»
während die elektrische oder mechanische Reizung seines im Centrum
verlaufenden • Stammes nicht die allergeringsten Schmerzen verursacht,
und auch den Blutdruck nicht im mindesten erhöht, es sich zeigt,
dass er in seinem peripheren Verlaufe durchaus nicht rein motorische,
sondern auch sensible F asern in ziemlicher Menge führt. So z. B. ist
die Unterbindung und Durchschneidung des M. cucullaris mit grossen
Schmerzen verbunden. Der Versuch lehrt aber auch, dass die
sensiblen Fasern, welche im peripheren Stamme des
N . accessorius verlaufen aus der vorderen Wurzel
des ersten, hie und da auch des zweiten Cervical-
n erven entspringen. Wenn wir die sensiblen Wurzelfasern des
ersten und zweiten Cervicalnerverven durchtrennen, so wird trotz in-
tactem Accessorius Willisii die Durchschneidung des M. cucullaris und
Sternocleidomastoideus keinen Schmerz mehr verursachen und auch die
centrale Reizung des peripheren Accessoriusstammes nicht mehr, wie
früher den Blutdruck erhöhen. Während wir nun diesem Nerven eine
Betheiligung der motorischen Innervation des Kehlkopfes entschieden
absprechen müssen, halte ich es für ausgeschlossen, dass er einen Theil
des Kehlkopfes und der Trachea, welche ihre sensible Innervation vom
N. laryngeus sup. und vom N. communicans laryngis (Rethi) empfangen,
mit Hilfe der ihm von den Cervical nerven beigegebenen Fasern auch
mit Empfindungsnerven versieht.
Die Lähmung des M. cucullaris und Sternocleidomastoideus und
vielleicht auch ein Theil der Sepsibilitätsstörung des Larynx und der
Trachea ist auch sicherlich auf eine Paralyse des N. accessorius
Willisii zurückzuführen. Die Lähmung der anderen Muskeln insbesondere
der Schulter- und der tieferen Nackenmuskeln spricht dafür, dass auch
einzelne Cervicalnerven in den Krankheitsprocess einbezogen sind. Die
linksseitige Paralyse des Kehlkopfes zeigt, dass der pathologische
Process auch jene oberhalb der Accessorius Wurzelfasern gelegenen
Vagusfasern, insbesondere jene, welche den Ursprung des N. recurreus
und N. laryngeus sup. bilden, ergriffen hat. Die Veränderungen an
der linken Zungenhälfte, sowie die Schlingbeschwerden deuten auf
eine Miterkrankung des N. glossopliaiyngeus. Und so sehen wir eine
von unten nach oben fortschreitende Bulbärerkrankung, bei welcher
der Facialiskern vorläufig noch ziemlich verschont blieb.
2. Dr. Harm er: Drei etwas seltenere Fälle von
Larynx tuberculose.
Die Verwechslung der Tuberculose des Larynx mit anderen
Krankheiten ist eine so häufig vorkommende und oft beschriebene
Thatsaclie, dass ich sie nicht besonders hervorzuheben brauche. Mit
Syphilis, Sklerom, Gareinom geschieht es fast täglich, auch die soge¬
nannten tuberculösen Kehlkopftumoren gehören hieher, welche häufig
zu diagnostischen Irrthümern Anlass geben. So wichtig es vom Stand-
punkte der Prognose und Therapie erschiene, die Tuberculose des
Larynx immer als solche zu erkennen, so lässt sich doch nicht leugnen,
dass in einer nicht unbedeutenden Anzahl von Fällen die Spiegel¬
untersuchung allein hiefür nicht ausreicht, während die Untersuchung
der Lungen oft ein unsicheres oder negatives Resultat ergiebt; in
einer geringen Zahl von Fällen lässt sogar die histologische Unter¬
suchung im Stich.
Es ist daher, wie ich glaube, immer wieder berechtigt, interes¬
santere, atypische Fälle einer grösseren Beachtung zu würdigen ; ich
habe nun auf Anregung des Herrn Prof. C h i a r i drei etwas unge¬
wöhnlichere Fälle aus unserer Klinik zusammengestellt, deren kurze
Krankengeschichte ich mittheilen will.
I. Der erste Fall betrifft einen 53jährigen Taglölmer, welcher
hereditär nicht belastet ist und angibt, vor vier Jahren Rippenfell¬
entzündung und Bronchialkatarrh iiborstanden zu haben.
Im Mai dieses Jahres begann er zu husten, im Juli merkte er
zeitweilig Heiserkeit, welche seit August stärker und bleibend ge¬
worden ist. Keine besonderen Schmerzen, keine Nachtschweisse,
niemals Hämoptoe. Geringe Abmagerung seit Beginn des Leidens.
Als Patient am 13. October die Klinik aufsuchte, bot er fol¬
genden Befund :
Ueber der linken Lungenspitze der Schall weniger voll und das
Athrnen nicht so rein vesicular wie auf der anderen Seite. Im Larynx
war ein dem rechten Taschenbande aufsitzender, in die Glottis hinein-
ragender Tumor von halbkugeliger Form und höckeriger, theils dunkel-
rother, theils grauweisser, exulcerirter Oberfläche zu sehen; in der
Umgebung desselben war das Taschenband etwas infiltrirt, sonst der
übrige Larynx normal.
Der Tumor verdeckte den grössten Theil des rechten Stimm¬
bandes und es war nicht zu entscheiden, ob er mit demselben in Zu¬
sammenhang stehe oder nicht. Halsdrüsen keine.
In diesem Falle wurde ohne histologische Untersuchung dio
Diagnose „Careinom“ gestellt, u. zw. wegen der umschriebenen, grob¬
höckerigen, theilweise exulcerirten Geschwulst, welche auf mässig in-
filtrirter Basis in dem sonst normalen Larynx sass. Mit Rücksicht auf
die beschränkte Ausbreitung der Geschwulst hätte Patient einer ope¬
rativen Therapie zugeführt werden sollen. Die Sache verzögerte sich
aber zufällig durch einige Zeit, und eines Tages wurde bemerkt, dass
der rechte Aryknorpel, der bisher frei beweglich war, geringe An¬
schwellung und eine Beschränkung seiner Beweglichkeit zeigte.
Nun wurde von dem Tumor eine Probeexcision gemacht und es
ergab sich deutliche Tuberculose.
Bald darauf setzte sich die Schwellung auf die rechte ary-epiglotti-
sche Falte fort, und man konnte an derselben einzelne hirsekorngrosse
graugelbliche Knötchen constatiren. Seither hat die Infiltration eine
grosse Ausbreitung genommen und den grössten Theil des Larynx er¬
griffen.
II. Im zweiten Falle handelte es sich um einen 33jährigen Pa¬
tienten, welcher im heurigen Frühjahre an Influenza erkrankte. Seit
damals besteht Heiserkeit ; im August suchte er einmal die Klinik auf,
blieb aber wieder aus. Die Heiserkeit steigerte sich im October. Pa¬
tient wurde gegen Staub und Rauch sehr empfindlich und kam am
12. December neuerlich an die Klinik.
Damals wurde eine an der Interarytaenoidalfalte breit aufsitzende,
blassrotbe, nicht exulcerirte, papillomartige Wucherung constatirt,
welche den Glottisschluss in hohem Grade behinderte. Ausserdem war
noch eine ganz kleine, granuläre Wucherung an der Oberfläche des
rechten Stimmbandes zu sehen; die Stimmbänder zeigten beide die
Zeichen chronischen Katarrhs, somit war im Larynx nichts Auffälliges
zu bemerken. Ueber der linken Lungenspitze konnte man geringe In¬
filtrationserscheinungen nach weisen.
Hier wurde mit einiger Reserve Tuberculose diagnosticirt, u. zw.
mit Rücksicht auf das isolirte Auftreten einer solchen papillomatösen
Wucherung gerade an der Interarytaenoidalfalte, während der übrige
Larynx davon frei war.
Die histologische Untersuchung der von Herrn Prof. Chiari
exstirpirten Wucherung bestätigte auch diese Diagnose. Ich will jedoch
gleich hervorheben, dass die Wucherung das Ausseheu der sonst so
häufig an der hinteren Wand vorkommenden kegel- oder zapfen¬
förmigen, tuberculösen Infiltrate durchaus nicht besass, dass vielmehr
die Aehnlichkeit mit einem gewöhnlichen Papillom sehr gross war.
Nach der Operation trat eine Bessserung der Stimme und des
subjectiven Befindens ein. An Stelle der Wucherung sah man längere
Zeit eine mit graugelbem Secrete belegte Gescbwürsfläche, sonst aber
keine Reaction. Patient verliess am 20. December die Klinik und
kam zur Beobachtung mehrmals hereiu.
In der letzten Zeit erst bildeten sich an der Operationsstelle
neuerliche Wucherungen und das rechte Stimmband wurde infiltrirt;
im vorderen Antheile des Stimmbandes bildete sich ein Geschwür.
III. Der dritte Fall endlkh betrifft einen Mann, welcher angeblich
seit mehreren Monaten heiser ist.
Im Larynx fanden sich multiple, theilweise exulcerirte Infiltrate
an den Taschenbändern, am rechten Stimmbande und rechten Ary¬
knorpel.
Am meisten in die Augen springend war jedoch eine blassrotbe,
feinhöckerige Wucherung, welche in der Grösse ungefähr eines Kirsch¬
kernes an der Vorderfläche des linken Aryknorpels sass und einen
ziemlich beträchtlichen Theil der Glottis und des linken Stimmbandes
verdeckte. Dieselbe wurde von Hern Prof. Chiari exstirpirt und am
nächsten Tage war der Larynx in toto zu erblicken; es zeigte sich
nun, dass die Glottis verengt, die Beweglichkeit der Aryknorpel einge¬
schränkt und auch die subglottische Schleimhaut infiltrirt war. Patient
ist bald darauf ausgeblieben, und die histologische Untersuchung
des exstirpirten Stückes ergab leider kein positives Resultat; es fand
sich blos Verdickung des Epithels, Infiltration und Gefässveränderungen
in der subepithelialen Schichte.
Auch hier wurde, allerdings nur vermuthungsweise, klinisch
Tuberculose diagnosticirt.
Ich möchte nur noch das Bemerkenswerthe dieser Fälle kurz
hervorheben.
Bei dem ersten Patienten war, wegen des einseitigen, um¬
schriebenen Auftretens einer höckerigen, theilweise exulcerirten Ge¬
schwulst, in einem sonst normalen Larynx die Diagnose „Carcinom“
gewiss nicht unberechtigt.
Aus der Anamnese war nichts zu erfahren, was mit Sichei heit
auf Tuberculose hingewiesen hätte, und die Untersuchung der Lungen¬
spitzen ergab ein sehr zweifelhaftes Resultat. Das Fehlen von Lymph-
drüsenmetastasen konnte ebenfalls nicht gegen Careinom angeführt
werden.
Nr. 5
123
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Man hat an Tuberculose gedacht, aber trotzdem Carcinom dia-
gnosticirt.
Im zweiten Falle hat die Geschwulst an der Interarytaenoidal-
falte das Aussehen eines Papilloms vorgetäuscht.
Bei multipler Papillombildung im Larynx sehen wir ja nicht so
selten die Interarytaenoidalfalte mitbetheiligt.
Eine grosse Seltenheit allerdings wäre das solitäre Auf¬
treten von Papillom an dieser Stelle. Dieser Umstand, sowie die
geringfügige Veränderung am rechten Stimmbande und an der linken
Lungenspitze wurden zur Diagnose auf Tuberculose verwerthet. Dieser
Fall und noch mehr der erste, zeigen, wie wichtig und wiinschens-
werth bei zweifelhafter Diagnose die histologische Untersuchung ist ;
dass aber selbst diese nicht immer volle Sicherheit bringt, lehrt der
dritte Fall. Hier wurde ein ziemlich grosses Stück exstirpirt, aber
nirgends fand sich eine Stelle, welche für den einen oder anderen der
in Betracht kommenden Krankheitsprocesse gesprochen hätte.
Es konnte daher blos vermuthungsweise Tuberculose diagnosticirt
werden, u. zw. mit Rücksicht darauf, dass kein anderer Krankheits-
process mit dem klinischen Bilde in Einklang zu bringen war, während
die Tuberculose dasselbe am ehesten erklärte, und überdies unter den
möglicher Weise in Betracht kommenden Processen am häufigsten
vorkommt.
Discussion: Docent Dr. R e t h i bemerkt, dass in dem zweit-
vorgestellten Falle ein Papillom nicht gut in Frage kommen konnte,
da gutartige Neubildungen an der vorderen Fläche der Interarytaenoid-
schleimhaut zu den allergrössten Seltenheiten gehören. Von dieser
Stelle ausgehend sind im Ganzen fünf Fälle bekannt geworden : eine
gestielte Cyste (von Schrötter beobachtet), zwei Papillome
( J a u v e 1 und Betz), eine gutartige Neubildung, nicht näher be¬
zeichnet (Jurasz) und ein Fibrom von aussergewöhnlichen Dimen¬
sionen (Rät hi); ebenfalls nur fünf Fälle wurden in der Gegend
der hinteren Kehlkopfpartien beobachtet, zum Theile von der Spitze
oder Basis eines Arytaenoidknorpels und von der hinteren Fläche des
Ringknorpels ausgehend: zwei Lipome (Bruns und A p 1 a v i n) und
drei Fibrome (Störk, Jurasz und Ziemssen).
Es konnte demnach, wie der Vortragende richtig bemerkt, in
diesem Falle ein Papillom kaum in Betracht kommen und der
Verdacht, beziehungsweise die Diagnose der Tuberculose war auch
schon von vorneherein vollkommen berechtigt.
Docent Dr. Grossmann: Die Mittheilungen des Collegen
Harm er illustriren uns neuerdings die Wichtigkeit der mikro¬
skopischen Untersuchung. Es wird aber vielleicht nicht ganz über¬
flüssig sein, wenn wir einmal auch jene fatale Situation zur Sprache
bringen, in die wir hie und da durch unser rückhaltloses Vertrauen
in diese, sonst so verlässliche und in ihren Ergebnissen so bestimmte
Untersuchungsmethode gelangen.
Ich habe es schon wiederholt erlebt, dass bei Nasenkrankheiten,
die ich nach den klinischen Erscheinungen für Carcinom halten musste,
die mikroskopische Untersuchung der exstirpirten Stücke Tuberculose
diagnosticirte, während der weitere Verlauf Syphilis ergab. Es sind
Fälle von Larynxerkrankungen bekannt, bei denen das Mikroskop ein
gutartiges Neugebilde angenommen, während es sich um Carcinom ge¬
handelt hat, und umgekehrt haben wir Fälle erlebt, bei denen die
histologische Untersuchung mit aller Bestimmtheit das Vorhandensein
eines Carcinom3 constatirte, die nachträglich spontan ausgeheilt sind.
Unvergesslich bleibt mir ein Fall, den ich vor vielen Jahren be¬
handelt habe. Ein robuster Mann im Alter von etwa über 50 Jahren,
der schon früher mit einer schweren Syphilis in meiner Behandlung
stand, kam eines Tages mit Heiserkeit zu mir und ich sah
ein stark geröthetes linkes Stimmband. Eine antisyphilitische und eine
locale Kehlkopfbehandlung blieb ohne Erfolg. Das kranke Stimmband
wurde nach und nach plumper, uneben, endlich auch paralytisch. Es
stieg nun in mir der Verdacht auf das Vorhandensein eines Carciuoms
auf. Die mikroskopische Untersuchung der wiederholt exstirpirten Ge-
websstücke ergab jedesmal, dass es sich um ein nach der Tiefe vor¬
dringendes Carcinom handelte. Es kam zur Resection der kranken
Kehlkopfhälfte durch Billroth und als er das Präparat in Händen
hatte und nachdem er durch^dasselbeTQuerschnitte geführt, erklärte
er, dass es sich nach seinem Dafürhalten nicht um Carcinom handeln
dürfte. Meine Berufung auf die Ergebnisse der von competentester
Seite vorgenommenen mikroskopischenMUntersuchung der von mir
wiederholt exstirpirten Stücke machten auf Billroth keinen Ein¬
druck. Aus seiner langen, mich damals verblüffenden Auseinandersetzung
ging hervor, dass seiner Ansicht nach bei der mikroskopischen Unter¬
suchung eine gewisse Vorsicht schon deshalb geboten erscheint, weil
man bei den verschiedensteniProcessenj^so^unter Anderem bei Tuber¬
culose der Gelenke Elementen begegnet, welche jenen bei Carcinom
zum Verwechseln ähnlich sind.
Der Kranke starb am dritten Tage unter den bekannten Er¬
scheinungen des „Herztodes“ nach Larynxexstirpation. Die neuerliche,
von mehreren Seiten vorgenommene mikroskopische Untersuchung der
exstirpirten Kehlkopf hälfte zeigte, dass es sich zweifellos um Carcinom
gehandelt hat.
Niemand war mehr berufen und berechtigt, übei die Verlässlich¬
keit mikroskopischer Untersuchungen ein Urtheil abzugeben als B i 1 1-
r o t h. Eine Mahnung aus seinem Munde, dass durch das Zusammen¬
treffen eigenartiger Verhältnisse Täuschungen auch aut diesem Gebiete
nicht ausgeschlossen sind, legt uns die Pflicht der weitestgehenden
Vorsicht auf. Die erwähnte Episode führte mich aber auch noch zu
folgender Betrachtung: Wenn ein Billroth mit seiner, geiade aut
pathologisch- anatomischem Gebiete reichen und viel bewunderten Er¬
fahrung selbst dann noch, als er das Präparat bereits in der Hand
hielt, dasselbe abtastete, und durch Querschnitte geprüft hat, sich
noch irren konnte, muss man es auch den Laiyngologen, die fiii ilne
Diagnostik weit ungünstigere Vorbedingungen vorfinden, nicht übel
nehmen, wenn sie nicht immer mit der wünschenswerthen Sicherheit
auftreten.
Docent Dr. Ko schier hält die Vertheidigung der Wichtigkeit
der histologischen Untersuchung von exstirpirten Gewebsstiicken be¬
hufs Sicherstellung der klinischen Diagnose im Allgemeinen für über¬
flüssig; es ist aber doch noth wendig, in Erwiderung auf die Aus¬
führungen des Herrn Docenten Grossmann die ausserordentliche
Bedeutung und die Verlässlichkeit des Ergebnisses von histologischen
Untersuchungen zu betonen, vorausgesetzt, dass gewisse Bedingungen
eingehalten werden.
Die histologische Untersuchung kann ähnlich wie die Sputum¬
untersuchung auf Tuberkelbacillen nur Aufklärung über das zur Unter¬
suchung gelangte Object geben. Genau so wie der negative Befund einer
Sputumuntersuchung eine tuberculose Lungenaffection bei dem be¬
treffenden Individuum nicht ausschliesst, ebenso wenig kann die histo¬
logische Diagnose eines Gewebsstiickes, welche auf entzündliches In¬
filtrat oder einfache Epithelwucherung lautet, das Vorhandensein eines
Carcinoms ausschliessen ; und wenn in einem solchen Falle der weitere
Verlauf der Krankheit oder eine wiederholte histologische Untersuchung
die Diagnose auf Carcinom feststellen sollte, Schuld an der Resultat¬
losigkeit der histologischen Untersuchung trägt ausschliesslich und
allein der Kliniker, welcher die Probeexcision offenbar entweder
überhaupt nicht an der richtigen Stelle, oder nicht genug tief ins Ge¬
webe hinein vorgenommen hat. Ferner ist bekanntlich eine histologische
Diagnose eine der schwersten Sachen in der Medicin und sehr viele
Fehler wären in dieser Beziehung vermieden worden, wenn die histo¬
logischen Untersuchungen immer von wirklich erfahrenen Histologen
ausgeführt worden wären. Denn die Verwechslung von Carcinom mit
Tuberculose, zum Beispiel, ist durch die in der Nähe von tuberculösen
Geschwüren sehr üppig auftretenden Epithelwucherungen verhältniss-
mässig leicht möglich, und der Umstand, dass manchmal vielleicht,
selbst ein erfahrener Histologe sich geirrt hat, beweist eben noch einmal
die ausserordentlichen Schwierigkeiten, mit welchen die histologische
Untersuchung zu kämpfen hat. Ein solcher war auch der zweite von
Herrn Docenten Grossmann augeführte Fall, der mir ebenfalls be¬
kannt ist. Man muss aber hinzufügen, dass derselbe sieh zu einer Zeit
ereignet hat, wo die Erfahrungen über den histologischen Bau des
Larynxkrebses noch recht mangelhaft waren. . .
Zum Schluss darf man nicht vergessen, dass es histologisch
zweifellose Carcinome gibt, welche klinisch nicht als solche verlaufen.
Docent Dr. G r o s s m a n n : Ueber den hohen diagnostischen
Werth der mikroskopischen Untersuchungen, ist im Kreise moderner
Aerzte eine weitere Beweisführung wohl nicht mehr nothwendig.
Aber gerade mit Rücksicht auf das grosse Ansehen, welche
diese Untersuchungsart mit Bezug auf ihre Verlässlichkeit im Allge¬
meinen geniesst, schien es mir angezeigt, glegentlich daran zu erinnern,
dass auch diese Methode mit Zufälligkeiten zu rechnen hat, welche
das Erkennen der Wahrheit hie und da erschweren können. Es ist
also auch hier eine gewisse Vorsicht am] Platze, damit in einem ge¬
gebenen Falle kein Unheil angestittet weide.
Dr. Sch eff erwähnt, anknüpfend an die Mittheilungen des
Vorredners, dass auf der Naturforscherversammlung in Frankfurt a M
einer ähnlichen Anschauung Ausdruck verliehen wurde und berichtet
aus seiner Erinnerung über einen von B.| F r ä n k e lr daselbst be¬
sprochenen Fall. , , . , ,,,
Dr. Läufe'r bemerkt zu dem ersten der drei vorgestellten
Fälle, dass Stoerk schon ' vor| langer Zeit solche circumscripte
Taschenbandtumoren beschrieben und als Tuberculose erkannt habe,
welche mit dem erst beschriebenen Falle' grosse Aehnlichkeit^zeigten.
Dr. R e t h i : Bei histologischen Untersuchungen können ver¬
schiedenartige Fehlerquellen unterlaufen und dadurch zu Fehldiagnosen,
beziehungsweise unrichtigen therapeutischen Massnahmen Anlass geben
Irrthümer sind auch dadurch entstanden, dass Drusengebi.de mi
Epithelialzapfen und -Nestern verwechselt werden und schliesslich kann
auch auf die Weise, durch Mangel an nöth.ger Vorsicht, e.n talsc
histologischer Befund resultiren, dass die Schnitte nicht 8enkrec^af
die Oberfläche geführt werden; es kommen dann leicht isohrte Epithel
12 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 5
anhäufungen im Bindegewebe zum Vorschein, welche nichts Anderes
sind, als die Räume unten zwischen den Papillen, welche schief ge-
troffen wurden.
Dass aber durch diese zum grössten Theil selbst herbeigeführten
Fehler die grosse Bedeutung und der Werth der histologischen Unter¬
suchung nicht im Mindesten tangirt wird, ist selbstverständlich.
3. Prof. Chiari: Ende September 1899 wurde mir von einem
Collegen ein öSjähriger kräftig gebauter und gut genährter Herr
zugesendet, welcher seit einem Jahre hie und da heiser war; seit
drei Monaten hatte die Stimmstörung dauernd zugenommen, so dass
der Patient zur Zeit der Untersuchung stark heiser war. Schmerzen
beim Schlingen hatten durch fünf Wochen bestanden, waren aber in
der letzen Zeit bedeutend zurückgegangen; nur bestand starke Salivation.
Die Anamnese ergab, dass der Patient vor zwei Jahren eine
sehr heftige Mandelentzündung mit starker Drüsenschwellung, aber
ohne Eiterung überstanden hatte. Irgend eine syphilitische Erkrankung
hat der Patient nie an sich bemerkt.
Die Diagnose des behandelnden Arztes lautete auf Epithelioma
laryngis. Die Untersuchung schien auch dafür zu sprechen; vor Allem
fiel der jauchige Geruch aus dem Munde auf. Ferner konnte man mit
dem Spiegel die rechte Hälfte der Epiglottis zu einem rundlichen,
haselnussgrossen, ulcerirten Tumor umgewandelt sehen. Dem Rande
und Grunde des Geschwüres sassen bis erbsengrosse papilläre, höckerige
Wucherungen auf. Das Geschwür setzte sich auf die rechte pharyngo-
epiglottische und aryepiglottische Falte fort. Soweit stimmte Alles für
die Diagnose auf Carcinom. Dagegen sprach auch nicht der Umstand,
dass die linke Epiglottishälfte aufs Doppelte verdickt und stark ge.
rötliet war. Aber bei Besichtigung der anderen Larynxtheile fiel mir
auf, dass beide Aryknorpel stark in filtrirt. geröthet und dennoch ganz
gut beweglich waren. Ferner zeigten das linke Stimm- und Taschen¬
band höckerige Infiltrate und Ulcera. Ich calculirte nun, dass nach
unseren Erfahrungen Infiltrate und Ulcera krebsiger Natur vor dieser
Ausbildung die beiden Gelenke zwischen Aryknorpel und Ringknorpel
hätten immobilisiren müssen; ausserdem beginnt der Krebs gewöhnlich
nicht zu gleicher Zeit an verschiedenen Stellen des Kehlkopfes, sondern
breitet sich per continuitatem langsam von einem Punkte aus und
bleibt, wie bekannt, sehr lange Zeit einseitig. Drüsen, Exanthem oder
Narben waren nirgends nachweisbar. Ich erklärte daher die Diagnose
auf Krebs als sehr zweifelhaft. Es blieb nun nichts übrig, als an exstir-
pirten Stücken die histologische Untersuchung vorzunehmen. Bemerken
will ich noch, dass beide Lungen sich als gesund erwiesen und schon
früher oftmalig vorgenommene Sputumuntersuchungen keine Tuberkel¬
bacillen nachgewiesen hatten.
Am 29. September entfernte ich mit Krause’s schneidender
Doppelcurette mehrere grosse Stücke der Wucherungen an der rechten
Seite der Epiglottis. Die Blutung war massig, die Reaction in den
nächsten Tagen gering. Am 4. October theilte mir mein Assistent mit,
dass er in den Schnitten Epithelialcarcinom zu finden glaube. Ich be¬
sichtigte sie, fand aber nur ein stark mit Rundzellen infiltrirtes Ge¬
webe, bekleidet von einem sehr verdickten Pflasterepithel, welches
dicke, lange Zapfen in die Tiefe sendete. Nirgends fand sich atypische
Epithelwucherung. Docent Dr. Albrecht, welcher die Güte hatte, die
Präparate mit mir durchzusehen, erklärte auch, dass sich aus diesen
Schnitten Carcinom nicht diagnosticiren lasse. Daher verschrieb ich am
5. October 2 g Jodkali pro die und hatte die Freude, schon am
10. October das Geschwür der rechten aryepiglottischen Falte geheilt
zu fiuden. Der ganze Kehldeckel war dünner geworden, der Tumor
rechts viel kleiner, das Geschwür daselbst reiner und der üble Geruch,
die Schlingbeschwerden, sowie die starke Speichel- und Schleim¬
absonderung hatten fast ganz aufgehört. Die Heilung schritt nun schnell
vorwärts. Als ich am 15. December den Patienten zuletzt sah, war die
Epiglottis dünner als normal und namentlich rechts narbig verschrumpft,
beide Aryknorpel von normaler Grösse und gut beweglich; nur beide
Taschenbänder zeigten noch massige Verdickung. Die Stimme war
leicht belegt.
Nach diesem Erfolge der Jodkalitherapie konnte über die syphi¬
litische Natur des Kehlkopf leidens kein Zweifel mehr bestehen. Wahr¬
scheinlich war die angebliche Tonsillitis vor zwei Jahren der Primär-
aftect gewesen.
Jedenfalls ergibt sich aus dieser Mittheilung die Nothwendigkeit,
sehr vorsichtig bei der Diagnose des Kehlkopfkrebses zu sein und alle
Momente zu berücksichtigen. Namentlich soll man bei der Deutung
histologischer Befunde sehr skeptisch vorgehen.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
in München.
Vom 17. bis 22. September 1899.
. (Fortsetzung.)
Section für Chirurgie.
Referent: Wohlgemuth (Berlin).
II. Sitzungstag, Dienstag den 19. September, Vormittags.
Vorsitzender : Se. königl. Hoheit Prinz Dr. Ludwig Ferdinand von
Bayern.
IX. K ü m me 1 1 (Hamburg): Ueber circulare Naht der
Gefäss.e.
Erst in den letzten 17 Jahren hat sich mehr und mehr die Vor¬
stellung Bahn gebrochen, dass auch an den grossen Blutgefässen des
menschlichen Körpers conservative Methoden ihre Berechtigung haben
und auch von Erfolg begleitet sein können. Diese Gedanken und Er¬
wägungen sind jedoch jetzt nicht ganz neu, wie es scheinen will, denn
schon im Jahre 17G2 führte Lambert, der Chirurg von Newcastle,
eine seitliche Arteriennaht bei einem Verletzten aus, welche von Erfolg
begleitet war. Im folgendem Jahre, 1763, stellte Ass mann zw-ei
Versuche an Thieren über die Naht an Gefässen an und fand, dass
dieselben vollständig obliterirten. Damit war das Schicksal der Gefäss-
Daht für längere Zeit besiegelt, und Broca sagt in seiner Arbeit
(1856): „Des anevrysmes et de leur traitement“, indem er die gelungene
Gefässnaht. von Lambert und die Widerlegung von Assmann er¬
wähnt und die Obliteration der Arterien bei der Naht für feststehend
ansieht: „On revient done k la ligature et il en etait temps. “ 120 Jahre
vergingen, bis die Gefässnaht von Neuem zur erfolgreichen Ausführung
gelangte. Am 23. November 1881 schloss Czerny die Vena jugularis
communis durch eine seitliche Naht; die Patientin ging jedoch an
Pvämie zu Grunde, während Schede die Vena femoralis communis
mit Erfolg nähen konnte. Auf dem Congress der „Deutschen Gesell¬
schaft für Chirurgie“ im Jahre 1882 sprechen Braun und Schede
über den seitlichen Verschluss von Venenwunden und Gluck berichtete
über zahlreiche Experimente über die Naht der Blutgefässe. Derselbe
hat das Verdienst, durch vielseitige Thierversuche auf die Möglichkeit
der seitlichen und circularen Naht von Arterien, ohne dass es zur
Bildung von Thromben kam, öfter hingewiesen zu haben.
Seit dem Jahre 1882, seit den Mittheilungen Czerny’s,
Schede’s, wurde die seitliche Venennaht öfters ausgeführt, indem
sie sich meistens an Verletzungen dieser Gefässe bei Operationen
ansehloss. Ich selbst habe Gelegenheit gehabt, die seitliche Naht
der Vena jugularis communis und der Femoralis ohne Störungen aus¬
zuführen.
Erst später wendet man seine Aufmerksamkeit der Naht der
Arterien zu. Jossinowski (Odessa) kommt 1891 auf Grund seiner
experimentellen Studien zu dem Resultate, dass in keinem der vielen
Fälle bis zum 100. Tage ein Aneurysma sich bildete. Die Gefässnarbe
war an älteren Geweben sehr fest und unnachgiebig, die Adventitia
zeigte an der Nahtstelle eine starke Verdünnung, die Media Vermehrung
ihrer zelligen Elemente, die Membrana elastica weist an der Nahtstelle
eine geringfügige Lücke auf, das Gefässendothel scheint nach Jossi-
nowski’s und Haidenhein’s Thierversuchen den narbigen Ver¬
schluss der Arterien herbeizuführen.
Abbey (New-York) 1894 führte mit Hilfe von Glastuben
Arterien- und Venennähte im Thierexperiment mit Erfolg aus.
Murphy (Resection of arteries) 1897 und 1898 stellte weiter
vielfache experimentelle und klinische Untersuchungen über Gefässnaht
an. Er führte die circulare Gefässnaht, wenn mehr als die Hälfte des
Umfanges durchtrennt ist. nach Resection der verletzten Partie und
Invagination des oberen Theiles in den unteren beim Thiere erfolg¬
reich aus. Die Naht wird mit Schonung der Intima zur Vermeidung
von Thrombeubildung ausgeführt. (Fortsetzung folgt.)-
Wiener medicinisches Doctoren-Collegium.
Programm
der am
Montag, den 5. Februar 1900, 7 Uhr Abends.
im Sitzungssaale des Collegiums: I., Rothenthurmstrasse 21 23
unter dem Vorsitze des Herrn Dr. Teleky
stattfindenden
Wissenschaftlichen Versammlung.
Hofrath Prof. E. Albert: Architektur des Knochens. (Mit Demon¬
strationen.)
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, Jos. Gruber,
M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann,
R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt, A. v. Vogl,
J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fnclis, Karl Griissenbauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redio-irt von Dr. Alexander Fraenkel.
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Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, V 1 1 1/1, Wickenburggasse 13.
Dio „Wiener klinische
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erscheint jeden Donnerstag
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Telephon Nr. 60Ü4.
XIII. Jahrgang.
Wien, 8. Februar 1900.
Kr. 6.
INHALT:
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel: 1. Aus dem Institute für allgemeine und experimen¬
telle Pathologie der Universität zu Wien. Ueber die Wirkung des
Schilddrüsensaftes auf die Circulation und Atlimung nebst einem
Anbange über Beziehungen zwischen Jodothyrin und Jodnatrium,
beziehungsweise Atropin. Von Dr. Bel a v. Fenyvessy.
2. Aus der Ohrenabtheilung im k. u. k. Garnisons-Spitale Nr. 1 in
Wien. Störungen der Vasomotorenthätigkeit und der Sensibilität
nach peripherer traumatischer Facialislähmung. Von Regimentsarzt
Dr. Carl Biehl.
3. Gutachten der medicinischen Facultät in Wien. Todschlag, verübt
von einem trunksüchtigen, ethisch depravirten Individuum. An¬
geblicher pathologischer Rauschzustand und Schlaftrunkenheit.
Verurtlieilung. Referent Prof. v. Wagner.
4. Philipp Knoll f.
II. Referate: I. Die Fruchtabtreibung durch Gifte und andere Mittel.
Von Prof. Dr. L. Lewiu und Dr. M. B r e n n i n g. II. Hand¬
buch der Toxikologie. Von Prof. A. J. Kunkel. III. Mittheilun¬
gen über einige während des Jahres 1898 im analytischen Labora¬
torium der Krankenhausapotheke zu Leipzig ausgetührte A i beiten.
IV. Pharmakognostische Karte für die Arzneibücher Europas und
der Vereinigten Staaten von Amerika. Von Herman n
Schelenz. V. Beiträge zu den Wirkungen des Jodoforms. Von
Dr. med. Jean Gros. Ref. H o c k a u f.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Therapeutische Notizen.
V. Notizen.
VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
Aus dem Institute für allgemeine und experimentelle
Pathologie der Universität zu Wien.
Ueber die Wirkung des Schilddrüsensaftes auf
die Circulation und Athmung nebst einem An¬
hänge über Beziehungen zwischen Jodothyrin
und Jodnatrium, beziehungsweise Atropin.
Von Dr. Bela V. Fenyvessy, Assistenten am pharmakologischen Institute
der Universität zu Budapest.
Seit den grundlegenden Untersuchungen von Brown-
Sequard über die »innere Secretion« hat die Verabreichung
thierischer Organbestandtheile, theils als Heilverfahren, theils
aber auch als Versuchsmethode zum Studium der physiologi¬
schen Function gewisser Drüsen vielfach Anwendung ge¬
funden. Namentlich suchte man für die auf klinischen und ex¬
perimentellen Erfahrungen fussende Annahme, dass die so¬
genannten »Blutdrüsen« (»Drüsen ohne Ausführungsgänge«:
Schilddrüse, Hypophysis, Nebennieren) in enger Beziehung
zum Kreislauf stehen, dadurch weitere Stützen zu liefern, dass
mau ihre unmittelbare Wirkung auf die Circulation durch
directe Injection von Bestandtheilen derselben in die Blut¬
bahn fremder Thiere prüfte.
Ueber die Wirkung intravenöser Injectionen des Schild¬
drüsensaftes findet man folgende Angaben in der Literatur:
Hein atz1) beobachtete unmittelbar nach der Injection
von filtrirtem, aseptischen Schilddrüsensafte eine lang dauernde
Blutdrucksteigerung, welcher eine bedeutende Beschleunigung
der Herzcontractionen vorausging; letztere trat auch nach
Durchschneidung beider N. vagi ein. Nach Schaefer und
’) Altes und Neues über die Schilddrüse. Dissertation (russisch).
1894. Citirt nach Georgiewsky.
Oliver'2) erzeugt der Schilddrüsensaft eine geringfügige und
kurzdauernde Blutdrucksenkung. Etwas ausführlicher als in
dieser vorläufigen Mittheilung, erörtert Schaefer3) die
Frage in seinem Vortrage »Ueber die innere Secretion«. Er
betont daselbst, dass die Blutdrucksenkung bei normaler
Frequenz und Grösse der Herzcontractionen vor sich geht
und daher nur durch die Erweiterung der Arterien bedingt
sein kann. Als Beweis hiefür führt er an, dass Oliver an
Menschen nach Verabreichung von Schilddrüsenpräparaten eine
Erweiterung der A. radialis beobachtete, ferner dass nach
Lorrain Snidth die Versucliäthiere nach Exstirpation der
Schilddrüsen auffallend empfindlich gegen Schwankungen der
äusseren Temperatur waren, ein Umstand, der nach
Schaefer ebenfalls durch eine Störung der Gefässinnervation
bedingt sein dürfte.
Georgiewsky1) schildert die Schilddrüsenwirkung
folgendermassen : unmittelbar nach der Einspritzung tritt eine
kurzdauernde, unbedeutende Verminderung der Herzcon¬
tractionen und ein geringes Sinken des Blutdruckes ein; das
letzte kommt auch nach Durchschneidung des Rückenmarkes
unterhalb der Medulla oblongata vor, ist daher nicht centralen
Ursprunges.
Haskovec5) experimentirte mit 10 — 20%igen wässe¬
rigen Extracten, die er theils aus frischen Hunde-Schilddrüsen,
theils aus dem Merk’schen Thyreoidin bereitete. Die intra-
2) Effects of glandular extracts. Journal of Physiol. 1895, pag. 277
(vorläufige Mittheilung).
3) Schaefer, An internal secretion. British med. Journal. 1895,
Bd. II, pag. 321.
4) Die Wirkung der Schilddrüsenpräparate. Zeitschrift tür klinische
Medicin. Bd. XXXIII, pag. 153.
») Ueber die Einwirkung des Schilddrüsensaftes auf den Kreislaut.
Wiener medicinische Blätter. 1896, Hett 8 fi.
126
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
venöse Injection derselben erzeugte Illutdrucksenkung und
bedeutende Pulsbeschleunigung. Diese letztere ist nach Has-
kovec unabhängig vom Vagus und beruht auf der Erregung
des Acceleranscentrums. Die Depression äusserte sieh auch bei
Reizung des Gefäss-Nervencentruras durch Asphyxie. Ferner
beobachtete Haskovec, dass der Druckabfall auch nach
Durchtrennung der Medulla oblongata eintritt, nicht aber wenn
die Thiere curarisirt waren. Die letztere Beobachtung erklärt
er mit der Angabe Strieker’s6), laut der Curare auf die
spinalen Gefässcentren lähmend einwirkt (?).
Die Schlussfolgerungen von Haskovec bezüglich der
Ursache der Blutdrucksenkung lauten: Dieselbe ist nicht
ausschliesslich bulbär, sie kann auch spinal oder peripher sein.
Livon7) rechnet die Schilddrüsen zu den gefässver-
engernden Organen.
Guinard und Martin 8) bereiteten Extracte aus
frischen menschlichen Organen. Der so gewonnene Schilddrüsen¬
saft erzeugte eine bedeutende Blutdrucksenkung.
Sämratliche erwähnten Autoren experimentirten an Hunden.
Aus dem Mitgetheilten ersieht man, dass die meisten
Forscher übereinstimmend die Blutdrucksenkung als Wirkung
des Schilddriisensaftcs angeben.
Jedoch fehlt es nicht an widersprechenden Versuchs¬
ergebnisser, wie diejenigen von Heinatz und Zivon. Aber
selbst diejenigen Autoren, die über die Veränderung der
Druckhöhe übereinstimmend berichten, weichen in der Be¬
schreibung der Schlagfolge des Herzens von einander ab.
Schäfer betont ausdrücklich die unveränderte Herzthätig-
keit, Georgiewsky beobachtete Verlangsamung, Hasko¬
vec Beschleunigung, Guinard und Martin beide Er¬
scheinungen.
Diese Widersprüche veranlassten mich zur Aufnahme
meiner nachstehenden Untersuchungen über die Wirkungs¬
weise der Schilddrüsenpräparate. Es schien mir geboten, bei
der Prüfung der Kreislaufverhältnisse auch die Erscheinungen
seitens der Athmung umsomehr zu berücksichtigen, als be¬
züglich der letzteren bisher keine Angaben vorliegen. Zur Er¬
klärung der von einander abweichenden Resultate der früheren
Untersuchungen betrachtete ich es als naheliegend, an die
Verschiedenheit der benützten Präparate zu denken. Die
durch die Herkunft, Bereitungsweise und eventuelle Zersetzung
bedingte labile Zusammensetzung der Organextracte berechtigt
wohl zu der Annahme, dass bei der intravenösen Injection
derselben neben den allen gemeinsamen Substanzen noch eine
Reihe von wechselnden, zufälligen Bestandtheilen sich geltend
machen und die wesentliche Wirkung modificiren könnte.
Die accidentellen Erscheinungen suchte ich von den
wesentlichen dadurch zu trennen, dass ich eine Reihe von
Schilddrüsenpräparaten verschiedener Herkunft untersuchte; es
war schon von vorneherein wahrscheinlich, dass diejenigen Er¬
scheinungen, welche ausnahmslos durch alle diese Präparate
erzeugt würden, als regelmässige Schilddrüsenwirkung bezeichnet
werden durften.
Meine Versuchsthiere waren Kaninchen, welche bald in
curarisirtem Zustande, bald — wo es auf die Beobachtung der
Athembewegungen ankam — uncurarisirt zu den Experimenten
benützt wurden. Die Registrirung des Blutdruckes erfolgte in
der üblichen Weise mit Hilfe eines Quecksilber-Manometers,
die \ erzeichnung der Respiration mit Benützung einer von
Knoll9) angegebenen Vorrichtung, bei welcher das Versuchs-
thier in einen geschlossenen Luftraum, der mit einer Mar ey-
schen Schreibtrommel verbunden war, exspirirte. Die Injection
erfolgte immer in die Vena jugularis.
") Untersuchungen über die Ausbreitung der tonischen Gefässcentren
im Rückenmarke. Sitzungsbericht der kaiserlichen Akademie in Wien. 1877,
pag. 136.
’) Citirt nach 8).
s) Comptes rendus de la Soc. d. Biologie 1898, auch in den Schluss¬
sätzen der Mittheilung: Contribution ä l’etude des eflets du sue surrenal.
Journal de Physiol, et Pathol, generale. 1899, Nr. 4, pag. 784.
9) Beiträge zur Lehre von der Athmungsinnervation. I. Mittheilung.
Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien. 1882,
Bd. LXXXV, pag. 283.
Dass ich, abweichend von den früher erwähnten Au¬
toren — die, wie schon erwähnt, an Hunden experimentirten
— Kaninchen wählte, dazu veranlasste mich einerseits der
Umstand, dass die meisten experimentellen Eingriffe bequemer,
einige, meinen Zwecken besonders entsprechende, ausschliess¬
lich an diesen Thieren auszuführen sind; andererseits über¬
zeugte ich mich durch einige an Hunden vorgenommene Ver¬
suche, dass die wichtigsten Zeichen der Schilddrüsenwirkung
an beiden Thierarten im gleichen Sinne, jedoch an Kaninchen
leichter und prägnanter erzeugt werden können.
Die von mir benützten Schilddrüsenpräparate waren fol¬
gende: 1. Frische Hunde Schilddrüsen ; 2. getrocknete Rinder-
Schilddrüsen (dieses Präparat wurde mir von Dr. E. F r e u n d,
Vorstand des pathologisch-chemischen Laboratoriums der
k. k. Krankenanstalt »Rudolfstiftung« in Wien, freundlichst
zur Verfügung gestellt); 3. M e r k’sches Thyreoidin; 4. Mer lö¬
sche Schilddrüsen-Tabletten ; 5. Tabletten von Burrough-
W e 1 c o m e.
Um eine zur intravenösen Injection geeignete Flüssig¬
keit zu erhalten, wurden aus allen diesen Präparaten 10%ige Aus¬
züge bereitet, indem abgewogene Mengen der festen Substanz
mit der zehnfachen Menge physiologischer Kochsalzlösung
gründlich verrieben und 12 — 24 Stunden lang digerirt
wurden.
Das klare, farblose oder gelbliche (bei Anwendung von
frischen Organen rötldiche), neutral oder schwach alkalisch
reagirende Filtrat wurde dann sofort zur Injection ver¬
wendet.
Das Ergebniss meiner Untersuchungen war vor Allem,
dass alle erwähnten Präparate vollständig analog wirkten. Die
nachstehende Schilddrüsenwirkung gilt daher für jedes ein¬
zelne Präparat. Bei dieser qualitativen Uebereinstiinmung
zeigten die einzelnen Auszüge erhebliche Differenzen an Wirk¬
samkeit; solche kamen aber auch bei Anwendung desselben
Ausgangspräparates vor; somit bin ich nicht berechtigt, das
eine oder andere Grundpräparat als mehr oder minder wirk¬
sam zu bezeichnen, da die Ursache der quantitativen Differenzen
augenscheinlich in der Ungenauigkeit des Extractionsver¬
fahrens lag.
Ich will nun der ausführlichen Besprechung der Kreis-
laufverhältnisse eine kurze Schilderung meiner Erfahrungen
bezüglich der Wirkung des Schilddrüsensaftes auf die Athem¬
bewegungen vorausschicken.
ln einer Anzahl von Fällen blieb die Athmung selbst nach
Injection von grossen Dosen, die den Kreislauf stark beeinflussten,
unverändert.
In einer anderen Reihe von Versuchen trat unmittelbar
nach der Einspritzung des Schilddrüsensaftes eine kurz¬
dauernde Periode der Beschleunigung und Abflachung der
Athembewegungen ein (primäre Wirkung), welcher daun
meistens, insbesondere bei Verwendung von Extractum thyreoid,
eine länger dauernde Periode geringfügiger Vertiefung und
Beschleunigung der Athmung folgte (secundäre Wirkung).
Achnliche Erscheinungen wie bei der primären Wirkung
(Beschleunigung und Abflachung der Athmung in Inspirations¬
stellung des Zwerchfelles) beobachtete Knoll sowohl bei Zu¬
fuhr einiger flüchtiger Substanzen (Aether, Chloroform, Benzin,
Senföl) zu den unterhalb des Kehlkopfes gelegenen Luft¬
wegen l0), als auch nach intravenöser Injection von Chloral-
hydrat. 1 ') Wie er mittelst Durchschneidung der Vagi, respec¬
tive durch Verschluss der Pulmonalarterie während der In¬
jection feststellte, handelte es sich um einen durch die Rami trache¬
ales und pulmonales der Brustvagi vermittelten Reflex auf
die Athmung. Da die von mir beobachtete primäre Aenderung
der Athmung ebenfalls entfiel, wenn die Vagi vorher durch¬
schnitten wurden, so durfte sie als eine mit der von Knoll
beschriebenen analoge Reflexerscheinung aufgefasst werden.
Ob die secundäre Wirkung durch eine directe Wirkung auf
10) Ueber die Reflexe der Athmung etc. Sitzungsberichte der kaiser¬
lichen Akademie der Wissenschaften in Wien. 1873, Bd. LXVI1I,
pag. 245.
n) Beitrag zur Lehre von der Athmungsinnervation. IV. Mittheilung.
Ibidem. 1883, Bd. LXXXV1II, pag. 479.
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 19ÜO
127
das Athmungscentrum bedingt ist, . muss ich dahingestellt sein
lassen, da die Ineonstanz der Erscheinung eine genauere Unter¬
suchung ihrer Bedingungen nicht ermöglichte.
Eine tiefgreifende Wirkung des Schilddrüsensaftes auf
die Athmung konnte ich nur in einem Falle beobachten. Nach¬
dem einem kleinen Kaninchen (900 </) 2 cm* (eine verhältniss-
miissig grosse Dosis) Schilddrüsensaft (Merck’sches Thyre-
oidin) eingespritzt worden war, trat eine zunehmende Ab¬
dachung der Athmung und bald darauf Stillstand derselben
ein. Um das Thier zu retten, wurde künstliche Ventilation
eingeleitet; nach Aussetzung derselben folgte eine Reihe spon¬
taner Athmungen, worauf sich ein zweiter, diesmal tödtlicher
Respirationsstillstand einstellte. Während der ganzen Zeit
wurde der Kreislauf nur durch die vorübergehende Wirkung
des Extractes, später durch die gewöhnlichen Folgen der
Asphyxie (Pulsverlangsamung und Blutdrucksteigerung) gestört.
Eine Erklärung für diese Erscheinung, die sich nicht mehr
wiederholte, kann ich vorläufig nicht geben.
Immerhin wird man auf Grund der zahlreichen positiven
Beobachtungen dem Schilddrüsensafte neben der ersten oder
primären reflectorischen Beeinflussung der Athmung noch eine
zweite oder secundäre Wirkung auf die Respiration zuschreiben
müssen, die zu einer bis zu einer halben Minute dauernden
wenn auch geringen Vermehrung der einzelnen Athemzüge
führte. Doch lässt sich mit Rücksicht auf eine Anzahl nega¬
tiver Fälle nicht mit voller Sicherheit entscheiden, ob diese
Wirkung eine diesem Organe als solchem zukommende ist.
Ich schreite nun zur Besprechung der Wirkung des
Schilddrüsensaftes auf den Kreislauf, muss aber zunächst be¬
merken, dass die erwähnte Ungleichheit der Wirksamkeit in
quantitativer Beziehung eine genaue vergleichbare Dosirung
der Extracte nicht ermöglichte.
Die wirksame Dosis musste daher für jedes Präparat
beim Beginn des Versuches festgestellt werden. Auf lOÜOy
Körpergewicht berechnet, genügte durchschnittlich 1 cm3, um
die nachstehend geschilderten Erscheinungen deutlich, 2 cm3,
um sie in hohem Grade hervorzurufen.
Der Kreislauf wies dann folgende Aenderungen auf:
Gleich nach Beginn der Einspritzung nahm die Pulszahl und
Höhe des Blutdruckes plötzlich ab; diese Erscheinung dauerte
bis zum Ende der Injection, um dann gewöhnlich ebenso
rasch, wie sie sich eingestellt hatte, zu schwinden. Der Druck
stieg nun in den meisten Fällen bis zur normalen Höhe an,
blieb jedoch manchmal unterhalb des ursprünglichen Niveaus;
öfters stieg er um Geringes, selten bedeutend über dasselbe
hinaus; die Pulszahl erreichte gewöhnlich auf der Höhe des
Anstieges die normale Frequenz, die sie dann niemals über¬
schritt. Auf dieser Höhe verweilte der Druck blos einige Se-
cunden, um dann, anfangs etwas rascher, sonst in der Regel
aber gleichmässig und ganz allmälig unter die normale Höhe
zu sinken; der Anstieg ging wieder bis zur Norm langsam
vor sich.
Während dieser zweiten Senkung war die Pulsfrequenz
in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle gleich der vor der
Injection beobachteten. Manchmal, besonders bei sehr tiefen
Senkungen, konnte ich eine geringfügige Verlangsamung wahr¬
nehmen; in keinem einzigen meiner zahlreichen (circa 50) Ver¬
suche an Kaninchen war eine Beschleunigung der Herzschläge
vorhanden.
Die Grösse und Form der systolischen Erhebungen war
während der secundären ,2) Senkung unverändert. Die Dauer
der secundären Senkung betrug 10 — 13 Secunden, die Tiele
der Senkung 10 — 80 mm Hg.
Aus diesen drei Phasen: primäre Senkung und Pulsver¬
langsamung, Anstieg des Druckes mit Zunahme der Pulszahl
und secundäre Senkung bei normaler (oder etwas verlang¬
samter) Herzthätigkeit bestand das typische Bild der vom
Schilddrüsensaft erzeugten Kreislaufänderung. Die Eigenthüm-
lichkeiten der einzelnen Beobachtungen wurden nur durch
'-) Um Missverständnissen vorzubeugen, betone ich, dass ich mit
den Worten »primäre« und »secundäre« Senkung die Reihenfolge und nicht
etwa ursächliche Momente bezeichne.
das mehr oder minder starke Vortreten der einzelnen Phasen
bestimmt.
Die Dauer der primären Senkung war von der Dauer
der Einspritzung bedingt; der Grad der Verlangsamung und
die Tiefe der Senkung erschien- von der Menge des in der
Zeiteinheit eingespritzten Flüssigkeitsmenge abhängig; so war
diese erste Phase bei sehr allmäliger Einführung von 1 cm 3
des Extractes kaum merkbar, während die rasche Injection
derselben Menge eine kurzdauernde aber hochgradige Druck¬
senkung und Pulsverlangsamung erzeugte, welcher oft eine
geringfügige Blutdrucksteigerung vorausging. Bei den von mir
gewöhnlich verwendeten Mengen (2 — 3 c??i3) war jedoch dieses
erste Stadium fast immer deutlich ausgeprägt. Manchmal war
es dem Bilde der Vaguserregung, manchmal dem einer De¬
pressorreizung ähnlich.
Da nun in meiner Schilderung zwei Senkungen aufein¬
ander folgen, so ist schon bei der Besprechung der ersten zu
entscheiden, wie weit diese mit der Schilddrüsenwirkung zu-
sammer, hängt; dies ist besonders wichtig mit Rücksicht auf
diejenigen Fälle, wto ich nach Injectionen kleiner Dosen aus¬
geprägte primäre, jedoch sehr unbedeutende oder keine secun¬
däre Wirkung beobachtete.
Es erhebt sich die Frage, ob es sich hier überhaupt um
eine Schilddrüsen Wirkung handelt. Die Antwort auf dieselbe
ergibt sich aus der Analyse der primären Drucksenkung und
Puls Verlangsamung.
Schon ihre engen Beziehungen zur Art der Injection
geben der Vermuthung Raum, dass ihre Entstehung im Wesent¬
lichen von der eingeführten Flüssigkeitsmenge und nicht von
den specifischen Bestandteilen derselben abhängt. Zur Be¬
stätigung dieser Annahme wurden Injectionen von physiologi¬
scher Kochsalzlösung vorgenommen. Es liess sich nun auf diese
Weise eine, der beschriebenen »primären Wirkung« analoge
Blutdrucksenkung und Pulsverlangsamung, der aber niemals
eine secundäre Senkung folgte, erzeugen. Damit wäre schon
die Frage über die Bedeutung der »primären Wirkung« er¬
ledigt gewesen.
Doch wollte ich, mit Rücksicht auf die Aehnlichkeit der¬
selben mit einer Vagus-, respective Depressorenerregung eine
speciflsche Beeinflussung der genannten Nerven seitens des
Schilddrüsensaftes a priori nicht von der Hand weisen. Ich
nahm daher Injectionen nach Ausschaltung der Vagi und
Depressores (Durchschneidung der Nerven und Atropinver¬
giftung) vor und wies auf diese Weise nach, dass die »primäre
Wirkung« des Schilddrüsensaftes mit einer von ihr abhängigen
Reizung der Herznerven nichts zu thun hat. Somit ist die
Analogie mit der Wirkung der physiologischen Kochsalzlösung
vollständig, da es sich in beiden Fällen wohl nur um eine
durch die jäh eingeführte Flüssigkeit auf das Herz selbst aus-
geübte rein mechanische Wirkung (Druck, Dehnung) handelt,
wobei die specifischen Bestandteile der Schilddrüsen keine
Rolle spielen.
Die zweite Phase bedarf in denjenigen Fällen, wo der
ansteigende Druck die normale Höhe gar nicht oder nur un¬
wesentlich übersteigt, oder endlich dieselbe gar nicht erreicht,
keiner speciellen Erklärung. Es handelt sich um die Wieder¬
kehr der normalen Verhältnisse, die aber in dem Falle, wo
die secundäre Senkung rasch eintritt, in ihrer vollständigen
Herstellung verhindert wird. Für die in dieser Phase auf¬
tretenden höheren Druckwerthe konnte in einigen Fällen die
Erklärung in der gleichzeitigen Unruhe des Thieres gefunden
werden. Wo die Blutdrucksteigerung einer sehr erheblichen
primären Senkung folgte, dürfte wieder die durch die Schwan¬
kung der Blutzufuhr bedingte Erregung der Gefässcentren als
ursächliches Moment angenommen werden. 1:}) Es bleiben aber
noch immer zwei Fälle übrig u), in denen die Blutdrucksteige¬
rung an curarisirten Thieren im Anschluss an eine gering-
13) Siehe: Knoll, Ueber die Wirkung von Chloroform und Aether elc.
Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in \\ ien.
1878, Bd. LXXVIIT, pag. 235.
tq In dem einen Falle wurde das Extract aus den labletten ion
B ur r ou gh - W e lco in e, in dem anderen aus frischem Hundeschilddi üsen
bereitet.
128
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 6
fügige primäre Senkung auffallend hohe Werthe erreichte. Für
diese beiden Beobachtungen müssen wir nun doch die An¬
wesenheit einer blutdrucksteigernden Substanz annehmen. Dass
diese aber nicht zu den wesentlichen Bestandtheilen der
Schilddrüse, also eine Blutdrucksteigerung nicht zum typischen
Bilde der Schdddrüsenwirkung gehört, dafür spricht die Selten¬
heit ihres Auftretens im Gegensatz zur Constanz der secun-
dären Senkung, welche sich auch in den zuletzt erwähnten
Fällen einstellte.
Von den beschriebenen drei Phasen der Kreislaufverän-
deruug dürfte demnach nur die »secundäre Blutdrucksenkung«
als Ausdruck der dem Schildriisensafte regelmässig zukommen¬
den Wirkung gelten.
Das relativ späte Auftreten dieser Blutdrucksenkung
nach der Erholung des Herzens von der unmittelbaren Wir¬
kung der Einspritzung (siehe »primäre Senkung«), sowie die
in der Regel unveränderte Schlagfolge des Herzens l5) während
derselben, lassen diese Erscheinung — wie schon Sch äff er
bemerkt hat (1. c.) — nicht anders, als durch eine Erweiterung
der Gefässe erklären. Somit dürfte die manchmal während der
secundären Blutdrucksenkung beobachtete Pulsverlangsamung
nicht die Ursache, sondern eine parallele oder Folgeerscheinung
der Gefässerweiterung sein. Die Betheiligung der N. vagi und
Depressores an der Pulsverlangsamung konnte in der üblichen
Weise (Durchschneidung der Nerven und Atropineinspritzung)
ausgeschlossen werden. Die Ursache derselben lag also wohl
im ganglio-musculären Apparate des Herzens selbst. Ob nun
die Verlangsamung der Herzthätigkeit durch eine Giftwirkung
des Schilddrüsensaftes, oder aber allein durch die veränderte
Blutzufuhr zum Herzen (Erweiterung der Coronargefässe) be¬
dingt war, kann ich zwar nicht mit aller Bestimmtheit beant¬
worten, jedoch scheint mir die Annahme einer directen Schä¬
digung des Herzens durch den Schilddrüsensaft durch die re¬
lativ selten vorkommende und immerhin geringfügige Puls¬
verlangsamung kaum genügend begründet zu sein. Einige an
isolirten Katzenherzen (nach der Langen do rf f’schen Methode)
ausgeführte Versuche sprechen, wenn man auch die Ergeb¬
nisse derselben nicht direct auf das Kaniuchenherz übertragen
will, ebenfalls gegen eine solche Annahme, da ich durch Ein¬
führung des Schilddrüsensaftes in das Herz keine deutliche
Aenderung seiner Thätigkeit beobachten konnte. Ich neige
daher zur zweiten der angegebenen Alternativen.
Zur Entscheidung der Frage, ob die durch die intra¬
venöse Injection des Schilddrüsensaftes erzeugte Gefäss¬
erweiterung, welche die secundäre Senkung bedingt, einen
centralen oder peripheren Ursprung hat, wurde die Aus¬
schaltung des Centralnervensystems (Gehirnes und der Oblon¬
gata) durch Verschluss sämmtlicher Hirnarterien bewirkt.
Diese, zuerst von Kussmaul und Tenner angegebene, von
S. Mayer10) eiugehend studirte und zu pharmakologischen
Versuchszwecken vorgeschlagene Methode wurde nach den
Angaben der erwähnten Autoren ausgeführt. Zu diesem Zwecke
wurden die Kaninchen curarisirt. Nach Freilegung der Hirn-
gefässe, wurde die A. subclavia sin. ligirt, die Carotis sin. mit
dem Manometer verbunden; die noch freien Gefässe (A. subcl.
und Carotis dextra) wurden von Zeit zu Zeit mit Hilfe zweier
feiner Klemmpincetten verschlossen.
Bald darauf begann die Blutdrucksteigerung in Folge
der anämischen Erregung der Gefässc.entren. ln wenigen Se-
cunden erreichte der Druck seinen Höhepunkt, auf dem er
durch einige Zeit verweilte, um dann allmälig und gleich-
,r’) Au dieser Stelle möchte ich darauf hin weisen, dass meine Beob¬
achtung bezüglich der unveränderten Pulsfrequenz bei der secundären Senkung
den Angaben von Haskovec widerspricht. Nach II a s k o v e c ist näm¬
lich die Pulsbeschleunigung bei Hunden eine constante Begleiterscheinung
der Blutdrucksenkung. Einige (drei) an Hunden ausgeführte Versuche
überzeugten mich von der Richtigkeit dieser Angabe für dieses Thier. Die
Ursache dieses Widerspruches liegt also an der Verschiedenheit der Ver-
suchsthiere; es ist naheliegend, die Erklärung für das abweichende Ver¬
halten der beiden erwähnten Thierarteu (Hunde uud Kaninchen) in der
Verschiedenheit des Tonus der Ilerzhemmungsapparate bei beiden Thieren
zu suchen.
,6) Ueber die Veränderungen des arteriellen Blutdruckes nach Ver¬
schluss sämmtlicher Hirnarterien. Sitzungsbericht der kaiserlichen Akademie
der Wissenschaften in Wien. Bd. LXXIII, pag. 85.
mässig zu sinken. Die Scklagfolge des Herzens war in einer
Reihe von Beobachtungen unverändert, oft aber wurden Un¬
regelmässigkeiten der Herzaction constatirt. Für meine Zwecke
eigneten sich am besten die Fälle mit unveränderter Herz¬
thätigkeit. Bei längerer Dauer des Verschlusses der Hirn-
gefässe stirbt schliesslich das Gefässcentrum ab; demzufolge
sinkt der Blutdruck bis auf wenige Millimeter über die Abscisse;
das Aussetzen der künstlichen Ventilation bedingt in diesem
Zustande keine Blutdrucksteigerung mehr. Ich habe aber dieses
späte Stadium nicht abgewartet, sondern nahm die Einspritzung
des Schilddrüsensaftes schon während der Blutdrucksteigerung
vor; nach Ablauf der Wirkung wurden die Klemmen geöffnet,
worauf sich die normalen Kreislaufverhältnisse bald wieder
einstellten. Der Versuch konnte so an demselben Thiere öfters
wiederholt werden.
Auf diese M eise wurden an vier Kaninchen im Ganzen
zehn Injectionen ausgeführt. Die Resultate waren überein¬
stimmend. Alle drei Phasen der Schilddrüsenwirkung, nament¬
lich auch die secundäre Senkung, traten bei Verschluss der
Hirngefässe, wenn auch nicht gleich deutlich, so doch im selben
Sinne ein, wie ich sie an normalen Thieren beobachtete. Die
secundäre Senkung ging auch diesmal entweder bei unver¬
änderter oder etwas verlangsamter Schlagfolge des Herzens vor
sich. Natürlich erreichte der Druck nachträglich nicht immer
die Anfangshöhe, sondern nur diejenige, welche von dem all¬
mälig abnehmenden Erregungszustände der Medulla oblongata
bedingt war. Eine Verwechslung mit dem der Abklemmung
der Hirngefässe an sich entsprechendem Sinken des Blut¬
druckes konnte jedoch auf Grund des bogenförmigen Ver¬
laufes der durch den Schilddrüssensaft bedingten Senkung
immer mit Bestimmtheit ausgeschlossen werden.
Da nun in diesen Fällen das bulbäre Gefässcentrum aus
der Blutbahn ausgeschaltet war, so konnte es unmöglich den
Angriffspunkt für den Schilddrüsensaft bilden. Um aber den
centralen Ursprung der Blutdrucksenkung vollständig aus-
schliessen zu können, musste ich noch die Möglichkeit einer
Beeinflussung der spinalen Centren berücksichtigen.
Die untergeordnete Rolle dieser Centren beim Kaninchen
erhellt aus der citirten Mittheilung von S. Mayer »Ueber
die Veränderungen des arteriellen Blutdruckes nach Verschluss
sämmtlicher Hirnarterien«. Man muss darum, diesem Umstande
Rechnung tragend, annehmen, dass die Ursache der durch
den Schilddrüsensaft erzeugten Gefässerweiterung peripherer
Natur ist.
Die Ergebnisse meiner Versuche an Kaninchen sind
folgende :
Auf die Athmung hat der Schilddrüsensaft keine regel¬
mässig eintretende Wirkung; sehr oft erzeugte die intravenöse
Injection keine Aenderungen; nicht selten aber, namentlich
bei Verwendung von Extr. thyreoid, wurde nach der Injection
eine durch die Lungenvagusäste vermittelte Reflexerscheinung
auf die Athmung, bestehend in einer Beschleunigung und Ab¬
flachung der Athemzüge in Inspirationsstellung beobachtet
(primäre Wirkung), welcher dann eine länger anhaltende ge¬
ringere Beschleunigung der Athmung mit leichter Verflachung
folgte (secundäre Wirkung).
Die charakteristische Wirkung des Schilddrüsensaftes auf
den Kreislauf beim Kaninchen besteht in einer Blutdruck¬
senkung, welche einige Secunden nach beendeter Injection be¬
ginnt und in der Regel bei unveränderter Herzthätigkeit vor
sich geht. Sie wird durch die Erweiterung der Gefässe bedingt,
wobei die Gefässcentren unbetheiligt sein können. Der Um¬
stand, dass sich sowohl im Hypophysenextract als im Neben-
nierenextract Substanzen finden, welche eine analoge Wirkung
auf den Blutdruck ausüben, dass ferner ein Gleiches auch von den
Peptonen gilt, verbietet es jedoch, irgendwelche weittragende
Schlüsse über einen regulären Einfluss der Schilddrüse auf den
Tonus der Gefässe an diese Erscheinung zu knüpfen.
*
Die obigen Daten beziehen sich auf Präparate, die
sämmtliche wasserlösliche Bestandteile der Schilddrüsen ent¬
hielten. Im Anschlüsse an chemische Untersuchungen über die
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
1 29
wirksamen Bestandteile der Schilddrüsen wurden hie und da
auch Blutdruckversuche mit den isolirten Substanzen vorge¬
nommen. So gibt S. Frankel17) an, dass sein Thyreo-
antitoxin, Hunden intravenös injicirt, eine Pulsbeschleunigung,
aber keine Blutdrucksenkung erzeugt. Hutchinson lS) fand
die colloiden Bestandtheile der Schilddrüsen auf den Kreislauf
unwirksam, dagegen erzeugten die extractiven Stoffe eine Blut¬
drucksenkung. Eine Reihe von Angaben liegen über die
Wirkung des Jodothyrins (oder Thyroj odins), dieser von Bau¬
mann entdeckten jodhaltigen Substanz der Schilddrüsen, vor.
Robert19) sah das Jodothyrin, wie dies Schuster in aller
Kürze mittheilte, selbst bei intravenöser Injection, von sehr
grossen Dosen auf den Kreislauf und die Athmung unwirksam
bleiben.
Diese Angaben konnten v. Vamossy und Vas20) auf
Grund zahlreicher, an Fröschen, Kaninchen und Hunden aus¬
geführter Versuche bestätigen.
Dagegen beobachtete v. Cyon -1) während der Injection
der Jodothyrinlösung Blutdrucksenkung und Pulsverlangsamung.
Beide Erscheinungen hörten gleichzeitig mit der Ein¬
spritzung auf.
Er vergleicht diese Wirkung mit dem Bilde der Er¬
regung der N. depressores, ohne jedoch experimentelle Be¬
weise für die Mitbetheiligung dieser Nerven anzuführen. Die
Angaben von Cyon beziehen sich grösstentheils auf Versuche
an Kaninchen.
Als Injectionsflüssigkeit diente ihm die alkalische Jodo¬
thyrinlösung der Farbenfabriken Friedrich Bayer
(Elberfeld); dasselbe Präparat benützten v. V a m o s s y
und Vas.
Ich hatte nun selbst Gelegenheit, die Wirkung der al¬
kalischen Jodothyrinlösung in einer Reihe von Versuchen zu
prüfen. Das von den Elberfelder Fabriken mir bereitwilligst
zur Verfügung gestellte Präparat enthielt, wie das von Cyon
benützte, pro Cubikcentimeter 0'9wyJod und 21 ‘6 mg kohlen¬
saures Natron.
Wenn von dieser Lösung 1 — 2 on3 ganz langsam in die
Vena jugularis eines Kaninchens injicirt wurden, so blieb der
Blutdruck und die Pulsfrequenz unverändert.
Dagegen konnte ich während der Injection grösserer
Mengen eine Pulsverlangsamung und Blutdrucksenkung, ähnlich
wie sie Cyon angibt, beobachten. Dieselben Erscheinungen
traten auch bei rascher Injection kleinerer Dosen auf, dies¬
mal ging aber der Senkung gewöhnlich eine geringfügige
Blutdrucksteigerung voran. — Die Verlangsamung der Herz-
thätigkeit und die Blutdrucksenkung konnte auf die angegebene
Weise auch nach Durchschneidung der Vagi und Depressores,
sowie nach Einspritzung von Atropin erzeugt werden. Schliesslich
konnte durch Controlversuche, in denen statt der alkalischen
Jodothyrinlösung eine 2'16%ige Natriumcarbonatlösung ein¬
gespritzt und dadurch dieselbe Erscheinung erzeugt wurde,
nachgewiesen werden, dass die beschriebene Pulsverlangsamung
und Blutdrucksenkung nicht von einer specifischen Wirkung
des Jodothyrins abhängt. Falls nun — wie ich es vermuthe
— die -von Cyon angegebene » Jodothyrinwirkung« mit der
obigen thatsächlich analog ist, so dürfte sie auf dieselbe Weise
gedeutet werden.
Auf Grund meiner Erfahrungen kann ich also die An¬
gaben von K o b e r t, respective v. Vamossy und Vas
bestätigen und dem Jodothyrin als solchem eine directe Wir¬
kung absprechen.
Zum Schlüsse möchte ich mir noch einige Bemerkungen
bezüglich der Angaben Cyon’s über die Wirkung des Jodo¬
thyrins auf die Erregbarkeit der Herz- und Gefässnerven er¬
lauben. Dabei will ich mich nur auf die Berührung einiger
der wichtigsten Punkte seiner umfangreichen Mittheilungen22)
beschränken. Solche sind:
1. Das Jodothyrin erhöht die normale Erregbarkeit der
Vagi und Depressores; falls diese krankhaft vermindert oder
erloschen war, wird sie durch das Jodothyrin wieder her¬
gestellt.
2. Eine Lähmung der Vagi und Depressores kann nach
Cyon das Jod als normales Stoffwechsel product bedingen;
dem Jodothyrin kommt die physiologische Rolle zu, diese
endogene Vergiftung durch antagonistische Wirkung zu be¬
seitigen. — Die lähmende Wirkung des Jods will B ar b e r a23)
durch intravenöse Injection von hochprocentigen Jodnatrium¬
lösungen (20 — 40%) bewiesen haben; derselbe Autor gibt an,
dass die auf diese Weise erzeugte Lähmung der Vagi und
Depressores mit Hilfe von phosphorsaurem Natron beseitigt
werden könne. Cyon wies dann den Antagonismus zwischen
Jodnatrium und Jodothyrin nach.
3. Das Jodothyrin vermag die Wirkung aller Gifte, die
den Vagus und Depressor lähmend beeinflussen, aufzuheben.
(Einschlägige Versuche mit Atropin und Nicotin.)
Die meisten Versuche, die diesen Ergebnissen zu Grunde
liegen, wurden an Kaninchen (einige an Hunden oder Katzen)
ausgeführt. Die Erregbarkeit der Nerven wurde mittelst elek¬
trischer Reizung (Inductionsstrom) am peripheren (Vagus),
respective centralen (Depressor) Stumpfe der betreffenden
durchschnittenen Nerven geprüft. Der Blutdruck wurde mit
Hilfe des Quecksilbermanometers verzeichnet. Die Injectionen
erfolgten in die Vena jugularis.
Die wichtigsten Einwände, die bei der theoretischen
Erwägung der oben nur flüchtig angedeuteten Versuche und
Folgerungen auftauchen können, wurden schon von Harnack24)
angeführt. So machte er darauf aufmerksam, dass bei den
concentrirten Jodnatriumlösungen nicht nur das Jod, sondern
auch das Natron und die Wirkung der Alkalineutralsalze in
Betracht kommt.
Durch diese wird aber das Herz stark gereizt, und am
abnorm gereizten Herzen ist die Vagusreizung unwirksam,
selbst wenn der Nerv und seine Endigungen intact sind. Be¬
züglich der Atropin- Jodothyrin-Versuche weist er auf die
Flüchtigkeit der Atropinwirkung am Kaninchen, und auf die
geringe Menge der von C y o n benützten Atropindosen (05 mg)
hin. — Die Gefahr, durch die Flüchtigkeit der Wirkung
selbst grosser Atropindosen und durch das Vorkommen einer
ungleichen Wirksamkeit beider Vagi zu irrigen Schlüssen ver¬
leitet zu werden, betont Knoll25) in seiner Abhandlung
»Ueber die Veränderungen des Herzschlages bei reflectorischer
Erregung des vasomotorischen Nervensystems«. Um voll¬
ständige und dauernde Lähmung zu erzeugen, waren nach
seiner Angabe 5—6 mg Atropin nothwendig. — Dagegen gibt
Cyon an, dass bei strumösen Kaninchen — und mit solchen
hatte er meistens zu experimentiren — die von ihm benützten
kleinen Dosen genügen, um eine dauernde Lähmung der \ agi
herbeizuführen.
Ich habe die Frage des von Cyon beschriebenen Anta¬
gonismus einer Nachprüfung unterzogen. Zu diesem Zwecke
wurden 25 Versuche (15 bezüglich des Antagonismus zwischen
Jodnatrium, phosphorsaurem Natron, respective Jodnatrium-
Jodothyrin, 10 bezüglich Atropin-Jodothyrin) an Kaninchen
vorgenommen. Bei der Anordnung meiner Versuche hielt ich
mich möglichst streng an die Angaben Cyon’s, um vergleich¬
bare Resultate zu erhalten. Nur um der Vollständigkeit willen
erwähne ich, dass ich statt der Morphinnarkose an nicht nat-
kotisirten oder, falls Unruhe, Krämpfe oder Athmungsstörungen
17) Beitrag zur physiologischen Chemie der Thyreoidea. Wiener
medicinische Blätter. 1896, Heft 15.
18) Chemistry of thyreoid, gland. Journal of Physiol. 1896, Bd. XX,
pag. 474.
19) Verhandlungen des Congresses für innere Medicin. 1896,
Bd. XIV.
20) Experimentelle Untersuchungen über die Wirkung des Jodothyrins.
Münchener medicinische Wochenschrift. 1897, Nr. 25.
21) Beitrag zur Physiologie der Schilddrüse und des Herzens. Archiv
für Physiologie. Bd. LXX, pag. 165.
a2) Beiträge zur Physiologie der Schilddrüse und des Herzens. Archiv
für Physiologie. °Bd. LXX, pag. 126. Die physiologischen Herzgifte I. Jodo¬
thyrin. Archiv für Physiologie. Bd. LXXIII, pag. 42.
23) Ueber die Erregbarkeit der Herz- und Getässnerven uach In¬
jection von Jod und phosphorsaurem Natron. Archiv tür Physiologie.
Bd. LXVm, pag. 434. . _ . . ■ •
24) Ueber Cyon’s antagonistische Versuche mit Jodothyrin, Atropin,
Jodnatrium, Muscarin. Centralblatt für Physiologie. 1898, pag. 291
25) Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften n
Wien. Bd. LXV. pag. 222.
WIEN KR KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 6
130
zu befürchten waren, an curarisirten Thieren experimentirte.
Bei der Reizung der Nerven wird die Stromstärke in den
nachstehenden Versuchsprotokollen nicht in Zahlen angegeben,
da ich mich bei jedem Versuche nur zweier Ströme bediente,
eines schwachen, dessen Stärke durch den Rollenabstand an¬
gegeben wird und hie und da eines maximalen, welcher durch
vollständiges Annähern der secundären Rolle erzeugt wurde
und der in den Protokollen als »starker Strom« besonders be¬
zeichnet wird.
Sonst wurden meine Versuche in jeder Beziehung (Me¬
thodik, Beschaffenheit der injicirten Substanzen) in der von
Cy on angegebenen Weise ausgeführt.
Ich will von einer eingehenden Besprechung meiner Ver¬
suche abstehen. Die nachstehend mitgetheilten vier Protokolle
geben ein klares Bild meiner durchwegs eindeutigen Re¬
sultate.
I. 17. Mai 1899. Kaninchen 1500/7, Curare. Rollenab¬
stand 6 cm. Depressores und Vagi beiderseits durchschnitten
Beginn des Versuches 9 Uhr 40 Minuten. Blutdruck 122 mm Hg.
Pulszahl in 6 Secunden = 25.
Reizung des rechtsseitigen Depressors: Dr. 74, P. 24.
Nachher: Dr. -6) 120, P. 24. Depressor links gereizt: Dr. 60.
P. 24. Vagus rechts gereizt: Dr. 140 — 48, P. 24 — 8.
9 Uhr 55 Minuten. Injection von 5 cm :i einer 40°/0 i g e n
Jod n atriumlös ung: Dr. 120 — 100 — 122. Nachher Reizung
des rechten Depressors : Dr. 122—84, P. 24 — 24. Vagus rechts
gereizt: Dr. 120 — 66, P. 24 — 6.
Im Laufe der darauffolgenden halben Stunde werden
noch 15 ci/«3 (im Ganzen 20 cm3) der 40%igen Jodnatriumlösung
eingespritzt.
10 Uhr 50 Minuten : Dr. 122, P. 28. Depressor rechts
gereizt: Dr. 122 — 98, P. 22. Vagus rechts gereizt: Dr. 120 — 96,
P. 22 — 8. Die Erregbarkeit der beiden anderseitigen Nerven
ebenfalls erhalten.
11 Uhr: Dr. 122, P. 24. Injection von 5 cm3 einer
20%igen phosphorsauren Natronlösung (selbst nach
Barbera: hohe Dosis): Dr. 122 — 110 — 120. Depressor rechts
gereizt: Dr. 120 — 100, P. 28. Vagus rechts gereizt: Dr. 122
— 98, P. 28 — 8. Die Erregbarkeit der linksseitigen Nerven
ebenfalls unverändert.
II. 20. Mai 1899. Kaninchen 1800«/, Curare. Rollenab¬
stand 6 cm. Depressores beiderseits. Vagus rechts durch¬
schnitten.
Beginn 10 Uhr 5 Minuten: Dr. 106, P. 24. Reizung des
rechten Vagus: Dr. 106 — 48, P. 24 — 8. Depressor rechts:
Dr. 108—58, P. 24—16.
10 Uhr 15 Minuten. Injection von 5 cm3 einer 40%igen
Jodnatriumlösung: Dr. 110 — 90. Nachträglich steigt der Druck
an; constante Höhe.
10 Uhr 20 Minuten: Dr. 188, P. 24. Nerven erregbar.
Weitere 5cm3 Jodnatriumlösung (40%): Senkung und Wieder¬
anstieg. Constanz.
10 Uhr 25 Minuten: Dr. 186, P. 24, Depressor rechts
gereizt: Dr. 186 — 90, P. 24; Depressor links: Dr. 130 — 108,
P. 24. Vagus rechts gereizt: Dr. 136—136, P. 24 — 24.
Zwei Minuten später. Vagus (mit derselben Stromstärke):
Dr. 136—102, P. 24—10 etc.
Ergebnisse: In dem ersten Versuche gelang es mir
selbst durch Injection von 20 cm3 Jodnatriumlösung (40% =
8 «7 Jodnatrium!) nicht, eine Lähmung der Vagi oder Depres¬
sores zu erzielen. Nach der Injection von 5 c/?«3 phosphor¬
saurem Natron konnte ich keine Erhöhung der Erregbarkeit
beobachten.
Im zweiten Versuche traten nach der Injection von
10 cm3 einer 40%igen Jodnatriumlösung die von Barbera
und Cy on beschriebenen Erscheinungen ein: die Reizung des
Vagus war wirkungslos, während ich nun für die Injection
von Jodothyrin vorbereitete, kehrte die Erregbarkeit des
Nerven (respective die Wirksamkeit der Reizung) zurück.
-6) Abkürzungen: Dr. = Blutdruck in mmHg, P. = Pulszahl in Se¬
cunden, Dr. 120 — 48 etc. = Verhältnisse vor und nach dem entsprechenden
Eingrifte.
Aehnliche vorübergehende »Lähmungen« konnte
ich öfters beobachten.
Es liegt auf der Hand dass, falls ich die Injection von
Jodothyrin sofort nach der wirkungslosen Reizung des N. vagus
ohne wiederholte Prüfung der Erregbarkeit vorgenommen hätte,
mir das spontane Schwinden der »Lähmung« eine antagonisti¬
sche Wirkung des Jodothyrins hätte Vortäuschen können. Da
ich weder eine dauernde Lähmung durch Jodnatrium (selbst
bei Anwendung sehr grosser Dosen 27), noch eine Erhöhung
der Erregbarkeit der genannten Nerven mittelst phosphor¬
saurem Natrium, respective Jodothyrin, erzeugen konnte, so
möchte ich zur Erklärung der positiven Resultate der citirtcn
Autoren auf meinen zweiten Versuch hinweisen.
Bezüglich des Antagonismus des Atropins und Jodo¬
thyrins führe ieh folgende Versuche als Beispiele an:
III. 28. April 1899. Kaninchen 1200/7, Curare. Depres¬
sores beiderseits, Vagus der rechten Seite durchschnitten.
Rollenabstand 6 cm.
Beginn 12 Uhr 24 Minuten: Dr. 126, P. 20. Depressor
rechts gereizt: Dr. 90, P. 10. Depressor links: Dr. 128 — 102,
P. 20 — 16. Vagus rechts gereizt: Dr. 126 — 78, P. 21 — 8.
12 Uhr 28 Minuten. Intravenöse Injection von 5 mg
Atropin sulf., nach fünf Minuten: Dr. 96, P. 20. Reizung des
rechten Vagus: Dr. 96 — 96, P. 20—20. Reizung des rechten
Vagus mit starkem Strom: Dr. 96—96, P. 20 — 20. Injection
von 5 cm3 alkalischer Jodothvrinlösung (Bayer): Dr. 96 — 90
-98, P. 20-12 -20.
Nachher Reizung des rechten Vagus mit starkem Strom:
Dr. 98—98, P. 20—20.
Im Laufe von 15 Minuten weitere 15 c?/«3 (im Ganzen
50c//«3) Jodothyrin. Gleich nach der Reizung des rechten Vagus:
Dr. 96—96, P. 20—20.
Nach einer halben Stunde unveränderte Verhältnisse (bei
wiederholter Prüfung). Die Wirkung der Depressorenreizung
war im Laufe dieses Versuches unverändert; jedoch habe ich
auch Fälle mit verminderter Erregbarkeit beobachtet. (NI i t der
Erörterung dieser Erschinung will ich mich diesmal nicht be¬
schäftigen.)
IV. 3. Mai 1899. Kaninchen 2000/7, keine Narkose.
Rollenabstand 6 cm. Vagus rechts durchschnitten
Beginn 10 Uhr 5 Minuten: Dr. 146, P. 29. Vagus rechts
gereizt: Dr. 146 — 58, P. 29 — O(Stillstand) — 3.
10 Uhr 10 Minuten. Injection von 2'5 mg Atropin.
Nachher: Dr. 142, P. 25. Reizung des rechten Vagus mit
starkem Strom: Dr. 142 — 142, P. 25 - 25. Injection von 5 cm ''
Jodothyrin (Blutdrucksenkung, Pulsverlangsamung). Nachher
Reizung des rechten Vagus mit starkem Strom: Dr. 138 — 138,
P. 24—24.
Nach 10 Minuten Reizung des rechten Vagus (6 cm
Rollenabstand): Dr. 128 — 118, P. 25 — 18.
11 Uhr 10 Minuten, Reizung des rechten Vagus (starker
Strom): Dr. 124—124, P. 23—23.
Nach 12 Minuten (inzwischen wurde der linke Vagus
durchschnitten, worauf der Blutdruck anstieg und dauernd
erhöht blieb) Reizung des rechten Vagus: Dr. 156 — 142,
P. 27—10.
Im dritten Versuche wurden die Endapparate der Vagi
mittelst 5??«/7 Atropin vollständig gelähmt; die Erregbarkeit
derselben kehrte selbst nach Einspritzung von 20 cm3 Jodo¬
thyrin nicht mehr zurück.
Im vierten Versuche wurden geringere Atropindosen ver¬
wendet. Die Lähmung der Vagi trat bei der wiederholten
Vergiftung prompt ein und ging jedes Mal nach ungefähr
12 — 15 Minuten vorüber. Bei der ersten Gelegenheit wurde
nach dem Eintritt der Lähmung Jodothyrin injicirt, bei der
zweiten aber nicht; dadurch, dass die Lähmung im letzteren
Falle spontan vorüberging, ist bewiesen, dass die Herstellung
der Erregbarkeit auch im ersten Falle nicht auf die Jodo-
thyrininjection bezogen werden darf.
Durch die einmalige Injection grosser Dosen (sowohl von Jod-
natrium, wie auch von phosphorsaurem Natrium, ja auch von Na CI 20" ,,)
wurde in einigen Fällen ein tödtlicher Druckabfall erzeugt.
Nr. (i
WIENER KLINISCHE WOCI I EN SCHULET. 1900.
131
Auf Grund meiner Beobachtungen kann ich also die
Angaben bezüglich der antagonistischen Wirkung des Jodo-
thyrins gegen das Jodnatrium, respective Atropin in keiner
Weise bestätigen. Ich möchte schliesslich die Vermuthung,
dass den diesbezüglichen scheinbar positiven Resultaten eine
durch die Flüchtigkeit der Jodnatrium-, respective Atropin¬
wirkung bedingte Täuschung zu Grunde liegt, nachdrücklich
wiederholen.
Aus der Ohrenabtheilung im k. u. k. Garnisons-Spitale
Nr. 1 in Wien.
Störungen der Yasomotorenthätigkeit und der
Sensibilität nach peripherer traumatischer Fa-
cialislähmung.
Von Regimentsarzt Dr. Carl Bielil.
V oi trag, gehalten am 19. Januar 1900 in der k k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
Sowohl durch Thierversuche als auch durch klinische
Beobachtungen erschien die Annahme berechtigt, dass der
Gesichtsnerv sensible Fasern — aus seinen mannig¬
fachen Verbindungen mit dem Trigeminus und Vagus stam¬
mend — führe. Auch dessen Betheiligung an der Schweiss-
secretion wurde ebenfalls sowohl durch Versuche am Thiere
(Adamkiewicz '), als auch durch Beobachtungen an Kranken
nachgewiesen (S trauss, Bloc h, W i n d s c h e i d -) u. A. in.).
Samuel'1 * 3) konnte weiters nach Durchschneidung des
Facialis beim Kaninchen, und zwar nur wenn derselbe tief
an seiner Wurzel durchtrennt wurde, Unregelmässigkeiten in
den bekannten rhythmischen Contractionen und Dilatationen
der arteriellen Gefässe des Ohres beobachten. »Die Arterie
bleibt etwa vom dritten bis vierten Tage nach der Operation
ab in Systole unbeweglich stehen, die regelmässigen Er¬
weiterungen des Gefässnetzes hören völlig auf, das Ohr wird
anämisch und kalt.« »Trotz gleicher Nebenumstände bleibt das
geschilderte Resultat aus bei Durchscheidung des Facialis nach
Abgabe seiner Rami auriculares. « »Da bekanntlich nach
Lähmung der Gefässnerven der entgegengesezte Effect, nämlich
Stillstand der Gefässe in Diastole eintritt, so kann der Facialis
wohl im Allgemeine/! als Antagonist des Sympathicus be¬
zeichnet werden.«
v. F r an k 1 - H o c h w art 4) sprach auf Grund klinischer
Beobachtungen im Jahre 1891 gelegentlich eines Vortrages in
der Gesellschaft der Aerzte in Wien die Vermuthung aus:
»dass der F acialis beim Menschen (wenigstens bei einer An¬
zahl von Individuen) sensible und vasomotorische
Fasern führt«. »Ganz auffallend waren — so sagt er bei
dieser Gelegenheit - — in einzelnen Fällen von rheumatischer
Eacialislähmung die Erscheinungen von Seite der Gefässnerven.
Die ganze Gesichtshälfte schien gedunsen, namentlich war die
Schwellung am unteren Augenlid deutlich zu bemerken, die
Farbe war eine ganz andere als auf der normalen Seite,
namentlich fiel ein porzellau artiger Glanz auf, die Gefässe waren
erweitert, die Temperatur für das Gesicht bisweilen erhöht.«
Hübschmann5 *) konnte über ähnliche Veränderungen bei
zwei Kranken berichten; in der betreffenden Arbeit sagt er
auch, dass bereits andere Beobachter derartige Schwellungen
in der gelähmten Gesiehtshälfte erwähnen, so Märt, Fritze,
Härtel, Haase. Adler °) beobachtete ebenfalls Sensibilitäts-
') Die Secretion des Sehweisses, eine bilaterale symmetrische Nerven-
function. Berlin 1878.
~) lieber den Zusammenhang' der Hypeiliidrosis unilateralis faciei mit
pathologischen Zuständen des Facialis. Münchener medicinische Wochen¬
schrift. 1890, pag. 882.
3) Studien über Blutkreislauf und Ernährung. M o 1 e s c li o 1 1, Unte -
snehungen IX,
4) Ueber sensible und vasomotorische Störungen hei der rheumatischen
Eacialislähmung. Neurologische Centralblatt. 1891, Nr. 10.
•’) lieber Recidive und Diplegie hei der sogenannten rheumatischen
Eacialislähmung. Neurologisches Centralblatt. 1894. pag. 815 und 844.
Daselbst Literatur.
c) Ueber Sensibilitätsstörung hei rheumatischer Facialislälimung.
Allgemeine medicinische Centralzeitung. 1898, Nr. 2.
Störungen bei rheumatischer Eacialislähmung; bezüglich der
gleichzeitig vorkommenden Schwellung des Gesichtes sagt er
in seinem Aufsatze: Es ist aber auch denkbar, dass die be¬
treffende Gesiehtshälfte niemals geschwollen war, vielmehr ein
pathologisches Spannungsgelültl nur eine Schwellung vorge¬
täuscht hat. Diese Annahme ist vielleicht für eine Reihe von
Angaben der Kranken über ihre Schwellung berechtigt.
Kaposi7) erwähnt ferner das Vorkommen von Herpes¬
eruptionen bei Affectionen des N. facialis. »Da der Zoster
facialis auf einer Erkrankung des Trigeminus oder Trigeminus-
äste beruht, die Muskellähmung aber eine Affection des N.
facialis voraussetzt, so ist die Erklärung für diese Beziehung
nicht leicht.
Auch Bernhardt8) bespricht in seinem Buche das
Vorkommen vasomotorischer Störungen nach rheumatischer
Fascialislähmung und betont die Seltenheit der genannten
Erscheinungen; eigene Beobachtungen führt er keine an.
Wir müssen uns also zugestehen, dass, wenngleich auch
die Lehre von der peripherischen Facialislälimung auf Grund
von Thierversuchen und zahlreichen Beobachtungen von
Kranken sehr eingehend bereits und auch mit entschiedenem
Erfolge bearbeitet wurde, doch unser Wissen diesbezüglich
noch in mehr als einem Punkte lückenhaft ist. Da die ana¬
tomische Auslese sehr spärlich ist und auch aller Voraussicht
nach bleiben wird, so ist es umso nothwendiger, jedwede
klinische Beobachtung, welche geeignet ist zur Ueberwindung
der genannten Schwierigkeiten beizutragen, daraufhin ein¬
gebend zu studiren. Von diesem Gesichtspunkte ausgehend
wird die Mittheilung einer nach einer Verletzung au f-
tretenden linksseitigen Gesichtsnervenlähmung
gerechtfertigt sein, zumal im Gefolge derselben Störungen
sowohl der Sensibilität als auch der S c h we i s s s e c r e t i o n
und der vasomotorischen Thätigkeit innerhalb des
erkrankten Gebietes wahrzunehmen sind. Herr Professor
v. Fr an kl -Hoch wart hatte die Güte sich ebenfalls den
Kranken anzusehen und konnte sich durch genaue Unter¬
suchung desselben, wofür ich ihm meinen besten Dank aus¬
spreche, von den gleich zu erwähnenden Veränderungen
überzeugen.
Justiz Wachmann Carl R., 22 Jahre alt, stammt von ge¬
sunden Eltern und kann sich nicht erinnern, irgend eine
schwere Erkrankung, die ihn durch längere Zeit ans Bett
fesselte, überstanden zu haben. Im Juli 1898 erhielt er bei
einem nächtlichen Raufliandel einen Messerstich gegen das
linke Ohr. Die Wunde heilte ohne Naht, unter dem ersten
Verbände und schien zunächst keine Folgen zu hinterlassen.
Im December desselben Jahres — fünf Monate nach erlittener
Verletzung — wurde er von seiner Umgebung darauf auf¬
merksam gemacht, dass rechterseits seine Stirne sich falte, die
linke Seite derselben jedoch vollständig glatt und faltenlos
bleibe. Störungen beim Lidschlusse oder beim Kauen hatte er
nicht zu klagen. Seit ungefähr October v. J. verspürte er mit¬
unter, namentlich hei schlechter Witterung, stechende Schmerzen
im linken Ohre, und zwar in der Tiefe desselben und im
Knochen hinter der Ohrmuschel, ebenso auch eine zunehmende
Herabsetzung seiner Hörschärfe. Die Furcht, dass er wegen
seines schlechten Gehöres Anstände im Wachdienste haben
könnte, sowie die sich steigernden Schmerzen im Ohre, ver-
anlassten ihn das Spital aufzusuchen. Ausfluss aus diesem
Ohre habe nie bestanden, ebenso auch nie Schwindelgefühl,
Ohrensausen oder Kopfschmerzen.
Untersucht bietet er nun folgenden Befund: Mittelgrosser,
für seine Jahre massig kräftig gebauter, aber gut genährter
Mann; die Haut und sichtbaren Schleimhäute sind blass, die
Körpertemperatur normal. Ebenso ergeben auch die Organe
der Brust- und Bauchhöhle normalen Befund. An der linken
Ohrmuschel sieht man eine, sagittal über den äusseren Gehör¬
gang verlaufende, zarte Narbe. Dieselbe beginnt beiläufig 1 cm
oberhalb der äusseren Ohröffnung in der Haut der Ohrmuschel
und lässt sich in der unteren Wand des Gehörganges genau
bis zu seinem knöchernen Anfang verfolgen. Aussen sieht man
7) Pathologie und Therapie der Hautkrankheiten. 1899.^
8) Die Erkrankungen der peripheren Nerven. Nothnagels Handbuch.
132
WIENEK KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 6
noch die Narbe in der Incisura intertragica und an der Vorder¬
seite des Ohrläppchenansatzes. Der Gehörgang selbst ist ge¬
hörig weit; das Trommelfell atrophisch, durchscheinend, leicht
eingezogen. (Die gleichen Veränderungen zeigt auch das Trom¬
melfell rechterseits). Das Einführen des Trichters wird äusserst
schmerzhaft empfunden, ebenso das Anfassen der Ohrmuschel,
sowie auch leiser Druck auf den Warzenfortsatz namentlich
in der Gegend des Attic und an der Spitze. Die Hörprüfung
ergibt:
W
R ^ L 9)
05 u OT
+00+
1 \ uw / '
6 x Ä 6
4" cp 4"
-f- 7 R -j- 7
-\- Galton -f-
Nach Katheter ist eine Besserung der Hörsehärfe für die Uhr
am linken Ohr auf 0'3 m zu beobachten. 9) (W = Weber;
nach beiden Seiten gleich; u = Uhr in der Luftleitung,
us, uw == Uhr, am Warzenfortsatz (w) oder an der Schläfe
(s) aufgesetzt; fl = Flüsterstimme ; cp = c am Warzenfort¬
satze; R = Rinne.)
Die Pupillen sind gleich weit, prompt reagirend, der
Bulbus frei beweglich, kein Nystagmus zu beobachten, auch
keine Störung in der Thränenabsonderung. Der Augenhinter¬
grund beiderseits normal, ebenso auch keine Ein¬
schränkung des Gesichtfeldes und zwar für W eiss,
Blau und Roth zu bemerken. (Herr Stabsarzt Dr. Haas,
Vorstand der Augenabtheilung im Spitale, hatte die Güte die
Untersuchung selbst vorzunehmen.)
Die ganze linke Gesichtshälfte ist leicht gedunsen. Beim
Zähnezeigen bleibt der linke Mundwinkel um ein geringes
zurück; am rechten Mundwinkel bildet sich in der Ruhe eine
Falte, linkerseits nicht; dagegen sieht man hier blitzartige
Zuckungen. Während die rechte Stirnhälfte stark gerunzelt
wird, ist dies links kaum zu merken.
Die Prüfung der Motilität der Gesichtsmuskeln gab keinen
nennenswerthen Unterschied auf irgend einer Seite. Die
Zuckungen waren überall prompt. Die oberen Extremitäten
sind frei beweglich, der Händedruck sehr kräftig, links
schwächer, kein Tremor auch nicht bei Intention.
Bei der Prüfung der Sensibilität der erkrankten linken Ge-
siehtshälfte 10) sind drei verschiedene Gebiete zu beobachten. Die¬
selben sind durch folgende Linie begrenzt: Vom linken Stirnhöcker
nach abwärts zieht dieselbe zum äusseren Augenwinkel, von
hier abwärts längs der Lateralgrenze des zweiten Trigeminus¬
astes zum linken Mundwinkel, sodann etwas unterhalb des
Unterkieferrandes, um etwa drei Querfinger breit hinter dem
Ohrmuschelansatze in der behaarten Haut zu verschwinden
(Fig. 1). Sensibilitätsgebiet I umfasst den zweiten Trigeminus¬
ast, sowie den Ramus ethmoidalis des ersten Trigeminusastes;
hier ist die tactile Sensibilität (J/32 mm1 Mauleselhaar9), ferner
die Schmerzempfindlichkeit (Schwelle: 20 mm2 Schweinsborste),
sowie die Empfindlichkeit für Warm (heisses Wasser) und
Kalt (Eis) von der normalen Seite nicht verschieden. Sensibilitäts¬
gebiet II umfasst den ersten Trigeminusast von oberhalb der
Nasenwurzel bis nach rückwärts zur Grenzlinie III. Hier ist
die tactile Sensibilität ('/8??i?n2 Schweinsborste) gegen die der
Gegenseite herabgesetzt, aber nicht so stark wie im Sensibilitäts¬
gebiete III. Schmerz- und Temperaturempfindlichkeit ent¬
sprechen aber ganz den Verhältnissen der normalen Seite.
Sensibilitätsgebiet III umfasst alles Gebiet lateral und hinten
von der erwähnten grossen Grenzlinie. Nach oben verliert sich
dieses Gebiet allenthalben in die behaarte Kopfhaut, wo keine
genaue Bestimmung mehr möglich ist. Die tactile Sensibilität
9) Verwendet wurde das Aesthesiometer von F r e y. (Abhandlungen
der königlich sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig. 1896.)
Hie genaue Aufnahme des Sensibilitäts-Status verdanke ich Herrn
Hollegen S t r a n s k y, einem Schüler von Herrn Prof. v. Frankl-
Hochwart.
ist hier sehr stark herabgesetzt (bei Schweinsborste 3 mm 2
noch keine sichere Empfindung); auch die Sehmerzempfindung
sehr herabgesetzt; die Empfindung für Kalt (Eis) fehlend, bei
Warm (heisses Wasser) wird nicht Wärme, sondern nament¬
lich in der Nähe des Ohres sehr intensiver Schmerz em¬
pfunden.
Kauen prompt, der Geruch links etwas herabgesetzt. Der
Geschmack an der vorderen Hälfte der Zunge fehlend für
»Süss«, hinten beiderseits gleich; für »Bitter« desgleichen.
Die Uvula weicht etwas nach rechts ab, das Heben geschieht
symmetrisch; die Temperatur beider Gesichtshälften anscheinend
gleich; die Kopfbewegungen sind frei; kein Brechreiz, guter
Appetit.
Interessant ist nun folgende Beobachtung, auf welche
der Kranke selbst aufmerksam machte. Es wurde nämlich von
seinen Kameraden bemerkt, dass er selbst dann, wenn er das
Fleisch seiner Menage oder ein Stück Brot in einem kalten
Locale esse, auf der linken Wange schwitze. Dass dieses
Schwitzen beim Kauen auch schon früher vorgekommen, weiss
der sonst intelligente Mann nicht anzugeben. Gibt man ihm
nun etwas zum Kauen, so röthet sich an streng umschriebener
Stelle die linke Wange. Diese Röthung ist begrenzt nach
oben zu durch eine Linie knapp oberhalb des Jochbogens,
reicht nach vorne bis zur Nasenlippenfalte, nach unten etwas
über den Unterkieferrand; das Ohr ist frei (siehe Fig. 2). Je
angestrengter das Kauen, gleichviel ob dasselbe auf der rechten
oder linken Seite erfolgt, desto rascher tritt diese Verfärbung
der Haut auf. Beim Trinken, selbst warmer Flüssigkeiten oder
Essen weicher Sachen, wenn also nicht energischere Muskel¬
arbeit beim Kauen geleistet wird, ist dieselbe nicht zu beob¬
achten. Dabei ist die Haut dieser Seite wärmer anzufühlen
und treten auch nach zwei bis drei weiteren Kaubewegungen
kleine Schweissperlen innerhalb der beschriebenen Grenze auf.
Auf andere Weise, so durch Riechen von Amylnitrit, In¬
jection von Pilocarpin war es nicht möglich, diese Erschei¬
nungen auszulösen. Während des Kauens häufen sich die
blitzartigen Zuckungen in der linken Mundwinkelgegend. Die
Pupillen bleiben gleich weit.
Die Motilitätsstörungen in der linken Gesichtshälfte be¬
rechtigen zur Annahme einer Schädigung des Nervus facialis,
und zwar in seinem peripheren Verlaufe. Als Ursache dieser
Läsion ist die nachzuweisende Stichverletzung am linken Ohre
anzusprechen. Wie bereits beschrieben ist die Narbe an der
unteren Gehörgangswand von den Incisura intertragica bis
zum Ansätze des knorpeligen an den knöchernen Gehörgang
zu verfolgen, ebenso nur an der Vorderseite des Ohrläppchen¬
ansatzes. Die Messerspitze prallte sicherlich am knöchernen
Gehörgange ab und verletzte hiebei den Gesichtsnerv, welcher
hier, von Foramen stylomastoideum herauskommend, fast in einem
spitzen Winkel nach vorne oben umbiegt. Auch war die Durch¬
trennung des Nervens keine vollständige, da nur der Stirn¬
ast vollständig gelähmt ist, die Muskeln in den von den beiden
anderen Aesten versorgten Partien jedoch, wenn auch etwas
träger, functioniren. Auch traten alle diese Erscheinungen nicht
sofort nach erlittener Verletzung sondern, wie die Kranken¬
geschichte zeigt, erst einige Zeit nach der Vernarbung auf.
Was die weiter beobachteten Störungen in der erkrankten
Gesichtshälfte anbelangt, wie die Röthung der Haut, Schweiss-
absonderung und abnorme Empfindlichkeit, so ist hierüber
schon so viel geschrieben und gesprochen worden, dass ich mich
— überdies auch als Ohrenarzt hierin kein Fachmann —
jeder weiteren Auseinandersetzung enthalte. Nach meinem
Dafürhalten erbringt diese hier mitget heilte
Beobachtung den Beweis für die von v. Frankl-
Hoch wart ausgesprochene Annahme, dass
der Nervus facialis auch beim Menschen
sensible und vasomotorische Fasern führe.
Hysterie ist im vorliegenden Falle vollständig auszu-
schliessen, da gar keine Anhaltspunkte für eine solche zu
finden sind; keine Stigmata, keine Gesichtsfeldeinschränkung.
Die Annahme, dass die Verletzung gleichzeitig ausser den
Facialis auch den Trigeminus, Vagus oder Acusticus getroffen
habe — eine Annahme, die bei Schädigung bacillärer Natur
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
133
Fig. 1.
wohl zuzugeben ist und sind solche Beobachtungen z. B.
von Kaufmann 1 *) und Hammerschlag 12) aus der Klinik
Politzer berichtet worden — muss hier von der Hand gewiesen
werden. Die Art und Weise der Verletzung und die topo¬
graphisch-anatomische Lage der Organe sprechen gegen eine
solche. Ausserdem hatte ich mich auf operativem Wege davon
überzeugt, dass keine anderweitige makroskopische Störung, wie
Geschwulst, Fremdkörper oder Eiterherd, den Facialis in
seinem Laufe störe.
Dass der Facialis in der That sensible Fasern
mit sich führt, hat erst Mitchell13) unlängst in einer
'*) Ueber einen Fall von gleichseitiger, acut aufgetretener Erkran¬
kung des Acusticus, Facialis und Trigeminus. Zeitschrift für Ohrenheil¬
kunde. Bd. XXVIII.
12) Beitrag zur Casuistik der multiplen Hirnnervenerkrankungen.
Archiv für Ohrenheilkunde, Bd. VL.
lj) Case of trigeminal spasm. Resection. Probable presence of sensory
fibres in the seventh nerve. Journal of nervous and mental disease. 1898,
pag. 392. Referirt im neurologischen Centralblatt. 1899, Nr. 19.
Arbeit nacbgewiesen. Er berichtet in derselben über zwei
eigene Beobachtungen und einen in der Literatur be¬
schriebenen Fall von Tic douloureux, bei denen, entsprechend
dem Gebiete des Schmerzes, eine Resection des rechten N.
supraorbitalis und supratrochlearis, beziehungsweise eine solche
des rechten N. supra- und infraorbitalis, beziehungsweise eine
Entfernung des Ganglion Gasseri vorgenommen wurde. Bei allen
drei Patienten bestand nach dem operativem Eingriffe nur
eine ganz unbedeutende Sensibilitätsstörung in den betreffenden
Gesichtstheilen. Auch die längst bekannte Thatsache, dass
nach Resection des N. trigeminus oder Exstirpation des Ganglion
Gasseri im Laufe der Zeit das Gebiet der Anästhesie auf der
operirten Seite kleiner wird, Hesse sich damit erklären, dass
eben der Facialis mit seinen sensiblen Aesten die Stelle des
zerstörten Trigeminus nach Möglichkeit übernehme. Bruns14)
14) Die Durchschueidung des Gesichtsnerven beim Gesichtsschmerz.
Tübingen. 1859.
Occip. maj.
Occip. min.
Auric, magn.
Cervic. super.
►
134
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 0
fasste diese Wiederkehr des Empfindungsvermögens, wenn
dasselbe schon nach einigen Tagen eintrat, als »Regenerations¬
vorgang« auf. Kehrte es erst nach Verlauf einiger Wochen
wieder, so erklärte er die Erscheinung auf folgende Weise:
Ausser den gröberen Nerven, welche sich zu einem 1 heile
hinbegeben, schlügen noch sehr feine Fädchen denselben Weg
ein, und diese vermittelten nach Durchschneidung der einen
Bahn die supplirende Sensibilität. Damit ist wohl eine Brücke
hergestellt für die Behauptung, dass der Facialis die Fähigkeit
dieser supplirenden Sensibilität besitzt. Dass die rasche Wieder¬
kehr der Sensibilität nach Zerstörung des Trigeminus auf eine
Regeneration zurückzuführen sei, oder aber wie Krause15)
der Ansicht ist, dass die zunächst anästhetischen Gebiete in
einzelnen Fällen offenbar durch Hineinwachsen von Nerven¬
fasern vom Trigeminus der anderen Seite oder von Nerven des
Cervicalgeflechtes, namentlich N. auricularis magnus her mit
Empfindung ausgestattet worden sei, dagegen spricht wohl einer¬
seits die Wiederkehr der Sensibilität nach kurzer Zeit und in so
grosser Ausdehnung, andererseits dass sich die Grenzen
der nach Exstirpation des Ganglion Gasse ri
vorhandenen Sensibilität ziemlich genau
decken mit jenen, innerhalb welcher in dem
hier in i t g e t heilten Falle dieselbe eben fehlt.
(Ein Blick auf die Abbildungen hier und bei Krause wird
diese Worte erhärten.)
Die hochgradigen, sowohl spontan als auch auf Druck
auftretenden Schmerzen am Warzenfortsatze brachten mich
auf die Vermuthung, dass vielleicht doch in der Tiefe desselben
ein kleiner Eiterherd, bedingt durch die am Knochen etwa
abgebrochene Messerspitze oder einen sonstigen bei der Ver¬
letzung eingedrungenen Fremdkörper, zu finden wäre. Das
aufgenommene Röntgenogramm erwies sich allerdings als ne¬
gativ. Nichtsdestoweniger hielt ich einen Eingriff, um darauf¬
hin nachzusehen, für berechtigt; auch der Kranke war
einverstanden, da er hoffte, von seinen Schmerzen be¬
freit zu werden. Da Küster16) so warm für die von
ihm in letzter Zeit vorgeschlagene »osteoplastische Auf-
meisselung des Warzenfortsatzes« eintrat, so beschloss ich,
nach seiner Angabe vorzugehen, obwohl seine mitgetheilten
Krankengeschichten nicht sehr dazu ermuntern; blieb doch in
einem Drittel seiner Fälle die erhoffte Heilung aus. Da es sich
jedoch bei meinem Kranken um eine probeweise Eröffnung
des Warzenfortsatzes handelte und ich eine tadellose Narbe
erzielen wollte, worauf gerade Küster und zwar nicht ge¬
ringen Werth in seinem Vorschläge machte, so ging ich nach
dessen Angabe vor.
Ein sichelförmiger Schnitt um die Warzenfortsatzspitze
durchtrennt in Einem Haut und Periost; letzteres wird an
einer Stelle etwas aufgehoben, um nun mit dem Meissei eine
oberflächliche Knochenplatte innerhalb des geführten Schnittes
herauszumeisseln. Die äusserst heftige Blutung, die durch die
Unterbindung der Gefässe bedingte Verzögerung, sowie, und
zwar hauptsächlich, ein Gefühl der Unsicherheit, förmlich im
Dunkeln in der Nähe des Sinus und Facialis sich in die Tiefe
zu arbeiten, veranlassten mich, schon nach den ersten Meissei¬
schlägen dieses Verfahren aufzugeben und nach der alten,
landläufigen Methode weiterzuarbeiten. Sowohl die Spitze als
auch das Antrum waren frei; ebenso waren auch makro¬
skopisch keine Veränderungen am Facialis zu bemerken.
' ) Die Physiologie des Trigeminus nach Untersuchungen am Menschen,
bei denen das Ganglion Gasseri entfernt worden ist. Münchener medicinische
Wochenschrift. 1895, pag. 577; die Neuralgie des Trigeminus, nebst der
Anatomie und Physiologie der Nerven. Leipzig. 1896. In diesem Buche, und
zwar pag 79, 80, sind ähnliche Erscheinungen, wie die hier beschriebenen,
von einer Kranken mitgetheilt. Entfernt wurde das Ganglion Gasseri und
bei der Operation die oberen Aeste des Facialis durchtrennt. »Frau Wage¬
mann, 48 Jahre alt, die im Uebrigen gegenüber den anderen Kranken keine
Besonderheiten dargeboten hat und daher nicht weiter erwähnt wird, zeigte
die sonst nicht beobachtete Eigentkümlichkeit, dass jedesmal beim
Essen die operirte Gesichtsseite sich stark röthete
und dem entsprechend heiss anfühlte. Dagegen erschien bei
Frau W — n. anfangs die Wangenbaut der operirten Seite der aufgelegten
Hand ein wenig kühler als die der gesunden Seite. Fünf Monate später
ist das nicht mehr der Fall.
1G) Centralblatt für Chirurgie. 1899, Nr. 43.
Die Wunde heilte per primam und trotzdem die oberfläch¬
liche Knochenschichte mit abgetragen wurde, ohne merkbare
Einziehung der Narbe; nur war dieselbe sichelförmig.
Nun war es mir auch klar, warum Küster, ein Chirurg
von Namen, unter neun Aufmeisseiungen des Warzenfortsatzes
nach seiner Angabe in zwei Fällen, »vielleicht in drei Fällen«,
den Sinus transversus, in einem Falle den Facialis verletzte.
Unzweifelhaft gebührt Küster das Verdienst, durch seine
Arbeit: »Grundsätze der Behandlung von Eiterungen in starr-
wandigen Höhlen, mit besonderer Berücksichtigung des Empyems
der Pleura« l7), den Weg gewiesen zu haben, auf welchem
man chronische, mit Caries der tieferliegenden Theile einher¬
gehende Mittelohreiterungen zur endgiltigen Ausheilung bringen
kann. Durch fortgesetztes Arbeiten in dieser Richtung ist ja
auch heute die Otochirurgie so weit, dass sie das ideale Ziel
einer Operation fast ganz erreicht, indem es ihr nicht nur
gelingt, alles Krankhafte endgiltig zu entfernen, sondern auch
die Spuren des vorgenommenen Eingriffes möglichst zu ver¬
wischen; oft deutet nur eine zarte, lineare Narbe die Stelle
desselben an. Dass nun Küster neuerdings mit einem Vor¬
schläge hervortritt, darüber sagt Pas sow18) in einem Vor¬
trage, und zwar nicht mit Unrecht: »Man wird glauben, dass
die Erfolge der Operationen am Warzenfortsatze bisher geringer
waren als die von Küster erzielten und zu dem Schlüsse
kommen, dass unsere Resultate recht viel zu wünschen übrig
Hessen«. Wenn nun Küster’s mitgetheilte Fälle selbst nicht
zu Gunsten seines Vorschlages sprechen, Passow denselben
zur Nachahmung nicht empfiehlt, so ermuntert auch die Er¬
fahrung in dem hier mitgetheilten Falle keineswegs zu einer
Wiederholung. Panse19) geht einen erheblichen Schritt weiter
und sagt: Küster’s Vorschlag bedeute einen so erheblichen
Rückschritt, dass nicht schnell genug vor ihm gewarnt
werden kann.
Gutachten der medicinischen Facultät in Wien.
Todschlag, verübt von einem trunksüchtigen, ethisch
depravirten Individuum. Angeblicher pathologischer
Rauschzustand und Schlaftrunkenheit. Verurtheilung.
Referent Prof. V. Wagner.
1. Geschichtserzählung und Ergebnisse aus den
Acten.
Am 16. Mai 1898, nach 7 Ohr Abends, brachte der 40jährige
Grundbesitzer C. einem gewissen K. in einer Kneipe in S. zwei
Stichwunden bei, die unmittelbar den Tod des K. zur Folge
hatten.
Der Fall hatte sich folgendermassen zugetragen: C., ein no¬
torischer, wiederholt bestrafter Säufer und Raufbold, hatte den Tag
über in mehreren Wirthshäusern in Gesellschaft verschiedener Ge¬
nossen gezecht und eine nicht unbeträchtliche Menge von Schnaps
und Wein consumirt. Im Laufe des Nachmittags hatte sich ihm
der mit ihm schon von früher her bekannte K. zugesellt und mit
ihm gezecht.
Nach 7 Uhr Abends endlich suchten die Beiden in Gesell¬
schaft eines Dritten, eines Spaniolen, die Kneipe des P. auf und
begaben sich in die zweite Stube der Schenke, in der sich ausser
ihnen niemand befand.
K. war bereits betrunken; an C. war nach übereinstimmender
Angabe aller Zeugen kein Zeichen von Trunkenheit zu bemerken.
In der Schenke des P. bestellte C. nichts, sondern ass zunächst
einen mitgebrachten Käse; K. wollte Schnaps bestellen, der aber
vom Wirth mit Hinweis auf K.’s offenbare Trunkenheit verweigert
wurde.
K. gerieth darüber in Zorn und fing zu randaliren an. Der
Wirth ging aus diesem Grunde fort, um einen Wachmann zu holen.
Mittlerweile hatte der Spaniole auf einer Mandoline gespielt. Nach
17) Deutsche medicinische Wochenschrift. 1889. Nr. 10 ff.
,8) »Küste r’s osteoplastische Aufmeissehu g des Wai zenfortsatzes.«
Münchener medicinische Wochenschrift. 1899, Nr. 49, pag. 1636.
19) Zu Prof. Küster’s osteoplastischer Aufmeisselung des Warzen¬
fortsatzes. Centralblatt für Chirurgie. 1899, Nr. 50.
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 19U0.
135
kurzer Zeit verlangte aber C. etwas zu schlafen und schickte den
Spaniolen fort. Es blieb jetzt in der zweiten Stube der Schenke
nur C. und der trunkene K. zurück.
K. spielte zuerst einige Zeit, jedenfalls nur ganz wenige
Minuten, auf der Mandoline; C. ermahnte den K., offenbar weil er
schlafen wollte, zur Ruhe. Auf einmal entstand zwischen den Beiden
ein Streit, über dessen Ursache, da ausser den Beiden Niemand
im Gemache anwesend war, nur die Aussage des G. vorliegt. Er
sagt, Jemand habe ihn auf einmal bei der Brust gepackt und ge¬
würgt, worauf er selbst aufsprang und mit dem Messer, das auf
dem Tische lag, nach demselben (es war K.) stiess. Die Beiden
kamen im Raufen in das vordere Gemach der Schenke, wo K. zur
Thüre hinaustaumelte, während C. in das zweite Gemach zurück¬
ging und sich niederlegte. K. stürzte vor der Schenke zusammen
und man hielt ihn anfangs nur für einen Betrunkenen, bis man
Blut sah und sich überzeugte, dass ihm ein Messer in der Brust
stecke und er bereits im sterbenden Zustande sei.
Der herbeigerufene Wachmann wollte C. verhaften, dieser
rief ihm aber in drohendem Tone zu: »Gehe mir nicht in die
Nähe.«
Auf die nochmalige Aufforderung des Wachmannes, mitzu¬
gehen, ergriff C. den auf dem Tische liegenden Zündstein wie zum
Wurfe und bedrohte damit den Wachmann.
Erst als Succurs kam, folgte er ohne Widerstand den Wach¬
leuten.
Um 9 Uhr Abends sah der Wachtmeister G. den C., der
sich, wie der Wachtmeister behauptet, total betrunken stellte, ein
Eindruck, den auch der anwesende Polizeiofficial und der Schrift¬
führer hatten. Nichtsdestoweniger gab C. über Befragen an, dass
er in einem Gasthause gewesen und dort eingeschlafen sei; es habe
ihn Jemand an der Brust gepackt, worauf er auf den Betreffenden
hingeschlagen habe; mit welchem Gegenstände, wisse er nicht. Er
gibt auch an, wer mit ihm in Gesellschaft war und dass er un¬
mittelbar vor der That einen Käse gegessen habe, den er mit einem
Messer zerschnitt.
Am nächsten Tage einvernommen, machte C. ziemlich detail-
lirte Angaben über das, was er am Tage vorher gemacht hatte,
welche Schenken er besucht und in welcher Gesellschaft er gezecht
hatte, wobei er die genossenen Quantitäten etwas zu übertreiben
suchte.
Von Wichtigkeit ist, dass auch seine Erinnerung an Details,
die sich auf die Zeit unmittelbar vor und nach der That beziehen,
eine gute ist. So weiss er, dass er in einem separirten Zimmer
war und mit wem; dass er unmittelbar vor der That einen Käse
gegessen; dass man ihm einen Polster anbot, als er sich nieder¬
legte; ebenso erinnert er sich an die Worte, die er nach der That
bei der Arretirung gesprochen.
Ueber die That selbst gibt er an, dass er, vom Getränk über¬
mannt, eingeschlafcn sei, worauf ihm Jemand bei der Brust gepackt
habe; dass er dann aufsprang und mit dem Messer, das auf dem
Tische lag, loshieb, worauf er sich wieder niederlegte. Ebenso er¬
innerte er sich, dass er unmittelbar nach der That dem Wachmann
gesagt habe, er habe den K. gestochen, weil derselbe ihn würgte.
Er verantwortete sich aber dahin, dass er ganz betrunken gewesen
sei und' nicht wusste was er thue.
Bei der am 19. August 1898 durchgeführten Verhandlung
machte der Vertheidiger geltend, dass das Motiv der That unklar
sei; er verwies auf den angeblich trunkenen Zustand des Inculpaton
und spricht die Vermuthung aus, dass ein Fall sogenannter Schlaf¬
trunkenheit vorliegen könnte.
Er verlangte darum die Untersuchung des Geisteszustandes
des Inculpaten, welchem Verlangen der Gerichtshof willfahrte. Die
Gerichtsärzte gaben nach ungefähr einmonatlichcr Beobachtung des
Inculpaten ein Gutachten ab, auf das noch später eingegangen
werden wird.
Wegen Wichtigkeit und Schwierigkeit des Falles wurde aber
vom Gerichtshöfe ausserdem beschlossen, die medicinische Facultät
in Wien zu ersuchen, dass sie »auf Grund der Strafacten, inso¬
fern dies ohne persönliche Exploration des Beschuldigten möglich
ist«, ein Gutachten abgebe:
1. Ob der Thäter des Gebrauches der Vernunft ganz beraubt
ist, oder
2. ob er die That bei abwechselnder Sinnesverwirrung zu
der Zeit, als die Verrückung dauerte, begangen habe.
Aus dem, was in den Acten und im dem Beobachtungs-
journal der Gerichtsärzte vorliegt, ergibt sich über G. noch Fol¬
gendes:
Der Vater soll ein Trinker gewesen sein; er war Beamter in
türkischen Diensten, viel vom Hause abwesend und kümmerte sich
wenig um die Erziehung der Kinder. Der ältere Bruder des Incul¬
paten war ein Säufer und Raufbold, stand zweimal im Vakuf-
Spital in S. in Beobachtung, darunter einmal im Aufträge des
Gerichtes; er starb einige 40 Jahre alt in einer Irrenanstalt.
Eine Schwester litt an periodischer Manie und war auch einmal
im Vakuf-Spital in Beobachtung.
G. war bis auf einen Typhus, den er im 20. Lebensjahre
überstand, immer gesund. Von frühester Jugend auf zeigte G. schon
schlimme Anlagen. Die Schule besuchte er nur drei Jahre und sehr
unregelmässig, da er lieber sich mit Altersgenossen herumtrieb. Er
fing schon in seinem zehnten Lebensjahre an stark zu onaniren
und frequentirte schon von seinem 15. Lebensjahre an die Zigeuner¬
mädchen. Schnapstrinker ist er seit seinem 13. Lebensjahre; und
alle Ermahnungen und Strafen seiner Eltern waren gegen seine
schlimmen Neigungen fruchtlos. Auch war er schon von früher
Kindheit an sehr jähzornig und gewaltthätig. Schon in der Schul¬
zeit verletzte er einen anderen Knaben derart, dass er polizeilich
bestraft wurde.
Dagegen waren seine intellectuellen Anlagen keine schlechten,
da er trotz mangelnder Schulbildung sich beim Militär die Kunst
des Lesens und Schreibens aneignete, und zwar türkisch und
kroatisch in einem solchen Grade, dass er bei der Gendarmerie
und bei der Finanzwache dienen konnte.
Beim Militär diente er zwei Jahre und zwar zuerst bei einem
Infanterie-Regiment, dann ein Jahr bei der Gendarmerie. Beim
Militär erlitt er im Ganzen neun Abstrafungen, wegen Trunkenheit,
Unordnung und Excess. Auch bei der Finanzwache, bei der C.
später durch ein Jahr diente, zog er sich fünf Abstrafungen zu.
Eigenthümlich sind die ehelichen Verhältnisse des Inculpaten.
Er hat schon vier Frauen gehabt; jeder wurde er, bald nachdem er
geheiratet hatte, überdrüssig und misshandelte sie ohne die min¬
desten Scrupel so lange, bis sie weggingen, wenn er sie nicht
selbst fortschickte.
Nichtsdestoweniger hätte er nach eigener Angabe nicht übel
Lust, wieder einmal zu heiraten, indem er sich verspricht, dass er
jetzt beständiger sein würde.
Ueberhaupt sind seine Empfindungen für seine Verwandten
sehr stumpf. Als sein Vater starb, war er nach eigenem Geständ-
niss geradezu froh, weil der Vater ihn zum Lernen anhalten wollte
und er sich nun befreit fühlte. Der Tod seiner Mutter, die während
seiner Strafhaft gestorben war, liess ihn zum Mindesten kalt. Um
seine einzige Tochter, ein 14jähriges Mädchen, kümmerte er sich
nie. ja er will sie gar nicht sehen.
In religiöser Richtung ist C. vollständig indifferent; er macht
die religiösen Uebungen gar nicht mit, da er daran zweifelt, dass
das Alles wahr sei, was im Koran steht.
Irgend eine Thätigkeit scheint C. ausser der kurzen Zeit,
welche er beim Militär und bei der Finanzwache zubrachte, me
gehabt zu haben. Er hat auch nicht die mindeste Lust zur Arbeit.
Von einem nicht unbeträchtlichen Erbe, das ihm seine Ellern hinter¬
lassen haben, hat er schon einen guten Theil verprasst,
und er hatte auch nicht die Absicht, in Hinkunft etwas zu
arbeiten, sondern er plante, gerade als sich die Affaire mit K. zu¬
trug, die Hälfte seines restlichen Erbes noch zu vergeuden und
dann nach Konstantinopel zu gehen, wo er eine reiche Tante hat,
bei der er aufgenommen zu werden holfte.
Die hervorragendste Leidenschaft des Inculpaten ist die
Trunksucht. Er trinkt seit seinem 13. Lebensjahre, anfangs nur
Raki; seitdem er beim Militär war, trinkt er Alles durcheinander.
Seine Lebensweise bestand darin, dass er einen grossen Theil des
Tages verschlief, und dann bis tief in die Nacht hinein schlemmte.
Er suchte sich um jeden Preis Geld zum Trunk zu verschaflcn.
Nicht selten verkaufte er zu diesem Zweck seine Kleider, nicht
etwa wenn er trunken war, sondern noch in nüchternem Zustande,
um trinken zu können. Er hat auch, wie er selbst aussprich I, gai
nicht die Absicht, sich in dieser Richtung zu bessern. Ja er ist
136
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 6
mit seiner Trunksucht so zufrieden, dass er einmal, als ihn seine
Mutter ein heiliges Wasser trinken lassen wollte, welches angeblich
gegen die Trunksucht wirksam ist, sich weigerte, dies zu thun.
C. hat es in Folge dessen auch zu einer ziemlichen Leistungs¬
fähigkeit im Trinken gebracht. Nach seiner eigenen Angabe soll
man ihm, wenn er einen ganzen Liter Schnaps getrunken hat,
noch nichts anmerken.
Dass diese Behauptung keine leere Prahlerei ist, lässt sich
aus den Acten einigermassen nachweisen. Denn für den Tag, an
dessen Abend er K. erschlug, kann man an der Hand der Zeugen¬
aussagen annähernd festslellen, wie viel er getrunken; es war
dies ungefähr 1 1 Schnaps und 1 1 Wein. Trotzdem geben alle
Zeugen an, dass er höchstens etwas angeheitert, aber keineswegs
berauscht war; dass er ganz gerade und sicher ging und deutlich
und zusammenhängend sprach.
Die zweite hervorragende Charaktereigenschaft des Inculpaten
ist seine Reizbarkeit und Gewaltthätigkeit, die jeweils unter dem
Einfluss des Alkohols noch gesteigert wurde und ungehemmter zu
Tage trat.
Die Acten enthalten zum Belege dessen überreiches Material.
So berichtet eine Polizeinote, dass C. von 1880 — 1888 wegen
Trunkenheit und excessiven Benehmens achtmal polizeilich abge¬
straft worden war.
Aber auch von 1888 — 1893 enthalten die Acten Mittheilungen
über eine grössere, aus den Acten nicht einmal bestimmbare An¬
zahl von polizeilichen Strafen wegen Trunkenheit, Raufexcess und
körperlicher Verletzung. Ausserdem wurde C. aus ähnlichen Anlässen
auch einige Male bezirksgerichtlich und kreisgerichtlich abgestraft.
Ende 1892 und Anfangs 1893 befand sich C. zu gleicher
Zeit wegen dreier Fälle von Körperverletzung in strafgerichtlicher
Untersuchung.
Während der Untersuchung, bei der C. auf freiem Fuss be¬
lassen worden war, ereignete sich noch ein ärgerer Fall. C. kam
in einem Wirthshause mit einem gewissen 0. in Streit und verletzte
ihn durch Messerstiche derart, dass derselbe den Folgen der Ver¬
letzungen auf der Stelle erlag.
Von Interesse ist es wegen des gegenwärtig das Gericht be¬
schäftigenden Falles, dass es in mehreren Fällen und so auch im
Falle des 0., gerade die Zechgenossen des C. waren, mit denen er
kurz vorher noch freundschaftlich am Wirthshaustisch gesessen war,
die er dann wegen irgend eines geringfügigen Aergernisses oder
einer Beleidigung thätlich angriff und verletzte.
Es wird darum nothwendig sein, einige von den früheren
Gewaltthaten des G. näher kennen zu lernen.
Am 12. November 1890 fuhr C. mit einem Zechgenossen in
einem Fiaker in die Umgebung von S. Am Wege begegneten sie
zwei Passanten, von denen sie einen, einen Bekannten, zum Mit¬
fahren einluden. Als der Andere, ein gewisser S., offenbar etwas
betrunken, auch einsteigen wollte und man ihm das verwehrte,
kam es zu einer kleinen Rauferei. G. zog sofort sein Messer und
stach den S. in die Schulter.
Bei der Vernehmung durch die Polizei gibt G. an, dass er
dem S. habe den Hals durchschneiden wollen und nur durch einen
seiner Genossen daran verhindert worden sei, der selber bei dem
Bestreben, dem C. das Messer zu entwinden, eine Schnittwunde
am Daumen erlitt. Es ist nicht ersichtlich, dass dieser Fall Gegen¬
stand einer gerichtlichen Untersuchung geworden wäre; er ist daher
nicht vollkommen actenmässig klargestellt.
Gegenstände gerichtlicher Untersuchung bildeten dagegen fol¬
gende Fälle:
1. Am 27. October 1892 sassen C. und A. in einer Schenke
und zechten. A., der etwas angetrunken war, wollte durchaus von
einem Kuchen essen, den C. gekauft und in ein Tuch zum Nach¬
hausetragen eingewickelt hatte. Daraufhin gerieth C. in Zorn und
stach mit einem Regenschirm dreimal gegen das Auge des A., so
dass er ihm eine schwere körperliche Verletzung beibrachte und
leicht ihn auch um ein Auge hätte bringen können.
2. Am 14. Januar 1893 sass C. mit H. und mehreren an¬
deren Genossen in einer Schenke. G. gerieth mit H. in einen Wort¬
wechsel, weil ihm dieser einige Tage vorher ein Messer entrissen
hatte. Er ergrilt sein Messer und stach den TL, ohne dass derselbe
ihn angegriffen hätte, zweimal in den Arm, und wohl nur dem
Umstande, dass ein Zeuge dem G. das Messer entriss, ist es zu
danken, dass weitere Verletzungen des H. hintangehalten wurden.
3. Am 1. Februar 1893 endlich war C. in einer Schenke
und zechte mit einem gewissen 0. und einem dritten Genossen.
Nachdem sie einige Zeit friedlich mit einander verkehrt hatten,
entstand über Provocation des C. zwischen ihm und 0. ein kurzer
Wortwechsel, der bald in Thätlichkeiten überging. C. zog sein
Messer und versetzte dem 0., der aus dem Locale zu (liehen im
Begriffe stand, während derselbe bereits in der Thür war, zwei
Stiche von hinten, in Folge deren 0. sofort seinen Geist aufgab.
Wegen der letzten drei Gewaltthaten und noch eines vierten
ähnlichen Factums hatte sich G. vor dem Kreisgerichte in S. zu
verantworten und wurde mit Urtheil vom 29. März 1893 zu
schwerem Kerker in der Dauer von fünf Jahren verurtheilt.
C. verbüsste diese Strafe in der Strafanstalt zu Z. Nach dem
Berichte der Strafanstalts-Direetion hatte C. daselbst nur eine Dis-
ciplinarstrafe. Er war körperlich ohne nennenswerlhe Krankheiten;
zeigte keinerlei Intelligenzstörung, war aber reizbar, aufbrausend,
impulsiv.
Am 31. März 1898 verliess G. die Strafanstalt Z. Nach
seiner Entlassung ging er in die nächste Schenke, betrank sich
ordentlich, so dass er gar nicht wusste, wie er nach S. gekommen
war, und zechte fort bis in den nächsten Tag hinein, so dass er
binnen 24 Stunden von 26 fl., die er aus der Strafanstalt mit¬
gebracht hatte, nur mehr zwei bis drei Gulden übrig halle. Er
setzte dann seine gewohnte Lebensweise fort, bis er sechs Wochen
später den Todschlag an K. beging.
Es ist nun auf das Gutachten einzugehen, welches die
Gerichtsärzte über G. abgaben; das Wichtigste aus demselben sei
in Folgendem hervorgehoben.
Die Gerichtsärzte bezeichnen C. als »ein erblich schwer be¬
lastetes, durch Trunksucht hochgradig sittlich verkommenes Indi¬
viduum von krankhaft gesteigerter Zornmüthigkeit«.
Als krankhaft bezeichnen sie die Zornmüthigkeit wegen ihres
Auftretens in früher Jugend, wegen der ungenügenden Motivirung
ihrer Ausbrüche und wegen der Unverbesserlichkeit.
Zur Kennzeichnung der sittlichen Verkommenheit, die sie mit
der Trunksucht in ursächlichen Zusammenhang bringen, führen sie
an die Arbeitsscheu, die Gemüthsstumpfheit, wie sie sich in seinen
Beziehungen zu Eltern, Frauen und Kind kundgibt, ferner die Verschwen¬
dungssucht und den Leichtsinn.
Sie fahren dann fort: »Aus alldem erhellt, dass der Ange¬
klagte als eines jener ethisch mindenverthigen Individuen zu be¬
zeichnen ist, welche, zu jeder nützlichen Thätigkeit ungeeignet,
ihre Selbstständigkeit missbrauchend, wegen ihrer Unverbesserl ieh-
keit eine stete Gefahr für die bürgerliche Gesellschaft bilden.«
In Bezug auf die incriminirte Handlung machen sie geltend
den reichlichen Alkoholgenuss, wobei sie jedoch einen Zustand von
Volltrunkenheit nicht als bewiesen ansehen; ferner die ungenügende
Motivirung der gegen einen Freund ausgeübten Gewaltthat.
Die Angabe des Inculpaten, überhaupt »von den Einzelheiten
der That keine Vorstellung zu haben, und für den kritischen
Abend nur ein ganz summarisches Erinnerungsvermögen zu be¬
sitzen«, glauben sie nicht hinreichend widerlegen zu können.
Sie führen weiter aus, dass C. durch den langdauernden
Alkoholmissbrauch eine derartige Entartung seines Gesammtnerven-
systemes herbeigeführt habe, dass derselbe geradezu als mit einer
Gehirnerkrankung behaftet zu betrachten ist.
Die Sachverständigen resumiren endlich ihr Gutachten im
folgenden Schlusssätze:
»Der Angeklagte ist ein schwer erblich belastetes, durch
chronischen Alkohol ismus körperlich und geistig geschwächtes In¬
dividuum von einer krankhaft gesteigerten Zornmüthigkeit und
Reizbarkeit. Derselbe hat sich zur Zeit der incriminirten Handlung
im Zustande hochgradiger Sinnesverwirrung befunden.«
Ueber Antrag des Staatsanwaltes wurden die Gerichtsärzle
aufgefordert, ihr Gutachten dahin genauer zu präcisiren:
1. Ob die von den Sachverständigen behauptete hochgradige
Sinnesverwirrung als Folge einer vollen Berauschung zu betrachten
ist oder nicht;
2. ob diese Sinnesverwirrung eine derartige war, dass der
Inculpal während derselben sich seiner Handlungen nicht be¬
wusst war;
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
137
3. ob etwa C. nur im berauschten Zustande die im im-
pucirten krankhaften Erscheinungen des Seelenlebens darbiete oder
auch im nüchternen.
Die Sachverständigen beantworteten in einer Ergänzung ihres
Gutachtens diese Fragen, wie folgt:
Ad 1. Die Sinnesverwirrung des C. war nicht die unmittelbare
Folge einer Berauschung, sondern die letztere bildete nur das aus¬
lösende Moment der Sinnesverwirrung, zu welcher die prädispo-
nirenden Bedingungen in der fehlerhaften Organisation des Gehirns
des Beschädigten gelegen waren.
Ad 2. Die Sinnesverwirrunng bildet einen Seelenzustand, in
welchem das klare Bewusstsein gänzlich aufgehoben ist.
Ad 3. C. kann auch im nüchternen Zustande nicht als normaler
Mensch gelten. »Aber unter dem toxischen Einflüsse des Alkohols,
im Zustande der Schlaftrunkenheit oder unter dem Einflüsse eines
Gemüthsaffectes verliert sein invalides Gehirn sehr leicht das
psychische Gleichgewicht und er begeht dann Handlungen, die ihn
mit dem Gesetze in Collision bringen und von denen, wie auch
von deren Tragweite er ... . kein oder aber nur ein summarisches
Bewusstsein besitzt.«
2. Gutachten.
Die Beantwortung der beiden vom Kreisgerichte in S.
gestellten Fragen: »1. ob der Thäter des Gebrauches der Ver¬
nunft ganz beraubt ist? oder 2. ob er die That bei abwechselnder
Sinnesverrückung zu der Zeit, als die Verrückung dauerte,
begangen hat?« macht es erforderlich, dass wir uns aussprechen,
1. über den andauernden Geisteszustand des Inculpaten, und
2. über seinen Bewusstseinszustand zur Zeit der That.
Wenn wir in Verfolgung der ersten Aufgabe den Incul¬
paten aualysiren, finden wir bei ihm, sowohl gegenwärtig wie
auch in seiner Vergangenheit, keine Züge von eigentlichem
Irresein; wir linden keine Stimmungsanomalien, keine Hallu-
cinationen, keine Wahnideen, kein Irrereden, keine Verworren¬
heit; wir können auch bei ihm keinerlei nennenswerthen
Intelligenzdefect naclnveisen.
Dagegen finden wir bei ihm auffallende Charakterano¬
malien von einer Art, dass sie allerdings die zahlreichen von
ihm begangenen Gesetzesübertretungen, wie auch die gegen¬
wärtig dem Gerichte zur Beurtheilung vorliegende That er¬
klärlich erscheinen lassen.
Hervorragende Charakterzüge des Inculpaten sind näm¬
lich, wie sich aus dem vorliegenden Untersuchungsmateriale
ergibt: zornmüthige Reizbarkeit hohen Grades, Gemüthsstumpf-
heit, Trunksucht, Arbeitsscheu, Leichtsinn.
Es wäre jedoch verfehlt, den Inculpaten wegen der bei
ihm eonstatirten Charakteranomalien ohne Weiteres als ein im
Sinne des Strafgesetzes geisteskrankes Individuum hinzustellen.
Es muss vor Beantwortung dieser Frage untersucht werden:
1. ob die Vorgefundenen Charakteranomalien überhaupt auf
pathologischen Grundlagen beruhen, und 2. ob diese Charakter-
anomalien, ihre pathologische Begründung vorausgesetzt, einen
solchen Grad einer geistigen Störung darstellen, dass die Hand¬
lung dem Thäter im Sinne des Strafgesetzes nicht zugerechnet
werden kann.
Wenn wir uns also zunächst bestreben, die Frage zu
entscheiden, ob die Charakteranomalien des Inculpaten durch
pathologische Momente bedingt sind oder nicht, werden wir
einerseits nach solchen pathologischen Momenten zu forschen
haben, andererseits werden wir zu untersuchen haben, ob nicht
andere Einflüsse nicht pathologischer Natur vorhanden waren,
die ungünstig auf die Charakterbildung einwirken konnten.
Es sei hier zunächst eine Bemerkung allgemeiner Natur
gestattet: Charakteranomalien wie die beim Inculpaten beobach¬
teten sind constante Befunde bei einer zahlreichen Classe von
Menschen, nämlich bei einer Kategorie von Verbrechern, das
Wort Verbrecher hier nicht im juristischen Sinne gebraucht
zur Bezeichnung von Individuen, die zufällig ein Verbrechen
begangen haben, sondern im naturwissenschaftlichen, im anthro¬
pologischen Sinne zur Bezeichnung von Verbrechernaturen,
von Individuen, die vermöge ihrer geistigen Beschaffenheit in
unverbesserlicher Weise immer wieder von Neuem verbreche¬
rische Handlungen begehen. Und zwar ist es die Kategorie
der Gewaltthätigkeitsverbrecher, bei denen wir Charakterano¬
malien wie zornmüthige Reizbarkeit, Gemüthsstumpfheit, Trunk¬
sucht kaum je vermissen, auch Arbeitsscheu und Leichtsinn
in der Regel vorfinden.
Der gegenwärtig in der psychiatrischen Literatur tobende
Streit über diese Verbrechernaturen spitzt sich auf die Ent¬
scheidung der Frage zu, inwieweit Einflüsse der Organisation
de3 Individuums und inwieweit sociale Einflüsse die Crimi-
nalität der Verbrecher bedingen. Nur die ersteren gehören ins
Gebiet der psychiatrischen Pathologie; die letzteren können
einen Platz in der Pathologie der Gesellschaft beanspruchen,
aber nicht in der des Individuums.
Was nun das Individuum anbelangt, das wir vor uns
haben, ist es in hohem Grade wahrscheinlich, dass sehr un¬
günstige sociale Momente die Entwicklung seines Charakters
beeinflussten.
Wir hören, dass die Erziehung des Inculpaten eine sehr
vernachlässigte war. Der Vater, der selbst ein Trunkenbold ge¬
wesen sein soll, kümmerte sich um die Erziehung sehr wenig
und war auch viel vom Hause abwesend. Die Schule besuchte
C. nur kurze Zeit und auch da sehr unregelmässig, da seiner
Abneigung gegen den Schulbesuch wenig entgegengewirkt
worden zu sein scheint. Zu einer ernsten Arbeit wurde er nie
angehalten. Dazu kam das schlimme Beispiel des älteren
Bruders, der ein arger Trunkenbold und Excedent war. Wohl
dürfte auch noch in Betracht kommen der sittenverderbende
Einfluss eines anarchischen Zustandes, wie er in Bosnien zur
Zeit des Aufstandes, des Türken krieges und der Occupation
durch viele Jahre bestand, und dessen Greuel der Inculpat in
früher Jugend, von seinem 17. Lebensjahre ungefähr bis zu
seinem 20 miterlebte.
Endlich ist noch in Betracht zu ziehen der unthätige
Lebenswandel in schlechter Gesellschaft, sowie die zahlreichen
Abstrafungen und die dadurch bedingte häufige Berührung mit
anderen criminellen Individuen.
Sehen wir dem gegenüber, was für pathologische Mo¬
mente von ungünstigem Einfluss auf die geistige Entwicklung
des Inculpaten gewesen sein können, so führen die Gerichts¬
ärzte zwei an: die Heredität und den Alkoholmissbrauch, und
es dürfte in der That nicht leicht sein, andere Einflüsse im
Falle des Inculpaten ausfindig zu machen.
Die Annahme der Heredität gründet sich darauf, dass
ein Bruder des Inculpaten, der ihm übrigens charakterologisch
ganz ähnlich geartet war, zweimal in psychiatrischer Beobachtung
stand, darunter einmal im Aufträge des Gerichtes, und in einer
Irrenanstalt starb; dass ferner seine Schwester angeblich an
periodischer Manie litt und einmal in psychiatrischer Beob¬
achtung stand.
Die Bedeutung der Heredität als möglicher Factor
von pathologischer Wirksamkeit wird aber dadurch be¬
einträchtigt, dass beim Inculpaten ausser der Charakter¬
anomalie, die ja auch aus anderen als pathologischen Ursachen
erklärlich wäre, keinerlei Störungen der psychischen Func¬
tionen weder gegenwärtig nachweisbar sind noch je früher vor¬
handen waren.
Die Trunksucht endlich hat in dem Gutachten der Ge¬
richtsärzte, wie dies übrigens sehr häufig geschieht, nicht den
richtigen Platz gefunden. Die Gerichtsärzte führen die sittliche
Verkommenheit des Inculpaten auf die Trunksucht als ursprüng¬
liches Moment zurück, eine häufig an zutreffende Verwechslung
von Ursache und Wirkung. Erfahrungsgemäss ist in nicht
seltenen Fällen neben der Trunksucht ein oft ziemlich hoher
Grad von sittlichem Empfinden vorhanden, und andererseits lässt
sich in Fällen, wo Trunksucht mit hochgradiger Verkommen¬
heit verbunden ist, in der Regel nachweisen, dass die sittliche
Verkommenheit von der Trunksucht unabhängig ist; dass sie
schon vor der Trunksucht oder wenigstens gleichzeitig mit
ihr sich kundgab, zu Zeiten wo von chronischer Alkoholver¬
giftung noch keine Rede sein konnte, und dass sie auch un¬
verändert bestehen bleibt, wenn die Trunksucht durch äussere
Beschränkungsmassregeln selbst jahrelang unwirksam ge¬
macht wird.
138
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. l‘)00.
Nr. 6
Damit soll nicht gesagt werden, dass die Trunksucht
nicht depravirend auf den Charakter einwirke; im Gegentheile,
sie bewirkt, dass der noch sittlich Empfindende doch unsittlich
handelt, und sie steigert beim Menschen mit mangelhaftem
sittlichem Empfinden die Wirksamkeit dieses Defectes, sie
macht vor Allem die Ausbrüche der Reizbarkeit heftiger. Aber
die Trunksucht selbst Et häufig nur die Folge, die Aeusserung
einer Charakteranomalie, eiues sittlichen Defectes, und es
treten in solchen Fällen die ersten Aeusserungen der Trunk¬
sucht, die noch lange zu keiner chronischen Alkoholvergiftung
geführt haben, zu einer Zeit auf, in der sich alle anderen
sittlichen Defecte ebenfalls schon deutlich kundgegeben haben.
So geht es auch nicht an, die sittliche Verkommenheit
des Inculpaten als Wirkung der Trunksucht hinzustellen, denn,
wenn er auch schon in früher Jugend seine ersten Trunk-
Excesse beging, waren doch alle seine übrigen Defecte auch
zu dieser Zeit schon deutlich nachweisbar.
Dass in specie die Reizbarkeit des C. nicht ausschliess¬
lich Wirkung des Alkohols war, sondern auch unabhängig
davon besteht, geht aus der Äusserung des Strafanstaltsdirectors
hervor, der den C. während einer fünfjährigen unfreiwilligen
Abstinenz beobachtete und ihn als reizbar, aufbrausend und
impulsiv schildert. Uebereinstimmend äussern sich übrigens
auch seine dermaligen Haftgenossen. (Im Gutachten der Ge¬
richtsärzte angeführt.)
Dass der Alkoholmissbrauch die sittlichen Defecte bei
C. noch gesteigert habe, soll damit nicht in Abrede gestellt
werden; dabei aber von einem höheren Grade chronischer
Alkoholvergiftung zu reden, ist aus mehrfachen Gründen nicht
zu lässig. Erstens hatte der dermalige Alkoholmissbrauch nicht
länger als sechs Wochen gedauert, da C. vorher in Folge
seiner Haft eine fünfjährige Alkoholabstinenz durchgemacht hatte,
die die Folgen früheren Alkoholgenusses wohl zum Schwinden
gebracht haben musste. Zweitens können auch kaum deutliche
körperliche Zeichen eines chronischen Alkoholismus vorhanden
gewesen sein, weil die ärztlichen Aussprüche hierüber wider¬
sprechend lauten. Die Gerichtsärzte constatiren wenigstens ein
leichtes Zittern der Zunge und Hände, das sie aber nicht aus¬
drücklich auf chronischen Alkoholismus beziehen. Der Gefäng-
nissarzt, der den Inculpaten gleich bei seiner Einlieferung
untersuchte, constatirte dagegen ausdrücklich das Fehlen von
Zeichen des chronischen Alkoholismus.
Mag man also noch so sehr geneigt sein, bei der Genese
der Verbrechernaturen die Wichtigkeit der pathologischen
Momente über die der socialen zu stellen, man wird nach den
obigen Ausführungen den Nachweis nicht als gelungen be¬
trachten können, dass die im Falle C. vorhandenen Charakter-
Anomalien ausschliesslich oder vorwiegend pathologischen Mo¬
menten ihre Entstehung verdanken, indem beim Inculpaten
auch wirksame sociale Einflüsse sich geltend machten, die im
Stande waren, seine Charakterbildung in ungünstiger Weise
zu beeinflussen.
Sehen wir aber vorläufig die pathologische Natur der
Charakteranomalien des Inculpaten als erwiesen an und gehen
wir an die Beantwortung der zweiten Frage, ob dieselben
einen hinreichenden Grad einer geistigen Störung darstellen,
um den Inculpaten als unzurechnungsfähig im Sinne des Ge¬
setzes erscheinen zu lassen.
Denn wenn wir auch annehmen, dass Alles, was beim Incul¬
paten abnorm ist, gleichzeitig pathologisch ist, d. h. dass er vermöge
der Organisation seines Gehirnes und Nervensystemes auch
bei der besten Erziehung nicht anders hätte werden können, so
ist damit nicht implicite gesagt, dass er im Sinne des Strafgesetzes
als unzurechnungsfähig zu betrachten ist. Denn das Straf¬
gesetz sagt ausdrücklich in Alinea a des § 2: »wenn der
Thäter des Gebrauches der Vernunft ganz beraubt ist«. Das
Gesetz verlangt also auch den Nachweis eines gewissen Grades
geistiger Störung.
Wenn es auch im Einzelfalle manchmal Schwierigkeiten
haben kann, den Grad einer geistigen Störung zu bestimmen,
so handelt es sich in Fällen wie der vorliegende zunächst um
die Entscheidung über principielle Auffassungen.
C. bietet Charakteranomalien dar, die sich, wie schon
früher bemerkt wurde, bei einer ganzen Kategorie von Ver¬
brechern, bei den Gewaltthätigkeitsverbrechern, wiederfinden,
und deren pathologische Begründung in vielen derartigen
Fällen in viel zuverlässigerer Weise sich nach weisen lässt als
gerade in dem vorliegenden.
Es würde aber dem Geiste des Strafgesetzes und der
Strafrechtspflege widersprechen, wollte man eine ganze Kate¬
gorie von Verbrechern einzig und allein auf, wenn auch
pathologisch begründete Charakteranomalien hin, die eben das
Wesen ihrer criminellen Anlage ausmachen, exculpiren und
ihnen gegenüber den durch die Strafrechtspflege gewähr¬
leisteten Schutz der Gesellschaft vollständig illusorisch machen.
Das Strafgesetz würde in einer solchen Auffassung, sich selbst
aufheben, zum Mindesten auf jenem Gebiete, wo seine Wirk¬
samkeit gerade am nothwendigsten ist, gegenüber den Ver-
brecheraaturen. Es würde eine Auslegung des Strafgesetzes,
welche den Ausdruck: »des Gebrauches der Vernunft ganz
beraubt« auch auf Fälle wie der vorliegende und analoge
Fälle zutreffend erachten wollte, den Intentionen des Gesetzes
umsomehr widersprechen, als das Gesetz aus einer Zeit stammt,
wo man sich bei Fällen wie der vorliegende die Frage der
Geistesstörung überhaupt gar nicht stellte.
Es muss daher die erste Frage des Kreisgerichtes S.,
da bei C., abgesehen von den ethischen Defecten, keine Zeichen
geistiger Störung bestehen, in verneinendem Sinne beant¬
wortet werden.
Zur Beantwortung der zweiten vom Kreisgerichte in S.
gestellten Frage ist es noth wendig, den Bewusstseinszustand des
Inculpaten zur Zeit der That zu untersuchen, um zu eruiren,
ob irgend eine transitorische Bewusstseinsstörung, eine Sinnes¬
verrückung, wie sich das Strafgesetz ausdrückt, vorhanden ge¬
wesen sein könnte.
Ein Merkmal, das den meisten transitorischen Bewusst¬
seinsstörungen zukommt, ist der Erinnerungsdefect, die ganz
fehlende oder mangelhafte, nur summarische Erinnerung für
einen gewissen Zeitabschnitt, während dessen eben die Be¬
wusstseinsstörung stattfand.
Ein solcher Erinnerungsdefect wird von C. behauptet
und, wie es scheint, auch von den Gerichtsärzten angenommen.
Wenn man die Sachlage aber genauer untersucht, stellt sich
heraus, dass der Erinnerungsdefect einer Kritik nicht Stand hält.
C. sagte bei seiner Vernehmung am Tage nach der That
aus: »Auf einmal packte mich Jemand an der Brust, worauf
ich aufsprang und das Messer packte, welches auf dem Tische
lag und mit welchem ich den Käse aufgeschnitten hatte, und
haute darauf los. Ich weiss nicht, wie oft und auf wen ich
losgehauen habe, darauf legte ich mich wieder nieder.« C. er¬
innert sich also wohl an die That; man könnte nach dieser
Aussage höchstens glauben, dass er sich nicht erinnert, an
wem er die That verübt habe.
Im weiteren Verlaufe der Vernehmung aber sagte er
aus: »Weiter habe ich dem Wachmann gesagt, dass ich den
K. gestochen habe, weil er mich angefangen hat zu würgen.«
Ferner gibt er in derselben Vernehmung an, wer mit ihm in
demselben Raume war: K. und der Spaniole.
Es verliert also durch diese Aussagen die Annahme
eines Erinnerungsdefectes jede Berechtigung. Dazu kommt
noch, dass sich C. an unbedeutende Details erinnert, die mit
der That selbst in keinem directen Zusammenhänge stehen
aber sich auf die Zeit unmittelbar vor und nach den That be¬
ziehen. So weiss er, dass der Spaniole, als er sich niederlegte,
zu spielen aufhörte. Er weiss, dass das Messer, mit dem er
den Käse geschnitten hatte, auf dem Tische lag. Er weiss,
dass ihm der Wirth einen Polster zum Schlafen hinlegte. Er
erinnert sich ebenso an die Worte, die er bei der Arretirung
an die Wachleute gerichtet hat.
Verdächtig ist auch der Umstand, dass das Messer, mit
dem C. die That ausführte, verschwunden ist, was jedenfalls
auf ein Bewustsein der That hinweist.
Es verliert demnach die Annahme eines Erinnerungs¬
defectes für den Zeitpunkt der That jeden Boden.
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
139
Es wurde ferner von den Gerichtsärzten für die An¬
nahme einer Sinnes Verwirrung auch der Mangel eines zu¬
reichenden Motives für die That ins Feld geführt. Ob aber
für eine That ein zureichendes Motiv vorhanden ist oder nicht,
kann nicht vom Standpunkte des Beurtheilers, sondern nur
vom Standpunkte des Thäters aus beurtheilt werden. Nun müssen
wir erstens die masslose Reizbarkeit des C. in Betracht ziehen.
C. will sich kurz vor der That schlafen legen, verbietet des¬
halb dem Spaniolen, zu spielen, und offenbar in energischem
Tone, denn der Spaniole, der ihn wohl gekannt haben dürfte,
ffndet es für gerathen, sogleich fortzugehen. Der trunkene K.
aber gibt keine Ruhe; er lärmt, weil er keinen Schnaps be¬
kommt, er spielt dann ungeschickt auf der Mandoline. C.
mahnt ihn zur Ruhe. Er aber beruhigt sich nicht und packt
endlich den C., in welcher Absicht ist nicht klar, an der
Brust. Kein Wunder, wenn der explosive C. auffährt.
Und nun kommt ein zweites Motiv in Betracht, die Ge-
müthslosigkeit, die Gefühlsrohheit, mit der er sogar gegen die
ihm am nächsten Stehenden rücksichtslos und brutal wird. Er,
der eine Frau nach der andern misshandelt, bis sie ihm davon
geht-, der bei jeder Gelegenheit gegen seine Zechgenossen ge-
waltthätig wird, und zwar gleich mit dem Messer; der den 0.
unter ganz ähnlichen Umständen getödtet hat, wie den K.; er
besinnt sich auch nicht lange, gegen den ihm lästigen K. mit
dem Messer los zu fahren. Damit ist keineswegs gesagt, dass
er die Absicht gehabt habe, den K. zu töten. Aber wenn
einmal das Messer im Spiele ist, lässt sich eben der Effect
einer Rauferei nicht mehr abzirkeln.
Es ergibt sich also, dass die Motive der That aus dem
Wesen des Thäters heraus keineswegs so unverständlich sind,
als es auf den ersten Anblick scheinen könnte.
Dass wir die Gemiithslosigkeit des C. hiebei nicht zu
hoch anschlagen, geht übrigens auch aus seinem Verhalten
nach der That hervor. Ebenso wie nach dem Tode des 0.,
der auch einer seiner Zechgenossen war, zeigte er nach dem
Tode des K. nicht die mindeste Reue, sondern ist nur darauf
bedacht, die Folgen seiner That von sich fern zu halten.
Es wären endlich zur vollen Beurtheilung des Geistes¬
zustandes des Inculpaten zur Zeit der That noch zwei Mög¬
lichkeiten zu erwägen: 1. die Berauschung, und 2. die Schlaf¬
trunkenheit.
C. hätte hatte an dem betreffenden Tage nachweislich
viel getrunken und stand jedenfalls im Augenblicke der That
unter dem Einflüsse des genossenen Alkohols. Die Quantitäten
waren aber für ihn keine ungewohnten, und dass er sich im
Zustande voller Berauschung befunden habe, wird man an¬
gesichts der übereinstimmenden Zeugenaussagen, die das Gegen-
theil behaupten, nicht sagen können.
Gegen einen sogenannten pathologischen Rauschzustand
sprechen aber schon die weitgehende Erinnerung an die That
und an das, was vor und nach ihr sich abspielte.
Endlich wurde vom Vertheidiger auf die Möglichkeit
hingewiesen, dass bei C. zur Zeit der That ein Zustand von
Schlaftrunkenheit bestanden haben könnte; und die Gerichts¬
ärzte führen, allerdings nur im Nachtrage ihres Gutachtens,
unter den Zuständen von Sinnesverrückung auch die Schlaf¬
trunkenheit an, ohne sich darüber auszusprechen, ob sie das
Vorhandensein eines solchen Zustandes bei C. annehmen
oder nicht.
Zur Beurtheilung dieser Frage ist von Wichtigkeit, dass
ein Beweis, dass C. überhaupt eingeschlafen sei, nicht vorliegt;
es wird das von keinem Zeugen ausgesagt, sondern nur, dass
er schlafen wollte. Wenn wir aber auch annehmen, dass C.
wirklich geschlafen habe, so ist ferner von Wichtigkeit für
die Beurtheilung der möglichen Tiefe des Schlafes die Zeit,
welche seit dem Einschlafen bereits vergangen war. Dafür
liegt glücklicher Weise eine Zeugenaussage vor. Der Zeuge M.
gibt an, dass von dem Momente, wo der Spaniole über C.’s
Aufforderung das Local verliess, bis zum Tode des K. höchstens
fünf Minuten vergangen waren. Es ist nicht anzunehmen,
dass C. in dieser Zeit besonders fest eingeschlafen sei, umso
mehr als K. die ganze Zeit gelärmt hatte. Es ist auch dem
Gefertigten kein Fall bekannt, wo beim Erwecken nach so
kurzer Schlafdauer ein Zustand von Schlaftrunkenheit sich
gezeigt hätte.
Endlich müsste man unter der Voraussetzung, dass C.
in schlaftrunkenem Zustande, d. h. unter dem Einflüsse irgend
welcher aus dem Schlafe in den erwachenden Zustand herein¬
reichender Traumbilder gehandelt habe, erwarten, dass C. eine
wenn auch summarische Erinnerung an die sein Handeln be¬
dingende Traumvorstellung haben müsste. Unterdessen gibt C.
nur an, dass ihn K. bei der Brust gepackt habe, was als
wirkliches Geschehniss durchaus plausibel ist.
Es verliert also die Annahme der Schlaftrunkenheit jeden
Boden, umsomehr, als das ein seltener Zustand ist, den als
vorhanden anzunehmen wohl zwingende Gründe gefordert
werden müssten.
Die vom k. k. Kreisgerichte in S. gestellten Fragen, ob
1. der Thäter des Gebrauches seiner Vernunft ganz beraubt
ist, und 2. ob er die That bei abwechselnder Sinnesverrückung
zu der Zeit als die Verrückung dauerte, begangen hat, müssen
daher im verneinenden Sinne beantwortet werden.
Doch muss zugegeben werden, dass C. an ethischen
Defecten leidet, an deren Zustandekommen neben socialen
Einflüssen hereditäre Anlage und Alkoholismus einen gewissen
Antheil haben können und dass er zur Zeit der That unter
dem Einflüsse reichlich genossenen Alkohols stand.
C. wurde vom Gerichte des Verbrechens des Todt-
schlages schuldig erkannt und zu acht Jahren schweren
Kerkers verurtheilt.
im nui— iiiiiiiMim iwniiii
Philipp Knoll +.
Nach längerer Krankheit aber nur kurzem Krankenlager ist am
31. Januar a. c. der Professor der allgemeinen und experimentellen
Pathologie an der Wiener Universität, Hofrath Prof. Dr. Philipp
Knoll gestorben. Die auf letztwilligen Wunsch ausgeführte Obduction
bestätigte die Diagnose, die er sich selbst gestellt. Aneurysma aortae
mit Trachealstenose und beiderseitiger Pneumonie. Nur kurze Zeit
— seit dem Tode S. Stricke r’s, dessen Nachfolger er war — ge¬
hörte Knoll unserer Facultät an, kaum lange genug, um sich in die
hiesigen Verhältnisse und seinen neuen Wirkungskreis einigermassen
einzuleben. So ehrenvoll er hiebei bestehen würde, wird man seinem
Andenken nicht gerecht, wenn man Knoll lediglich als Forscher und
Lehrer beurtheilt. Die Prager deutsche Hochschule, der Knoll so
lange angehörte, ist nicht der Boden, wo sich ein Gelehrtendasein in
den Grenzen der rein akademischen Pflichten ausleben könnte. Der auf¬
gedrungene nationale Kampf, in dem die dortigen Lehrer mitten drinnen
und als berufene Führer der Nation in erster Reihe stehen, ruft alle Kräfte
des Verstandes und des Charakters wach und die rege persönliche
Theilnahme an den wechselvollen Phasen des Kampfes wird dort zur
unausweichlichen Mannespflicht. Diesen Kämpfen hat Knoll eine viel¬
seitige Begabung und eine von den edelsten Intentionen getragene,
begeisterte, werkthätige Theilnahme gewidmet. Seine Stammesgenossen
in Böhmen danken ihm dies übers Grab hinaus. Er hatte ein reiches
Leben hinter sich als Lehrer und Forscher und als Führer im natio¬
nalen Kampfe.
*
Prof. L ö w i t in Innsbruck widmete seinem verstorbenen Lehrer in
der Vorlesung am 31. Januar folgenden Nachruf:
Meine Herren! Gestatten Sie mir, die heutige Stunde der Weihe
eines Mannes zu widmen, dessen Wirken eine bleibende Bedeutung für
unser Fach besitzt. Hofrath Prof. Knoll in V ien, der Nachtolgei
Strieker’s auf der Wiener Lehrkanzel für allgemeine und experi¬
mentelle Pathologie, ist heute Früh einer schmerzhaften Krankheit ei-
legen, nachdem er erst mit Allerhöchster Entschliessung vom bl. Oc¬
tober 1898 für die vacante Wiener Lehrkanzel ernannt worden war.
Es ist ein wahrhaft tragisches Geschick, dass Knoll am Ziele seinei
Wunsche als akademischer Lehrer an der ersten Universität de»
Reiches, in einflussreicher Stellung, die dem von ihm vertretenen 1 ache
und dem gesammten Universitätsleben in Oesterreich hätte zu Gate
kommen können, jäh durch den Tod gefällt und mitten aus intensnei
Arbeit herausgerissen wurde. Zu diesem allgemein menschlichen Schmeizt
kommt für mich noch ein persönlicher hinzu, da ich in Knoll meinen
140
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 6
akademischen Lehrer und Führer verliere, dessen erster Assistent an
dem neu gegründeten Prager Institut für allgemeine und experimentelle
Pathologie ich in den Jahren 1879 — 1887 zu sein das Glück hatte.
Soll ich Ihnen den Eindruck über Knoll in wenigen Worten zu¬
sammenfassen, so brauche ich nur zu sagen, er war ein echter, ganzer
Mann vom Scheitel bis zur Sohle, er war ein echter deutscher Mann,
ein treuer Sohn seines Volkes, der seine Liebe zum Volke mannhaft
und werkthiitig auch in politischer Beziehung bethätigt hat. Knoll
wurde am 4. Juli 1841 in Karlsbad als Sohn einer angesehenen
Familie geboren. Seine Gymnasialstudien absolvirte er in Prag und
Eger und begann 1858 seine medicinischen Studien in Prag, wo er
im Februar 1864 den Doctorgrad erlangte. Er wurde hierauf bald an
der damaligen I. medicinischen Klinik von Prof. v. Jak sch ansrestellt,
wo er zunächst als zweiter, später als erster Assistent bis zum
Jahre 1868 verblieb. Schon während dieser Zeit trat Knoll in
engere Beziehung zu dem Giessener Physiologen Eckhard, der ihn
1868 als Assistent an sein Institut berief. Für die theoretische und
experimentelle Richtung von Knoll’s weiterem Werdegang war damit
wohl die Grundlage gegeben. 1869 habilitirte sich Knoll als Privat-
docent für Physiologie in Giessen, kehrte jedoch im Herbste 1870 nach
Prag zurück, wo er sich neuerdings für innere Medicin habilitirte;
1872 wurde er zum Professor extraordinarius ernannt, 1879 erhielt er
das Ordinariat für die damals neu geschaffene Lehrkanzel der allge¬
meinen und experimentellen Pathologie in Prag, die er 1898 mit der
Wiener Lehrkanzel vertauschte. Welche fruchtbare Fülle geistiger
Thätigkeit entfaltete nun K n o 1 1 iu den Jahren 1866 bis 1898; ganz
summarisch will ich nur hervorheben '), dass von Knoll selbst in
dieser Zeit 62 wissenschaftliche Arbeiten publicirt wurden, aus ver¬
schiedenen Gebieten der Physiologie, Pathologie und klinischen Medicin,
wozu noch eine Reihe schöngeistiger Vorträge aus anderen Wissens¬
gebieten hinzukommen. Erwägen Sie weiterhin, dass von Knoll’s
Assistenten und sonstigen Schülern unter seiner^ Führung in der
gleichen Zeit 52 wissenschaftliche Arbeiten, und aus der unter seiner
Leitung stehenden propädeutischen Klinik in Prag 19 Einzelabhand¬
lungen erschienen sind, so werden Sie begreifen, dass Knol l’s wissen¬
schaftliche Arbeitsfähigkeit eine ganz hervorragende war.
Dabei fand nun Knoll immmer noch Zeit eine intensive
Thätigkeit als Musikfreund, sowie in schöngeistiger und politischer
Beziehung zu entfalten. Schon im Jahre 1860 (am 9. November) trat
Knoll anlässlich einer Schillerfeier der Prager Lese- und Redehalle
deutscher Studenten als Redner auf. Von da ab finden wir ihn wählend
seiner Studienzeit häufig als Redner in den Berichten über studentische
Veranstaltungen verzeichnet. Nach seinem Eintritte in den deutschen
Turnverein in Prag wurde Knoll sehr bald in den Vorstand ge¬
wählt, 1865 — 1868 war er Sprech wartstell Vertreter und 1872 — 1879
Sprechwart dieses Vereines. Schon 1871 nahm er in der für Prag
damals bereits brennenden Universitätsfrage Stellung und 1872 ver¬
fasste er eine von den deutsch-böhmischen Reichsrathsabgeordneten
dem Unterrichtsministerium überreichte Denkschrift, in welcher die
Errichtung einer selbstständigen tschechischen Universität zum Schutze
der alten deutschen Carolo-Ferdinandea empfohlen wurde. Für die
Trennung der Universität arbeitete Knoll seither in Gemeinschaft
mit dem bekannten Physiologen Hering ununterbrochen, der damals
eine führende Rolle an der Prager Alma mater einnahm. Im Jahre 1883
wurde Knoll für den städtischen Wahlbezirk Karlsbad-Joachimsthal
zum Landtagsabgeordneten gewählt, in welcher Stellung er wiederholt
Gelegenheit hatte, sich an den wichtigsten Fragen des deutsch-
böhmischen Volkes zu betheiligen. Noch in den letzten Jahren seiner
Prager Thätigkeit schuf Knoll ein für den deutschen Volksstamm
in Böhmen äusserst wichtiges Werk, indem er die Gesellschaft zur
Förderung deutscher Kunst, Wissenschaft und Literatur in Böhmen
ins Leben rief, welche ein Centralpunkt für die hervorragende geistige
Arbeit des deutschen Volkes in Böhmen geworden ist. Hier entstammte
alles vom Gedanken bis zur That Knoll’s ureigenster Initiative, und
es kann unumwunden gesagt werden, dass ohne Knoll dieses wich¬
tige und zuverlässige Institut für die geistige Arbeit des deutschen
Volkes in Böhmen niemals oder wenigstens so bald nicht ins Leben
getreten wäre.
ln wissenschaftlicher Beziehung nehmen Knoll’s Arbeiten durchwegs
eine bedeutende Stellung ein; einzelne unter denselben werden bleibenden
Werth behalten. Ilieher gehören seine Untersuchungen über die Herz-
compression, über die Herzveränderungen nach doppelseitiger Vagus¬
durchschneidung, über protoplasmaarme und protoplasmareiche Mus-
culatur. An erster Stelle müssen aber seine Arbeiten aus dem Gebiete
der Physiologie und Pathologie des Kreislaufes gesetzt werden. Keiner
der Epigonen, der sich mit diesem Gebiete experimentell beschäftigen
wird, kann an diesen Arbeiten achtlos vorübergehen. Für Denjenigen,
der, wie ich, das Glück hatte, einen grossen Theil dieser Arbeiten ent-
‘) Nach einer Zusammenstellung in der Prager medicinischen Wochen¬
schrift. 1898.
stehen zu sehen, musste die hervorragende Begabung Knol l’s gerade
für dieses Gebiet bewunderungswürdig sein.
Es war geradezu erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit und
technischen Sicherheit Knoll scheinbar ganz abseits liegende Gebiete
für die Darstellung durch die graphischen Methoden, die er gerade durch
seine Kreislaufstudien beherrschen gelernt hatte, zu verwerthen ge¬
wusst hatte. Ich hebe in dieser Beziehung die graphischen Verzeich¬
nungen der Augenbewegungen, der verschiedenen Abtheilungen der
Herzkammer, sowie der Bewegungen der Cerobrospinalflüssigkeit be¬
sonders hervor. Seine Untersuchungen zur Physiologie und Pathologie
des Lungenkreislaufes, sowie jene über die Blutbewegung in den
Venen müssen geradezu als bahnbrechend bezeichnet werden. Gerade
die letzteren sind unvollendet geblieben ; die Fähigkeiten, ein so
eminent schwieriges Capitel der Kreislauflehre in so gründlicher Weise
bearbeiten zu können, werden wohl kaum so bald wieder sich in so
harmonischer Weise in einem Manne vereint finden, wie das bei
Knoll der Fall war. Seine Abhandlungen aus dem Gebiete der
Athmungsinnervation stellten werthvolle Erweiterungen der bis dahin
vorliegenden Kenntnisse über diesen Gegenstand dar.
Knoll’s Stärke war überhaupt die gründliche Arbeit; un¬
beeinflusst durch die grossen Tagesfragen, welche die Medicin im
letzten Jahrzehnt beherrschten, hat Knoll das einmal als wichtig
erkannte Arbeitsgebiet festgehalten und mit einer Gründlichkeit
durchgeforscht, die ihresgleichen sucht. Dabei war er aber durchaus
nicht der Typus eines einseitigen Gelehrten, im Gegentheile, die Viel¬
seitigkeit seiner wissenschaftlichen, literarischen und politischen Be-
thätigung schritt weit über die Leistungsfähigkeit eines Einzelnen
hinaus. Oft hatte ich Gelegenheit, darüber zu staunen, mit welcher
Leichtigkeit und Versatilität des Geistes K u o 1 1, nachdem er im
Laboratorium seine anstrengende wissenschaftliche Thätigkeit beendet
oder unterbrochen hatte, schon in der nächsten Stunde ein fernab
liegendes politisches oder literarisches Thema mit der Sicherheit eines
geborenen Redners oder Volksmannes behandeln konnte. Er verdient
es mit vollem Rechte der reifen akademischen Jugend als ein Mann
so lauter wie Gold, als ein Mann, der seinen hohen Idealen in allen
Lebenslagen treu geblieben ist und als ein Akademiker in des Wortes
vollster Bedeutung als leuchtendes Beispiel vorangestellt zu werden.
Unsere Universitäten, unser ganzes akademisches Leben würden un¬
endlich gewinnen, wenn sein Beispiel Nachahmung fände.
Und nun zum Schlüsse noch ein Wort über Knoll’s Stellung zu
unserem Fache. Die Lücke, welche gerade in dieser Beziehung durch
seinen Tod gerissen wurde, darf wohl als der schwerste Schlag be¬
zeichnet werden, der dasselbe gerade im gegenwärtigen Augenblicke
treffen konnte. Diese Stellung ist ja durchaus keine unbestrittene, und
bei der relativen Jugend des Gegenstandes wird wohl noch manches
Hinderniss beseitigt werden müssen, damit diese eine gesicherte wird.
Gerade in dieser Beziehung durfte von Knoll in seiner letzten
hervorragenden Stellung in Wien Entscheidendes erwartet werden.
Seiner Auffassung der allgemeinen und experimentellen Pathologie als
pathologische Physiologie, die gegenwärtig wohl als die einzig richtige
und für den Unterricht nutzbringende bezeichnet werden muss, hat er
in seiner Wiener Antrittsrede ein bleibendes Denkmal gesetzt, und
dieser Auffassung zum Durchbruche zu verhelfen, war sein ganzes
Streben und Trachten für die Zukunft gewidmet, was er mir noch in
unserer letzten Unterredung im April 1899 auseinandersetzte.
Die allgemeine und experimentelle Pathologie kann, wie in
Knol l’s Wiener Antrittsvorlesung ausgeführt ist, nur als pathologische
Physiologie ihre selbstständige Stellung im Studiengange des Mediciners
und als eigenes Forschungsgebiet behaupten, eine Auffassung, die all-
mälig auch in Deutschland, das die Abtrennung der allgemeinen
Pathologie von verwandten Fächern noch nicht vollzogen hat, immer
mehr an Boden gewinnt. Die allgemeine und experimentelle Pathologie
muss daher immer mehr zu einer Physiologie des kranken Körpers
werden, und sie muss von der Physiologie ausgehend und mit ihren
Methoden und Hilfsmitteln arbeitend, zu einer naturwissenschaftlichen
Erklärung der Functionsstörungen im kranken Organismus führen. In
dieser Grundlage und Auffassung sah Knoll und sehen mit ihm Alle,
die an der selbstständigen Fortentwicklung der pathologischen Physio¬
logie betheiligt sind, die Zukunft unseres Faches.
Die kalte Hand des Todes hat hier weitausblickende Pläne
zerrissen, deren Verwirklichung gerade mit dem Eintritte der neuen
medicinischen Studien- und Rigorosenordnung von grösster Bedeutung
geworden wäre. In wissenschaftlicher Beziehung hat Knoll gewiss
nicht umsonst gelebt, und so lassen Sie uns sein Andenken auch in
der Hoffnung ehren, dass sein Ruf für die Anerkennung der Be¬
deutung der pathologischen Physiologie nicht ungehört verhallen
w^erde.
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
141
REFERATE.
I. Die Fruchtabtreibung durch Gifte und andere
Mittel.
Ein Handbuch für A e r z t e und Juristen.
Von Prof. Dr. L. Lewiu und Dr. 31. Jirenning.
Berlin 1899, August Hirschwald.
II. Handbuch der Toxikologie.
Von Prof. A. J. Kunkel in Würzburg.
Erste Hälfte.
J e n a 1899, Gustav Fischer.
III. Mittheilungen über einige während des Jahres 1898
im analytischen Laboratorium der Krankenhausapotheke
zu Leipzig ausgeführte Arbeiten.
Leipzig, Hesse & Becker.
IV. Pharmakognostische Karte für die Arzneibücher
Europas und der Vereinigten Staaten von Amerika.
Bearbeitet von Hermann Sclielenz.
Zweite Auflage.
Massstab am A equator 1 : 45,000.000.
Wien und Leipzig 1899, G. F r e y t a g & Bernd t,
V. Beiträge zu den Wirkungen des Jodoforms.
Von Dr. med. Jean Gl’OS aus Jassy (Rumänien).
Zürich-Oberstrass 1899, E. Speidel.
I. Der rühmlichst bekannte Verfasser, der erst vor kurzer
Zeit »die Nebenwirkungen der Arzneimittel« in dritter, neu bear¬
beiteter Auflage erscheinen liess, überrascht uns schon wieder mit
einem Werke, welches in umfassender Weise ein iiusserst wichtiges
Capitel, das sowohl für den Mediciner und Juristen, wie auch
Sociologen von besonderer Bedeutung ist, nämlich »die Fruchtab¬
treibung durch Gifte und andere Mittel« behandelt. Er versucht in
diesem Werke die »reactive Disposition eines einzelnen, für die
Menschheit wichtigsten Organes, der Gebärmutter, darzustellen.«
Gerade die Fruchtabtreibung hat vom Alterthume bis zum heutigen
Tage die gleiche Bedeutung beibehalten; sie greift weit über ihre
rein medicinische Bedeutung hinaus in die socialen Verhältnisse
ein, und wie vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden wohl einer
der Hauptgründe für die Vornahme der Fruchtabtreibung in un¬
gesunden socialen Verhältnissen gelegen ist, so auch in unserem
und gewiss auch im kommenden Jahrhundert. Die sich immer
schwieriger gestaltende Lebenserhaltung führt nothgedrungen in viel
grösserem Umfange dazu, an die Beseitigung des keimenden Lebens
zu denken, und thatsächlich lässt sich eine rapide Zunahme der
Fruchtabtreibung in allen Ländern nachweisen.
Im historischen Theile des Werkes zeigt der Verfasser, dass
es Frauen gegeben hat und gibt, die wohl empfangen, aber nicht
gebären wollen, die nicht gewillt sind, die Schwangerschaft mit
ihren Beschwerden und die Einbusse, die sie durch dieselben an
geselligen Vergnügungen und vielleicht auch an Jugendfrische und
Schönheit erleiden, zu ertragen, ebenso zeigt er, dass die Frucht¬
abtreibung zu allen Zeiten in allen Welttheilen unter Cultur- wie
unter Naturvölkern verbreitet war und ist.
Die verschiedenen Abschnitte, wie die »Gesetzgebung über
die rechtswidrige Fruchtabtreibung«, »Die Dynamik der Abtreibungs¬
mittel«, »Die speciellen Ursachen des Fruchttodes und der Ab¬
treibung«, »Diagnostisches zum criminellen Abort«, »Die Abtreibungs¬
mittel historisch und ethnographisch betrachtet«, »Casuistik der Ab¬
treibung durch Gifte«, »Mechanisch-chemische und mechanische
Mittel zur Einleitung des Aborts« bieten nach jeder Richtung hin
Vollkommenes. Sie behandeln die Materie erschöpfend sowohl für
den Juristen wie für den Mediciner.
Von Interesse ist auch, in welcher Weise der Autor glaubt,
dass der stetigen Zunahme der verbrecherischen Fruchtabtreibung
Einhalt geboten werden kann. »Das Einzige, wovon ein, wenn auch
kleiner Erfolg zu erwarten ist, scheint die Errichtung von genügend
zahlreichen Gebärasylen zu sein. In solchen Gebärasylen, in denen
jede Frau Unterkommen zu finden berechtigt sein sollte, müsste
die Sicherheit der Anonymität der Asylistinnen in jeder Beziehung
gewährleistet sein, und eine solche Anstalt müsste auch mit den
Mitteln versehen sein, um, falls die Abgabe der Kinder in ein
Kinderasyl nicht gewünscht wird, der Mutter für die Erhaltung
ihres Kindes beizuspringen. Sache des Staates oder der Gemeinden
und nicht privater Initiative ist es, helfend vorzugehen.« Und wir
pflichten ihm aus vollem Herzen bei, wenn er sagt: »Es wäre kein
geringer Ruhmestitel des anbrechenden Jahrhunderts, hier Muster-
giltiges geschaffen zu haben, was vergangene Jahrhunderte nicht
oder nur vereinzelt in unzulänglicher Form zu leisten ver¬
mochten.«
*
II. Orfila theilte die Gifte in vier Classen ein: in die
scharfen, narkotischen, scharfnarkotischen und septischen Gifte,
Caspar wieder in Aetzgifte, hyperämisirende oder narkotische
Gifte, neuroparalysirende, tabificirende und septische Gifte, während
T a r d i e u corrosive, hyposthenisirende, Stupor erzeugende, narkoti¬
sche und neurasthenisirende Gifte unterschied. Bei diesen Ein-
theilungen, wo also die Wirkungsweise der Gifte als Eintheilungs-
princip zu Grunde liegt, lässt es sich wohl nicht vermeiden, dass
oft ein und derselbe Giftstoff, wie z. B. Acidum arsenicosum, einmal
unter den ätzenden, das andere Mal unter den narkotischen abzu-
lmndeln ist. Deswegen hat der Verfasser für sein Handbuch den
Lehrstoff nach dem chemischen Eintheilungsprincipe geordnet, weil
dieses Princip sicher als das zweckmässigste anzusehen ist.
Da er sein Handbuch in erster Linie für Aerzte bestimmt
hat, bringt er möglichst sorgfältige Beschreibungen der Sympto¬
matologie der verschiedenen Vergiftungen und behandelt die am
häufigsten vorkommenden Intoxicationen sehr eingehend; dadurch
ist es dem Praktiker ermöglicht, derart sorgfältig zusammengestellte
Beschreibungen im gegebenen Falle verwerthen zu können.
Ueber den Nachweis und die Isolirung von Giften verweist
der Autor auf die Bücher von D ragend or ff und Otto, nur
bei den Giften, bei denen besondere physiologische Methoden zur
Anwendung kommen, bespricht er dieselben.
In der vorliegenden ersten Hälfte behandelt er die anorgani¬
schen Stoffe und die Kohlenstoffverbindungen der fetten und der
aromatischen Reihe. Diesem speciellen Theil hat er eine Reihe all¬
gemeiner Betrachtungen vorangestellt, welche wohl die Meisten
dankbar begrüssen werden, wenn sie auch sehr Vieles enthalten,
was bereits als bekannt vorausgesetzt werden kann. Im Uebrigen
bespricht der Autor die einzelnen Capitel im speciellen Theile in
sehr ausführlicher und gründlicher Weise unter Berücksichtigung
der vorhandenen Literatur, so weit es natürlich bei dem bedeuten¬
den Umfange derselben möglich ist. Wir wünschen, dass der Ver¬
fasser die zweite Hälfte des Handbuches als werthvolle Ergänzung
der ersten bald folgen lassen möge.
*
III. Die Mittheilungen, gewidmet zur Säcularfeier der könig¬
lichen medicinisehen Klinik der Universität Leipzig von dem der¬
zeitigen Leiter der Krankenhausapotheke Dr. Konrad Stich, ent¬
halten folgende Arbeiten: 1. Die Aufgaben der Krankenhausapo¬
theken. Mit acht Abbildungen. 2. lieber die Bildung gasförmiger
Phosphorverbindungen bei der Fäulniss. 3. Verdunstungsgeschwin¬
digkeit einiger Inhalationskörper. Mit einer Zeichnung. 4. Zusammen¬
setzung der im städtischen Krankenhause zu St. Jakob verabfolgten
alkoholischen Genussmittel. Mit einer Tafel. 5. Einfluss der Präpa¬
ration auf die Zugfestigkeit von chirurgischem Nähmaterial. Mit
einer Zeichnung.
ln der ersten Arbeit, die besonderes Interesse beansprucht,
gibt er einen kurzen Ueberblick über die Thätigkeit, welche den
Krankenhausapotheken zufällt. Er entwickelt die leitenden Motive
derselben, die selbstverständlich abweichen von denen öffentlicher
Apotheken, bei welchen gewerbliche Fragen in den Vordergrund
gestellt sind. Im Krankenhausbetriebe sind die zahlreichen Geheim¬
mittel und Specialitäten, die leider in öffentlichen Apotheken noch
eine hervorragende Rolle spielen, ausgeschaltet. »Die Medication der
Krankenanstalten ist dictirt von massgebender medicinischer Er-
kenntniss und von einer exacten Prüfung der Arzneikörper, die
unabhängig dasteht gegenüber der bezahlten Reclamekritik. « In
den Laboratorien der Apotheken der grossen Krankenanstalten
werden nicht allein die pharmaceu tischen Präparate für die Patienten
hergestellt, ihnen fällt auch zu, neue Arzneiformen, entsprechend
den weitergreifenden Ideen des Arztes, zu schaffen, die organo-
therapeutischen Präparate selbst zu bereiten, eventuell auch seltene
Arzneikörper, die in den medicinisehen Instituten auf ihre Wirkung
geprüft werden sollen, rein darzustellen. Selbstverständlich gehören
in das Bereich derartiger Laboratorien chemische und mikroskopi¬
sche Prüfungen von Arzneikörpern, Rohmaterialien und Verband¬
stoffen, während toxikologische Analysen, Nahrungs- und Genuss¬
mittelprüfungen, Beurtheilungen von Gebrauchsgegenständen, patho-
142
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. fi
logisch-chemische Untersuch ungen besser den hiefiir spcciell ein-
gericliteten Instituten zu ül)erlassen sind.
Der Autor bespricht dann noch die Entwicklung der Kranken-
luiusapolheke von Leipzig und bringt Daten über eine Reihe der¬
artiger Anstalten in anderen Städten Deutschlands.
Die übrigen Abhandlungen behandeln rein specielle Fragen,
sie bringen selbstständige Unlersuchungsergebnisse, auf die hiemit
verwiesen werden muss.
*
I V. Auf dieser Weltkarte im Massslabe von 1 : 45,000.000
sind die verschiedenen Arzneistoffe und Droguen in rother Karbe
aufgedruckt: durch rothe Zeichen vor oder nach dem Namen wird
ersichtlich gemacht, ob dieselben nur in Cultur oder auch in Cultur
Vorkommen. Sie orient irt uns auch über die Wege, welche die
Droguen bis zum Stapelplatz nehmen, bringt die überseeischen
Verbindungen mit Angabe der Fahrtdauer, zudem ein alphabetisches
Verzeichniss der europäischen und aussereuropäischen Droguen, eine
Darstellung der vertiealen Verbreitungszonen von einigen Droguen,
obendrein zwei Nebenkarten, Europa und Südost-Asien, im Mass-
stabe von 1 : 25,000.000; mit einem Worte auf einer so kleinen
Papierfläche wird eine Fülle des Wissenswerthen geboten.
Es muss dem Verfasser gewiss als ein besonderes Verdienst
angerechnet werden, dass er eine Karte, welche den Ursprung und
die Kultur der wichtigsten Arzneistoffe angibt, zusammengestellt
hat; denn sicher gehören in das Bereich der pharmaceutischen
Waarenkunde auch die wichtigeren und interessanteren Handelsbe¬
ziehungen unter den einzelnen Ländern, wie auch die verschiedenen
1 landelswege, auf welchen die einzelnen Droguen in den Verkehr
kommen. Zum Zwecke eines gedeihlichen Unterrichtes ist sie wohl
wenig geeignet, da sie zu viel auf einer kleinen Fläche und auch
nicht in übersichtlicher Form bringt.
*
V. Verfasser hat eigene Versuche bezüglich des physikalisch¬
chemischen Verhaltens von .Iodoform, dann Versuche an lebenden
Fröschen, welche den Unterschied massiger Jodoformemulsion gegen
Lösung in Gelen und Fetten darthun sollen, angestellt, drittens hat
er die Einwirkung des Jodoforms auf die Leukocyten am lebenden
Menschen sludirt.
Er kommt zu nachstehenden Schlussfolgerungen:
1. Das Jodoform wirkt einzig und allein durch seine Zer¬
setzung durch Abspaltung von Jod, beziehungsweise von Jod¬
wasserstoff.
2. Diese Jodausscheidung kann durch Sonnenlicht, erregten
Sauerstoff, Wärme bei Anwesenheit von lebendem Protoplasma er¬
folgen: aber auch durch Reductionsmittel, wie durch nascirenden
Wasserstoff.
3. Die meisten normalen Gewebe und thierischen Flüssig¬
keiten lassen das Jodoform intact.
4. Gewisse Fäulniss- und Gährungsstoffe, gewisse Toxine und
Mil uoorganismen und gewisse pathologische Gewebe, Neubildungen,
zersetzen es, häufiger durch Reduction als durch Oxydations¬
vorgänge.
5. Abgespallcnes Jod wirkt in statu nascendi verschieden
auf lebende zellige Elemente. Am meisten und am frühesten
a) auf Leukocyten und Rundzellen,
b) auf locker gebettete kernhaltige Zellen, wie die cubischen
Zellen, z. B. in drüsigen Organen, Schilddrüsen etc.,
c) auf sogenannte Riesenzellen, auf sogenannte epi theloide
Zellen und Riesenzellen mit ihrem Inhalt und ihren Meta¬
morphosen, wie sie bei Scrophulose und Syphilis so oft Vor¬
kommen,
d) auf die Zerfallsproducle der genannten neugebildeten Zellen,
wie sie in periostalen Exsudaten und namentlich den Gummata
Vorkommen.
(i. Das Jodoform, welches in die Circulation gelangt, schädigt
edle, lebenswichtige Organe, die Leberzellen, die Musculatur des
Herzens und gewisse Regionen des Centralnervensystems.
Wesentlich neue Resultate hat der Autor nicht gefunden.
H o c k a u f .
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
41. (Aus der chirurgischen Klinik in Bern.) Tot a lex ci-
s i o n d e s M agens, m i l D a rmresection c o m b i n i r 1. Von
Th. Kocher. Bei der 44jährigen Patientin war wegen diffuser
carcinomatöser Erkrankung des Magens und Verwachsung desselben
mit dem Colon transversum, sowohl der ganze Magen, als auch
12 cm des Quercolons resecirt worden. Das Allgemeinbefinden der
Patientin, welches nach der Operation, die drei Stunden gewährt
halte, zunächst ein gutes gewesen, verschlechterte sich bei gleich¬
zeitig auftretenden Durchfällen und am vierten Tage trat der Tod
ein. Die Section ergab, dass Duodenum und Oesophagus schon
tadellos verklebt waren und ebenso war auch an der Vereinigungs¬
stelle des Colon keine Perforation zu sehen. Dagegen zeigte sich
in einer Länge von 2 m aufwärts von der Ileocöcalklappe die
Dannschleimhaut nekrotisch, und dasselbe Darmstück wies auch
einen fibrinösen Belag auf. Da keine Thrombose im entsprechenden
Gefässbezirke nachgewiesen werden konnte, war der Obducent,
Prof. Langhans, der Ansicht, dass die bei der Operation statt¬
gefundene Zerrung der Arteria mes. sup. die Circulation in einer
solchen Weise gestört hätte, dass es zur Nekrose der Schleimhaut
im unteren Ileum und durch diese wieder zur circumscriplen
Peritonitis gekommen sei. Dieser Befund legt den Gedanken nahe,
ob nicht die nach Magenresection öfter auftretenden Durchfälle
überhaupt auf mehr oder weniger ausgedehnte Schleimhautnekrosen
zurückzuführen sein dürften. Es dürfte demnach, zumal bei
heruntergekommenen Patienten und bei lange dauernden Operationen
geboten sein, der Gefahr einer auch nur vorübergehenden Circulations-
störung im Gebiete der Darmgefässe Rechnung zu tragen und durch
Vermeidung zu starker Zerrung an Magen und Därmen der Bildung
anämischer Nekrosen auf der Schleimhaut des Darm trades vorzu¬
beugen. Besonders zwei Momente dürften in besonderer Weise an¬
geschuldigt werden können: Die Anlegung zu kleiner Bauch¬
schnitte, so dass die hervorgezogenen Organe eingeschnürt werden,
und andererseits die zu starke Tamponade der Abdominalhöhle
zum Zwecke des Abschlusses des Operationsfeldes. — (Deutsche
medicinische Wochenschrift. 1899, Nr. 37.)
*
42. (Aus der medicinischen Klinik des Prof. Curse li¬
man n in Leipzig.) lieber die Wirkung kohlensäure¬
haltiger Bäder auf die Circulation. Von Dr. Hensen.
Der gute Erfolg vom Gebrauche kohlensäurehaltiger Bäder bei der
Behandlung Herzkranker ist schon vielfach bestätigt worden, be¬
sonders seit die Technik ihrer Anwendung, namentlich von N a u-
heim her mehr ausgebildet worden war. Auf welche Weise diese
Wirkung zu Stande kommt, darüber sind die Ansichten noch recht
verschieden. Schott fand eine Erhöhung des Blutdruckes, Ab¬
nahme der Pulsfrequenz und auch das Verschwinden der Irre¬
gularität. H e n s e n hat die Wirkung der Bäder, welche genau nach
den von Schott gegebenen Regeln hergestellt worden waren,
studirl. Zur Kohlensäureentwicklung wurden 1 / , 0 — 1 kg Natron
bicarbonicum im Badewasser aufgelöst und dann die gleiche Menge
30%ige Salzsäure zugesetzt. Dies geschieht am besten, wenn man
die Flasche unter Wasser umkehrt und die specifisch schwere Salz¬
säure langsam über den Boden fliessen lässt. Die Temperatur dos
Bades betrug je nach der Leistungsfähigkeit des Herzens 28 bis
24° R. Diese kohlensäurehaltigen Bäder bewirken eine Blutdruck¬
steigerung von einigen Millimetern bis zu 20 und 30 selbst 36;
die Pulsfrequenz verhielt sich sehr wechselnd. In einigen Fällen
Hess sich als Zeichen, dass das Herz sich nun besser entleert, eine
Verkleinerung der Herzdämpfung um 1 — 1 '/.2 cm feststellen. In einer
Anzahl von Fällen wurde keine ausgesprochene Reaction auf das
Bad hin beobachtet. Hiebei ist Mehreres zu erwägen. Ein Bad kann
einen zu starken Kohlensäuregehalt haben, mehr als es der Leistungs¬
fähigkeit des Herzens entspricht, worauf dann eine Zunahme der
Dilatation und Dyspnoe eintritt; andererseits kann ein Bad zu
schwach sein, so dass der für die Circulation erwartete Effect aus¬
bleibt. Ebenso kann in der zu hohen Temperatur des Bades der
Fehler liegen, da ein zu warmes Bad die Wirkung der Kohlen¬
säure, die Blutdrucksteigerung direct beeinträchtigt. Man darf da
nicht übersehen, dass die Entwicklung der Kohlensäure allein schon
die Temperatur eines Bades um 1° erhöhen kann. Aus den Ver¬
suchen scheint jedenfalls hervorzugehen, dass die Nauheimer
Bäder eine Vermehrung der Herzarbeit zur Folge haben. Damit
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
143
ergibt sich ohne Weiteres, dass diese Bäder dann contraindicirt
sind, wenn die Herzkraft zur Bewältigung erhöhter Ansprüche nicht
mehr ausreicht; ebenso wird eine Blutdrucksteigerung bei Neigung
zu Apoplexien, bei bestehenden Aneurysmen bedenklich erscheinen.
Doch kann man berücksichtigen, dass ein kräftiger Hustenstoss den
Druck in brüsker Weise um 30 — 40 mm steigert, also gefährlicher
ist, als die allmülige und meistens nicht so bedeutende Steigerung im
Bade. Ist der Puls inäqual, so werden die Gefahren zu hohen
Blutdrucke im Bade eher gemindert als erhöht, da die extrem ge¬
spannten Pulse fortfallen. — (Deutsche medicinischo Wochenschrift.
1899, Nr. 35.) Pi.
*
43. Behandlung der Pot t’schen K r a n k h e i t durc h
subcutane Sublimatinjectionen. Von Dr. B. l>ignat ti-
Morano (Modena). Ein 19 jähriges Mädchen litt seit mehreren
Jahren an Schmerzen in der Höhe des achten, neunten und zehnten
Brustwirbels und zeigte daselbst eine deutliche Kyphose. Die Haut
war in der letzten Zeit daselbst geröthet und die Schmerzen un¬
erträglich geworden. Nach acht Sublimatinjectionen wurden die
Schmerzen geringer und nach 40 Injectionen waren die Schmerzen
spontan und auf Druck vollständig verschwunden. — (Gaz. degli
Ospedali. 1899, Nr. 145.) L.
*
44. Sexualfunction und Stoffwechsel. Von
Dr. Eoewy und Dr. Richter (Berlin). Es handelte sich darum,
festzuslellen, welchen Einfluss das Aufhören der Sexual function in
Folge natürlicher und künstlich herbeigeführter Klimax auf den
Stoffwechsel ausübe, wobei vorläufig festgestellt werden konnte, dass
der Gaswechsel etwa um 12% dauernd reducirt und damit auch
die Oxydationsenergie im Organismus entsprechend herabgesetzt
werde. Die Darreichung von Ovarialsubstanz vermag, wenn sie
21/ 2 — 3 Monate nach der Castration erfolgt, diese Verminderung
nicht nur aufzuheben, sondern sogar die Gaswechselwerthe noch
zu steigern, welche Steigerung sogar noch eine Zeit bis über das
Aussetzen des Oophorin anhält. Auf den Gaswechsel des normalen
nicht castrirten Thieres zeigte das Präparat keinen Einfluss. Die
Darreichung von Organpräparaten aus männlichen Geschlechtsdrüsen
zeigte sich beim weiblichen castrirten Thiere ohne jedweden Ein¬
fluss auf den Gaswechsel, während das Oophorin auch beim
männlichen Thiere in dieser Richtung von intensiver Wirkung ist.
— (Archiv für Anatomie und Physiologie. 1899. Supplement-Band.)
*
45. E i n F a 1 1 von Spondylitis t y p h o s a. Von Dr.
Könitz er (Stettin). Der Fall betraf einen Schmied, welcher nach
Ablauf eines Typhus jene Symptome zeigte, welche Quincke in
zwei Fällen beobachtet hatte. Unter Fiebererscheinungen treten
plötzlich heftige Schmerzen in der Lenden- und Kreuzbeingegend,
sowie eine Anschwellung dieser Theile auf, welche letztere aber
im Falle Könitz er’s nicht beobachtet wurde; der Fall kam
übrigens erst am sechsten Krankheitstage in spitalsärztliche Be¬
handlung. Sodann treten spinale Symptome auf, welche theils in
Parästhesien und Störungen der Reflexe (gesteigerter, sodann er¬
loschener Patellarreflex) der unteren Extremität, theils auch in
Störungen der Blasen- und Mastdarmfunctionen sich äussern können.
Die spinale Symptome bilden sich sehr rasch zurück und in einigen
Wochen erfolgt vollständige Heilung. Der Patient hatte seine
schwere Arbeit bald nach Ablauf des Typhus wieder aufgenommen;
vielleicht hat dadurch eine Zerrung des Periostes der Wirbel,
sowie die eine od£r andere kleine Blutung stattgefunden, wodurch
die regelmässig im Knochenmarke Typhuskranker vorkommenden
Typhusbacillen aufs Neue zur Wirksamkeit gelangen konnten.
(Münchener medicinische Wochenschrift. 1899, Nr. 35.)
*
46. Die Milzbrandgefahr bei Bearbeitung
thierischer Haare und Borsten und die zumSchutz
dagegen geeigneten Massnahmen. Von Dr. K ü hier. In
den Jahren 1890 — 1894 wurden unter den mit thierischen Haaren
und Borsten sich beschäftigenden Arbeitern und deren Angehörigen
82 Milzbranderkrankungen mit 25 Todesfällen, 1895 und 1896
9 Erkrankungen mit 4 Todesfällen und aus den 10 — 15 Jahren
vor 1890 mehr als 50 Erkrankungen mit mehr als 15 Todesfällen
constatirt. Die Gesammtzahl der Milzbrandfälle ist selbstverständlich
höher zu stellen. Die Zahl der Arbeiter, welche im Deutschen
Reiche in Rosshaarspinnereien, Bürstenfabriken etc. beschäftigt Mud,
dürfte sich auf 12.000 belaufen. Die Vertheilung der Milzbrandfälle
war keine gleiehmässige; für einzelne Orte ist diese Krankheit zu
einer ernsten Heimsuchung geworden. So sind in drei Rosshaar-
Spinnereien in einem Orte des Kasseler Bezirkes von 1884 — 1888
16 Erkrankungen an Milzbrand mit 6 Todesfällen vorgekommen,
an einem anderen Orte bei einem Arbeiterstand von 150 Personen
von 1890 — 1894 19 erkrankt und 6 gestorben, Unter rund
1700 Arbeitern der Pinselfabriken in Nürnberg sind 1890 — 1894
19 Personen an Milzbrand erkrankt und 3 gestorben. Der Milzbrand
ist demnach für die hiehergehörigen Betriebe eine ernste Berufs¬
gefahr für die Arbeiter. Für die Infection kommen bei der Strenge
der Handhabung des Gesetzes in Bezug auf die Vertilgung milz¬
brandkranker Thiere in Deutschland, die aus dem Auslande, be¬
sonders Russland, Amerika, Ungarn und Galizien bezogenen Haare
in Betracht. Als bestes Desinfectionsmittel hat sich der strömende
Wasserdampf erwiesen, welches freilich für einen Theil des Roh¬
materiales durch andere Methoden ersetzt werden muss. — (Arbeiten
aus dem kaiserlichen Gesundheitsamte. Bd. XV, lieft 3. S p r i n g e r.
Berlin 1899.) Pi.
THERAPEUTISCHE NOTIZEN.
A h 1 s t r ö m in Stockholm hat in 100 Fällen die Urethritis
gonorrhoica anterior mit Protargol abortiv zu behandeln ver¬
sucht und dabei in 87 Fällen einen vollen Erfolg gehabt. Die Behand¬
lung war bei ein bis acht Tage bestehender Krankheit angewendet
worden und hatte in täglich zweimal vorgenommenen und durch vier
bis fünf Tage ausgeführten Injectionen einer 2 — 4"/0igen Protargol-
lösung bestanden; in den nächsten drei bis fünf Tagen wurde eine
1 — 2%ige Lösung benützt und dieselbe immer, auch anfangs, 10 bis
15 Minuten in der Urethra belassen. Nach circa zwei bis drei
Wochen waren im Morgonharne keine Gonococcen mehr zu entdecken.
— (Dermatologisches Centralblatt. 3. Jahrgang, Nr. 2.)
*
Nach den Berichten von Richy (New York) haften dem
Salop hen nicht die üblen Nebenwirkungen wie dem salicylsauren
Natron an und soll deshalb diesem vorzuziehen sein. Dosis: zwei- bis
dreistündlich 0 8 — 1 g in Oblaten. Dieselben guten Eigenschaften werden
auch dem Aspirin nachgerühmt, das zu DO <7 pro dosi und DO bis
5 0 <7 pro die beim acuten Gelenkrheumatismus verabreicht wird. —
(Die Heilkunde. 1899, October-Novemberheft.)
*
Griwzow (Sebastopol) hat unter allen Mitteln bei der Behand¬
lung des weichen Schankers das Natrium sozojodolicum für
das bewährteste gefunden. Heilung soll durchschnittlich in IG Tagen
eintreten. — (Marineannalen.)
*
U e b e r ein neues Guajaeolpräpa r a t. Von Professor
Einhorn (München). Das salzsaure Diäthylglycocoll Guajacol — - von
den Höchster Farbwerken als „Guajasanol“ in den Handel gebracht —
soll eine vollständig ungiftige, nicht ätzende, antiseptisch und des-
odorisirende Verbindung sein, die, innerlich bis zu dreimal 4 g täglich
verabreicht, Tuberculose sehr günstig beeinflussen und die hiebei auf¬
tretenden Diarrhöen sofort stillen soll. Der antiseptische V ertli ist
ungefähr jenem der Borsäure gleich. — (Münchener medicinische
Wochenschrift. 1900, Nr. 1.)
*
Von Dr. Thein har dt sind zwei Nährpräparate im Handel:
„Lösliche Kinder nah r ung“ und „Hygia ma“. Ersteres ist aus Milch,
Weizenmehl, Malz und Zucker hergestellt und wird bei gesunden
Säuglingen als Zusatz zur Milch, ferner bei Unterernährung, sowio
Verdauungsstörungen der Kinder, nach den vorliegenden Urtheilen zu
schliessen, mit sehr günstigem Erfolge verwendet. „Hygiama11, aus
Milch, Mehl, Zucker und Cacao bereitet, steht besonders bei den mit
Verdauungsstörungen verbundenen chronischen Erkrankungen Erwach¬
sener wegen seiner leichten Verdaulichkeit, sowie seines grossen Eiweiss¬
gehaltes halber (21%) in Gebrauch. — (Deutsche Aerztezeitung. 1899,
Nr. 15.)
* •
Nach Cipriani soll das V a 1 i d 0 1 (baldriansaures Menthol)
zu 5 — 15 Tropfen zweistündlich nach dem Essen bei den verschie¬
denen Dyspepsien, als Expectorans, sowie als .) 15" o'g0 Vaselinsalbe
bei Ekzemen, Psoriasis, Urticaria und besonders bei Prurigo sich gut
bewähren. — (Allgemeine medicinische Centralzeitung. 1899, Nr. 97.)
144
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 6
NOTIZEN.
Ernannt: Zu correspoudirenden Mitgliedern der Academie de
Medicine de Paris die Herren: Kaposi (Wien), Erb (Heidelberg),
Hansen (Bergen). — Geheimrath v. Pettenkofer in Berlin
zum stimmberechtigten Ritter des Ordens pour le merite für Wissen¬
schaften und Künste.
Verliehen: Dem Professor der Geburtshilfe an der Heb¬
ammenschule in L i n z, Dr. Ludwig P i s k a c e k, das Ritterkreuz
des Franz Josef-Ordens. — Dem Ober-Bezirksarzte Dr. Friedrich
Presl in Jiöin der Titel eines kaiserlichen Rathes.
*
Ha bi 1 i ti rt : Der Privatdocent für Laryngologie, Dr. Michael
Grossmann in W i e n, für Rhinologie.
*
Gestorben: Dr. S. Plohn, Curarzt des Südbahnhotels
Semmering. — Dr. Brunetti, ehemaliger Professor der patho¬
logischen Anatomie zu Padua. — Der Professor der allgemeinen
Pathologie zu Rom, Dr. Valenti. — Dr. Mason, Professor der
Geburtshilfe und Gynäkologie zu Dublin.
#
Am 1 . Februar d. J. fand in Prag die Eröffnungsfeier
der neugebauten Klinik für innere M e d i c i n (Professor
v. J a k sc h), Augenheilkunde (Prof. Gzerraak) und G y-
näkologie (Pi of. Sänge r) statt. An diese Veranstaltungen schloss
sich die feierliche Enthüllung des Denkmals für weiland Professor
B r e i s k y. Die Festrede hielt Prof. Sänger.
*
Museum für Krankenpflege. Die im vorigen Jahre in
Berlin abgehaltene Ausstellung für Krankenpflege hat den für eine
wissenschaftliche und jeder Vergnügungsanziehung baare Ausstellung
seltenen Erfolg gehabt, dass nicht nur der gezeichnete Garantiefond
in keiner Weise in Anspruch genommen wurde, sondern vielmehr nach
vollständig erfolgter Abrechnung ein beträchtlicher Ueberschuss sich
ergeben hat. Schon bei der Eröffnung der Ausstellung hatte der Herr
Cultusminister die Absicht ausgesprochen, aus ihr eine ständige Ein¬
richtung, ein Museum für Krankenpflege, hervorgehen zu
lassen; jetzt ist dem Comite der Ausstellung das nachstehende Hand¬
schreiben Ihrer Majestät der Kaiserin zugegangen : „Ich
habe mit lebhafter Anerkennung den Bericht des Comites der Aus¬
stellung für Krankenpflege zu Berlin 1899 über den erfolgreichen
Verlauf der Ausstellung entgegengenommen und entspreche gern dem
Anträge, den erzielten Ueberschuss in der Höhe von 14.000 Mark als
erstes Capital für die Begründung eines Museums für Krankenpflege
zu bestimmen. Indem Ich Mir Vorbehalte, hierüber mit dem Cultus¬
minister Mich in Verbindung zu setzen, spreche Ich dem Comite für
seine segensreichen Bemühungen Meinen aufrichtigen Dank aus. Berlin,
den 17. Januar 1900. Auguste Victoria, I. R.“ Wie sehr nun¬
mehr die Anerkennung der Krankenpflege gerade in ärztlichen Kreisen
vorschreitet, ist auch daraus zu ersehen, dass in allernächster Zeit
bereits zwei weitere Ausstellungen für Krankenpflege nach dem Muster
der Berliner Veranstaltung, die eine Anfangs März in Frankfurt a. M.
von der Balneologischen Gesellschaft, die andere Ende April in Neapel
von dem italienischen Congresse zur Bekämpfung der Tuberculose
unternommen werden.
*
Aus Anlass einer zu erstattenden Aeusserung über die Verwen¬
dung von Benzoesäure, sowie eines aus Borax und Formal-
dehyd zusammengesetzten Conservirungsmittels hat der Oberste
Sanität&rath über die Zulässigkeit von Chemikalien zur
L ehe nsmittelconservi rung im Allgemeinen ein Gutachten
(Referent Obersanitätsrath Prof. Dr. M. Gruber) erstattet, demzufolge
derselbe in der Erwägung, dass selbst solche Conservirungsmittel, welche
an sich unschädlich sind, dadurch schädlich wirken können, dass sie
reinliche und sorgfältige Behandlung der Lebensmittel überflüssig
machen, ferner dadurch, dass sie in Zersetzung begriffene oder inficirte
Lebensmittel in genussfähigem Zustande erhalten, sich dafür aus¬
sprach, dass auch das Verbot der Verwendung von Benzoesäure und
deren Salzen zur Conservirung von Nahrungs- und Genussmitteln, des
gewerbsmässigen Verkaufes und Feilhaltens von Lebensmitteln, welche
mit Benzoesäure oder deren Salzen versetzt worden sind, und der Ein¬
fuhr derart versetzter Nahrung?- und Genussmitfel erlassen werde, ob¬
wohl die Benzoesäure und ihre Salze sehr schwach giftig sind und
anscheinend durch längere Zeit in Dosen bis zu 30 y pro die ohne
merklichen Schaden autgenommen werden können. Für das Verbot der
Verwendung der Salicylsäure, der Borsäure, der schwefeligen Säure,
der Flusssäure und der Salze dieser Säuren hat sich der Oberste
Sanitätsrath schon früher ausgesprochen. Bezüglich des Formaldehyds
wird in Ergänzung des im Jahre 1894 erstatteten Gutachtens angeführt,
dass seitdem sichergestellt worden ist, dass es zur Conservirung von
Lebensmitteln ungeeignet ist; so wird Fleisch unter seinem Einflüsse
gehärtet, Eier sowohl im Dotter als im Eiweiss verändert, Kartoffeln
schrumpfen und werden hart, Milch bekommt einen fremdartigen
Geschmack und Geruch, ihre Eiweissköiper werden derart verändert,
dass sie sich in Säuren nicht mehr vollständig lösen (z. B. bei der
Ausführung der Milchfettbestimmung nach Gerber). Die künstliche
Verdauung wird durch Formaldehyd gehemmt. Nach Allem erscheint
es geboten, ein allgemeines Verbot der Verwendung von Formaldehyd
zur Conservirung von Lebensmitteln und des Verkaufes von mit
Formaldehyd versetzten Lebensmitteln auszusprechen. Als zweckmässig
wird ferner empfohlen, ganz allgemein zu verbieten, dass Präparate,
welche Salicylsäure oder deren Salze, Borsäure oder deren Salze,
schwefelige Säure oder deren Salze, Benzoesäure oder deren Salze, Fluss¬
säure oder deren Salze oder Formaldehyd enthalten, unter der Be¬
zeichnung als Conservirungsmittel für Lebensmittel im Allgemeinen
oder für bestimmte Lebensmittel, wie Fleisch, Milch, Butter u. s. w.
eingeführt oder in Verkehr gebracht werden dürfen. — (Oesterreichi-
sches Sanitätswesen. 1900, Nr. 5.)
*
Internationaler Congress über medicinische
Elektrologie und Radiologie. Auf Veranlassung der franzö¬
sischen Gesellschaft zur Beförderung der Elektrotherapie und Radio¬
logie ist der von ihr gestiftete internationale Congress über medicinische
Elektrologie und Radiologie mit dem internationalen Congress von 1900
in Verbindung gebracht worden. Ein Comite, bestehend aus den
Herren: Weis s, Präsident; A p o s t o 1 i und O u d i n, Vicepräsidenten ;
Doumer, Generalsecretär; Moutier, Seeretär; Boisseau du
Roche r, Tresorier, und aus den Herren : B e r g o n i e, Boucha-
court, Br an ly, Lara t, R a d i g u e t, V i 1 1 e m i n, ist damit be¬
auftragt worden, denselben in Ausführung zu bringen. Dieser Congress
wird in Paris vom 27. Juli bis 1. August 1900 gehalten werden. Man
bittet, um weitere Erkundigungen sich an Herrn Prof. E. Doumer,
Generalsecretär, 57, Rue Nicolas Leblanc, Lille, zu wenden. Beitritts¬
erklärungen sollen an Herrn Dr. Moutier, 11, Rue Miromesnil,
Paris, adressirt werden. Der Generalsecretär: Prof. E. Doumer.
*
Nach dem Ausweise über die im Hospitale der Barm¬
herzigen Brüder in Wien (Leopoldstadt) zur Behandlung ge¬
langten Kranken hatten daselbst im Jahre 1899 5072 Personen spitals¬
ärztliche Pflege gefunden, in sämmtlichen 15 Hospitälern des Ordens
19958 Personen, während 3924 Patienten das medicinische Ambula¬
torium in Wien frequentirt hatten. An der chirurgischen Abtheilung
war 83mal unter Narkose, 84mal bei Anwendung der Localanästhesie
operirt worden.
*
Von dem „K a 1 e n d e r f ü r F r a u e n- undKinderärzt e“>
herausgegeben im Verlage von F. Har rach in Bad Kreuznach von
Dr. Eichholz und Dr. Sonnenberger ist der IV. Jahrgang
(1900) erschienen.
*
Dr. Julius Mahler, Assistent an der Allgemeinen Poliklinik,
wohnt seit Februar 1900 IX., Alse r strasse Nr. 16.
* -V,
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 3. Jahreswoehe (vom 14. Januar
bis 20. Januar 1900). Lebend geboren: ehelich 590, unehelich 289, zusammen
879. Todt geboren : ehelich 39, unehelich 20, zusammen 59. Gesammtzabl
der Todesfälle 607 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
19‘2 Todesfälle), darunter an Tuberculose 124, Blattern 0, Masern 18,
Scharlach 2, Diphtherie und Croup 9, Pertussis 2, Typhus abdominalis 1,
Typhus exanthematieus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 4, Neu¬
bildungen 35. Angezeigte lnfectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
127 (— 35), Maseru 151 — 88 Scharlach 42 ( — 1), Typhus abdominalis
4 ( — 5), Typbus exanthematieus 0 (=), Erysipel 31 ( — 11), Croup und
Diphtherie 49 (-{- 8), Pertussis 35 ( — 5), Dysenterie 0 (=), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 4 (-}- 1), Trachom 2 ( — 3), Influenza 0 (—)•
EINBANDDECKEN
in Leinwand mit Goldpressung zum XII. Jahrgang; (1899)
stehen den P. T. Abonnenten zum Preise von 2 Kronen,
bei directem Postbezüge von 2 Kronen 72 Heller zur
Verfügung. — Zu gleichen Bedingungen sind ferner noch
Einbanddecken zum VI. bis XI. Jahrgang (1893 — 1898) zu
haben. — Ich bitte um baldgefällige geschätzte Aufträge.
Hochachtungsvoll
WILHELM BRAUMÜLLER
k. u. k. Hof- und Universitätsbuchhändler.
Nr. e
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
146
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Oongressberichte.
INHALT:
Verein deutscher Aerzte in Prag. Sitzung- vom 20. und 27. October und Verhandlungen der Wiener dermatologischen Gesellschaft. Sitzung
3. November 1899. vom Januar 1900.
Wissenschaftliche Aerztegesellschaft in Innsbruck. Sitzung vom
18. November 1899.
Verein deutscher Aerzte in Prag.
Sitzung vom 20. October 1899.
Vorsitzender : Prof. Dr. Anton Wölfler.
Prof. Wölfler stellt eine Kranke vor, welche an einem
schweren Torticollis spasmodieus litt uud durch mehrere
operative Eingriffe geheilt wurde. Die Patientin litt an continuirlichen
Drehungen des Kopfes nach links und rückwärts. Die Resection des
rechten Nervus accessorius hatte ein nur unvollkommenes Resultat zur
Folge. Es wurde deshalb nach Noble Smith der linksseitige
Nervus cervicalis II und III resecirt, während anstatt der Resection
des tief gelegenen ersten Cervicalnerven die quere Dui chtrennung des
mächtigen M. obliquus inferior ausgeführt wurde. Der Erfolg war ein
vollkommener und bleibender; die Heilung besteht seit drei Jahren.
Wölfler bespricht hierauf an der Hand von Abbildungen
die Technik dieser Operation und ihre Resultate, die er mit der Re
section des N. accessorius und der queren Durchschneidung der
krampfenden Nackenmuskeln auf Grund der statistischen Erfahrungen
vergleicht.
*
Zweite Sitzung vom 27. October 1899.
Prof. v. Jaksch demonstrirt seine neueröffnete Klinik im
Kaiser Franz Josefs-Pavillon des Allgemeinen Krankenhauses.
*
Dritte Sitzung vom 3. November 1899.
Vorsitzender: Prof. Dr. A. Wölfler.
Dr. Schwarz demonstrirt zwei Fälle aus der I. medicinischen
Klinik, die beide durch hochgradige Veränderungen an den Gelenken
ausgezeichnet sind.
Im ersten Falle handelt es sich um eine Combination von an¬
geborenem, partiellem, symmetrischem Riesenwuchs e,
der die beiden Zeigefinger betrifft, mit Arthritis urica bei einer
60jährigen Patientin. Die erste Gelenksschwellung soll vor ungefähr
20 Jahren an einem der hypertrophischen und seit jeher ankylotischen
Zeigefinger aufgetreten sein. Gegenwärtig bestehen an mehreren Fingern
und Zehen typische Tophi, sowie mehrfache Uratablagerungen in
Sehnenscheiden und Schleimbeuteln. Die G a r r o d’sche Blutfadenprobe
ist positiv. Die Demonstration wird durch Röntgen-Bilder der beiden
Hände unterstützt, deren Einzelheiten der Vortragende näher
erläutert.
Der zweite Fall betrifft einen 62jährigen Tabiker mit be¬
trächtlichen Arthropathien beider Kniegelenke, einer Pseudarthrose nach
traumatischer Fractur des linken Oberschenkels, Atrophie der Mus-
culatur beider Unterschenkel mit Fehlen der elektrischen Erregbarkeit
ohne Entartungsreaction, beideiseitigemPes equinovarus und Subluxation
des linken Schultergelenkes.
In der anschliessenden Discussion hebt Prof. Chiari die Be¬
deutung der intraartieulären Sensibilitätsstörungen für die Genese der
Arthropathien hervor. Der Vortragende glaubt, für den vorliegenden
Fall auch trophische Störungen zur Erklärung heranziehen zu
müssen .
In der Pseudarthrose wenigstens ist die Sensibilität nicht er¬
loschen, daselbst bestehen Schmerzen bei Bewegungen. In den athro-
pathisch deformirten Kniegelenken sind auch passive Bewegungen in
Folge von Ankylosen so gut wie unausführbar, so dass man
über die intraarticuläre Sensibilität der Kniegelenke kein Urtheil ge¬
winnen kann.
Dr. P i f f 1 demonstrirt die Präparate eines Falles von Otitis
tuberculosa mit tumor artiger Protuberanz in die
Schädelhöhle. Bei der Section eines in der Irrenanstalt ge¬
storbenen 55jährigen Mannes (psychiatrische Diagnose : Paralys. progr.),
fand sich als Nebenbefund eine Erkrankung des linken Schläfenbeines,
die zu ausgebreiteter Zerstörung des Knochens im äusseren Gehörgang,
in der Paukenhöhle, an der Pyramide, am Warzenfortsatze und am
angrenzenden Hinterhauptbeine geführt hatte. Die Dura mater
war an der Innenseite der erkrankten Partien, be¬
sonders auf der oberen und hinteren Pyramiden¬
fläche kolossal verdickt.
Diese Verdickung war scharf umschrieben, höckerig, derb und
sah aus wie ein echtes Neoplasma, erwies sich aber histologisch
als Tuberculose. Die mikroskopische Untersuchung des
Labyrinths ergab pathologische Eröffnung desselben an vier
Stellen. Vorhof, Ampullen, Bogengänge und die unteren Schnecken¬
windungen waren erfüllt von tuberculösem Granulationsgewebe, das
häutige Labyrinth vollständig zerstört. Nur in der oberen Schnecken¬
windung war das Cortische Organ noch stellenweise erhalten.
Acusticus und Facialis waren bis vor ihren Eintritt in
den inneren Gehörgang tuberculös erkrankt. Die inneren Meningen
waren nirgends inficirt worden, der Tod war augenscheinlich durch
die ausgebreitete Lungen tuberculose eingetreteu.
Wissenschaftliche Aerztegesellschaft in Innsbruck.
Sitzung vom 18. November 1899.
Vorsitzender : Hofrath Prof. v. Villtscllgail.
Schriftführer : Dr. Lotheissen.
An der auf die heutige Sitzung verschobenen Discussion
über den von Prof. Ehrendorfer in der letzten
Sitzung demonstrirten Magentumor betheiligen sich Pro¬
fessor v. Hacker und Prof. Pommer.
Prof. v. Hacker spricht, Prof. Ehrendorfe r’s Aufforderung
folgend, über die nicht krebsigen Magenneubildungen
und die darüber vorliegenden chirurgischen Erfahrungen.
Er erinnert daran, dass er in der Sitzung vom 28. Januar 1898 ein
24jähriges Mädchen vorgestellt hat, bei dem er drei Wochen früher
die Magenresection wegen einer mit der vorderen Magenwand an der
kleinen Curvatur innig zusammenhängenden, fast mannskopfgrossen
ähnlichen Geschwulst ausgefühlt hat. Es war im Anfänge zweifelhaft
gewesen, ob der Tumor bereits als ein Myoma sarcomatosum oder
noch als ein Fibromyom zu bezeichnen sei. v. Hacker neigte der
Ansicht zu, dass es sich doch um eine rein hyperplastische Neubildung
handle, wofür auch der Verlauf spricht, indem bis jetzt (22 Monate
nach der Operation) keine Spur einer Recidive nachzuweisen sei. Die
Operirte befindet sieh vollkommen wohl, hat sich vor drei Wochen
verheiratet und wird während der Sitzung neuerdings vorgestellt.
In beiden Fällen handelt es sich um nichtcai cinomatöse Magen¬
neubildungen. Diese von den Bindesubstanzen oder der glatten Mus-
culatur der Magenwand ausgehenden Geschwülste bilden in klinischer
Beziehung meist einen ganz anderen Typus, als die carcinomatösen
Tumoren. Es handelt sich bei denselben, wenn sie zur Operation
kommen, in der Regel um bedeutend grössere Geschwulstbildungen
im Abdomen, deren Ausgangspunkt bei der klinischen Untersuchung
in der Regel zweifelhaft erscheint und häufig irrthümlich als im Netz,
Mesenterium, der Leber, der Niere, der Milz u. dgl. gelegen ange¬
nommen wurde.
In diesen Fällen sind nämlich entweder gar keine Magenbe¬
schwerden vorhanden, oder nur solche, die ebensogut durch eine auf
den Magen drückende, als von ihm ausgehende Geschwulst erklärt
werden können.
Diese Geschwülste, welche aus verschiedenen Wandpartien des
Magens sich entwickeln können, lassen, da die Ostien zu ihrer Ent¬
stehung in keiner ätiologischen Beziehung stehen, wie dies beim Carci-
nom der Fall ist, diese häufiger frei. Verbreitet sich ein solcher Tumor
jedoch von einem der Pylorusgegend nahen Wandtheil aus, so kann
es auch da zu einer Pylorusstenose und zu typischem Erbrechen etc.
kommen. Ilerhold hat über ein so gelagertes, mit Erfolg operirtes
Magenmyom berichtet, ferner wurde bei für Carcinom gehaltenen
Tumoren die Pylorusreseetion (Hahn) oder die Gastroenterostomie
(Bardeleben, Czerny) gemacht, wo sich nachträglich heraus¬
stellte, dass es sich um Sarkome gehandelt habe.
Bei primären Sarkomen, welche die Neigung haben, mehr die
Wände zu infiltriren, kommt es also öfters zu carcinomähnlichen
Tumoren.
Wenn die von den Bindesubstanzen oder der glatten Musculatur
ausgehenden Geschwülste sich also bisweilen klinisch wie die Carcinome
verhalten können, so ist es aber viel häufiger, dass diese rl umoren
nicht von der Pylorusgegend ausgehen, sondern meist von der Gegend
der kleinen oder der grossen Curvatur des Magens, namentlich von
der vorderen Wand desselben und als mehr weniger gestielte 1 umoren,
wenn man so sagen darf, in die freie Bauchhöhle wachsen. Diese
Geschwülste zeigen durch eine ödematöse Erweichung oder durch in
Folge- von Blutungen oder Erweichungen entstandene Cystenbildungen
öfters eine scheinbare oder wirkliche Fluctuation, weshalb sie üftois
für Echinococcen gehalten wurden.
HÖ
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Ni. 0
Mitunter ziehen diese Tumoren, wie dies bei Prof. Ehren-
dorfer’s Patientin der Fall war, den Magen bis ins kleine Becken
hinab. Diese Geschwülste sind nun entweder rein byperplastische, also
gutartige Neubildungen, Fibrome oder Myome, oder sie sind ursprüng¬
lich solche gewesen und haben sieh dann in Sarkome umgewandelt.
Interessant für uns ist, dass einzelne sehr grosse solche Magen-
gesohwiilste als reine Leiomyome beschrieben wurden (Peels,
Nee Isen, Erlach). Erlach hat beispielsweise November 1894
erfolgreich durch Abtragung ohne E> Öffnung des Magens ein in einer
Länge von 30 m mit der vorderen Magenwand an der kleinen Curvatur
in Verbindung stehendes, fast 51/2 leg wiegendes Leiomyom operirt. Die
Frau befand sich, als der Vortiagende sich zufällig März 1899 nach
ihr erkundigte, vollkommen wohl, nachdem sie 1897 zum 17. oder
18. Male entbunden halte.
Es können demnach gutartige Myome sehr giosse Tumoren
bilden. Ausser dem früher erwähnten Fall v. Hacker’s und dem
H e r h o 1 d’schen Fall operirte noch v. Eiseisberg ein Fibromyom
des Magens mit Erfolg; ein von Nicoladoni operirter und ein
von Rupprecht operirter Fall endeten letal.
Jedenfalls sind alle diese Tumoren gegenüber den Carcinomen
sehr selten. So finden sich unter den von Haberkant zusammen¬
gestellten 207 Resectionen wegen Neubildungen am Magen aus den
Jahren 1879 — 1894 nur drei Fälle von Sarkomen (Billroth,
v. Hacker, E. Hahn) und unter 298 Gastroenterostomien der
Jahre 1881 — 1894 nur die zwei bereits erwähnten wegen Sarkom ver¬
zeichnet. Für uns Kliniker ist es selbstverständli h von der grössten
Wichtigkeit, dass die pathologisch anatomische Untersuchung solcher
Geschwülste die Frage löst, wie sich aus der Genese und Zusammen
setzung derselben die Benignität oder die Malignität derselben erkennen
lässt. Ja bei den frei in die Bauchhöhle vorwachsenden Tumoren dieser
Art hängt von der bei der Operation gestellten Diagnose, ob reine
Hyperplasie oder Sarkom vorliege, die Behandlung ab. Im ersteren
Falle ist eine Ausschälung gestattet, im zweiten Fall muss die Magen¬
partie mit entfernt, also meist die Magenresection ausgeführt werden.
Nach ausgeführter Operation entscheidet die gestellte mikroskopische
Diagnose die Prognose.
Prof. Pommer theilt mit, dass er an Präparaten, die ihm
seinerzeit seitens der Aerzte der chirurgischen Klinik vorgelegt wurden,
und an einem zur Untersuchung überlassenen Stück der von Professor
v. Hacker exstirpirten Geschwulst die Diagnose auf Myxom ge¬
stellt habe.
Es sei begreiflicher Weise nicht ausgeschlossen, dass in anderen
Gebieten des grossen Tumors derselbe vielleicht ein anderes histo¬
logisches Bild darbiete, ja vielleicht als eine Mischgeschwulst sich
erweise.
Hinsichtlich der angeregten Frage der Bösartigkeit oder Gut¬
artigkeit der Geschwulst kommt ganz besonders viel darauf an, welche
Stellen zur Untersuchung gewählt werden, und es ist in dieser Be¬
ziehung immer daraufhin zu untersuchen, ob der Nachweis eines peri¬
pherischen, discontinuir.lichen Wachsthums erbracht werden könne
oder nicht.
Unter Berücksichtigung dieses Grundsatzes wählte Pommer
von der ihm durch Prof. Ehrendorfer zur Untersuchung über¬
lassenen Geschwulst vor Allem jene Gebiete zur Untersuchung, die
höckerige und knollige Vorwölbungen bilden und in die das Netz ein¬
gesenkt erscheint.
Die von diesen Stellen gewonnenen Bilder ergaben, dass es sich
bei dieser Geschwulst um ein Sarkom, und zwar um ein F i b r o-
sarkom handelt, dessen Zellen theils zu spindeliger, theils zu drei¬
ästiger Gestaltung neigen und welches dabei in den tieferen Gebieten
theils eine sehr reichliche Entwicklung dichten zellenarmen Binde¬
gewebes, theils ausgedehnte hämorrhagische Veränderungen zeigt.
Prof. v. Hacker stellt hierauf noch zwei Kranke seiner Klinik
vor, welche wegen Magencareinom erfolgreich operirt worden waren.
1. Eine 51jährige Frau, bei welcher die Gastroenteros-
t o m i a retrocolica posterior mit dem Murphy-Knopf
ausgeführt wurde.
Es handelte sich um einen apfelgrossen, derbhöckerigen Tumor
der Pylorusgegend mit typischen Stenosenerscheinungen ; der Tumor
zeigte Verwachsungen nach hinten mit dem Pankreas, auch waren
zahlreiche Drüsenmetastasen vorhanden.
Es wurde deshalb keine Resection mehr ausgeführt, sondern die
Gastroenterostomie, wozu v. Hacker hier, wie immer, die aller¬
oberste Partie der meist schon selbst dem Magen anliegenden Anfangs¬
schlinge des Jejunums verwendete. Der Knopf ging am 19. Tage mit
dem Stuhle ab. In einer exstirpirten Drüse wurde scirrhöses Carcinom
nachgewiesen. Die Kranke hat seit der am 6. October ausgeführten
Operation ihre Beschwerden verloren, fühlt sich gesund und verträgt
gewöhnliche, nicht zu schwere Nahrung.
2. Eine 32jährige Frau, bei welcher die Magenresection
n a c h der z w eiten Billrot h’s che» Methode (Resection
combinirt mit Gastroenterostomie) am 12. October ausgeführt wurde.
Schmerzen, eonstantes Erbrechen nach der Mahlzeit, starke Ab
magerung bewogen die Patientin, an die Klinik zu kommen. Es wurde
starke Gastrektasie, sowie eine undeutliche walzenförmige Resistenz
oberhalb des Nabels nachgewiesen, ein Tumor war nicht deutlich
fühlbar gewesen. Die Pylorusgegend zeigte sich bei der Operation
durch einen harten höckerigen Tumor eingenommen, die Infiltration
an der vorderen Wand bis an die Serosa reichend, hier zu einer nabel¬
förmigen Einziehung führend. Der Tumor sehr beweglich, dagegen
Drüsen längs der kleinen Curvatur bis zur Cardia, mehrere auch
im Ligamentum gastro-eolicum und an der grossen Curvatur dicht
am Tumor.
Dennoch wurde die technisch verlockende Resection noch aus¬
geführt, da es ja, selbst wenn die Kranke nicht radical geheilt werden
sollte, für ihr weiteres Wohlbefinden von Vortheil erschien, das viel¬
leicht schon exulcerirte oder bald exulcerii ende Carcinom aus dem
Magen zu entfernen. Es wurde zuerst die Gastroenterostomie mit dem
Murphy- Knopf an einer dem Fundus möglichst nahen Partie der
hinteren Magenwand ausgeführt, dann die Resection und alle genannten
Drüsen entfernt, wobei an der kleinen Curvatur bis an die Cardia
weit über die Grenzen des Carcinoms vorgedrungen wurde. Duodenum
und Magen wurden an den Abtrennungsstellen umstülpt und für sich
vernäht. Die T h u m i m’sche Hebelklemme, die sich kürzlich bei
einer Darmresection zur Abquetschung gut bewährt hatte, zeigte sich,
am Magen angewendet, nicht so praktisch, indem, trotzdem der Magen
in der Druckfurche mit starker Seide abgebunden und 1 cm davon
entfernt abgeschnitten worden war, die Wände auseinandergingen, so
dass vor der Einstülpung eine Koche r’sche Naht, alle Schichten
durchdringend, angelegt werden musste.
v. Hacker führt in solchen Fällen immer zuerst die Gastro¬
enterostomie aus, da bei dem auftretenden Collaps die Operation damit
nöthigenfalls abgeschlossen werden könnte. Ferner hält er es auch
nicht für zweckmässig, nach Mikulicz das Jejunum gleich in den
untersten Winkel der Magenabtrennungswunde einzunähen, wegen der
Möglichkeit der Undichtigkeit der Nähte am Zusammenstoss der Occlu¬
sions- und Ringnähte.
Die Heilung erfolgte reactionslos. Der Tumor erwies sich als
scirrhöses Carcinom. Interessant ist, dass in der grössten Drüse von
der kleinen Curvatur keine carcinomatöse Infiltration nachgewiesen
wurde. Jetzt nach 28 Tagen befindet sich die Kranke auch bei ge¬
mischter Nahrung ohne jegliche Beschwerden, der Knopf ist jedoch
noch nicht abgegangen und am Röntgen-Bilde deutlich zu sehen. Es
werden noch Durchleuchtungen in verschiedenen Stellungen vorge-
nommen werden, um zu entscheiden, ob der Knopf noch an Ort und
Stelle, oder ob er in den Magen gefallen sei.
v. Hacker hat bisher achtmal bei der einfachen Gastro¬
enterostomie und zweimal bei der Combination derselben mit der Re¬
section den Murphy- Knopf ohne Schaden angewandt. In einem der
Fälle, der vorgestellt worden war, musste der Knopf allerdings nach¬
träglich durch die Gastrotomie entfernt werden, da der Knopf ent¬
weder nicht fest genug zusammengepresst worden war, oder nach-
gegeben hatte.
v. Hacker berichtet hierauf noch kurz über die G e s a m m t-
resultate der wegen Magenerkrankungen an der
Innsbrucker Klinik, seit er dieselbe leitet, ausgefiih r t e n
Magenoperationen, abgesehen von den Gastrosto¬
mien. Es sind 24 Fälle mit 7 Todesfällen = 25°/0. Drei typische
Resectionen (2 bei Carcinom, 1 bei Fibromyom) alle geheilt.
Auch fünf von ihm früher in Wien ausgeführte Resectionen
kamen zur Heilung.
Dreimal wurde wegen Carcinom die Resection mit der Gastro¬
enterostomie combinirt, darunter ein Todesfall = 3 3 1 a°/o- Gastro¬
enterostomien (9 wegen Carcinom, davon 3 gestorben = 33V3 %,
8 wegen Ulcusnarben, davon 2 gestorben = 25"/0) i m Ganzen 17 mit
5 Todesfällen = 29-4
In Wien hatte v. Hacker vorher G Gastroenterostomien bei
Ulcusnarben mit einem Todesfall ausgeführt = 1 6*6°/i> ; die Gesammt-
morfalität dabei (14 mit 3 Exitus) beträgt also 2P4%.
Ferner ist noch eine Gastrotomie und eine Gastroanastomose
bei Sanduhrmagen mit operativem Erfolge zu nennen.
Dr. Plattner stellt eine 52jährige Person vor, welche
wegen eines Bauch tumors an die chirurgische Klinik
kam und bei näherer Untersuchung hermaphroditische Ge¬
schlechtsverhältnisse zeigte.
Nach ihren Angaben war sie in ihrer Jugend als Mädchen er¬
zogen worden und stand dann bis zum 26. Lebensjahre bei ver¬
schiedenen Dienstgebern als Taglöhnerin in Arbeit. Mit 2G Jahren
zog sie zu ihrer verheirateten Schwester und verrichtete dort als Magd
alle schweren Hausarbeiten.
Seit einem Jahre leidet sie an einer Nierenentzündung mit
Oedemen der Beine.
Bezüglich ihres Geschlechtslebens gibt die Person an, sie habe
mehr Neigung zu den Mädchen, habe aber in der Erkenntniss ihrer
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT, 1900,
147
abnormen Geschlechtsverhältnisse niemals sexuelle Annäherung gesucht |
oder intimeren Umgang gepflegt. In Gesellschaft von Mädchen sei ihr
zuweilen das „Glied steif geworden“ und eine weissliche, zähe,
schleimige Flüssigkeit aus den Geschlechtstheilen ausgetreten. Men¬
struation oder substituirende periodisch wiederkehrende Beschwerden
habe sie niemals gehabt.
Die somatische Untersuchung ergibt: Hochgewachsene Person
mit männlichem Habitus; Gesicht mit scharfgeschnittenen Zügen eines
Mannes, Kinn und Backen behaart. Haupthaar nach rückwärts in
einen schmächtigen, 25 cm langen Zopf geflochten, Scheitel schütter
behaart. Kehlkopf prominent, Stimme männlich tief. Thorax kräftig
gebaut, von den Schlüsselbeinen bis zu den Rippenbogen behaart;
Brüste klein, ohne fühlbare Drüsensubstanz. Beckenmasse männlich,
Schamhaare bis zum Nabel.
ln den äusseren Geschlechtstheilen zeigt sich ein 0 cm langer
hypospadischer Penis mit wohlgebildeter Glans und entsprechendem
Präputium. Die beiden labienartigen, dunkel pigmentirten Geschlechts¬
falten legen sich nach Aid eines Scrotums zusammen und gehen an
ihrer Medialseite mit einer glatten Fläche in die 7 cm lange Urethral-
rinne über. Diese reicht von der Spitze der Glans bis zum Orificium
urethrae, unter welchen ein circa 10 mm weiter Introitus' vaginae mit
kreisförmigem Hymen sich befindet. Durch Sondirung lässt sich eine
(5 cm lange, anscheinend circa 2 cm breite Vagina feststellen. In den
Geschlechtsfalten ist kein hodenartiges Organ zu tasten.
Die Extremitäten männlich knorrig, die unteren beträchtlich
ödematös. Durch Percussion und Palpation Hess sich ein in der rechten
Fossa iliaca aufsitzender, kopfgrosser, wenig beweglicher Tumor nach-
weisen, der im Allgemeinen solid erschien, au seiner oberen Kuppe
aber den Eindruck theilweher Fluctuation machte. Per rectum ist auf
Fingerlänge nach vorne oben ein rundliches, etwa 1 ’/2 cm dickes,
derberes Gebilde zu tasten, das der Portio uteri entsprechen dürfte;
ein prostataartiges Organ konnte nicht gefunden werden.
Verbreiterung der Herzdämpfung, abnorm gespannter Radial¬
puls; Harn enthält 3 */2°/oo Albumin.
Die Diagnose lautete daher auf chronische Nephritis, malignen
Bauchtumor, mit grösster Wahrscheinlichkeit ausgehend von der rechts¬
seitigen Geschlechtsdrüse.
Bei der am 24. August von Dr. Stur m ausgeführten Lapa¬
rotomie war die Narkose wiederholt durch bedenkliche Herzschwäche
unterbrochen. Eröffnung der Bauchdecken vom Nabel bis gegen die
Symphyse. Nach Lösung einiger vorderer peritonealer Adhäsionen
wurde der Tumor mühsam aus dem kleinen Becken herausgehebelt.
Unterbindung und Durchtrennung des nunmehr zugänglichen, G cm
langen, dünnen Stieles. Nach Entfernung des Tumors sah man im
Becken einen wohlgebildeten Uterus, von dem nach beiden Seiten ein
breites Mutterband, nach links auch eine Tube mit normal entwickeltem
abdominalem Ende ausging. Unter diesem lag ein ovales, flaches, 2 cm
langes, ovarienähnliches Organ, das au seiner Oberfläche mehrfache
leichte Unebenheiten zeigte. Weder rechts noch links konnte ein hoden¬
artiges Gebilde gefunden werden.
Leider musste, als man eben daranging, die bei dem vorgerückten
Alter der Person ohne Nachtheile entbehrliche, für die Geschlechts¬
diagnose aber entscheidende linke Keimdrüse zu exstirpiren, dies Vor¬
haben wegen bedenklichen Herzcollapses aufgegeben und durch eiligen
Verschluss des Abdomens und weitere Massnahmen einem letalen Aus¬
gange der Operation vorgebaut werden.
Der exstirpirte Tumor erweist sich mikroskopisch als Rund¬
zellensarkom. An seiner Hinterfläche, fest mit dor Kapsel verwachsen,
liegt die rechte Tube mit ihrem abdominalen Ende nach oben ge¬
schlagen, hart daran ein bohnenförmiges Gebilde, das nach einer flüch¬
tigen mikroskopischen Untersuchung vielleicht als Parovarium anzu¬
sprechen wäre, und auf weiblichen Geschlechtscharakter des Individuums
hindeuten würde.
Selbstverständlich wird es weiterhin nöthig sein, den Tumor aufs
Genaueste in seinen verschiedenen Theilen mikroskopisch zu unter¬
suchen; denn nur so wird es, wenn überhaupt, möglich sein, Anhalts¬
punkte zu linden, ob die in den Tumor vielleicht vollständig aufge¬
gangene Geschlechtsdrüse weiblich oder männlich gewesen ist.
Die Person ist nunmehr von ihrer Bauchgeschwulst und dem
operativen Eingriffe geheilt und drängt, nach Hause entlassen zu
werden. Jedenfalls ist es geboten, den Fall auch weiterhin im Auge
zu behalten und wird eine officielle Veröffentlichung erst dann
erfolgen, wenn die Untersuchung zu endgiltigen Ergebnissen geführt hat.
Discussion: Prof. Ehrendorfer: Es ist Ihnen bekannt,
dass ein einwandsfrei erwiesener Fall von wirklichem Hermaphrcditismus
beim Menschen nicht existirt. Auch beim sogenannten Pseudoherma¬
phroditismus konnte bisher meist nur das einfache Geschlecht und in
der weitaus grössten Zahl der Fälle das männliche Geschlecht fest¬
gestellt werden. Interessant ist es beim biehergehörigen, eben vor¬
gestellten Falle, den ich zum ersten Male sehe, dass durch die
Laparotomie, die wegen einer Bauchgeschwulst unternommen wurde,
der Nachweis eines gut gebildeten Uterus und von Tuben geliefert
weiden konnte, und dass eine Geschwulst entfernt wurde, welche einer
der kranken Keimdrüsen entsprach. Schade, dass die Wegnahme der
zweiten, anscheinend gesunden Keimdrüse, wie wir von Dr. Plat tu er
hörten, unterbleiben musste, da an dieser wohl mit Entschiedenheit
hätte erkannt werden können, ob es ein Hode oder ein Eierstock ist,
somit ob die vorgestellte Person als Mann oder als Weib zu betrachten
sei. Die Vermuthung des Vortragenden, dass es sich um einen weib¬
lichen Scheinzwitter in diesem Falle handle, kann ich nicht theilen.
Abgesehen davon, dass der ganze Habitus des Individuums, als Bart¬
wuchs, Mangel der Brüste, Behaarung des Thorax und der Schenkel,
sowie auch die Stimme, den Gesammteindruck einer eher männlichen
Person macht, findet man, dass das äussere Genitale die gewöhnlichen
Merkmale eines männlichen Hypospadiacus an sich tiägt. Der penis¬
artig aussehende lange Geschlechtshöcker mit so deutlich ausgebildeter
Glans, die deutliche Corona glandis, das weit zurückstreifbare, gut
entwickelte Präputium — neben der Angabe des Vortragenden, dass
das Individuum niemals menstruirt worden sei, wohl aber dass laut
Anamnese bei sexueller Erregung eine trübliehe Flüssigkeit aus dem
Genitale sich abgesondert haben soll — sprechen eher für das männliche
Geschlecht. Daran ändert nichts das Voihandensein gut entwickelter
M ü 1 1 e r’scher Gänge, also einer Scheide, des Uterus und der Tuben.
Die entfernte Geschwulst sieht eher einem vergrösserten Hoden
mit dem in einen Tumor verwandelten Nebenhoden, als einer Ovarial-
Geschwulst, ähnlich, was eine genaue Untersuchung des Tumors viel¬
leicht klarlegen dürfte. Das zweite, in der Bauchhöhle zurück gelassene
Gebilde konnte ebenso ein Hoden, wie der Eierstock gewesen sein. Es
ist nichts darüber gesagt worden, ob etwas von einer Prostata per
rectum gefühlt worden wäre, ob ein Blindsack an der hinteren Wand
der Harnröhre gefunden worden, der nach neueren Autoren einen
weiteren Annahmegrund für das männliche Geschlecht gebildet hätte.
Wenn auch derartige Fälle an der lebenden Person mit ent¬
sprechender Vorsicht endgiltig zu beurtheilen sind und weder der Vor¬
tragende noch auch ich einen untrüglichen Beweis für das Geschlecht
des vorgestellten Individuums vorläufig erbringen können, so hat es
doch auf der Basis des Gesammtbefundes und unserer Erfahrungen
eine wesentliche praktische Bedeutung, sich im speciellen Falle hin¬
sichtlich des Geschlechtes zu entscheiden. Hier scheinen mir die vor¬
handenen Zeichen zu genügen, um auf Grund derselben und der
sonstigen Ergebnisse der darüber angestellten Untersuchungen anzu¬
nehmen, dass in diesem Falle Alles eher für ein männliches als für
ein weibliches Individuum spricht.
Prof. Rille erkundigt sich nach dem Vorhandensein von
B a r t h o 1 i n’schen Drüsen, beziehungsweise deren Mündungen.
Bei der gleich darauf untersuchten Person finden sich keine
Spuren von Nymphen, ebenso auch keine Andeutung von B a r t h o 1 i ri¬
schen Drüsen vor, dagegen konnte bei der Betastung der schamlippen¬
artigen, äusseren Hautwülste eine deutliche, durch Muskelcontraction
bedingte Schrägfaltung an ihrer Oberfläche, die eine Aehnlichkeit mit
gleichen Erscheinungen an einer Tunica dartos unverkennbar trug,
constatirt werden.
Prof. Rille demonstrirt einen 27jährigen Kranken mit
Lupus vulgaris in nicht gewöhnlicher Ausdehnung.
Die Krankheit soll bereits im ersten Lebensjahre am rechten Unter¬
schenkel, linken Ober- und rechten Vorderarme begonnen haben, im
Alter von acht Jahren trat die Affection der Ohrmuschel und die. der
anderen Körperstellen hinzu. Er machte auch antiluetische Curen durch
und befand sich 1S85 an der hiesigen dermatologischen Klinik, ans
welcher Zeit zwei vom Vortragenden vorgewiesene photographische
Aufnahmen stammen, die mehr als ein Drittel des linken Oberarmes
und rechten Unterschenkels von einem typischen, diffus verbreiteten
Lupusinfiltrat (Lupus exfoliativus) eingenommen zeigen. Im Jahre 1891
stand er in Wörishofen in Behandlung und soll angeblich fast
völlig genesen sein. Gegenwärtig sind das Gesicht sowie beide
Ober- und Unterextremitäten in ausgedehntem Masse befallen. Die
rechte Gesichtshälfte, zumal die Parotisgegend gleichwie die Ohr¬
muschel, sind in weitem Umkreise Sitz eines einzigen Herdes von
braunrolher Farbe, der am Kieferwinkel auch auf den Hals übergreift; die
Randpartien sind aufgeworfen und mit einem breiten, höckerigen
Krustensaume versehen, unter welchem das Gewebe geschwiirig zer¬
fallen ist. Die centralen Tlieile dieses Plaque sind diffus narbig, glatt
und enthalten vielfache Lupusknötchen eingesprengt. Die Ohrmuschel
ist in toto bis in den äusseren Gehörgang hinein befallen, die Ilaut-
bedeckung derselben in eine gespannte, glänzende, stark verdünnte
Narbe verwandelt, welche allenthalben den beträchtlich rareficirten Knorpel
durchschimmern lässt und von lupösen Infiltraten durchsetzt ist. Ein
zweiter grosser Herd zieht vom linken Sternoclaviculargelenk über die
Schulter und den Oberarm, bis unterhalb des Ellbogens; drei Viertel
desselben bestehen aus eine)1 diffusen, hellweissen, gerunzelten Narbe,
welche von Knötchen und Knoten in grösserer Zahl durchzogen ist, an
der Peripherie ein fingerbreites Infiltrat, das serpiginüs weiterschreitet.
Die gleiche Serpiginosität zeigt gemäss dem Charakter des Ex¬
tremitätenlupus ein weiterer Krankheitsherd, welcher den rechten
148
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 6
Vorderarm gut zur Hälfte einnimmt und ein vierter besonders grosser,
der vom unteren Drittel des rechten Oberschenkels bis auf den Fuss-
riicken reicht und die ganze Circumferenz der Extremität betrifft ;
namentlich dieser letztere ist durch ganz excessive Krustenbildung
ausgezeichnet. In der Gegend des Sprunggelenkes beginnende elephan-
tiastische Verdickung, ferner zeigen die nächststehenden Lupusherde
papilläre Wucherungen und drüsig- warzige Excrescenzeu (Lupus
verrucosus s. papillaris hypertrophicus).
Die operative Behandlung mittelst totaler Exstirpation und
nachfolgender T h i e r s c h’scher Transplantation stösst jedenfalls auf
Schwierigkeiten wegen der besonderen Ausdehnung der Krankheits¬
erscheinungen; im Gesichte, wo sie am ehesten auszuführen wäre, ist
sie erschwert durch den Befund am Ohre.
Dr. v. Wunsch he im demonstrirt eine kleine Sammlung
von Schutzbrillen, welche längere Zeit in den Eisen- und Stahl¬
werken von Böhler (Wien) in Verwendung standen. Die mit bei
der Arbeit abgeschleuderten Eisensplitterchen übersäeten Brillengläser
beweisen mehr als theoretische Auseinandersetzungen den hohen Werth,
welchen das Tragen von Schutzbrillen bei diesem Arbeitsbetriebe besitzt.
Prof. Lode beginnt seinen Vortrag „Ueber die Ausschei¬
dung der Kohlensäure bei wiederholten kalten
Bädern“, unterbricht ihn aber wegen vorgerückter Stunde.
Verhandlungen der Wiener dermatologischen Gesellschaft«
Sitzung vom Januar 1900.
Vorsitzender : Kaposi.
Schriftführer: Kreibich.
Ehr mann demonstrirt einen Fall von Leukoderma bei einem
Lastträger und verweist auf die Beziehungen des Sonnenlichtes auf Pig-
mentationen des Körpers und auf Entstehung des Leukoderma. Neumann
hat Aelmliches gesehen bei Frauen, die gefelderte Spitzenkleider tragen.
Kaposi gesteht den Einfluss der Sonnenstrahlen auf die Pigment¬
bildung im Allgemeinen, negirt jedoch dieselbe für das Zustandekommen
der Leukodermatlecke und bringt als Beweis dafür das häufige Auf¬
treten der Vitiligo bei dunkel pigmentirten Personen und den Pigment¬
verlust in der Umgebung von Naevis.
Ehr mann meint jedoch, dass trotzdem die Belichtung bei der
Pigmentvertheilung eine Rolle spiele, darauf hinweisend, dass der Stand
der Pigmentgrenze am Halse ein verschiedener ist bei Männern und
bei Frauen. Neumann hebt nochmals den Einfluss äusserer Reize,
sowie anderer Umstände (maculöses oder papulöses Syphilid) hervor.
Spiegier stellt vor eine 24jährige Patientin aus dem Franz
Josefs-Ambulatorium mit Elephantiasis teleangiectodes (Virchow),
sich präsentirend als kindsfaustgrosser, teigig infiltrirter, von Teleangie-
ektasien durchzogener Herd. Kaposi ist der Ansicht, dass es sich hier
wegen Mangel von grossen Gefässen, die Virchow als charakteristisch
hervorgehoben hat, um eine Elephantiasis congenita molusciformis handelt.
Nobel demonstrirt einen Fall von Gummabildung am harten
Gaumen mit eariöser Zerstörung des rechten Alveolarfortsatzes bei einem
24jährigen Patienten, der vor etwa fünf Jahren mit Ueberstreichungen
behandelt, späterhin keine Erscheinungen zeigte, bis vor drei Monaten
genannte Ulceration aus einem kleinen Knötchen sich entwickelte.
Neumann demonstrirt: 1. Einen Fall von gruppirten Gummata
cutanea bei einem 33jährigen Schlosser, dessen Infection seit 1888
datirt. Localisation am Unterschenkel, Oberschenkel, Vorderarm, sowie
Crena ani. 2. Einen 37jährigen Kranken mit Syphilis maligna praecox,
der im vorigen Jahre Syphilis aquirirte, 40 Einreibungen machte und
gegenwärtig luetische Geschwüre in der Scapulargegend, am Rücken
und an den Vorderarmen von verschiedener Grösse aufweist. 3. Einen
47jährigen Kranken mit einem serpiginösen Syphilid am Scrotum, das
auf 20 Jahre zurück datirt. Nebstdem zeigt derselbe Psoriasis mucosae
oris. 4. Einen 22jährigen Kranken mit einer frischen Eruption von
Psoriasis vulgaris. 5. Ein maculösesCopaivexanthem bei einem
mit acuter Urethritis behafteten 32jährigen Individuum. 0. Liehen
ruber planus universalis, der nach 74 lujectionen von Natrium caco-
dylicum rückgebildet erscheint. 7. Ein 27jähriges Mädchen mit extra¬
genitaler Sklerose am Zahnfleisch und einem maculo-papulösen
Syphilid. Schwellung der Submentaldrüsen. 8. Ein ulceröses Früh¬
syphilid im Gesichte bei einem 22jährigen Kranken, der vor drei
Monaten sich inficirt hatte. 9. Ein papulöses Syphilid bei einer
20jährigen Näherin. Universelle Ausbreitung. 10. Ein lOjähriges Kind
mit einem Lupus vulgaris. 11. Lupus erythematodes an der
Nasenspitze eines 1 ljährigen Mädchens. 12. Ein 25jähriges Dienstmädchen
mit Lupus vulgaris des Gesichtes, des harten und weichen Gaumens,
des Zahnfleisches, sowie scrophulösen Narben am Unterkiefer. 13. Ein
serpiginöses Syphilid am rechten grossen Labium, das bis zur
Clitoris ausgebreitet erscheint und bis jetzt unbehandelt blieb.
Matzen au er demonstrirt aus der Klinik Neumann:
1. Einen öljährigen Mann mit einem gangränösen Geschwür
an der Glans penis, das den Penisschwellkörper und das Vorhaut¬
blatt zum Theile ergriffen hat. Matzeuauer verweist auf den Unter¬
schied dieser durch die centrale Nekrose steil abfallenden Ränder,
sowie das Vorhandensein entzündlicher Erscheinungen in der Umgebung
charakterisirter primärer, gangränöser Geschwüre von cyklisch ver¬
laufendem Ulcus venereum, zu dem ebenso wie zur Sklerose secundäre
Gangrän sich hinzugesellen kann. Matzeuauer weist hin auf das
rapide Fortschreiten dieser Geschwürsart, ihre Aebnlichkeit mit der
Gangraena nosocomialis, ihr rasches Abheilen unter antiseptischen Cau-
telen. Auch hat Matzeuauer in neun von ihm auf der Klinik Neu¬
mann beobachteten Fällen sowohl im Secrete, als auch im noch ent¬
zündeten Gewebe eine ganz bestimmte Bacillenart vorwiegend vor¬
gefunden. Matzeuauer demonstrirt dieselben. Ehrmann bestätigt
Matzenauer’s Befunde und will pustulöse Exantheme nach gan¬
gränösen Geschwüren gesehen haben. Finger erinnert an ähnliche
Befunde, die in der Literatur niedergelegt sind.
2. Fall von P a g e t’s disease in Form eines flachhandgrossen
nässenden Geschwüres um die rechte Mamilla, welch letztere selbst
knotig-erhaben in die Wundfläche aufgegangen erscheint. Im Mamma¬
gewebe selbst ein nussgrosser Knollen tastbar. Axilla frei.
Matzeuauer erinnert an das Krankheitsbild und weist auf
die Differentialdiagnose zwischen demselben einerseits und Ekzem,
Gumma und Ulcus rodens andererseits.
Kaposi meint, dass ein als irrthümlich erkannter Krankeits-
begritf nicht weiter fortzuführen sei und obige Krankheit als ein ein¬
faches chronisches Ekzem aufzufassen sei, bei dem ebenfalls die Mamilla
knotig erhaben sein kann.
Neumann theilt ebenfalls Kaposi’s Ansicht.
3. Einen 17jährigeu Kranken mit Röntgen -Dermatitis
nach Behandlung eines Gesichtslupus.
Loewenbach demonstrirt einen Fall von Sycosis para¬
sitaria (Granulome), bei dem es ihm leicht gelungen, Trochopbyton-
pilze zu züchten. (Demonstration derselben.)
Kaposi stellt vor: 1. Lues ulcerosa bei einer 49jährigen
Frau in Form eines handbreit über dem Kniegelenke localisirten, thaler-
grossen Geschwüres, das eine Tiefe von 10 cm aufweist und eine 1/% cm
breite Inflltrationszone erkennen lässt. 2. Pemphigus vulgaris
serpiginosus bei einer 47jährigen Frau, die drei Monate bereits
leidet, vor drei Wochen in gebessertem Zustande die Anstalt verlassen
hat und gegenwärtig hauptsächlich an beiden Vorderarmen, Vorder- und
Unterschenkel kleine, in serpiginösen Kreisen angeordnete, theils von
hellen, theils eiterigem Inhalte gefüllte Bläschen zeigt. Die Centren der
Kreise und Halbkreise weisen fleckenartige Pigmentationen auf. 3. Ein
Fall von Varicellen bei einem 26jährigen Bäcker von universeller
Ausbreitung. Da die einzelnen Efflorescenzen deutlich centrale Nekrose
zeigen ohne besondere entzündliche Erscheinungen, so sehen viele der
Efflorescenzen der Acne necroticans ähnlich. 4. Pemphigus f o 1 i a-
ceus bei einer 50jährigen Patientin von sechswöchentlicher Dauer und
wesentlicher Localisation im Gesichte, Halse, Thorax. Wirkliche Blasen
sind nur sehr spärlich im Gesichte und am Thorax vorhanden. 5. Sklero¬
dermie bei einer 53jährigen Patientin — von einjähriger Dauer. Der
ganze Oberkörper der Patientin, und zwar sowohl Thorax als Rücken
von diffusen, unregelmässig begrenzten, theils pigmentirten, theils aber
hell glänzenden, deutliche Arrophie zeigenden Herden eingenommen,
zwischen diesen solche mit verdickter turgescirender Haut. Analoge
Herde in Form von breiten Streifen an der rechten Tibia sichtbar. Die
Haut der letzteren fest dem Knochen anliegend. Die Haut der Vorder¬
arme mehr das Bild einer Atrophia cutis idiop. zeigend.
Programm
der am
Freitag, den 9. Februar 1900, 7 Uhr Abends,
unter dem Vorsitze des Herrn Ilofrathes Chrobak
stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1 . Administrative Sitzung.
1. Rechenschaftsbericht des Vermögensverwalters pro 1899.
2. Genehmigung des Präliminares pro 1900.
2. Wissenschaftliche Sitzung.
1. Docent Dr. K. Herzfeld: Beitrag zur Lehre von der Enteroptose.
2. Docent Dr. Max Herz: Die heilgymnastische Behandlung von
Erkrankungen des Centralnervensystems.
Vorträge haben angemeldet die Herren: Docent Dr. Kretz, Professor
A. Politzer, Prof. Benedikt, Prof. Weinlechner, Dr. J. Thenen,
Dr. A. Pilcz, Dr. R. Oller, Hofrath Prof. Schnabel, Oberstabsarzt Docent
Dr. Habart und Dr. A. Julies. Bergmeister. Pal tauf.
Wiener medicinisehes Doctoren-Collegium.
Programm
der am
Montag, den 12. Februar 1900, 7 Uhr Abends.
im Sitzungssaale des Collegiums: I., Kothenthurmstrasse 2123
unter dem Vorsitze des Herrn Hofrathes Prof. v. Redet*
statt findenden
Wissenschaftlichen Versammlung.
Docent Dr. Otto Zuckerkaildl : Verdauungsstörungen bei chronischer
Harnverhaltung.
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumiiller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, Jos. Gruber,
M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann,
R. Paltauf, Adam Politzer, F. Sehauta, J. Schnabel, G. Toldt, A. v. Vogl,
J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl G-ussenbauer, Ernst Ludwig, Edmund Nensser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Äerzte in Wien.
Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof» und Universitäts-Buchhändler, VII 1/1, Wickenburggasse 13.
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Die „Wiener klinische
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erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von minde¬
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tion sind zu richten an
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Telephon Nr. 3373.
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zweigespaltene Nonpareille-
i zeile berechnet. Grössere
Aufträge nach Ueberein-
kommen.
® - -
Verlagshandlung :
Telephon Nr. 6094.
XIII. Jahrgang. Wien, 15. Februar 1900.
Hr. 7.
X 1ST HEU -A. I_i T :
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel : 1. Ueber Maltafieber. Von Dr. Alfred Brunner,
Triest.
2. Aus der II. medicinischen Klinik des Herrn Hofrathes Prof. Dr.
E. Ne u s B e r in Wien. Beitrag- zur Kliuik der Land r y ’sehen
Paralyse mit besonderer Berücksichtigung- ihrer Bacteriologie und
Histologie. Von Dr. Julius Kapper, k. und k. Regimentsarzt.
3. Aus dem Ambulatorium für Nasen- und Halskrankheiten des Prof.
Dr. O. Chi a r i an der Wiener Allgemeinen Poliklinik. Ueber
Speichelsteinbildung. Von Dr. Friedrich Hanszel, Assistent.
4. Zur Krankenhausfrage. Von A. F.
II. Referate: I. Insufficienz (Schwäche) des Herzens. Von Prof. Dr. Th.
v. J ü r g e n s e n, II. Erkrankungen der Gefässe. Von Prof. L.
v. Schrötter. Referent II e r z. — Lehrbuch der diätetischen
Therapie chronischer Krankheiten für Aerzte und Studirende. Von
Docent Dr. R. K o 1 i s c h. Referent E. Schütz. — Technik und
Verwerthung der R ö n t g e n’schen Strahlen im Dienste der ärzt¬
lichen Praxis und V\ issenschaft. Von Dr. O. Büttner und
Dr. K. Mülle r. Referent Kienböck.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Notizen.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
lieber Maltafieber.
Von Dr. Alfred Brunner, Triest. *)
Im September des Jahres 1897 machte mich Professor
A. E. Wright gelegentlich eines Besuches seines pathologi¬
schen Laboratoriums und. des Marinespitales in Netley, auf
die Möglichkeit aufmerksam, in unseren Gegenden Fälle von
Maltafieber anzutreffen. Seit jener Zeit suchte ich nun ver¬
gebens in Triest nach dieser Krankheit ; trotz des so grossen
Materials unseres Civilspitals (wir hatten im Jahre 1899 z. B.
eine Aufnahme von 13.850 Kranken) und obwohl viele Pa¬
tienten aus Istrien, Dalmatien, Albanien und anderen Küsten¬
ländern des Adriatischen und Mittelländischen Meeres zugereist
kamen, war es mir nicht möglich, einen einzigen Fall aufzu¬
finden. Wohl hatte, als Erster in Oesterreich, Privatdocent
Dr. Kretz* 2), Prosector am Franz Josef-Spitale in Wien, im
December des Jahres 1897 einen Fall von Maltafieber nach¬
träglich -durch die Agglutination des Micrococcus melitensis
diagnosticirt; jedoch hatte der Patient, ein junger Wiener Arzt,
die Krankheit aus Ajaccio mitgebracht. Ferner machte mir
Primararzt Dr. v. Manussi, Präsident des Triester Kranken¬
hauses, freundlichst von einem Fall von Maltafieber Mittheilung,
welcher aus Athen zugereist kam und bei welchem die Diagnose
von Hofrath Prof. N e u s s e r gestellt und von Docent Doctor
Ghon durch die Serumreaction bestätigt worden war. Der
betreffende Patient kam im Juli des Jahres 1898 in Triest an
und hatte continuirliches Fieber mit Abendtemperaturen
zwischen 38 und 39° und zwei- bis dreitägigen fieberfreien
Intervallen. Im Monat August fuhr Patient nach Reichenau
und blieb dort eine Woche lang fieberfrei, worauf er einige
Tage hindurch neuerdings höhere Abendtemperaturen hatte.
Ausser einer mässig vergrösserten Milz war kein objectiver
9 Nach einem in der Triester ärztlichen Gesellschaft gehaltenen
Vor trage.
2) R. Kretz, Wiener klinische Wochenschrift. 1897, Nr. 49.
Befund nachweisbar. Während des September blieb der Kranke
fast stets fieberfrei, dagegen hatte er im October öfters Fieber-
anfälle und erkrankte Ende jenes Monates auch an Epididy¬
mitis, welche zwei Wochen lang andauerte. Hierauf fuhr
Patient nach Athen zurück; er war fieberfrei, wurde jedoch
während der Fahrt von massigem Fieber befallen. In Athen
blieb er zwei bis drei Wochen lang apyretisch, im December
jedoch fieberte er wieder und hatte bis zum Februar 1899 in
grösseren oder geringeren Zwischenräumen stets wieder Fieber.
Seit jener Zeit blieb er aber vollkommen vom Fieber verschont
und war auch im Sommer 1899 wieder in Triest, wobei er
angab, sich ganz wohl zu fühlen. Von seiner langen Krankheit
waren ihm nur Muskelschmerzen, massige Anämie und Mattig¬
keit zurückgeblieben.
Der erste Fall von Maltafieber, welcher die Krankheit
in Oesterreich acquirirt hat, ist jedoch der dritte, dessen
Krankengeschichte folgende ist:
P. M. 27 Jahre alt, Maurer aus Udine, wurde am 4. December
1899 im Spitale aufgenommen ; Patient war per Dampfer aus Dal¬
matien angelangt.
Aus der Anamnese war zu entnehmen, dass die Eltern des
Patienten leben und gesund sind. Ein Bruder starb wahrscheinlich
an Phthise.
Patient hat keine Kinderkrankheiten durchgemacht. Im Alter
von zwölf Jahren überstand er Muskelrheumatismus, mit 19 Jahren
erkrankte er in Hermannstadt an Typhus. Zwei Jahre später war er
in Bukarest, wo er von Fieber befallen wurde, welches drei Tage
andauerte; er nahm, ohne einen Arzt zu befragen, 5 g Chinin und
genas. Im Jahre 1898 war Patient beim Bau einer Eisenbahn in
Kärnten beschäftigt und bekam während eines Streites einen Messer¬
stich in die linke Rückenseite unterhalb der zehnten Rippe; er wurde
nach Wolfsberg in das Spital gebracht und blieb dort zwölf Tage.
Zuletzt arbeitete er in Süddalmatien beim Baue einer Eisenbahn von
Gabela nach Trebinje. Dort schlief er zusammen mit 90 anderen Ar-
150
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 7
beitern in einer Holzbarake auf der blossen Erde. Am 1. October 1899
wurde er von heftigem Fieber mit massigem Kopfweh befallen,
welches durch neun Tage anhielt; ausser dem Fieber hatte er auch
conlinuiiliche Schweisse, grosses Unlustgefühl und hartnäckige Stuhl-
träirheit. Durch zwölf Tage hierauf blieb er fieberfrei und arbeitete
wieder, obwohl er sehr schwach war; er wurde jedoch dann wieder
vom Fieber befallen, welches bis zum Tage seiner Spilalsaufnahme
dauert. Wie der Kranke angibt, dauert das Fieber continuirlich ohne
Unterbrechung, nimmt jedoch Morgens ab und Abends zu. Patient
klagt ferner über rheumatoide Muskelschmerzen im Nacken und in
den Armen und über reichliche Schweisse, welche ihn sehr belästigen.
Potus und Lues werden verneint.
Status praesens: Mittelgrosser Mann von kräftigem
Körperbau, ziemlich stark abgemagert. Gebräunte Gesichtsfarbe, Haut
pigmentirt. feucht. Patient schwitzt. Skleren leicht subikterisch, sicht¬
bare Schleimhäute gut gefärbt. Zunge mässig trocken, leicht belegt,
zittert ein wenig beim IJerausstrecken. Im Munde, Rachen und in
der Nase nichts von Belang. Keine Lymphdrüsen am Halse und
Nacken. Bewegungen der Bulbi frei: Pupillen reagiren prompt.
Die Percussion des Thorax ergibt überall hellen Schall. Bei
der Auscultation hinten unten beiderseits spärliche feuchte Rassel¬
geräusche. Vorne Percussion und Auscultation der Lungen normal.
Lebergrenze normal. Spitzenstoss unterhalb des vierten Intercostal-
raumes fühlbar, innerhalb der Mamillarlinie, hebend.
Puls regelmässig, gut gespannt, 96 Schläge in der Minute.
Respiration regelmässig, vorwiegend abdominal, 21 in der Minute.
Herztöne über allen Ostien rein.
Abdomen normal, nicht meteoristisch. Keine Leistendrüsen.
Die Leber nicht vergrössert, nicht palpabel.
Milz vergrössert, deutlich fühlbar. Bei der Percussion derselben
lindet man Dämpfung oberhalb der achten Rippe, ferner nach vorne
bis über den Rippenbogen. Die Höhe der Milzdämpfung ist
gegen 10e»i.
Im Magen und Darm nichts von Belang.
Patellarretlexe nicht gesteigert, Ilautsensibilität normal.
Die Harnuntersuchung ergibt folgendes Resultat:
Farbe dunkelgelb, Reaction sauer, specifisches Gewicht 1024,
Serumalbumin Spuren, Nucleoalbumin — , Zucker — , Indican — ,
Urobilin Spuren, Diazoreaction — , Aceton — , Pepton — , Albu-
mosen — , Gallenfarbstoff — , Blutfarbstoff — . Chloride vermehrt,
Alkaliphosphate leicht vermehrt, Erdphosphate normal.
Im Sediment harnsaure Salze. Nichts Pathologisches.
Die Blutuntersuchung gibt nachstehenden Befund:
Hämoglobin (Fleischl) 75%, Zahl der Erythrocyten 5,142.000,
Zahl der Leukocyten 12.700. Coagulationszeit nach W r i ght 5 Minuten
40 Secunden. Im nativen Präparat gute Geldrollenbildung der rothen
Blutkörper, Fibrinnetz stark ausgebildet, weisse Blutkörperchen ver¬
mehrt, eosinophile vorhanden. Keine Malariahämatozoen, keine
Spirillen. Im gefärbten Trockenpräparate die Erythrocyten gut und
gleichmässig tingirt, kein Formenunterschied derselben, die weissen
ziemlich vermehrt, 76% derselben polynucleär, 21% Lymphocyten,
3% eosinophile.
Am 6. December Abends hat der Kranke etwas zähen,
schleimigen Auswurf. Die mikroskopische Untersuchung desselben
weist die Abwesenheit von Koch’schen und P f e i f f e r’schen
Bacillen nach.
7. December. Morgen temperatu r 38-6°, Puls 120, Respiration 28.
Patient hat leichtes Kopfweh. Seit drei Tagen kein Stuhl. (H30 Kalomel.
Nachts starke Schweisse.
8. December. Morgentemperatur 39-7°, Puls 112, Respiration 26.
Vornahme einer bacteriologischen Untersuchung des Blutes. In Aus¬
strichpräparaten sind keinerlei Mikroorganismen nachweisbar, ebenso
bleiben verschiedene Strich-, Stich- und Plattenculturen selbst nach
zwei Wochen steril. Agglutinationsversuche mit Micrococcus melitensis
positiv.
9. December. Morgentemperatur 38'7°, Zustand unverändert.
Patient klagt über grosse Trockenheit im Rachen, grosse Mattigkeit
und geringe ziehende Schmerzen im Nacken; zu diagnostischen
Zwecken wird mit grosser Vorsicht eine Milzpunction vorgenommen
und mit dem aspirirten Spritzeninhalt werden verschiedene Cultur-
böden beschickt. Nach sechs Tagen entwickelte sich in einer Eprou¬
vette, welche Glycerin-Agar mit Zusatz von Ascitesflüssigkeit enthielt,
eine kleine opalescirende Colonie des Micrococcus melitensis von
Bruce. Ueber den bacteriologischen Befund, sowie über die Agglu-
tinationswerthe werde ich später berichten.
Vom 10. bis 15. December hat der Kranke stets Fieber von
deutlich remittirendem Typus, die Temperaturen schwanken zwischen
38 ’ und 38-5° Morgens und 39— 40° Abends. Verschiedene Antipyretica
bleiben ohne Erfolg. Nur Antipyrin hinderte die hie und da auf¬
tretenden Kopfschmerzen und kalte Einwicklungen des Rumpfes
wurden vom Patienten ebenfalls als wohlthuend empfunden.
Am 16. December stieg die Temperatur nicht über 38'6° und
seit jener Zeit sank das Fieber stetig.
Bis zum 24. December hatte Patient Abends noch immer über
38u, am 25. nur mehr 37-5° und von da an blieb er stets vollkommen
fieberfrei. Er hatte aber nie spontane Stühlen tleerungen, so dass er
häufig Irrigationen und Purgantia erhalten musste.
Bis zum 10. Januar 1900, an welchem Tage der Kranke aus
dem Spitale entlassen wurde, blieb er vollständig vom Fieber ver¬
schont. Er hatte jedoch noch stets starke Schweisse, welche auch
jetzt noch andauern, Abends gegen 7 Uhr einsetzen und in den
ersten Morgenstunden aufhören; ausserdem fühlt sich der Kranke
sehr matt und erholte sich nur langsam. Zuletzt bekam er arsensaures
Chinin in der Dosis von 0'03 pro die.
Eine am 5. Januar 1900 vorgenommene Blutuntersuchung
ergab :
Hämoglobingehalt (Fleischl) 68%. Anzahl der rothen Blut¬
körperchen 4,325.000, Anzahl der weissen 8650. Im Harn nichts
Pathologisches.
In diesem Falle war es mir möglich gewesen, die Dia¬
gnose »MaUafieber« schon frühzeitig zu stellen, und zwar
aus folgenden Gründen:
Der Kranke, ein für seinen Stand ziemlich intelligenter
Mann, konnte mit grosser Genauigkeit den Beginn seiner Er¬
krankung mittheilen. Er fieberte also seit 1. October und kam
aus dem südlichen Dalmatien. Nie hatte er Durchfälle odei
starkes Kopfweh gehabt, im Gegentheil, er klagte über hart
nackige Stuhlverstopfung, ferner schwitzte er sehr stark.
Typhus konnte man daher ausschliessen, umsomehr, als im
Harn die Diazoreaction fehlte und diese bei Typhus stets vor¬
handen ist. Ausserdem hatte Patient schon im Jahre 1891 ein
typhöses Fieber überstanden und zweimalige Erkrankungen
an Typhus kommen doch recht selten vor. Recurrens und
Malaria konnte man nach den Ergebnissen der Blutunter¬
suchung ausschliessen, ebenso fehlten für Tuberculose, In¬
fluenza, Endocarditis, innere Eiterungen oder Leberabscess alle
Anhaltspunkte, und aus der Untersuchung der inneren Organe,
des Sputums und des Harns konnte man auch genannte Krank¬
heiten nicht annehmen.
Es blieb daher nur die Diagnose »Maltafieber« übrig und
diese kann nach den Angaben Wright’s3) und späterer
Autoren mit Sicherheit mittelst der Serumreaction sichergestellt
werden. Ich habe mich daher an Prosector Dr. Kretz in
Wien gewendet, welcher so liebenswürdig war, mir sofort eine
Stichcultur des Micrococcus melitensis zu übersenden, mit
welcher ich die Serumreaction vornahm. Ich fand folgendes
Ergebniss:
Am 8. December 1899:
complete Agglutination nach
20
Minuten
mit
V-20
Serum
» » »
56
»
VöO
»
beginnende » »
2
Stunden
»
VlOO
7>
Am 3. Januar 1900:
complete Agglutination nach
16
Minuten
mit
720
Serum
» » »
35
»
7o0
»
72
»
7>
VlOO
»
» » »
2 Stunden
7200
3>
undeutliche » »
2
T>
»
1/
' 300
Um meine Resultate einer Controle zu unterziehen, sandte
ich Blutserum meines Kranken in zugeschmolzenen Glasphiolen
an das pathologische Institut des Franz Josef-Spitales in Wien
und an das pathologische Laboratorium der englischen militär¬
ärztlichen Akademie in Netley.
3) Wright und Semple, British Med. Journal. 1892, 16. Januar.
— Lancet. 1897, 6. Mür*.
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
151
Herr Dr. Kretz schrieb mir aus Wien, 12. December
1899: »Kam erst heute dazu, Ihr Serum zu prüfen. Reaction
i/15 auf Melitensis positiv, aber langsam eintretend; ist es ein
frischer Fall, wie ich Ihrer Mittheilung entnehmen zu können
glaube, so empfehle Ihnen, die Prüfung zu wiederholen; steigt
der Agglutinationswerth, so ist die Diagnose sicher«.
Herr Dr. W. B. Lei sh man, assistirender Professor in
Netley, schrieb mir unterm 20- December 1899:
»The serum which you sent for examination gives a
strong reaction with the Micrococcus melitensis; agglutination
being nearly complete in a dilution of the serum of 1 — 100«.
Wie ich schon früher erwähnt, gelang es mir, aus der
Milz des Patienten durch die Punction eine typische Colonie
des Micrococcus melitensis zu züchten und ich glaube, dass
dies erst der dritte Fall ist, bei welchem es gelungen ist,
wenigstens finde ich in der mir zu Gebote stehenden Literatur
nur bei Davidson zwei Fälle citirt.
Das Ergebniss der bacteriologischen Untersuchung war
folgendes:
in Verdünnungen von Y20 schon nach acht Minuten agglutinirt
und selbst in Verdünnungen von l/500 war die Agglutination
nach 72 Minuten complet eingetreten, während in Verdün¬
nungen von V 1000 kcine deutliche Reaction eintrat.
Klinisch und bacteriologisch war daher dieser Fall mit aller
Sicherheit als Maltafieber diagnosticirt, und zwar war es der
Dauer nach ein leichter Fall, was auch aus der langsam ein¬
tretenden Agglutination und aus dem Umstande zu entnehmen
war, dass dieselbe bei grossen Verdünnungen nicht mehr ein¬
trat. Diese Beobachtungen stimmen auch mit denen von Birt
und Lamb4) überein.
Und nun gestatten Sie mir einige Worte über diese
höchst interessante Krankheit, welche erst in der allerletzten
Zeit als Morbus sui generis anerkannt wird.
Schon seit Jahrhunderten war den Aerzten der Küsten¬
länder des Mittelländischen Meeres ein eigenartiges Fieber von
lange dauerndem Verlaufe bekannt, welches mit grösserer oder
geringerer Intensität auf Malta und Cypern, auf den Balearen
und im griechischen Archipel, auf Gibraltar und Sicilien
December 1899.
Temp
e r a t u r.
Januar 1900.
I
Nach Nach Nach
48 Stunden vier Tagen sechs Tagen
Eprouvette A (Agar-Agar) . .
» B (Pepton- Agar) . — —
» O (2 */3 Agar und
'/3 Serum ... — —
» . D (Glycerin-Agar) . —
» E (2/3 Pepton-Agar
V3 Serum) . . — —
» F (2/3 Glycer.-Agar
'/.. Ascitesflüssigk. — — e>ue Colonie.
Mehrere Petr i’sche Schalen mit verschiedenen Nährböden
blieben sämtlich steril.
Von Eprouvette F wurden mikroskopische Deckglas¬
präparate angefertigt, welche einen sehr kleinen Coccus von
ovoider Form zeigten, der sich nicht nach Gram, jedoch sehr
leicht mit Anilinfarben färben Hess und dem Mikrococcus von
Bruce vollkommen ähnlich sah.
Ueberimpft, wuchs der Coccus sehr langsam, am besten
auf ganz schwach alkalischem Agar mit Zusatz von Ascites
flüssigkeit; Milch wurde durch den Coccus nicht coagulirt und
in Zucker wurde weder Gas-, noch Fermentbildung beobachtet;
in Bouillon Avuchs er auch in längeren bacillenähnlichen Stäb¬
chen. Durch das Blutserum des Kranken wurde dieser Coccus
auftrat. Der Erste jedoch, welcher diese Krankheit genau be¬
schrieb, war der englische Militärarzt Marstonü)? welcher
im Jahresberichte des Jahres 1863 für das englische Heer eine
erschöpfende Beschreibung der auf der Insel Malta vor¬
gekommenen Fieberfälle gab und zugleich angab, dass man
bei den Autopsien nie irgendwelche Läsion der Pey er sehen
Plaques vorfand. In Italien beschrieb Borrelli im Jahre 1870
eine eigenthümliche, in Neapel vorkommende Fieberart, welche
dann auch den Namen neapolitanisches oder Sehweissfieber
erhielt, und im darauffolgenden Jahre veröffentlichte G. Guilia
eine Publication: »Ueber die endemischen Fieber auf Malta«.
1876 schrieb N. Dominicis in Neapel eine Monographie
über das Senkgrubenfieber (La febbre da fogna), welches mit
dem Maltafieber identisch ist. Seit jener Zeit wuchs die Literatur
über dieses Fieber, welches von den Engländern nach dem
Typus der Curve remittirendes oder Maltafieber, Cyprusfieber,
Levantefieber oder Mittelländisches Fieber nach der geographi¬
schen Verbreitung, von den Italienern Pseudotyphus, continu-
irliches epidemisches Fieber, infectiöses atypisches 1 ieber,
Neapelfieber, gastrobiliäres Fieber oder Adenotyphus, von den
Franzosen Sch weissfieber oder Sch weisstyphus genannt wurde,
4) Birt und Lamb, Mediterranean or Malta Fever. Lancet. 1800,
2. November. „
5) Citirt nach Hughes, Mediterranean, Malta or Undulant b e\ et .
London 1897, woselbst ein erschöpfendes Literaturverzeichniss naebge esen
werden kann.
152
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 7
riesig an. Ich will noch die Arbeiten von Franco6), von
Fazio7), Typhai dos8) und C a r a gi o r g i a d i s 9) citiren.
Aber erst Bruce brachte im Jahre 1887 durch die Veröffent¬
lichung seines Aufsatzes: »Notiz über die Entdeckung eines
Mikroorganismus des Maltafiebers« im Septemberhefte des
»Practitioner« Licht in das Wesen dieser Krankheit. Seit jener
Publication kennen wir die Aetiologie des Maltafiebers und
können aus der Obd action und der bacteriologischen Unter¬
suchung sichere Schlüsse ziehen.
In Nr. 11 des »Practitioner« vom Jahre 1888 publicirte
Bruce dann einen zweiten Artikel: »Ueber den Mikrococcus
des Maltafiebers«, und seit jener Publication ist die Literatur
über das Maltafieber so sehr angewachsen, dass es nicht meine
Aufgabe ist, mit der Aufzählung derselben Sie ermüden zu
wollen.
Ich will nur noch die bekannteren Autoren C a n ta n i 10),
Baccelli11), Chantemesse12), Maragliano 13), Stern¬
berg14), Jaccoud15) und Grocco16) nennen; ferner
finden sich Angaben über das Maltafieber in folgenden Werken:
Davidson, Hygiene and Diseases of warm Climates. Edin¬
burgh 1893; Guiffie und Silva im: Trattato di Medicina
di Charcot-Brissaud. Mailand 1893; Stevenson und
Murphy, Hygiene and Public Health. London 1893;
Kelsch und Kien er, Traite des maladies des pays chauds.
Paris 1889; Scheube, Die Krankheiten der warmen Länder;
Lehmann und Neumann, Bacteriologie. München 1900.
Es ist jedoch unstreitig das Verdienst Prof. A. E.
Wright's, welcher in der Nummer der »Lancet« vom
6. März 1897 zum ersten Male die Serumreaction beim Malta¬
fieber beschrieb, wenn "wir heute durch den Agglutinations¬
versuch im Stande sind, mit aller Sicherheit Maltafieber zu
diagnosticiren ; wie schon wiederholte Versuche lehrten, wird
der Maltacoccus durch Serum, welches auf mehr als Y10 ver¬
dünnt ist, und welches von Gesunden oder anderweitig Er¬
krankten herstammt, nicht agglutinirt (H u g h e s *7), Birt und
Lamb18). Ich habe an dieser Stelle 19) schon einmal über die
Serumdiagnose des Maltafiebers und die Anwendung der Serum¬
sedimentation in Glasröhrchen nach Wright20) gesprochen,
und ich beschränke mich daher, diese neue Methode anzu-
fiihren und eine gelungene Probe vorzuzeigen.
Das Maltafieber, dies der officielle Name der Krankheit,
mit welcher wir uns beschäftigen, wird auch Mittelländisches
Fieber genannt, und über dessen Verbreitung habe ich schon
gesprochen. Unser Patient hat sich die Krankheit im südlichen
Dalmatien geholt, woselbst er nach seinen Angaben mit anderen
90 Arbeitern in einer Holzbarake auf der blossen Erde
schlief. Der Patient erzählte ferner, dass viele von den Arbeitern
von demselben Fieber befallen waren; es gelang mir jedoch
nicht, obwohl ich verschiedene Collegen in Dalmatien um Mit¬
theilungen ersuchte, zu erfahren, ob ähnliche Fälle in der
Gegend von Ragusa vecchia vorgekommen seien.
Im Allgemeinen wird jeder Fall von Maltafieber zuerst
als atypischer Typhus oder Malaria angesehen, da im Anfangs¬
stadium die Krankheit häufig von Schüttelfrösten, hohem Fieber,
auch Kopfweh, trockener belegter Zunge und Druckempfind¬
lichkeit des Abdomens begleitet sein kann, so dass man an
typhöses Fieber glaubt. Andererseits kann ein heftiger Fieber¬
anfall von Erbrechen und heftigem Schweissausbruch gefolgt
sein, so dass das klinische Bild der Malaria vorgetäuscht wird.
ü) F r a n c o, Giornale internazionale. Napoli 1880.
■) F a z i o, Movimento medico chirurgico. Napoli 1880.
8) T y p h a 1 d o s, Galenos, Nr. 48-51. Athen 1882.
°) Caragiorgiades, Aletheia, Nr. 58. Limassol 1880.
10) Cantani, Kiforma Medica, Nr. 127. Neapel.
n) Bacelli, La subcontinua tifoide. Scuola ital. di clin. medica.
Mailand 1894.
'■) Chantemesse, Traite de medecine v. Charcot etc.
Paris 1891.
":) Maragliano, Riforma medica. Neapel 1891, II.
u) S t e r n b e r g, Bacteriologie. New York 1896.
1 ') J a c c o n d, Semaine medicale, N«. 6. Paris 1892.
,f') Grocco, Lo Sperimentale, 2 und 3. Florenz 1897.
17) 1. e.
,8) 1. c.
n') Sitzung der Triesfer ärztlichen Gesellschaft vom 9. November 1897.
2U) British Medical Journal. 1898, Nr. 1936.
Vor Allem charakteristisch ist nach Hughes die lange
Dauer des Fiebers. An 372 beobachteten Fällen bemerkte er
1-
21
— 20t
- 30
ägiges
Fieber
»
(tödliche
»
Fälle)
in
5
70
75 Fällen
31
— 40
>
»
»
i
65
41-
— 50
»
»
>
50
154 »
51-
— 60
»
»
J>
»
»
39
61-
— 70
y>
»
»
>
36
71
- 80
»
7>
34
88
81
- 90
>
18
91-
-100
y>
>
7>
20
101-
-110
»
»
»
y>
8
39
111-
-120
»
11
121-
-160
»
y>
>
16
fällen.
Aus
dieser
Tabelle
ist ersichtlich.
dass in
der grossen
Mehrzahl der Fälle das Fieber gegen 40 — 70 Tage andauert,
obwohl Bruce auch einen Fall mit 18monatlicher und
Hughes sogar zwei Fälle mit über zweijähriger Fieberdauer
citirt. Derselbe Autor theilt das Maltafieber in vier Haupttypen
ein. Der maligne Typus ist die erste Unterart. Diese Fälle
sind ziemlich selten, da das Maltafieber im Ganzen nur eine
Mortalität von 2% hat und sind schon im Beginn der Er¬
krankung durch die ausserordentliche Hyperpyrexie kenntlich,
welche immer 41° übersteigt und in wenigen Tagen zum Exitus
letalis führt. Von den bisher beobachteten Fällen mit tödt-
lichem Verlaufe starben 60% im ersten Monat der Krankheit.
Der zweite Typus ist der wellenförmige (undulant), welcher
am häufigsten vorkommt und gewöhnlich zwischen 60 — 80
Tagen andauert und welchem auch der eingangs beschriebene
Fall angehört, bei dem das Fieber mit einer Unterbrechung
von zwölf Tagen durch 87 Tage anhielt. Wenn man die Fieber-
curve solcher Kranken ansieht, bemerkt man auf derselben,
dass die Temperatursteigerungen deutliche, von einander ziemlich
scharf abgegrenzte Wellen bilden, von denen z. B. auf bei¬
stehend abgebildeter Curve drei durch römische Ziffern bezeich-
nete zu sehen sind. Diese Form ist sehr oft von Anämie, wie
in unserem Falle, oder von Neuralgien, Epididymitis und per-
sistirenden Schweissen gefolgt. Der dritte Typus wird als inter-
mittirende Form beschrieben. Diese Fälle, gewöhnlich leichterer
Art, haben einen einzigen Fieberanfall Abends und fühlen sich
mit Ausnahme von grosser Mattigkeit und der hartnäckigen
Obstipation, die alle Fälle begleitet, ziemlich wohl. Viele Aerzte
glauben, wenn sie vor einem solchen Fall stehen, eine leichte
Malaria oder Tuberculose mit hektischem Fieber vor sich zu
haben, die Blutuntersuchung oder das vollkommene Fehlen von
physikalischen Symptomen seitens des Respirationsapparates
und der endliche Ausgang in vollkommene Heilung führen aber
bald zu einer anderen Diagnose. Zur vierten Abart gehören
endlich alle jene irregulären Fälle, in welchen sich einige Zeit
hindurch die eben genannten Typen zeigen und mehr oder
minder rasch wechseln können.
Aus dem eben Erwähnten kann man auch folgern, dass
dio Prognose des Maltafiebers quoad vitam eine günstige ist.
Birt und Lamb21) behaupten, dass man aus der Stärke
der Agglutinationsreaction auch die Prognose beim Maltafieber
stellen könne, indem Fälle mit schweren Allgemeinerscheinungen
und niederem Agglutinationwerthe eine schlechte Prognose
geben, ebenso Fälle, bei welchen der Agglutinationswerth des
Serums im Verlaufe der Krankheit erheblich sinkt und be¬
stätigen damit die von Courmont beim Typhus gemachten
Beobachtungen. Nur beim Stellen der Prognose hinsichtlich
der Dauer derKrankeit und der Schwere der Folgeerscheinungen
wird man vorsichtig sein müssen.
Ueber die Diagnose des Maltafiebers habe ich schon bei
der Beschreibung unseres Patienten gesprochen. Ich möchte
nur wiederholen, dass man bei recenten Fällen speciell dem
Mangel an Durchfällen, dem freien Sensorium, dem Fehlen
von Roseolen und Epistaxis, dem massigen Milztumor und dem
fehlenden oder ganz geringen Kopfweh seine Beachtung
schenken müsse ; diese fehlenden Symptome werden es er¬
möglichen, das Maltafieber vom Typhus zu unterscheiden;
21) 1. c.
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
153
während es manchmal schwieriger sein wird, Influenza oder
Miliartuberculose auszuschliessen. Für diese letztere, wie auch
für Typhus wäre auch die fehlende Diazoreaction in Betracht
zu ziehen. Vor Allem wichtig, ja nach den heutigen Anschau¬
ungen für eine richtige Diagnose unerlässlich wird jedoch die
Serumdiagnose sein, welche nach den bisher publicirten Fällen
nur bei Maltafieber, nie bei Gesunden oder anderweitig Er¬
krankten vorkommt.
Ueber die pathologische Anatomie des Maltafiebers ist
nur recht wenig zu berichten. Hughes berichtet über 62 Ob-
ductionen und hebt hervor, dass im Allgemeinen eine beträcht¬
liche Congestion aller innerer Organe zu beobachten sei,
seltener finde man hypostatische Pneumonien oder Entzün¬
dungen der Pleura. Die Leber sei gewöhnlich durch Stauung
vergrössert, die Milz stets vergrössert, stark mit Blut gefüllt
und dunkelroth, öfters sei das Milzgewebe sehr leicht zerreiss-
lich und manchmal sei die ganze Milz so weich und fast zer-
fliesslich, dass das Organ wie ein geronnener Blutklumpen
aussehe. In mikroskopischen Schnitten seien stets die typischen
Mikrococcen in der Milz zu finden. Nie fände man jedoch die
Pey ersehen Follikel entzündet oder vereitert und nur selten
wären die Mesenterialdrüsen leicht vergrössert.
Die Therapie des Maltafiebers ist sehr dürftig. Alle unsere
Antipyretica sind nicht im Stande, das lieber zu mildem. Man
wird daher eine symptomatische Behandlung, mit vorsichtiger
Anwendung der Hydrotherapie einleiten und speciell die Obsti¬
pation regeln müssen. Auch gegen die Schweisse half bis jetzt
kein Mittel. Neuerlich bereitet Prof. Wright in Netley ein
Maltafieberantitoxin aus dem Blutserum immunisirter Affen;
über dessen Wirksamkeit beim Menschen tehlen mh vorläufig
alle Angaben.
Es wäre mir sehr angenehm, wenn diese meine kurzen
Ausführungen vielleicht auch den einen oder anderen Collegen
in den südlichsten Theilen der Monarchie zu Untersuchungen
über das Maltafieber anregen würden, da diese Krankheit
nicht nur wegen der Schwierigkeit der Diagnose, sondern auch
durch den Verlauf selbst in hohem Grade das Interesse des
Arztes erweckt. . ,
Zum Schlüsse gestatte ich mir, Herrn Primararzt Dr. L i e b
man für die gütige Ueberlassung dieses I alles, Herrn Primat
arzt Dr. v. M a n u s s i in Triest, Herrn Prosector Dr. Kretz
in Wien und Herrn Prof. Le is hm an in Netley für ihre
freundliche Unterstützung meinen besten Dank an dieser Stelle
auszusprechen.
Aus der II. medicinischen Klinik des Herrn Hofrathes Prof.
Dr. E. Neusser in Wien.
Beitrag zur Klinik der Landry’schen Paralyse
mit besonderer Berücksichtigung ihrer Bacterio-
logie und Histologie.
Von Dr. Julius Kapper, k. und k. Regimentsarzt.
Der Umstand, dass der Begriff der Landry’schen Pa¬
ralyse seit seiner im Jahre 1859 erfolgten strengen Formu-
lirung durch Landry vielfachen Schwankungen unterworfen
war, dass die Angaben der Obductionsbefunde auch heute noch
sehr differiren, und endlich die Thatsache, dass selbst Kliniker
und Neurologen, die über ein grosses Krankenmaterial ver¬
fügen, über keine allzu reichen Erfahrungen bezüglich dieser
relativ seltenen Krankheitsform berichten können, wird die
Mittheilung des nachstehenden Falles gerechtfertigt erscheinen
1 RSS6I1.
Zur Klarstellung des Krankbeitsbildes der Landry-
schen Paralyse dürfte es sich aber zunächst empfehlen, auf
das Schwankende in der Auffassung dieser Erkrankung eimger-
massen hinzuweisen, um dann jene Folgerungen daran zu
knüpfen, die sich aus der Einzelbeobachtung ergeben.
Landry beschrieb im Jahre 1859 unter dem Namen
Paralysie ascendente ou centripete aigue eine Leihe von Läh¬
mungen, die sich durch ihren progredienten Charakter aus¬
zeichnen: die Functionsstörung setzt meistens in den unteren
Extremitäten ein und ergreift dann in stürmischem, etappen¬
weisem Fortschreiten nach oben die Muskeln des Rumpfes,
die oberen Extremitäten, dieMedulla oblongata, setzt dabei Schluck-
und Sprachstörungen, und führt nicht selten zum Tode durch
Lähmung der Respiration.
Manchmal kommt es zum Stillstand des Processes, dem
dann baldige Genesung folgt. Die elektrische Erregbarkeit der
Muskeln ist ungestört, dagegen kommen leicht Sensibilitäts¬
störungen vor. In den letal verlaufenden Fällen gelingt es
nicht, eine anatomische Läsion des Nervensystems nachzu¬
weisen.
Obwohl auch Kussmaul im gleichen Jahre (1859)
einige ähnliche Beobachtungen veröffentlichte, fand Landry’s
Arbeit doch kaum Beachtung.
Erst Bernhardt (1871) und Westphal (1876)
lieferten neues Material und sprachen als ursächliches
Moment der Affection eine Intoxication an ; der Letztere
wies ausdrücklich auf den einer Vergiftung ähnlichen
Charakter und Verlauf der L a n d ry’schen Paralyse hin und
glaubte in ihr mehr die Wirkung einer allgemeinen Infection
oder Intoxication als einer Localerkrankung des Nervensystems
zu erblicken und präcisirte die L a n d r y’sche Lähmung dahin,
dass sie ausgezeichnet sei:
1. Durch den progressiv aufsteigenden, schliesslich tödt-
liclien V erlauf.
2. Durch das Intact bleiben der elektrischen Erregbarkeit
in den gelähmten Muskeln.
3. Durch den negativen Befund der Autopsie.
Diese von Westphal eng gezogenen Grenzen sind
besonders durch die Forderung eines negativen Obductions-
befundes für die Geschichte dieser Krankheit von Wichtigkeit.
1876 hatte Eichhorst auf die Analogie einer rasch
tödtlich verlaufenden, progressiven Lähmung zahlreicher peri¬
pherer Nerven, welche neuritischen Befund bot, mit Landry-
scher Paralyse hingewiesen, und alsbald mehrten sich die An¬
gaben über ähnliche Fälle, welche trotz ihrer Verwandtschaft
mit L a n d r y’scher Lähmung sich doch mit grosser Wahr¬
scheinlichkeit oder geradezu anatomischer Sicherheit als Poly¬
neuritis acutissima erwiesen.
Im Anschlüsse an die Wahrnehmung, dass eine wirk¬
liche Poly neuritis auch einen ascendirenden Charakter an¬
nehmen kann, sprach auch v. Strümpell die Ansicht aus,
dass viele der als L a n d r y’sche Paralyse in der Literatur
niedergelegten Fälle zur Polyneuritis zu zählen seien und
suchte seine Behauptung durch Autopsieen von klinisch als
Landr y’sche Paralyse verlaufenen Fällen zu stützen, die
wohl negativen Befund im Centralnervensystem, aber ausge¬
dehnte neuritische Processe in der Peripherie boten.
Unter dem Einflüsse der grossen Influenza-Epidemie
1889/90 wuchs die Zahl der Beobachtungen von acut auf¬
steigenden Lähmungen ganz erheblich, und damit mehrte sich
die &Zahl jener Autoren, welche in der Landry’schen Para¬
lyse nichts weiter als eine klinische Modification der Poly¬
neuritis erblicken zu müssen glaubten.
Acceptirte man diese Auffassung, so erscheinen auch ge¬
wisse Abweichungen vom Schulbilde der Landry’schen Läh¬
mung, wie sie sich gelegentlich im Auftreten erheblicherer
Störungen der Sensibilität, von Affectionen der Sphinkteren,
von Atrophieen und Veränderungen der elektrischen Erregbar¬
keit äussern, plausibel.
Diese mannigfaltigen Bemühungen, den Zusammenhang
zwischen Landr y’scher Paralyse und Polyneuritis herzu¬
stellen, erfuhren eine mächtige Förderung und gelangten
auch zu einem vorläufig zumeist acceptirten Abschluss
durch die Arbeit v. L e y d e n’s, der in der acuten auf-(oder
absteigenden Paralyse anatomisch keinen einheitlichen Pro¬
cess gelten lässt, vielmehr zwei Formen:
1. eine bulbäre oder medulläre,
2. eine neuritische Form
unterscheidet. Freilich verdient hier schon hervorgehoben zu
werden, dass das früher festgehaltene einheitliche Krankheits¬
bild durch diese Verschiebung seiner Grenzen eine bedeutende
Erweiterung erfährt, indem ihm Fälle mit nicht normalem
154
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 7
elektrischem Verhalten, dann solche, wo der Verlauf ein ab¬
steigender ist, und schliesslich auch solche mit nachweisbaren
pathologisch-anatomischen Veränderungen im Nervensystem,
subsumirt werden.
Wenn ich daran gehe, die in der mir zugänglichen Li¬
teratur niedergelegten pathologisch-anatomischen Befunde bei
Fällen, die sich klinisch als Landry’sche Paralyse repräsen-
tirten, zu ordnen, so können wir im Ganzen und Grossen vier
Gruppen aufstellen:
1. Jene Fälle, bei denen die mikroskopische Unter¬
suchung des Centralnervensystems negativ ausfällt; dahin ge¬
hören die Beobachtungen von Landry, Kussrna u 1, W e s t-
p h a 1, Pellegrino Levi, Curschmann, Kahler und
Pick, Petit fils, Cor nil, Thom ay er, Pal, Albu,
Steven, Ormerod, Prince und Anderen.
2. Jene Fälle, wo disseminirte Entzündungen oder
Exsudate und capilläre Blutungen in der Medulla oblongata,
oder acute, exsudative Entzündung im Rückenmark, zuweilen
auch Meningitis oder Meningomyelitis oder leichteste Polio¬
myelitis, Quellung der Aehsencylinder in der weissen Substanz
der Vorderseitenstränge, Degeneration der vorderen Wurzeln
nachgewiesen wurden, in den Beobachtungen von Baum¬
garten, Hoffmann, Curschmann, Immer m a n n,
Duchenne, Eisenlohr, O e 1 1 i n g e r und G. M a r i n e s c o,
Bailey und Ewing, Schultz e, K 6 1 1 i, H 1 a v a, P i c c i-
n i n o und Anderen.
3. Jene Fälle, wo neuritische Processe als Substrat
der Erkrankung hingestellt wurden, in den Arbeiten von
E i c h h o r s t, D e j e rine und G ö t z, Nauwerck und
Barth, v. Leyden, v. Strümpell, Oppenheim, Go¬
wers, Miles, Phedran, R o s s, P u t n a m, K 1 u m p k e und
Anderen.
4. Jene Fälle, wo Combinationen von Neuritis mit
myelitischen Processen gefunden wurden; Kr e wer und
Andere.
Bei den Forschungen nach Mikroorganismen, die man als
die Erreger der L a n d r y’schen Lähmung ansprechen könnte,
kam es bisher zu keinem beweiskräftigen, einheitlichen Ergeb¬
nis, da unter Anderem
von Baumgarten Milzbrandbacillen in Blut und
Rückenmark;
von Curschmann Typhusbacillen im Rückenmark;
von C e n t a n n i Bacillen im endoneuralen Lymphraum
bei interstitieller Neuritis;
von E i s e n 1 o h r Mischinfection, verschiedene Stäbchen¬
arten und Staphylococcen ;
von Rem m linger Streptococcus longus;
von Marinesco Diplococcus;
von Marinesco und Marie ein Bacillus, ähnlich dem
Milzbrandbacillus ;
von J. Seitz das F r ä n k e 1 - W e i c h s e 1 b a u m’sche
Bacterium;
von P i c c i n i n o wahrscheinlich Diplococcus intracellu-
laris Weichselbaum
gefunden wurden.
Mehrfache Beobachtungen (H a y e m, B e r n hard t,
Westphal) erwähnen, dass bei der Autopsie ähnlich wie bei
acuten fieberhaften Erkrankungen eine grosse, weiche Milz
und Leber, Schwellungszustände der Nieren, Mesenterialdrüsen
und Follikel, hämorrhagische Herde in Lunge und Darm nach¬
weisbar waren. Nach dieser allgemeinen Skizze der Landry-
schen Paralyse und der bei dieser Krankheit bisher er¬
hobenen histologischen und bacteriologischen Befunde wollen
wir zu unserem Falle übergehen.
E. S., 33jähriger verheirateter Hilfsarbeiter einer Wäscherei,
wurde am 13. Mai 1899 auf die Klinik aufgenommen.
Der Vater des Patienten starb im Alter von 64 Jahren an
einem chronischen Lungenleiden, die Mutter, 62 Jahre alt, angeb¬
lich an Altersschwäche; auch sie habe lange gehustet. Von neun
Geschwistern sind sechs an ihm unbekannten Krankheiten, im Alter
von 10 bis 20 Jahren gestorben; drei leben und sind gesund.
In seiner Kindheit erlitt Patient einen Sturz ins Wasser,
worauf er durch einige Stunden bewusstlos blieb und nur mühsam
wieder ins Leben gerufen werden konnte; im Anschlüsse an den
erlittenen Schrecken habe sich die ihm eigenthümliche, schwierige
Art des Sprechens, ein Anstossen mit der Zunge, entwickelt.
Zu gleicher Zeit, im Alter von fünf Jahren, trat auch ein
äusseres Augenleiden auf, worüber Patient jedoch nur anzugeben
weiss, er habe damals durch Wochen die Augen verbunden tragen
müssen.
Seit dem 15. Lebensjahre datirt die allmälige Entwicklung
einer massigen, colloiden Struma des mittleren Antheils der Schild¬
drüse, welche auch den Grund abgab, dass Patient nicht zum
Militärdienste herangezogen wurde.
Vor zwei Jahren soll Patient durch einige Tage an rheuma¬
tischen Schmerzen der Rückenmusculatur gelitten haben.
Anfangs Mai d. J. empfand Patient, der mit den Händen beim
Ausringen der Wäsche schwer zu arbeiten hatte, zum ersten Male
das Gefühl von Pamstigsein, Kriebeln in den Endgliedern der
Finger an beiden Händen; am 8. Mai wachte Patient mit reissenden
Kopfschmerzen in beiden Schläfen auf, die in das Genick aus¬
strahlten; er erklärte sich dieselben durch den Umstand, dass er
am Vortage besonders stark, nämlich die doppelte Anzahl Pfeifen
wie gewöhnlich (8), geraucht hatte. Er fühlte sich überdies schwindlig,
und empfand mässige Schmerzen in der Gegend beider Kniegelenke
und in den Waden, welche sich auf Druck steigerten; ausserdem
glaubte er, die Füsse müssten jeden Augenblick unter ihm ein-
schnappen; jetzt erst trat auch in den Füssen das Gefühl des
Pamstigseins auf, so dass er den Boden nicht recht spürte, als
hätte er eine besonders dicke Sohle an.
Mühsam nur hielt sich Patient am 8. tagsüber noch auf den
Beinen; Abends musste er zu Bette gehen. Im Laufe der nächsten
Tage, die der Kranke in häuslicher Pflege und Bettruhe verbrachte,
stellten sich mässige bronchitische Erscheinungen ein, gegen welche
er sich mit Dunstumschlägen behandelte. Die Zunahme der Schmerzen
in den Beinen veranlassten den Patienten am 13. Mai sich in die
Klinik aufnehmen zu lassen.
Patient ist geneigt, seine Beschäftigung in einer Dampf¬
wäscherei mit dem häufigen Wechsel von extrem hohen mit nie¬
deren Temperaturen und heftigem Luftzug für den Beginn seines
Leidens verantwortlich zu machen.
Für die Annahme eines nennenswerthen Potus oder für Lues
bestehen keine Anhaltspunkte.
Status praesens; Patient ist mitlelgross, kräftig gebaut,
gut genährt, mässig congestionirt, leicht subikterisch gefärbt. Er
nimmt active Rückenlage ein. Sensorium frei. Er klagt über starken
Stirn- und Schläfekopfschmerz, besonders rechterseits. Das Schädel¬
dach in toto auf Beklopfen empfindlich.
Die Musculatur erweist sich als schlaff, aber ohne Atrophieen.
Oedeme oder Narben bestehen keine. Die Haut fühlt sich feucht
an, ist allenthalben gleichmässig temperirt. Am rechten Vorderarm
und linken Oberschenkel sind einige kleine, haselnussgrosse Lipome
sichtbar.
Pulsfrequenz 80, Arterie verläuft gerade, nicht verdickt,
Spannung etwas unter der Norm, Puls rhythmisch, hoch, schnellend.
Respirationsfrequenz 18, Typus: costodiaphragmal.
Die Zunge ist feucht, mässig grauweiss belegt, Rachenschleim¬
haut stark geröthet, hintere Rachenwand stellenweise mit zähem
Schleim bedeckt. Die Schilddrüse mässig vergrössert, derb, im
Mittellappen colloid. In jugulo tastbare Pulsation.
Der Thorax ist gut gewölbt, breit, von mittlerer Länge; die
beiderseitigen Intercostalräume erfahren im Inspirium eine mässige
Einziehung.
Links vorne heller, voller Percussionsschall bis zur vierten,
rechts bis zur sechsten Rippe bei gut erhaltener respiratorischer
Verschieblichkeit; das Athmungsgeräusch beiderseits vorne vesiculär,
rechts etwas abgeschwächt. Hinten ergibt die Percussion auf beiden
Seiten hellen, vollen Schall bis etwa handbreit unter den Angulus
scapulae; die Lungengrenzen respiratorisch deutlich verschieblich,
links Vesiculärathmen, rechts zahlreiche, kleinblasige, feuchte
Rasselgeräusche. Stimmfremitus bietet nicht Abnormes.
Der Herzspiizenstoss als schwache pulsatorische Erschütterung
im fünften linken Intercostalräume innerhalb der Mamilla tastbar,
die Grenzen der Herzdämpfung bildet nach oben die vierte, linke
Sr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
155
Rippe, nach links die Gegend des Spitzenstosses, nach rechts der
linke Sternalrand. lieber dem Herzen und den grossen Gefässen
reine Töne; der zweite Aortenton etwas lauter.
Das Abdomen erscheint etwas unter das Niveau des Thorax
eingesunken, die Leber kaum merklich vergrössert, die Milz nicht
palpabel.
Die Untersuchung des Nervensystems ergab Folgendes:
Sensorium frei, Intelligenz ungestört, Stimmung ängstlich,
Sprache heiser.
Der Fundus beider Augen ist vollkommen normal; dabei be¬
steht starke concentrische Einschränkung des Gesichtsfeldes für
Weiss, ebensowohl wie für Farben; die für Blau ist stärker wie
jene für Roth. Die Beweglichkeit der Bulbi ist ganz frei, keine
Spur von Nystagmus. Die Pupillen mittelweit, reagiren auf Licht
träge, besonders die linke; auf Accommodation erfolgt die Reaction
besser, und zwar beiderseits gleich; Cornealreflexe fehlen.
Der Trigeminus zeigt sowohl in seinem sensiblen, als auch
in seinem motorischen Theile keine Abnormitäten.
Im Bereiche des Stirnfacialis erfolgt die Faltenbildung beider¬
seits gleich, die Innervation des Mundfacialis ebenso; das Pleifen
erscheint zwar unmöglich, aber blos aus dem Grunde, weil die Luft
durch die Nase entweicht.
Der Gaumen ist beiderseits vollständig paretisch; Gaumen-
retlexe fehlen.
Uvula weicht etwas nach links ab.
Bei Affectbewegungen und Mitbewegungen erweisen sich die
Leistung der Facialisäste auf der rechten Seite sicher normal,
während links eine leichte Schwäche nachweisbar ist.
Die Zunge zeigt keine Deviation, ist prompt beweglich, und
wird gerade vorgestreckt. Die mechanische Erregbarkeit des Facialis
ist nicht erhöht.
Das Hörvermögen erweist sich intact, und zwar lautete der
Befund: links Cerumen, rechts leicht getrübtes Trommelfell.
Rinne beiderseits positiv, Kopfknochenleitung auf beiden Seiten
intact.
Der Geschmack für Bitter und Süss, mit Chinin- und Zucker¬
lösung geprüft, ist erhalten, der Schluckact erfolgt aber nicht immer
ganz glatt, indem Neigung besteht, sich zu verschlucken.
Die Stimme ist heiser, aphonisch, das Husten erfolgt
klangvoll.
Der laryngoskopische Befund (Herr Assistent Dr. II a r m e r)
lautet :
»Die Function des Internus und Transversus fällt nahe zu gänzlich
aus, so dass die Annäherung der Stimmbänder fast ausschliesslich
durch den Cricoarytaenoideus lateralis erfolgt; dieselbe geschieht
derart, dass die stark hervortretenden Spitzen der beiden Processus
vocales sich gegen einander bewegen, was in sehr wechselnder
Intensität geschieht, doch niemals zur Berührung der Processus
vocales führt. Der Cricoarytaenoideus posticus functionirt voll¬
ständig normal. Die Glottis kann maximal erweitert werden.
Auffällig ist eine kleine Differenz in der Beweglichkeit der
Stimmbänder, von denen das linke grössere Excursionen macht.
Diagnose: Internus- und Transversuslähmung. «
An den unteren Extremitäten äussert sich beim Heben eine
deutliche, schlaffe Parese, und zwar mehr an den periphersten An-
theilen derselben; hei den Bewegungen derselben zeigt sich eine
gewisse Unsicherheit, von der schwer zu entscheiden ist, ob sie
Folge der Ataxie oder der mangelhaften Innervation ist. Gehen und
Stehen nur schwer möglich, im Liegen werden die einzelnen Be¬
wegungen noch gut, aber mit geringer motorischer Kraft aus¬
geführt.
Die Reflexe an beiden unteren Extremitäten, auch die Plantar¬
reflexe, fehlen vollständig.
Die Sensibilität ist in allen ihren Qualitäten ungestört; selbst
feine Berührungen werden richtig angegeben, die Loealisirung der
Schmerzempfindung, die Unterscheidung von Kälte und Wärme er¬
folgt prompt und correct, die tiefe Sensibilität ist ebenso ungestört
wie der Raumsinn. Die Musculatur, die Nervenstämme sind seihst
auf starken Druck nicht empfindlich. Fibrilläre Zuckungen sind an
den unteren Extremitäten nicht zu beobachten.
Der Cremasterreflex ist rechts etwas schwächer als links,
Bauchdeckenreflex fehlt zur Gänze. Es besteht keinerlei Blasen¬
oder Mastdarmstörung. Auffallend leicht sind Taches cerebrales
hervorzurufen.
An den oberen Extremitäten zeigen sich die proximalen Enden
der zweiten Phalangen sämmtlicher Finger miissig verdickt, sonst
bestehen keine grob wahrnehmbaren Veränderungen. Die motorische
Kraft der Arme ist aber stark eingeschränkt, das Heben geschieht
nur mühsam, besonders die rechte Hand erscheint stark paretisch.
Die Bewegungen erfolgen etwas langsam, unsicher, aber nicht
ataktisch.
Reflexe sind seitens der oberen Extremitäten nicht aus¬
zulösen, es besteht auch keine Druckempfindlichkeit der Nerven¬
stämme, keine vasomotorischen oder Sensibilitätsstörungen im Be¬
reiche der oberen Extremitäten, abgerechnet eine beiderseitige
leichte Störung der liefen Sensibilität, indem Patient den Zeige¬
finger nicht finden kann.
Bei der (am 17. Mai vorgenommenen) Prüfung des elektrischen
Verhaltens auf faradischen Strom vom Nerven aus ergab sich mit einem
Du Bois-Reymon d’schen Schlittenapparate mittlerer Grösse
Zuckung: Am Stirnast des Facialis links bei einem Rollenabstande
von 8 cm, am Stirnast des Facialis rechts hei einem Rollenabstande
von 8 cm, am Unterkieferast des Facialis links bei einem Rollen¬
abstande von 10 cm, am Unterkieferast des Facialis rechts bei
einem Rollenabstande von 9 cm, am N. ulnaris links bei einem
Rollenabstande von 8'/2c?u, am N. ulnaris rechts bei einem Rollen¬
ahstande von 8 '/2cm, am N. radialis links bei einem Rollenabstande
von 8 Y2cm, am N. radialis rechts bei einem Rollenabstande von
8 cm, am N. peroneus links bei einem Rollenabstande von 8 cm ,
am N. peroneus rechts bei einem Rollenabstande von 8 l/2cm;
bei directer Muskelreizung am M. biceps links hei einem Rollen¬
abstande von 10 y2 cm, am M. biceps rechts bei einem Rollenab-
stande von 10 '/2 cm, am M. sternocleidomastoideus links bei einem
Rollenabstande von 9 '/2 cm, am M. sternocleidomastoideus rechts
hei einem Rollenahstande von 9 '/2 cm.
Die am 14. Mai vorgenommene Harnuntersuchung ergab
nachstehenden Befund: Tagesmenge 1100 cm3; specilisches Ge¬
wicht 1034; Farbe: röthlichgelb ; Reaction: sauer; Nucleoalbumin:
negativ; Serumalbumin: negativ; Zucker: negativ; Indican: positiv;
Bilirubin: negativ; Urobilin: in Spuren; Skatol: positiv; Aceton:
negativ; Acetessigsäure: negativ; Chloride: deutlich vermindert;
Phosphate: in normalem Verhältniss; Sanguis: negativ; Diazoreaction :
negativ.
Decursus morbi: 14. Mai. Patient, der schon seit einigen
Tagen obstipirt ist, erhält drei Kapseln Ol. ricini ä 50. Ohne Effect.
Am Nachmittag erbricht Patient das zu Mittag genossene
Compot; im Anschlüsse daran tritt eine hochgradige Dyspnoe auf
mit sehr frequenter, angstvoller und zeitweise aussetzender Athmung,
gleichzeitig auch Schlingkrämpfe, so dass Flüssigkeiten nicht passiren.
Dabei ist die Gesichtsfarbe blass, Lippen und Ohren cyanotisch,
Nasenlöcher weit geöffnet, choreatische Zuckungen in sämmtlichen
Extremitäten.
G Uhr Abends. Die Anfälle von Atheinnoth wiederholen sich
in rascher Aufeinanderfolge, sie dauern jedes Mal einige Minuten;
Sensorium hiebei erhalten, Puls fadenförmig, starke Cyanose, keine
Pupillendifferenz. Die rechte Thoraxhälfte bleibt während dieser
Anfälle bei den Athembewegungen fast vollständig zurück, während
die linke forcirt inspirirt. Bei der Auscultation fehlt rechts ein
eigentliches Athemgeräusch, dagegen trockene, regellose Rassel¬
geräusche hörbar, links scharfes Vesiculärathmen. Kein Husten,
kein Auswurf. Nach einer erfolgreichen hohen Irrigation besserte
sich der Zustand ganz auffällig, indem der vorher in folge der
Dyspnoe sehr geängstigte Patient sich durch das Auf hören diesei
Anfälle subjectiv wesentlich freier fühlt, dabei erscheint die Cyanose
geringer, die motorischen Reizerscheinungen in Form ehoreatischei
Zuckungen erfolgen jetzt seltener, der Puls wird kralliger, vollei.
80 in der Minute.
15. Mai. Patient klagt über heftige Kopfschmerzen, besonders
in der rechten Stirnhälfte. Zeitweilig stellt sich auch wieder die
Dyspnoe wie am Vortage ein. Dabei lallt aul, dass die unteien
Thoraxpartien beiderseits an der Athmung kaum betheihgt sind,
indem nur die Heber des Thorax einen von der Norm ganz ab¬
weichenden Athmungstypus, nämlich eine krampfartige Einziehung
des Epigastriums im Inspirium, eine starke, stossweise \ orwölbung
166
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 7
während des verlängerten Exspiriums zu bewirken scheinen. Der
auscultatorische Befund im Gleichen.
Wasser wird vom Patienten wohl geschluckt, aber er ver¬
schluckt sich leicht. Profuse Schweise. Injectionen von 01. camphor.
16. Mai. Die in der Anamnese erwähnten Schmerzen in den
Kniegelenken und Waden sind auch jetzt, selbst beiheftigemDrucke, nicht
weiter auszulösen. Die allgemeine Schwäche hat allenthalben deut-
lichst zugenommen. Patient, der am 13. noch, allerdings mühsam
herumgehen und sich auf den Füssen behaupten konnte, vermag
dies nicht mehr, ja er kann sich nicht einmal mehr im Bette
sitzend erhalten. Hände sind schwach und unsicher, Händedruck
kraftlos. Wirbelsäule nicht schmerzhaft, Dornfortsätze bei Druck
nicht empfindlich.
Die eigenthümliche Form der Athmung ist noch stärker pronon-
cirt, die Schädigung des Zwerchfells und Ausschaltung der unteren
Athmungsmuskeln deutlicher geworden.
Im Uebrigen keine Veränderung.
1 7. Mai. Stärkere Cyanose, das Gesicht congestionirt. Patient
ist auffällig versatil, wirft mit den Händen nach den verschieden¬
sten Richtungen und scheint den Kopf ins Kissen zu bohren, keine
Nackenstarre. Er verschluckt sich öfters als bisher, urinirt spontan
ohne Beschwerden.
Sensorium vollkommen frei.
6 Uhr Abends. Patient klagt über Schwäche und grosses
Hungergefühl, ln der Absicht, ein Nährklysma nachzuschicken,
applicirt man ihm zunächst ein Reinigungsklysma. Da dasselbe
jedoch sofort abfliesst, werden weitere künstliche Ernährungsver¬
suche aufgegeben.
1 1 Uhr Abends. Die Anfälle von Athemnoth häufen sich,
starke Cyanose mit kleinstem fliegendem Puls, Lufthunger, Schweiss¬
ausbruch. Die Zwerchfellslähmung in eminenter Weise ausge¬
sprochen.
Nach Injectionen von 01. camphor, fühlt sich Patient subjectiv
wohler und wird ruhiger.
Um 4 Uhr Morgens erfolgt der Exitus letalis.
Nachstehend noch die Uebersicht über Temperatur, Puls etc.
während des ganzen an der Klinik beobachteten Verlaufes:
Datum
Tageszeit
und
Stunde
Temperatur
Puls
-
Respiration
Harnmenge
Specifisches
Gewicht
2
CZJ
Anmerkung
13. Mai
10 Uhr Vorm.
36
78
18
700
1035
4 Uhr Nachm.
36-8
80
18
700
1035
—
14. Mai
7 Uhr Vorm.
36
80
18
1100
1034
_
_
4 Uhr Nachm.
36-8
96
24
—
—
—
Irrigation
6 Uhr Nachm.
mit nachfol-
gender reich-
lieber Ent-
leerung
15. Mai
7 Uhr Vorm.
36-5
72
25
2100
1036
1
4 Uhr Nachm.
37-8
102
36
6 Uhr Nachm.
37-6
—
8 Uhr Nachm.
36-9
—
—
10 Uhr Nachm.
37-2
96
30
16. Mai
7 Uhr Vorm.
36-8
78
28
500
1036
0
9 Uhr Vorm.
37T
—
—
11 Uhr Vorm.
37-4
90
28
1 Uhr Nachm.
37-5
—
3 Uhr Nachm.
37-7
102
32
5 Uhr Nachm.
377
—
—
7 Uhr Nachm.
37'5
108
34
9 Uhr Nachm.
37 5
—
—
17. Mai
7 Uhr Vorm.
37
82
28
600
1037
0
10 Uhr Vorm.
37
—
12 Uhr Vorm.
37-1
—
2 Uhr Nachm.
37-4
—
4 Uhr Nachm.
37-5
102
32
6 Uhr Nachm.
37-8
108
36
Klysma
8 Uhr Nachm.
38
—
_
lOUhrNachm.
38T
120
40
—
Die Autopsie, 4y2 Stunden post mortem vom Herrn Assi¬
stenten Dr. Landsteiner vorgenommen, ergab:
»Hochgradige Hyperämie des Gehirns. Schädeldecken massig
blutreich, Schädel mesocephal, Knochen 3 — 4 mm dick, Nähte er¬
halten. In den Blutleitern flüssiges Blut. Gefässe an der Basis zart.
Die Meningen stark hyperämisch, ebenso das Marklager und die
Rinde. Ventrikel massig erweitert, das Marklager stark durchfeuchtet;
die Consistenz des Gehirnes gering. Zwerchfellstand an der fünften
Rippe beiderseits. Die vorderen Ränder der linken Lunge ge¬
bläht, im Unterlappen blutreich, stark durchfeuchtet. Rechte
Lunge hyperämisch, stark durchfeuchtet, Unterlappen etwas
comprimiit. Aus den Bronchien entleert sich beim Durchschnitt
etwas zäher Schleim. Linke Tonsille geschwellt, in derselben einige
Eiterpfropfe. Die Follikel am Zungengrund stark ausgebildet. Herz-
lleisch von brauner Farbe, Klappen zart. Leber von braunrother
Farbe, die acinöse Zeichnung gut ausgesprochen, von mittlerer
Consistenz. Milz von normaler Grösse, Schnittfläche glatt, sich nicht
vorwölbend, durch Hervortreten der Follikel und Vorhandensein
einer dunkelrothen Pulpa weissroth marmorirt. Die Nieren von
normaler Consistenz, graurother Färbung, die Rindensubstanz leicht
getrübt. Im Magen spärlicher, durch etwas veränderten Blutfarbstoff
braunroth gefärbter Inhalt; die Schleimhaut zum Theil verdaut. Im
unteren Ileum die Follikel geschwellt, stellenweise von Hämorrha-
gieen umgeben. Auch sonst an der Dünndarmschleimhaut Hämor-
rhagieen; ebenso in der Schleimhaut des Colon; die Schleimhaut
selbst im Uebrigen dünn.
Pathologisch-anatomische Diagnose: Hyperämie des Gehirns,
der Lungen; Hämorrhagieen in der Schleimhaut des Dünn- und
Dickdarmes, Bronchitis (Landry’sche Lähmung).«
Resumiren wir nun das beschriebene Krankheitsbild in
aller Kürze, so finden wir, es handle sich um einen 33jährigen,
kräftigen, dem Trünke nicht ergebenen Wäscher, bei dessen
Berufsarbeit besonders die oberen Extremitäten in Anspruch
genommen waren. Ausser einer geringfügigen Sprachstörung,
die nach einem Sturz in frühem Kindesalter aufgetreten war,
und einer mässigen Struma, soll er angeblich nie krank ge¬
wesen sein. Anfangs Mai treten in den Fingern beiderseits
Parästhesien auf. Am 7. Mai raucht Patient doppelt so viel
wie gewöhnlich; am 8. Mai besteht heftiger Schläfenkopf¬
schmerz, Schwindel, Wadenschmerzen, Parästhesien und Paresen
der unteren Extremitäten. Seit 9. Mai ist Patient unter
bronchitischen Erscheinungen bettlägerig, seit dem 13. in klini¬
scher Behandlung mit folgendem Status : Sensorium frei, con-
centrische Gesichtsfeldeinschränkung für Weiss und Farben.
Pupillen reagiren träge auf Licht, besser auf Accommodation.
Corneal-, Gaumen-, Plantar-, Patellar- und Bauchdecken-Reflexe
sind nicht auszulösen. Internus- und Transversuslähmung. Sen¬
sibilität ist in allen ihren Qualitäten ungestört. Es besteht
keine Druckempfindlichkeit der Musculatur und der Nerven-
stämme. Blase und Mastdarm intact. Hochgradige schlaffe
Paraparese, keine Ataxie, keine Entartungsreaction. Im Harn
kein Eiweiss, kein Zucker, hingegen Indican und Skatol
positiv. Am 14. Mai treten Dyspnoe, Schlingkrämpfe, Cyanose
auf. 15. Mai. Parese der Intercostalmuskeln, profuse Schweisse.
16. Mai. Phrenicuslähmung deutlicher, Schwäche fortschreitend.
17. Mai. Sensorium frei, Collaps, 4 Uhr Nachts Exitus letalis.
Der Verlauf war bis kurz vor dem Tode afebril.
Für die Diagnosenstellung kamen in Frage: Polyneuritis,
paroxysmale familiäre Lähmung, Myelitis acuta, Hämatomyelie,
Poliomyelitis acuta, acute Bulbärparalyse, Lues spinalis und
Hysterie neben L a n d r y’scher Paralyse.
Unstreitig besass das Krankheitsbild einige Aehnliclikeit
mit einer peripheren Neuritis. Es sprach dafür der Beginn
mit lebhaften Parästhesieen, der Schläfenkopfschmerz, wie er
sich bei acuten infectiösen Processen findet, das allgemeine
Gefühl von Schwäche und Schmerz in der Musculatur und in
der Umgebung der Gelenke, daran anschliessend das Auftreten
von Paresen, die Areflexie, das Intactbleiben von Blase und
Mastdarm, die Progredienz der Erscheinungen auf Zwerchfell
und Schlundmusculatur.
Dagegen fehlten in unserem Falle die fieberhaften All¬
gemeinerscheinungen, der bei Polyneuritis oft vorkommende
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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initiale, einmalige Schüttelfrost oder wiederholte Fröste, die
trophischen Störungen, stärkere motorische Reizerscheinungen,
Veränderungen der elektrischen Erregbarkeit. Ueberdies ver¬
liefen die Lähmungen nicht sprunghaft, entsprechend dem Ver¬
laufe isolirter Nervenbahnen, sondern ihre Ausbreitung war
eine diffuse, allmälig und doch unaufhaltsam ansteigende mit
beängstigender Tendenz zum Uebergreifen auf die lebens¬
wichtigen Centren der Medulla oblongata. Es war auch
nicht möglich, etwaige Nervenverdickungen zu palpiren, es
fehlten weiters locale Röthe, Schweissbildung und Oedeme,
die, wenn auch nicht immer, bei Polyneuritis doch häufig
Vorkommen. Alle diese Gründe sprachen gegen Polyneuritis.
Weiters musste man an die von Gold flam seit 1890
in einigen Fällen beschriebene paroxysmale, familiäre Lähmung
denken, die sich in plötzlicher, meist des Nachts auftretender
Lähmung der Extremitäten, des Rumpfes und des Halses
äussert, nachdem gewöhnlich Abgeschlagenheit, Mattigkeit und
Gliederreissen vorausgegangen sind. Die Lähmung ist eine
schlaffe, die elektrische Erregbarkeit herabgesetzt. Nicht beein¬
trächtigt werden hiebei die Sprache, das Schlucken, die
Sphinkteren, das Bewusstsein und die Sensibilität.
Die Dauer beträgt einige Stunden bis zu drei Tagen, um
gewöhnlich in plötzliche Genesung überzugehen.
Betont zu werden verdient, dass die Auslösung der An¬
fälle in mehreren Beobachtungen von G o 1 d f 1 a m’scher Läh¬
mung mit copiöser Nahrungsaufnahme in zeitlichem Zusammen¬
hang zu stehen schien, so dass die Annahme einer toxischen
Ursache nahe liegt.
Dieselbe wird noch unterstützt durch den Befund von
Eiweiss, rothen Blutkörperchen und verfetteten Nierenepithelien
in dem zu Ende des Anfalls ausgeschiedenen Harn, und Leuko-
cytose während der Attaque. Sprach schon der Mangel jedei
familiären Disposition gegen diese Diagnose, so musste nach
Ablauf des dritten Krankheitstages, dem Maximum der Dauei
dieser Affection, sicherlich von der Annahme einer G o 1 d-
f 1 a m’schen Lähmung abgegangen werden.
Mit der Myelitis acuta, insbesondere der ascendirenden
Form, hatte unser Krankheitsfall gemeinsam die Prodromal¬
erscheinungen, bestehend in dumpfem Gliederschmerz, Kriebeln
und Mattigkeit der Extremitäten, das rasche Ermüdungs¬
gefühl bei Gehversuchen, die Motilitätsstörungen, die anfäng¬
liche Schlaffheit der Musculatur mit herabgesetzten Sehnen¬
reflexen, die Parästhesieen, das Fehlen der Entartungsreaction,
der Druckempfindlichkeit der Wirbelsäule; auch das hehlen
des Fiebers konnte nicht gegen diese Diagnose verwerthet
werden.
Gegen Myelitis aber liess sich geltend machen : Das
Fehlen stärkerer motorischer Reizerscheinungen, klonischer
Krämpfe oder Contracturen, uer Abgang höhergradigei Sen-
sibilitäts- oder trophischer Störungen, weiters der Mangel von
oculo-pupillären Symptomen, Blasen- und Mastdarmstörungen,
Decubitus, rapid auftretenden Atrophieen; weiters waren keine
entzündlichen Symptome, wie erhöhte Temperatur, Oedeme,
Röthung der gelähmten Glieder nachweisbar, wie sie bei
Myelitis vorzukommen pflegen. Der Ausgang unter Er¬
scheinungen der Athemlähmung und nicht unter cerebialen
Allgemeinsymptomen in Folge Septikämie oder Urämie, wie
gewöhnlich bei Myelitis, sprach noch weiters gegen die An¬
nahme dieses Processes.
An Hämatomyelie war darum nicht zu denken, weil
kein Trauma vorausgegangen, und der Verlauf ein progre¬
dienter war.
Poliomyelitis anterior acuta, eventuell hämorrhagica,
welche gleichfalls differentialdiagnostisch in Erwägung kam,
verläuft allerdings, wie aus den Beobachtungen von Hlava,
Im merman n u. A. hervorgeht, mitunter unter dem Bilde einer
L a n d r y’schen Paralyse; insbesondere finden wir den lein
motorischen Charakter der Lähmung, das b reibleiben dei
Sphinkteren, den Verlust der Sehnenreflexe auch als heivoi
stechendste Symptome der Landry’schen Lähmung.
Hiebei ist jedoch zu bedenken, dass in dem Altei des
Patienten poliomyelitische Erkrankungen nur selten beobachtet
sind, dass sich weiters bei Poliomyelitis im Verlaufe des nicht |
progredienten, meist nur eine Extremität betreffenden 1 ’ro-
ces°es, der vielmehr zu Beginn unter Fieber seine grösste
Ausdehnung erreicht, und nie die Medulla oblongata in Mitleiden¬
schaft zieht, bald Atrophieen und Störungen in der elektrischen
Erregbarkeit einstellen, während diese Veränderungen bei der
Landry’schen Paralyse ohne Betheiligung der peripheren
Nerven fehlen, wobei allerdings die Kürze der Beobachtungs¬
dauer mit erwogen zu werden verdient.
Bei der acuten Bulbärparalyse beobachten wi- auch, wie
bei unserem Falle, Extremitätenlähmung, welcher Prodrome,
bestehend in Hinterhauptsschmerz und Parästhesieen, voraus¬
gehen können; und zwar betrifft die Extremitätenlähmung
auch vorwiegend die Motilität; weiters Schluck-, Sprach- und
Kehlkopflähmung, dann Respirationsstörungen.
Dagegen grenzte sich unser Krankheitsbild von der
acuten Bulbärparalyse ab: durch das Fehlen von Circulations-
störungen, den Mangel stürmischer, initialer Symptome mit
Schwindel und Erbrechen, das Fehlen von charakteristischen
Zungen- und Augenmuskel-Lähmungen, ebenso zwangsmässigen
Aff ectbewegungen , von auffällig vermehrtem Speichelflüsse,
die durch das Offenstehen des Mundes und das Unvermögen,
den Speichel zu schlucken, bedingt ist. Die Sehnenreflexe
können bei der acuten Bulbärparalyse herabgesetzt sein, aber
im weiteren Verlauf eine Steigerung erfahren, sind mithin
differentialdiagnostisch nicht zu verwerthen.
Mit der spinalen Lues hatte das Krankheitsbild unseres
Patienten die Motilitätsstörungen in Form der Paraparese, die
sich bald allmälig, bald rascher entwickeln kann, die schub¬
weise Verstärkung des Processes, das bei der Lues oft vor¬
kommende Intactsein der vegetativen Sphäre gemeinsam.
Dagegen fehlten zum Bilde der Rückenmarkssyphilis die
starke Rigidität der Musculatur, der spastisch-paretische Gang,
die objectiv nachweisbaren Sensibilitätsstörungen, die oft leb¬
hafte Reflexsteigerung. .
Da rein spinale Lues sehr selten ist, und die begleiten¬
den cerebralen Erscheinungen in h orm von Hemiplegie,
Aphasie, Facialis- und Augenmuskellähmungen etc. hier nicht
nachweisbar waren, ebenso der eigenthümlich schwankende
Verlauf und Wechsel in den einzelnen symptomatischen Er¬
scheinungen und ganz besonders auch der anamnestische und
objective Nachweis einer überstandenen Lues fehlte, liess sich
dieser Process mit Sicherheit negiren.
Wenn wir nun finden, dass sich für all die genannten
Affectionen keine jeden Zweifel ausschliessenden Anhaltspunkte
ergaben, musste sich, durch einzelne hervorstechende Symptome
beeinflusst, der Gedanke an Hysterie von selbst aufdrängen.
Die Annahme, in dem vorliegenden Krankheitsbilde einen
Fall von Hysterie zu erblicken, liess sich rechtfertigen durch
den Hinweis auf das fast unvermittelte Auftreten von Läh¬
mungen nach initialem Kopfschmerz, auf die bestehenden
Schluck- und Schlingbeschwerden mit Lähmung von Kehlkopf¬
muskeln, das Auftreten von Aphonie und Respirationsstörungen,
die fehlenden Reflexe des Gaumens, Rachens und der Cornea,
den Mangel von Atrophieen und Veränderungen der elektri¬
schen Erregbarkeit, sowie den negativen Ausfall der ophthalmo¬
skopischen Untersuchung bei concentrischer Einschränkung
des Gesichtsfeldes.
Die Autopsie bestätigte die Annahme, es handle sich
um eine functioneile Erkrankung, denn es liess sich makro¬
skopisch am Central-Nervensystem und auch an den peripheren
Nerven keinerlei Veränderung nachweisen. Ueberdies wurden
vom Rückenmark in verschiedenen Höhen einige Segmente
behufs histologischer Untersuchung entnommen (entsprechend
dem ersten und siebenten Dorsal- und dem ersten Lenden¬
wirbel), in Formalin gehärtet, dann in absolutem Alkohol
nachgehärtet und nach Nissl gefärbt; der Befund war voll¬
kommen negativ, indem die Zellen sowohl betreffs des Kernes,
wie auch des Tigroids ganz normale Verhältnisse boten. Von
peripheren Nerven wurden mehrere Theile der Untersuchung
zugeführt (N. radialis, ulnaris, tibialis ant., peroneus, phreni-
cus), unter Zusatz von 1% Osmiumsäure zerzupft, und er¬
gaben ebenfalls ganz negativen Befund, indem keine Mark¬
ballen in der Markscheide nachweisbar waren.
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Dieser Mangel greifbarer, mit unseren gegenwär¬
tigen Hilfsmitteln nachweisbarer pathologisch-anatomischer
Veränderungen, die uns den klinischen Verlauf erklä¬
ren würden, wäre auch für die Annahme einer hysteri¬
schen Affection zu verwerthen gewesen, wobei wir uns des
Hinweises Obersteine r’s erinnern wollen, dass vielen
Nervenkrankheiten auch ein psychischer Factor zukommt, fin¬
den wohl eine physiologische, nicht aber eine anatomische Er¬
klärung gesucht werden muss.
Wenn aber, wie es manchmal vorkommt, gewisse schein¬
bar positive Hinweise für Hysterie auch nur vereinzelt auf-
treten oder gar durch einige Zeit das Krankheitsbild völlig
beherrschen, dann ist man gerne geneigt, auch andere, nicht
specifische Symptome allgemeiner Natur als hysterische zu
deuten. Wir halten uns dabei das Bestreben Hysterischer, zu
übertreiben, und ihre Anstrengung, angeblich verkannte Krank¬
heitserscheinungen recht lebendig und deutlich zur Schau zu
stellen, vor Augen.
Auf diese Weise erklären sich die Schwierigkeiten für
die Differenzirung von Hysterie und ähnlichen Processen, zu¬
mal wir auch an die Möglichkeit einer hysterischen Componente
bei Combination mit anderen Nervenkrankheiten denken
müssen.
Mit voller Berechtigung wurde darum von Jolly
(Ziemssen’s Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie)
betont, wie schwierig es sei, manche der günstig verlaufenden
Fälle von Land ry’scher Paralyse von hysterischen Lähmungen
zu unterscheiden, und es gilt dies mutatis mutandis für jede
Landry’sche Lähmung in ihrem Beginne, bevor nicht schwerere,
zumal bulbäre Symptome auftreten, die in das Krankheitsbild
volle Klarheit bringen.
Für Hysterie liesse sich in zweifelhaften Fällen besonders
der Umstand geltend machen, dass, wenn auch Lähmungs¬
erscheinungen zurückgehen, andere Symptome, seien es Com-
binationen von Hyper- und Anästhesie, seien es andere Er¬
scheinungen auf motorischem oder sensiblem Gebiete, sich in
bunter Reihe ablösen, plötzlich verschwinden können, um nach
geringfügigen Anlässen in erhöhter Intensität und eventuell
auch in anderer Gestalt neuerdings aufzutreten; es ist mit
einem Worte die Transformationsmöglichkeit der Einzelsymp¬
tome, welche für Hysterie den Ausschlag geben müsste.
Insbesondere der Kehlkopf- und Augenbefund sprachen
in unserem Falle im Zusammenhänge mit der oben bereits
genannten Symptomenreihe für Hysterie, wenigstens in der
ersten Zeit der Beobachtung.
Unter den functionellen Nervenerkrankungen hat die
Hysterie am häufigsten Störungen im Kehlkopf, sowohl in der
motorischen, als auch in der sensiblen Sphäre zur Folge. Da
nach den Erfahrungen P. Ileymann's bei allen organischen
progressiven Lähmungen die Erweiterer zuerst, bei den functio¬
nellen Lähmungen hingegen die Verengerer des Kehlkopfes
allein erkranken, war bei der hier vorliegenden Internus-
und Transversuslähmung der Gedanke an eine functioneile,
und zwar die häufigste functionelle Erkrankung, die Hysterie,
nahe liegend.
Wir mussten uns dem gegenüber jedoch gegenwärtig
halten, dass hysterische Lähmungen des Gaumensegels und der
Schlingmusculatur ungemein selten sind, und dass sie nur dann
als hysterisch bezeichnet werden dürfen, wenn für die Annahme
von Hysterie Gründe zwingender Natur vorliegen, und jede
Complication ausgeschlossen werden kann.
Die Aphonia hysterica ist wohl eine der häufigsten Er¬
scheinungsformen im hysterischen Krankheitsbilde, da die
Stimme in innigster und lebhaftester Wechselbeziehung zu
unserem Affectleben steht (Versagen der Stimme, hysterischer
Mutismus). Zu den grössten Seltenheiten bei der Hysterie
gehört im Gegensätze hiezu die bulbäre Sprachstörung, so
dass die Diagnose auf Hysterie beim Vorhandensein dieses
Symptoms nur mit grosser Reserve gestellt werden könnte.
Den Augenbefund, in specie die concentrische Gesichts¬
feldeinschränkung, welche für Blau grösser ist als für Roth,
für die Diagnose »Hysterie« zu verwerthen. hatte wohl viel Ver¬
lockendes für sich; aber wir wissen, dass Sch loess er bei
allen Erkrankungen, je nach der Schwere des Falles diffe-
rirend, eine concentrische Gesichtsfeldeinengung, die später
wieder zum normalen Gesichtsfeld zurückführte, gefunden hat.
Er ging so weit, dass er in der Gesichtsfeld bestimmung eine
Art Barometer für das Allgemeinbefinden des Individuums er¬
kennen will. Bei Malariafällen mit Temperaturen von 40° be¬
standen an Fiebertagen Gesichtsfeldeinengung von 20 — 30°,
während in der Zwischenzeit eine Erweiterung des Gesichts¬
feldes auf fast 40° zu Stande kommt.
Wahrscheinlich bildet in diesen Fällen die Einschränkung
des Gesichtsfeldes einen Indicator für die Schwere der Läsion
des Gesammtorganismus, und, auf unseren Fall angewandt,
hatten wir in dieser Einschränkung kein specifisch hysterisches
Symptom, sondern nur den Ausdruck der Allgemeinerkrankung,
als Product einer Autointoxication zu erblicken.
Gegenüber den jetzt aufgezählten, für Hysterie sprechenden
Momenten gab es aber eine grosse, und zwar den Ausschlga
gebende Reihe entgegengesetzter Natur:
Das Auftreten der hysterischen Lähmungen erfolgt
plötzlich, im Anschlüsse an Gemüthserschütterungen. Schmerzen,
Krämpfe, Verletzungen; sie haben weiters das Eigen thümliche,
dass sie -ganze Gliedmassen zu betreffen pflegen, welche nach
der Vorstellung des Kranken ein als solches zusammen¬
hängendes Ganzes bilden, oder einen Complex von Bewegun¬
gen, die eine gewisse Function (Stimme, Sprache) ver¬
mitteln.
Weiters lässt die Hvsterie gewisse Reflexe, das Knie-
phänomen, den Cremaster- und Bauchreflex unbeeinflusst,
während motorische Reizsymptome in der Regel deutlich aus¬
gesprochen sind, im Gegensatz zur vorliegenden Beobachtung.
Dazu kam noch, dass jenes gewisse Schwanken des Krankheits¬
bildes, das Vorkommen von Remissionen mit ungestörtem Be¬
finden, die Abhängigkeit der Erkrankung von psychischen
Factoren und affectiven Emotionen und die Reaction der
einzelnen Krankheitssymptome auf diese seelischen Einflüsse,
während das Individuum unfähig ist, hemmend einzugreifen,
eventuelle hysterogene Zonen, typische Stigmen, Transfert,
Suggestibilität, mit einem Worte also die massgebendsten
Kriterien für Hysterie, bei unserem Kranken vollständig
fehlen.
Es liess uns vielmehr das ganze Ensemble des schweren
Krankheitsbildes, die rasche, etappenweise Progredienz des
Processes, der sichtlich und unaufhaltsam zum Exitus drängte,
die Diagnose »Hysterie« mit aller Bestimmtheit verwerfen.
Nachdem man auf diese Weise zur Ausschliessuno- der
verschiedenen, soeben erörterten ähnlichen Krankheitsbilder
gelangt war, blieb mit zwingender Nothwendigkeit nur mehr
die Diagnose »Landry’sche Paralyse« übrig, welche sich im
Hauptsächlichen stützte auf die Raschheit und das typische,
schubweise Fortschreiten der Erscheinungen motorischer Läh¬
mung bei fehlenden cerebralen Symptomen und bei Auf¬
hebung der Sehnenreflexe ohne Veränderung der elektrischen
Erregbarkeit; weiters auf den ascendirenden Charakter des
Processes, der in seinem weiteren Verlauf zu Kau- und Schluck¬
lähmungen und in wenigen Tagen bei vollkommen erhaltenem
Sensorium unter Athemlähmung zum Tode führte; endlich
auf den vollkommen negativen Ausfall der histologischen
Untersuchung von Rückenmark und peripheren Nerven im
Sinne Landry’s, während der Sectionsbefund auf einen in-
fectiösen oder toxischen Process hiuzuweisen schien.
Der Vollständigkeit wegen wollen wir mit Rücksicht
auf die geschilderten Schling- und Athmungsstörungen auch
noch auf die entfernte Aehnlichkeit des Processes mit dem
Excitations-, respective paralytischen Stadium nach Bissver¬
letzung der unteren Extremitäten bei Lyssa, wo es zu einem
aufsteigenden Verlauf der Lähmung kommt, hinweisen; wenn
wir jedoch berücksichtigen, dass die Anamnese keinerlei An¬
haltspunkte für die Annahme eines solchen ätiologischen
Momentes ergab, dass es ferner bei Lyssa schon durch das
einfache Anblasen des Kranken gelingt, die heftigsten Schling-
und Athmungskrämpfe als Folgeerscheinung der stark erhöhten
allgemeinen Reflexerregbarkeit auszulösen, während wir es
hier vorwiegend mit Areflexie zu thun hatten, konnte bei .
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Würdigung des übrigen klinischen Bildes eine Verwechslung
mit Lyssa nicht platzgreifen.
In dem klinischen Bilde, unter welchem unser Fall ver¬
lief, scheinen mir drei Momente noch einer besonderen Er¬
wähnung werth, weil sie, obwohl dem Symptomencomplex
nervöser Erkrankungen im Allgemeinen nicht fremd, doch
hier zum ersten Male vielleicht, so weit mir die bezügliche
Literatur zu Gebote stand, mit der Landry’schen Paralyse
in nähere Beziehung gebracht erscheinen.
Ich meine hiemit zunächst den Beginn der Parästhesieen
an den Fingern bei einem Individuum, dessen Hände durch
seine Berufstätigkeit ganz besonders in Anspruch genommen
waren, dann die Kehlkopflähmung und Gesichtsfeldein¬
schränkung.
E dinger hat in eingehender Weise die Bedeutung der
localen Ueberanstrengung für die Degeneration von Nerven¬
bahnen und Centren betont und daraus zu erklären ver¬
sucht, warum bei vorhandener Krankheitsdisposition, be¬
ziehungsweise Krankheit, diese in bestimmten Gebieten des
Nervensystems, als den individuell besonders functioned an¬
gestrengten, sich zu äussern pflegt. Es gehören in diese
Krankheitsgruppe die vielen Beschäftigungsneurosen, welche
sich fast einzig und allein auf die oberen Extremitäten be¬
schränkt vorfinden und an den unteren Extremitäten nur
als Rarität in Folge localer Ueberanstrengung aufzutreten
pflegen.
Gleichwie v. Kr afft- Ebing »locale3 Surmenage«
als Ursache von Paralysis agitans hinstellt, dürfen wir ana¬
loger Weise auch den Beginn der Landry’schen Paralyse
unter dem Bdde von Parästhesieen der Finger im vorliegenden
Falle als Consequenz der localen Ueberarbeitung bei einem
Wäscher auffassen, in voller Uebereinstimmung mit E d i n ge r,
welcher durch ungenügenden Ersatz gegenüber der erhöhten
Function der betreffenden Nervenfaser diese Art von Nerven¬
erkrankungen zu erklären sucht, was er auch experimentell
mit H e 1 b i n g nachgewiesen hat.
Die Beziehungen der Kehlkopflähmung zur Landry-
s dien Paralyse scheinen deshalb wichtig, weil einerseits
unter den functionellen Nervenerkrankungen die Hysterie es
vornehmlich ist, welche so gerne Kehlkopfstörungen setzt, und
wir vorkommenden Falles aufs Schwerste enttäuscht werden
können, wenn wir die betreffende Lähmung als hysterisch
hinstellen würden.
Andererseits vermag auch eine Kehlkopflähmung allen
anderen objectiv auffallenden Symptomen der Tabes lange
Zeit, selbst ein bis zwei Jahre vorherzugehen, so dass es als Regel
gelten muss, in allen auch nur halbwegs uuklaren Fällen von
Kehlkopflähmung organischer Natur der Prüfung der Reflexe
besonderer Aufmerksamkeit zu schenken, wenn auch in un¬
serem Falle die Annahme einer Tabes schon mit Rücksicht
auf den Verlauf gar nicht weiter in Frage kam.
Die Beziehungen der concentrischen Gesichtsfeldeinschrän¬
kung zur Landry’schen Paralyse endlich möchten wir aus
dem Grunde betonen, weil wir immer geneigt waren, in dieser
Erscheinung ein hysterisches Symptom zu erblicken, und zwar
mit Unrecht, seitdem wir wissen, wie eigentlich ein jedes
Kranksein die Grösse unseres Gesichtsfeldes zu beeinflussen
vermag.
Da, so weit meine diesbezüglichen Nachforschungen in
der Literatur ergeben haben, diese Beziehungen zwischen
Landry’scher Lähmung und Kehlkopflähmungen einer- und
Gesichtsfeldeinschränkung andererseits bisher nicht gewürdigt
erscheinen, möchte ich auf deren Vorkommen ganz besonders
aufmerksam gemacht haben.
Versuchen wir es nun, dem ätiologischen Moment des
Krankheitsprocesses näher zu treten, so müssen wir in erster
Linie an die Bacteriologie denken, welche uns in den letzten
Jahren so schätzenswerthe Entdeckungen über Krankheits¬
erreger vermittelt hat.
Zumal die Landr y’sche Paralyse mit dem Allgemein¬
bilde einer Infection skrankheit in ihrem Verlaufe Aehnlichkeit
hat, versuchte man sowohl in vivo als auch in der Leiche
Bacterien nachzuweisen.
In der That gelang dies mehreren Autoren, und zwar
sind es zumeist die aus neuerer Zeit stammenden I ublicationen,
welche über einen positiven bacteriologischen Befund zu be¬
richten wissen, so dass von sehr massgebender Seite dem Ge¬
danken Raum gegeben wurde, es gebe keine wirkliche Landry-
sche Paralyse, bei der sich nicht bei Verwendung geeigneter
bacteriologiscber Untersuchungsmethoden Bacterien nachweisen
liessen. _
Um so wichtiger erscheint darum der in unserem Falle
erhobene negative Befund; trotzdem wir unter den entsprechen¬
den Cautelen den Harn und das Blut in vivo bacteriologisch
untersuchten, gingen aus beiden Flüssigkeiten keinerlei Lac-
terien auf.
Damit ist zum Mindesten der Beweis erbracht, dass man
von dem negativen Resultat solcher Proben das I alienlassen
der Diagnose »Landr y’sche Paralyse« nicht abhängig machen
kann. .
Der Bacteriologie, welche uns im vorliegenden I alle keine
näheren Aufschlüsse über die etwaigen Krankheitserreger \ei-
mittelt hatte, wird seit einiger Zeit durch die Lehre von den
Krankheitsgiften, in ihrer Bedeutung für die Aetiologie und
Pathogenese ernstliche Concurrenz gemacht, und die Iheoiie
von den Autointoxicationen, welche von Bouchard be¬
gründet, von C h a r r i n und A 1 bu ausgestaltet wurde, belehrt
uns über die Möglichkeit von einzelnen Krankheitserscheinungen
und ganzen Krankheitscomplexen, für welche wir vergebens
nach, wenigstens mit unseren gegenwärtigen Hilfsmitteln, nach¬
weisbaren anatomischen Ursachen suchen.
Der M. Basedowii, M. Addisonii, die Neurasthenie,
Tetanie (Bouveret und Devic), gewisse Psychosen etc.
sind schon als Autointoxicationen gedeutet worden, und als
nahezu gewiss ist dies für eine Reihe nervöser Krankheits¬
erscheinungen, epileptiformer Zustände erwiesen, die sich im
Anschlüsse an chronische Magenerweiterung, Atonie des Daim-
tractes und hartnäckige Obstipation entwickeln können.
Wenn wir Kriterien für die Steigerung der Darmfäulniss aus
der vorhandenen Vermehrung irgend eines der Producte ab¬
normer Darmthätigkeit: Indican, Aceton, Phenole, gepaarte
Schwefelsäuren, zu erbringen vermögen, so können wir dann
den Hinweis auf eine möglicher Weise vorliegende Autointoxi¬
cation des Gesammtorganismus erblicken.
Mit vollem Rechte glaube ich, die in der Kranken¬
geschichte erwähnte hartnäckige Stuhlverstopfung, den positiven
Ausfall der Indican- und Skatolprobe, wie insbesondere die auf¬
fällige Besserung der Erscheinungen nach einer erfolgreichen
hohen Irrigation, für die Annahme einer Autointoxication duich
im Körper selbst erzeugte giftige Stoffwechselproducte ver-
werthen zu können. ...
Wir sind vielfach, wenn wir einer Autointoxication
gegenüber zu stehen glauben, nicht in der Lage, die Enegei
der Krankheit, die Endotoxine, nachzuweisen, und müssen
darum oft ex juvantibus, hier z. B. aus dem Effect dei
Therapie, für das, was bis dahin nur Vermuthungsdiagnose
war, eine Stütze suchen.
Der Satz Bouchard’s: »L’homme sain est un receptacle
et un laboratoire de poisons« bietet uns den Schlüssel ftii die
Annahme, dass gewisse toxische Producte beim Menschen schon
normaler Weise Vorkommen und ausgeschieden werden, jedoch,
sei es durch ungenügende Oxydation oder durch übermässige
Production oder auch in Folge ihrer unzureichenden A.us-
scheidung, durch ihr Verweilen im Körperkreislauf gefährlich
werden und deletäre Einflüsse auf das ganze Nervensystem
äussern können. , , ,
Wenn wir die ätiologische Auffassung der Landry sehen
Lähmung als Autointoxication acceptiren dürfen, dann eröffnet
sich auch eine ganze Reihe von Gesichtspunkten für unser
therapeutisches Handeln, welches darin gipfelt den Gittstoü
in loco, das heisst an seiner Bildungsstätte aufzusuchen, i m
zu entfernen, und die bereits eingetretene Giftwirkung durch
seine Verdünnung und durch die Beschleunigung seiner Elimi¬
nation abzuschwächen. . . ,
Wir würden zu diesem Zwecke für eine reichliche ötuhl-
entleerung, Magenausspülung, ausgiebige Diurese und Diaphorese
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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160
Sorge tragen müssen, und auch eventuell vor einem Aderlässe
nicht zurückschrecken, indem wir annehmen, dass das Blut
auf diesem Wege von einem T heil seiner abnormen Bestand-
theile entlastet und die Regeneration beschleunigt werden
könnte.
Injectionen von physiologischer Kochsalzlösung könnten
mit Rücksicht auf die behinderte Flüssigkeitszufuhr in Er¬
wägung des durch sie gesteigerten Blutdruckes und der even¬
tuellen Verdünnung der im Blute kreisenden freien Toxine,
sowie durch die Steigerung der Diurese und die consecutive
Ausscheidung der supponirten Krankheitserreger nur nützlich
sein. Mau könnte sich auch denken, dass eine solche Injection
einen functioneilen Reiz für jene anatomischen Elemente und
Zellgruppen setzt, durch welche die chemotaktischen Eigen¬
schaften, die Phagocytose und antitoxische Gesammtreaction
des Körpers bedingt sind.
Die innerliche Darreichung von Hefe, welche von
Q u i n c k e als Darmantisepticum besonders gerühmt wird,
eventuell Kalomel, Menthol, Thymol, Salicylpräparate, endlich
auch sämmtliche Versuche zur Hebung der Magen- und Darm-
atonie und zur Förderung des allgemeinen Stoffwechsels dürften
ohne Bedenken zur Anwendung kommen.
Versuchen wir am Schlüsse unserer Ausführungen kurz
zu resumiren, so ergibt sich:
1. Es lag hier ein Fall von Landry’scher Paralyse
vor, bei welchem sowohl die bacteriologische Untersuchung
von Harn und Blut in vivo, als auch die vier Stunden post
mortem vorgenommene Autopsie und die pathologisch histo¬
logische Untersuchung von centralem Nervensystem und peri¬
pheren Nerven ein vollkommen negatives Resultat zu Tage
förderten.
2. Bei der L a n d r y'schen Lähmung können Kehlkopf¬
lähmungen auftreten im Sinne von Internus- und Transversus-
lälimung, wie man sie vornehmlich bei Hysterie anzutreffen
pflegt.
3. Als ätiologisches Moment für die L a n d r y’sche Läh¬
mung wäre eine Autointoxication ins Auge zu fassen; wahr¬
scheinlich eine vom Darm ausgehende, die auf vermehrte
Fäulnissprocesse zurückzuführen wäre.
4. Damit wäre es zu erklären, wenn einerseits trotz fou-
droyanter klinischer Symptome der Obductionsbefund negativ
ausfällt, oder andererseits pathologisch-histologisch eine als
toxisch aufgefasste Polyneuritis oder Myelitis erhoben wird.
Für das Vorhandensein einer Autointoxication sprach in
unserem Falle das Vorhandensein von Darmfäulnissproducten
im Harn und die allerdings vorübergehende Besserung nach
reichlicher Stuhlentleerung.
5. Mit Rücksicht auf diese Annahme wären antifermen¬
tative Massnahmen indicirt.
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v. Krafft-Ebing, Ueber locales Surmenago als Ursache von
Paralysis agitans. Wiener klinische Wochenschrift. 1899, Nr. 5.
E d i n g e r, Volkmann’s Sammlung klinischer Vorträge. Nr. 106.
Hey mann, Handbuch der Laryugologie und Rhinologie. 1898.
Schloesser, Bedeutung der Gasichtsfelduntersuchung für die all¬
gemeine Diagnose. Münchener medicinische Wochenschrift. 1897, 5.
A 1 b u, Die Bedeutung der Lehre von den Autointoxicationen für die
Pathologie. Volkmann’s Sammlung klinischer Vorträge, Nr. 141.
Aus dem Ambulatorium für Nasen- und Halskrankheiten
des Prof. Dr. 0. Chiari an der Wiener Allgemeinen
Poliklinik.
Ueber Speichelsteinbildung.
Von Dr. Friedrich Hanszel, Assistent.
In rascher Aufeinanderfolge kamen im eben abgelaufenen
Jahre drei Fälle von Sialolithiasis an obiger Abtheilung zur
Beobachtung und möchte ich deren Mittheilung damit be¬
gründen, dass erstens Speichelsteinbildung ein seltenes Vor-
kommniss darstellt und zweitens, dass bezüglich der Aetiologie
wohl mehrere Hypothesen vorliegen, welche jedoch alle nur
vereinzelte Annahmen sind, die weiterer Proben auf ihre
Richtigkeit bedürfen.
Die relative Seltenheit der Concrementbildung in den
Speicheldrüsen und deren Ausführungsgängen beweisen die
immerhin spärlichen Literaturangaben, sowie eine diesbezüg¬
liche Durchsicht der Statistiken der meisten chirurgischen
Kliniken und grösseren Abtheilungen, der laryngologischen
Universitätsklinik, der Protokolle obiger Abtheilung — insge-
sammt jedenfalls ein ganz bedeutendes Krankenmaterial um¬
fassend.
Namentlich mit Rücksicht auf die Frage der Aetiologie
sei es mir nach Mittheilung meiner drei Fälle erlaubt, etwas
ausführlicher zu berichten.
Fall 1. Leontine 15., 37 Jahre alt, Prot -Nr. 990, ex 1899.
Anamnese: Vater der Patientin angeblich an Carcinoma
ventriculi gestorben, die Mutter und beide Geschwister sind gesund.
Von einer Steinerkrankung irgend eines Verwandten weiss Patientin
nach genauester Erkundigung nichts anzugeben. Sie selbst war nie
ernstlich krank, litt nur vorübergehend an Kopfschmerzen, war jedoch
nach ihrer Angabe immer »auffallend blass«. Als Kind hatte sie
häufig länger dauernden Zahnschmerz, wobei auch jedesmal die
gleichseitige, linke Unterkioferdrüse stark geschwollen war, welche
Schwellung auch nach der Extraction des cariösen Unlerkiefer-
molaris nur wenig abnahm. Dagegen wurden ohne Erfolg durch
längere Zeit Einreibungen mit Jodsalbe vorgenommen.
Ueber das Auftreten der < leschwulst unter der Zunge gibt die
recht intelligente Patientin an, dass dasselbe genau mit dem Ein¬
setzen der ersten Menstruation zusammenfällt. Patientin, deren All¬
gemeinbefinden damals bedeutend gestört war, bemerkte zunächst
ein Spannungsgefühl, hernach eine rasch zunehmende Schwellung
und Schmerzhaftigkeit der linken Unterkieferdrüse. Zwei Tage darauf
trat auch eine Geschwulst links unter der Zunge auf, wogegen Pa¬
tientin auf ärztliche Anordnung Spülungen mit sehr kaltem Wasser
anwandte — was eine Steigerung der Beschwerden zur Folge hatte
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
161
- hingegen verschwanden Geschwulst und Beschwerden, nachdem
Patientin local Wärme applicirt hatte. Die Unterkieferdrüse jedoch
blieb nach wie vor deutlich vergrössert zu fühlen.
Von dieser Zeit ab trat durch 22 Jahre kein Recidiv der Unter¬
zungengeschwulst auf, während die Schwellung der Submaxillar-
drüse vorübergehend ab- und zunahm, jedoch nie ganz wi¬
schwand.
Circa vier Wochen nun, bevor Patientin unser Ambulatorium
aufsuchte, erkrankte sie angeblich mit Fieber und Verdauungs¬
störungen, weswegen die Nahrungsaufnahme eine sehr geringe war
und traten nach einiger Zeit genau dieselben Beschwerden —
Schwellung und Schmerzhaftigkeit der linken Unterkieferdrüse
und sodann Geschwulstbildung unter der Zunge — wie vor
22 Jahren dazu.
Da eine locale Wärmcapplication diesmal nicht den ge¬
wünschten Erfolg brachte und insbesondere die sublinguale Geschwulst
rasch sich vergrösserte, kam Patientin am sechsten Tage dieser ihrer
Erkrankung zu uns.
Status praesens: Patientin, gracil gebaut, von hochgradig
anämischem Aussehen. Die Schleimhaut der Nase und des Rachens
bietet das Bild eines trockenen Katarrhes, die des Larynx ist blass,
anämisch. 26 Zähne gesund, keine Zahnsteinbildung; die übrigen
Zähne waren wegen Caries extrahirt. Unter der linken Zungenseite eine
den Sulcus alveolo-lingualis ganz au st alle n d e,
längliche Geschwulst von intensiv rother Farbe. Mit Rück¬
sicht auf die grosse Schmerzhaftigkeit musste von einer genaueren
Palpation Umgang genommen werden. In der Gegend des
linken Unterkiefer winkeis findet sich ein wal¬
nussgrosser, praller, auf Berührung sehr schmerz¬
hafter Tumor, von normaler Haut bedeckt. Nähere Consistenz-
verhältnisse und Verschieblichkeit konnten auch hier, der grossen
Schmerzhaftigkeit wegen, nicht ermittelt werden. Die weitere Unter¬
suchung des Körpers ergab ausser Ren mobile keinen nennenswerten
abnormalen Befund.
Die Diagnose lautete auf Stenosis ducti Whartoniam,
wahrscheinlich durch ein Concrement bedingt. Da die orale Mün¬
dung des Ductus nicht zu finden war, scheiterte der Versuch, durch
Sondirung und Erweiterung des Ductus das Hinderniss zu beseitigen
und i n ci d i r te ich auf der Höhe des Tumors mit einem circa 1 cm
langen Schnitt, wobei ich mit dem Messer am distalen Ende dos
Schnittes einen harten Körper berührte. Die Blutung war verbal t-
nissmässig stark, doch entleerte sich keine andere Hüssigkeit. Untei
lebhaften Schmerzesäusserungen der Patientin extrahirte ich leicht
einen kirschkerngrossen, harten Körper.
Auf die Wunde wurde Xeroformpulver gestaubt und eine
Lösung von Kali hypermanganicum als Spülwasser angeordnet.
Nach acht Tagen war die Incisionsöffnung geschlossen und
alle Beschwerden geschwunden. Die Submaxillardrüse war nach
14 Tagen nur mehr bohnengross und ist es bis zum heutigen läge
geblieben.
Das Concrement ist grau gelblich, von glatter
Oberfläche, von der Grösse und Gestalt eines
Kirschkernes. Der äusserst harte Stein erweist sich nach Zer¬
kleinerung als durchaus solid, zeigt im Centrum keinen Canal und
weisen die Bruchflächen im Farbenton keinen Unterschied mit der
Oberfläche, noch auch eine Schichtung auf. Die Härteprüfung nach
Gene r sich1) ergab, dass das Concrement Steinsalz ritzte.
Die chemische Analyse eines Theiles des Concrementes
constatirte sowohl in diese m, als auch i n den beiden
nächsten Fällen, dass die Steine aus phosphorsaure m
neben wenig kohlensaurem Kalk bestehen und ge¬
ringe Mengen organischer Substanz au I \v eisen .
Der che mischeBe fund des Mundspeich eis lautete :
Flüssigkeit farblos, am Boden ziemlich reichliches Sediment, Reaction
schwach sauer.
Die mikroskopische Untersuchung ergab das Vorhanden¬
sein sehr zahlreicher Lymphoidzellen und grosser Plattenepithehen,
sowie einzelner rother Blutkörperchen.
Diastatisches Ferment in reichlicher Menge vorhanden, ebenso
Rhodan.
Die bacteriol ogische Untersuchung der anderen 1 heile
des Concrementes — wobei auch das Centrum des Steines — sowie
der sanguinolenten Flüssigkeit aus der Incisionsöffnung ci_ob
keinerlei Anhaltspunkt für eine b a c t e r i e 1 1 e Ur¬
sache zur Concrementbildung.
Die Blutuntersuchung bestätigte die Diagnose »Anämie«.
Im Harne fand sieh Indican in grösserer Menge.
Fall 2. Maria K., 27 Jahre alt, P.-Nr. 3913, ex 1898.
An amnestisch ist hervorzuheben, dass Patientin als Kind
angeblich immer kränkelte, jedoch niemals ernstlich krank war.
Die Eltern und zwei Geschwister leben und sind gesund, eine
Steinerkrankung soll in der Familie nicht vorgekommen sein. In
ihrem 15. Lebensjahre trat die erste Menstruation aut und lag i a-
tientin damals mehrere Tage zu Bette. Zu dieser Zeit traten ziehende
und stechende Schmerzen links unter der Zunge aut, die sich be¬
sonders bei der Nahrungsaufnahme störend bemerkbar machten.
Nach wenigen Tagen war eine Geschwulst unter der Zunge schon
auf Bohnengrösse angewachsen und stellte sich allmälig auch eine
schmerzhafte Anschwellung der linken Unterkieferdrüse ein. Durch
häufiges Andrücken mit den Fingern auf die Unterzungengeschwulst
konnte Patientin plötzlich in einem Strahle eine angeblich salzig
schmeckende, wässerige Flüssigkeit aus der Geschwulst entleeren.
Daraufhin fielen beide Tumoren ab und alle Beschwerden waren
behoben.
Nach ungefähr vier Jahren, während welcher Zeit
dieses Leiden gänzlich fernblieb, trat mit den eben geschilderten
Beschwerden an derselben Stelle ein diesmal perlenschnurartigei
Tumor auf, den Patientin wieder durch häufiges Andrücken mit der
Zungenspitze und den Fingern entfernen konnte, wobei sich jedes Mal
eine schleimige, abermals salzig schmeckende Flüssigkeit entleerte.
Nach fünfjährigerPause abermaliges Re cid i v.
Patientin konnte aus der länglichen Geschwulst nach einigen lagen
ihres Bestehens eine dickliche, schleimige Masse ausdrücken, wobei
sich auch ein kleines, längliches Gebilde von der Farbe und Con-
sistenz eines weichen Käses befand. - Die Unterkieferdrüse war dies¬
mal nicht alterirt. Da die Geschwulst iedoch nicht ganz zum Ver¬
schwinden gebracht werden konnte, besuchte Patientin obiges
Ambulatorium, woselbst ich die Sondirung des Ductus \\ hartomanus
mit einer dünnen elastischen Sonde vornahm, worauf sich eine
schleimige, trübe Flüssigkeit entleerte. Der Tumor und die Be¬
schwerden verschwanden.
Drei Jahre Pause, nunmehr abermaliges Recidiv, wes¬
wegen Patientin wieder unsere Hilfe aufsucht. Ihre Angabe besagt,
dass vor vier Tagen innerhalb weniger Stunden ohne bekannte Ur¬
sache eine sehr schmerzhafte Anschwellung unter der linken Zungen¬
hälfte auftrat, wozu sich jetzt auch wieder eine allerdings geringe,
aber schmerzhafte Submaxillardrüsenschwellung gesellte.
Status praesens: Patientin mittelgross, gracil gebaut,
von anämischen Aussehen. Die Untersuchung der Nase ergibt das
\ UH cuicunioviivii - . , i
Bild der beginnenden Atrophie der Schleimhaut, im 1 harynx und
Larynx keine nennenswerthen Veränderungen. Zähne gesund, keine
Zahnsteinbildung. Lungenbefund normal, über dem Herzen acces-
sorische, anämische Geräusche.
Unter dem linken Unterkieferwinkel findet sich eine kastamen-
f rosse Geschwulst, von normaler Haut bedeckt und unter dieser
verschieblich, die sowohl auf Berührung, als auch spontan massig
schmerzhaft ist und bei genauerer Palpation eine gleichmassig i ei jo
Consistenz aufweist. . . , •
Im linken Sulcus alveolo-lingualis zeigt sich eine taube e -
„rosse Geschwulst, die den schlankeren Antheil gegen das Frenulum
fino’uae gekehrt hat und deren geröthete Schleimhaut, stellenweise
verdünnt, daselbst einen gelblichen Farbenton aufweist In der
Mitte des Tumors, entsprechend einer verdünnten Schleimhaut-
partie, konnte man deutlich mit der Sonde einen harten Körper
tasten ^ ^ . a n 0 s e lautete auf Concrement im Ductus W har-
tonianus und glaube ich nach dem bisher Gesagten dieselbe wohl
nicht erst begründen zu müssen.
Da die Sondirung des Ductus nur auf wenige Millimeter gelang
und keinen Erfolg hatte, incidirte ich auf den harten Körper,
wobei es wenig blutete, dagegen eine reichliche Menge tn.be.
schleimiger Flüssigkeit sich entleerte. In der Incisionsöffnung /ei.
sich ein länglicher Körper, der, frei beweglich, sich leicht extrahiren liess-
Das spindelförmige, sehr harte Unc eine
war von g e 1 b 1 i c h w e i s s e r Farbe genau cm im
Läng endure hm es serundvon feinhöckenge
162
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
N ... 7
fläche. Auf den Schnittflächen erwies es sich als durchaus
homogen und konnte kein Fremdkörper in demselben
ermittelt werden. Bezüglich der Härteprüfung und der c h c m i-
sehen Analyse verhielt sich dieses Concrement wie jenes in
Fall 1.
Die Schnittwunde war in einigen Tagen völlig reactionslos
geheilt und auch der Drüsentumor war nach acht Tagen geschwunden
Nunmehr gelang die Sondirung des Ductus auf 2'/., cm.
Bei Patientin, die sich auf meine Aufforderung erst kürzlich
wieder vorstellte, zeigt sich bisher nicht die geringste Veränderung
und konnte ich den Ductus auf 3 cm sondiren.
Die bacteriologische Untersuchung des Secretes aus
der Incisionsöffnung ergab das Vorhandensein von Streptococcen
und Di p 1 o c o c c u s pneumoniae und ebenso konnten i n d e m
Concrement Streptococcen nachgewiesen werden.
Die Blutuntersuchung ergab die Diagnose »Chlorose und
Anämie«. Der Harnbefund war normal.
Wesentlich weniger habe ich über den dritten Fall zu be¬
richten.
Fall 3. Hermann R, 17 Jahre alt, P.-Nr. 4107 ex 1898.
Die Anamnese besagt, dass Patient bisher stets gesund
war, bis er vor kurzer Zeit eine Gonorrhoe acquirirte.
Auch in der Familie dieses Patienten ist eine Stein-
erkrankung angeblich nicht vorgekommen.
Seit einigen Monaten verspürte er öfter vorübergehend ziehende
Schmerzen links unter der Zunge, die vor sechs Tagen besonders
heftig, namentlich beim Essen auftraten. Alsbald bemerkte Patient
dasselbst eine Geschwulst von der Grösse und Form einer grossen
Kirsche, wogegen er kalte Ausspülungen des Mundes vornahm. Da
sich jedoch die Beschwerden steigerten und die Geschwulst zunahm,
suchte Patient unser Ambulatorium auf.
Patient ist seit einem Jahre starker Pfeifenraucher und gibt
ohne Befragen an, dass das Mundstück seiner schweren Pfeife gerade
an der nunmehr erkrankten Stelle zu liegen pflegt, was er als Ur¬
sache dieser Erkrankung annimmt Abnormale Speichelsecretion
wurde nicht beobachtet.
Status praesens: Der kräftig gebaute, mittelgrosse Patient
zeigt ein ausgesprochen anämisches Aussehen. Die sichtbaren Schleim¬
häute sind auffallend blass. Zähne gesund, keine Zahnsteinbildung.
Es besteht eine schleimig-eiterige Secretion aus der Harnröhre.
Unter der linken Zungenhälfte sieht man einen spindelförmigen
I umor, dessen Oberfläche ungefähr in der Mitte der Geschwulst eine
gelbliche, verdünnte Schleimhaut aufweist, an welcher Stelle man
mit der Sonde einen harten Körper constatiren kann. Die gleich¬
seitige Submaxillar drüse ist nicht zu tasten, auch ist keine andere
1 trüsenschwellung nachweisbar.
Die Diagnose lautete auf Concrementbildung im Ductus
V hartonianus und wurde, da die Sondirung wegen Unauffindbarkeit
der oralen Mündung des Ductus nicht gelang, auf den harten Körper
i n c i d i r t, worauf bei minimaler Blutung das freiliegende Con¬
crement leicht extrahirt wurde.
Von der Incisionsöffnung konnte ich nun nach Cocainisirung
den Ductus sowohl gegen die orale Mündung als auch gegen die
Drüse leicht sondiren, wobei sich keine Flüssigkeit entleerte.
Die Wunde war nach einigen Tagen vollständig geheilt.
Das Concrement war nahezu k u g e 1 i g, von
ca. 1 0 mm im Durchmesser, glatter Oberfläche und
g e 1 b 1 i c h w e i s s e r Farbe. Dieses Concrement ritzte weniger
leicht Steinsalz als die früheren.
Es ci w ies sich als durchaus von gleicher S t r u c t u r,
zeigte keine Hohlräume, keinen centralen Canal und ergab, chemisch
anal} sir t, denselben Belund wie die beiden eben beschriebenen
Concremente. Auch hier fehlten Rhodanverbindungen.
Eine bacteriologische Untersuchung musste diesmal
entfallen, da das ganze Concrement bei der chemischen Untersuchung
aufgebraucht wurde.
Die Blutuntersuchung bestätigte auch in diesem Falle
die Diagnose Anämie. Im Harne fand sich Eiweiss in Spuren.
Was die Aetiologie der Concrementbildungen in den
Speicheldrüsen und deren Ausführungsgängen anlangt, möchte
ich vor Allem auf die Arbeit von F. Kraus2) hinweisen, der
daiin die Mehrzahl der diesbezüglichen Theorien citirt; immer¬
hin bedürfen dieselben der Vollständigkeit wegen noch einer
Ergänzung.
Die von Hippok rates3) herrührende Ansicht, dass
Speichelsteine gichtische Ablagerungen seien, findet
in der Literatur gar keine Stütze und hat deren Unhaltbar-
keit namentlich Immisch1) bewiesen. Letzterer vertritt
die Annahme einer chronischen Entzündung des
Speichelganges und hält nicht für ausgeschlossen, dass
Speichelsteine auch durch entzündliche Rauhigkeit
der Wandung des Ductus entstehen können, indem da¬
selbst sich Speichelsalze ablagern. Damit will Immisch auch
den Canal, der sich angeblich oft im Centrum der Concre¬
mente vorfinde, erklären, welcher Ansicht jedoch Czygan5)
entgegentritt.
M arreau r>) hingegen beschuldigt eine entzündliche
Strict ur als Anlass zur Steinbildung. Als diesbezügliche
äussere Ursachen werden genannt : Erkältung (?), Hg-
Curen, Traumen und durchgemachte acute Entzündungen der
Glandula submaxillaris.
Auch wird eine chemische Blutalteration als
Ursache der Speichelsteinbildung angegeben, desgleichen eine
pathologische Neigung zu Sialolithiasis, wrelche An¬
nahmen Czygan nicht von der Hand weisen möchte, indem
er eines Falles erwähnt, bei welchem zuerst in der linken und
nach einigen Jahren in der rechten Submaxillardrüse sich
Concrementbildung zeigte.
Ferner wird hingewiesen auf eine mechanische Zu¬
rückhaltung des Speichels und weiters findet sich in
Ziegler’s pathologisch-anatomischem Lehrbuche, I. Theil, die
Angabe, dass Speichelsteine durch Imprägnation einer
von den Drüsengängen, namentlich von den E p i-
thelien gelieferten Substanz entstehen.
Eine andere Hypothese vertreten Wertheimer ’),
Berger8), Genzmer9) und Czygan, indem sie in die
Drüse oder deren Ausführungsgang eingedrungene Fremd¬
körper — wie Johannisbeere, Grashachel, Fischgräte, Holz¬
stückchen, Haferkern, Flaumfeder — als Ursache der Stein¬
bildung angeben, worüber auch Scheller10) und Senator11)
mit je einem Falle berichten.
Auch eingedrungene Zahnsteinstückchen werden
als Fremdkörper diesbezüglich beschuldigt.
Der Vollständigkeit halber — aber auch nur deswegen
— möchte ich die Annahme St an ski’s12) erwähnen, der aus
einem Falle, in welchem er in der Submaxillardrüse zwei
rudimentäre Zähne gefunden haben will, den jedenfalls ge¬
wagten Schluss zieht, dass es sich in allen Fällen von Sialo¬
lithiasis nicht um Speichelsteine, sondern um Producte einer
von ihm angenommenen dritten Dentition handle.
Aus demselben Grunde will ich Wyatt Pratt’s13)
Ansicht mittheilen, der hiebei an kalkige Concremente der
Phthisiker denkt.
Die Theorie, welcher in neuerer Zeit die meisten Autoren
beipflichten, ist die bacteriologische.
So fand Klebs11) die Concremente von Leptothrix-
fäden durchsetzt und führt dieser die Steinbildung auf eine
biologische Leistung der Mikroorganismen zurück, deren Lebens¬
fähigkeit in den Concrementen von Galippe15) angegeben
wird. Dieselbe Theorie stützen ferner die Angaben von Maas10)
und Rosenberg17), welch Letzterer namentlich auf den
Leptothrix b u c c a 1 i s als den ursächlichen Erreger
hinweist.
*
Bezugnehmend aut meinen e r s t e n Fa 1 1 möchte ich der
Krankengeschichte kurz entnehmen, dass mehrere Jahre vor
den Stenosesymptomen die entsprechende Submaxillardrüse
immer mehr oder weniger vergrössert und hie und da auch
spontan schmerzhaft war. Ferner auf den Umstand hinweisend,
dass das Concrement in dem der Drüse nächstgelegenen Ductus-
antheile sich vorfand, und endlich die Form des Conerementes
betrachtend, musste man zu der Annahme kommen, dass in
diesem Falle eine chronische Entzündung der
Drüsensubstanz selbst mitconsecutiverSecret-
stauung undEindickung des Secretes den ersten
163
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
A li lass zur Steinbildung abgab und dass erst
in späterer Zeit dieses Concrement durch den
Speichel ström in den Ductus gelangte.
Anders verhält es sich im zweiten Falle. Hier traten
die Erscheinungnn von Seite der sublingualen Geschwulst
nicht nur früher als die von Seite der Drüse auf, sondern be¬
herrschten auch späterhin das Krankheitsbild.
Ausserdem deuten nebst der Spindelform des Conere-
mentes der Umstand, dass ich schon bei den ersten Attaken
durch Sondirung des oralen Theiles des Ausführungsganges
im Stande war, alle Beschwerden zu beseitigen, was bei einer
Concrementbildung in der Drüse wohl gar keinen Erfolg
gehabt hätte, daraufhin, dass es sich in diesem Falle um eine
im Ductus W hartonianus selbst stattgetundene
Steinbildung handelte.
Nach den in der Krankengeschichte des Falles mitge-
theilten Untersuchungen sind diesmal offenbar Mikroorg a-
n ismen als die ursächlichen Erreger der Steinbildung zu
betrachten.
Beim dritten Falle kommt ätiologisch wohl nur eiu
Moment in Betracht.
Wie aus der Krankengeschichte zu entnehmen, deuten
auch in diesem Falle alle Erscheinungen, mit Ausnahme der
rundlichen Form des Concrementes auf eine Steinbild ung
im Ductus W hartonianus selbst hin.
Es handelt sich diesfalls um einen lange Zeit an¬
dauernden Insult der linken S u b lingual g eg en d
durch das Mundstück eine)’ Tabakspfeife.
Ob hiebei nur die mechanische Wirkung also ein
Trauma — in Frage kommt, oder ob die intensive locale
Wärmebildurg oder endlich das Nicotin ausschlaggebend war,
diese Frage muss ich wohl offen lassen.
Es verhielten sich somit die drei Fälle ätiologisch ganz
verschieden und glaube ich nicht, dass auch nur eine \on
allen angeführten Theorien der Aetiologie der Sialolithiasis fiii
alle Fälle zur Erklärung ihrer Entstehung dienen wird.
Erwähnen möchte ich zum Schlüsse noch, dass nicht nur
in den eben beschriebenen, sondern auch in den meisten
in der Literatur citirten Fällen der linksseitige Ductus
und die entsprechende Drüse erkrankt war, dass es sich ferner
in allen drei Fällen um mehr minder hochgradig anämische
Patienten handelte, und dass in zwei Fällen die ersten Be¬
schwerden von Seite der Ductusstenose zur Zeit der ersten
Menstruation sich einstellten, was sich leicht mit den zu ge¬
nannter Zeit auftretenden Störungen im Gfesammtorganismus
erklären lässt.
Die Angabe M o r e 1 1 i’s l8), dass vorzugsweise Männer von
dieser Erkrankung befallen werden, kann ich nach Obigem,
sowie nach Durchsicht der Literatur nicht bestätigen, ebenso¬
wenig die Angabe Michel’s19), welcher behauptet, dass alle
Steine, die keine »Inflammation« und keine bedeutende Ver¬
größerung der Drüse bewirken, nur in einem der Ductus luvi-
niani liegen können, womit ich auf meinen dritten Fall
verweise.
Meinem verehrten Chef, Herrn Prof. Dr. 0. Ghiari,
sowie Herrn Regierungsrath Prof. Dr. Mautner sage ich
für die Unterstützung bei dieser Publication meinen besten
Dank.
Literatur.
') Gene r sich, Virchow’s Archiv. Bd. CXXXI, Heft 2.
~) F. Kraus, Die Erkrankungen der Mundhöhle in: Nothnagels
Pathologie und Therapie. XVI, 1. Theil, 1. Hälfte.
3) Citirt bei 5).
') Immisch, Monographie in der deutschen Klinik. 1860.
5) Czygan, Disseitation. Königsberg i. P. 1890.
6) Citirt bei 5).
7) Sehe cli, Die Krankheiten des Mundes, Halses, Rachens und der
Nase. Deuticke, Wien 1896.
■ ) Citirt bei 2).
°) Citirt bei 2).
10) Citirt bei 5).
") Citirt bei 5).
12) Citirt bei ').
,3) Citirt bei 5).
'■') Citirt bei 2).
15) Citirt bei 2).
16) Citirt bei 7).
17) Rosen berg, Die Krankheiten des Rachens und des Kehlkopfes.
Berlin 1899.
18) Semon, Internationales Centralblatt für Laringologie etc. 1897.
19) Citirt bei 5).
Zur Krankenhausfrage.
ln diesen Tagen ist unter Vorsitz des Unterrichtsministers die
Commission zur Berathung über die Neugestaltung des Wiener Allge¬
meinen Krankenhauses zusammengetreten. Ein schwieriges Problem,
das im Hinblick auf jahrzehntelang gerügte Uebelstände gebiete¬
risch Lösung erheischt, wird nun endlich — wie es scheint — mit
dem ganzen Ernste, den die unhaltbaren Verhältnisse erfordern, aufge-
griffen und hoffentlich auch gelöst werden. Es ist zu wünschen und
zu erwarten, dass die grosse Oeffontlichkeit über alle wichtigen Phasen
dieser ein so eminentes Interesse der Gesammtheit betreffenden Ver¬
handlungen im Laufenden erhalten bleibe. Die Errichtung eines neuen
Wiener Allgemeinen Krankenhauses, das deu Zwecken einer rationellen
Krankenbehandlung wie jenen des Unterrichtes vollkommen entspricht
und nach beiden Richtungen berufen wäre, wieder ein europäisches
Centrum zu werden, wie dereinst das alte Krankenhaus Jahrzehnte
hindurch ein solches zum Ruhme Oesterreichs bildete, das ist eine
culturell-humanitäre Aufgabe, zu der die berufenen Organe des Staates,
des Landes und der Stadt sich vereinen müssen mit dem ernstesten
Bestreben, sich thatkräftigst entgegenzukommen und gegenseitig in
weitestgehender Weise zu unterstützen. Mau hat bis jetzt zu wenig
von dem bisherigen Gang der Verhandlungen erfahren, um von voiuc-
herein es irgend in Frage steilen zu dürfen, dass alle betheiligten
Factoren von dem besten Willen durchdrungen wären, die Angelegen¬
heit von grossen Gesichtspunkten aus zu behandeln.
Es steht zu hoffen, dass den Zweiflern an eine bessere Zukunft
das Recht benommen werde, auch der gegenwärtig tagenden Commission
von vorneherein einen in absehbarer Zeit evidenten Erfolg abzu¬
sprechen. Wir hoffen in Bälde zu erfahren, dass sich hier Vertreter
verschiedener competenter Behörden zusammen gefunden haben mit
der ausgesprochenen Absicht, selbst mit eventuellen Opfern von Seiten
einzelner von ihnen vertretener Interessengruppen unbedingt zum
so lange ersehnten Ziele zu gelangen. Wir hoffen bald von Ergeb¬
nissen der Verhandlungen zu hören, welche die Befürchtung zu bannen
geeignet sind, dass die Commission, statt ein System eongruenter, aut
den einen grossen Zweck hinarbeitender Kräfte, die "Vertretung di\ ei¬
gnender Interessensphären darstellen könnte, die vor Allem die YV ahrung
des Vortheiles innerhalb der letzteren im Auge hätte.
Fasst man die Angelegenheit von dem Standpunkte eines grossen
eulturell-humanitären Unternehmens auf und nicht als eine liansaction
bei der die einzelnen hier in Frage kommenden Behörden und die
verschiedenen Ressorts der Verwaltung darauf bedacht sein müssen, sich
vor Allem schadlos zu halten, dann schwinden mit, der allseitigen Be¬
reitwilligkeit, die administrativen Schranken niederzureissen und sich
gegenseitig in die Hände zu arbeiten, auch alle Schwierigkeiten, die
sich durch die Betonung der mannigfachen hier in Betracht kommenden
Sonderinteressen ergeben. Man kann es nicht oft und nachdrücklich
genug betonen : Die erfolgreiche Lösung dieses Problems ist für Staat,
Land und Stadt von gleich grosser Bedeutung.
Das geplante Reformwerk kann und wird erst dann von er¬
wünschtem Erfolge gekrönt sein, wenn in gleich eingehender Weise
die Bedürfnisse der Kranken, wie die Aufgaben und Ziele des Unter¬
richtes Berücksichtigung gefunden haben werden.
Die möglichste' Concentration dergesammten in Betracht kommenden
Baulichkeiten auf ein den Bedürfnissen entsprechend grosses, möglichst
central gelegenes, von allen Punkten der Stadt möglichst leicht zu
erreichendes Territorium und die eonsequente Durchführung des leitenden
Gedankens, dass die Gesammtheit der theoretischen und klinischen In¬
stitute eine auch durch räumliche Nachbarschaft zu wahrende Eni ieit
darzustellen hat, im innigsten Connexe mit der Mutteranstalt -
versität — darin scheint wohl der springende Punkt des zu losenden
Problems zu liegen.
Hält man sich diese Gesichtspunkte vor Augen und würdigt
mau sie in ihrer grossen Bedeutung für die Bedürfnisse der Kranken
und des Unterrichtes, so kann es wohl nicht zweifelhaft sein, dass mit
jenem Projecte, welches das neue Allgemeine Krankenhaus aut den
Territorium des gegenwärtigen mit Heranziehung der benachbarten
Alserkaserne, eventuell des Garnisonsspitales und der Irrenhausgrunde,
allen Anforderungen am besten entsprochen wird. \\ ie sehr diese
Situation des Krankenhauses den hilfesuchenden Kranken günstig ist,
das beweist wohl der Umstand, dass trotz neuer, in den einzelnen
Bezirken und der Peripherie der Stadt entstandener Spitaler ja trotz
der in unmittelbarster Nähe hinzugekommeppn Allgemeinen I oliklmik,
16 t
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 15)00.
Nr. 7
welche weit über 50.000 ambulante Kranke jährlich aufzuweisen hat,
der Zuzug der im Allgemeinen Krankenhause Hilfe Suchenden sich
nicht vermindert hat. Mit jedem neuen Spitale, das in Wien errichtet
wurde, hat es sich immer wieder gezeigt, dass selbst bei vorzüglichstem
Rufe der angestellten Aerzte das Krankencontingent doch ein be¬
schränkt regionäres ist und zumeist von Verletzten und acut Kranken
der Umgebung oder von solchen chronisch Kranken aufgesucht wird,
die im Allgemeinen Krankenhause nicht Aufnahme finden. Das Spital
der Wahl des armen Kranken ist und bleibt das altberühmte All¬
gemeine Krankenhaus, und, wie wir meinen, wird es dies auch so lange
und nur so lange bleiben, als es vermöge seiner günstigen Lage für
die Patienten und deren Angehörigen so leicht zu erreichen sein wird.
Man kann nicht genug darüber staunen, dass dem so nahe¬
liegenden Gedanken, die Krankenhausfrage in diesem conservativen
Sinne an bewährte Erfahrungen anknüpfend, zu lösen, der Kosten¬
punkt entgegengehalten wird, der durch die nothwendige Erwerbung
der benachbarten Gründe sich zu fast unerschwinglicher Höhe erheben
sollte. Man möchte da meinen, dass es sich bei den gegenwärtigen
Inhabern der in Frage kommenden Gründe um Speculanten handle,
die sich eine gegebene Chance in fast wucherischer Weise zu Nutze
machen. Wenn man aber anderseits erfährt, dass die anzukaufenden
Territorien Eigenthum des Militärärars und des Landes Niederösterreich
sind, so könnte keinen Augenblick daran geglaubt werden, dass durch
das Festhalten an übertriebenen Forderungen von dieser Seite das
Project thatsächlich in Frage gestellt werden könnte.
Man kann ebensowenig daran glauben, dass die Stadt Wien
sich nicht herbeiliesse, zu Gunsten der Ermöglichung der gedeihlichen
Lösung dieser Frage, an der sie doch in erster Linie wohl auch ein
grosses moralisches Interesse hat, auf die Durchführung von Strassen-
zügen zu verzichten, die mitten durch das in Frage kommende Terri¬
torium geplant sind.
Wenn nun auch Alles dafür spricht, die Krankenhausfrage in
diesem Sinne zu lösen, so können wir uns andererseits durchaus nicht
auf den Standpunkt Jener stellen, die eine andere Lösung einfach für
undiscutabel erklären. Der andere Ausw7eg wird bekanntlich darin
gesucht, das neue Allgemeine Krankenhaus an die Peripherie der Stadt
zu verlegen. Wir haben bisher nur in der jüngst publicirten Resolution
des Ingenieur- und Architekten-Vereines eine Kundgebung verzeichnen
können, aus der die Meinung unverhohlen hervorging, dass diese andere
Lösung der Frage auch die bessere sei. Eine knapp gehaltene Reso¬
lution kann nur ausnahmsweise eine erschöpfende Motivirung einer
Meinung beibringen und so ist auch der erwähnte Beschluss des
Ingenieur- und Architekten-Vereines die wünschenswerte Begründung
ihres energisch ausgesprochenen und namentlich in Anbetracht des
Momentes, in dem es veröffentlicht wurde, auf wirksame Beeinflussung,
um nicht zu sagen Einschüchterung der Commission abzielenden
Votums schuldig geblieben. Es kann nichts erwünschter sein, als wenn
an der Discussion einer so breite Schichten der Bevölkerung inter-
essirenden Frage wie der vorliegenden, sich möglichst grosse Kreise
betheiligen. Es ist auch über jedem Zweifel, dass die Mitwirkung
gerade des Architekten an der Lösung des Problems besonders er¬
wünscht erscheint. Aber li3Tgienische Bedenken ins Feld zu führen
gegen den Plan, das neue Krankenhaus auf der Area des alten neu
zu errichten, scheint uns erstens eine Ueberschreitung der so klar
gegebenen Competenz dieser Seite und zweitens ist gerade ein Einwurf
solcher Art in keiner Weise gerechtfertigt. An welche Erfahrungen
da etwa angeknüpft wird, ist vollkommen unverständlich; konnte
irgend je ein für die Hygienie der Umgebung nachtheiliger Einfluss
der vom gegenwärtigen Allgemeinen Krankenhause ausgegangen wäre,
verzeichnet werden? Und wenn in derselben Resolution, in der hygie¬
nische Bedenken gegen die Errichtung des Allgemeinen Krankenhauses
erhoben werden, der Verein für die Errichtung eines kleinen Kranken¬
hauses an derselben Stelle eintritt, so muss man wohl constatiren,
dass eine solche Forderung logische Consequenz vermissen lässt.
Wie gesagt, die Frage der Verlegung des Allgemeinen Kranken¬
hauses an die Peripherie der Stadt ist discutabel, sie ist es aber nur
insolange, als die gesammte medieinische F a c u 1 1 ä t mit
allen zu ihr gehörigen Instituten mit hinauswandert und wenn
Verkehrsverhältnisse geschaffen werden, welche die üblen Folgen der
excentrischen Lage der Krankenanstalten für die kranke Bevölkerung
vollkommen paralysiren, welche es aber auch den Studenten (selbst¬
verständlich unentgeltlich) ermöglichen, so oft es ihr Lernbedürfniss
erfordert, mit dem denkbar geringsten Zeitverluste die Universität
aufzusuchen. Es muss selbstverständlich den Technikern überlassen
bleiben, zu beurtheilon, ob dies bei uns in dieser Weise durchführbar
ist. Die Erfahrungen, die wir mit der Stadtbahn bisher gemacht
haben, sprechen ganz entschieden dagegen. Auch der Kostenpunkt
soll hiebei — so schwer er auch bei der Beurtheilung der ganzen
Sachlage mit in die Wagschale fällt — ganz unbesprochen bleiben.
Aber selbst für den Fall, dass alle diese Bedenken nicht stich¬
hältig und allen Erfordernissen des Verkehres in vollkommen er¬
wünschter Weise Rechnung getragen würde, bliebe immer diese Art
der Lösung der Krankenhausfrage nur ein Nothbehelf. Man kann die
Befürchtung nicht unterdrücken, dass dieses so weit draussen gelegene
Krankenhaus kaum je auch nur annähernd einen solchen Zuzug von
Kranken aufweisen würde, wie das im Herzen der Stadt gelegene. Die
Kranken würden sich scheuen, die weite Reise zu unternehmen und
kämen dadurch um ihr gutes Recht, sich bei den hervorragendsten
ärztlichen Autoritäten Rath zu erholen, das excentrisch gelegene Kranken¬
haus würde bald den Charakter der grossen klinischen Anstalt mit der
zum Lehren und Lernen unbedingt nothwendigen Mannigfaltigkeit und
grossen Zahl der Krankheitsbilder verlieren und würde den Charakter
eines auf eine relativ wenig volkreiche Umgebung angewiesenen regio¬
nalen Krankenhauses tragen. Das bedeutet aber eine schwere Schädi¬
gung des Unterrichtes und hiemit nach mehr als einer Richtung auch
der Bevölkerung. Wir stehen aber auch nicht an, in diesem Projecte
eine Schädigung der Studenten und der künftigen Aerztegeneration zu
erblicken, denen durch solche Verhältnisse der nie zu lockernde Zu¬
sammenhang ihrer Berufsstudien mit der sonstigen an der Universität
ihnen ermöglichten anderweitigen Bildungsmöglichkeit sehr erschwert
würde. Es ist gerade beim Arzte von höchster Bedeutung, aus den
anderweitigen Bildungsquellen, die ihm die Universität darbietet, mög¬
lichst schöpfen zu können, um der Gefahr der Einseitigkeit des aus¬
schliesslichen Fachstudiums zu entgehen. Warum soll es gerade dem
Mediciner so erschwert sein, gelegentlich ein philosophisches, ein lite¬
rarisches Colleg zu besuchen, Sprachstudien zu treiben, die Behelfe der
Universitätsbibliothek zu benützen u. s. w.?
Aus guten Gründen wird auch die Berliner Charite auf dem
alten Territorium wieder errichtet.
Man mag die Frage in voller Objectivität von welchem Stand¬
punkte immer betrachten, der Kranke und der Student — und das
sind ja die in erster Linie hiebei Interessirten — haben von einer Ver¬
legung des Krankenhauses an die Peripherie nur Nachtheile. Wer
davon dann noch einen Vortheil hätte, ist schwer zu sagen.
Wir haben die ehrliche Ueberzeugung, dass auch die die Minorität
bildenden Anhänger des Verlegungsprojectes im Aerztestande nicht des¬
wegen dafür eintreten, weil sie das „conservative“ Project für das
weniger gute halten, sondern weil sie die Schwierigkeiten, namentlich
finanzieller Natur, die sich dem Neu- und Ausbau des Allgemeinen
Krankenhauses auf dem um Alserkaserne, Garnisonsspital und Irren¬
anstalt erweiterten Territorium entgegenstellen, für unüberwindlich er¬
achten. Bei gutem Willen aller betheiligten Factoren kann aber unserer
Meinung nach jedwede Schwierigkeit überwunden werden. A. F.
REFERATE.
I. Insufficienz (Schwäche) des Herzens.
Von Prof. Dr. Theodor v. Jürgensen.
Noth nage l’s Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie.
Wien 1899, Alfred Holder.
II. Erkrankungen der Gefässe.
Von Prof. L. v. Schrötter in Wien.
I. Hälfte: Erkrankungen der Arterien.
(Noth nag el’s Handbuch, Bd. XV, III. Theil, I. Hälfte.)
Wien 1899, Alfred Holder.
I. Wie der jüngste Congress für innere Medicin gezeigt hat,
entspricht es ganz der modernen Herzpathologie, wenn man die
Insufficienz des Herzens als ein gut charakterisirtes Krankheitsbild
für sich bestehen lässt. Da Jürgensen die Herzschwäche richtig
aus dem Missverhältnis zwischen dem Pumpmechanismus und
dessen Motor einerseits und der zu leistenden Arbeit andererseits
auffasst, theilt er die Ursachen der Herzinsufficienz zweckmässig in
zwei grosse Gruppen, nämlich in die Störungen der Arbeitsmaschine
selbst und die Störungen, welche das Herz des für seine Arbeit
nöthigen Blutquantums berauben. Von den drei Formen der Herz¬
schwäche - — der acuten, subacuten und chronischen — wird die
letzte als die wichtigste ausführlich in ihren verschiedenen klinischen
Gestalten geschildert.
Bei der Schilderung der Therapie vermeidet es Verfasser mit
Recht, allgemein gütige Detailvorschriften zu geben, wie dies
wiederholt geschehen ist. Die Winke, die er dem Praktiker in
Bezug auf Diät, Heilgymnastik und Medicamente gibt und aus
welchen immer das Bestreben hervorleuchtet, dem Kranken in
allererster Linie nicht zu schaden, sind sehr beherzigenswerth.
*
II. Der vorliegende erste Theil des bedeutsamen Werkes be¬
handelt die Erkrankungen der Arterien, und zwar die Abnormitäten,
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
165
die Hypertrophie, die Entzündung der Arterien in ihren verschie¬
denen Formen, die Arteriosklerose, die Tuberculo.se und Syphilis der
Gefässe. die Erweiterung der Arterien und das Aneurysma.
Die genaue Bekanntschaft mit dem riesigen Stoffe, eine
überaus reiche Erfahrung, welche nach den Grundsätzen der
grossen Vergangenheit der Wiener Schule gesammelt und geordnet
ist, haben es dem Verfasser ermöglicht, ein Werk zu schaffen, das
sowohl der Kliniker wie der Praktiker gerne studiren wird. Er ist
in der Lage, bei der Wiedergabe der vorhandenen Literatur eine
autoritative Sichtung vorzunehmen und massgebende Kritik zu üben,
welche immer sachlich bleibt, sowie die Darstellung durch einge¬
streute Schilderungen eigener Fälle zu beleben.
Durch die daraus resultirende Originalität der Auffassung des
Stoffes gewinnt das Buch an Interesse und Werth.
Besonders hingewiesen sei hier auf die Capitol, welche von
der Pathogenese, Aetiologie, Symptomatologie, Prognose und Therapie
des Aneurysmas handeln. Bei diesen Themen kommt nämlich die
Individualität des Verfassers besonders zum Ausdrucke, indem ihm
Gelegenheit geboten ist, Erfahrungen mitzutheilen und auf diagnostische
Feinheiten hinzuweisen, welche zu sammeln, beziehungsweise zu
entdecken nur einem Kliniker möglich war, der sich einen
Schüler S k o d a’s und zugleich einen Meister der Laryngologie
nennen darf.
Das Werk ist vorzüglich illustrirt und bringt auch bereits
den modernsten Bedürfnissen entsprechend sehr gelungene und in¬
structive Böntgen-Bilder. II e r z.
Lehrbuch der diätetischen Therapie chronischer Krank
heiten für Aerzte und Studirende.
Von Docent Dr. R. Kolisch.
I. Allgemeiner Tlieil.
Leipzig und Wien 1899, Franz Deu ticke.
Wiewohl die hohe Bedeutung der Ernährungstherapie niemals
bestritten worden ist, konnte sich diese doch erst in der Neuzeit,
insbesondere nachdem durch die fortschreitende Erkenntniss der
Stoffwechselvorgänge eine exacte Grundlage für dieselbe geschaffen
worden ist, zu einer selbstständigen wissenschaftlichen Methode er¬
heben. Zahlreiche Publication und namentlich das Erscheinen einer
Reihe von grösseren Werken über diätetische Behandlung, worunter
in erster Reihe das treffliche umfangreiche Handbuch L e y d e n’s,
haben überdies dazu beigetragen, dem genannten Zweige der
Therapie die verdiente allgemeine Beachtung zu verschaffen.
Aehnlich wie das jüngst erschienene Werk von Moritz
Technik und Verwerthung der Röntgen’schen Strahlen
im Dienste der ärztlichen Praxis und Wissenschaft.
Von Dr. O. Büttner. Specialarzt für Nervenkrankheiten und Elektro¬
therapie, und Dr. K. Müller, Specialarzt für Chirurgie und Orthopädie zu
Erfurt.
Zweite Auflage.
Halle a. d. S. 1900, Wilhelm Knapp.
Dieses Buch stellt das 28. Heft der bekannten, nun schon
aus 36 Heften bestehenden Encyklopädie der P h o L o g r a p h i e
dar. Ein Zeichen seiner Brauchbarkeit ist der I instand, dass auf
die erste 1897 gedruckte Auflage trotz der vielen seither er¬
schienenen Lehrbücher nun schon eine zweite gefolgt ist. Das
Werk soll nach der Intention der Autoren zunächst den ärztlichen
Praktikern ein Führer bei ihren ersten Versuchen auf dem er¬
wähnten Gebiete sein, ferner die Vertreter von Behörden und
Genossenschaften, endlich Mechaniker, Photographen und gebildete
Laien über das Röntge n’sche Verfahren orientiren.
Die Verfasser haben seinerzeit das Verfahren als »Pyknoskopio«
und »P y kn ograp hie« bezeichnet, entsprechend der Eigenschaft
der Röntgen’schen Strahlen, die Körper nach Massgabe ihrer
Dichte zu durchdringen, vom griechischen »pyknös« = dicht.
Diese Nomenclatur hat sich jedoch durchaus nicht eingebürgert
und die Autoren haben gut daran gethan, dieselbe in dem Titel
des Werkes nicht zu verwenden.
Besonders gelungen ist die E i n 1 e i t u n g, in welcher unter
Anderem die bedauernswerthe Thatsache hervorgehoben wird, dass
die meisten Aerzte noch immer auf die consultative Inanspruch¬
nahme des Röntge n-Verfahrens verzichten. Die Verfasser beklagen
aber auch mit Recht die heute verbreitete Anschauung des Publi-
cums, »dass die Leistungen des Arztes zum 1 heile geringer be-
werthet werden müssen, als die des Barbiers, und seine technischen
Hilfsmittel geringer, als die des Handwerkers«.
Durch die beiden mit Recht gerügten Momente erklärt sich
denn auch die bisher noch ungenügende Würdigung und Benützung
der neuen Methode, deren Wichtigkeit sich aber trotz alledem
selbst beim Laienpublicum bereits Geltung verschafft hat.
So bemerken die Verfasser, dass das Gericht in einem
Entschädig ungsprocesse wegen unterlassener Aul¬
klärung eines Falles durch Röntge n’s che S t r a h l e n
gegen den Arzt entschieden habe. Der Arzt nahm sich dann dieses
Urtheil so zu Herzen, dass er zum Selbstmord getrieben wurde.
Das Buch ist sehr compendiös, es umfasst nur 250 gross
gedruckte Octavseiten, von denen 183 auf den »technischen
Th eil« fallen. Dieser erste Theil behandelt mit grosser Sorg¬
falt die nothwendigen physikalischen und elektrotechnischen Themen.
Sehr wichtig und auch gut gearbeitet ist das Capitel über die
über »Grundzüge der Krankenernährung« soll auch das vor- Röntgen’schen Röhren, so dass wir aus demselben Einiges
- ‘O -
liegende in erster Linie Unterrichtszwecken dienen. Es soll, wie
Verfasser in die Vorrede erwähnt, die Gesichtspunkte charakteri-
siren, welche bei der Ernährung chronisch Kranker zu be¬
folgen sind.
Im ersten Capitel des vorliegenden, den allgemeinen
Theil umfassenden Bandes werden diese Gesichtspunkte nach zwei
Principien, in zwei grosse Gruppen, welche den Hauptin dicationen
— der quantitativen und qualitativen — entsprechen, eingetheilt.
Im zweiten Capitel erörtert Verfasser die Bedeutung der Nährstoffe
für die Ernährung, und stellt die Gesichtspunkte fest, nach welchen
in der diätetischen Therapie bei der Wahl derselben vorzugehen
sei; in dem nächstfolgenden Capitel werden die wichtigsten Nahrungs¬
mittel ihrer Zusammensetzung nach betrachtet, und die Folgerungen
hervorgehoben, welche sich aus dieser Kenntniss für die Ernährung
ergeben. Die zwei letzten Capitel enthalten die Technik der quan¬
titativen Ernährung und die Alkoholfrage.
Verfasser ist in der vorliegenden Schritt seiner Absicht, sich
möglichst auf das rationell zu Begründende zu beschränken, con¬
sequent nachgekommen; es ist anzunehmen, dass er von diesem
Vorsatze, auch in dem später erscheinenden zweiten Theile seines
Werkes nicht abweichen werde, und dass auch dieser die Klarheit
und Uebersichtlichkeit der Darstellung, welche den von grosser
Sachkenntniss zeugenden ersten Theil auszeichnet, nicht vermissen
lassen werde. Deshalb darf man dem Werke schon jetzt ein
sehr günstiges Prognostikon stellen.
E. Sch ii t z.
citiren wollen. Die Vacuumröhren sind, wie die Verfasser mit Hecht
ausführen, nur brauchbar, wenn sie »kritische Strahlen«
aussenden, das sind Strahlen, welche durch dichtere Substanzen
weit mehr absorbirt werden, als durch weniger dichte, und daher
auf Schirm und Platte ein contrast- und detailreiches Bild der
einzelnen Organe und Knochen geben. Die Röhren durchlaufen
nämlich bekanntlich im Laufe der Zeit bei starker Benützung
mehrere Stadien. Eine »junge« Röhre hat ein niederes Vacuum,
sendet schon bei geringer Spannung desSecundärstromes Röntgen sehe
Strahlen aus, die aber ein geringes Penetrationsvermögen haben -
erstes Stadium bei einer Nebenschluss-Funkenlänge von
5 — 6 cm. Das zweite Stadium ist das der »Reife«, i. e. der
richtigen Evacuation (Nebenschlussfunkenlänge von 8 —-15 cm) und
daher der grössten Leistungsfähigkeit, in welcher die Röhre die
erwähnten » kritischen Strahlen « aussendet. Nach längerem Gebrauch
wird die Röhre »härter«, d. h. sie sendet erst bei einer Neben¬
schlussfunkenlage von 15— 20m Röntgen-Strahlen aus, und
dies ist das dritte Stadium. Ihre Strahlen wirken nun merk¬
würdiger Weise nur schwach auf die photographische Platte, durch¬
dringen aber Knochen fast ebenso leicht wie Weichtheile, so das-
von der durchleuchteten Partie des Körpers ein schwaches, »flaues
Bild entsteht. Hingegen lassen sich mit einer solchen ȟberreden
Röhre« selbst Metalle gut durchleuchten und kann beispielsweise
sogar das Innere eines Gewehrlaufes photographirt werden sammi
den eingesteckten Patronen.
Hervorzuheben sind ferner die Ausführungen der Ver asser
über Photometrie der Röntgen’schen Strahlen und Pyknostereo-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 7
16B
skopie, auf deren Besprechung wir hier aus Raummangel leider
verzichten müssen.
Der zweite — klinische — Theil des Werkes um¬
fasst nur 56 Seilen und enthält dementsprechend nur eine cur-
sorische Besprechung der medicinischen Anwendung des Verfahrens.
Zudem sind in diesen Abschnitten die neuen Fortschritte nicht
genügend berücksichtigt. So vermissen wir z. B. eine Darlegung
der genauen Bestimmung des Sitzes von Fremdkörpern auf photo¬
graphischem Wege. Der Abschnitt über die Verwerthung des Ver¬
fahrens in der inneren Me di ein und Therapie der
Hautkrankheiten muss sogar als dürftig und antiquirt be¬
zeichnet werden. Ferner ist das Literatur verzeichn iss seit
der ersten Auflage 1897 nicht ergänzt worden, nicht einmal mit
den wichtigsten unter den vielen seither erschienenen werthvollen
Arbeiten. Auch die von R ö n t ge n - Aufnahmen hergestellten Au to-
tvpien, die sich am Schlüsse des Buches finden, lassen sowohl
bezüglich der Auswahl als der Ausführung der Bilder Vieles zu
wünschen übrig.
Trotz dieser soeben bemerkten Mängel, die dem zweiten Theil
der neuen Auflage anhaften und sich bei seiner neuen Bearbeitung
wohl leicht beseitigen Hessen, können wir das kleine Werk im
Ganzen als ein gediegenes und werthvolles wärmstens empfehlen
und anerkennen wir insbesondere, dass die Autoren in sehr ge¬
lungener Weise die grosse Wichtigkeit hervorheben, welche das
neue Verfahren für die allgemeine ärztliche Wissenschaft und
Praxis hat, speciell auch in Bezug auf die Rechtsprechung in
Dnfallsachen, auf Krankencassen- und Unfallgesetzgebung.
K i e n b ö c k.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
47. Beitrag zur Kenntniss der combinirten
Slrangdegenerationen, sowie derHöhlenbildungen
i m R ü cken m a r k. Von Dr. Henneber g, Assistent der. Klinik
Jolly in Berlin. R. Henneberg theilt zwei Fälle chronischer
Rückenmarkserkrankung mit, die, in herd- und strangförmigen
Degenerationen bestehend, in mancher Beziehung an ähnliche Be¬
funde bei pernieiöser Anämie und kachektischen Zuständen ver¬
schiedenster Herkunft erinnern. Im ersten Falle ist die Rücken¬
markserkrankung sicher auf die bestehende Arteriosklerose zurück¬
zuführen, im zweiten Falle ist der vasculäre Ursprung der Rücken¬
markserkrankung nicht mit der gleichen Bestimmtheit anzunehmen.
In diesem letzteren Falle war eine chronische interstitielle Nephritis
vorhanden, im ersten Falle dürfte gleichfalls ein chronisches Nieren¬
leiden Vorgelegen haben; der Urin der im verblödeten und mara-
stischen Zustand aufgenommenen Kranken war stark eiweisshaltig
gewesen. Henneberg macht auf das übrigens auch schon von
anderen Autoren constatirte häufige Zusammenfallen von Nieren-
und Rückenmarkserkrankung aufmerksam und glaubt aus seinen
Fällen den Schluss ziehen zu dürfen, dass das Bindeglied zwischen
Nieren- und Rückenmarkserkrankung in den Gefässveränderungen
zu suchen sei. — (Archiv für Psychiatrie. 1899, Bd. XXXII,
Heft 2.) J.
#
48. Der Gesichtsschleier als Ursache derNasen-
r ö t h e. Von 0. Rosenbach (Berlin). Verfasser macht für
viele Fälle fleckiger Röthung der Nase und Wangen den Schleier
verantwortlich. Derselbe ist im Stande, schon durch seinen be¬
ständigen Druck eine empfindliche Haut an den genannten Stellen
zu reizen, die Nasenspitze blutleer zu machen, wozu noch kommt,
dass der die Nase verlassende Wasserdampf im Winter das Gewebe
des Schleiers so vollkommen durchtränkt, dass sich daselbst eine
Art von const anter, feuchtkalter Atmosphäre bildet und der Schleier
ein feuchtkaltes Kataplasma, einen schlecht applicirten Pr i e s sn i tz-
schen Umschlag darstellt, wobei der Haut beständig Wärme ent¬
zogen wird. — (Berliner klinische Wochenschrift. 1899, Nr. 41.)
Pi.
*
49. U e h e r eine n F all von anomaler Gehirnen t-
w ic k 1 u n g. Von Dr. Rudolf B a I i n t in Budapest. B a 1 i n t
schildert einen Fall von Cebocephalie, den er bei einem fünf Tage
alten Säugling männlichen Geschlechtes zu beobachten Gelegenheit
hatte. Das beständigste, also charakteristische Merkmal der Cebo¬
cephalie ist — wie ein Ueberblick der einschlägigen Fälle er¬
gibt — der Mangel des äusseren und inneren Geruchsorganes.
Da die Entwicklung der äusseren und centralen Geruehstheile zwar
unabhängig von einander in Gang geräth, später jedoch beide in
Verbindung treten, hält Bai int es für wahrscheinlich, dass dann,
wenn eines der beiden sich mangelhaft oder überhaupt nicht ent¬
wickelt, dies auch den anderen beeinflussen muss, und dass von
der Zeit an, wo die Verbindung der beiden Geruehstheile zu Stande
kommen muss, das Fehlen des centralen Organes auch die Ent¬
wicklung des peripheren hemmt. Im Falle Balint’s ergab der
Obductionsbefund, dass die Schädelknochen an den Stellen der
Nähte verdickt waren, die Fontanellen fehlten; der grösste Theil
der Schädelhöhle von einer Flüssigkeit erfüllt war, Erscheinungen,
die sich zum Theil aus dem vorhanden gewesenen Entzündungs-
process der Dura mater erklären, welcher — da die Dura das
knochenbildende Gewebe der Innenfläche der Schädelwölbung dar¬
stellt — - die Verdickung der Schuppentheile der Knochen, die früh¬
zeitige Verknöcherung des Schädels und auch den Hydrocephalus
erklärt, die zusammen das Zurückbleiben der Gehirnentwicklung
aufklären. Bezüglich der interessanten Verhältnisse, welche sich
aus der näheren Untersuchung des Gehirnes ergaben, muss auf das
Original verwiesen werden. — (Archiv für Psychiatrie. 1899,
Bd. XXXII, Heft 2.) J.
*
50. (Aus der chirurgischen Klinik des Prof. v. Eiseis¬
berg zu Königsberg.) lieber Paget’s disease. Von Doctor
Ehrhardt. Bei der 60jährigen Patientin hatte sich vor 5 Jahren
in der Haut der rechten Mamilla ein Zustand entwickelt, der für
ein Ekzem gehalten wurde und als solches behandelt worden war.
Die Erkrankung breitete sich schliesslich immer weiter bis zur
Handtellergrösse auch auf die Haut der Mamma aus und immer
war klinisch die Aehnlichkeit mit einem Ekzem der Brustwarze
eine absolute. Vor zwei Jahren hatte die Patientin das Auftreten
eines Knotens im oberen äusseren Quadranten der Drüse bemerkt,
der im Hinblicke auf das bestehende »Ekzem« von den behandelnden
Aerzten für einen infiltrirten Lymphknoten angesehen wurde. An
der Klinik wurde derselbe als Krebs erkannt und daher die Ampu¬
tation der Mamma vorgenommen. Die Hautaffection wurde einer
umfänglichen und sehr genauen mikroskopischen Untersuchungen
unterzogen, welche solche Bilder ergab, dass der Autor sich für
berechtigt hält, den Satz auszusprechen: » Paget’s disease — als
solche wurde nämlich die ekzemartige Erkrankung an der Klinik
erkannt — ist ein primäres Hautcarcinom«. — (Deutsche Zeit¬
schrift für Chirurgie. Bd. LIV, Heft 1 und 2.) Pi.
*
51. lieber e i n e n F a 1 1 syphilitischer Erkrankung
des Centralnervensystem s. Von Dr. B u c h h o 1 z. II. Arzt
der Irrenheilanstalt zu Marburg und Privatdocent. (Archiv für Psy¬
chiatrie. Bd. XXXII, Heft 1 und 2.) Buchhol z’ Arbeit handelt
über folgenden Fall: Patient -- bis zum 15- Lebensjahre ganz
vollkommen gesund — zeigte damals zuerst ein leichtes Zittern
bei Bewegungen. Gleichzeitig angeblich heftiger Magenkatarrh, Aengst-
1 ichkeit. Das Zittern nahm später an Stärke zu. Im Alter von
22 Jahren — Frühling 1895 erhebliche Reizbarkeit, Beein¬
trächtigungsideen, Schwinden der Arbeitsfähigkeit. Herbst 1895
Anfall von Bewusstlosigkeit ohne Krämpfe. Weihnachten 1895 eine
schwere, ihren Symptomen nach nicht näher bekannte Krankheit,
worauf Zunahme der psychischen Alteration und Aufnahme in
die Anstalt. Schon vor der Aufnahme starkes Zittern und Steigerung
der Sehenenreflexe. Desgleichen Sehstörungen, ln der Anstalt: Leb¬
hafter Intensionstremor, erhebliche Steigerung aller Reflexe, moto¬
rische Schwäche der Extremitäten, spastische Erscheinungen an den
unteren Extremitäten, Sprachstörungen, jedoch nicht ausgesprochen
skandirender Art, Störungen der Pupillenreaction, kein deutlicher
Nystagmus, Sehnervenatrophie, körperliche Hinfälligkeit, ängstliche
Erregung und Verwirrtheit. Fortbestehen und Zunahme der
Symptome bis zum Tod. Die Vermuthung, dass es sich um eine
luetische Infection, und zwar eine hereditäre Lues handle, fand
sich durch die Obduction insoferne bestätigt, als unzweifelhaft
sypilitische Veränderungen in den Hoden und ein Gumma im
rechten Schläfelappen gefunden wurden. Ausserdem fanden sich
in diesem, klinisch der multiplen Sklerose nahestehenden Falle,
diffuse und herdförmige Veränderungen im Centralnervensystem,
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
167
die in der Arbeit genaue Beschreibung finden. Buchholz glaubt,
dass auch diesen Veränderungen Lues zu Grunde liegt und hält
dafür, dass in seinem Falle eine syphilitische Erkrankung des
Nervensystems vorliegt, in der durch die mehr zufällige Zahl und
Lagerung der herdartigen Veränderungen das Bild der multiplen
Sklerose vorgetäuscht wurde.
J.
52. Radiotherapie eines Naevus flam m e u s. Von
P. Jut assy (Budapest). Die Teleangiektasie betrat die ganze rechte
Gesichtshälfte, welche in 11 Sitzungen, insgesammt durch 14 Stunden,
dem Einflüsse der Röntgen-Strahlen unterworfen wurde. Hiedurch
entstand eine sehr heftige Dermatitis mit allen ihren Beschwerden
und Folgen, die nach ungefähr zwei Monaten unter Zurücklassung
einer weichen, glatten Narbe zur Ausheilung gelangte. Die Angiome
waren mit Ausnahme von jenen Stellen, die geschützt werden
mussten (Augengegend, Oberlippe und behaarte Kopfhaut) vollständig
geschwunden. — (Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgen-Strahlen.
Bd. II, Heft G.) Pl
*
53. Beitrag zur pathologischen Anatomie der
Bulhärerkran kungen bei Tabes. Von Dr. Friedrich
v. Reusz (Budapest), Volontär- Assistent der Klinik Gerhardt.
Reusz hatte Gelegenheit, das Nervensystem eines auf der Klink
Gerhardt in Beobachtung gestandenen Kranken einer genauen mikro¬
skopisch-anatomischen Untersuchung zu unterziehen. In dem be¬
treffenden Falle war 7 1 /2 Jahre nach einer syphilitischen Infection
zuerst Unsicherheit des Ganges aufgetreten. Bald hatten sich Sym¬
ptome von bulbärer Erkrankung hinzugesellt, und zwar Gaumen¬
lähmung., Zeichen einer laryngealen Störung (Heiserwerden der
Stimme), später Sehnervenatrophie. Bezüglich der interessanten
Einzelheiten des Falles muss auf das Original verwiesen werden.
Hervorgehoben sei nur, dass in diesem Falle eine Zeit lang totale
beiderseitige Recurrenslähmung bestand. Reusz bespricht den
anatomischen Befund in seinem Falle und streift schliesslich einige
Fragen der normalen Anatomie, indem er anschliessend an andere
Autoren für die Unabhängigkeit der motorischen Kehlkopfinner¬
vation vom Accessorius eintritt, hingegen widerlegt, dass die
E dinger - Westpha l’schen und D a r kschewitsc h’schen Kerne
zum Oculomotorius gehören. — (Archiv für Psychiatrie. Bd- XXXII,
Heft 2.) " J‘
*
54. (Aus der Klinik für Frauenkrankheiten von Dr. Broese in
Berlin.) K o m men auf d e n S c h 1 e i m häuten de r G enital-
organederFrauGonococcen vor, ohnedassklinische
Erscheinungen von Gonorrhoe vorhanden sind?
Von Dr. Schiller (Breslau). Neisser hat diese Frage bejaht;
Schiller hat 300 Frauen ohne Auswahl diesbezüglich untersucht
und verneint auf Grund dieser Untersuchungen obige Frage.
(Berliner klinische Wochenschrift. 1899, Nr. 4L) 1 '•
*
55. Ueber das sogenannte aphatischeStottein
als Symptom verschiedenörtlich localisiitei c e i t-
braler Herdaffectionen. Von Prof. Dr. A. Pick in Prag.
Archiv für Psychiatrie. 1899, Bd. XXXII, Heft 2. Der Ausdruck
»aphatisches Stottern« wurde zuerst von Kussmaul aul einen
von Cor nil mitgetheilten Fall angewendet, dessen Symptome bei¬
den im obigen Ausdruck vereinigten Störungen nahestehen. Pick
erklärt sich auf Grund einiger Beobachtungen im Stande nachzu¬
weisen, dass durch verschiedenorts localisirte grobe Herdsymptome
eine Sprache zu Stande kommen kann, die ähnlich dem echten
Stottern ist und auch den aphatischen Sprachstörungen nahesteht.
Diese eigenen Beobachtungen Pick’s beziehen sich aul zwei Fälle,
die er ausführlich mittheilt. Im ersten handelt es sich um einen
bulbären Herd, im zweiten — die Härtung des Gehirnes misslang
war aus den klinischen Symptomen die Annahme einer im Gioss-
hirn zu suchenden Localisation des Herdes gerechtfertigt. Pi< k
hält seine Fälle mit dem von Kussmaul als choreatische Para¬
phasie bezeichneten Fällen verwandt und schreibt allen diesen eine
gemeinsame Genesis zu. Ihnen Allen kommt ein Symptom ge
meinsam zu, nämlich die sogenannte Perseveration, und zwar die
syllabäre Form derselben. Aus dem in einem der Fälle von Pick
vorhandenen Schreibstottern deducirt er mit Rücksicht auf die Ab¬
hängigkeit der Schrift von der Sprache das Recht, die bei seinen
beiden Kranken identische Sprachstörung als eine Art von Stottern
zu bezeichnen. Pick tritt trotz des bulbären Herdes im ersten
Falle dafür ein, die Sprachstörung als aphatisches Stottern zu be¬
zeichnen und erklärt es als Nothwendigkeit, ein Uebergangsgebiet
zwischen Aphasie und Anarthrie gelten zu lassen. Im zweiten
Falle tritt die aphatische Störung so in den Vordergrund, dass an
dem Zusammenhang des damit in Verbindung aufgetretenen 1 seudo-
stotterns mit der Grosshirnaffection nicht gezweifelt werden kann. J.
NOTIZEN.
Ernannt: Privatdocent Dr. Hans Malfatti zum a. o. Pro¬
fessor für angewandte medicinisclie Chemie in Innsbruck.
*
Verliehen: Dem Oberbezirksarzte Cäsar Radoicovich
in Capodistria der Titel eines kaiserlichen Käthes.
*
Wiener Aerztekamme r.
Z. 650/E. R.
Zwei kammerangehürige Aerzte hatten gegen die Durchfühiung
von Beschlüssen des Vorstandes der am 3. October 1898 constituhten
Wiener Aerztekammer Beschwerde bei der k. k. niederösterreichischen
Statthalterei erhoben mit der Motivirung, dass die Beschlüsse dieses
Kammervorstandes mit Rücksicht auf die in Folge der Entscheidung
des k. k. Verwaltungsgerichtshofes vom 15. Juni 1899 von dei Statt
halterei erklärte Ungiltigkeit der Wahl und Constituirung dieser
Kammer rechtsungiltig seien.
Die k. k. Statthalterei hat nun mit Erlass vom lü. Januar 1900,
Z 112.476, diese Beschwerden mit nachstehender Begründung zurück¬
gewiesen:
,,Zu einer Behebung der angefochtenen Entscheidungen von
amtswegen liegt kein Anlass vor, da dieselbe unter Beobachtung der
formalen Vorschriften gefällt wurden und der Umstand, dass an der
Wahl der Aerztekammer auch einige nicht wahlberechtigte Personen
theilgenommeu haben, den rechtlichen Bestand der Aerztekammer und
die Ausübung des gesetzlichen und geschäftsordnungsimusigen
Wirkungskreises durch dieselbe in keiner Weise tangiren
Die von den Beschwerdeführern aufgestellte Behauptung, dass
der betreffende Beschluss der Aerztekammer ungiltig sei, weil diese
auf Grund von Wählerlisten gewählt wurde, welche Personen als
wahlberechtigt auswiesen, die, wie mit der Verwaltungsgerichtshof-
Entscheidung vom 15. Juni 1899, Z. 4681, nachträglich ausgesprochen
wurde, nicht wahlberechtigt waren, entbehrt der gesetzlichen Be¬
gründung. .
Die eitirte Verwaltungsgerichtshof-Entscheidung erkennt lediglich
den Anspruch des Beschwerdeführers auf Löschung jener ungesetz¬
lich in die Wählerlisten aufgenommenen Personen als zu Recht be¬
stehend an, und hebt die diesen Ausspruch verletzenden Erkenntnisse
der Administrativbehörden auf.
Die praktische Wirkung dieser Entscheidung des Verwaltungs
gerichtshofes ist lediglich die, dass die Behörden in künftigen gleichen
Fällen die Aufnahme ausländischer Aerzte in die Wählerliste zu unter¬
lassen, beziehungsweise die Löschung zu veranlassen haben.
Der zur einstweiligen Besorgung der Geschäfte der Wiener Aerzte
kammmer bestellte k. k. Bezirksarzt:
Wien, am 9. Februar 1900. Dr- Kese1,
*
Die „Oesterreische Gesellschaft für Gesundheits¬
pflege“, welche schon seit Jahren beabsichtigt, die Kenntnisse tibei
den Werth der Gesundheitspflege, die Grundsätze derselben und deren
praktische Bethätigung in die breiten Bevölkerungsschichten zu tragen,
hat schon seit 1896 durch Abfassung und Vertheilung popular ge¬
haltener Schriften in dieser Richtung zu wirken gesucht, eine Lei m
sehr wichtiger Fragen auf gesundheitlichem Gebiete m populärer
Form dargestellt und dieselben einerseits dem Publicum durci cm
Festsetzung des niedrigen Bezugspreises von 20 Hellern leicht zu¬
gänglich gemacht, andererseits im Wege des Magistrates der Stadt
Wien und mehreren Landesausschüsse an Volksbildungs- und Arbeitei
bildungsvereine oder durch diese direct unter den Mitgliei ei n 1
selben, beziehungsweise in Arbeiterkreisen zur Vertheilung hnngen
lassen. Mit Nächstem wird die oben genannte Gesellschaft ihre l hatig-
keit durch Abhaltung von volkstümlichen V or t r a gen
erweitern, welche vorläufig nur in Wien stattfinden werden. Von
diesen Vorträgen, welche sich in ihrer Organisation an die volks¬
tümlichen Universitätscurse anschliessen, werden gleich diesen jt
sechs zu einem Curse vereinigt und unter den für die Universitatscuise
geltenden Bestimmungen allgemein zugänglich sein. n ®
beginnt am Sonntag den 18. Februar 1. J., v.'ird in 1 '-11 1U
168
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900,
Nr. 7
folgenden fünf Sonntagen fortgesetzt werden und hat die „Hygiene
des Frauenlebens“ zum Thema. Mit Rücksicht hierauf ist der¬
selbe ausschliesslich für Frauen und Mädchen bestimmt. Der Curs
wird mit einem Vortrage des Herrn k. k. Obersauitätsrathes Ilofrathes
Prof. Dr. Chrobak eingeleitet und vom Herrn Universitätsdocenten
Dr. Lihotzky fortgesetzt werden. Die Vorträge beginnen stets um
1 Uhr Nachmittags und werden im grossen Saale des chemischen
Universitäts-Laboratoriums, IX., Währingerstrasse 10 stattfinden. Die
Eintrittskarten können je eine halbe Stunde vor Beginn des ersten
und zweiten Vortrages im Vortragssaale selbst bei dem dort anwesenden
Functionär der volkstümlichen Universitätscurse gegen Erlag von
1 Krone für den ganzen Cyklus von sechs Vorträgen gelöst werden.
*
Die bis jetzt bei Kornfeld in Berlin erschienene „Zeit¬
schrift für Heilkunde“ wird von diesem Jahre an in ihrem
Umfange beträchtlich erweitert im Verlage von W. Braumüller
in Wien erscheinen. Die Redaction der Zeitschrift, als deren
Herausgeber Prof. II. C h i a ri, Docent A. Fraenke 1, die Professoren
E. Fuchs, Gussenbauer, v. H a c k e r, v J a k s c h, E. Lud wi g,
Neusser, v. R o s t h o r n, v. Schrötter und Weichselbaum
genannt sind, leitet den nun im Erscheinen begriffenen XXI. Band,
beziehungsweise der neuen Folge I. Band mit folgendem Vorworte
ein : Mit diesem Hefte tritt die Zeitschrift für Heilkunde nach zwanzig¬
jährigem Bestände in eine neue, erweiterte Form. Im Jahre 1880 von
Mitgliedern der Prager medicinischen Facultät als Fortsetzung der
seit dem Jahre 1844 von der medicinischen Facultät in Prag heraus¬
gegebenen Vierteljahrschrift für praktische Heilkunde ins Leben ge¬
rufen, hatte sie es sich zur Aufgabe gestellt, ein Organ zu sein, in
welchem die wissenschaftlichen Arbeiten auf dem Gebiete der klini¬
schen und theoretischen Pathologie, hervorgegangen aus den Prager
Kliniken und Instituten, zur Publication gelangen, selbstverständlich
aber auch einschlägige Arbeiten anderer Provenienz Aufnahme finden
sollten. Sie sollte Zeugniss geben von dem ernsten Stieben der medi¬
cinischen Kreise in Piag und namentlich auch jüngere Kräfte zur
wissenschaftlichen Arbeit anspornen. Als nun im Laufe der Zeit immer
mehr das Bedürfniss nach einer Concentrirung der deutschöster¬
reichischen Forscherarbeit auf dem Gebiete der Pathologie hervortrat,
entwickelte sich die Idee, die von dem Redactionscomite der Wiener
klinischen Wochenschrift herausgegebenen Beiträge zur klinischen
Medicin und Chirurgie mit der Zeitschrift für Heilkunde zu
verschmelzen, weiter auch Collegen der Schwesteruniversitäten in Graz
und Innsbruck heranzuziehen und so die Zeitschrift für Heilkunde zu
einem grösseren Journale auszugestalten, welches im Stande wäre, den
Haupttheil der deutschösterreichischen Forscherarbeit auf dem Gebiete
der Pathologie rasch und in entsprechender Weise zur Veröffentlichung
zu bringen. Dank einer Subvention seitens der Regierung gelang es
auch, diese Idee zu realisiren, und wird die Zeitschrift für Heilkunde
mit diesem XXL Jahrgange (dem I. ihrer neuen Folge) in dem be¬
währten Verlage von Wilhelm Braumüller zunächst im
doppelten Umfange von fiüher erscheinen. In beiläufig einmonatlichen
Intervallen wird je ein Heft mit circa fünf Bogen ausgegeben werden.
Der leichteren Uebersicht halber und um den verschiedenen Fach¬
kreisen eine bessere Orientirung zu ermöglichen, wild jeder Jahrgang
in drei annähernd gleich grosse Abtheilungen zerfallen, nämlich in
eine Abtheilung für interne Medicin und verwandte DisciplineD, in
eine Abtheilung für Chirurgie und verwandte Disciplinen und in eine
Abtheilung für pathologische Anatomie und verwandte Disciplinen,
respective für theoretische Pathologie. Die einzelnen Arbeiten werden
theils Arbeiten aus den Universitätskliniken und Instituten sein,
andererseits die wissenschaftliche Thätigkeit der Abtheilungen in den
verschiedensten Krankenanstalten Wiens und anderer Städte Oester¬
reichs zum Ausdrucke bringen und in letzterer Hinsicht den bis¬
herigen wissenschaftlichen Theil der Jahresberichte solcher Kranken¬
anstalten ersetzen. Es soll damit angebahnt werden, dass das grosse
Material der Krankenanstalten in ausgiebigem Masse wissenschaftlich
verwerthet werde und die betreffenden Arbeiten der Allgemeinheit
leichter zugänglich seien. Die in dieser Zeitschrift zur Publication ge¬
langenden Arbeiten werden also ein sehr weites Feld umfassen und
alle Richtungen der Forschung auf dem Gebiete der Pathologie be-
t reffen. Ls sollen hier Arbeiten aus allen Fächern der inneren und
äusseren Medicin, sowie der theoretischen Pathologie geb) acht werden,
es soll die klinische, die anatomische, die physiologische, die chemische
und die experimentelle Forschung auf pathologischem Gebiete zum Worte
kommen, und so die Zeitschrift ein Bild der Thätigkeit in allen diesen
Richtungen geben. Die Intention bei den Arbeiten für diese Zeitschrift soll
sein die Förderung des Wissens in Bezug auf die Aetiologie, die Genese und
das klinische Verhalten der pathologischen Zustände des Menschen,
um so eine bessere Erkenntniss über das Wesen der Krankheiten, ihre
Verhütung und Heilung zu gewinnen. Es sollen stets nach Möglichkeit
allgemeinere Gesichtspunkte berücksichtigt werden, und die that-
sächlichen Substrate wirkliche wissenschaftliche Verarbeitung finden.
Dann steht zu hoffen, dass bei dem reichen Materiale unserer
Universitäten und Krankenanstalten und der grossen Zahl der als Mit¬
arbeiter gewonnenen bewährten Kräfte diese Zeitschrift ihren Zweck
erfüllen und zur Förderung der Heilkunde beitragen werde, im
Interesse der Wissenschaft und zur Ehre Oesterreichs.
Die Redaction.
*
Im Verlage von Seitz & Schauer in München ist in
Kalenderform ein „T aschenbuch der U n t e r s u e h Unga¬
rn e t h o d e n und Therapie für Dermatologen und Uro¬
logen“, herausgegeben von A. v. Notthafft (München), er¬
schienen. Das Werkehen beabsichtigt, dem bei Erkrankungen der Haut
und Krankheiten der Uro-Genitalsphäre mit gewissen diagnostischen
und therapeutischen Anhaltspunkten an die Hand zu gehen, aus
welch letzterem Grunde unter Anderem auch besonders die in der
Dermato- und Urologie zur Verwendung gelangenden Arzneimittel eine
ausführliche Besprechung gefunden haben.
*
SanitätsverhältnissebeiderMannschaftdesk.u.k.Heeres
im Monat No vemb er 1899. Mit Ende October 1899 waren krank ver¬
blieben bei der Truppe 1641, in Heilanstalten 8142 Mann. Kranken¬
zugang im Monat November 1899 21.013 Mann, entsprechend pro Mille
der durchschnittlichen Kopfstärke 60. Im Monat November 1899 wurden
an Heilanstalten abgegeben 10.284 Mann, entsprechend pro Mille der
durchschnittlichen Koptstärke 29. Im Monat November 1899 sind vom
Gesammtkrankenstande in Abgang gekommen 20.284 Mann, darunter als
diensttauglich (genesen) 17.679 Mann, entsprechend pro Mille des
Abganges 871, durch Tod 59 Mann, entsprechend pro Mille des Ab¬
ganges 2 • 9 1 , beziehungsweise pro Mille der durchschnittlichen Kopf¬
stärke 0-17. Am Monatsschlusse sind krank verblieben bei der Truppe
2185, in Heilanstalten 8327 Mann.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 4. Jahreswoche (vom 21. Januar
bis 27. Januar 1900). Lebend geboren : ehelich 577, unehelich 284, zusammen
861. Todt geboren: ehelich 49, unehelich 25, zusammen 74. Gesammtzahl
der Todesfälle 631 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
20 1 Todesfälle), darunter an Tuberculose 122, Blattern 0, Masern 7,
Scharlach 0, Diphtherie und Croup 3, Pertussis 0, Typhus abdominalis 3,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 3, Neu¬
bildungen 44. Angezeigte Infectionskrankheiten: Blattern 0 (==), Varicellen
131 (-j- 4), Masern 373 ( — 78;, Scharlach 36 ( — 6), Typhus abdominalis
2 ( — 3), Typbus exanthematicus 0 (=), Erysipel 32 (-j- 1), Croup und
Diphtherie 51 (-(- 2), Pertussis 38 (-j- 3), Dysenterie 0 (=), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 6 (-f- 2), Trachom 4 (-{- 2), Influenza 1 (-[- 1).
Bei der Redaction eingelangte Bücher.
(Mit Vorbehalt weiterer Besprechung.)
Koenig. Lehrbuch der speciellen Chirurgie. 7. Auflage, Bd. III. Hirsch¬
wald, Berlin 1900.
Heller, Die Krankheiten der Nägel. Ibidem. 295 S.
Granier, Lehrbuch für Heilgehilfen und Massöre. 2. Auflage, Schütz,
Berlin 1909. Preis M. 4, — .
Broca. L’appendicite. Bailiiere, Paris 1900. Preis Frcs. 1.50.
Elsner, Die Praxis des Chemikers. 7. Auflage. Voss, Leipzig. Preis
M. 14.—.
Bergmann, Das Berliner Rettungswesen. Hirschwald, Berlin 1900.
Leser. Operationsvademecum. Karger, Berlin 1900. Preis M. 5. — .
Lehfeklt, Medicinisehes Taschenwörtei buch. 2. Auflige. Ibidem. Preis
M. 6.—.
Broatbent. Heart disease. Baillie.re, London 1900.
Stonliam. A manual of surgery. Macmillan, London 1900.
Stern. Ueber traumatische Entstehung innerer Krankheiten. 2 Heft. Fischer,
Jena 1900. Preis M. 7. — .
Ilirtli, Entropie der Keimsysteme und erbliche Belastung. Hirth,
München 1900.
EINBANDDECKEN
in Leinwand mit Goldpressung zum XII. Jahrgang; (1899)
stehen den P. T. Abonnenten zum Preise von 2 Kronen,
bei directem Postbezüge von 2 Kronen 72 Heller zur
Verfügung. — Zu gleichen Bedingungen sind ferner noch
Einbanddecken zum VI. his XI. Jahrgang (1893 — 1898) zu
haben. — Ich bitte um baldgefällige geschätzte Aufträge.
Hochachtungsvoll
WILHELM BRAUMÜLLER
k. u. k. Hof- und Universitätsbuchliändler.
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
169
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
INHALT:
orriciellcs Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien. Greifs, valder mediciniseher Verein Sitzung von, (i. Januar IOT>.
Verein deutscher Aerzte in Prag. Sitzung vom 10. und 17. November 1899. I 7t. Versamn»htng { ^^ForTsetlungT11
V PiCill UüUWCUVi - - O' . t l 1 n1
Wissenschaftliche Aerztegesellschaft in Innsbruck, bitzung vom
2. und 13. December 1899
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
Sitzung vom 9. Februar 1900.
Vorsitzender: Hofrath S. Exner.
Schriftführer: R. Paltanf.
Als Gäste haben sieb gemeldet: Herr Dr. Credner, Sanitäts¬
rath aus Nauheim, und Herr Dr. Fei Ich enfold aus Berlin
Hofrath S. Exner erinnert die Gesellschaft an den Tod Hot¬
rath Knoll’s und theilt den Tod Dr. S. Plohn’s mit; die Mit¬
glieder erheben sich zum Zeichen der Trauer von ihren Sitzen.
A. Administrative Sitzung.
Herr Dr. Loew gibt den Rechenschaftsbericht über die Ver¬
mögensverwaltung im Jahre 1899; derselbe wird von der Versammlung
o-enehmigt und das Absolutorium ertlieilt. Der Vicepräsident dankt
Herrn Dr. Loew für seine Mühewaltung im Namen der Gesellschatt.
Hierauf trägt Herr Dr. Loew das Präliminare pro 1900 vor,
welches ebenfalls genehmigt wird.
B. Wissenschaftliche Sitzung. — Demonstrationen.
Docent Dr. Büdinger stellt einen Patienten mit subcut an er
Ruptur dreier Strecksehnen am Fusse vor und demon-
strirt ein Präparat von Ausreissung einer Endphalange mit der ganzen
Beugesehne, wobei der Mechanismus der subcutanen Sehnenzerreissungen
besprochen wird.
Die ausführliche Beschreibung der Fälle wird Dr. Kirchmayr
geben und in diesem Blatte erscheinen lassen.
Docent Dr. Hermann Schlesinger demonstrirt zwei Fälle von
Syringomyelie mit selteneren Symptomen aus dem
Kaiser Franz Josef- Ambulatorium. .
Meine Herre n ! Der erste Kranke, ein 40jähriger Schneider,
leidet seit längerer Zeit an heftigen Schmelzen in der rechten oberen
Extremität, welche ihn zeitweilig arbeitsunfähig machen. Sonst keine
Beschwerden. Die Untersuchung des wohl gebauten Mannes ergab ausser
choreaartigen Spontanbewegungen der Finger und der rechten Hand
überraschend grosse Sensihilitätsdefecte. Dieselben betreffen die Schmerz-
und Temperaturempfindung an der ganzen rechten oberen Extremität,
an der rechten oberen Rumpfhälfte bis zum Rippenbogen, an dei
rechten Seite des Halses und Nackens, des behaarten Kopfes und an
umfangreichen Abschnitten der rechten Gesichtshälfte. Die Begrenzung
der Sensihilitätsdefecte im Gesichte erfolgt durch eine eigentümlich
gekrümmte Linie, welche in der Mittellinie des Kinns beginnt, entlang
dem Lippensaum zum rechten Mundwinkel zieht, sodann in einem
sanft geschwungenen, mit der Convexität gegen das Oln gelichteten
Bogen den äusseren Augenwinkel erreicht, entlang dem Lande des
oberen Augenlides bis etwa zu der Mittedesselben verläuft, sich dann
nach aufwärts wendet und wieder in einer bogenförmigen Lime in die
Mittellinie der Stirne etwa 2—3 cm ober der Nasenwurzel einstrahlt.
Weiterhin fand sich eine Erkrankung des rechten Schultergelenkes
sehr starkes, auf Distanz hörbares Knarren, die Möglichkeit den Ober¬
armkopf jederzeit schmerzlos in Subluxationsstellung zu bringen un
hei gewissen Stellungen ein derartiges Abstehen der Scapula vom
Thorax, dass eine Affection periseapulärer Muskeln angenommen werden
muss. Die Patellarsehnenreflexe sind erheblich gesteigert, sonstige
Anomalien des motorischen Apparates fehlen vollkommen.
Es ist in diesem Falle das sehr seltene Vorkommmss einer
Syringomyelie mit überwiegend sensiblen Erscheinungen vorhanden. Die
eigenartigen Spontanbewegungen an der Hand und den Fingern sind
bereits einige Male beschrieben, auch schon des öfteren von mir bei
Syringomyelie gesehen worden.
Der Sensibilitätsdefect im Gesichte ist offenbar gleich dem am
Rumpfe centraler Natur und ist bedingt durch eine Läsion der spinalen
Trigeminuswurzel. Der Fall bildet eine Illustration zu dem von mir
vor Jahresfrist an dieser Stelle gehaltenem Vortrage, in welchem ich
über die segmentalen Sensibilitätsstörungen im Trigeminusgebiete sprach.
Auch die hier nachweisbare Sensibilitätsstörung dürfte segmen taler
Natur und dadurch bedingt sein, dass die am meisten distal (spinal-
wärts) gelegenen Theile der Trigeminuswurzel von der Syringomyelie
afficirt sind. Auch in diesem Falle ist der Stirnast des Trigeminus nur
zum Theile geschädigt, während in einem Theile der Stirnliaut und im
Bereiche des Zweiges, der den Nasenrücken versorgt, keine Störungen
zu constatiren sind. Ich erblicke hierin eine Bestätigung meiner im
vergangenen Jahre gemachten Schlussfolgerung, welche später auf
Grund kleinerer Beobachtungen auch Dr. v. S ölder zu der seinen ge¬
macht hat: _ ...
Die Anordnung des Trigeminus im Kerngebiete ist eine der¬
artige, dass der Stirnast des Trigeminus seine Fasern von den am
weitesten entfernten Abschnitten des Kerngebietes, den am meisten
distal und proximal gelegenen Theilen bezieht, während der zweite
und dritte Ast des Trigeminus von dem mehr in der Mitte gelegenen
Theile des Kerngebietes versorgt wird.
Der zweite Kranke, ein 59jähriger Möbelpacker, gewährt ein
ganz anderes klinisches Bild und hat eine wesentlich andere Anamnese.
Die Krankheit besteht wenigstens seit elf Jahren. Nie bestanden
sensible Reizerscheinungen. Muskelatrophien, besonders an den Händen
und Vorderarmen, sowie Schwäche an den oberen und unteren Ex¬
tremitäten entwickelten sich allmälig bis zu dem erheblichen Grade,
der jetzt besteht. Am ganzen Körper fibrilläre Zuckungen der Mus-
culatur. Stellenweise Entartungsreaction. Die Sehnenreflexe an den
unteren Extremitäten gesteigert. Leichte Blasenstörungen. Es bestehen
erhebliche Sensibilitätsanomalien namentlich Thermo- Hypästhesien in
ausgedehnten Hautgebieten, am deutlichsten an den Vorderarmen.
Interessant sind nun ganz besonders folgende Störungen: Bei
dem Kranken treten transitorisch Erscheinungen von Bulbärlähmung
(Schling- und Gaumenmuskellähmung) seit mehr als zwei Jahren auf.
Der Kranke hat eben wieder so eine Attaque durch gemacht und be¬
finden sich die Lähmungserscheinungen derzeit im Rückgänge. Solche
transitorische, acut einsetzende Bulbärlähmungen sind bereits einige
Male bei Syringomyelie gesehen worden, ich habe sie selbst schon mehr¬
mals bei dieser Affection beobachten können.
Auffällig sind weiters die tiefen grubigen Einsenkungen an den
Schläfen, bedingt durch die äusserst seltene Atrophie der Mm. tem¬
porales. .
Endlich ist noch eine sehr seltene, offenbar mit der Erkrankung
in Zusammenhang stehende Complication vorhanden, nämlich eine
wohl ausgebildete Dupuytre n’sclien Sehnencontractur an der linken
Hand, welche sich erst im Verlaufe des Leidens entwickelt hat. Die¬
selbe ’ ist bisher ausserordentlich selten bei Syringomyelie zur Beob¬
achtung gelangt. _ .
Dr. Rud. Neurath demonstrirt ein sieben Monate altes Kind mit
angeborenem partiellem Riesenwuchs (Makrosumie).
Schon bei der Geburt erregte die Missbildung das Entsetzen der
Eltern. Seither nahm sie an Grösse im Verhältnis zur Entwicklung dei
übrigen Glieder etwas zu. Es besteht Makrodaktylie, combinirt mit Syndak-
tylle. Die zweite und dritte Zehe des rechten Fusses sind an den correspon-
direnden Flächen mit einander verwachsen und zu einem von normaler
Haut bedeckten, beide Zehen in ihrer Form noch deutlich erkennen
lassenden Tumor umgewandelt, wodurch der ganze vordere Antheil
des Fusses bedeutend entstellt erscheint. Die Kuppen beider Zehen
sind durch eine tiefe Furche von einander getrennt, während die der
Grundphalange entsprechenden Antheile miteinander verwachsen sind.
Der Ballen des Fusses setzt sich scharf von der hinteren Partie der
Planta ab und zeigt, wie die hypertrophischen Zehen selbst, deutlich
eine starke Vermehrung des subcutanen Fettes. Die Nägel der beiden
Zehen sind kurz, jedoch verbreitert und spröde. Die hypertrophischen
Zehen geben in ihren Längen- und Dickenmassen folgende Grössen:
Beide zusammen im Umfange 10 cm gegen 41/ 2 cm der gesunden Seite.
Kuppe der zweiten Zehe zur Ferse rechts 15 cm, links lÜ'/2cm.. Die
hypertrophischen Zehen sind stark dorsalflectirt und in gleichzeitiger
Abductionsstellung. Palpatorisch lassen sich die verlängerten, in ihren
Gelenken frei beweglichen Phalangen deutlich abgrenzen. Von den be¬
nachbarten Zehen sind die krankhaft veränderten streng geschieden.
Active Bewegungen sind in beschränktem Ausmasse möglich, doch
werden zweite und dritte Zehe fast gar nicht flectirt. Auch die grosse
Zehe zeigt eine wenn auch unbedeutende Veränderung in Form und
Grösse. Sie ist plump und durch einen kleinen A ulst an ilirei late¬
ralen Seite leicht verbildet.
Die Sensibilität der Zehen erscheint intact (Nadelstiche). Der
rechte Fuss fühlt sieh gewöhnlich kühler an als der linke, und ist
etwas blässer.
170
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 7
Das Kind ist das jüngste von sieben lebenden, gesunden
Kindern. Weder in der Familie, noch in der Ascendenz lässt sich eine
ähnliche Missbildung eruiren. Die Mutter glaubt, sich vielleicht in
einen Mann mit verkrüppelten Füssen verschaut zu haben.
Unser Fall gehört in die Gruppe partieller Hypertrophien
(Husch), in denen die Knochen nach allen Dimensionen vergrössert
erscheinen und die Weichtheile ebenfalls massenhafter, aber durchaus
proportional der Grössen Vermehrung der Knochen sind. Die Beobach¬
tung widerspricht der Annahme Wittelshofe r’s, dass in jedem
Falle bedeutender Makrodaktylie diese blos der prägnanteste Ausdruck
allgemeinen Riesenwuchses der ganzen Extremität sei ; denn eine
genaue Messung liess eine solche Grössenzunahme der übrigen Extremi¬
tätenpartien vermissen.
Nach Habs (1893) sind bisher 14 Fälle von Makrodaktylie
combinirt mit Syndaktylie bekannt, drei der oberen und elf der unteren
Extremitäten.
Pathogenetisch kommen wahrscheinlich Cireulationsstöi ungen im
Fötal leben in Betracht. Die operative Beseitigung der Missbildung er¬
scheint nicht nur aus kosmetischen und functioneilen Gründen indi-
cirt, sondern es lassen auch vereinzelte Beobachtungen vom Fort¬
schreiten des (angeborenen) Riesenwuchses auf anfangs normale Extre¬
mitätenpartien die Amputation oder Exarticulation geeignet erscheinen.
(Demonstration des Aktinogrammes.)
Docent Dr. E. Spiegler stellt aus seiner Abtheilung des Kaiser
Franz Josef-Ambulatoriums einen Fall von Sklerodermie vor,
der die linke Mamma einer sonst gesunden, 30jährigen Frau betrifft.
Es handelt sich um einen kindshandgrossen, jetzt bräunlich pig-
meutirten, sklerotisch anzufühlenden, isolirten Krankheitsherd, der sich
für das Auge von der gesunden Umgebung durch sonst nichts weiter
unterscheidet.
Als Spiegler die Patientin vor sechs Wochen zum ersten
Mal sah, war die Ilautstelle im selben Umfange in scharf circurn-
scripter Weise geröthet und geschwellt, so dass sie sich für das Auge
vom Erysipel durch nichts unterschied und erst die Palpation die
Diagnose ermöglichte.
Krankheitsdauer ein Jahr. Dieser Fall erscheint deswegen inter¬
essant, weil die Affection hier im Gegensätze zu sonstigen Fällen mit
Jucken verbunden ist.
Die Aetiologie betreffend, deckt die „trophoneurotisclie“ blos
unsere Unkenntniss in dieser Beziehung, indem in den meisten ein¬
schlägigen Fällen Störungen seitens des Nervensystems in keiner Weise
nachgewiesen werden können.
Hingegen scheint für einen Theil der Fälle wenigstens die An¬
nahme gerechtfertigt, dass es sich um locale Oedeme handelt, die sich
nachträglich in sklerotisches Gewebe verwandelten.
Docent Dr. Karl A. HerzfeUl hält hierauf den angekündigten
Vortrag : Ueber Enteroptose.
Unter Enteroptosis verstehen wir eine Verlagerung der Bauch¬
eingeweide, die hauptsächlich das weibliche Geschlecht betrifft, ausser¬
ordentlich häufig ist (in der Privatpraxis des Vortragenden in über
10% aller Fälle), grosse Beschwerden verursacht und doch merk¬
würdiger Weise bisher nur in geringem Masse von ärztlicher Seite ge¬
würdigt wurde. Das Symptomenbild der Enteroptose besteht vornehm¬
lich in Verdauungsstörungen, die sowohl den Magen (Appetitlosigkeit,
aber auch lästiges Hungergefühl, verbunden mit Schmerzen nach jeder
Nahrungsaufnahme, Aufstossen, Drücken etc.), als den Darm (Obstipa¬
tion, plötzliche Diarrhöen, Gasbildung, Anwachsen des Abdomens, Ge¬
fühl des Vollseins) betreffen und mit heftigen Schmerzen, Ai'beits- und
Bewegungsunlust, Athembeschwerden, Herzpalpitationen, bei längerer
Dauer mit Störungen in der Blutcirculation, Schwindel, Kopfschmerzen,
zahlreichen nervösen Symptomen verbunden sind und rapide Abmage¬
rung herbeiführen können.
Gleuard, dem der Ruhm der ersten eingehenden Würdigung
der Enteroptose gebührt, nahm an, dass eine Lockerung der Fixation
an der Flexura coli hepatica) erst das Herabsinken des Colon ascen-
dens und transversum und im weiteren Verlaufe durch Zug auch die
Lageveränderung der anderen — seiner Ansicht nach durch ihre Liga¬
mente bisher in den normalen Lageverhältnissen gesicherte — Organe
herbeifuhre. Dem ist nicht so, denn der Hauptgrund für die Erhaltung
der Organe der Bauchhöhle in ihren gegenseitigen Lageverhältnissen
ist der vorhandene intraabdominale Druck (Thorax, Schwere der Leber)
und dessen Paralysirung durch den nach aufwärts gerichteten Gegen¬
druck von Seite des Darmes, der wieder abhängig ist von Füllungs¬
zustand und Gasgehalt, sowie von den durch die begrenzte Entfaltungs¬
länge der Mesenterien und den Widerstand der Bauchhöhlenwandungen
dargestellten Factoren. Eine Vermehrung des Druckes von oben (Corsett,
Mieder) oder eine Verminderung des aufwärts gerichteten Gegendruckes,
ein Nachlassen der Spannung der Bauchdecken oder des musculösen
Beckenbodens können die Disposition zu Lageveränderungen schaffen.
Insbesondere geschieht dies durch die Schwangerschaft und das Wochen¬
bett, wenn die im Puerperium vor sich gehende Involution der durch
sie verursachten Veränderungen (Erweiterung des Bauchhöhlenraumes,
Verrückung seiner Grenzen, Lageveränderungen der Bauchhöhlenorgane)
durch übermässige Inanspruchnahme der noch zu weiten und zu
schlaffen Bauchdecken oder unzweckmässige Vermehrung des Gegen¬
druckes von oben etc. gestört wird. Aber auch alle anderen Ursachen,
die einer starken Anfüllung des Abdomens und Ausdehnung der
Bauchdecken eine rasche Entleerung der Bauchhöhle erfolgen lassen,
ebenso wie alle jene näher besprochenen Krankheitsprocesse, welche
den Tonus der Bauchdecken und der Beckenmusculatur verringern, können
die Enteroptose veranlassen. Die normale Resistenz des Beckenbodens
wieder, die ja Blase und Uterus in ihrer normalen Lage erhält und
daher von bedeutendem Einflüsse auf den Intraabdominaldruck ist,
wird ebenfalls vornehmlich durch Schwangerschaft, Geburt und Wochen¬
bett verringert (Zerreissungen am Damme, Störung der Involution des
Perineums durch übermässige Anstrengung und Belastung, Druck des
kindlichen Schädels).
Jedoch können natürlich auch andere Ursachen die Erschlaffung
des Beckenbodens veranlassen. Dieselbe bewirkt nun ein Absiuken des
iutraabdominellen Druckes eine Vergrösserung des Raumes der Bauch¬
höhle, ein Herabsinken der Organe des Hypochondriums, die wieder
ihre Nachbarorgane nach sich ziehen, endlich in Folge der Ausdehnung
der Därme eine Atonie und trägere Peristaltik derselben mit den
naturgemässen Folgeerscheinungen. Häufig tritt nun auch die von G 1 e-
nard für die primäre Veranlassung der Enteroptose gehaltene Locke¬
rung der Fixation an der Flexura coli hepatica ein. Freilich mögen
auch etwa vorhandene abnormale, dem embryonalen Verhalten ähnliche
Peritonealverhältnisse in manchen Fällen hiebei eine bestimmte Rolle
spielen (unvollständige Anhefiung des Colon ascendens, Abhebung des
Colons von seiner Unterlage). Hiedurch erklären sich auch Erschei¬
nungen, wie Abwä' tszerrungen des Magens, Knickungen am Pylorus etc.
Auch die Nieren können tiefer treten, was bei der rechten bedeutend
häufiger als bei der linken der Fall ist. Die berührten anatomischen
Verhältnisse erklären ungezwungen die mannigfachen Beschwerden der
Enteroptose.
Hervorheben möchte Vortragender noch die bisher ganz un¬
berücksichtigt gebliebene Erweiterung des Blutgefässsystemes im Be¬
reiche der Bauchhöhlenorgane und die damit verbundene Hyperämie
und Störung der Blutcirculation (scheinbare Zunahme der Anämie,
stärkere Menstrualblutungen etc.).
Die Therapie soll den normalen Bauchhöhlendruck wieder her-
stellen. Dazu dienen Stützapparate, die aber nur den mangelnden
Tonus der Bauchwandung ersetzen und nicht etwa die forcirte Lage¬
änderung einzelner Organe bezwecken sollen. Vortragender lässt zu
diesem Zwecke Bauchbinden anfertigen, die behufs besserer Fixation
rechts und links mit kleinen Hosen versehen und stets in horizontaler
Lage anzulegen sind. Die Binden müssen genau passend angefertigt
werden. Bei bestehender Erschlaffung des Beckenbodens ist bei Defecten
die Perineoplastik, bei einfacher Erschlaffung eine Stützung durch
Pessare und Kräftigung durch Gymnastik (Widerstandsbewegungen,
Brandt’sche Lüftung des Uterus) am Platze. Zur Wiederherstellung
des normalen Tonus ist aber ausserdem eine genaue diätetische Therapie
(M i t c h e 1 l’sche Mastcuren) nothwendig. Von Nutzen sind auch Bäder,
sowie die Anwendung der Elektricität. Viel wichtiger aber ist die
Prophylaxe, speciell in der Schwangerschaft, Geburt und im Wochen¬
bett (gut adaptirte Bauchbinden in der zweiten Hälfte der Schwanger¬
schaft, sowie durch vier Monate nach dem Verlassen des Bettes mög¬
lichste Schonung), sowie eine rationelle Ernährung. (Autoreferat.)
*
Herr Docent Dr. Klein hat zum Protokoll der Sitzung vom
26. Januar folgende Bemerkung eingesendet:
Die Erwähnung des Herrn Professors v. R e u s s, dass die von
mir vorgeführte Symblepharonoperation schon von A r 1 t angegeben
und geübt wurde, ist, wie ich mich durch nachträgliche nochmalige
Durchsicht der Literatur überzeugte, vollkommen richtig. Ich halte os
für meine Pflicht, dies zu erklären; jedoch mag es als Rechtfertigung
dienen, die bezügliche Stelle bei A r 1 t meinerseits übersehen zu
haben, dass selbe als klein gedruckte, wenig bemerkbare Notiz gleich¬
sam im verborgenen Winkel angebracht ist. Wenngleich ich nun nicht
mehr der Literatur gegenüber als erster Autor des demonstrirten Ver¬
fahrens gelten kann, so ist selbes für mich doch neu, indem ich es
mir ersonnen habe, und ich habe die Genugthuung, mit Arlt den
gleichen Gedanken gefasst zu haben. Freilich, hätte ich früher Kennt-
niss gehabt von meiner berühmten Vorgängerschafr, so hätte ich den
Fall nicht als nach einer von mir erdachten originalen Methode,
sondern als nach einem von Arlt angegebenen Verfahren operirten
vorstellen müssen.
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
171
Verein deutscher Aerzte in Prag.
Sitzung vom 10. November 1899.
Vorsitzender: Prof. Wölfler.
Prof. Chiari spricht über einen Fall von Obliteration der
Hauptstämme der Venae hepaticae bei einem 20jährigen
Manne, welcher Fall am 2. November 1899 von der ersten medici-
nischen Klinik (Vorstand Prof. Pribram) zur Section gelangte.
Das Individuum hatte seit der Kindheit oft au Bauchschmerzen
und Durchfällen gelitten. Von einer syphilitischen Erkrankung war
nichts bekannt geworden. Mitte September 1899 waren angeblich nach
dem Genüsse von verdorbenem Obst wieder Bauchschmerzen und Durch¬
fälle aufgetreten. Die Bauchschmerzen steigerten sich, es stellte sich
stärkere Ausdehung des Unterleibes ein, und suchte deshalb der Patient
Mitte October die Spitalshilfe auf. Unter Zunahme der Ausdehnung des
Unterleibfs kam es schliesslich durch Hochstand des Zwerchfelles zu
Lungenödem, welches den Exitus letalis bedingte.
Bei der Section fanden sich leichter Ikterus, Ausdehnung des
Unterleibes (Nabelhöhenumfang 95 cm), Oedem der unteren Extremi¬
täten und der Rückseite des Rumpfes, mässiger bilateraler Hydro-
thorax, stärkerer Hydrops ascites, Hochstand des Zwerchfelles, Oedem
der Lungen und vielfache Blutaustritte. Die Leber war gewöhnlich
gross; ihr Peritoneum erschien zart. Mit Ausnahme des Lobus Spiegeln
und einer mannsfaustgrossen Partie der Leber in der Nähe des Hilus,
welche Theile hellgelb erschienen und deutliche Läppchen Zeichnung auf-
wiesen, war das Leberparenchym tief dunkelroth gefärbt und ohne
Läppchenzeichnung. In diesen rothen Abschnitten der Leber waien die
Venae hepaticae thrombosirt und in ihrer Wand stellenweise verdickt.
Die Ostien der grossen Hauptstämme der Venae hepaticae in dem
obersten Antheile des intrahepatischen Stückes der Vena cava inferior
waren vollständig zugewachsen, während sich nach unten noch einige
offene Lumina von kleineren Venae hepaticae fanden.
Chiari fasst den Fall dahin auf, dass schon in der ersten Kind¬
heit des Patienten die Obliteration der Hauptstämme der Venae hepaticae
durch eine selbstständige Endophlebitis obliterans stattgehabt hatte, und
dass erst durch eine im September 1899 einsetzende Thrombose der
Wurzeln der Venae hepaticae die Circulationsstörung in der Leber so
hochgradig geworden war, dass es in Folge dessen endlich zum Exitus
letalis kam. Bezüglich des ätiologischen Momentes kann hier eventuell
an Syphilis hereditaria gedacht werden. Dieser Fall^ ist ganz gleich¬
artig mit den Fällen, welche Chiari in dem XXVI. Bande dei
Ziegler’schen Beiträge zur pathologischen Anatomie und allgemeinen
Pathologie publicirt hat.
Hofrath Prof. Pribram: Bei der Seltenheit des Vorkommens
isolirter Lebervenenthrombose erscheint es mir nothwendig, in dem
vorliegenden Falle mit einigen Worten auf das Bild einzugehen, welches
der Kranke dem Arzte in den letzten Lebenstagen dargeboten hat.
Denn die meisten bisher beschriebenen Fälle von Lebervenenverschluss
haben zumeist dabei schwere anderweitige Störungen, Synechien des
Herzbeutels, der Pleura, Carcinom oder Narben in der Leber, chroni¬
sche Peritonitiden (gleichzeitig Pfortaderthrombosen) gehabt und darum
ein sehr complicirtes Krankheitsbild gezeigt, aus welchem man nicht
so ohne Weiteres die für die Leberveuenthrombose speciell charakteri¬
stischen und von ihr allein abhängigen Symptome erblicken kann.
Quincke hat in seiner letzten Arbeit über die Lebervenen-
verstopfung hervorgehoben, dass für sie das Vorhandensein eines liepato-
genen Ascites mit gleichzeitiger gleichmässiger Vergrösserung der Leber,
Vergrösserung der Milz und Fehlen des Ikterus charakteristisch sei.
In einem Falle gleichzeitiger schwerer Herzerkrankung (Myocarditis,
Pericarditis) schloss er im Leben auf die Anwesenheit des Lebervenen¬
verschlusses aus dem Missverhältniss zwischen den schweren Stauungen
an der Leber und den relativ geringen Stauungssymptomen seitens der
oberen Körperhälfte. .
Unser Fall zeigt, dass bei Lebervenenverschluss die Milz nicht
gross zu sein braucht und Ikterus vorhanden sein kann. Im Allgemeinen
wird, wenn bei Erscheinungen hochgradiger Stauung ini Pfoitacti
kreislauf die Leber verkleinert ist, an Cirrhose, wenn sie nicht wesent¬
lich verändert ist, an ein Kreislaufshinderniss in der Pfortader selbst,
wenn sie aber erheblich vergrössert ist, an einen Verschluss der Leber¬
venen zu denken sein. Eine stricte Diagnose lässt sich begreiflicher
Weise auf diese Momente nicht bauen, da so häufig gleichzeitig Leber-
vergrösserungen aus anderer Ursache (Syphilis, Amyloid, Carcinom)
neben den Erscheinungen des hepatogenen Ascites Vorkommen. Dazu
kommt, dass bei allmälig entwickelten Stauungen die collateraleu
Bahnen von der Pfortader zur Hohlvene sich in verschiedener Art und
Geschwindigkeit entwickeln, so dass, wie in unseiem Falle, eine i ata
tion der Bauchdeckenvenen vollkommen fehlen und eine nachweisbare
Dilatation der inneren Mastdarmvenen in hohem Grade vorhanden sein
kann, wie sie hier schon während des Lebens erkannt worden ist.
Kommt es vollends gar zu starken Blutungen aus dem Darm, Magen,
Oesophagus, so kann auch die Milzschwellung vorübergehend zurück¬
gehen und im Krankheitsbild vermisst werden, wie sie denn auch bei
unserem Kranken nicht vorhanden war.
Viel wichtiger für die Diagnose scheint uns noch die Anamneso
zu sein. Sie war in unserem Falle sehr verlockend für die Vermuthung
einer Tuberculose des Bauchfells und des Darmes, denn der Kranke
hatte schon seit Jahren an Bauchschmerzen und Diarrhöen gelitten,
sein Vater war an Tuberculose gestorben, er selbst hatte Husten und
Heiserkeit und ausserdem Darmblutungen ohne die sonstigen Zeichen
einer hämorrhagischen Diathese, auch starke renale Hämaturie. Es
wurden deshalb auch Harn, Stuhl und Sputum sorgfältig auf Tuberkel¬
bacillen untersucht, jedoch durchwegs mit negativem Erfolg. Ei wähnt
sei, dass in der Literatur sogar ein Fall niedergelegt ist, wo wegen
Verdacht auf Bauchfelltuberculose sogar die Laparotomie stattgefunden
hat; bemerkenswertli ist, dass der Ascites in unserem Falle doch er¬
heblich geringer war als in anderen ähnlichen I allen, dass dagegen
in solchen Fällen, wo wegen des Ascites punctirt werden musste, die
Flüssigkeit sich wieder rasch ansammelte und sich als sehr eiweiss-
reich (372— 5°/0) erwies, und milchig getrübt beschrieben wird.
Man hat unter Anderem behauptet, dass in lallen schwerer
Cirrhose der Leber der Harn harnstoffärmer sei und dieses mit dei
Störung der harnstoffbildenden Functionen der Leber in Beziehung
gebracht. Ohne auf diese Frage hier näher eingehen zu können, halte
ich es doch nicht für überflüssig, die auffallende Beobachtung mitzu-
theilen, dass in unseren Falle, als der Harn um der Ei weissprobe
halber auf Salpetersäure aufgeschichtet wurde, sich aus demselben ein
dicker Brei von Krystallen salpetersauren Harnstoffes entwickelte, ein
Umstand, auf dessen Vorkommen ich bei anderen Krankheiten beim
letzten internen Congresse aufmerksam zu machen Gelegenheit hatte.
Da der Kranke fast keine Nahrung genoss und die Harnmenge, wenn
auch verringert, doch bis zu des Tages betrug (sp. G. 102* 1 029),
so erscheint ein solches Verhalten immerhin auffallend. Ich dait nicht
verschweigen, dass der Kranke einige Zeit zuvor Harnstoff als d Lue¬
tisches Mittel bekommen hat, dass dieser aber bis dahin schon aus¬
geschieden sein konnte und Controlversuche bei anderen mit gleichen
Gaben von Harnstoff behandelten Kranken ein gleiches \ erhalten
nicht erkennen Hessen.
Als das charakteristischeste Moment möchten wii nach einem
Studium der in der Literatur niedergelegten Fälle in Vergleichung
mit unserem Falle den Umstand bezeichnen, dass nach Voraus¬
gegangensein früherer ähnlicher Erscheinungen nach längerem Intervall
eine schubweise plötzliche schmerzhafte Volumszunahme mit dei
Erscheinung des hepatischen Ascites eintritt, während bei Cirrhose die
Entwicklung des Zustandes eine allmälige, lentescirende ist und bei
Pfordaderthrombose, die ähnlich rasch sich entwickeln kann, die Leber-
vergrösserung, wenn sie nicht durch andere Giünde bedingt
wird, fehlt.
Auffallend ist, dass die Mehrzahl der berichteten Fälle brauen
betroffen hat, die eine Zeit zuvor normale Entbindungen durchgemacht
hatten.
An der Hand der bisher erwähnten Anhaltspunkte werden wir
zwar die isolirte Leber venenthrombose vorläufig noch nicht mit Be¬
stimmtheit diagnosticiren, wohl aber schon im Leben mit ihiei Mdg
lichkeit zu rechnen haben und so das erforderliche klinische Material
zum genaueren Studium jenes Krankheitszustandes sammeln können,
mit dessen isolirten Auftreten uns Herr Hofrath Chiari m so
dankenswerther Weise bekannt gemacht hat.
Prof. Chiari hält hierauf seinen angekündigten Vortrag über
Nierenpapillennekrose bei Hydro nephrose.
Bereits im Jahre 1877 hat Friedreich auf das Vorkommen
von Nekrose der Nierenpapillen bei Hydronephrose hingewiesen und
die Meinung ausgesprochen, dass diese als mechanische Efiect anzu¬
sprechende Nekrose häufiger Vorkommen dürfte, dieselbe aber des¬
wegen selten zu sehen sei, weil die nekrotisch gewordenen Papillen
sich leicht ablösen. Chiari hat im Jahre 1882 über dieselbe Ne¬
krosenform an den Nierenpapillen berichtet und die gleichen An
sehauungen wie Fried reich geäussert. _
Nun berichtet derselbe über eine einschlägige Arbeit, welche
in seinem Institute von Herrn Dr. Stoudensky aus St. Petersburg
ausgeführt wurde. Es wurden von dem genannten Herrn einerseits eine
Reihe neuer solcher Fälle von Menschen untersucht und dabei die
Sequestration der nekrotischen Papillen studirt, andererseits Ihiei-
experimente an Kaninchen ausgeführt. Bei den Experimenten, die so
angestellt wurden, dass der eine Ureter per laparotomiam ligirt wurde
und die Thiere nach 1 bis 1 */a Monaten getcdtet wurden, zeigte sich,
dass bereits in dieser Zeit in der deutlich hydronephrotischen Niere
die Nekrose der Papille eingetreten war, ja auch bereits Sequestration
stattgefunden hatte. Es Hess sich aber dabei auch erweisen, dass nur
das mechanische Moment der Harnstauung die Papillennekrose bedingte,
indem die bacteriologische Untersuchung des in dem Nierenbecken ge¬
stauten Harns ein vollkommen negatives Resultat ergab.
172
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 7
C h i a r i weist schliesslich noch darauf hin, dass diese Nieren¬
papillennekrose bei Hydronephrose klinisch nicht ohne Bedeutung sei,
insoferne es denkbar wäre, dass sequestrate Nierenpapillen im Harne
gefunden werden könnten.
*
Sitzung vom 17. November 1899.
Vorsitzender : Prof. Wölfler.
Dr. Wilhelm Fischei bespricht unter Vorlegung der bei
der Operation gewonnenen Präparate einen Fall von Tubargravidität,
die mit Sactosalpinx purulenta der anderen Seite complicirt war.
Bemerkenswerth war in der Krankengeschichte, dass bei der
ersten Untersuchung der im Collapse nach Ruptur der schwangeren
Tube befindlichen Patientin etwas Fieber und ein linksseitiger daumen¬
dicker Tumor, sowie eine Vergrösserung des Uterus vorgefunden
wurde, die derjenigen einer gleichalterigen intrauterinen Schwanger¬
schaft entsprach.
Nach kritischer Besprechung dieser drei ungewöhnlichen Befunde
kommt Vortragender zu dem Schlüsse, dass die Sactosalpinx purulenta
und die Metritis ganz frische Processe gewesen, die wahrscheinlich auf
Infection des Uterus bei intrauterinen Manipulationen zum Zwecke der
Fruchtabtreibung zuziickzuführen sind. Der Fall endete nach fünf
Wochen, nachdem noch eine Eröffnung des Douglas hatte gemacht
werden müssen und nachdem noch eine EiterentleeruDg durch die
Cöliotomienarbe stattgefunden, in vollständiger Genesung. Der Vor¬
tragende bospricht weiters die Schwierigkeit der Differentialdiagnose
zwischen solchen Fällen und etwaigen Fällen von acut septischer
Perforationsperitonitis, z. B. bei Appendicitis, wofür er ebenfalls ein
Beispiel aus seiner Erfahrung beibringt.
Dr. Camill Hirsch: Ueber den nicht pigmentirten
Naevus der Augapfelbindehaut. (Mit Demonstration mikro¬
skopischer Präparate.)
Hirsch exstirpirte ein 5 — 6 mm breites, 2 — 21/<imm dickes,
sulzig durchscheinendes, röthlichgraues Geschwülstchen vom Limbus
conjunctivae corneae des Auges einer 17jährigen Patientin, das seit acht
Jahren sicher bestand (möglicher Weise seit Geburt) und sehr all-
mälig wuchs. Klinisch imponirte es als Sarkom, erwies sich aber mikro¬
skopisch (die Schnitte werden demonstrirt) in seinem Aufbaue und in
den Elementen — epitheloide Zellen mit grossen Kernen, dich t an¬
einander gereiht, in kugeligen Zellballen angeordnet — vollkommen
übereinstimmend mit dem bekannten Bilde des weichen Naevus der
Haut, u. zw. auch mit der von Wintersteiner gegebenen Be¬
schreibung des pigmentirten Naevus der Bindehaut, bis auf das Pigment,
das hier vollständig fehlt. Hirsch schliesst: „Der Naevus ist ein
sehr wohl cliarakterisirtes Gebilde sui generis, das, wo immer es sich
am Körper vorfindet, als solches unter dem Mikroskope immer erkannt
werden und dessen epithelogener Ursprung mit ziemlicher Sicherheit
erschlossen werden kann aus
1. der Beschaffenheit der Geschwulstgewebselemente,
2. aus ihrer Anordnung,
3. aus dem Standorte des Gebildes, d. h. jene, die Geschwulst
ausmachenden, charakteristischen kugeligen Zellhaufen liegen stets auf,
respective in demjenigem Bindegewebe, dem das Ober¬
flächenepithel unmittelbar aufsitzt. Noch nie ist ein
Naevus beschrieben worden (ob der Haut oder einer anderen Stelle),
der im tieferen, oder anderem als dem subepithelialen Bindegewebe
seinen Sitz hätte“. Die Specificität, welche dem Wachsthumstypus des
Naevus als solchem innewohnt, erhellt übrigens auch schon daraus,
dass die aus ihm hervorgegangenen bösartigen Geschwülste auch
wieder, wie Unna und Wälsch gezeigt haben, alle diese
für den Naevus geltenden Charaktere des histologischen Aufbaues
zeigen.
Wissenschaftliche Aerztegesellschaft in Innsbruck.
Sitzung vom 2. December 1899.
Vorsitzender: Hofrath Prof. v. Vintschgau.
Schriftführer: Docent Dr. Posselt.
Prof. Lode (Fortsetzung aus der letzten Sitzung) berichtet
über eine gemeinsam mit Dr. D u r i g im hygienischen Institute aus¬
geführte Untersuchung, betreffend die Köhlens ätireaussche i-
dung von Hunden bei wiederholten kalten Bädern,
als oinem Beitrag zur Kenntniss des Mechanismus der Abhärtung.
(Erscheint ausführlich an anderem Orte.)
Prof. Löwit bemerkt in der Discussion, dass, insolange
nur Bestimmungen der ausgeschiedenen C 02 vorliegen, ein sicherer
Rückschluss auf den respiratorischen Gasaustausch nicht gezogen
werden könue, wie der Vortragende selbst bemerkt hat; gleichzeitig
fragt er an, ob Beobachtungen über Aenderungen der Athemmechanik
und Athemfrequenz an den gebadeten Thieren gemacht wurden. Be¬
züglich der Einwirkung der kalten Bäder auf die Körpergefässe weist
Redner auf die Analogie mit den bekannten H ei d e n h a i n'schen
Versuchen über die Veränderungen der Körpertemperatur durch sen¬
sible Reize hin.
Man müsste darauf achteu, ob nicht der Kältereiz nach Analogie
sensibler Erregungen eine Gefässcontraction im Körperinnern und eine
Gefässerweiterung an der Körperperipherie zur Folge habe. Die Ge¬
wöhnung an die kalten Bäder wäre dann darauf zurückzuführen, dass
die sensiblen Hautnerven minder empfindlich oder unempfindlich für
den Kältereiz werden, und den erwähnten Gefässreflex nicht mehr
auslösen. Diese Auffassung ist einer experimentellen Prüfung zu¬
gänglich.
Prof. Lode erwidert hierauf, dass bezüglich der Kältereize
allgemein angenommen werde, dass zuerst wenigstens eine Contraction
der Gefässe der Peripherie erfolge. Im Sinne Rosenthal’s müsste
man bei der Abhärtung annehmen, dass die von der „ungeübten“
Haut ausgelösten reflectorischen Gefässcontractionen langsam, von der
des abgehärteten Thieres rascher und vielleicht auch intensiver aus¬
gelöst würden.
Prof. Rille demonstrirt zwei klinische Patienten mit weit ver¬
breiteten Maculae coeruleae (Taches bleues) epediculis
pubis und erörtert dieses praktisch nicht unwichtige Exanthem in
pathologisch-klinischer wie historischer Beziehung.
Zunächst haben diese Fleckbildungen differentialdiagnostische
Bedeutung.
Nachdem sie gemäss der vom Genitale zu den Achselhaaren
stattfindenden Wanderung der Morpionen ab und zu seitlich am
Thorax localisirt sind, ferner statt graublau auch grauröthlich
sein können, ist bei ihrem nicht seltenen Coincidiren mit
diversen Genitalaffectionen für den Mindergeübten eine Ver¬
wechslung mit maculösem Syphilid nicht ganz ausgeschlossen,
da Form und Grösse der Efflorescenzen bei beiden gleich ist.
Weiters ist bemerkenswerth, dass manche dieser Flecke nicht so
sehr im Hautniveau als unterhalb desselben liegen, das heisst eine
centrale Impression zeigen, bei Fingerdruck nicht abblassen und im
Gegensätze zu sonstigen fleckigen Exanthemen auch an der Leiche
persistiren. Sie sind um so deutlicher sichtbar, je weisser und zarter
die Harrt ist. Meist sind sie auf die innere Schenkelfläche und die
Nates beschränkt und findet man sie fast ebenso häufig wie überhaupt
Pediculi; gerade dann, wenn die Flecke fehlen, soll das Jucken
ein besonders prononcirtes sein. Uebrigens verursachen, entgegen den
Darstellungen der Lehrbücher, die Filzläuse ihren Trägern gar kein
oder nur geringes Jucken und kommt Ekzem nur ausnahms¬
weise vor.
Die Kenntniss der wahren Natur dieses Ausschlages, wde überhaupt
die von der Existenz desselben ist von Frankreich her vermittelt worden und
wurde erst in den Achtziger-Jahren namentlich auf die Mittheilung
0. Simon’s hin in unsere dermatologischen Lehrbücher aufgenommen.
In Frankreich interessirte man sich für dieses merkwürdige Exanthem
bereits seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts auf das Lebhafteste.
Es wurde lange Zeit für eine Varietät der Roseola typhosa gehalten,
später (Davasse, V a 1 1 e i x, T a r d i e u, Dieulafoy) als patho-
gnostisches Kennzeichen des gastrischen und „synochalen“ Fiebers
aufgeführt. L i 1 1 r e, Ros tan und noch 1873 Bouchut zählten
diese Flecke zu den Petechien und erblickten daher in ihnen ein
übles Vorzeichen, während Trousseau und Gubler sie für einen
milden Verlauf des Typhus in Anspruch nahmen, ebenso Murch is on,
der in seinem berühmten Werke über die typhösen Fieber Englands
hievon eine vom Vortragenden vorgewdesene Abbildung gibt.
C a s t a n hielt sie für Roseolen, die ihre Farbe verändert haben.
Selbst Griesinger und Lieber meiste r thun ihrer in ihren
Monographien über Abdominaltyphus Erwähnung. Erst als man sie
nicht blos neben Pneumonie, Angina tonsillaris (Delioux de Savignac,
Grisolle) und Malaria (J a c c o u d), sondern auch bei Gesunden an¬
getroffen hatte, gelangte man dahin, ihnen jede Specialität abzusprechen.
Anfangs der Siebziger-Jahre haben französische Marineärzte, die Schüler
von F a 1 o t in Toulon und G e s t i n in Brest mit M o u r s o u an
der Spitze den Zusammenhang mit den dabei regelmässig anwesenden
Pediculis erkannt. Den experimentellen Nachweis hat 1880 Duguet
erbracht, welcher zum Theile in Gemeinschaft mit Mailet mittelst
einer Verreibung von Pediculis Impfungen anstellte und innerhalb
24 Stunden die in Rede stehenden stahlgrauen Flecke erzeugen konnte.
Das Resultat war eben sowohl bei Individuen ohne Phthirii, wie bei
solchen die schon früher mit Taches bleues behaftet waren ein positives,
dagegen negativ bei jenen, die bis dahin zwar Filzläuse aber keine
Taches bleues zeigten; es gibt daher auch eine Immunität gegen diese
Flecke.
Inoculationen mit Pediculus capitis, P. vestimentorum, Pulex,
Cimex, Culex pipiens konnten dies Exanthem nicht hervorbringen.
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Bei vielfachen Versuchen mit gesonderter Verimpfung diverser
Leibessegmente der Parasiten gelangte Duguet auch zui Uebei-
zeugung, dass die Fähigkeit, das Exanthem zu erzeugen, den Speichel¬
drüsen zukomme, welche sich zu zwei Paaren, bohnen- und hufeisen¬
förmig im oberen Brusttheile beim zweiten Fusspaare befinden.
Die experimentelle Erzeugung der Flecke gelang auch an der
Stirnhaut, nachdem es nicht bekannt ist, ob sie auch spon¬
tan an der Gesichtshaut Vorkommen, was bei Phthiriasis palpe¬
brarum immerhin möglich wäre. In Deutschland ist das Exanthem
zuerst von Lewin und Lommer (Le win, Behandlung der
Syphilis mit subcutaner Sublimatinjection. Berlin 1869, pag. 142) als
Exanthema coeruleum beschrieben worden, doch ohne Kenntniss der
Aetiologie. Lewin faud es zunächst bei Syphilitischen und meint,
dass es durch eine tief in der Haut liegende venöse Stauung bewirkt
sei und der darüber liegende Panniculus die mattglänzende Nuance
der blauen Farbe bedinge.
Wodurch die eigenartig blaue Farbe dieser Flecke entstehe, ob
ein Farbstoff in die Haut abgelagert werde, ist bis heute unbekannt
und auch histologische Untersuchungen, die ausser von Moursou
und Duguet bereits früher von Monneret in Angriff genommen
wurden, hatten keinerlei Resultat. Rille hat bisher in drei Fällen
erfolglos mikroskopisch untersucht und hofft mittelst 1 ixation in
K a i s e r 1 i n g'scher Flüssigkeit ein Resultat zu erzielen.
Prof. Dimmer demonstrirt ein Kind mit angeborenem
Kolobom des linken Oberlides.
Dr. Donati demonstrirt zwei an der Frauenklinik von
Prof. Ehrendorfer durch Operation gewonnene Präparate.
Ein aus dem oberen Antheile der Cervicalsehleimhaut
ausgegangenes Car ein om mit Ueber greifen auf das
ganze
K»u*o Corpus und Collum uteri; die Portio war intact,
das Orific. extern, geschlossen. Der Fall bot in difierentialdiagnostischer
Beziehung ein Interesse, da er fast ohne klinische Symptome verlief.
Es wurde die abdominale Totalexstirpation ausgeführt; der Verlauf
nach der Operation war ganz glatt.
Weiters ein Präparat von Haematocele retro-uterina
in Folge eines Tuben-Abortus. Die linken Adnexe sammt dem orange¬
grossen mit der hinteren Uterus- Wand fest verwachsenen Tumor
wurden’ per laparotomiam entfernt (Salpingo-oophorectomia sinistra).
Das Ostium abdominale der über fingerdicken Tube ist für den Zeige¬
finger durchgängig. (Der Fall erscheint später ausfühl lieh.)
Patientin wurde geheilt entlassen.
An der Discussion betheiligt sich Prof. P o m m e r.
Assistent Dr. Konzert demonstrirt von Prof. Rille’s Klinik
einen 72jährigen Bauernknecht mit einem fungösen Carcinom
an der Nase. Nach Angabe des Kranken ist der Tumor seit einem
halben Jahre gewachsen, und seit 14 Tagen ulcerirt. Die Nasenspitze
erscheint von einer in sie eingelagerten, plump verdickenden, rund¬
lichen über nussgrossen Geschwulst eingenommen, die im Allgemeinen
überall deutlich umgreifbar ist, und mehr nach rechts hin eine kronen¬
stückgrosse, etwas unebene, braunroth glänzende Geschwursflache be¬
sitzt, deren Ränder flach, wie abgeschnitten und nur stellenweise
unterminirt erscheinen. Die Geschwürsbasis zeigt keinerlei Belag,
secernirt blutig-seröse Flüssigkeit, auch fehlen die bekannten comedo-
ähnlichen epitheloiden Pfropfe. Die Tumormasse fühlt sich im All¬
gemeinen ebenso wie ihr Rand elastisch, mässig derb an Die Haut
des Nasenrückens zeigt überdies einen geringen Grad von Acne rosacea,
vielfach erweiterte und geschlängelte Venen, die bis an den Geschwurs-
rand heran ziehen. In diagnostischer Beziehung konnte man von vorne-
herein blos an eine echte Neubildung, Sarkom oder Carcinom denken
dagegen Gumma wegen der derben Geschwulstmasse und des voll¬
ständig reinen Geschwürsgrundes ohne Weiteres auszusehhessen is .
Eher, namentlich mit Rücksicht auf das Fehlen von Gancroidzapten
wäre an Sarkom oder Sarkommetastase zu denken gewesen ; doch
fehlen hiefür weitere Anhaltspunkte, und gehören isolirte Sarkom¬
knoten gewiss nicht zu den häufigen Befunden. Es wurde ein kleiner Keil
aus dem Rande der Ulceration excidirt und nach kurzer Hartung in
Formalin mittelst Gefriermikrotoms geschnitten. Die mikroskopische
Untersuchung liess aber wegen der Undeutlichkeit der Bilder — be¬
sonders starke Schrumpfung des zellreichen Gewebes durch Formalin-
wirkung — keine sichere Diagnose stellen, und war mit grosstei
Wahrscheinlichkeit ein jedenfalls aus der Tiefe der Drüsen ausgehendes
Carcinom (Adenocarcinom) anzunehmen, doch sprechen einzelne
Bilder entschieden auch für die D i a g n o s e eines pe nvascu-
lären Sarkoms (P e r i t h e 1 i o m). Erst an der Hand vorsichtig
fixirter eingebetteter Geschwulsttheile wird das V esen des Neoplasmas
sich vollständig klar stellen lassen. Von grösster Wichtigkeit ist aber
das Vorhandensein von zahlreichen Verrucae seniles an dei L
sichtsliant des
denen eine am r
derb und glänzend ist. Von letzterer wurde ein Stück excidirt und
ero-ab die mikroskopische Untersuchung carcinomatöse Umwandlung
undeutlichster Weise. Nicht selten beginnt das Carcinom von solchen
seborrhoischen Warzen aus, doch ist dies mehr bei dem flachen
Epithelialkrebs der Fall.
Sitzung vom 13. December 1899.
Vorsitzender: Hofrath V. Vilitschgau.
Schriftführer: Docent Dr. Posselt.
Regimentsarzt Dr. Ball n er legt die Ergebnisse einer im hy¬
gienischen Institut ausgeführten Arbeit über eine rasch und ohne com-
plicirte Hilfsmittel auszuführende Methode der Mauerfeuch¬
tigkeitsbestimmung vor. Die Ermittlung des Feuchtigkeits¬
gehaltes gründet sich auf die Wägung einer bestimmten Menge Mörtel
vor und nach der Entwässerung im Exsiccator mit Hilfe von Phosphor-
pentoxyd. (Erscheint ausführlich an anderem Orte.)
In der Discussion macht Prof. Lode darauf aufmeiksam,. vie
wichtig es ist, gerade bei der Feststellung der Mauerfeuchtigkeit
die subjectiven Bestimmungen durch eine objective, leicht anzufühi ende
Methode zu ersetzen, nur müsse in den Bauordnungen ein bestimmter
Wassergehalt des Mörtels als Maximum vorgeschrieben werden. Der
Tiroler Landes-Sanitätsrath habe für die ländliche Bauordnung in liio
2% vorgeschlagen.
Bezirksarzt Dr. Ganner betont, dass die bisherigen Methoden
zu complicirt waren, um in der Praxis geübt zu werden; er erscheine
ihm daher diese neue Methode praktisch von grossem Werth, freilich
nur, wenn einmal der erlaubte Maximalwassergehalt gesetzlich fest¬
gestellt wäre. . . .. D
Prof. Rille demonstrirt einen 29jähngen Kranken mit 1 ar-
onychia und Onychia syphilitica.
Derselbe, von Beruf Gastwirth, ist von ungewöhnlich grosser
Statur und kräftiger Constitution, war im October d. J. mit der Narbe
eines angeblich im Juli aufgetretenen Primäraffectes und den pigmen-
tirten Resten eines kleinpapulösen Syphilides an der Klinik in Behand¬
lung und verlangte, nachdem er erst acht Einreibungen erhalten, die
Entlassung. . , _ x. , ,. ,
Sein jetziges schmerzhaftes Leiden, die Nagelaffection, datirt ei
seit Mitte November. Am Daumen der rechten Hand sind Nagelfalz
und Nagelwall in weitem Umkreise stark geschwellt, livid gerothet,
abgehoben und zum Theile geschwürig zerstört, der sehr feste und
grosse Nagel seiner ganzen Ausdehnung nach von der Unterlage los-
' gelöst, theils glänzend schwarz, theils braungelb verfärbt, das Nagel¬
bett in eine drüsig unebene, mit fötidem Eiter belegte Geschwürsflache
umgewandelt; ähnliche Veränderungen, doch in etwas geringerer Inten¬
sität, am Mittelfinger dieser Seite gleichwie am linken Zeigefinger.
Die Cubitaldrüsen sind geschwellt und druckempfindlich. An den
Zehennägeln keine Veränderung. _ .
Am Stamme und den Extremitäten fiuden sich noch pigmentirte
Reste des seinerzeitigen ersten Exanthems, frische Eruptionen einzelnei
Rupiaefflorescenzen an der Stirnhaargrenze, der Lumbalgegend und an
der Aussenfläche des rechten Oberschenkels, . Alles in Allem die An¬
zeichen eines schwereren Verlaufes der Syphilis, für welchen, da ein
sonstiges dyskrasisches Leiden nicht vorliegt, ausser der ungenügenden
specifischen Behandlung während der recenten Krankheitsperiode wohl
Alkoholismus verantwortlich zu machen ist. .
Die Veränderung der Nagelsubstanz ist eine Folge des entzünd¬
lichen Processes am Nagelbette analog der bei anderen Infiltrations¬
zuständen an dieser Stelle, wie z. B. bei Lupus vulgaris, der bis dicht
an den Nagelwall reicht, Onychogryphosis oder bei contiuuirlich aut-
schiessenden Pemphigusblasen, zumal der vegetirenden und exfohativen
Formen, Schmutzigfärbung und Deformitäten der Nägel sich aus¬
bilden. . , c , ...
Die isolirte Erkrankung der Nagelsubstanz in Folge von Syphilis,
also die primäre Onychie, wird von Einzelnen mit Unrecht geleugnet,
wenngleich der Vortragende ihre Seltenheit zugibt.
Kranken, vornehmlich an den Augenlidern, von
echten inneren Augenwinkel besonders stark erhaben,
Greifswalder medicinischer Verein.
Sitzung am G. Januar 1900.
Vorsitzender: Landois.
Schriftführer : Busse.
1. Herr Uhlenhut: Ueber die Verbreitung der
Leprabacillen im menschlichen Körper (Mit Demon¬
strationen.) Uhlenhut hat einen im Institut für Infeetiopskiank-
heiten behandelten und obducirten Fall von Lepra m.xta klinisch und
anatomisch genau studirt. Fast in allen Organen fanden sich Lepia-
bacillen, besonders reichlich, ja fast in unglaublichen Mengen fand
174
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 7
er sie in der Ilaut, den Schleimhäuten der oberen Luftwege, zumal
der linken obern Muschel, der Zunge, Tonsille, Schleimhaut des
Mundes und des Rachens, in der Epiglottis und den Stimmbändern.
Unterhalb des zweiten Trachealringes war die Schleimhaut frei von
Leprabacillen. Sehr zahlreich lagen sie ferner in der Milz, im Knochen¬
marke, den subcutanen Lymphdrüsen, im Hoden, der Leber, vereinzelt
in der Lunge, den Bronchialdrüsen und der Musculatur des Herzens
und Körpeis.
Der Darmtractus enthielt keine Leprabacillen, ebenso die Wan¬
dung der Harnblase, die Speichel-, Talg-, Schleim- und Schweissdrüsen
und das Epithel der Haut. Die Bacillen liegen meistens in Zellen
eingeschlossen, gewöhnlich zu grossen Massen als sogenannte Lepra¬
schollen in den von Virchow als Leprazellen bezeichneten eigen¬
artigen, durch Vacuolenbildung ausgezeichneten Zellen. Dort, wo die
Bacillen in geringer Menge liegen, machen sie gar keine Gewebs¬
veränderungen, bei massenhafter Anhäufung entsteht eine entzündliche
Wucherung, besonders in der Umgebung der Gefässe. In den peripheren
Nerven (N. peroneus, N. ulnaris, N. saphenus) zeigten sich weit¬
gehende Degenerationen und Schwund der Nervenfasern, in dem da¬
zwischen liegenden verdickten interstitiellen Gewebe massenhafte
Leprabacillen. Der N. vagus zeigt bei völligem Mangel von Bacillen
völligen Schwund der nervösen Tbeile, ähnlich, nur nicht so stark,
waren die Veränderungen im N. sympathicus. In den Spinal¬
ganglien lagen die Bacillen innerhalb der Ganglienzellen, ebenso
in dem Vorderhorn des Rückenmarkes. Das Gehirn war frei von
Leprabacillen, ausgenommen die P u r k i n j e’schen Zellen des Klein¬
hirns. Die Se- und Excrete waren mit Ausnahme des Nasensecretes
und Auswuchses frei von Leprabacillen. Hier aber waren sie in un¬
geheuerer Menge vorhanden, was für die von Koch und Sticker
vertretene Ansicht spricht, dass die Lepra durch das Nasensecret
übertragen würde und die Nasenschleimhaut zuerst befiele. Die Ver¬
breitung erfolgt nach Uhlenhut nicht nur durch die Lymphbalmen,
sondern auch durch die Blutgefässe.
(Demonstration zahlreicher mikroskopischer Präparate und Zeich¬
nungen.)
2. Herr Grawitz demonstrirt eine Anzahl von mikroskopischen
Schnitten aus den Organen Pestkranker, die Herr Dr. Henkel
(Eppendorf) übersandt hat. In den Bubonen, Lungen, in der Milz
und dem Herzen finden sich die Bacillen in wirklich enormer Menge.
G r a w i t z erläutert die Präparate durch Mittheilung der pathologisch¬
anatomischen Veränderungen, die sich bei Pestkranken finden.
3. Herr Martin demonstrirt: a ) einen weiblichen Epignathus,
der von Herrn Dr. Borchert (Stolp) übersandt worden ist. Die
Frucht wurde mit der Zange entwickelt. Aus dem weitgeöffneten Munde
ragt ein grosser Tumor heraus, an dem unten ein rudimentärer Steiss,
im Inneren grössere Knochen zu constatiren sind. Das Kind hat noch
eine Viertelstunde geathmet. Nach dieser Missbildung wurde noch ein
gut ausgebildeter Knabe geboren.
b) Eine Sactosalpinx purulenta tuberculosa, deren Entfernung
ausserordentlich schwierig gewesen ist. Nach M a r t i n’s Angabe liegt
hier ein Fall von primärer Tuberculose der Tube vor. Der Eiter erwies
sich steril. In der Wandung der Eitersäcke fanden sich verkäste
Stollen, Riesenzellen und Tuberkelbacillen.
c) Ein 27 Pfund schweres Ovarialkystom, welches zusammen
mit den stark myomatös erkrankten Uterus bei einer 53jälnigen
Patientin entfernt worden ist. Einige derbe Knoten an dem grossen
Tumor erwiesen sich als gutartige Cystadenome im Gegensatz zu
einem zum Vergleich vorgelegten cystischen Ovarialtumor bei einem
16jährigen Mädchen, an dem krebsartige Entartung nachzuweisen war.
4. Herr Jung demonstrirt ein makroskopisches Präparat und
mikroskopische Schnitte von Kraurosis vulvae. An dem vorliegenden Falle
findet sich eine Complication mit Cancroid. Alle mikroskopischen Prä
parate zeigen das Stadium der Atrophie; man sieht darin Sklerosirung
des Coriums, Verstreichen der Papillen, Verschmälerung der Horn- und
Epitheldecke, sowie völligen Schwund der elastischen Fasern. Aetiologie
dieses Falles wie der Kraurosis überhaupt dunkel. Therapie so weit
vorgeschrittener Fälle kann nur in völliger Exstirpation der gesammten
erkrankten Hautpartie bestehen.
5. Herr Le ick berichtet über einen auf der inneren Klinik
zur Beobachtung gekommenen Fall von primärer Diphtherie der Vulva,
verursacht durch Löffler’sche Diphtheriebacillen.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
in München.
Vom 17. bis 22. September 1899.
(Fortsetzung.)
Section für Dermatologie und Syphilis.
Sitzung -.’den 19. September.
Vorsitzender: Rille (Wien).
III. Matzen au er (Wien): Ueber Impetigo conta*
giosa circinata. (Fortsetzung.)
Besonderes Interesse bot ein Fall von Mutter und Kind, wovon
ich naturgetreue Gemälde Ihnen zu demonstriren mich beehre.
Bei einer 36jährigen Bäuerin bestand die Affection angeblich
seit über einem Monat, ohne ihr irgendwelche Beschwerden zu verur¬
sachen. Auf der gesammten Hautoberfläche finden sich theils zerstreut
isolirte, verschieden grosse Blasen, theils zu landkartenartigen Zeich¬
nungen confluirte, ring- und bogenförmig angeordnete bandförmige
Krustenauflagerungen von strohgelber Farbe, die an ihrer convexen
Seite entweder von einer ununterbrochenen Kette confluirender hanf-
korn-, linsen- bis kleinhaselnussgrosser Blasen, theils von einem in
grösserer Ausdehnung zusammenhängenden Blasenwall umsäumt sind.
Häufig sind die randständigen Blasen geplatzt, so dass denselben ent¬
sprechende, mosaikartig aneinander gereihte nässende Felder den Rand
bilden. Thaler- und flachhandgrosse, guirlandenförmig sich begrenzende
Plaques in der Leistenbeuge und in der Axillarregion und von letzterer
auf die Beugeseite der Oberarme übergreifend. Dazwischen eingestreut
meist etwa erbsengrosse Blasen ; aber auch an Gesicht und Händen
finden sich Vesicopusteln, wovon die kleinsten etwa grobstecknadel¬
kopfgrossen schon eine weisslicbe, sehr zarte Blasendecke zeigen. Wo
in der Mitte der Kreisfiguren die Krusten bereits abgefallen sind, ist
die Haut livid verfärbt, glatt. Zuweilen finden sich auch auf dieser
frisch emporgeschossene Bläschen.
Die Frau, welche im letzten Monat der Gravidität war, wurde
eines kräftigen Knaben entbunden. Bei demselben trat vier Tage nach
der Geburt ein Blasenausschlag auf, der anfangs allgemein für Pem¬
phigus neonatorum gehalten wurde, der aber im Verlauf der folgenden
Woche die gleichen cireinären Formen annahm, wie bei der Mutter.
Die Abbildung von dem Kinde wurde 15 Tage nach dessen Geburt
angefertigt.
Unna trennt bekanntlich die „ungemein viel häufigere Impetigo
vulgaris von der selteneren Impetigo circinata“. Er beschreibt auch
„eine bestimmte Art von Coccen, die sich durch ihre rein runde Form
von den Coccen der Impetigo vulgaris unterscheiden.“
Die geringen Form- und Grössenunterschiede dieser Coccen, sowie
die kleinen histologischen Verschiedenheiten, welche Unna in Anbe¬
tracht der Seltenheit der Impetigo circinata nur in wenig Fällen ge¬
funden zu haben glaubt, können wohl gegenüber dem erdrückenden
klinischen Beweismaterial nicht ausreichend sein, der cireinären Impe¬
tigo eine Sonderstellung einzuräumen. (Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag, den 16. Februar 1900, 7 Uhr Abends,
nnter dem Vorsitze des Herrn Regierungsrathes Prof. Mautimer
stattfindendeD
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Primarius Dr. Hansy : Demonstration.
2. Prof. Paltauf: Demonstration.
3. Dr. Robert Offer: Vorläufige Mittheilung.
4. Discussion über den Vortrag des Herrn Docenten Dr. Herzfeld
(Zur Discussion gemeldet die Herren Doctoren Tandler, Sternberg,
Knöpfelmacher, Pauli und Singer.)
5. Docent Dr. Max Herz: Die heilgymnastische Behandlung von
Erkrankungen des Centralnervensystems.
Vorträge haben angemeldet die Herren: Docent Dr. Kretz, Professor
A. Politzer, Prof. Benedikt, Prof. Weinlecliner, Dr. J. Thenen,
Dr. A. Pilcz, Hofrath Prof. Schnabel, Oberstabsarzt Docent Dr. Habart
und Dr A. Jolles.
Bergmeister. Paltauf.
Wiener medicinisches Doetoren-Collegium.
Programm
der am
Montag, den IS. Februar 1900, 7 Uhr Abends
im Sitzungssaale des Collegiums: I., Uotbenthurmstrasse 21 23
unter dem Vorsitze des Herrn Dr. P. Mittler
stattflndenden
Wissenschaftlichen Versammlung.
Dr. Ferdin. Kornfeld: Zur Pflege der Prostatakranker.
Voran t wörtlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verla«- von Wilhelm Brautnüller in Wien.
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Ernst Fuchs, Karl Güssen Dauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redaction: Vorlagsliandlung :
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XIII. Jahrgang*. Wien, 22. Februar 1900. Nr. 8.
I1THALT:
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel : 1. Aus der k. k. I. psychiatrischen Universitätsklinik
des Herrn Prof. v. Wagner in Wien. Ueber alimentäre Glyko-
surie. Von Dr. Emil Rai mann, Assistent der Klinik.
2. Aus der III. medicinisehen Klinik des Herrn Hofrathes
L. Schrötter R. v. Kr ist eil i. Eine seltene Form von Aneu¬
rysma der Aorta thoracica descendens. Von Dr. M a x i m i 1 i a n
Weinberger und Dr. Arthur Weis s, Aspiranten der
Klinik.
3. Aus der chirurgischen Abtheilung des Primarius Dr. Schopf im
k. k. Kaiserin Elisabeth-Spitale in Wien. Traumatisches Aneurysma
der Arteria braehialis und Durchtrennung des Nervus medianus.
Totalexstirpation des Aneurysmas. Nervennaht. Von Dr. Karl
Sinnreic h, Abtheilungsassistenten.
II. Referate: A. K o e 1 li k e r’s Handbuch der Gewebelehre des Menschen.
Von Victor v. Ebner. Ref. H. Rah 1.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Notizen.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressborichte.
Aus der k. k. I. psychiatrischen Universitätsklinik des
Herrn Prof. v. Wagner in Wien.
Ueber alimentäre Glykosurie.
Von Dr. Emil Raimailli, Assistent der Klinik.
I. M i 1 1 h e i 1 u.n g.
Von alimentärer Glykosurie sprechen wir bekanntlich,
wenn nach Einfuhr nicht allzu grosser Mengen Traubenzuckers
in den Organismus, ein Theil des Zuckers unverändert mit
dem Harne wieder ausgeschieden wird. Dieses Symptom führt
nicht, wie man vielleicht glauben könnte, auf eine locale
Störung, etwa der Nierenthätigkeit zurück, sondern gestattet
uns anzunehmen, dass die Assimilationsfähigkeit des Körpers
für Dextrose herabgesetzt ist. Der normale Organismus hat
nämlich nach übereinstimmenden Zeugnissen bis zu einem
ausserordentlich hohen Grade die Fähigkeit, eingeführten und
resorbirten Zucker sowohl, als auch den im Körper selbst gebildeten
anzugreifen, umzuwandeln, zu verbrennen, respective zu Fett
zu verdichten, so dass also Dextrose nur in minimalen Mengen
(0 08% — 0‘09%) im Blute kreist. Die Niere ist für gewöhnlich
nur im Stande, diese kleinen Quantitäten von Zucker, der
nicht umgewandelt wurde, annähernd zurückzuhalten, und wir
dürfen aus dem Auftreten von Glykosurie auf eine Hyper¬
glykämie zu Folge unvollständiger Verarbeitung des Zuckers
im Organismus schliessen.
Diese Erscheinung beschränkt sieh indessen nicht aut
die Dextrose allein ; die Assimilationsfähigkeit hat auch für
die sämmtlich anderen Kohlehydrate ihre Grenzen. Wie es
eine alimentäre Glykosurie gibt, so werden auch die chemischen
Verwandten des Traubenzuckers, wenn man sie in entsprechend
grosser Dosis dem Organismus einverleiht, zum Theile wieder
durch die Nieren eliminirt. Seit der Beobachtung eines hieher-
gehörigen Phänomens durch Sau vage im Jahre 1763 hat
sich eine grosse Anzahl von Forschern um die Lösung der
mannigfachen hier in Betracht kommenden f ragen bemüht,
und namentlich die letzten zehn Jahre haben eine wahre
Hochfluth von Arbeiten über die Störungen im Stoffwechsel
der Kohlehydrate gebracht. Man bat die verschiedensten natür¬
lichen, sowie künstlich dargestellten Zuckerarten aut ihr A er¬
halten im Organismus geprüft; man hat erfahren, dass alle
einfachen Zucker bei genügend grosser Einfuhr, im Harne als
solche wieder erscheinen, dass es demnach neben der alt¬
bekannten Glykosurie eine Lävulosurie (nach Darreichung von
Lävulose), eine Galaktosurie (nach Einfuhr von Galaktose),
dass es eine Pentosurie (Ausscheidung von Pentosen, das
sind Zuckerarten mit nur fünf Kohlenstoffatomen im Moleciil)
gibt. Man konnte endlich nachweisen, dass Disaccharide (zu¬
sammengesetzte Zuckerarten) wie der Rohrzucker, die Maltose,
der Milchzucker im Organismus zum grössten Theile gespalten
und nach Darreichung entsprechend grosser Dosen in ihren
Componenten ausgeschieden werden, wenn man auch das A oi-
kommen einer Saccharosurie, einer Maltosurie, einer Lactosurio
behauptet hat. Polysaccharide, wie z. B. Stärke, bedürfen
keiner gesonderten Besprechung, da sie ja innerhalb des Körpers
in einfache Zuckerarten umgewandelt werden. Von allen diesen
Störungen in der Verarbeitung der Kohlehydrate ist wohl nur
die Glykosurie von hervorragend praktischer W ichtigkeit, da
Traubenzucker durch Umsetzung von gewöhnlichen Nahrungs¬
mitteln entsteht und schon im normalen Stoffwechsel eine Rolle
spielt; die Glykosurie ist auch wegen der nahen Beziehungen
zum Diabetes theoretisch am interessantesten, überdies am
genauesten studirt. Ohne mich darauf einzulassen, dass weit¬
gehende Analogien zwischen der heute zu erörternden Störung
und ihren Verwandten aufznffnden sind, will ich mich im
Folgenden nur auf die Glykosurie beschränken.
.Auch hier liegt indessen eine Vielheit von Formen voi,
die wohl nur graduell von einander unterschieden, am besten
in folgender Reihe zusammengestellt werden können.
176
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
Nr. 8
Wir wissen noch nicht zu lange, dass schon der normale
Mensch ausnahmslos in jeder Harnportion Traubenzucker aus¬
scheidet, wenn auch in minimaler Menge, dass es also eine
physiologische Glykosurie gibt. Diese Dextroseaus¬
scheidung kann immer noch im Rahmen des Physiologischen
zu Werthen gesteigert werden, die man nicht mehr vernach¬
lässigen darf, da sie bereits mit den empfindlicheren Zucker¬
proben nachweisbar sind. Nachdem diese physiologische Gly¬
kosurie lange geleugnet worden, kamen allmälig an Zahl
zunehmende Belege für dieselbe, und heute ist die Thatsache
ihres Bestehens durch vollkommen exacte Untersuchungen
sichergestellt. Näheres darüber später. Ganz langsam und
unmerklich findet nun ein Uebergang zum Pathologischen statt,
indem die Fähigkeit des Organismus, Dextrose zu assimiliren,
abnimmt. Während der normale Mensch nach ziemlich über¬
einstimmenden Beobachtungen 200 g und mehr mit der Nahrung
eingeführten Traubenzucker zu verarbeiten vermag, gelangt
unter Verhältnissen, die wir später noch kennen lernen werden,
oft schon nach Aufnahme wesentlich kleinerer Zuckermengen
ein Theil unverbrannt mit dem Harne zur Ausscheidung: das
ist die alimentäre Glykosurie. Denken wir uns die
Fähigkeit des Organismus, Zucker zu assimiliren, noch weiter
herabgesetzt, so dass selbst jener Zucker nicht mehr auf¬
gearbeitet werden kann, der bei reichlicher Stärkezufuhr von
aussen im Verdauungscanale entsteht, so haben wir die G 1 y k o-
s ur i e ex a m y 1 a c e i s, mit deren Studium man sich erst
in der allerletzten Zeit eingehend beschäftigt, nachdem sie
früher nur als diabetische StofFwechselstörung gekannt war.
Sie tritt aber auch unter anderen Verhältnissen auf und kann
überhaupt nur graduell von der alimentären Glykosurie e
saccharo unterschieden werden. In weiterer Verfolgung
der begonnenen Reihe kämen jetzt Fälle, wo schon die ge¬
wöhnliche Ernährung mit gemischter Kost genügt, um Zucker¬
ausscheidung durch die Nieren hervorzurufen: spontane
oder Glykosurie e nutrimentis. Dieselbe kann nur zeitweise
auftreten, flüchtig vorübergehen als transitorische Glyko¬
surie ; sie kann intermittirend, selbst dauernd sein.
Schliesslich vermag auch die völlige Entziehung der Kohle¬
hydrate nicht mehr die Zuckerausscheidung hintanzuhalten:
das ist die Glykosurie bei den schweren Formen des
Diabetes. Ohne mich auf die strittige Frage hier ein¬
zulassen, in welch’ nahen oder ferneren Beziehungen die
Glykosurie zum Diabetes steht — die Glykosurie ist wohl
nur ein Symptom des Diabetes — glaube ich wiederholen zu
müssen, dass in den eben aufgezählten Formen von Störung
der Zuckerökonomie des Körpers eine continuirlich geschlossene
Reihe vorliegt. Wir finden das Ende dieser Reihe nur beim
Diabetes; es vermag auch Niemand anzugeben, wo die Grenze
zwischen diabetischer und nicht-diabetischer Glykosurie liegt;
bezüglich der Auffassung des Diabetes als eines klinischen
Begriffes, einer Stoffwechselerkrankung mit bestimmtem Ver¬
lauf soll jedoch durch unsere Heranziehung der diabetischen
Glykosurie nichts präjudicirt werden. Ich musste auf diesen
Punkt eingehen, da viele Arbeiten, welche sich mit den
Störungen des Kohlehydratstoffwechsels bei Krankheiten be¬
schäftigen, manchmal nur eine einzige, bald aber mehrere
dieser Formen von Glykosurie durcheinander berücksichtigen,
ohne sich immer gerade bestimmt über die gegenseitige
Stellung der verschiedenen Glykosurien zu äussern. Da es
darauf ankommt, ein möglichst grosses Erfahrungsmaterial zu
sammeln, bevor man allgemeine Schlüsse ziehen darf über die
Beziehungen, welche zwischen Glykosurie und der Disposition
dazu einerseits, gewissen Krankheiten und Krankheits¬
dispositionen andererseits bestehen, so ist es unumgänglich
nothwendig, über das Verhältniss der alimentären zu den übrigen
Formen von Glykosurie ins Reine zu kommen, um für die
Statistik jede Art von Zuckerausscheidung heranziehen zu
können, nicht nur die ausschliesslich dem Experimente zu¬
gängliche alimentäre Glykosurie, die aus äusseren Gründen
immer nur an einer relativ beschränkten Anzahl von Fällen
studirt werden wird.
Eine freilich ganz eigene Form, als »nervöse Glykosurie«
(Kraus und H. Lud w i g *) bezeichnet, würde sich dem
obigen Rahmen nicht recht einfügen. Es soll sich hier um
Patienten handeln, die spontan Zucker in deutlich nachweis¬
barer Menge ausscheiden, ohne dass die Ausscheidungsgrösse
durch Zufuhr von Dextrose per os gesteigert werden könnte.
Ich finde in der citirten Arbeit eine kurze Mittheilung über
drei Fälle, die zeitweise, durchaus nicht immer, mit empfind¬
lichen Reactionen (N y 1 a n d e r’sche, Phenylglykosazonprobe)
Zucker im Harn erkennen Hessen, wo aber nach Einfuhr von
100 g Dextrose keine Steigerung dieser Zuckerausscheidung auf¬
trat. Da der Organismus dieser drei Patienten den eingenommenen
Kohlehydraten gegenüber sich verhielt, wie ein gesunder, so
müsste man diese nervöse Glykosurie unter die physiologische
einreihen und annehmen, dass es Individuen gibt, deren phy¬
siologische Zuckerausscheidung trotz normaler Assimilations¬
fähigkeit sich zu etwas höheren Werthen erhebt, vielleicht in
Folge grösserer Durchlässigkeit der Nieren für den Blut¬
zucker. Da keine quantitativen Bestimmungen vorzuliegen
scheinen, ist übrigens diese Annahme nicht einmal nöthig. Ich
erlaube mir, auf die an späterer Stelle erfolgenden Aus¬
führungen über physiologische Glykosurie zu verweisen.
Indem wir also die verschiedenen Glykosurien nur gra¬
duell unterschieden, als den Ausdruck eines und desselben
Processes auffassen, wollen wir nun ein Glied aus der Kette
berausheben und an die nähere Untersuchung der einen spe-
ciellen Form, der alimentären Glykosurie gehen, wobei sich,
der Natur der Sache nach, Berührungen mit den verwandten
Störungen nicht vermeiden lassen werden. Es sei mir gestattet,
zunächst die Lehre von der alimentären Glykosurie aus einem
theoretisch-kritischen Standpunkte zu betrachten, und zwar
deshalb, weil die Grundlagen, auf denen diese Lehre ruht, im
Laufe der letzten Jahre eine Verschiebung erfahren haben,
ohne dass meines Wissens bisher die Consequenzen gezogen
worden wären. Wir glauben, dass es auch möglich sein wird,
der alimentären Glykosurie einen Gesichtspunkt abzugewinnen,
der in allen vorliegenden Arbeiten entweder gänzlich unbe¬
rücksichtigt bleibt, oder doch nur nebenher Erwähnung findet:
ein Gesichtspunkt, der vielleicht zu einer gedeihlicheren Vei;-
werthung der bisher nicht sonderlich befriedigenden Resultate
führen mag, und den wir darum als Grundlage für weitere
Forschungen der allgemeinen Berücksichtigung empfehlen
möchten.
Die für unser Thema grundlegenden Arbeiten von
W o r m -M ü 1 1 e r 2) und Hofmeister3) erschienen zu einer
Zeit, wo über das Vorkommen von Kohlehydraten im Harn
controverse Vorstellungen herrschten, da man unsere heutigen
exacten Methoden zum Nachweise dieser Körper noch nicht
kannte. Damals hat Hofmeister ein Gesetz aufgestellt, das
ziemlich allgemein Anerkennung fand; er führte einen Begriff
ein, den wir vorhin eigentlich schon antecipirt haben und mit
dem wir uns nun eingehend beschäftigen wollen. Hofmeister
behauptete nämlich auf Grund seiner Experimente, dass die
Grösse, bis zu welcher die Zufuhr von Zucker gesteigert
werden müsse, damit Uebertritt desselben in den Harn erfolge,
für ein Individuum und eine Zuckerart immer annähernd
dieselbe sei. Diese Grösse nannte er die Assimilationsgrenze.
Geben wir also einem beliebigen kranken oder gesunden
Menschen in entsprechenden Intervallen langsam steigende
Dosen irgend einer Zuckerart, so sollte der Harn dieses Indi¬
viduums völlig zuckerfrei bleiben, bis die Assimilationsgrenze
erreicht ist. Lassen wir noch grössere Zuckerdosen nehmen,
so werden steigende Mengen dieses Zuckers unverbrannt aus¬
geschieden. Indessen stellt das jeweils der Verarbeitung ent¬
gehende Zuckerquantum immer nur einen kleinen Bruchtheil
der über die Assimilationsgrenze hinaus eingeführten Menge dar.
Ich will nicht verschweigen, dass zwei französische Au¬
toren (Linossier et Rocque4) dem eben entwickelten Be¬
griffe der Assimilationsgrenze seine Bedeutung absprechen und
behaupten, dass von der eingeführten Zuckermenge, mag sie
klein oder gross sein, stets ein bestimmter Bruchtheil derselben
Zuckerart bei demselben Individuum zur Ausscheidung ge¬
langt. Sie stellen demzufolge einen anderen Begriff, den des
Ausnützungs-Coefficienten (coefficient d’utilisation) auf. Auch in
den sonstigen Schlussfolgerungen besteht ein anscheinend un-
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
177
versöhnlicher Gegensatz zwischen Linos si er und Rocque
einerseits, den deutschen Autoren andererseits. Wir werden
im Folgenden Thatsachen kennen lernen, die diesen Gegensatz
etwas zu vermindern geeignet erscheinen. Nichtsdestoweniger
ist nach allen vorliegenden fremden, sowie einer Anzahl eigener
Erfahrungen mit dem Linossier-Rocqu e’schen Coeffici-
enten in der Klinik wenig anzufangen, während die Assimi¬
lationsgrenze Hofmeister’s von hervorragend praktischer
Bedeutung sein kann, wie ich das später darlegen werde. Wir
wollen darum auch das H o f m e i s t e r’sche Gesetz, das sonst
von allen Autoren anerkannt wird, unseren weiteren Betrach¬
tungen zu Grunde legen und uns bemühen, die Definition der
Assimilationsgrenze den jetzt geänderten Verhältnissen anzu¬
passen. Wir müssen zugestehen, dass dieser Begriff einen ab¬
soluten Werth nur hätte unter zwei Voraussetzungen: Erstens,
wenn der normale Harn völlig zuckerfrei wäre, und zweitens,
wenn wir eine scharfe Reaction kennen würden, die schon die
kleinsten Spuren von Dextrose unzweifelhaft anzeigt. Und
schon die erste Grundbedingung ist, wie aus den neueren
Untersuchungen erhellt, nicht ganz zutreffend.
F. Moritz5) liefert als Erster den unanfechtbaren Be¬
weis für die Anwesenheit von Traubenzucker im normalen
Harn, indem dieser Autor aus Urinen, welche mit der empfind¬
lichen N y 1 a n d e Eschen Probe ein negatives Resultat gaben,
das der Dextrose entsprechende Phenylglykosazon darstellte
und identificirte. Noch überzeugender sind die Untersuchungen
von Baisch6), der durch Benzoylirung und nachherige Ver¬
seifung des Esters mit Natriumäthylat in jedem einzelnen
Harne das Vorhandensein von Traubenzucker mit allen seinen
Reactionen nachwies. Während man nun aber diesen Dextrose¬
gehalt des normalen Urins vernachlässigen wollte und noch
vielfach meint, dass die im normalen Harn vorkommenden
Spuren von Zucker so gering seien, dass sie keines der ge¬
bräuchlichen Reagentien auch nur entfernt anzeige, so darf
dieser Ueberzeugung nach den neuesten Erfahrungen schon
widersprochen werden. Es gibt unzweifelhaft normale Harne,
in denen die N y 1 a n d e r’sche, sehr viele, in denen die Phenyl-
glykosazonprobe positiv ausfällt.
Wirklich bedeutungslos wäre dieser Zuckergehalt des
normalen Harns für die Praxis, wie für unser specielles
Problem dann, wenn er wenigstens für das Individuum einen
völlig constanten Werth hätte. Es fände gewissermassen nur
eine kleine Verschiebung des Nullpunktes statt: Glykosurie
würde dann beginnen, wenn jene Constante eben überschritten
wird, und das Problem stünde sehr einfach. Leider ist auch
das nun nicht der Fall. In einer erst kürzlich erschienenen
Arbeit hat L. Breul7) mit Hilfe des neuen Verfahrens von
Laves quantitative Bestimmungen dieser physiologischen
Glykosurie angestellt und dabei gefunden, dass die Grösse der
24 ständigen Zuckerausscheidung zwischen 0'3 6g und 1*95 ^
schwanken kann ; dass der Höchstgehalt des Harns an Dex¬
trose einmal 0-203% betrug, der Mindestgehalt 0-02%. Die
Zuckerausscheidung stieg bei den Versuchen Breul’s nach
den Mahlzeiten, auch wenn dieselben keine Kohlehydrate ent¬
hielten, bis zu Werthen, die mit den weniger emfindlichen
Reactionen nachweisbar waren. Die grössten Dextrosemengen
erschienen, wenn nach längerer Carenz eine an Amylaceen
sehr reiche Mahlzeit eingenommen wurde. Das wäre somit
eine physiologische Glykosurie e nutrimentis, respective ex
amylaceis. Dass es sich bei den Versuchen dieses Autors um
keinen latenten Diabetes handeln konnte, erscheint insofern
bewiesen, als auch nach Einfuhr von 200 g Dextrose keine
Glykosurie auftrat, die über die engsten Grenzen hinaus¬
gegangen wäre. Weiters haben die Untersuchungen von
Breul das bemerkenswerthe Resultat ergeben, dass die Ver¬
brennung des in so grosser Menge eingeführten Traubenzuckers
bis auf den kleinsten Rest (0'02% Zucker im ausgeschiedenen
Harn) dann stattfand, wenn Muskelarbeit geleistet wurde;
dass hingegen an einem Versuchstage, wo man Bettruhe ein¬
hielt, der Zuckergehalt des Harnes bis auf 0‘48% stieg.
Sollte dieses eine Experiment noch anderweitig bestätigt
werden — es sprechen ja schon manche Erfahrungen sehr für
die Richtigkeit — dann hätte das nicht nur eine Bedeutung
für alle unsere Versuche und Beobachtungen über alimentäre
Glykosurie, sondern eine noch viel grössere für die thera¬
peutische Praxis. Sicher bleibt, dass bei Gesunden die Ein¬
fuhr von Dextrose kaum eine Steigerung der kleinen, an der
Grenze der Nachweisbarkeit stehenden Harnzuckermenge im
Gefolge hat, so lange nicht ausserordentlich grosse Quantitäten
Traubenzucker zur Anwendung kommen. Immerhin muss sich
das Hof meiste r’sche Gesetz die Einschränkung gefallen
lassen, dass die alimentäre Glykosurie nicht von Null, sondern
von einer jeweils verschiedenen kleinen Grösse beginnt.
Als zweite Bedingung für die absolute Werthung des
Hofmeiste r’schen Gesetzes in der klinischen Forschung
haben wir oben das Vorhandensein empfindlicher Proben aut
Zucker verlangt. Mit solchen Reactionen sind wir nun ver¬
sehen. Im Hinblick auf die eben erwähnte physiologische
Glykosurie erscheint diese Forderung indess überflüssig; ja
man wäre versucht zu bedauern, dass einzelne der Proben
gar zu empfindlich sind, weil sie manchmal schon in normalen
Harnen positiv ausfallen und uns die Grenzbestimmung der
physiologischen Glykosurie gegen eine pathologische erschweren.
Wenn es auch hier eine wirkliche Grenze nicht gibt, wenn
die Glykosurie alle Werthe von 0'02% bis zu den höchsten
bei einem schweren Diabetes je beobachteten Zahlen (über
10%) durchlaufen kann, so ist es doch ein Gebot der Praxis,
hier eine Grenze zu ziehen. Wollen wir überhaupt eine
pathologische Glykosurie constatiren, wollen wir diese sogar
messen, so müssen wir uns nothwendig über den Nullpunkt
verständigen, von dem die Zählung oder Messung ausgehen
soll, weiterhin dann über die Masseinheit. Da unser Ausgangs¬
punkt mit dem wirklichen Nullpunkte nicht zusammentrifft,
jener also verlegt werden muss, so steht es uns frei, denselben
so weit zu verschieben als praktische Beweggründe es fordern.
Wir nehmen also die einfachste, in der Klinik gebräuchliche,
nicht zu empfindliche Reaction und sprechen dann von Gly¬
kosurie, wenn unsere Reaction unzweifelhaft positiv ausfällt.
Der Einwand, dass dies willkürlich angenommen und darum
unstatthaft sei, ist nicht stichhältig ; denn im Grunde ist jede
Art der Messung ausschliesslich Sache der Uebereinkunft, und
es gibt z. B. nichts Willkürlicheres, als die Art unserer Tem¬
peraturmessung, mit der sich weitgehende Analogien entwickeln
Hessen. Aus rein praktischen Beweggründen hat sich eine
Mehrzahl geeinigt, den Gefrierpunkt des Wassers zum Null¬
punkt zu machen ; völlig willkürlich ist aber die Statuirung
der Masseinheit, des Grades. Womöglich noch willkürlicher
wurde die Grösse unseres Meters festgelegt, auf dem doch das
ganze Mass- und Gewichtssystem ruht. Ist es schon eine freie
Annahme, gerade den zehnmillionten Theil des Meridian¬
quadranten der Pariser Sternwarte als Masseinheit zu wählen,
so ist es nun eine exact nachgewiesene Thatsache, dass unser
Meter dieser Grösse nicht einmal entspricht, ja, dass man ihn
gar nicht anders definiren kann, als die Länge eines in Paris
auf bewahrten »Normalmeters«. Es handelt sich immer und
überall nur darum, dass man sich über die Art der Messung
einigt, sowie über den Ausgangspunkt derselben, und hiezu ist es
nothwendig, dass die Art der Messung praktische Vortheile bietet.
Wenn wir nun vorschlagen, den Nullpunkt dort fest¬
zusetzen, wo die Zuckerausscheidung gross genug ist, um be¬
reits eine unzweifelhafte Reaction zu geben, so hat das erstens
den Vortheil, dass die Prüfung auf spontane Glykosurie eine
feste Basis erhält. Davon ganz abgesehen, dass hin und wieder
eine unserer Zuckerproben positiv ausfällt, ohne dass wirklich
Dextrose vorhanden ist, so wird ein Untersucher umso eher
Glykosurie finden, je empfindlicher die Zuckerprobe ist, mit
der er prüft; je eher er die Reaction als vorhanden ansieht.
In diesem Sinne könnte man beinahe den paradox klingenden
Ausspruch wagen : Je exacter im chemischen Sinne ein Autoi
gearbeitet hat, je feinere Zuckerproben er zur Anwendung
zog, umso ungenauer, unmassgeblicher werden die an Zahl
zunehmenden positiven Befunde, da ja auch normale^ Harne
oft einen nachweisbaren, daher diagnostisch werthlosen Zuckei-
gehalt zeigen können. Zweitens ist diese h estsetzung des
Nullpunktes nothwendig für die Prüfung aut alimentäie
Glykosurie. Es beginnt auch diese nothwendige Forderung
178
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 8
wenigstens praktisch sieh schon Anerkennung zu ver¬
schaffen. Wir finden bei vielen Autoren den Vermerk :
Positive Befunde wurden nur erhoben, wenn diese oder
jene Probe »deutlich« oder »unzweifelhaft« positiv ausfiel;
zu einer Einigung über die Probe oder über diesen gewissen
Moment ist man allerdings noch nicht vorgeschritten.
Je mehr man Zuckerreaetionen anstellt, die doch zumeist
Reductionsproben sind, umso ffiessendere Uebergänge findet
man von der ersten, kaum wahrnehmbaren, leisesten Verän¬
derung — und es gibt keinen Harn, der nicht wenigstens
spurweise reducircn würde — bis zur vollausgeprägten Reduc¬
tion. Während es unmöglich wäre, auch bei durchaus gleich-
mässigem, beinahe quantitativem Vorgehen eine bestimmte
Nuance herauszugreifen, ist die typische ganz ausgesprochene
Zuckerreaction sicher festzuhalten. Ich werde am Schlüsse
dieser Mittheilung bei Gelegenheit der Beschreibung unseres
Vorgehens diesen Moment genau darstellen. Die überein¬
stimmenden Mittheilungen der Literatur, sowie eigene Befunde
gestatten eine Festlegung dieses Nullpunktes; er ent¬
spricht ungefähr einem Zuckergehalte des Harns von 0'2°/0.
Das hat den weiteren wesentlichen Vortheil, dass von dieser
Grösse an die Dextrose sich bereits ganz unzweifelhaft durch
die Gährungsprobe, sowie polarimetrisch bestimmen lässt, dass
man von dieser Grösse an, mit einfachen in der Klinik an¬
wendbaren Methoden genau messen kann. Endlich übersteigt
die physiologische Glykosurie nach den bisher vorliegenden,
allerdings spärlichen quantitativen Analysen diesen Werth
niemals. Wir schaffen also der Prüfung auf Glykosurie über¬
haupt und speciell der H o f m e i s t e Eschen Assimilationsgrenze
die unumgänglich nothwendige Grundlage, indem wir eine
Glykosurie erst dann als vorhanden annehmen, wenn der
Zuckergehalt des Harns 0‘2°/o erreicht.
Nun kommt aber eine andere Schwierigkeit. Wir haben
bis nun immer nur die Assimilationsfähigkeit des Organismus
für Dextrose im Auge gehabt. Wenn wir aber auf alimentäre
Glykosurie prüfen und Traubenzucker per os einführen, so
muss dieser Zucker erst resorbirt w'erden, bevor er assimilirt
und ausgeschieden werden kann; es dürften daher auch die
Verhältnisse der Resorption im Verdauungscanale Einfluss auf
unser Resultat gewinnen. Es ist denkbar, wenn rasch grössere
Mengen von Dextrose in den Säftestrom gelangen, dass die
Glykogenlager quasi überschwemmt werden, und eher ein
IJebersclmss des Zuckers durch die Nieren zur Ausscheidung
kommt, als bei träger Resorption. Die Autoren behaupten
auch, dass es nicht einerlei ist für den Ausfall der Prüfung,
ob man den Traubenzucker auf leeren Magen oder nach einer
grösseren Mahlzeit, ob man ihn auf einmal oder in mehreren
Portionen, ob man ihn in concentrirter oder verdünnter
Lösung verabfolgt. Ja es wird wohl nöthig sein, manifeste
Verdauungsstörungen von diesen Versuchen auszuschliessen.
Indessen scheinen alle diese Umstände nicht von so grosser
Bedeutung zu sein, denn man hat bei rectaler Zuckerzufuhr
(per Klysma, H. Strauss8), ja sogar bei vollständiger Um¬
gehung des Verdauungstractes und seiner Adnexe durch sub-
cutane Injection von Zuckerlösungen (F. Voit‘J) gefunden,
dass grosse Zuckerquantitäten zur Verbrennung gelangten. Es
erscheint namentlich durch das letztere Verfahren ein weiterer
Beweis dafür geliefert, dass Zucker auch im grossen Kreis¬
läufe umgesetzt wird. Weiters wurde behauptet, dass nicht
kurze Zeit vorher ähnliche Versuche mit grossen Dosen statt¬
gefunden haben dürfen, da diese die Toleranz des Organismus
für Traubenzucker vorübergehend etwas herabsetzen. Hier
kann es sich wohl nur um eine Beeinflussung des Assimi¬
lationsvermögens handeln : man hat in der That eine Parallele
zwischen dieser Fähigkeit des Organismus und der Thätigkeit
des Herzmuskels gezogen. Beide werden nie voll ausgenützt,
es sei immer eine Art von Reservekraft vorhanden ; bei stei¬
gender Inanspruchnahme des Assimilationsvermögens durch
rasch wachsende Traubenzuckerdosen wird zwar immer mehr
des eingeführten Zuckers verarbeitet — und dies ist eine auch
durch unsere Zahlen neuerlich bestätigte Thatsache — dennoch
trete eine Art Ermüdung dieser Fähigkeit ein, die Assimi¬
lationsgrenze rücke tiefer, eine rasch folgende kleinere Trauben¬
zuckerdosis werde schon zu Glykosurie führen. Alle diese
Complicationen lassen sich aber eliminiren, und zwar einfach
dadurch, dass man seine Versuche unter völlig gleichen
äusseren Verhältnissen anstellt und auf alle die angeführten
Momente Rücksicht nimmt. Diese Erkenntniss hat sich denn
auch langsam Bahn gebrochen; es beginnt sich neuestens doch
eine gewisse Einheitlichkeit der Arbeitsmethode einzustellen,
indem man anfängt, nach den von früheren Autoren befolgten
und als praktisch erprobten Verfahren vorzugehen.
Leider sind die bisher erhaltenen Resultate der Prüfung
auf alimentäre Glykosurie noch immer nicht vergleichbar, und
trotzdem die Statistiken der Autoren rasch zunehmen,
nicht sonderlich befriedigend: ja es lassen sich Stimmen ver¬
nehmen, welche dieser Prüfung mit Rücksicht auf die vielen
controversen Befunde jeden praktischen Werth absprechen.
Dass das wohl übertrieben ist, werden wir noch sehen ; es
scheint uns übrigens gar nicht die Sache selbst zu treffen, sondern
nur die bisher allgemein angewendete schematische Prüfungs¬
methode mit ihren schwankenden Grundlagen. Mögen die ein¬
zelnen Untersucher auch unter gleichen Bedingungen gearbeitet,
von gleichartigen Präparaten (ebenfalls ein wichtiges Moment),
gleiche Dosen verabreicht haben, so ergeben sich schon Diffe¬
renzen daraus, von welchem Punkte an die Autoren Zucker
im Harn als vorhanden ansehen. Das war bis nun völlig sub-
jectiv. Das schwerstwiegende Moment aber, das meines Wissens
bisher noch nirgends berücksichtigt erscheint, das aber jede
kleine Differenz der Resultate ins Ungemessene steigern kann,
ist folgendes.
Die Assimilationsgrenze für Traubenzucker durchläuft
von den kleinsten Werthen — beim Diabetiker können wir
sie als negativ denken — alle Zahlen bis über 350 (eigene
Beobachtung) in ununterbrochener Reihe. Wenn wir nun ir¬
gend eine Grösse, z. B. 100. herausgreifen und alle Werthe,
die unterhalb dieser Zahl liegen, ohne nähere quantitative
Bestimmung als »positiv« (-[-) zusammenfassen; alles, was ober¬
halb ist, ebenso kurz als »negativ« ( — ) bezeichnen, so geben
wir nicht nur ein ungenaues, sondern auch ein falsches Bild
der thatsächlichen Verhältnisse. Wir schaffen einen Gegensatz,
wo doch nur ein gradueller Unterschied besteht. Gestatten Sie
mir, das Gesagte an zwei, vielleicht etwas schematischen Bei¬
spielen klarer zu machen. Nehmen wir den möglichen Fall,
dass bei einem Patienten die Zufuhr von 90// Traubenzucker
genügt, um Glykosurie zu bewirken, dass bei. einem
anderen 1 10 r/ zu dem gleichen Resultate erforderlich sind.
Diese zwei Patienten werden sich in ihrer Assimilations¬
fähigkeit für Kohlehydrate gewiss so nahe stehen, dass sie fast
innerhalb der Fehlergrenzen unserer Methoden fallen. Wie
aber jetzt von den meisten Autoren auf alimentäre Glykosurie
geprüft wird — Verabreichung von 100 g Dextrose — so
würden diese beiden Kranken, die exacteste Ausführung vor¬
ausgesetzt, in die zwei diametral entgegengesetzten Rubriken
und — fallen. Denken wir uns andererseits einen Patienten,
der nur 20// Traubenzucker zu verarbeiten vermag, und einen
anderen, dessen Assimilations vermögen viermal so gross ist
(= 80 g Dextrose), so werden doch beide in derselben Rubrik
rangiren. Man darf nicht einwenden, dass in manchen Fällen
ja noch quantitative Zuckerbestimmungen gemacht worden
sind, und dass dann grössere Zuckermengen ausgewiesen er¬
scheinen, wenn bei der verabreichten Dosis Dextrose die
Assimilationsgrenze weit überschritten wurde. Denn erstens
gestattet die eventuelle Mehrausscheidung an Zucker gar
keinen Schluss auf die Differenz, die zwischen der verabreichten
Dosis und der im speciellen Falle vorhandenen Assimilations¬
grenze liegt; auch bei übergrosser Zuckerzufuhr scheint manch¬
mal der ausgeschiedene Bruchtheil nicht mehr zu steigen;
während wir jetzt Fälle gefunden haben, wo unmittelbar nach
Ueberschreitung der Assimilationsgrenze die Glykosurie gleich
mit einem relativ hohen Werthe einsetzte. Das scheint eine in¬
dividuelle Eigenthümlichkeit zu sein, über deren Bedeutung
erst die weitere Untersuchung Aufklärung bringen kann.
Einzig in einer Inaugural-Dissertation von Lievin10)
findet sich ein schüchterner Versuch, an einem und demselben
Individuum mehrere Versuche mit verschiedenen Dosen Trauben-
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
179
zucker vorzunehmen und dadurch die Assimilationsgrenze
zwischen zwei Werthen einzuschliessen. Thatsächlich aber hat
dieser Autor unter seinen 100 Experimenten nur bei drei
Personen eine Zahl, die man vielleicht dem von uns vorhin
präcisirten Begriffe der Assimilationsgrenze an die Seite setzen
könnte. Leider bemerkt L i e v i n gleich eingangs, dass seine
Versuche keinen Anspruch auf besondere Genauigkeit erheben;
er motivirt in keiner Weise, warum er eigentlich darauf aus¬
geht, die Assimilationsgrenze annähernd zu bestimmen; er
scheint sich gar keine Gedanken darüber zu machen, welche
Bedeutung und Verwerthung diese Grösse möglicherweise haben
hönnte und er stellt schliesslich die Statistik nach der bis¬
herigen Gepflogenheit zusammen, indem er bei bestimmten
Dosen nach und — Ausfall der Reaction eintheilt und
Procente berechnet. Neuestens erwähnt J. Strauss11), dass
er gelegentlich umfangreicher Untersuchungen über die Be¬
ziehungen der verschiedenen Glykosurien zu einander in einem
Theil der Fälle die Assimilationsgrenze für Traubenzucker zu
bestimmen versuchte. Mangels näherer Angaben kann ich
sein Vorgehen mit dem unserigen nicht vergleichen, von einer
Verwerthung seiner Zahlen in unserem Sinne ist in der gross
angelegten Arbeit übrigens nichts angedeutet.
Ich bitte um Verzeihung, wenn ich nochmals die Parallele
mit der Temperaturmessung heranziehe. Die Unterscheidung
in -j- und — , in »Wärme-« und »Kältegrade« ruft beim
naiven Bewusstsein immer Vorstellung eines Gegensatzes her¬
vor, wo doch nur ein quantitativer Unterschied besteht. In¬
sofern wir nun aber nach beiden Seiten hin messen und die
Temperatur in Gradeinheiten ausdrücken, so erhalten wir doch
Zahlen, die uns ein vollkommen richtiges Bild geben, die sich
rechnerisch beliebig verwerthen, auf jede andere Art der
Messung, z. B. vom absoluten Nullpunkt an (= — 273° C.)
umwandeln lassen. Wir hätten also auch bei der Prüfung aut
alimentäre Glykosurie statt des bisher üblichen summarischen
V orgehens, i n j e d e m einzelnen Falle die Assimila-
t ionsgrenze als Zahl zu bestimmen.
Aus diesem Grunde haben wir uns vorhin so eingehend
mit jenem Begriffe beschäftigt und versucht, ihm eine den
geänderten Verhältnissen entsprechende Basis zu geben. Wir
hätten also zu suchen, wie viel Dextrose unter sonst gleichen
äusseren Verhältnissen den einzelnen Individuen zugeführt
werden muss, damit der in den nächsten Stunden entleerte
Harn deutliche Zuckerprobe gebe, d. h. einen Zuckergehalt
von mindestens 0'2% habe. Auf das Technische des Vorganges
werde ich gelegentlich der Beschreibung unserer Versuchs¬
anordnung zu sprechen kommen. Wir erhalten so für jedes
Individuum eine seiner Individualität entsprechende Grösse, und
es ist weiters möglich, diese Zahlen auf eine höhere Einheit
zu beziehen, untereinander noch vergleichbarer zu machen,
mögen auch die Individuen so verschieden sein, wie Kinder,
Frauen oder Männer. Hier bietet sich von selbst die Einheit
des Körpergewichtes, auf die man ja auch viele andere
Coüfficienten bezogen hat. Nehmen wir also einerseits das in¬
dividuelle, Avie üblich in Kilogramm ausgedrückte Körper¬
gewicht, andererseits die Menge Traubenzucker in Gramm,
die dem Organismus zugeführt werden muss, damit im Harn
sicher nachweisbar Dextrose auftritt ; setzen wir letztere Zahl
als Zähler, erstere als Nenner eines Bruches, so erhalten wir
die Assimilationsfähigkeit auf 1 kg Körpergewicht bezogen.
Z. B.: Ein normaler, sagen wir 10 kg schwerer Mann würde
eben auf 200 g Traubenzucker mit Glykosurie reagiren, so hätten
wir als Einheit der Assimilationsgrenze für diesen Fall
200/70 = 2 '9. Es würde uns freistehen, den ursprünglichen
Bruch beizubehalten, wie Avir etwa aus praktischen Gründen
die Sehschärfe eines Menschen in Form eines Bruches aus¬
drücken. Denn es ist zu bedenken, dass dem Zähler des
Bruches eine ungleich grössere Bedeutung zukommt, als dem
Nenner, da z. B. ein reichlicher Fettpolster des Individuums
zwar das Körpergewicht, nicht aber das Assimilationsvermögen
für Kohlehydrate steigern dürfte.
Aus den bisher vorliegenden Daten ist schon zu ent¬
nehmen, dass die Assimilationsgrenze im Verlaufe einer Er¬
krankung; keine unveränderliche Grösse bleiben wird. Machen
wir nun wiederholte Bestimmungen in gewissen Zeitabschnitten,
zeichnen wir die Werthe in ein Coordinationsystem, indem
wir die Intervalle auf der Abscisse, die jeweiligen Assimilations¬
grenzen als Ordinaten auftragen, verbinden wir die gefundenen
Punkte durch eine Linie, so kann man in einer graphischen
Darstellung die Variationen dieser Function verfolgen. Dieselbe
Avird sich beim Gesunden wohl als eine gerade, horizontale
Linie darstellen, bei den intermittirenden Formen als Wellen¬
linie, vielleicht wird man Curven verschiedener Form dabei
erhalten. Es ist mir nicht bekannt, dass dergleichen je einmal
versucht worden wäre. —
Bevor wir nun daran giengen, die immerhin etwas müh¬
same Bestimmung der Assimilationsgrenze an dem Materiale
unserer Klinik im grossen Massstabe aufzunehmen, mussten
wir uns wohl die Fragen vorlegen: Bieten die mit der bisher
allein üblichen Methode erzielten Resultate Aussichten auf
eine erfolgreiche Anwendung unserer Formel in der Klinik?
Was hat man untersucht? Was hat man bis nun gefunden?
Welche Bedeutung dürfen wir einer Herabsetzung der Assi¬
milationsgrenze zusprechen ?
Gerade bei dem Studium der klinischen Befunde drängt
sich neuerlich die Erkenntniss auf, dass zwischen den einzelnen
Formen von Glykosurie keine Trennungslinien gezogen Averden
können, dass alle Uebergänge von der ganz flüchtigen ephemeren
Glykosurie nach Traubenzuckerzufuhr bestehen bis zu der
Glykosurie des schweren Diabetikers. Ich muss auch im
Folgenden in Anlehnung an viele Autoren die verschiedenen
Formen von Glykosurie durcheinander berücksichtigen. Natür¬
lich ist der Geltungswerth der vorliegenden Befunde dadurch
eingeschränkt, dass die Beobachter von einer jeweils ver¬
schiedenen Untersuchungsbasis ausgehen, wie ich das oben
schon näher ausgeführt habe.
Auf theoretischen Erwägungen fussend, suchte man nach
Glykosurie zunächst bei Leber- und Muskelerkrankungen; auf
Experimente gestützt, bei Affectionen des Pankreas. Man fand
eigentlich nur Beweise für einen Zusammenhang von Glyko¬
surie mit Störungen der Pankreasfunction. Ausserdem sah man
Zucker im Harne in einem wechselnden Procentsatze von
Gehirn- und Nervenleiden, bei Allgemeinstöruugen und einer
grossen Anzahl von Vergiftungen. — Schon lange bekannt ist
eine transitorische Glykosurie, also hochgradige Herabsetzung
der Assimilationsgrenze nach Apoplexia cerebri. Immerhin ist
die Zahl der in unseren Statistiken mit -f- bezeichneten Fälle
keine sehr grosse; es stehen ihnen in überwiegender Majorität
— Fälle gegenüber. Gelegentlich kann bei den verschiedensten
diffusen oder umschriebenen Hirnkrankheiten, bei Tumoren
des verschiedensten Sitzes, bei Syphilis des Centralnerven¬
systems spontane oder alimentäre Glykosurie auftreten, auch
bei reinen Spinalprocessen wurde sie gefunden; man sah sie
sehr selten bei Neuralgien des Nervus ischiadicus und trigeminus,
ja auch bei Erkrankungen des Vagus und Sympathicus. Ali¬
mentäre Glykosurie erschien bei einer Anzahl von Neurosen,
besonders solchen traumatischen Ursprunges in einem relativ
hohen Procentsatze (32'6%) gegenüber solchen nicht traumati¬
schen Ursprunges (14’4%> aus der gesammten bisherigen
Literatur zusammengefasst, Arndt1’-). Vielfach controvers
lauten die Angaben bei Geisteskrankheiten. Die einzelnen
Antoren polemisiren gegen einander und versuchen die oft
weit abliegenden Resultate zu erklären, wenn sie nicht aut
zufällige Momente recurriren. Bemerkenswerth erscheinen
Fälle von Laude nheimer 13) u. A., Psychosen mit Diabetes
beziehungsweise Glykosurie, avo beide Erscheinungsgruppen
parallel verlaufen, mit dem Verschwinden des Zuckers aus dem
Urin auch die Symptome der geistigen Erkrankung zum
ScliAvinden gebracht wurden. Siegmund u) hatte behauptet.
dass transitorische Glykosurie möglicher AVeise zu den ständigen
Symptomen der progressiven Paralyse gehöre, da er in 23 'G;>%
der Fälle Zucker im Harne fand. Arndt sah alimentäre
Glykosurie bei 10% seiner Paralytiker. In wechselnden Procent¬
zahlen geht es dann durch die ganze Psychiatrie. Strauss 1 1 )
sah bei Imbecillen auf dem Boden von Aufregungszuständen
eine zu anderen Zeiten nicht bestehende Disposition zu ali¬
mentärer Glykosurie auftreten; auffallend oft wird dieselbe
180
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Erscheinung bei den senilen Geistesstörungen und überein¬
stimmend von allen Autoren beim Alkoholrausch, sowie un¬
mittelbar nach Ablauf des Delirium alkoholicum angegeben;
übereinstimmend wird sie bei der Epilepsie vermisst. — Was
Allgemeinzustände betrifft, so fand man alimentäre Glykosurie
im Fieber, bei fieberhaften Infectionskrankheiten, in der
Gravidität [H. Ludwig15) auch spontane Glykosurie in 22%
der Fälle] und im Puerperium, bei Diabetes insipidus und
natürlich bei Diabetescandidaten; bei Morb. Basedow in einem
relativ hohen Procentsatze [G9'2%, C h v o s t e k 1C)]. Seither
ist freilich eine Anzahl negativer Fälle bekannt worden.
Interessant sind auch die Beziehungen der Glykosurie zur
Akromegalie, zur Fettsucht, zu rheumatisch-gichtischen Zu¬
ständen (»arthritisme« der Franzosen); der »Hungerdiabetes«
des Hundes, sowie die Glykosurie bei Asphyxie hat bisher
wohl wenig Analogien am Menschen gefunden. — Von Ver¬
giftungen kommt zunächst wohl in Betracht die Alkohol-
intoxication. Da die Glykosurie nur vorhanden ist, so lange
die Patienten unter der directen Einwirkung des Potatoriums
stehen, da sie sich nach länger dauernder Abstinenz verliert,
um durch grosse Dosen Alkohol wieder zum Vorschein ge¬
bracht werden zu können, so erscheint sie wohl als eine directe
Giftwirkung, wenn auch v. S t r ti m p e 1 1 l7) u. A. speciell beim
habituellen Biergenusse die chronische Ueberschwemmung des
Organismus durch gelöste Kohlehydrate mit der Herabsetzung
der Assimilationsgrenze in Causalzusammenhang bringen. Mehr
oder minder häufig fand man, gelegentlich beim Menschen,
öfters im Thierexperiment Glykosurie noch bei Vergiftungen
mit nachfolgenden Substanzen: Schwefelsäure, Salzsäure, Phos¬
phor und Phosphorsäure; Blei, Sublimat, Uransalze; Kohlen¬
oxyd; Chlorkohlenstoff; Blausäure, Cyankalium; Milchsäure;
Chloral, Chloralhydrat, Chloralamid, Chloroform, Aether, Arnyl-
nitrit; Nitrobenzol, Orthonitrophenylpropiolsäure, Anilinfarben;
Opium, Morphium, Strychnin, Curare, Methyldelphinin, Coffein,
Theobromin, Diuretin, Phlorhizin*); Thyreoidea.
Ueberblicken wir nun alle diese verschiedenen Ursachen,
die in einem gewissen Procentsatz der Fälle Herabsetzung der
Assimilationsgrenze für Traubenzucker erkennen Hessen, so
scheint es kaum möglich, ein einigendes Band zu finden. Dass
es gewisse Allgemeinzustände des Körpers, wie Marasmus,
schwere Anämie oder Kachexie (Carcinose), Arteriosklerose,
Tachycardie nicht sind, die solchen positiven Befunden der
Autoren zu Grunde liegen, ist von mehreren Seiten überein¬
stimmend bestätigt worden. Hingegen findet sich doch bei sehr
vielen der aufgeführten Formen von Glykosurie ein und die¬
selbe Art der Noxe, nämlich Giftwirkung, und zwar nicht nur
bei allen Intoxicationen. Auch bei Alkoholikern, bei den acuten
Infectionskrankheiten, bei Morbus Basedowii, sowie in der
Gravidität könnte man daran denken, dass endogene Gifte
das Assimilationsvermögen für Kohlehydrate schädigen. Immer
aber erübrigt noch eine grosse Anzahl organischer und functio-
neller Leiden, deren Zusammenhang mit Diabetes, beziehungs¬
weise Glykosurie dunkel bleibt. Ich glaube nicht, dass es
nothwendig ist, hier um jeden Preis einheitlich erklären zu
müssen; es ist sogar wahrscheinlich, dass die Störungen in der
Zuckerökonomie des Körpers eine mehrfache Aetiologie haben,
und dass die Beziehungen zu den Symptomenbildern, welche
sich mit Glykosurie combiniren, recht verschiedenartig sein
können. Nicht so selten führt ein ausgesprochener Diabetes
zu einem Nervenleiden oder auch einer psychischen Störung,
und zwar wiederum auf dem Wege einer Intoxication. Von
der Schwäche des Zuckerstoffwechsels, die sich in dem Auf¬
treten einer alimentären Glykosurie documentirt, kann man
das allerdings nicht behaupten. Zweitens mag aber umgekehrt
die Glykosurie nur Symptom oder Folgeerscheinung der
anderen Erkrankung sein. Um bei dem Specialgebiet der
Neuro-Psychosen zu bleiben, so wäre die Glykosurie bei
*) Her sogenannte Phlorhizin-Diabetes steht in Gegensatz zu allen
anderen I1 ormen von Glykosurie und bildet die einzige sichere Ausnahme von
unserer eingangs angegebenen Reihe, indem bei dieser Vergiftung der Zucker¬
gehalt des Blutes eher etwas herabgesetzt ist und abnorme Vorgänge in
den Nieren zu der abnormen Zuckerausscheiduug im Harne führen (v. Mering
und Minkowski).
Affecten, namentlich solchen depressiven Charakters, hier an¬
zuführen. Eine recht einleuchtende Hypothese stellt sie mit
den übrigen Theilerscheinungen des Affectes, die ja auch von
der Medulla oblongata ausgelöst werden, in eine Reihe ; wie
die Störung der Pulsfrequenz, der Athemthätigkeit, sei auch
die Glykosurie ein Herdsymptom der Angst; die psychische
Störung, respective der derselben zu Grunde liegende Process
bedinge die Glykosurie durch Mitbetheiligung des »Diabetes¬
centrums« in der Medulla oblongata. Endlich, und das ist
wohl der häufigste Fall, bestehen die Erscheinungsgruppen
nebeneinander, so dass sie vielleicht bei dem einen Casus rein
zufällig Zusammentreffen, sonst aber aus einer gemeinsamen
oder verwandten Grundlage — Disposition — herauswachsen.
Was soll man sich nun unter dieser Disposition denken?
Wie wir wissen, ist alimentäre Glykosurie bei Leberkrank¬
heiten geradezu eine Seltenheit, und die Plypothesen, welche
zwischen den weit abliegenden Gebieten, dem Diabetescentrum
in der Rautengrube und der Leber eine Brücke schlagen
wollten, ruhen auf recht schwachen Füssen. Es ist auch nicht
die Leber allein, die Glykogen — das für die Zuckerökonomie
des Körpers anscheinend so wichtige Kohlehydrat — enthält;
dasselbe findet sich noch reichlich in den Muskeln, den
weissen Blutkörperchen, ja in allen entwicklungsfähigen Zellen
und Geweben. Die experimentell und klinisch am besten be¬
gründete Glykosurie in Folge von Eliminirung der Pankreas-
function kann nach der jetzt herrschenden Auffassung auch
nur durch den Ausfall einer Fermentwirkung, also auf dem
Umwege einer allgemeinen Störung zu Stande kommen. — Die
alten Theorien des Diabetes sind gefallen. Weder ist die Bil¬
dung von Kohlehydrat im Körper vermehrt, noch ist es ein¬
fach eine Herabsetzung der Oxydationskraft des Blutes, die
das Auftreten von übernormalen Mengen Zuckers im Kreis¬
läufe und damit auch im Harne bewirkt. Aber ob wir jetzt
eine Unfähigkeit annehmen, aus dem Zucker Glykogen zu
bilden und dieses festzuhalten — eine Dyszooamylie — ; ob
wir auf eine Bindung des Dextrosemol ecüls recurriren, wo¬
durch der Zucker dem normalen Verbrennungsprocesse ent¬
zogen wird: sicherlich können wir die Störung jener Function,
das Zuckermolecül anzugreifen und umzuwandeln, nicht in
einem einzigen Organe localisirt denken, sondern wir sind
durch klinische Beobachtung und Experiment gezwungen,
diese Fähigkeit mehreren Organen und Geweben zuzuweisen.
Von welcher Seite immer wir auch die Glykosurie betrachten,
wir müssen sie als Ausdruck einer Allgemeinstörung auf¬
fassen. Die Disposition zu dieser Allgemeinstörung nun verhält sich
wie andere Dispositionen auch : sie kann sich vererben, latent
bleiben, plötzlich hervorbrechen, ohne dass scheinbar ein
äusserer Anlass dazutritt ; wir haben dann Grund zu glauben,
dass eine angeborene Schwäche in der Anlage aller jener
Zellcomplexe vorliegt, die der Zuckerverarbeitung dienen.
Diese vererbte Disposition tritt in Beziehungen zu weiteren
Krankheitsdispositionen : sie vereinigt sich gerne mit den einen,
sie schliesst andere beinahe aus, wie sich schon durch die bis¬
herigen Erfahrungen belegen lässt. Wir erinnern nur an die
nahen Beziehungen der diabetischen zur arthritischen oder gar
zur neuropathischen Disposition oder Anlage. Wir kennen
Stammbäume, wo in buntem Wechsel Diabetes und bestimmte
Psychosen alterniren oder sich gar combiniren. Dieselbe Störung
im Stoffwechsel der Kohlehydrate kann nun aber auch im
Laufe des Lebens erworben sein durch Noxen verschiedener
Art, grösstentheils chemische Gifte, für die wir oben einige
Beispiele gesehen haben. Sie ist dann wohl auch vorüber¬
gehend, d. h. sie macht wieder normalen Verhältnissen Platz,
mit dem Aufhören der schädigenden Ursache. Endlich mag
wohl die angeborene Schwäche und eine äussere Schädlichkeit,
die in gleichem Sinne wirkt, sich combiniren. In der That
Hesse sich das Wechselvolle, um nicht zu sagen Launische, so
mancher Befunde von Glykosurie dadurch erklären, dass eine
bestimmte exogene Schädlichkeit eben nur bei Disponirten zur
Glykosurie führt.
Was für Aufschlüsse über diese Disposition und ihre
Beziehungen zu analogen Störungen erwarten wir nun aber
auf dem von uns betretenen Wege ? Es sei mir gestattet,
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900
181
das vorliegende Problem von seiner allgemeinsten Seite anzu¬
packen.
Die nach aussen in Erscheinung tretenden functionellen
Störungen des Organismus, die wir Krankheiten nennen, haben
ihren letzten Grund in anatomischen und chemischen Ver¬
änderungen, die ja wohl immer parallel verlaufen. Sowie das
anatomische Bild eines kranken Gewebes oder Gewebe-
complexes, die feinsten Untersuchungsmethoden vorausgesetzt,
als verändert sich erweisen muss; so wird auch der Chemis¬
mus, der Stoffwechsel abnorm functionirender Organe bei
entsprechender Prüfung Störungen, Abweichungen von der
Norm erkennen lassen. Eine unübersteiglicke Schranke
dieser unserer Erkenntniss ist dadurch gegeben, dass wir
im Innern der lebenden Zellen ebensowenig anatomische
Untersuchungen, wie chemische Reactionen anstellen können,
und wenn man auch in der letzteren Zeit diesbezügliche
Versuche gemacht hat (Ueberleben von Organen, Injection von
Farblösungen in den lebenden Organismus), so sind wir doch
in der Regel auf todtes Material, respective auf die Stoff-
wechselendproducte angewiesen. — Sehen wir einmal von jenen
flüchtigen Störungen ab, die durch bestimmte, ja bekannte
äussere Schädlichkeiten provocirt, mit dem Aufhören dieser
rasch wiederum sich ausgleichen und im Leben des Indivi¬
duums mehr zufällige Ereignisse darstellen; beschäftigen wir
uns heute vielmehr mit den chronisch constitutioneilen Ano¬
malien, wie sie ja den zu einer frühen Zeit der Entwickluug
erworbenenen Dispositionen zu Grunde liegen; wie sie auch
das Eintreten jener, unmittelbar vorher erwähnten zufälligen
Complicationen bedingen, erleichtern oder erschweren. Neben
den anatomischen, ja oft viel offenkundiger als diese, bestehen
Abweichungen im Chemismus, und zwar hat die Erfahrung
gelehrt, dass dies weniger qualitative als vielmehr quantitative
Störungen sind, indem Körper, die auch normaler Weise im
Stoffwechsel der Zellen eine Rolle spielen, in abnormen Mengen
zur Ausscheidung kommen. Wir kennen leider erst eine kleine
Reihe solcher allgemeiner, vielfach angeborener Krankheits-
grundlagen oder Diathesen, deren genaueres Studium wohl
manchen Einblick in das Wesen von Symptomenbildern und
manches Verständniss für die wahren, die inneren Krankheits¬
ursachen erschlossen wird; die jetzt schon als Unterstützung
bei Diagnose und Prognose in der Klinik zu Rathe gezogen
werden. Um nur bei den chemischen Zeichen dieser abnormen
Zustände zu bleiben, so gibt es Fälle, wo Harnsäure in tiber-
grosser Menge auftritt, die sogenannte uratische Diathese;
andere, wo sich dauernd eine vermehrte Ausscheidung von
Oxalsäure zeigt, die nicht etwa aus der Nahrung stammt, wie
Abeies18) überzeugend nachwies. Es gibt solche Störungen
im Stoffwechsel der Phosphate, des Fettes, der Kohlehydrate.
Alle diese Körper treten auch im normalen Organismus auf, sie
werden frei bei normaler Lebensthätigkeit der Zellen; für das
Pathologische entscheiden nur die quantitativen Verhältnisse.
Die uns jetzt speciell interessirende Störung in der Verwerthung
der Kohlehydrate kann nun ganz latent bestehen; und ich
glaube, es ist besonders werthvoll, dass diese Erscheinung
nicht nur einer experimentellen Prüfung, sondern auch einer
genauen Messung zugänglich ist. Man hat gelegentlich einmal
von einer diabetischen Degeneration gesprochen; die Glykos-
urie nun ist ein Zeichen dieser Degeneration, und es lässt
sich die Parallele mit den Degenerationszeichen im anatomi¬
schen Sinne unschwer ausführen. Da überall in der organischen
Natur Form und Function in innigem Connex stehen, so zeigt
ein durch Anlage abnorm functionirender Organismus meist
schon äusserlich Störungen in seiner Formenbildung, ana¬
tomische Degenerationszeichen, deren Studium und genaue
Kenntniss gewiss von höchster Wichtigkeit ist, um mit ihrer
Hilfe von dem Sinnfälligen, Aeusseren Schlüsse ziehen zu können
auf die verborgenen Innenvorgänge. Ein solcher abnormer
Organismus zeigt aber auch Störungen im Chemismus. In der
alimentären Glykosurie haben wir direct ein solches Reagens
auf eine allgemeine Function: die dauernde, constitu-
tionelle Herabsetzung der Assimilationsgrenze
istalsein Degenerationszeichen im chemischen
Sinne aufzufassen; vielleicht kann eine abnorm hohe
Assimilationsgrenze, eine ungewöhnliche Energie in der Auf¬
arbeitung eingeführten Zuckers, also eine Abweichung nach
der anderen Richtung gleichfalls von pathognostischer Bedeu¬
tung werden. Darüber ist noch kaum etwas bekannt.
Die Vieldeutigkeit des Wortes »Degeneration« veranlasst
mich, zur Vermeidung von Missverständnissen noch ausdrücklich
zu erklären, dass die hier näher definirte specifische »dia¬
betische Degeneration« in keiner näheren Beziehung, viel¬
leicht sogar in einem Gegensatz steht zu jener erblich minder-
werthigen Anlage bei den Individuen, die wir kurzweg als
»Degenerirte« bezeichnen. Es wird sich überhaupt empfehlen,
den Gebrauch der Worte »Degeneration« und »Degenerations¬
zeichen« möglichst einzuschränken und dafür lieber die ganz
treffenden Ausdrücke »Veranlagung« und » Veranlaguugs-
zeichen« zu wählen. Man präjudicirt in keiner Weise, wenn
man von diabetischer Veranlagung spricht, und die dauernde,
constitutionelle Herabsetzung der Assimilationsgrenze für Kohle¬
hydrate als Veranlagungszeichen im chemischen Sinne aufstellt.
Da man nun durch einfache Versuche jeden Menschen
auf das Vorhandensein von alimentärer Glykosurie prüfen
kann, nachdem diese Bestimmung exact und,
worauf wir jetzt ein Hauptgewicht legen müssen, quantitativ,
in Zahlen ausdrück bar ist, so wird es möglich sein,
an einem grossen Materiale die Gesetzmässigkeiten dieser speci-
flschen Veranlagung festzustellen, über ihre Beziehungen zu
anderen, auch anatomisch messbaren Krankheitsanlagen durch
grosse Zahlenreihen, auf statistischem Wege ins Reine zu
kommen. Wo man, wie bisher, nur von -j- und — sprechen
kann, wo obendrein die Zuweisung in das eine oder andere
Fach von dem subjectiven Ermessen des Untersuchenden ab¬
hängt, da ist dem Zufall und der Willkür ein weiter Spiel¬
raum gelassen, der Werth des Symptoms aber auch fast nur ein
subjectiver und problematischer. —
Von den eben entwickelten Gesichtspunkten ausgehend,
haben wir nun mit unseren Versuchen begonnen. Es leitete
uns dabei einerseits der Wunsch, die vorhandenen Beobachtungs¬
reihen zu vergrössern ; es wird auch in den neuesten Arbeiten
noch von den Autoren zugestanden, dass die Statistiken zu
klein sind, um bindende Schlüsse ziehen, die hier so störenden
individuellen Schwankungen und Zufälligkeiten eliminiren zu
können. Hauptsächlich jedoch wollten wir die Widersprüche,
die sich zu Folge der bisher allgemein eingehaltenen Arbeits¬
methode ergeben haben, überbrücken und wir erwarten, dass
der von uns hervorgehobene, einheitlich in Zahlen grossen fest¬
gelegte Begriff der Assimilationsgrenze viel eher zu positiven
Resultaten führen wird, weil er sich den thatsächlich bestehenden
Verhältnissen vollkommen anpasst. Da wir über das Stadium
der Vorarbeiten bereits hinaus sind, ja schon einige 60 Ver¬
suche durchgeführt haben, so möchte ich mir erlauben, die
nunmehr feststehende, von uns befolgte Versuchsanordnung
im Einzelnen zu schildern.
Wir wollen also die Menge Traubenzucker bestimmen,
die eingeführt werden muss, um bei dem betreffenden In¬
dividuum eine Zuckerauscheidung (= oder > O'20/o) zu be¬
wirken. Da völlig gleiche äussere Bedingungen eingehalten
werden müssen, andererseits auf das Krankenmaterial einer
psychiatrischen Klinik Rücksicht zu nehmen ist, so haben wir
ein möglichst einfaches Regime gewählt, das weder an die
Kranken noch an das Wartepersonal besondere Anforderungen
stellt, das sich ohne Störung der Tageseintheilung einfügt.
Mit Benützung aller vorliegenden Erfahrungen und mög¬
lichster Anlehnung an die von den Autoren eingehaltene
Versuchsanordnung gehen wir folgendermassen vor: Der
Patient bleibt zu Bette. Man schränkt dadurch die Muskel-
thätigkeit gleichmässig auf das Aeusserste ein; es lässt sich
auch die Urinentleerung des Kranken leichter überwachen.
Ist ein Patient so aufgeregt, dass er im Bette nicht ge¬
halten werden kann, so wäre ohnehin mangels jeder Controle
das Experiment nicht durchzuführen. Hochgradige manische
Erregung bietet ein absolutes Hinderniss für diese wie iür
jede andere Untersuchung; das liegt in der Natur der Sache.
Um 7 Uhr Früh erhält der Patient sein gewöhnliches Früh¬
stück, wie alle Tage; um 9 Uhr wird er aufgefordert, die
182
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 8
Blase zu entleeren und erhält die genau abgewogene Quantität
Traubenzucker*) in einer bestimmten Menge Milch (es ge¬
nügen 100 cm3 Milch = l/io l für je 25 g Dextrose), mit
einem Geschmackscorrigens versetzt (mir hat sich bis nun
starker schwarzer Kaffee ganz gut bewährt, so dass die
Mischung von den Patienten gerne entgegengenommen wird).
All dies geschieht unter meiner persönlichen Controle.
Wir legen grosses Gewicht auf den Umstand, dass der
Untersucher selbst den Traubenzucker wiegt und löst, dass
man sich persönlich davon überzeugt, ob die Lösung bis auf
den letzten liest von dem Patienten getrunken und behalten
wird. Man kann nur so die Beruhigung haben, dass cs keine
unglücklichen äusseren Zufälle gibt, die sonst gerade unter
den Verhältnissen einer Klinik für Geisteskranke trotz Intelli¬
genz und guten Willens des Personals kaum ganz zu ver¬
meiden sein dürften. Während der Patient nun zu Bette liegt,
wird der Harn der nächsten vier Stunden unter fortdauernder
Controle gesammelt, und dieses Harnquantum, sowie der Morgen¬
harn auf Zucker untersucht. Ich stelle zunächst die Fehling-
sche Probe an**), dann die Böttger-Alme n’sche, allgemein
als N y 1 a n d e r’sche ***) bezeichnet. Nur wenn diese beiden
Proben unzweifelhaft negativ ausgefallen sind, kann man die
polarimetrische Untersuchung unterlassen, da die Erfahrung
gezeigt hat, dass dann ohnehin kein Resultat zu erheben ist.
Zur persönlichen Sicherung kann man natürlich in jedem Falle
die Gährungs- und die Phenylglykosazonprobe anstellen ; in¬
dessen hatten wir bei Verwendung von chemisch reinem
Traubenzucker bis nun nie einen Grund, an dem überein¬
stimmenden Ergebniss der ersterwähnten drei Proben zu
zweifeln. Bei Darreichung der stark dextrinhaltigen Handels¬
präparate scheinen allerdings wechselnde Mengen von Dextrin
in den Harn überzugehen. Da dasselbe nicht reducirt, so sind
die erstgenannten zwei Proben wenig gestört; da es aber
stark rechts dreht, so ist die polarimetrische Bestimmung des
Zuckers nur so durchzuführen, dass man die Rechtsdrehung
des Harns vor und nach seiner Vergährung mit Hefe fest¬
stellt und nur die Differenz der beiden Werthe auf die ver-
gährbare Dextrose bezieht. Weiters sind in der Literatur
Fälle verzeichnet, wo nach Traubenzuckerzufuhr reducirende
Substanzen im Harne erschienen, die aber doch nicht Dextrose
sein konnten, da dieselben entweder optisch als inactiv sich
erwiesen oder nach links drehten, da sie nicht gährungs-
iäliig waren. Dass es sich hiebei um Abköm mlio ge von Ei-
weiss oder Medicamenten gehandelt, konnte ausgeschlossen
werden ; vielleicht lagen Pentosen vor, die aus der ein¬
geführten Hexose, dem Traubenzucker, entstanden waren.
Wir haben bisher bei der Anwendung des chemisch reinen
Präparates dergleichen nie beobachtet und wollen nur noch¬
mals versichern, dass uns bis nun nie ein Zweifel darüber
kam, ob der Harnbefund bei der obigen Ausführung der
*) Wir nahmen anfangs ausschliesslich chemisch reinen Trauben¬
zucker (purissimum Merck), dessen Verwendung allerdings durch den hohen
Preis ( 1 /.•</ Mark 6.50, hierzulande 12 — 13 Kronen) etwas erschwert ist. In
letzter Zeit arbeiten wir theilweise mit dein gewöhnlichen billigen
Traubenzucker des Handels, der nach stattgef’undener quantitativer Analyse
zu den Vorversuchen, sowie in Mischung mit dem reinen Präparate bis nun
einige Male zur Verwendung kam, ohne dass wir vollkommen zufrieden
gewesen wären. Ich komme darauf noch zu sprechen.
**) Man mischt jeweils gleiche Volumina einer Kupfersulfatlösung (35,(7
CuS04 pro 1 l Wasser) und alkalischer Seignettsalzlösung (175y Seignett-
salz, 400 c m 3 Wasser, 600 cm" Natronlauge, specifisehes Gewicht 1*12). Diese
Mischung verdünne ich mit destillirtem Wasser so weit, dass die Farbe
eben noch rein blau ist. Man erhitzt dann eine kleine Menge in einer
Eprouvette zum Sieden, setzt eine halb so grosse Menge des zu prüfenden
Harns hinzu, erhitzt nochmals und erhält einige Augenblicke im Kochen.
Es muss ein rothgelber Niederschlag von C’u.,0 herausfallen, der sich rasch
zu Roden setzt. Entsteht ein Niederschlag erst nach dem Erkalten der Probe,
so ist die Reaction als negativ anzusehen. Dann enthält der Harn gewiss
weniger als 02° /„ an Zucker.
***) Das Reagens erhält man durch Auflösen von 4 g Seignettsalz in
100 Theilen 10" 0 Natronlauge und Digeriren mit 2 g Bismuth, subnitricum
aut dem Wasserbade. Diese Probe ist empfindlicher, als die vorige; es em¬
pfiehlt sich ein Volum Harn, A Volum des Reagens zu mischen und nun
durch einige Zeit zum Sieden zu erhitzen. Nur das Auftreten eines
massenhaften schwarzen Niederschlages ist für unsere Zwecke beweisend,
nicht aber eine Dunkelfärbung des spärlichen flockigen Phosphatsedimentes,
das jeder Harn beim Kochen absetzt.
F e h 1 i n g’schen und Almen’schen Probe positiv sei oder
nicht. Man muss sich daran halten, dass nur die vollaus¬
geprägte Reaction gilt. In vereinzelten Fällen, wo ausser¬
ordentliche Quantitäten von Harn secernirt werden (bis 2 1,
wie wir dies bei einem Patienten sahen), könnte man vielleicht
glauben, dass eine in diesem grossen Harnquantum eventuell
enthaltene Zuckermenge trotz des entsprechenden absoluten
Werthes zufolge der starken Verdünnung dem Nachweise
entgehe. Uns ist bisher ein solcher Fall noch nicht vorge¬
kommen. Wenn einmal in Folge Ueberschreitung der Assimi¬
lationsgrenze Hyperglykämie eingetreten ist, und Zucker durch
die Nieren hindurchfiltrirt, so ist es wahrscheinlich, dass der¬
selbe dann parallel mit dem Harn wasser zur Ausscheidung
kommt, also in absolut grösseren Mengen bei gesteigerter
Diurese. Wir haben, um diese Vermuthung zu stützen, in
solchen Fällen, wo das specitische Gewicht niedrig, oft unter
1 004 war, den diluirten Harn auf dem Wasser bade einge¬
dampft, bis zu einem specitischen Gewicht von 1*017 — P020,
und trotzdem bis nun immer eine ebenso negative Reaction
erhalten als mit dem nativen Harn, während andererseits ein
ganz blasser Urin von geringer Dichte schon intensive Zucker-
reaction gab.
Doch wir wollen ja die Assimilationsgrenze bestimmen.
Hiezu bedarf es wiederholter Versuche bei einem und dem¬
selben Individuum, was immerhin eine gewisse Erschwerung
der Sache bedeutet, indessen nicht so complicirt ist, als es sich
auf den ersten Blick vielleicht darstellt. Anfangs der Unter¬
suchungen, als wir noch über keine eigenen Zahlen verfügten,
und die Grundlage für die weiteren Arbeiten schaffen mussten,
wurde in jedem Falle mit 25 g Dextrose begonnen und in
zwei-, respective dreitägigen Intervallen, um jede denkbare
Verdauungsstörung, respective Beeinflussung der Assimilations¬
grenze zu vermeiden, um je 2b g gestiegen, bis die Reaction
eintrat. Jetzt, wo wir bereits einige Zahlen haben, lässt sich
dieUntersuchung wesentlich rascher erledigen, indem wir meistens
gleich mit 100, auch 150// beginnen. Sollte man schon
das erste Mal eine deutlich positive Reaction erhalten, so bleibt
es ja noch möglich, mit einer kleineren Dosis den Versuch zu
wiederholen und so die in diesem Falle bestehende Assimi¬
lationsgrenze zwischen einen grösseren und einen kleineren
Werth einzuschliessen. Bleibt mit der nächst kleineren Trauben¬
zuckerdosis die Reaction aus, so haben wir selbstverständlich
die erstangewendete Grösse als Resultat anzusetzen. Ich will
noch hinzufügen, dass bis nun die Erreichung der Assimi¬
lationsgrenze sich immer sehr scharf markirte, indem die voll¬
ausgeprägte Zuckerprobe oft einen auffallenden Gegensatz
bildete zu dem Ausbleiben der Reaction bei Darreichung der
nächst kleineren Zuckerdosis. — Da sich eine solche Untersuchung
immer über eine Reihe von Tagen erstreckt, so ist es gewiss,
dass diese Prüfung wohl nur bei Störungen von einiger Dauer
mit Aussicht auf Erfolg in Anwendung gebracht werden kann.
Die Nerven- und Geisteskrankheiten, bei denen ja auch am
ehesten Resultate zu erwarten sind, entsprechen nun dieser
Bedingung in der vollkommensten Weise; der Verlauf der
meisten Fälle ist ein so schleichender, dass man sogar wieder¬
holte Bestimmungen der Assimilationsgrenze machen kann, um
die eventuelle Aenderung dieser Grösse zu studiren. Natürlich
wird man bei später wiederholten Versuchen sehr schnell zum
Ziele kommen, da man von den zuletzt gefundenen Werthen
ausgehen kann.
Unsere Beobachtungsreihe ist vorläufig noch zu klein, um
daraus allgemeine Folgerungen ableiten zu dürfen. Die hier
vorliegenden Fragen sind ja nur zu lösen, wenn man seiner
Untersuchung die grösstmögliche Ausdehnung gibt. Da hier¬
über noch längere Zeit verstreichen dürfte, fühlte ich mich
gedrängt, schon heute unseren etwas abweichenden Standpunkt
darzulegen. Es erscheint uns dies umso nöthiger, als in der
letzten Zeit Arbeit auf Arbeit erscheint, die als weiterer Bei¬
trag zum Ausbau der Lehre von der alimentären Glykosurie
gedacht ist; wo neue Zahlen mitgetheilt werden, die allen
früheren angereiht werden sollen. Wir haben bereits die Ge¬
wissheit, dass das eben geschilderte Vorgehen zu allgemein
verwendbaren Resultaten führt ; es ist sicher, dass die von uns
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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aufgestellten Zahlen sich auf die jedes einzelnen Autors um¬
rechnen lassen, während das Umgekehrte natürlich unmöglich
ist. Ja man könnte sich sogar von dem H o f m e i s t e r’schen
Gesetze emancipiren und aus unseren Protokollen den L i-
n o s s i e r - R o c q u e’schen Coefficienten berechnen, wenn wir
nicht bereits wüssten, dass derselbe eine recht schwankende
Grösse darstellt.
Wir erlauben uns daher, den Begriff der »Assimilations¬
grenze« in einer präcisen Fassung der allgemeinen Berück¬
sichtigung zu empfehlen ; wir haben motivirt, warum wir mit
dem bisherigen schematischen Vorgehen gebrochen und eine
abweichende Versuchsanordnung vorgeschlagen haben, wir
werden uns seinerzeit erlauben, über die Resultate auf dem
Gebiete der Geisteskrankheiten in einer weiteren ausführlichen
Arbeit zu berichten.
Literatur.*)
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Glykosurie. Wiener klinische Wochenschrift. 1891, 46, 48, pag. 855 ff.
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Gehirnkrankheiten. Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde. 1897, Bd. X»
pag. 419. — Ueber alimentäre Glykosurie bei einigen Neuropsychosen.
Berliner klinische Wochenschrift. 1898, 49, pag. 1085.
13) Laudenheimei’, Diabetes und Geistesstörung. Berliner klini¬
sche Wochenschrift. 1898, 21 — 23, pag. 463 ff.
,4) S i e g m u n d, Beitrag zur Lehre von den Urinveränderungen hei
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Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie. 1895, Bd. LI, pag. 602.
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16) F. C h v o s t e k, Ueber alimentäre Glykosurie bei Morbus Base-
dowii. Wiener klinische Wochenschrift. 1892, 17, 18, 22, pag. 251 ff.
17) v. Strümpell, Zur Aetiologie der alimentären Glykosurie und
des Diabetes mellitus. Berliner klinische Wochenschrift. 1896, 46, pag. 101 7 fl’.
18) M. A h e 1 e s, Ueber alimentäre Oxalurie. Wiener klinische
Wochenschrift. 1892, 19, 20, pag. 277 ff.
*) Es hiesse den Rahmen dieser als erste vorläufige Mittheilung ge¬
dachten Arbeit weit überschreiten, wenn ich hier die gesammte über 100
Nummern betragende, behufs Studiums der Frage durch gearbeitete Literatur
aufzählen wollte. Ein alphabetisch geordnetes, möglichst vollständiges Lite-
raturverzeichniss wird der in Aussicht gestellten ausführlichen Publication
beigegeben, für heute beschränke ich mich auf jene Arbeiten, die im Texte
unumgänglich citirt werden mussten.
Aus der III. medicinischen Klinik des Herrn Hofrathes
L. v. Schrötter.
Eine seltene Form von Aneurysma der Aorta
thoracica descendens.
Von Dr. Maximilian AVeinberger und Dr. Arthur Weiss, Aspiranten
der Klinik.
Die Aneurysmen im Verlaufe der Aorta thoracica des¬
cendens gehören zu den seltener vorkommenden;*) sie sind
nach der Angabe der meisten Autoren in der Regel klein und
erreichen, wenigstens in der Mehrzahl der Fälle, bei weitem
nicht die Grösse von Aneurysmen der übrigen Aortenabschnitte.
Sie breiten sich am liebsten nach links aus und daher erfolgt
auch eine Perforation derselben meist in die linke Pleurahöhle
oder linke Lunge und demnächst in den Oesophagus.
Der zu beschreibende Fall von Aneurysma der Aorta
descendens weicht in allen diesen Beziehungen von dem ge¬
wöhnlichen Verhalten ab und erscheint deshalb der Mittheilung
würdig; ferner war es hier möglich, das bioskopische Resultat
der Röntgenographie mit dem nekroskopischen Resultate der
Obduction bei einem sehr selten gelagerten Aneurysma zu
vergleichen. Belege von Röntgenogrammen durch Obductionen,
die gerade für den wissenschaftlichen Ausbau der röntgeno¬
graphischen Diagnostik von Wichtigkeit sind, sind im Allge¬
meinen noch selten, ganz besonders bei Aneurysmen.
Am 20. December 1899 suchte der 54jährige, verheiratete F. S.,
Kesselschmied, das Ambulatorium der III. medicinischen Klinik mit
der Angabe auf, dass er vor vier Monaten bei der Arbeit Stechen
in der rechten Brustseite verspürt habe, seither bettlägerig gewesen
sei und seit zwei Tagen Blut aushuste. Bei dem Patienten, welcher
auf die Klinik aufgenommen wurde, ergab die Erhebung der Ana¬
mnese Folgendes:
Anamnese v o m 20. Decembe r 1899. Bis zum 15. Lebens¬
jahre war Patient seiner Angabe nach stets gesund. In diesem Alter
erkrankte er an Schwellungen der Halsdrüsen, welche aufbrachen
und vernarbten. Im Alter von 18 Jahren erkrankte Patient an einer
Anschwellung des rechten Ellbogengelenks, welche zu einer Eite¬
rung und Beweglichkeitseinschränkung des Gelenkes führte.
Mit 20 Jahren litt Patient an einem fieberhaften Ausschlage, über
den er nur anzugeben weiss, dass derselbe mit einer weissen Salbe
behandelt wurde und nach wenigen Tagen schwand. Seither will
Patient bis zu seiner gegenwärtigen Erkrankung stets gesund ge¬
wesen sein. Er stand im Dienste einer hiesigen Bahn und konnte
seiner schweren Arbeit stets ohne Beschwerde nachgehen. Nur im
Jahre 1895 erlitt Patient eine schmerzhafte Zerrung im Kreuze, die
ihn durch drei Wochen an das Bett fesselte.
Am 24. August 1899 verspürte er, als er sich bemühte, eine
Nietschraube in einen Kessel einzudrehen, heftige Schmerzen in der
rechten Schultergegend, welche ihn zur Bettruhe nöthigten. Die¬
selben nahmen immer mehr zu, so dass Patient nur mehr für
kurze Zeit das Bett verlassen konnte. Er schildert sie als brennend
und stechend, später wurden sie »klopfend und tobend«.
Am 18. December 1899 verspürte Patient ohne Anlass plötzlich ein
»Rieseln« in der Tiefe des Thorax. Unmittelbar hierauf warf er
circa '/4 1 dunkelrothes, flüssiges nicht schaumiges Blut aus, welches,
wie Patient ang'ibt, ohne jeden Hustenreiz und
ohne Anstrengung, blos unter leichtem Räuspern
heraufgebracht wurde. 1 ’atient hatte bei diesem Vorgänge
ein Gefühl des Würgens im Schlunde.
Am nächsten Tage erfolgte wieder eine heftige Blutung
(gegen */4 1). Nunmehr wurde der Patient über Anrathen seines Arztes
ins Krankenhaus befördert. Potus und Lues in Abrede gestellt.
Status praesens vom 20. December 1899. Patient ist
von kräftigem Knochenbau, gut entwickelter Musculatur und ziem¬
lich reichlichem Unterhautzellgewebe. Hautcolorit blassbräunlich, Seir
sorium frei; von Seiten des Gehirns, der Hirnnerven und des son¬
stigen Nervensystems keine Störungen nachweisbar.
Gesicht gut gefärbt, nicht cyanotisch, Pupillen mittelweit,
beiderseits gleich weit, reagiren prompt auf Licht, Accommodation
und Convergenz, Rachen geröthet, Pharyngitis granulosa, Laryn-
*) Vergleiche hiezu L. v. Schrötter: Erkrankungen der Gefässe.
I. Theil. Wien, Holder. 1900.
184
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 8
gitis chronica, Trachea von normalem Caliber, etwas geröthet,
nirgends eine Stenosirung sichtbar, kein Stridor.
Ilals, kurz, dick, Ilalsvenen nicht ausgedehnt; an der rechten
Halsseite gestrickte Narben sichtbar, Lymphdrüsen nicht tastbar.
Thorax entsprechend lang, breit, tief, gut gewölbt, keine
Venenektasien an der Haut des Thorax sichtbar. An der Vorder¬
seite des letzteren sieht und fühlt man beiderseits eine leichte Er¬
schütterung in der Gegend des ersten Intercostalraumes.
Respiration 28, costoabdominal, symmetrisch, etwas an¬
gestrengt. Ueber den Fossae supracl a viculares normaler
Lungenschall. Im rechten ersten Intercostalraum eine
gedämpfte Z o n e, von rechts drei Querfinger jenseits des rechten
Sternalrandes bis über das Manubrium sterni hinweg nach
links, einen Querfinger vom linken Sternalrand, sonst vorne
beiderseits normale Schallverhältnisse. Rechter Lungenrand an der
oberen Grenze der sechsten, linker Lungenrand am oberen Rande
der vierten Rippe in der Mamillarlinie, beide Ränder respiratorisch
verschieblich.
DieAuscultation über der Vorderfläche des Thorax
ergibt Vesiculärathmen mit etwas verlängertem Exspirium und
spärlichen trockenen Rasselgeräuschen.
Bei Besichtigung des Rückens, an welchem eine ganz leichte
skoliotische Verkrümmung der Wirbelsäule in ihrem dorsalen Ab¬
schnitte nachweisbar ist, fällt vor Allem eine Vor wölbung der
rechten S c h u 1 1 e r b 1 a 1 1 g e g e n d auf, welche in einer Aus¬
dehnung von Handteller grosse das Niveau des Thorax um
gut Querfingerdicke überragt. Diese Vorwölbung reicht von der
Wirbelsäule bis zum medialen Rande der abducirten Scapula und
begrenzt sich nach oben etwa zwei Querfinger breit oberhalb der
Spina scapulae und nach unten etwa in der halben Schulterblatthöhe.
Die Vorwölbung zeigt bei der Inspection exquisite Hebung.
Die aufgelegte Hand hat deutlich die Empfindung einer dilata to¬
rischen Pulsation. Das Punctum maximum der letzteren ist
zwei Querfinger unterhalb der Spina scapulae gelegen. Die Per¬
cussion des Rückens ergibt: Ueber der rechten Lungenspitze (im
Vergleiche zur linken Seite) leerer Schall, von da ab, der beschrie¬
benen Vorwölbung entsprechend, bis drei Querfinger oberhalb des
Angulus scapulae absolut gedämpfter Schall, welcher sich medial mit
der Wirbelsäule und lateral etwa handbreit von letzterer gegen die
normal schallende übrige Thoraxpartie abgrenzt, sonst auf dieser
Seite normaler Lungenschall.
Links normaler Lungenschall mit Ausnahme einer schmalen,
zwei Querfinger breiten, neben der Wirbelsäule liegenden Zone, die
sich von der Spina scapulae handbreit nach abwärts erstreckt.
Auscultation: Ueber den normal schallenden Percussions¬
stellen vesiculäres Athmen mit verlängertem Exspirium und spärlichen
trockenen Rasselgeräuschen, über den Dämpfungszonen abgeschwäch¬
tes Athmen, besonders prägnant über dem pulsirenden Centrum an
der rechten hinteren Thoraxwand.
Herzstoss im fünften Intercostalraum, zwei Querfinger
innerhalb der linken Mamillarlinie gelegen, nicht sicht- und kaum
fühlbar. Die Herzdämpfung überschreitet nach rechts den linken
Sternalrand nicht. Ueber der Herzspitze und der Mitralis leise reine
Töne, über der Auscultationsstelle der Aorta, sowie über
der gedämpfen Zone im rechten ersten Intercostalraum und über
dem Manubrium sterni an Stelle des ersten Aortentones ein lang¬
gezogenes, blasendes, ziemlich weiches Geräusch,
der zweite Ton meist rein, zuweilen von einem kurzen Geräusch
eingeleitet. Zweiter Pulmonalton nicht accentuirt. Ueber der pulsiren¬
den Stelle an der rechten hinteren Thoraxseite ist ein
sehr lauter, klingender Ton hörbar.
Arterien: aae. radial, wenig gefüllt, massig gespannt,
Arterienrohr etwas rigid, leicht geschlängelt, Pulswelle rasch an¬
steigend, äqual, rhythmisch, Frequenz 76.
Die linke a. carotis auffallend weniger stark p u 1-
sirend als die rechte. An den übrigen Arterien keine qua¬
litativen oder zeitlichen Differenzen nachweisbar.
Abdomen etwas über dem Nineau des Thorax. Bauchorgane
normal.
Harn blassgelb, klar, enthält keine abnormen Bestandteile.
S p u t u m schleimig, mit gleichmässiger Beimengung von
ilüssigem Blute.
Fassen wir die wichtigsten Momente des vorstehenden
Befundes zusammen:
Es findet sich über und zunächst dem Manubrium sterni
Pulsation, ebenda eine Dämpfung, entsprechend der Lage der
Aorta, über ihr ein blasendes, systolisches Geräusch. Die rechte
Rückenwand ist in ihrer oberen Hälfte vorgevvölbt, die Vor¬
wölbung dehnt sich bei jeder Systole allseitig pulsatorisch aus,
derselben entspricht eine Dämpfung, in deren ganzer Ausdeh¬
nung ein lauter Ton hörbar ist: damit war die Diagnose Aneu¬
rysma der Aorta in sich geschlossen.
Es handelte sich nun darum, die Diagnose zu präcisiren
und näher auf den Sitz des Aneurysma einzugehen. In dieser
Hinsicht erschien der Befund sofort schwierig und wider¬
spruchsvoll. Zunächst konnte mit Rücksicht auf die circum-
scripte Vorwölbung in der rechten oberen Rückengegend und
die scharf begrenzte, sehr ausgedehnte diktatorische Pulsation
daselbst ein Sack angenommen werden, welcher in dem der
Dämpfung entsprechenden Bezirke der Thoraxwand anliegend,
dieselbe theilweise zum Schwunde gebracht, somit bereits eine
beträchtliche Grösse erreicht haben musste. Da auf der Vorder¬
wand des Thorax die Pulsation und Dämpfung nur angedeutet,
jedenfalls viel weniger ausgebildet waren, als auf der Rücken¬
wand; ferner auf der rechten Seite in grosser Ausdehnung zu
constatiren, links kaum angedeutet waren, so musste man sich
vorstellen, dass der grosse aneurysmatische Sack sich vorwiegend
rechts und rückwärts im Thoraxraum lagere.
Die radiographische Untersuchung, welche wir in solchen
Krankheitsfällen immer mit Vortheil anwenden, musste zur
Schonung des Patienten auf die Durchstrahlung beschränkt
werden, wobei auf die photographische Exposition verzichtet
wurde.
Dorso ventrales Schattenbild. Der mediane Schatten
ist über doppelt so breit, als normal; seine Grenzcontouren weichen
vom normalen Verhalten wesentlich ab und zwar geht der linke
von einem an der ersten Rippe gelegenen Winkel in einem beinahe
halbkreisförmig gekrümmten Bogen nach unten und abwärts bis an
die dritte Rippe. Er ist gegen die umgebende Lungenhelligkeit scharf
abgesetzt und pulsirt rhythmisch. Viel weniger scharf abgesetzt ist
die rechte Seitencontour, da die rechte obere Hälfte des Thoraxbildes
diffus beschattet ist.
Ventro dorsales Bild Fig. 1*). Der mediane Schatten ist auch
hier pathologisch um mehr als das Doppelte verbreitert. Beide Seiten-
contouren sind scharf gegen die umgebende Lungenhelligkeit abzu¬
grenzen. Während das die linke Contour begrenzende Lungenbild
normal hell ist, ist das an die rechte grenzende gleichmässig sehr
wenig dicht verdunkelt. Die rechte Seitencontour beginnt an der
zweiten Rippe und bildet einen bis zur fünften Rippe sich erstrecken¬
den halbellipsenförmigen Bogen, der an der vierten Rippe den
äussersten Punkt erreicht, wodurch hier die grösste Breite des rechten
Schattenantheiles gegeben ist. Die linke Contour ist halbkreisförmig
und gleich der am dorsoventralen Bilde. Beide Seitencontouren pul-
siren rhythmisch.
Es ist also auf beiden Bildern eine ziemlich hochgradige
Verbreiterung des mediastinalen Schattens nach rechts und
nach links zu finden, woraus auf ein pathologisch vergrössertes
Mediastinum geschlossen wrnrden kann. Der mediane Schatten
begrenzt sich mit einheitlich pulsirenden Bogencontouren, das
typische Schattenbild, das wir bei klinisch diagnosticirten (durch
Obduction bestätigten) Aneurysmen gesehen haben; wir finden
also die Diagnose Aneurysma bestätigt.
Aus dem Vergleiche zwischen dem dorsoventralen und
ventrodorsalen Bilde ist ferner für die Lagerung und das
nähere Verhalten des Aneurysma zu erschliessen, dass der
rechte Antheil des Schattens einem aneurysmatischen Sacke
entspricht, der sich einseitig nach rechts und rückwärts aus¬
dehnt, in der Höhe zwischen zweiter und fünfter Rippe ge¬
legen, zwischen vierter und fünfter Rippe seine grösste Dimen¬
sion hat; der iinke Antheil einem Aneurysmasack oder einer
*) Dieses wurde, als für die Diagnose vor Allem wichtig, auf trans¬
parentem Papier copirt. Schirmcopie anbei. (Vide pag. 185.)
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
185
Erweiterung, wahrscheinlich einer solchen entspricht, welche
links in der Körpermitte vorwiegend im ersten Intercostalraum,
aber auch abwärts davon gelegen ist.
In solcher Weise sind nun die Kenntnisse über den vor¬
liegenden Fall für das wissenschaftliche und praktische Inter¬
esse ergänzt; wenn man local therapeutisch vorgehen wollte,
so wissen wir: es handelt sich um einen circumscripten Sack
rechts rückwärts, in den man z. B. coagulirend wirkende
Körper einführen könnte.
Es erübrigt nur noch, eine anatomische Diagnose zu
machen: zu diagnosticiren, welchem Gefässabschnitte das Aneu¬
rysma an gehört.
Zu diesem Behufe muss man die pathologisch-anatomi¬
sche Erfahrung zu Hilfe ziehen, denn man kann auch mit dem
Röntgen-Verfahren nicht die Gefässe differenziren und keine
Contouren sondern.
Eine Gefässerweiterung im ersten Intercostalraum links
in der Körpermitte entspricht mit aller Wahrscheinlichkeit dem
Arcus aortae. Ein Aneurysmasack, mit der grössten Dimen¬
sion zwischen vierter und fünfter Rippe, nach rechts rückwärts
Fig. 1.
ausgedehnt, kann ein Aneurysm ade r Aortaascendens
sein, das sich rückwärts gelagert, oder ein Aneurysma der
Aorta descendens, welches sich hochgradig und blos
nach rechts erstreckt hat; beides seltene Localisationen, die
letztere besonders.
Demnach lautet die Diagnose: eine gleichmässige Er¬
weiterung des Arcus; Aneurysma aortae; die Ent¬
scheidung über die Ursprungsstelle desselben bleibt offen, wobei
eher an ein Aneurysma der Aorta ascendens zu
denken ist; ferner Verdichtung, wahrscheinlich Com¬
pression der rechten Lunge im Ober lap pen.
Die Angabe vorausgegangener und die noch bestehenden
Blutungen Hessen eine Perforation des Aneurysma
annehmen, und zwar konnte man in der rechten Lunge, be¬
ziehungsweise einem Bronchialast derselben die Perforations-
Öffnung vermuthen, da das Aneurysma sich nach der rechten
Lunge ausdehnte und in dieselbe vorbauchte. Da aber der
Patient angab, dass er das Blut mühelos unter Würgen herauf¬
befördert habe, von Seite des Respirationstractes nur geringe
Reizerscheinungen vorhanden waren, in der Trachea kein Blut
zu sehen war, konnte man auch an eine Perforation in den
Oesophagus denken. Eine Verwachsung des Sackes mit dem
Nachbarorgan mochte bei allmäliger Dehnung und Verdünnung
mit kleinen Substanzverlusten eingerissen sein, was zur Hä-
morrhagie führen konnte; die Vorlagerung einer Fibrinschichte
oder eines frischen Coagulums an der gesetzten Perforations¬
stelle konnte die Unterbrechung der Blutung bewirkt haben.
Decursus: In den ersten zwei Tagen seines Spitalsaufent-
haltes fühlte sich Patient vollkommen wohl.
Therapie: Plumb, acet., Morphium, flüssige Diät.
Am 22. December entleerte Patient unter leichtem Räu¬
spern in einem Gusse etwa einen halben Liter dunkel-
rothen flüssigen, nicht schaumigen Blutes. Morphium und Ergotin
subcutan.
Patient collabirte zusehends, das Gesicht wurde cyanotisch,
die Respiration stockte, der Puls setzte aus, Trachealrasseln. Nach
wenigen Secunden entleerte der Patient noch eine geringe Quantität
Blutes durch Mund und Nase, worauf plötzlich Puls und Respiration
wieder einsetzten. Neuerlich Morphium und Ergotin, subcutan Injection
von je 150 cm3 einer 3°/0igen Gelatine - Glycerinlösung in beide Ober¬
schenkel. Nahezu völlige Nahrungsentziehung ('/2 Flasche Milch
pro die) Plumbum acet. Morphium. Am N a c hm i 1 1 a g desselben
Tages warf Patient leicht blutig tingirten Schleim aus.
Die Nacht auf den 23. December verbrachte Patient ruhig,
Puls 78, kräftig, Respiration etwas angestrengt 28, kein Fieber. Am
23. December Mittags Injection von 150cm3 einer 3°/0igen Gelatine-
Glycerinlösung in den rechten Oberschenkel und darnach 0-02 Mor¬
phium subcutan.
Am 24. December Status idem. In der Nacht vom 24. auf
den 25. December entleerte Patient abermals beim Stuhlabsetzen
i/4 i flüssigen, etwas schaumigen dunkelrothen Blutes im Gusse
ohne Huste ns to ss per os. Trotz Injection grosser Dosen Mor¬
phium und Ergotin konnte die Blutung nicht zum Stillstände ge¬
bracht werden. Der Puls wurde immer schwächer, die Respiration
immer flacher und Patient hochgradig cyanotisch. Nach etwa 20 Mi¬
nuten Exitus letalis.
Die Art der vor unsern Augen stattgehabten Blutungen
bestärkte unseren Verdacht einer Perforation des Aneurysmas
in den Oesophagus, auf welche wir schon durch die Anamnese
hingewiesen worden waren.
Die Obduction (Obducent: Prof. W eichseibau m) ergab.
Befund: Die linke Lunge an einzelnen Stellen angewachsen,
allenthalben lufthaltig, die hinteren Partien sehr blutreich. Das Ilerz
ist mit dem Herzbeutel allenthalben durch leicht zerreissliches Lind' -
gewebe verwachsen. Entsprechend dem rechten Herzventrikel ist
das subendocardiale Fettgewebe stark entwickelt, bis '/2cm dick,
Höhle des linken Ventrikels etwas erweitert, die Musculatur leicht
hypertrophisch, morsch, hellbraun, die Klappen schlussfähig, die Aorta
186
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 8
ascendens, der Arcus und die Aorta descendens stark atheromatös
die Aorta ascendens glcichmässig, aber ziemlich bedeutend erweitert;
unterhalb des Bogens der Aorta ist letztere in einen mehr als manns¬
faustgrossen Sack umgewandelt, dessen grösserer Antheil in der
rechten Pleurahöhle liegt und mit dem Oberlappen der rechten Lunge
innig verwachsen ist; jener kleinere Antheil des Sackes, welcher
der vorderen Fläche der Brustwirbelkörper entspricht, ist frei von
Coagulis, jedoch zeigt die vordere Fläche der Brustwirbelkörper
seichtere und tiefere Usuren. Der in der rechten Pleurahöhle liegende
Antheil der Geschwulst ist dagegen nahezu vollständig von Blut-
coagulis erfüllt, und zwar sind die peripheren Partien der Coagula
grössentheils etwas derber und hellbraun, während die übrigen
weicher und schwarzroth oder rothbraun sind. An jenen Stellen, an
welchen der Sack mit der Lunge verwachsen ist, wird ein Theil der
Wandung des Sackes direct vom verdichteten Lungengewebe ge¬
bildet. Eine in einen mittelgrossen Bronchialast des rechten Ober-
lappens eingeführte Sonde gelangt in den Sack, und zwar in jenen
Theil, welcher von weichen, schwarzrothen Gerinnungen erfüllt ist.
An der hinteren Wand des Sackes liegt die vierte und
fünfte Rippe in einer Ausdehnung von 2-5 cm bloss, und überdies
ist das hinterste Ende der genannten Rippen nicht nur stark usurirt,
sondern stellenweise vollständig zerstört. Im Bereiche des dritten
und vierten Intercostalraumes zeigt der Sack je eine in die tiefe
Rückenmusculatur reichende Ausstülpung, deren Wand dünn, glatt
und mit der Musculatur innig verwachsen ist. Jener kleinere Theil
des Sackes, welcher der vorderen Fläche der Wirbelkörper entspricht,
grenzt sich von dem grösseren, in der rechten Pleurahöhle gelegenen
Antheil dadurch ziemlich scharf ab, dass letzterer bedeutend dünner
ist. Der rechte Bronchus enthält theils Blutcoagula, theils blutig ge¬
färbten Schleim. Im Mittollappen der rechten Lunge ist das Lungen¬
gewebe stellenweise von dunkelrothem Blute infiltrirt.
Diagnose: Sackförmiges Aneurysma der Aorta
descendens mit Usurder oberen Brustwirbelkörper
und der vierten und fünften Rippe. Verwachsung
des Aneurysmasackes mit dem rechten oberen
Lungenlappen und Durchbruch in einen Bronchial¬
ast des letzteren. Aspiration von Blut in den rechten
Mittellappen. Chronische Endarteriitis der Aorta
ascendens und descendens mit Ektasie der ersteren,
e x c e n t r i s che H y p e r t r o p h i e des li n k e n Herzventrikels
und fettige Degeneration des Myocards. Cor adipo-
s u m, Fettinfiltration der Leber.
Kurz resumirend: Es handelt sich um ein grosses, sackför¬
miges Aneurysma (vide pag. 185, Fig. 2 die Zeichnung des vom
Herrn Obducenten Prof. Weichselba u m gütigst überlassenen
Präparates) sous l'aspect de poche ä collet (C r u v e i 1 h i e r),
dessen deutlich ausgesprochener Hals knapp unterhalb des
Arcus in der Aorta descendens an deren medialer und hinterer
Wand zu finden ist, eine ovale, von einem leistenähnlichen,
mehr minder stark vorspringenden Rande begrenzte Lücke
darstellend ; dessen Sack in der Grösse einer Mannsfaust sich
nach rechts und rückwärts erstreckt, wobei ein kleinerer Theil
des Sackes der Vorderfläche der Wirbelkörper anliegt, ein
grösserer Theil in die rechte Pleurahöhle und in den Ober¬
lappen der rechten Lunge eingebettet ist ; mit secundären
Ausbuchtungen in die tiefe Rückenmusculatur ; dessen Wand
als Bindegewebslage zum Theil entsprechend der Vorderfläche
der Wirbelkörper erhalten, an dieser festgeheftet, zum Theil
mit dem Parenchym der rechten Lunge verwachsen oder
sogar durch dasselbe ersetzt ist. In letzterem Theile der
Höhle Anden sich Gerinnungen, welche denselben beinahe ganz
ausfüllen. Der benachbarte Knochen war zum Theile usurirt,
die benachbarte Lunge comprimirt und verdichtet, das
Aneurysma ist in einen Bronchialast der rechten Lunge
perforirt.
Die Obduction bestätigte somit die Diagnose eines grossen
Aneurysmas der Aorta und bot wichtige Aufklärungen ilber
den Sitz desselben und seine Perforationsstelle.
Die Aneurysmen der Aorta descendens bieten in der
Regel der Diagnose die grössten Schwierigkeiten. Schon
Laennec1) zählt diese Aneurysmen zu den am schwierigsten
zu diagnosticirenden Brustkrankheiten und sieht die Ursache
davon in der tiefen Lage der Brustaorta und in der Lagerung
des Herzens und der Lunge vor ihr, wie auch in dem selteneren
Auftreten von exquisiten Formen dieser Aneurysmenart, und
damit stimmen alle Autoren bis v. Schroetter überein, nach
dessen Angabe sie vermöge der ihnen oft nur dunkel zukom¬
menden Symptome ein Hauptcontingent der in der Brusthöhle
verborgenen Aneurysmen bilden. Dagegen handelt es sich
unserem Falle um eines von jenen Aneurysmen, »die man mit
aller Sicherheit erkennen kann«, von denen wir aber »zugeben
müssen, dass wir häufig das Aneurysma mit aller Bestimmt¬
heit nach weisen, aber nicht« (in unserem Falle nicht voll¬
kommen sicher) »nach weisen können, von welchem Arterien¬
abschnitt es ausgeht«; denn es bestand in unserem Falle eine
höchst seltene Lagerung eines Aneurysmas der Aorta descen¬
dens, wie sie mit den gewöhnlichen klinischen Erfahrungen
nicht übereinstimmt.
Schon Rokitansky2) führt an, dass die Aneurysmen
der Aorta descendens gewöhnlich vorerst die Wirbelsäule in
Anspruch nehmen und sich von da nebstbei über die hintere
Wand des linken Thorax ausbreiten, wobei Vorkommen kann,
dass sie an ihrem hinteren Umfange, wegen der widerstehenden
Wirbelsäule, eine bilobäre Gestalt annehmen, indem sie sich
zu zwei zur Seite der Wirbelsäule sich ausbreitenden Säcken
entwickeln; ebenso beobachteten sie spätere Autoren meist nach
links ausgebreitet, wobei sie mit Vorliebe mit dem Oesophagus
in Beziehung treten und sich in die linke Lunge lagern. Da¬
gegen war in dem beschriebenen Falle das Aneurysma, das
eine sehr bedeutende (Mannsfaust-) Grösse erreicht hatte, nur
rechts gelagert und erstreckte sich mit keinem Theile in die
linke Thoraxhälfte. Nur ein sehr kleiner Theil des Sackes lag
der Vorderfläche der Wirbelsäule rechterseits an.
Trotzdem das Aneurysma unseres Patienten schon sehr
lange bestanden haben musste — denn ein Aneurysma braucht
gewiss sehr lange Zeit, um eine solche Grösse zu erreichen
und so schwerwiegende Veränderungen seiner Umgebung
herbeizuführen — hatte es erst seit kurzer Zeit erheblichere
Beschwerden gemacht. Diese traten im Anschluss an ein
heftiges Trauma, das Patient bei seiner seit Jahren ausgeübten
schweren Arbeit erlitt, auf. Von da ab fühlte er heftigere
Schmerzen, konnte aber trotzdem seine Arbeit bald wieder
aufnehmen und fortsetzen.
Das Aneurysma ging also bei unserem Patienten mit
sehr geringen subjectiven Beschwerden einher, während gerade
für diese Aneurysmen das frühzeitige Auftreten von Schmerzen
und die meist bedeutenden Beschwerden der Kranken allge¬
mein als charakteristisch betont werden. Vielleicht steht damit
in Einklang, dass die Ernährung des Patienten so wenig ge¬
litten hatte und von einer sonst beschriebenen Kachexie nichts
vorhanden war. Beschwerden von Seite der benachbarten
Organe des Mediastinums traten nicht auf, da das Aneurysma
in seiner Ausdehnung dieselben nicht tangirte.
Die Perforation war in einen Bronchialast der rechten
Lunge erfolgt; auffällig blieb die Reactionslosigkeit, mit welcher
die Bronchialschleimhaut die wiederholten Blutungen ertragen
hatte. Der Situs in mortuo entsprach dem Röntgen-Bilde voll¬
kommen.
Für die Anregung zur Publication und Ueberlassung
des Materials sagen wir unserem sehr verehrten Lehrer, Herrn
Hofrath v. Schroetter, geziemenden Dank.
*) Laennec, Abhandlungen über Traite de l’auscult. mediate
Paris. 1819.
2) Rokitansky, Ueber einige der wichtigsten Krankheiten der
Arterien. Wien 1852. (Bd. IV der Denkschrift der mathematisch-natur¬
wissenschaftlichen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften.)
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
187
Aus der chirurgischen Abtheilung des Primarius Doctor
Schopf im k. k. Kaiserin Elisabeth-Spitale in Wien.
Traumatisches Aneurysma der Arteria brachialis
und Durchtrennung des Nervus medianus. Total¬
exstirpation des Aneurysmas. Nervennaht.
Von Dr. Karl Sinnreich, Abtheilungsassistenten.
i Die vervollkommnet^ Technik der Chirurgie, die Ein¬
führung der Es m ar c h schen Blutleere und der Asepsis
brachten es mit sich, dass in der Behandlung der Aneurysmen
sich allmälig eine totale Umwälzung vollzogen hat. Die mo¬
dernen Anschauungen auf dem Gebiete der Aneurysmatherapie
wurden bereits von vielen Autoren klargelegt, denen ilire^ per¬
sönliche Erfahrung hiezu volle Berechtigung gegeben. Trotz¬
dem mir dies bekannt ist, entschliesse ich mich zu einer diesen
Gegenstand betreffenden Publication. Meine Arbeit beabsichtigt
in erster Linie einen Beitrag zur Casuistik zu erbiingen. In
zweiter Linie, will sie einer Forderung meines verehrten Chefs
nachkommen, die er gelegentlich einer Publication über das
Aneurysma der Arteria ilio- femoralis erhoben hat (Wicnei
klinische Wochenschrift. 1898, Nr. 55). Er bezeichnet es als
wünschenswerth, die Aneurysmen der einzelnen Gefässabschnittc
für sich einer Bearbeitung zu unterziehen, um dadurch lest-
zustellen, bei welcher Methode am leichtesten der Collateral-
kreislauf sich ausbildet und am schnellsten und sichersten
Heilung auftritt. Meine Arbeit versucht, dieser Forderung mit
Rücksicht auf die Brachialarterie gerecht zu werden. Die An¬
regung hiezu bietet ein Fall von traumatischem Aneurysma
des rechten Oberarmes, welches am 23. Mai 1899 aut der
chirurgischen Abtheilung des Kaiserin Elisabeth fepitales opei ii t
wurde.
J. K., 51 Jahre alt, Bauer, wurde am 8. Mai durch einen gegen
den rechten Oberarm geführten Messerstich verletzt. Aus der kleinen
Wunde soll das Blut im Strahle herausgespritzt sein und Patient
sofort die Besinnung verloren haben. Nach starkem Blutverluste
stand die Blutung von selbst. Der drei Stunden später erschienene
Arzt legte einen Compressionsverband an. Schon am J age nach der
Verletzung bemerkte der Kranke, dass die drei ersten tingei dei
rechten Hand steif und empfindungslos seien. Am 15. Mai entstand
am unteren Ende des rechten Oberarmes eine Geschwulst, die in den
folgenden zwei Tagen ein rasches Wachsthum zeigte und heftige
Schmerzen veranlasste. Am 18. Mai brach die Stichwunde neuerdings
auf, es kam zu schwerer Blutung, die zur Ohnmacht führte und
schliesslich spontan stand. Zwei Tage später wiederholte sich die
Blutung zum dritten Male, doch nur in massigem Grade. Da die
Wunde trotz f'leissigen Touchirens mit dem Lapisstifte nicht heilte
und die Geschwulst trotz der vom Arzte angeordneten feuchten
Verbände nicht schwand, suchte Patient am 22. Mai unser Spital auf.
Es wurde folgender Status erhoben: Kräftige Constitution,
guter Ernährungszustand. Hochgradige Blässe. Innerer Organbefund
normal.
Die Beugefläche des rechten Oberarmes mit Ausnahme i « s
obersten Viertels ist von einer elastischen, unregelmässig-höckerigen,
quer- aber nicht längsverschieblichen, mehr als handgrossen Ge¬
schwulst eingenommen, welche deutliches, mit der Herzsystole iso¬
chrones Pulsiren und lautes Schwirren aufweist. Das Schwirren und
Pulsiren ist am ausgesprochensten über dem unteren Ende dei
Geschwulst und schwindet bei Compression des Arteria axillmis.
3 cm oberhalb des unteren Poles der Geschwulst befindet sich im
Bereiche der inneren Hälfte derselben eine 1 cm lange, ‘/2 cm breite
querverlaufende, granulirende Wunde. Der rechte Radialpuls fehlt.
Der Arm wird in Beugestellung gehalten. Die Flexion im
Ellbogengelenk ist nicht beschränkt, die Streckung lässt sich nur
bis zu einem Winkel von 130° ausführen.
Am Vorderarme und an der Hand sind die Erscheinungen
einer vollkommenen Medianuslähmung leicht zu constatiren. Pro¬
nation und Radialflexion sind fast aufgehoben (Lähmung des Pro¬
nator teres, quadratus und des Flexor carpi radialis). Der Daumen
wird gut adducirt, kann aber nicht opponirt werden (Lähmung der
Ballenmusculatur, des Opponens, Abductor brevis und Flexor brevis).
Die Beugebewegung desselben hat die gleiche Einbusse erlitten wie
am zweiten und dritten Finger. Die Endphalangen können nicht
gebeugt werden, während die Flexion der Grundphalangen in noi-
maler Weise vor sich geht (Lähmung des Flexor digitorum sublimis
und der radialen Hälfte des Profundus). Am vierten und fünften
Finger ist eine Störung der motorischen Function nur insofern'
angedeutet, als die Beugung der Endphalangen an der kranken Hand
mit geringerer Kraft erfolgt als an der gesunden (Lähmung des
Flexor digitorum sublimis).
Das Empfindungsvermögen fehlt an der Beugeseite des Daumens
im Bereiche des Endgliedes, an der Beugcscite des zweiten und
dritten Fingers an sämmtlichen Gliedern. An der Streckseite ist die
Anästhesie auf die beiden Endglieder des zweiten und dritten Fingers
beschränkt. Am vierten Finger lässt nur die Radialseite des Milü'l-
und Endgliedes das Empfindungsvermögen vermissen. Die Sensi¬
bilitätsstörung betrifft überall alle Empfindungsqualitäten in gleicher
Weise.
Die sich oft und in kurzen Intervallen wiederholenden Blutungen,
drängten
durch die der Patient bereits sehr anämisch geworden war,
zu raschem Handeln. Es wurde daher am 23. Mai die Totalexstirpation
vorgenommen. .....
Oberhalb der Geschwulst wird im Sulcus bicipitalis internus
ein 6 cot langer Schnitt geführt. Nach Spaltung der Haut und der
entzündlich veränderten, meliere Millimeter dicken Fascie tritt die
an ihrer medialen Seite von der Vene, an ihrer lateralen Seite vom
Nervus medianus begleitete Arteria brachialis zu Tage. Unterhalb
eines ziemlich starken, durch die Musculatur in die Tiefe tretenden
Astes (Arteria collaterals radialis) wird um die Brachialis eine
Schlimm geführt, deren Knoten vorläufig nicht geschnürt wird. Hier¬
auf legt ein 6 cm langer, dem Innenrande der Bicepssehne parallel
verlaufender Schnitt in der Ellenbeuge die von zwei Venen begleitete
Arteria cubitalis und den medial von den Gefässen verlaufenden
Nervus medianus bloss. Um die Arterie wird ein loser Faden geführt.
Der zuerst beschriebene Schnitt wird nun nach unten bis zur Mitte
der Geschwulst verlängert. Hier theilt er sich gabelig, umschneidet
ein die Stichöffnung enthaltendes ovales Hautstück und geht am
unteren Pole des Aneurysmas in die in der Ellenbeuge verlaufende
Incision über. Die obere, innere und die mediale Hälfte der unteren
Wand des Sackes wird freipräparirt, wobei zwei grössere Arterienäste
(Arteria collaterals ulnaris superior und inferior) unterbunden werden
müssen. Bei dem Versuche, die buchtige Aussenwand der Geschwulst
aus dem Biceps auszuschälen, kommt es zur Ruptur des Sackes und
zu heftiger Blutung, die durch Anziehen der um die Arteria brachialis
gelegten" Fadenschlingen rasch gestillt werden kann. Die Gelasse
werden nun am oberen und unteren Pole des Aneurysmas zwischen
doppelten Ligaturen durchtrennt. Der bereits freigelegte Theil des
Sackes wird als Ganzes excidirt, die Reste der unteren und äusseren
Wand werden stückweise entfernt. Hiebei kommen Arteria und \ ena
brachialis dem Operateur nicht mehr zu Gesicht, wohl aber der Ner¬
vus medianus. Es zeigt sich, dass derselbe durch den Messerstich in
seiner ganzen Dicke durchtrennt wurde. Die kolbig aufgetriebenen
Enden des Nerven werden angefrischt und durch paraneurotische
Naht vereinigt. Hautnaht. Durch den unteren Wundwinkel wird ein
bleistiftdickes Drain geleitet. Antiseptischer Verband in Beugestellung
des Ellenbogengelenkes.
Das durch die Operation gewonnene Präparat stellt einen mein
als mannsfaustgrossen Sack dar, der einen guldengrossen Defect
seiner Wandung aufweist. Letztere hat eine Dicke von 2-4 mm. An
l der Hinterseite ist das Aneurysma seiner ganzen Lange
nach mit
der Arterie
den Gefässstämmen verlöthet. Eine feine Oeffnung in
stellt eine Communication mit dem Lumen des Sackes her, die \ ene
theilt sich im Bereiche der unteren Hälfte des Aneurysmas gabelig.
Der Wundverlauf war fieberfrei. Beim ersten Verband¬
sich die Hautwunde reactionslos, die
Wechsel, am 30. Mai,
zeigte
Secretion durchs Drain war gerini
Oedem,
am Handrücken bestand massiges
J UULLUO ” -
der Puls fehlte. Die Medianuslähmung war noch im vollem
Umfange vorhanden. Am 4. Juni bestand nui mein um kur/ 1 i
im unteren Wundwinkel. Die Sensibilitätsprüfung ergab bezugin- i
des Tast- und Temperatursinnes keine Veränderung des ursprüng¬
lichen Status. Schmerzempfindungen wurden bei Einwirkung langer
dauernder Reize - anhaltende Nadelstiche - im Med. anusgebiet
bereits percipirt, am sichersten in den Randzonen desselben. Im
Gebiet der motorischen Sphäre war noch vollständige Lähmung W
handen. Am 13. Juni war die Wunde bereits vollkommen geheilt,
188
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 8
Am 19. Juni, dem Tage des Austrittes, wurde folgender Stutus er¬
hoben : An der Beugeseite des rechten Oberarmes eine 15 cm lange,
grösstentheils lineare Narbe. Der Radialpuls fehlt. Die Beweglichkeit
des Ellbogengelenkes hat nur in Bezug auf die Streckung geringe
Finbusse erlitten, im Handgelenk keine Störung. Die Radialflexion und
die Pronation findet in vollem Umfange statt. Die Flexion erfolgt an
den beiden letzten Fingern an allen Gelenken kräftig, am dritten
Finger mühsam. Der zweite Finger zeigt noch ausgesprochen die
Symtome der motorischen Medianuslähmung. Dasselbe gilt bezüglich
des Daumens; doch ist die Opposition desselben bereits möglich.
Die Sensibilität weist nur mehr am zweiten und dritten Finger
Störungen auf, nämlich: das Englied des zweiten Fingers, die Beuge¬
seite seines Mittelgliedes und die Beugeseite am Endgliede des dritten
Fingers sind für alle Empfindungsqualitäten hypästhetisch, am aus¬
gesprochensten bezüglich des Wärmesinnes, am wenigsten bezüglich
der Schmerzempfindung.
In dem soeben beschriebenen Falle handelt es sich um
ein traumatisches Aneurysma der Arteria brachialis. Obwohl
alle Merkmale eines solchen vorhanden waren, wurde die Ge¬
schwulst verkannt, und uns der Patient mit der Diagnose:
»Inficirte Stichwunde« zugewiesen. Die Veranlassung zur Fehl¬
diagnose bot wohl die diffuse, schmerzhafte Schwellung des
Oberarmes und die durch Reaction der kleinen Wunde zu
Stande gekommene Röthung der Haut. Die gleichzeitig be¬
stehende Lähmung de3 Nervus medianus liess sich nicht ver¬
kennen. Dieselbe konnte nur in Folge Durchtrennung des¬
selben, nicht durch Compression zu Stande gekommen sein,
da die Ausfallserscheinungen unmittelbar im Anschlüsse an die
Stichverletzung auftraten, bevor es überhaupt zur Bildung des
Aneurysmas gekommen war.
Die Wahl der Behandlungsmethode bot keine Schwierig¬
keit. Es musste ein Verfahren in Anwendung gebracht werden,
welches einerseits die sicherste Gewähr für die Hintanhaltung
von Nachblutungen bot, andererseits die Ausführung der
Nervennaht ermöglichte. Dieser Forderung entsprach nur die
Exstirpation nach Philagrius-Purmann. Eine Contra¬
indication gegen diese Methode schien nur in dem Umstande
zu liegen, dass seit dem Entstehen des Aneurysmas erst zwei
Wochen verstrichen waren und man befürchten musste, die
Ausbildung eines Sackes sei noch nicht erfolgt. Trotzdem
wurde mit Rücksicht auf neuere Erfahrungen — Trendelen¬
burg1) fand schon am sechsten Tage nach der Entstehung
eines Aneurysmas einen vollkommen ausgebildeten Sack —
die Operation ausgeführt. Auf ein den Collateralkreislauf vor¬
bereitendes Compressionsverfahren wurde verzichtet, weil sich
dadurch die Gefahr einer neuerlichen Blutung aus der Stich¬
wunde ergeben hätte.
Die Operation wurde ohne Esmarch'sche Blutleere
ausgeführt. Dadurch wurde die Präparation des Sackes
wesentlich erleichtert, indem die Pulsation die Grenzen der
Geschwulst deutlich hervortreten liess. Die um die Gefässe ge¬
führten Fadensehlingen ermöglichten nach eingetretener Ruptur
sofortige Blutstillung. Der Sack war dünnwandig und mit der
Umgebung aufs Innigste verwachsen. Diese Umstände brachten
es mit sich, dass eine Partie der Wandung stückweise excidirt
werden musste und die Vena brachialis nicht geschont werden
konnte. Von den Aesten der Arteria brachialis wurde die
Oollateralis radialis erhalten. Eine Versenkung des Nervus
medianus in die Tiefe zum Schutze desselben gegen die
Schädigung durchs Drainrohr und den Druck der Narbe
konnte bei der durch die Anfrischung eingetretenen Verkürznng
nicht ohne Zerrung der Naht vorgenommen werden. Es wurde
daher darauf verzichtet.
Das Resultat der Operation war ein sehr günstiges. Die
Narbe behinderte die Function des Armes in keiner Weise.
Cireulationsstörungen geringen Grades waren nur kurze Zeit
nach der Operation zu bemerken und sind durch die Venen-
resection zu erklären. Ueber den Effect der Nervennaht
konnten wir kein endgiltiges Urtheil gewinnen, da der Patient
bereits vier Wochen nach der Operation das Spital verliess
b K übler, Beiträge zur klinischen Chirurgie. 1892. Bd. IX.
Heft 1.
und unsere ambulatorische Behandlung nur für kurze Zeit in
Anspruch nahm. Beim Abgänge aus dem Spitale (am
19. Juni 1899) bot die Hand fast normales Verhalten der
Sensibilität dar. Diese Thatsache beziehen wir nur zum Theile
auf die Restitution der Nervenleitung, zum Theile auf das
vicariirende Eintreten des Nervus ulnaris, radialis und musculo-
cutaneus. Für letztere Annahme spricht der Umstand, dass
eine Wiederkehr der Sensibilität sich schon zehn Tage nach
der Operation bemerkbar machte, zu einer Zeit also, in welcher
eine Restitution der Nervenleitung noch nicht leicht ein¬
getreten sein konnte, und dass andererseits die Besserung im
Empfindungsvermögen sich zuerst in der Randzone der sen¬
siblen Sphäre des Nervus medianus, mithin im Nachbargebiete
der vorgenannten Nerven sich zeigte. Das Wiedererwachen
der motorischen Function, das vier Wochen nach der Ope¬
ration sich bereits constatiren liess, ist hingegen als sicheres
Zeichen der Nervenregeneration aufzufassen.
*
Ueber die Behandlungsmethoden der Aneurysmen liegen
zahlreiche Arbeiten vor, aus denen ich die Fälle von Aneurysma
der Arteria brachialis entnommen und in einer Tabelle zu¬
sammengestellt habe.
Von den 34 in dieser Tabelle enthaltenen Aneurysmen
sind 6 unbekannter Aetiologie, 25 durch Trauma und 3 spontan
entstanden. Ausser diesen 3 Fällen fand ich nur noch ein
einziges Aneurysma spontaneum der Brachialarterie in der
Literatur verzeichnet — von Scarpa 2) 1809 publicirt — das
durch Blutung zum Tode geführt hatte, bevor es zur Ope¬
ration gekommen war. Von den traumatischen Aneurysmen
sind 9 durch Aderlass zu Stande gekommen. Hieraus erklärt
sich die grosse Anzahl der Aneurysmen in der Ellenbeuge —
9 unserer Tabelle — und das relativ häufige Vorkommen des
Aneurysma arterio- venosum — 4 Fälle. An dieser Stelle sei
ein von Prof. Weinleehner3) publicirtes, von Schuh
operirtes Aderlassaneurysma erwähnt. Dasselbe gehörte, wie
die Operation (Ligatur nach PI u n t e r) zeigte, einer am Ober¬
arme entspringenden Arteria radialis an. Da die abnorm hoch
abgehenden V orderarm arterien bereits am Oberarme die Fascic
durchbrechen und in der Ellenbeuge subcutan verlaufen, so ist
gerade in einem solchen Falle, wie Weinleehner betont,
die Entstehung eines Aneurysmas im Gefolge des Aderlasses
sehr erklärlich. Derartige Aneurysmen werden wegen ihrer
Lage wohl meist für Brachialaneurysmen angesehen.
In der Behandlung des Aneurysmas der Arteria brachialis
finden sowohl die blutigen, wie die unblutigen Methoden Ver¬
wendung. 6 Fälle unserer Zusammenstellung wurden durch
Compression geheilt. In zwei von diesen war eine ausser¬
ordentlich kurze Behandlung von Erfolg: im Falle Nr. 4 ge¬
nügte eine dreistündige, im Falle Nr. 7 eine sechsstündige
Compression. In 8 Fällen blieb die Methode wirkungslos. In
einem Falle (Nr. 21) kam es im Gefolge der Compression zur
Ruptur des Sackes.
15mal wurde central ligirt. 11 Fälle wurden dadurch
geheilt, in zwei Fällen (Nr. 24 und 26) trat kein Erfolg auf,
in einem Falle (Nr. 20) kam es zu zweimaliger Nachblutung,
in einem Falle (Nr. 10) stellte sich Vereiterung des Sackes und
im Gefolge derselben Sepsis ein.
Die viermal ausgeführte Operation nach Antyllus
führte jedes Mal ohne besondere Complication zur Heilung.
Die Exstirpation nach Philagrius-Purmann war
neunmal vorgenommen worden, jedes Mal mit Erfolg. Die
Heilungsdauer wrar meist eine kurze; in drei Fällen (Nr. 27, 29, 30)
trat prima intentio ein.
Sowrohl nach der Compressionsbehandlung, wfie auch nach
den blutigen Verfahren tritt bisweilen Gangrän der Extremität
ein, wenn sich der Collateralkreislauf nicht genügend rasch
einstellt. Am günstigsten gestaltet sich wTohl die Entwicklung
desselben bei der Compressionsbehandlung, da hiedurch nur
eine allmälige und intermittirende Unterbrechung der Circu-
') Scarpa, Sur l’Anevrysme. Paris 1809.
3) Weinlechne r, Heilung- eines Aneurysma spurium in der
Ellenbeuge. Oesterreichische Zeitschrift für praktische Heilkunde. 1870.
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
189
lation in der Hauptarterie hervorgerufen wird. Von den blutigen
Methoden dürfte die Exstirpation die besten Chancen in
dieser Hinsicht bieten, da man annebmen kann, dass nach der
Entfernung des Sackes ein auf den Gefässen lastender Druck
beseitigt wird und sich nun die Füllung der kleinen Arterien
in der Umgebung des Aneurysmas leichter vollzieht. In uuserer
Statistik der Oberarmaneurysmen finden wir überhaupt nur
einen einzigen Fall (Nr. 34) von Gangrän verzeichnet, der
nach Ruptur des Sackes ohne vorangehende Operation zu
Stande gekommen war. Die Seltenheit dieses üblen Zufalles
in der Behandlung der Brachialaneurysmen erklärt sich aus
den günstigen Verhältnissen für die Entwicklung des Kreis¬
laufes am Oberarme.
Bei der Compressionsbehandlung kommt es in seltenen
Fällen, wenn dieselbe direct auf das Aneurysma wirkt, zur
Ruptur des Sackes. Diese Gefahr ist besonders bei stark ver¬
änderter und verdünnter Wandung desselben zu fürchten. Bei
noch nicht vollkommen verheilter Verletzung kann die directe
Compression Blutung aus einem Aneurysma traumaticum zur
Folge haben.
Die speciellen Gefahren der blutigen Operationen sind:
Wundinfection und Nachblutung. Die Statistik der Brachial
aneurysmen enthält nur einen einzigen Fall schwerer Wund¬
infection, der der vorantiseptischen Zeit angehört (Nr. 10) und
drei Fälle von Nachblutung nach Ligatur (Nr. 11, 15, 20).
Aus diesem dürftigen Materiale lassen sich keine Anhalts¬
punkte dafür gewinnen, in welchem Grade die einzelnen
Methoden die vorgenannten Gefahren mit sich bringen. Aus
den Ergebnissen umfangreicher statistischer Arbeiten, die das
Aneurysma anderer Gefässgebiete betreffen — ich verweise
auf die Publicationen von D eibet4), K übler5 6), Scriba0),
Schopf7) — wird hingegen klar ersichtlich, dass Wundin¬
fection nunmehr in fast allen Fällen vermieden werden kann,
und dass Nachblutungen am häufigsten nach der Spaltung auf-
treten, während sie im Gefolge der Ligatur und der Exstir¬
pation kaum zu befürchten sind. Bei der Methode nach A n-
tyllus ist eine primäre Vereinigung der Wunde unmöglich,
es kommt zur Ausstossung von Sackresten, meist unter be¬
trächtlicher Eiterung, die unter Umständen die Thromben
kleiner, in den Sack eintretender, nicht unterbundener Arterien
löst. Die rasche Verklebung der nach der Exstirpation zurück¬
bleibenden reinen Wunde, die sich bei unserer fortgeschrittenen
Operations- und Verbandtechnik in fast allen Fällen erzielen
lässt, ebenso wie die nach der Ligatur wohl ausnahmslos ein¬
tretende Prima intentio verhindert hingegen bei diesen beiden
Operation sverfabren secundäre Hämorrhagien. Das häufige
Auftreten derselben nach Hunte r’scher Ligatur beim Brachial¬
aneurysma, welches unsere Statistik verzeichnet, findet wohl
in dem Umstande, dass die drei in Betracht kommenden Fälle
der vorantiseptischen Zeit angehören, genügende Erklärung.
Der Heilerfolg gestaltet sich bei den einzelnen Methoden
sehr verschieden. Die Compression versagt, wie unsere Statistik
zeigt, in vielen Fällen, und auch nach der Ligatur treten
häufig Recidiven auf (Fall 24, 26). Die Methode nach A n-
tyllus und die Exstirpation nach Philag rius bieten hin¬
gegen absolute Sicherheit für die Heilung.
Das endgiltige Resultat ist aber auch für den Fall, dass
ein Erfolg erzielt wird, bei den einzelnen Methoden wesentlich
verschieden. Nach der Ligatur und der Compression bleibt der
thrombosirte Sack zurück und ruft durch Druck auf die Ge-
fässe Circulationsstörungen, durch Druck auf die Nerven
Neuralgien und trophische Veränderungen hervor. Bei der
Spaltung nach Antyllus sind diese Nachtheile, zwar nicht
zu befürchten, da der in der Wunde zurückbleibende Sack
kaum drückt. Aber die Ausheilung erfordert lange Zeit und
führt zu beträchtlicher Narbenbildung, die den Gebrauch der
Extremität bisweilen erheblich behindert und grosse Be¬
4) Del bet, Du traitement des aneurysm, extern. Paris 1889.
5) KUbler, Ueber die Exstirpation von Aneurysmen. Beiträge zur
klinischen Chirurgie. 1892, IX, 1.
6) Scriba, Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. 1885, Bd. XXII.
7) Schopf, Wiener klinische Wochenschrift. 1898, Nr. 55.
sch werden veranlasst. Die Exstirpation nach Phila grins
gibt hingegen ein tadelloses functionelles Resultat.
Es erscheint demnach begreiflich, dass letzteres Verfahren
auch in der Therapie des Brachialaneurysmas an erste Stelle
getreten ist. Unleugbar ist dasselbe allerdings technisch
schwieriger, als alle anderen operativen Methoden. Doch sind
diese Schwierigkeiten, besonders was das Aneurysma der
Brackialis anbelangt, bei unseren heutigen Hilfsmitteln nicht
so gross, dass man dieserhalb eine weniger sichere und lang¬
samer zur Heilung führende Methode in Anwendung bringen
würde.
Die grösste Mühe bei der Freilegung des Aneurysmas
bereitet in der Regel die Präparation der Vena brachialis. Die
Läsion derselben ist womöglich zu vermeiden, da vorüber¬
gehende Circulationsstörungen, wie in unserem Falle Oedem
der Hand, darnach auftreten. Ernstere Folgen sind hingegen
nicht zu befürchten.
Es ergibt sich dies, von der Statistik abgesehen, aus der
Berücksichtigung der anatomischen Verhältnisse. Am Arme
gibt es ein zweifaches System für die Leitung des venösen
Blutes, ein oberflächliches, repräsentirt durch die Vena basilica
und cephalica mit ihren Aesten, und ein tiefes, submusculär
gelegenes, dessen Hauptstamm die einfache oder doppelte Vena
brachialis darstellt. Zwischen beiden bestehen zahlreiche weite
Verbindungsbahnen, die den Uebertritt des Blutes vermitteln
und zwar in der Regel aus dem tiefen in das subcutane Venennetz.
Fei einer Unterbrechung des Kreislaufes in der Vena brachialis
treten daher sofort die Hautvenen vieariirend ein. Da die Vena
cephalica direct in die Subclavia mündet, so wird selbst die
Läsion des obersten Abschnittes der Brachialis oder der Axil¬
laris ziemlich bedeutungslos sein. Angesichts dieser Thatsache
wird man ohne Bedenken zur Resection der Vene schreiten,
namentlich wenn Gründe vorliegen, die zu rascher Beendigung
der Operation drängen.
Für die Entwicklung des Kreislaufes ist die Erhaltung
der grossen Aeste der Arteria radialis am Oberarme von Wich¬
tigkeit. Die Collateralgefässe (Collaterals radialis, Collaterals
ulnaris superior und Collaterals ulnaris inferior) gehen im Rete
cubiti so zahlreiche Anastomosen mit den Vorderarmarterien
ein, dass schon die Schonung eines einzigen genügt, bei Unter¬
bindung des Hauptstammes Störungen im Blutkreisläufe hintan¬
zuhalten. Ernstere Folgen sind auch nach der Ligatur sämmt-
licher Collateralarterien nicht zu fürchten. Selbst die gleich¬
zeitige Unterbindung der Arteria axillaris — beim Aneurysma
des obersten Drittels des Oberarmes — führt wohl nicht leicht
zum Brande der Extremität, da die Arteriae circumflexae hu¬
meri in diesem Falle die Entwicklung collateraler Bahnen
vermitteln.
Einige Sorgfalt wird man auch darauf verwenden müssen,
die Verletzung der wichtigen Nervenstämme zu vermeiden.
Werden dieselben blossgelegt, so scheint es zweckmässig zu
sein, die von Trelat^) vorgeschlagene Versenkung derselben
zwischen das Bindegewebe in die Tiefe vorzunehmen. Dadurch
werden nervöse Störungen, die angeblich in Folge der Reizung
durch das Drainrohr zu Stande kommen, hintangehalten und
der Nerv vor dem neuralgienauslösenden Druck der Narbe
bewahrt.
Schliesslich sollen noch die Indicationen und Oontra-
indicationcn für die Anwendung der einzelnen Operations¬
methoden besprochen werden, insoferne besondere Verhältnisse
bezüglich des Brachialaneurysmas vorliegen. Wenn möglich
soll in jedem Falle von Aneurysma dieser Arterie die Com¬
pression versucht werden. Dieselbe erzielt entweder Heilung
oder erhöht doch wenigstens die Chancen eines blutigen Ein¬
griffes dadurch, dass sie die Entwicklung des Collateralkreis-
laufes fördert, indem sie durch allmälige Unterbrechung der
Blutcirculation in der Hauptarterie die Erweiterung anastomo-
sirender Seitenzweige veranlasst. In letzterer Hinsicht als
vorbereitendes Verfahren für die blutigen Methoden hat
die Compression auf dem Gebiete des Oberarmaneurysmas
allerdings nur untergeordnete Bedeutung, da die '\ erhältnisse
8) Kübler, Ueber die Exstirpation von Aneurysmen. Beiträge zur
klinischen Chirurgie. 1892, Bd. IX, lieft 1.
190
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 8
Nr.
Autor und Quelle*) Diagnose und Entstehung
Behandlung
Ausgang
C o m p r e s
s i o n
1
P i r k e 1 1 1862.
Guy’s Hosp. Reports
Aneurysma arteriae cubitalis; unbekannt
Compression und Flexion
Heilung.
2
S p a n t o n I860.
London Medic. Times and
Gazette
Aneurysma arteriae brachialis; unbekannt
Compression mittelst Aderpresse
Ungeheilt.
3
0 1 i e r 1866.
Cannstatt’s Jahresbericht
Aneurysma arterio-venosum arteriae bra¬
chialis; Aderlasss
Directe und indirect© Compression
Heilung.
4
V i e n n o i s 1866.
Gazette Medicale de Lyon
Aneurysma arteriae cubitalis; Aderlass
Digitalcompression
Heilung in drei
Stunden
5
Mormonier 1868.
Cannstatt’s Jahresbericht
Aneurysma vaiicosum arteriae b achialis;
Schuss
Instrumentelle Compression
Heilung.
6
Ambr. Gheriui 1873.
Annali univ. di Medic.
Aneurysma arterio-venosum arteriae cubi¬
talis; Aderlass
Digitalcompression, comprimirende
Einwicklungeu
Heilung.
Heilung in sechs
7
L. E. Holt 1882.
Amercian Journal of the
Medical Sciences
Aneurysma arteriae brachialis; Krücken¬
druck
Insimmentelle Compression
Stunden.
Centrale L
i g a t u r
8
M. Denuce 1860.
L. E. Holt.
American Journal of the ,
i Medical Sciences. 1862
Aneurysma arteriae brachialis; unbekannt
Iristrumenteile Compression, Ligatur der
Brachialis
Heilung.
9
Till au x 1866.
Cannstatt’s Jahresbericht
Aneurysma arteriae brachialis; Aderlass
Ligatur der Brachialis
Heilung.
10
Weinlechner 1867.
Oesterreiclii8che Zeitschrift
für Heilkunde
Aneurysma arteriae cubitalis; spontan
Ligatur der Brachialis
Sepsis in Folge Sack¬
eiterung.
11
W attermann 1867.
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American Journal of the
Medical Sciences. 1882
Aneurysma arteriae brachialis; unbekannt
Ligatur der Brachialis, Ligatur der
Axillaris wegen Nachblutung
Heilung.
12
C h a b e r t 1 869.
Cannstatt’s J ahresbericht
Aneurysma arteriae brachialis; Aderlass
lndirecte und directe Digitalcompression,
maximale Flexion, Ligatur der Bachialis
Heilung.
13
C habert 1869.
Cannstatt’s Jahresbericht
Aneurysma arteriae brachialis; Aderlass
Behandlung wie im Falle 12
Heilung.
14
Raoul Deslongchamps
1869.
Cannstatt’s Jahresbericht
Aneurysma arteriae brachialis; Säbelhieb
Directe und indirecte Digitalcompression,
instrumentelle Compression. Ligatur der
Brachialis
Heilung.
15
K i b I e r 1870.
Buffalo Medical Journal
Aneurysma arteriae brachialis; spontan
Ligatur der Axillaris. Wegen Nachblutung
am achten Tage neuerliche Ligatur
Heilung.
16
Jones 1872.
Brit. Med. Journal
Aneurysma arteriae cubitalis; Verrenkung
Compression mittelst Aderpresse und
Flexion. Ligatur der Brachialis
Heilung.
17
A g n e w 1878.
L. E. Holt.
American Journal of the
Medical Sciences. 1882
Aneurysma arteriae brachialis; unbekannt
Ligatur der Brachialis
Heilung.
18
Liston 1878.
L. E. Holt.
American Journal of the
Medical Sciences. 1882
Aneurysma arteriae cubitalis; Verrenkung
Ligatur der Brachialis
Heilung.
19
Cameron 1878.
S c r i b a.
Deutsche Zeitschrift für
Chirurgie. Bd. XXII. 1885
Aneurysma arteriae brachialis; Trauma
Ligatur der Brachialis
Heilung.
20
Buchanan 1885.
Lancet, Jan.
Aneurysma arteriae brachialis; spontan
Unterbindung der Brachialis. Wegen
Nachblutung neuerdings Unterbindung.
Eine zweite Nachblutung nöthigt zur Ex-
articulation.
Exitus letalis.
zur
*) Sind zwei Jahreszahlen
Verfügung stand.
angeführt, so bezieht sich die erste auf das
Erscheinen der Originalpublicatipn, die zweite
auf die Quelle, die
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
191
Nr.
Autor und Quelle*)
Diagnose und Entstehung
Behandlung
Ausgang
S p a 1 t u
ng und Unterbind
ung nach Antyllus
21
Kade 1866.
St. Petersburger medieinisclie
Zeitschrift
Aneurysma arteriae brachialis; Trauma
Digitalcompresion führt am sechsten Tage
zur Sackruptur. Spaltung und Unter¬
bindung
Heilung.
22
Boecke 1 1877.
S c r i b a.
Deutsche Zeitschrift für
Chirurgie. Bd. XXII, 1885
Aneurysma arteriae brachialis; Trauma
Spaltung und Unterbindung
Heilung.
23
W a t s o li 1878.
S c r i b a.
Deutsche Zeitschrift für
Chirurgie. Bd. XXH. 1885
Aneurysma arteriae brachialis; Trauma
Spaltung und Unterbindung
Heilung.
24
Matas 1888.
Americ. News. 27. October
Aneurysma arteriae brachialis; Schrot¬
schuss
Elastische Einwicklung nach R e i d. Com¬
pressionsbehandlung. Ligatur. Spaltung
des Sackes. Die Gefässe werden im Be¬
reiche des Sackes zugenäht
Heilung.
E x s t i
rpation nach Philagrius-Purmann
25
P u r m a n n 1680.
Chirurgicae curiosae
Aneurysma arteriae cubitalis; Aderlass
Exstirpation
Heilung.
26
Chapel 1854.
Gazette des Höspitaux
Aneurysma arteriae cubitalis; Aderlass
Vor sieben Jahren Ligatur der Brachialis.
Exstirpation
Heilung.
27
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Deutsche Zeitschrift für
Chirurgie. Nr. 22.
Aneurysma arteriae brachialis; Nadelstich
Exstirpation
Heilung per primam
intentionem.
28
Gehle 1887.
Berliner klinische Wochen¬
schrift
Aneurysma arteriae brachialis; Schrot¬
schuss.
Exstirpation
Heilung. In den drei
ersten Tagen nach
Operation bestand
ischämische
Lähmung.
29
Cellien 1889.
Revue de Chirurgie. Nr. 7.
Aneurysma arteriae brachialis; Stich¬
verletzung
In Folge elektrolytischer Behandlung
Hautgangrän. Exstirpation
Heilung per secundam
intentionem unter
starker Narben¬
entwicklung.
30
Helferich 1889.
Jahresbericht über die chi¬
rurgische Klinik Greifswald
Aneurysma arteriae brachialis; Aderlass
Exstirpation
Heilung in acht
Tagen.
31
K ü b 1 e r 1892.
Beiträge zur klinischen Chi¬
rurgie. Bd. IX, Heft l.
Aneurysma arteriae brachialis ; Messer¬
stich
Exstirpation. Versenkung des Medianus
nach T r e 1 a t
Heilung unter mässi-
ger Secretion in
11 Tagen.
32
K ü b 1 e r 1892.
Beiträge zur klinischen Chi¬
rurgie. Bd. IX, Heft 1
Aneurysma arteriae cubitalis; Messer¬
stich
Exstirpation
Heilung per primam
intentionem.
33
Modlinsky 1894.
Medic. Obosrenje. Nr. 16
1
Aneurysma arteriae brachialis ; Trauma
Exstirpation
Heilung.
A m p u t a t
i o n
34
G r i p a 1 1883.
Bulletin de la Societe de
Chirurgie. Bd. VIII
Aneurysma arterio-venosum arteriae
brachialis; Messerstich
In Folge Ruptur des Aneurysmas kommt
es zur Gangrän des Armes. Amputation
Heilung.
zur
*) Sind zwei Jahreszahlen
Verfügung stand.
angeführt, so bezieht sich die erste auf das
Erscheinen der Originalpublication, die zweite auf die Quelle, die
für die Entwicklung des Collateralkreislaufes hier an sich so
günstig sind, dass jedes unterstützende Moment leicht entbehrt
werden kann. Contraindicirt ist die Compressionsbehandlung
bei dem Aneurysma traumaticum, wenn noch eine relativ
frische Verletzung vorliegt, weil dann, wenigstens durch den
directen Druck, leicht eine Nachblutung hervorgerufen werden
kann, und bei drohender Sackruptur, weil dieselbe durch den
Druck auf die Geschwulst sehr begünstigt wird, wie dies
Fall 21 unserer Statistik zeigt.
Muss ein blutiges Verfahren eingeschlagen werden, so
kommt mit Rücksicht auf die vorerwähnten vielfachen Vorzüge
und die geringen Schwierigkeiten, die die Methode gerade be¬
züglich des Oberarmaneurysmas darbietet, von wenigen Aus-
192
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 8
nahmen abgesehen, nur die Exstirpation in Betracht. Absolut
indicirt erscheint dieselbe in folgenden Fällen:
1. Bei ausgedehnter Gangrän der Haut über dem Aneu¬
rysma (Nr. 29).
2. Beim traumatischen Aneurysma, wenn gleichzeitig
eine Verletzung des Nervus medianus vorliegt (oben be¬
schriebener Fall).
3. Bei Compression wichtiger Nervenstämme, wenn im
Gefolge derselben nervöse oder trophische Störungen aufge¬
treten sind. Hieher zählt der Fall Nr. 34, bei welchem aller¬
dings die Exstirpation nicht vorgenommen wurde. Es war,
ohne dass die Blutadergeschwulst ein nennenswerthes Wachs¬
thum aufwies, zur Gangrän des dritten, vierten und fünften
Fingers gekommen. Drei Jahre nachher führte Ruptur des
Sackes zur Gangrän des Armes. Des besonderen Interesses
halber seien hier auch noch die anderen Fälle dieser Art, die
zur Publication gekommen sind, erwähnt, wenngleich sie auch
nicht dem Gefässgebiete der Arteria brachialis angehören.
Primarius Schopf9) exstirpirte ein bereits thrombosirtes
Aneurysma der Arteria subclavia und brachte hiedurch ein
am kleinen Finger bestehendes torpides Geschwür rasch zur
Heilung. Wahl10) entfernte ein Aneurysma der Arteria fe¬
moralis und beseitigte dadurch Oedem und umfangreiche Ulcera
am Unterschenkel. Ileinze11) berichtet über einen Fall von
progredienter Gangrän der Zehen, die alsbald nach Exstirpation
eines Aneurysma popliteum zum Stillstände kam.
Contraindicirt ist die Operation nach P h i 1 a g r i u s in
folgenden Fällen:
1. Bei frisch entstandenem traumatischem Aneurysma,
beim »Haematoma arteriale«, da bei diesem eine Sackwandung
sich noch nicht gebildet hat.
2. Bei schwerer Infection der Wunde, welche zur Aneu-
i
rysmabildung Veranlassung gegeben hat, da die Gefahr der
Ausbreitung der Wundkrankheit durch jeden complicirten Ein¬
griff erhöht wird.
3. Bei subcutaner Ruptur des Sackes. Es liegen dann die
Verhältnisse des zuerst erwähnten Falles vor. Ein Aneurysma
dieser Art wurde von Kade operirt (Nr. 21).
Für die beiden erstgenannten Fälle findet sich kein
Beleg in der Literatur. In allen drei Fällen tritt wohl Spaltung
und Unterbindung nach Antyllus an die Stelle der Ex¬
stirpation.
REFERATE.
A. Koelliker’s Handbuch der Gewebelehre des Menschen.
Sechste umgearbeitete Auflage. Dritter Band. Erste Hälfte. Bogen 1 — 26.
Mit den zum Theil farbigen Figuren 846—1134 in Holzschnitt und Zinko¬
graphie.
Von Victor V. Ebner, Professor der Histologie in Wien.
Leipzig 1899, W. Engelmann.
Wenn nach SOjähriger Pause ein Buch in neuer Auflage er-
scheint, das sich zur Aufgabe gesetzt hat, unser Gesammtwissen
innerhalb einer naturwissenschaftlichen Disciplin in eingehender
Weise darzustellen, so bedeutet das ein wissenschaftliches Ereigniss,
dem sich das Interesse sowohl der engeren Fachgenossen, als auch
weiterer Kreise zuwenden dürfte. Umsomehr mag dies erwartet
werden, wenn es sich um ein Buch handelt, das, wie das vor¬
liegende, das einzige dieser Art in deutscher Sprache ist.
Dass die »Gewebelehre des Menschen« von v. Koel liker
schon in ihrer ursprünglichen Fassung eine wesentliche Lücke in
der histologischen Literatur ausfüllte, geht daraus hervor, dass sie
in dem kurzen Zeitraum von 1852 — 18C7 fünf Auflagen erfuhr,
welche, in stets neuer, umgearbeiteter Form erscheinend, nicht nur
die von anderen Forschern zu Tage geförderten Entdeckungen,
sondern auch die werthvollen Resultate eigener Arbeit enthielten.
Im Jahre 1889 schritt der unermüdliche Würzburger Gelehrte zur
Herausgabe einer sechsten Auflage, von der zunächst »die allgemeine
Gewebelehre und die Systeme der Haut, Knochen und Muskeln«
9) Schopf, Wiener klinische Wochenschrift. 1891, Nr. 45.
lü) Kühler, Beiträge zur klinischen Chirurgie. 1892, Bd. IX
Heft 1.
1!) Ileinze, Berliner medicinisehe Wochenschrift. 1892, Nr. 44.
als erster Band erschienen. In der Vorrede zu demselben äusserto
der Verfasser die Absicht, den zweiten, umfangreicheren Band des
Werkes im Jahre 1890 zur Ausgabe gelangen zu lassen. Doch ver¬
zögerte sich dieselbe bis zum Jahre 1896, eine natürliche Folge
der ausserordentlichen Gründlichkeit, mit welcher dieser Theil der
Gewebelehre, den der Verfasser selbst als den ersten Versuch einer
ausführlichen Bearbeitung des feinsten Baues des centralen Nerven¬
systems des Menschen und der Säugelhiere bezeichnete, behandelt
wurde.
Die Vollendung des Werkes übertrug Koelliker seinem
Freunde, Hofrath Victor v. Ebner in Wien, der im Herbste 1896
die Bearbeitung des dritten Bandes in Angriff nahm und die erste
Hälfte desselben im Sommer dieses Jahres fertigstellte. Sie umfasst
die Verdauungsorgane, Respirationsorgane, Harnorgane und Neben¬
nieren. Im Abschnitt über die Verdauungsorgane haben auch gemäss
der Eintheilung der fünften Auflage die Geschmacksorgane und
die Milz, in dem über die Respirationsorgane noch Schilddrüse,
Beischilddrüsen, Thymus und Carotidenknötchen Platz gefunden.
Wenn man die Seitenzahl, welche die Darstellung der ge¬
nannten Organe in der fünften Auflage in Anspruch nimmt, mit
der vorliegenden sechsten vergleicht, so gewinnt man sofort eine
Vorstellung über den Grad der Erweiterung der letzteren. Besitzt
doch der vorliegende Band 402 Seiten, während derselbe Stoff
früher auf nur 182 Seiten abgehandelt worden war. Dieser Umfang
musste nothwendiger Weise erreicht werden, da keine in der voran¬
gegangenen Periode gemachte Beobachtung von irgend welcher Be¬
deutung unberücksichtigt bleiben sollte. Diese Berücksichtigung be¬
schränkte sich jedoch nicht blos auf eine beiläufige Erwähnung,
sondern führte zu kritischer Nachuntersuchung, so dass aus jedem
Satz das selbstständige Urtheil des erfahrenen Autors spricht.
Dem Fortschritte der Wissenschaft entsprechend mussten
18 Capitel neu aufgenommen werden. Sie betreffen die Zungen¬
wärzchen und Geschmacksknospen, welche letztere im Jahre 1867
noch nicht einmal bekannt waren, während sie jetzt sogar bis auf
die Vertheilung der Nerven durchforscht sind, weiters die Speichel¬
drüsen, deren Eigenschaften in sieben neuen Capiteln aufs Aus¬
führlichste beschrieben sind, ferner das Oberflächenepithel und die
Gefässe des Magens, des Zottenepithel, die Becherzellen und die
Brunne r’schen Drüsen des Duodenum, endlich dieLangerhan s-
schen Zellhaufen der Bauchspeicheldrüse und das interlobuläre
Gewebe und Pigment der Lunge. Die selbstständigen Abschnitte über
die Beischilddrüsen (Glandulae parathyreoideae) und das Carotiden¬
knötchen sind gleichfalls neu hinzugekommen. Am Schlüsse jedes
Capitels folgt ein Literaturnachweis, der zwar nicht Vollständigkeit
beansprucht, aber immerhin die wichtigsten Arbeiten enthält.
Sämmtliche Paragraphe sind durch zahlreiche Zeichnungen
aufs trefflichste illustrirt. 86 Abbildungen wurden der fünften Auf¬
lage, zwei der mikroskopischen Anatomie K oe 1 lik er’s (1852) ent¬
nommen, 200 kamen neu hinzu. Von diesen wurde weitaus der
grösste Theil im histologischen Institut von Herrn W enzl aus¬
geführt; manche unter ihnen, Uebersichtsbilder, bei Loupenver-
grösserung gezeichnet, enthalten so viele Details, dass sie, wie
v. Ebner in der Vorrede bemerkt, erst bei Betrachtung mit einer
schwachen Gonvexlinse zur vollen Geltung kommen. Ich citire als
Beispiele : die Lippe, die umwallte Papille, den weichen Gaumen mit
dem Zäpfchen, die Hinterwand des Schlundkopfes, den Pylorus u. a. m.
Ich muss es mir versagen, angesichts der Fülle neuer Beob¬
achtungen, die in diesem Handbuche niedergelegt sind, denselben
als Referent auch nur annähernd gerecht zu werden. Dagegen dürfte
es für die Leser dieser Zeitschrift von Interesse sein, in einigen
noch strittigen Fragen die Meinung des Verfassers zu hören, der
durch eigene Arbeiten auf vielen Punkten der Histologie bahn¬
brechend und aufklärend gewirkt hat Da sei zunächst der Form
und des feineren Baues der Drüsen in der Mund- und Rachen¬
höhle gedacht.
Die secernirenden Endstücke beschreibt v. Ebner in Ueber-
einstimmung mit Flemming als »verzweigte Schläuche mit vielen
abgerundeten Ausbuchtungen«, und bezeichnet deshalb sämmt¬
liche Drüsen als tubuloacinös. Die Randzellencomplexe oder
Halbmonde, welche in Schleimdrüsen Vorkommen, theilt v. Ebner
in zwei Gruppen: in die typischen Halbmonde von Gianuzzi
und die S t ö h r’schen Halbmonde. Die ersteren werden von serösen
Drüsenzellen gebildet und besitzen ein eigenes Secrelcapillarsystem.
Nr. 8
193
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT; 1900.
Man trifft sie an den Schleimalveolen der Submaxillaris, Sublingualis
und einiger kleiner Drüsen der Mundhöhle (Lippendrüsen, Backen¬
drüsen, Drüsen der Zungenspitze). Die S t ö h r’schen Halbmonde
hingegen bestehen aus erschöpften Schleimzellen und kommen neben
den echten Halbmonden bei der Sublingualis und den oben er¬
wähnten Speicheldrüsen der Mundhöhle vor, fehlen jedoch in der
Submaxillaris. Schleimdrüsen ohne Halbmonde sind die Gaumen¬
drüsen und Drüsen der Zungenwurzel. Ebenfalls einen gemischten
Bau, wie die Lippen- und Backendrüsen, besitzen die tubulo-acinösen
Drüsen in dem Schlunde und dem gesummten Respiration stract.
Die zahlreichen genauen Angaben über den feineren Bau der
verschiedenen Gewebe der Z ä h n e, sowie über deren Entwicklung
dürften den Zahnärzten theilweise bereits aus dem Handbuch von
S c h e f f, worin v. Ebner die Histologie der Zähne bearbeitet hat,
bekannt sein. Gegenüber den neuesten Angaben von Morgen¬
stern und Römer über das Vorkommen von Nerven im Zahn¬
bein verhält sich der Verfasser ablehnend. Die Fibrillen der Pulpa
hält er in Gegensatz zu Böse für leimgebend. Bei Besprechung
der Entwicklung des Zahnbeines bemerkt v. Ebner, dass die
Odontoblasten »an ihrer Oberfläche zunächst eine nicht fibrilläre
Substanz bilden, die zu einer gemeinsamen Masse zusammenfliesst
und die dann ohne Beziehung der einzelnen Fibrillen zu den ein¬
zelnen Bildungszellen fibrillär wird. « Die Orientirung der F ibrillen
hängt — wie v. Ebner a. a. 0. genauer dargelegt hat von
dem während der Ausscheidung der Bildungssubstanz herrschenden
Drucke oder Zuge ab.
Ebenso wie hier eine höchst wichtige Beobachtung, die dem
Gebiete der allgemeinen Histologie angehört, gelegentliche Ver-
werthung gefunden hat, so sind auch in anderen Capiteln Be¬
merkungen über den feineren Bau gewisser Zellarten eingestreut.
Ich verweise nur auf den Paragraph über die Muskelhaut des
Magens, welcher die neuesten Beobachtungen S c h a f fe r’s über die
glatten Muskelzellen enthält.
Die von verschiedenen Forschern beschriebenen Intercellular¬
brücken im Oberflächenepithel von Magen und Darm
hält v. Ebner für Kunstproducte, durch Schrumpfung der Zellen
entstanden.
In Uebereinstimmung mit Schiefferdecker betrachtet er
die Duodenaldrüsen als directe Fortsetzungen der Pylorus-
drüsen. Der Guticularsaum des Zottenepithels wird,
anschliessend an R. Heidenhain, als eine Membran gedeutet,
in welche fadenförmige gestreckte Fortsätze des Zellleibes hinein¬
reichen. Die Paneth’schen Körnerzellen werden als speciflsche
Drüsenzellen betrachtet.
Die Nebenkerne des Pankreas dürften in der grössten Zahl
der Fälle Kunstproducte sein, »klumpige Zusammenballungen der
fädigen und körnigen Bestandtheile der Aussenzone der Drüsen¬
zellen, unter gleichzeitiger Quellung des Restes«, hervorgerufen
durch die Fixirungsflüssigkeit. Die Langerhan s’schen Zellhaufen
werden gewissen Blutgefässdrüsen, wie der Nebenniere an die
Seite gestellt, da in ihnen keine Secretwege nachzuweisen sind.
In der noch immer controversen Frage nach dem Verhalten
der Blutgefässe in der Milz und den sogenannten »lacunären
Räumen« gehört v. Ebner zu jenen Autoren, welche aul Grund
der positiven Ergebnisse sorgfältig ausgeführter Injectionen eine ge¬
schlossene Bluthahn vertreten. In den capillaren Venen der Pulpa
entdeckte er nach aussen von den längsgestreiften, möglicher V eise
contractilen Endothelzellen eine sehr zarte Haut, in der ein Netz
elastischer Fasern gelegen ist. Das Balkenwerk der Milz enthält
neben äusserst zahlreichen elastischen Fasern auch vereinzelte glatte
Muskelzellen.
Im Hinblick auf die Frage nach der Existenz von glatten Muskelfasern
in den Alveolarwänden des Lungenparenchyms gehört v. Ebner jenen
Forschern an, denen es nicht gelingen wollte, solche daselbst wahl¬
zunehmen. Ebensowenig konnte er sich von der Existenz jenei
Porencanälchen überzeugen, die von Hansemann in der Wand
der Lungenalveolen beschrieben waren. Die das Kohlenpigment
führenden »Staubzellen« der Lunge, die an Zupfpräparaten häufig
mit schwarzen Körnchen ganz vollgepfropft erscheinen, ist Verlasset
geneigt, für Wanderzellen zu halten.
" Aus der Histologie der Schilddrüse interessirt vor Allem
die Frage, in welcher Weise die Abfuhr des Secretes aus^ den
schlossenen Drüsenblasen vor sich geht
ge-
Auch hierin verhält sich
v. Ebner sehr zurückhaltend. Der directe Ucbertritt geformter
Elemente in die Lymphbahn erscheint ihm wenig wahrscheinlich,
so dass er die Möglichkeit in Betracht zieht, dass vielleicht die
oberflächlichen Blutcapillaren die zur Resorption bestimmten Stotte
direct aufnehmen.
Bezüglich der Entwicklung der Thymus sei bemerkt, dass
die Marksubstanz zum grössten Theile von der epithelialen Anlage
abstammt, während die Rindensubstanz eine secundäre Auf¬
lagerung darstellt. Unter den im Reticulum frei beweglichen Zell¬
formen verdienen vor Allem die von Schaffer entdeckten kern¬
haltigen rothen Blutkörperchen Beachtung, welche die Thymus als
blutbildendes Organ neben Knochenmark und Milz zu stellen ge¬
statten.
Aus dem umfangreichen Capitel über die Ilarnorgane sei
insbesonders auf die eingehende Darstellung der complicirten Epithel¬
verhältnisse der M alp i ghi’schen Körperchen hingewiesen; auch
die Physiologie der Harnsecretion und die Entwicklung der Nieren-
canälchen wurden gestreift.
In der Marksubstanz der Nebenniere entdeckte der \ er-
fasser ein ausserordentlich reiches Netzwerk feinster elastischer
Fasern. Der erst kürzlich von Kohn aufgestellten Behauptung,
dass die Markzellen keine für die Nebennieren speciflsche Zell¬
art seien, sondern als »chromatfine Zellen« einen allgemein ver¬
breiteten Bestandtheil des sympathischen Nervensystems darstellten,
konnte er nicht beipflichten. Mit der eingehenden Darstellung der
Gefässe und Nerven der Nebennieren schliesst der vorliegende
Band ab.
Wenn wir nach dieser kurzen Uebersicht nochmals einen
Blick in die fünfte Auflage werfen, und das relativ spärliche That-
sachenmaterial jener Zeit, die Ungeklärtheit in vielen, principiellen
Fragen, die heute längst gelöst sind, mit den Verhältnissen der
Gegenwart vergleichen, so springt uns der enorme Forschritt in
die Augen, den die Histologie in den letzten bO Jahren ge¬
macht hat.
Zu dem kraftvollen Vorwärts dringen der Naturwissenschaften,
welches dieses Jahrhundert charakterisirt, hat auch unsere Wissen¬
schaft ihren verdienstvollen Antheil geliefert. Ursprünglich ein Theil
der Anatomie und Physiologie hat sie durch unablässige \ei-
besserungen ihrer Technik allmälig eine Summe eigener Erkenntnisse
zu Tage gefördert, welche ihr eine selbstständige Stellung unter
den theoretischen Disciplinen der Medicin erworben haben. Die
Zeiten, in denen es hervorragenden Geistern vergönnt war, neben
Anatomie und Histologie auch die Gesammtgebiete der Zoologie
und Physiologie zu beherrschen und durch eigene Arbeit zu fördern,
sind vorbei. Der Stoff hat sich in jedem einzelnen Fache zu sehr
gehäuft, so dass man sich zufrieden geben muss, nicht die Fäden
zu verlieren, die zu den Schwesterwissenschaften hinüberleiten. Und
ein ganzer Complex solcher Fäden, welche die Histologie sowohl
mit den übrigen theoretischen als auch den praktischen Fächern
der Medicin verbinden, ist in dem vorliegenden Werke vereinigt.
Darum wird es nicht nur im engsten Kreise der Fachgenossen,
sondern auch darüber hinaus willkommen sein; Aerzte und Stu-
dirende werden es mit Erfolg benützen, und so schliesse ich mit
dem Wunsche, dass dasselbe Interesse, welches dem Werke m
seiner früheren Form entgegengebracht wurde, ihm auch in seinem
neuen Gewände treu bleiben möge. H. Rabl.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
56. ZurTherapie der Ischias. Von A. Eulenbu r g
(Berlin). Die Behandlung der nach dem italienischen Arzte Dome¬
nico Contugno auch als »Ischias p o s t i c a C o t u n i i «
bezeichneten Krankheit unterscheidet sich insoferne zu ihrem \ or¬
theile von den meisten anderen Neuralgien, als sie auch der cau-
salen Therapie Spielraum gewährt, in Folge dessen auch nicht alle
Ischiasfälle nach einer Schablone zu behandeln sind. Geschwülste,
welche die Wurzel des Sacralplexus drücken, indiciren deien Ent¬
fernung, Stauungen in den Beckenvenen zur Anwendung \ on Blut¬
egeln oder Schröpfköpfen in der Gegend der Tncisura isehiadica
major. Venäsectionen sind nicht zu empfehlen. Aussei öitliciui
Blutentziehungen kommen in diesen Fällen noch mehr oder minun
starke Abführmittel, Fleiner’sche Oelklystiere u. s. w. m Le-
194
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 8
tracht. Ischias im Gefolge von Gonorrhoe, Syphilis, Gicht, Diabetes,
beziehungsweise nach alkoholischen, saturninen, mercuriellen In-
toxicationen ist nach dem Grundleiden zu behandeln. Die Ischias
als solche fordert Ruhe. Wärmeapplication, in welch letzterer Hin¬
sicht die Thermophore sich als sehr brauchbar erweisen, subcutane
Injectionen von 2^/yiger Carbolsäure (eventuell mit Zusatz von etwas
[V*'°/oJ Morphium) möglichst tief in die unmittelbare Umgebung des
Nerven an den schmerzhaften Stellen. Die Injectionsdosis, die ein¬
mal, nöthigenfalls auch mehrmals täglich wiederholt wird, beträgt
gewöhnlich 1 (j. Aehnlich, mit einer gewissen Vorsicht, sind auch
die Osmiumsäureinjectionen (0'3 — 0'5 einer l%igen Lösung) in
zwei- bis dreitägigen Intervallen vorzunehmen. In besonders
schlimmen Fällen können auch Cocaininjectionen (05 bis Ol einer
2- bis 4%igen Lösung) an den schmerzempfindlichsten Stellen und
zur allgemeinen Beruhigung Morphium (Heroin, Dionin) gebraucht
werden. Weiters kommt noch die Elektrotherapie als Franklini-
sation in Form der Pinselung, noch besser als constanter Strom
(5 bis 7 M.-A.) in Betracht. Massage ist erst dann geboten, wenn
die anfängliche Schmerzhaftigkeit bereits abgenommen hat; sie soll
nicht zu energisch sein. Sehr empfehlenswerth ist die »unblutige
Nervendehnung«. Der gestreckt gehaltene Fuss des am Rücken
oder auf der gesunden Seite liegenden Patienten wird im Hüft¬
gelenke möglichst stark gebeugt, gegen den Rumpf hinauf gezogen
und in dieser Stellung durch 1 bis 3 Minuten erhalten. Von
der grössten Bedeutung sind bekannter Weise die Bäder in Form
der Thermen, Moor-, Sand-, Schlammbäder und die Fangocuren.
Ferner ist auch die schottische Douche beliebt, bei der zuerst
warmes Wasser in allmälig steigender Temperatur bis zum Nach¬
lassen des Schmerzes, dann plötzlich ein kalter Strahl local appli-
cirt wird. Die Legion anderweitiger bei Ischias angewendeter Mittel
ist zu entbehren. — (Die Therapie der Gegenwart. 1899, Nr. 10)
*
57. (Aus der chirurgischen Abtheilung des Frauenhospitale s
in Petersburg.) lleberCocainisirung des Rückenmarkes
n ach B i e r. Von Dr. S e 1 d o w i t s c h. Es wird über vier Fälle
genauer berichtet, in welchen der Vorschlag Bier’s, mittelst In¬
jection von Cocain in den Rückenmarkscanal Anästhesie zu erzeugen,
praktisch bei Operationen in Ausführung gebracht wurde. Erster
Fall: Amputation nach Pirogoff. Aul Injection von O'Ol Cocain
zwischen dem dritten und vierten Lendenwirbel trat nach acht
Minuten eine von den Zehen bis zur Spina anterior reichende
Schmerzlosigkeit ein. Dauer der Operation, welche vollkommen
schmerzlos verlief, 4U Minuten. Nach 56 Minuten kehrte die
Schmerzempfindung wieder zurück. Zweiter Fall: Unterschenkel¬
amputation und Exstirpation der Leistendrüsen. Nach Injection von
0006 Cocain trat neun Minuten später Schmerzlosigkeit ein.
Selbst die Durchsägung des Knochens verfiel schmerzlos, nur wurde
die Anlegung der Nähte in inguine etwas empfunden. Dritter Fall:
Exstirpation eines Hautcarcinoms am rechten Knie, Deckung des
Defectes nach Thiersch. Das Schneiden der Hautlappen am
Oberschenkel war etwas schmerzhaft. Dauer der Anästhesie 35 Mi¬
nuten. Vierter Fall: Kniegelenksresection. Injection von 0 009 Cocain.
Die ganze Operation, welche 50 Minuten gedauert halte, verlief
schmerzlos. Der zweite Fall, welcher seiner Krankheit erlag, gab
Gelegenheit, den Rückenmarkscanal zu besichtigen, wo nichts Ab¬
normes constatirt werden konnte. Hervorzuheben ist ein Umstand,
der von Bier nicht erwähnt, von Sei do witsch aber in jedem
Falle der Cocainisirung beobachtet wurde, nämlich ein nach der
Operation immer auftretender Frostanfall mit vorübergehender
Temperatursleigerung bis zu 40°. - (Centralblatt für Chirurgie.
1899, Nr. 41.)
*
58. (Aus der chirurgischen Abtheilung des städtischen Kranken¬
hauses im Friedrichshain zu Berlin.) lieber Pneumatosis
cystoides intestinoru m h o m i n i s und einen durc h
Laparotomie behandelten Fall. Von Prof. Hahn. Die
obige Bezeichnung stammt von Prof. Mayer in Bonn, welcher
1825 den ersten einschlägigen Fall beschrieben hat. Die Krankheit
kommt häutiger beim Schweine vor und hat dort den Namen
Emphysema bullosum mesenteriale et intestinale. Der von Hahn
operirte Fall, welcher unter den Symptomen einer Dilatatio ventri-
culi und eines stenosirenden Darmtumors in Behandlung gelangt
war, ist der erste, bei dem die Erkrankung am Menschen intra
vitam beobachtet worden ist und betraf einen 35jährigen Mann,
der schon seit zwei Jahren über Beschwerden von Seite des
Magen-Darmcanales, besonders über lang anhaltende Diarrhöe, die
in Obstipation überging, zu klagen hatte. Nach der ausgeführten
Eröffnung der Bauchhöhle fand man den grössten Theil des Dünn¬
darmes mit gasgefüllten, der Serosa theils gestielt, theils flach auf¬
sitzenden, erbsen- bis haselnussgrossen Cysten bedeckt, die ent¬
weder zerdrückt oder exstirpirt wurden. Der Kranke konnte hin¬
sichtlich seiner Beschwerden gebessert entlassen werden. Allem An¬
scheine nach handelt es sich bei dieser Erkrankung um eine
Cystenbildung zwischen den Darmmuskelschichten in Folge Ein¬
dringens von gasbildenden Bacterien, wodurch es zu einer Atrophie
der Darmmusculalur und dadurch zur mangelnden Peristaltik des
Darmes und ihrer Folgen kommt. Eine Uebertragung vom Schweine
auf den Menschen wäre nicht undenkbar. In diagnostischer Hinsicht
ist zu bemerken, dass die Palpation prall-elastische Tumoren er¬
kennen lässt, welche sich von Echinococcusblasen durch das Fehlen
jeder Dämpfung unterscheiden. — (Deutsche medicinische Wochen¬
schrift. 1899, Nr. 40.)
*
59. Natürliche Schutzeinrichtungen des Or¬
ganismus und deren Beeinflussung zum Zwecke
der Abwehr von Infection sprocessen. Von II. Buchner.
Es wird ganz besonders auf ein Mittel aufmerksam gemacht, das
durch directe chemische Reizung der Gefässe wirkt, welche die
Erweiterung derselben veranlasst und hiedurch eine vermehrte
Blutzufuhr nach den behandelten Theilen bewirkt. Es sind dies
die Alkoholverbände, welche zuerst von S a 1 z w e d e 1 zur
Behandlung von Phlegmonen, Lymphangitis, Panaritien, Furunkeln,
Mastitis u. s. w. empfohlen und mit trefflichem Erfolge angewendet
worden sind. Wichtig ist, dass der in 96%igem Alkohol getränkte
Verband recht ausgiebig über die erkrankten Stellen hinaus an-
gelegt wird. Aber auch bei eiterigen, offenen Wunden wirkt der
Alkoholumschlag günstig. Die Wirkung beruht, wie bemerkt, auf
der gefässerweiternden Wirkung des Alkohols und Buchner er¬
klärt die Alkohole auf Grund seiner Experimente als die weitaus
kräftigsten Mittel hiefiir. Verfasser behauptet ferner, dass durch
gründliche und consequente Anwendung des Alkohols die aller¬
meisten Fälle von Zahncaries zum Stillstände, beziehungsweise
zur Heilung gebracht werden können. Man verwendet dazu einen
45%igen, bei empfindlichen Personen einen noch schwächeren Al¬
kohol, netzt mit ihm ordentlich die Zahnbürste ein, mit welcher
die Zähne zweimal täglich bearbeitet werden. Bei dieser Behandlung
wird das schon erweichte Zahnbein wieder hart und unempfindlich,
ja manchmal bildet sich sogar neues Zahnbein an Stelle des alten,
brüchig gewordenen. Die Caries heilt, wie Buchner sich aus¬
drückt, unter der Einwirkung des Alkohols ebenso wie eine Phleg¬
mone oder ein Abscess ausheilt. Bemerkenswerth ist ferner die auf
Anregung des Verfassers versuchte Behandlung der localen, nament¬
lich der Gelenkstuberculose unter Alkoholverbänden. Unter zehn
bisher auf diese Weise behandelten Fällen waren zwei »glänzende
Heilungen«, während die übrigen sehr günstig verliefen. Es gäbe
nach Buchner vielleicht noch eine Reihe anderer Infections-
processe, in denen die Alkoholbehandlung versucht werden könnte;
so Alkoholverbände am Halse bei Kehlkopftuberculose; es steht ja
fest, dass die gefässerweiternde Wirkung des Alkohols sich bis auf
eine gewisse Tiefe ins Gewebe hinein erstreckt. Buchner würde
in einem auftretenden Fall von Bubonenpest sofort beide Achsel¬
und Leistengegenden mit möglichst ausgiebigen Alkoholverbänden
in prophylaktisch curativer Absicht einhüllen und die Verbände
fleissig erneuern. Da in diesen Lymphdriisenregionen offenbar für
gewöhnlich sich die Hauptvermehrungsstätte des Pestbacillus be¬
findet, so sollte er hier an erster Stelle bekämpft werden. Dass
der Pestbacillus überhaupt mit den im menschlichen Körper vor¬
handenen Hilfsmitteln überwunden werden kann, beweisen ja die
in Heilung übergehenden sogenannten »leichten« Pestfälle, die nur
deshalb günstig verlaufen, weil in diesen Fällen die Abwehr¬
einrichtungen desOrganismus glücklicherweise genügend functioniren.
(Münchener medicinische Wochenschrift. 1899, Nr. 4U.) Pi.
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
195
NOTIZEN.
Ernannt: Dr. Borelius zum Professor der Chirurgie in
Lund. — Dr. Truzzi zum o. Professor der Geburtshilfe in
Padua, — Dr. M o n d i n o zum o. Professor der Psychiatrie in
Pavia.
*
Verliehen: Dem Sanitätsratlie Dr. Breitung in Coburg
vom Fürsten von Schwarzburg Rudolstadt das Ehrenkreuz II. CI.
*
H a b i 1 i t i r t : Dr. Julius Neumann als Privatdocent für
Geburtshilfe und Gynäkologie in Wien.
*
Gestorben: Der emer. Bez.-Arzt von Baden, Dr. Wilhelm
Bar th in Wien. — Sir Thomas Grainger Stewar t, Pro¬
fessor der klinischen Medicin zu Edinburg.
*
Der ärztliche Verein der westlichen Bezirke Wiens hat in seiner
letzten Plenarversammlung einstimmig beschlossen, dem Centralver-
bande beizutreten und als Delegirte die Herren Dr. S ch u m (als
Obmann), Dr. Stricker und Dr. Rimböck bestimmt. Bei der in
derselben Sitzung vorgenommenen Wahl der Vorstandsmitglieder
wurden die bisherigen Herren Dr. Schum (Obmann), Dr. Lauter¬
stein (Obmann-Stellvertreter), Dr. Friedmann und Dr. Rim¬
böck (Schriftführer), Dr. Josef lvohn (Oekonom) wieder gewählt.
*
Prof. E. v. Bergmann versendet folgende Mittheilung : Der
XXIX. Congress der Deutschen Gesellschaft für
Chirurgie findet vom 18. bis 21. April in Berlin statt.
Die Begrüssung der zum Congress sich versammelnden Mitglieder ge¬
schieht °am Dienstag, den 17. April, Abends von 8 Uhr ab im Hotel
de Rome (Charlottenstrasse Nr. 44/45). Die Mitglieder des Ausschusses
werden zu einer am 17. April, Vormittags 10 Uhr abzuhaltenden
Sitzung noch besonders eingeladen werden. Ich bitte sie schon jetzt,
vollzählig zu erscheinen. Die Eröffnung des Congresses findet Mittwoch,
den 18. April, Vormittags 10 Uhr im Laugenbeck-Hause statt. Während
der Dauer des Congresses wrerden daselbst Morgensitzungen von 10 1
und Nachmittagssitzungen von 2 — 4 Uhr gehalten. Die Vormittags-
sitzung am Mittwoch, den 18. April und die Nachmittagssitzung am
Freitag, den 20. April sind zugleich Sitzungen der Generalversammlung.
In der zweiten Sitzung der Generalversamlung am Freitag Nach¬
mittags wird der Vorsitzende für das Jahr 1901 gewählt. Am eisten
Sitzungstage (Mittwoch, den 18. April) findet um 10 Uhr Abends eine
einstündige Demonstration von Projectionsbildern aus Diapositiven
statt. Meldungen dazu sind an Herrn Joachimsthal, Beilin W.,
Markgrafenstrasse 81, und Immelmanu, Berlin W., Lützowstiasse 72,
zu richten. Von auswärts kommende Kranke können im königlichen
Klinikum (Berlin N., Ziegelstrasse 5—9) Aufnahme finden. Präparate,
Bandagen, Instrumente etc. sind an Herrn Anders ins Langen-
beck-Haus (Ziegelstrasse 10/11) mit Angabe ihrer Bestimmung zu
senden. Eine Ausstellung von R ö n t g e n - Photographien findet nicht
statt. Ankündigungen von Vorträgen und Demonstrationen bitte ich
zeitig und wenn irgend möglich spätestens bis zum 17. März an meine
Adresse (v. Bergmann, Berlin NW., Alexanderufer 1) gelangen zu
lassen. Das gemeinsame Mittagsmahl ist auf Donnerstag, den 19. Apiil,
5 Uhr Abends im Hotel de Rome angesetzt. Für die Theilnelimer
wird ein Bogen zur Einzeichnung ihrer Namen am 17. Apiil im Hotel
de Rome und am 18. April während der Sitzung im Langenbeck-Hause
ausliegen. Herr Anders ist beauftragt und ermächtigt, Beitläge zum
Besten des Langenbeck-Hauses, Zuwendungen für die Bibliothek, sowie
die regelmässigen Zahlungen der Mitglieder entgegen zu nehmen. Eine
Ausstellung von chirurgischen Instrumenten und Apparaten ist in
Aussicht genommen. — Die Sitzungen werden mit nachstehenden Voi-
trägen eröffnet werden : Mittwoch, den 18. April. C z e l n y
(Heidelberg): Die Behandlung inoperabler Krebse. K r ö n 1 e i n (Zürich):
Darm- und Mastdarmcarcinom und die Resultate ihrer operativen Be¬
handlung. Rehn (Frankfurt a. M.) : Die Verbesserungen in der
Technik der Mastdarm-Amputation und -Resection. — Donnerstag,
den 19. April. Israel (Berlin): Ueber Operationen bei Nieren-
und Uretersteinen. — Freitag, den 20. April, v. Angerei
(München): Ueber Operationen wegen Unterleibs-Contusionen. v. Berg¬
mann (Riga): Ueber Darm-Ausschaltungen beim Volvulus und dessen
Diagnose. Credc (Dresden): Die Vereinfachung der Gastro- und
Enterostomie. — Samstag, den 21. April. Lexer (Beilin).
Ueber teratoide Geschwülste in der Bauchhöhle und deren Operation.
*
Zahnärztlicher internationaler Congress in
Paris. Vom 8. bis 14. August d. J. findet in Paris der III. inter¬
nationale Congress für Zahnheilkunde statt. Im Sinne der ( ongress-
statuten hat sich das nationale Comite für Cisleithanien constituirt. Jene
Herrn Collegen, welche an diesem Congresse theilzunehmen gedenken,
eventuell dort Vorträge oder Demonstrationen abhalten wollen, werden
ersucht sich gefälligst an Herrn Dr. Joli. Pichler, \\ ien,
I., Stephansplatz 6, oder Dr. J o h. Frank, Wien, I., legetthoil-
strasse 1, zu wenden.
*
Wie die „Münchener medicinische Wochenschrift“ in Nr. 7 mit¬
theilt, hat sich in Breslau auf die Anregung von Geheim-Rath
Neisser hin eine Dermatologische Vereinigung ge¬
bildet, welche bereits zwei Sitzungen abgehalten hat.
*
Nach dem Muster der in Deutschland bestehenden Sanatorien für
Stoffwechselkrankheiten und deren diätetische Behandlung hat Doctor
Th. Robert Offer, emeritirter Assistent an der Wiener Univer¬
sität, der durch längere Zeit bei Prof. v. Noorden in Frank¬
furt a. M. wissenschaftlich thätig gewesen ist, eine gleiche, mit allem
Comfort ausgestattete Anstalt eröffnet.
*
Die Verwaltungs-Direction der Wiener städtischen Gaswerke hat
über Vorstellung der Wiener Aerztekammer die Kundmachung vom
27. December 1899, Z. 5170, betreffend die Bestellung eines Werk¬
arztes für das städtische Gaswerk anuulirt und eine neue Kund¬
machung verfasst (siehe: Freie Stellen).
*
Der „Bericht über denCongress zur Bekämpfung
der Tuberculose als Volk skrankheit“ ist erschienen. Das
Werk ist zu beziehen von: Paul Haack, Berlin S. W., Hafeu-
platz 10.
*
Druckfehler be ri chtigung: Auf pag- 1 G9, Spalte 2,
Zeile 4 sollte statt des Wortes „kleinerer“ das Wort „klinischer¬
stehen.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 5. Jahreswoche (vom 28. Januar
bis 3. Februar 1900). Lebend geboren : ehelich 032, unehelich 344, zusammen
976. Todt geboren: ehelich 38, unehelich 37, zusammen 75. Gesammtzahl
der Todesfälle 620 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
19‘7 Todesfälle), darunter an Tuberculose 122, Blattern 0, Masern 7,
Scharlach 1, Diphtherie und Croup 8, Pertussis 2, Typhus abdominalis O,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber^ 3, Neu¬
bildungen 38. Angezeigte Iufectionskraukheiten . Blattern 0 (=), Varicellen
120 ( — ll)i Masern 293 ( — 80j, Scharlach 53 (-{- 17), Typhus abdominalis
ß (J_ 5), Typbus exanthematicus 0 (=), Erysipel 31 (— 1), Croup und
Diphtherie 52 (-+- 1), Pertussis 51 (-f- 13>, Dysenterie 0 (=), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 3 (— 3), Trachom 1 (— 3), Influenza 2 (+ !)•
Freie Stellen.
Kundmachung.
Die liierortige Kundmachung vom 27. December 1899, Z. 51(0 wird
hiemit annullirt und die Stelle eines Werkarztes neuerlich, wie folgt, ausge¬
schrieben. . , , . , „.
Im städtischen Gaswerke im XI. Wiener Gemeindebezirke Simmei mg
gelangt die Stelle eines Werkarztes zur Besetzung. Mit dieser Stelle, welche
nur provisorisch gegen eine beiden Theilen zustehende halbjährige Kündi-
gung besetzt wird, ist insbesondere die Verpflichtung verbunden, sämrnt-
liclie neu eintretenden Arbeiter des städtischen Gaswerkes vor ihrer Aul
nähme in den Dienst ärztlich zu untersuchen, ferner die erkrankten Ai-
beiter im Gaswerke ambulatorisch zu behandeln, endlich ^ innerhalb des
durch die Schlachthausgasse, Simmeringer Hauptstrasse, Kopalgasse und
den Donaucanal begrenzten Rayons die Krankenbesuche bei den erkrankten
Arbeitern vorzunehmen. Derzeit sind im städtischen Gaswerke 1200— 1ÖUU
Arbeiter beschäftigt. ,
Der Weikarzt erhält eine aus zwei Zimmern bestehende JNaturai-
wolinung im städtischen Gaswerke.
Der Gehalt für den Werkarzt ist mit 2400 Kronen pro Jahr fest-
b Dem städtischen Gaswerkarzte wird nach einjähriger zufrieden¬
stellender Dienstleistung bei einer eventuellen Bewerbung um eine mi
städtisch-ärztlichen Dienste systemisirte Stelle, falls er den bezüglic ien
Bedingungen entspricht, der Vorzug vor anderen Bewerbern zugesichert.
Bewerber wollen ihre mit dem curriculum vitae belegten Gesuch!
unter Bekanntgabe der Zeit des frühesten Eintrittes bis spätestens
14. März 1900, Mittags 12 Uhr, versiegelt und mit einem entsprechenden
Vo.rmerke versehen, bei der Verwaltungs-Direction der »Gemeinde Wien,
städtische Gaswerke«, I., Doblhoffgasse Nr. 6, 1. Stock einreichen.
Den in Folge der ersten Kundmachung aufgetretenen Bewerbei
steht es frei, ihre Gesuche entweder zurückzuziehen und eventuell nenei
196
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 8
lieh zu überreichen oder aber dieselben auch für diese neuerliche Aus¬
schreibung erliegen zu lassen.
Her Verwaltungs-Director der Gemeinde Wien — städtische Gaswerke:
Wien, am 12. Februar 1900.
Hausarztesstelle in der k. k. Weiber Stafanstalt Wiener-
Neudorf mit der Bestallung jährlicher 1800 Kronen und mit der Ver¬
pflichtung, auch die in der niederüsterreicliischen Zwangsarbeits- und Bes¬
serungsanstalt in Wiener-Neudorf angehaltenen Zwänglinge ärztlich zu be¬
handeln. Bewerber um diese Stelle haben ihre mit den Zeugnissen über den
erlangten medicinischen Doctorgrad und die bisherige ärztliche Verwendung,
dann mit dem Geburts- und Heimatscheine belegten Gesuche bis 25. Fe¬
bruar 1900 bei der Oberstaatsanwaltschaft in Wien einzubringen.
Von der Bibliothek.
Nachstehende Werke wurden seit 1. Februar 1900 (siehe
Nr. 5, 1900 der »Wiener klinischen Wochenschrift«) von
dem Gefertigten für die Bibliothek der k. k. Gesellschaft
der Aerzte in Empfang genommen:
KTr. 8.
Geschenke :
Specielle Pathologie und Therapie. Herausgegeben von Hofrath Noth¬
nagel:
Bd. V, 4. Theil: Müller H. F. und R. Pöch, Die Pest. Wien
1900. 8°.
Bd. XXIV, Heft 1: J arisch A., Hautkrankheiten. Wien 1900. 8°.
Von Herrn Hofrath Prof. R. C h r o b a k.
Proksch J. K., Die Literatur über die venerischen Krankheiten. Supplement¬
band I. Bonn 1900. 8°. Vom Autor.
Veröffentlichungen des Centralverbandes der Baineologen Oesterreichs.
Bericht über den ersten Congress. Wien 1900. 8°. Vom Centralver¬
band der Baineologen Oesterreichs.
Celli Angelo, Die Malaria nach den neuesten Forschungen. Uebersetzt von
Dr. F r i t z Kerschbaume r. Berlin und Wien 1900. 8°. (Separat¬
abdruck.) Von Herrn Dr. F. Kerschbaume r.
Glax Julius, Lehrbuch der Balneotherapie. Stuttgart 1897 — 1900 8°. 2 Bde.
Vom Autor.
Norges officielle Statistik. Tredie Raekke Nr. 327. (Rapport sur l’etat
sanitaire et medical pour l’annee 1897.) Kristiania 1900. 8°. Von der
Direction für Medicinalwesen.
Ziemann Hans, Ueber Malaria- und andere Blutparasiten. Jena 1898. 8°.
Von Herrn Docenten Dr. J. Mannaberg.
Sbornik Klinicky casopis pro pestoväni veidy lekafske. (Archives Bohemes
de Medecine Clinique.) V Praze 1899. Tom 1/1-4.
Transactions of the American Pediatric Society. Tenth Session. New
Yoik 1898. 8°. Von Herrn Dr. L. Unger.
*
Von der Iteriaction der Wiener Klin. Wochenschrift :
Annales de la Societe Royale des Sciences medicales et naturelles de Bru¬
xelles. Bruxelles 1899. 8Ü. Tom. VIII. Complet.
Archivio di Ortopedia. Milano 1899, Nr. 1 — 3.
Bulletins et Memoires da la Societe anatomique. Paris 1899. 8°. (Jan¬
vier — Juillet )
La France Medical. Paris 1899. Complet.
Journal medical de Bruxelles. Bruxelles 1899.
Revue General de Clinique et de Therapeutique. Journal des Praticiens.
Paris 1899.
The American Practitioner and News. Louisville 1899, II. Complet.
Przeglad Chirurgiczny. Warszawa 1899. Tom. IV 1, 2.
Zeitschrift für Elektrotherapie und ärztliche Elektrotechnik. Koblenz und
Leipzig 1899, Heft 1—4.
Schweizer Archiv für Thierheilkunde. Zürich 1899. Complet.
Rivista mensile di Psichiatria Forense, Antropologia Criminale. Napoli 1899.
Complet.
Le Scalpel. Journal hebdomadaire. Liege 1898/99. Complet.
*
Neue Tauschexemplare:
Reichs-Medicinal-Anzeiger. Leipzig 1900 ff.
Der Kinderarzt. Leipzig 1900 ff.
Der Frauenarzt. Leipzig 1900 ff.
The Medical Chronicle. A monthly Record of the Progress of Medical
Science. Manchester 1900 ff.
Gazzetta Internazionale di medicina pratica. Napoli 1900 ff.
Deutsche Praxis. (Zeitschrift für deutsche Aerzte, speciell im Auslande.)
München 1900 ff.
Annals of Ophthalmology. A quarterly journal and Review of ophthalmic
science. St. Louis Mo. 1900 ff.
*
An gekauft:
Congres de Chirurgie. Treizifeme S. Paris 1899 ff.
Lehrbuch der allgemeinen Therapie und der therapeutischen Methodik.
Herausgegeben von Prof, Dr. A. Eulenburg und Prof. Dr. Sa¬
muel. Berlin und Wien U97 — 1899. 8°. 3 Bde.
Bendix Bernhard, Lehrbuch der Kinderheilkunde. Zweite Auflage von weil.
Uffelman n’s kurz gefasstem Handbuch der Kinderheilkunde.
Berlin und Wien 1899. 8°.
Dragendorff Georg, Die Heilpflanzen der verschiedenen Völker und Zeiten.
Stuttgart 1898. 8°.
Loeb Jacques, Einleitung in die vergleichende Gehirnphysiologie und ver¬
gleichende Psychologie. Leipzig 1899. 8°.
Sammlung klinischer Abhandlungen über Pathologie und Therapie der
Stoffwechsel- und Ernährungsstörungen. Herausgegeben von Prof.
Dr. Karl v. Noordei. Berlin 1900. 8°.
Mittheilungen und Verhandlungen der internationalen wissenschaftlichen
Lepra Conferenz zu Berlin im October 1897. Berlin 1897. 8°. Drei
Theile.
Wien, im Februar 1900. Unger.
Bei der Redaction eingelangte Bücher.
(Mit Vorbehalt weiterer Besprechung.)
Biedert, Die Versuchsanstalt für Ernährung, eine wissenschaftliche, staat¬
liche und humanitäre Nothwendigkeit. Seitz & Schauer, München
1899. 16 S.
Nohiling, Ueber die Entwicklung einzelner Verknöclierungskerue in un¬
reifen und reifen Früchten. Ibidem. 9 S%
Schaeffer, Die Prophylaxe bei Frauenkrankheiten. Ibidem. 45 S. Preis
M 1.50.
Hacker V., Die geschichtliche Entwicklung der Chirurgie. Wagner, Inns¬
bruck 1899. (Inaugurationsrede.)
Rothschild, Die Sternalwinkel in anatomischer, physiologischer und patho¬
logischer Hinsicht. Alt, Frankfurt a. M. 1900. Preis M. 2.60.
Grossmann, Ueber Gangrän bei Diabetes mellitus. Hirschwald, Berlin 1900.
134 S.
Blau. Encyklopädie der Ohrenheilkunde. Vogel, Leipzig. Preis M. 20.
Baumgarten und Tangl. Jahresbericht über die Fortschritte in der Lehre
von den pathogenen Mikroorganismen. 14. Jahrgang (1898), 1. Ab¬
theilung. Bruhn, Braunschweig 1899. Preis M. 10. — .
Müller und Pöch, Die Pest. (Specielle Pathologie und Therapie, heraus¬
gegeben von Hofrath Nothnagel.) Holder, Wien 1900. Preis
M. 8.40.
Jarisch. Hautkrankheiten (1. Hälfte). Ibidem. Preis M. 10. — .
Windscheid. Pathologie und Therapie der Erkrankungen des peripherischen
Nervensystems. Naumann, Leipzig. Preis M. 2.50.
Beier, Die Untersuchung des Harns. Ibidem. Preis M. 2. — .
Schelenz. Frauen im Raiche Aesculaps. Günther, Leipzig.
Hoffa, Die Osteotomie bei der Behandlung der Hüftgelenksdeformitäten.
Stüber, Würzburg 1899. Preis M. 2. — .
Koelliker. Neue Beobachtungen zur Anatomie des Chiasma opticum. Ibidem.
Preis M. l.?0.
Sendziak. Ueber rheumatische Affectionen des Pharynx, des Larynx und
der Nase. Fischer, Jena. Preis M. 0 60.
Kraepelin, Die psychiatrischen Aufgaben des Staates. Fischer, Jena. Preis
M. .
Bloch. Die Ohrenheilkunde im Kreise der medicinischen Wissenschaften.
Ibidem. 16 S.
Gump recht, Die Technik der speciellen Therapie. Ibidem. 2. Auflage.
Preis M. 7. — .
Schleich, Neue Methoden der Wundheilung. 2. Auflage. Springer, Berlin.
Preis M. 7. — .
Schmidt, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Arztes für verletzende
Eingriffe. Fischer, Jena. 60 S.
Hoffa, Die Orthopädie im Dienste der Nervenheilkunde. Fischer, Jena.
Preis M. 4. — .
Noorden v., Ueber die ludicationer. der Entfettungscuren. Hirschwald,
Berlin. 27 S.
Ktilme, Die deutsche Medicin in Theorie und Praxis. Appelhaus, Braun¬
schweig. 103 S.
Hensclien, Mittheilungen aus der medicinischen Klinik zu Upsala. Fischer,
Jena. 312 S.
Kaufmann, Die Entschädigung der Unterleibsbrüche in der staatlichen
Unfallvei Sicherung. Deuticke, Wien. 47 S.
Brandenburg, Ueber Lidgangrän. Marhold, Halle 1899. Preis M. 1. — .
Vossius, Ueber die Vererbung von Augenleiden. Ibidem. 1900. Preis
M. 1. — .
EINBANDDECKEN
in Leinwand mit Goldpressung zum XII. Jahrgang (1899)
stehen den P. T. Abonnenten zum Preise von 2 Kronen,
bei directem Postbezüge von 2 Kronen 72 Heller zur
Verfügung. — Zu gleichen Bedingungen sind ferner noch
Einbanddecken zum VI. bis XI. Jahrgang (1893 — 1898) zu
haben. — Ich bitte um baldgefällige geschätzte Aufträge.
Hochachtungsvoll
WILHELM BRAUMÜLLER
k. u. k. Hof- und Universitätsbuchhändler.
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
197
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Oongressberichte.
INHALT:
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung' vom 16. Februar 1900.
Wiener laryngologisclie Gesellschaft. Sitzung vom 1. Februar 1900.
71 Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in München.
Vom 17.— 22. September 1899. (Fortsetzung.)
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
Sitzung vom 16. Februar 1900.
Vorsitzender: Prof. Dr. Julius Mautlmer.
Schriftführer: Dr. H. Ludwig.
Der Schriftführer verliest folgende an das Secretariat eingelangte
Erklärung :
Hochgeehrter Herr Professor!
Da ich verhindert war, der letzten Sitzung der Gesellschaft der
Aerzte beizuwohnen und mir auch die Theilnahme an der nächsten
Sitzung nicht möglich ist, so ersuche ich feie höflichst, zui Aufkläiung
von Missverständnissen folgende Bemerkungen zum Protokoll in dei
nächsten Sitzung zur Verlesung bringen zu wollen..
Herr Privatdocent Dr. Hermann Schlesinger bat in der
letzten Sitzung der Gesellschaft der Aerzte am 9. d. M. an seine
Demonstration eines Falles von Syringomyelie einige Bemerkungen
über die eigenartige Ausbreitung der Sensibilitätsstörung im Gesichte
und ihr Verhältniss zur Verbreitung der peripherischen sensiblen Trige¬
minusäste geknüpft und sich hiebei auf seine eigene, am 27. Januar 1899
in der Gesellschaft der Aerzte erstattete Mittheilung, sowie auf meine
im Herbst 1899 in den „Jahrbüchern für Psychiatrie und Neurologie“
(Bd. XVIII, pag. 458) erschienene Publication bezogen.
Herr Dr. Schlesinger hat in dieser Bemerkung seine Priori¬
tät an einer „Schlussfolgerung“ hervorgehoben, die in einigen wenigen
Zeilen meiner citirten Publication enthalten ist (1. c. pag. 468, zweiter
Absätz^*
Es handelt sich hiebei in meiner Publication um eine so nahe¬
liegende und selbstverständliche Conclusion, dass sie wohl Jeder, dei
die von mir mitgetheilten Befunde erfährt, selbst gemacht haben würde.
Ich mache die von Herrn Dr. Schlesinger betonte Priorität in
der Mittheilung dieser „Schlussfolgerung“ keinesAvegs streitig. .
Da aber die Art der Erwähnung meiner Arbeit bei Nichteinge¬
weihten die Meinung erwecken konnte und thatsächlich auch erweckt
hat als ob meine Untersuchungen, aus denen sich jene Schlussfolgerung
von selbst ergibt, aus derZeit nach der erwähnten Mittheilung Herrn
Dr. Schlesinger’s stammen würden, so sehe ich mich genöthigt,
zur Aufklärung der chronologischen Verhältnisse darauf hinzuweisen,
dass ich alles Wesentliche meiner Publication bereits am 15. Juni 1897,
also I1/, Jahre vor Herrn Dr. Schlesinger’s e r s t e r Mit-
tlieilung über diese Frage, in einer Demonstration im Ver¬
eine für Psychiatrie und Neurologie in Wien mitgetheilt habe.
Da Herr Dr. Schlesinger für das „Neurologische Central¬
blatt“ ein Referat über meine Demonstration geliefert hat, konnte ihm
diese Thatsache nicht unbekannt sein.
Wien, am 11. Februar 1900. „ , .
Dr. Friedrich v Sölder.
Primarius Dr. F. Hansy (Baden) : Pylorusstenose bei
einem elfjährigen Knaben. (Erscheint demnächst aus¬
führlich.) , .
Prof. Dr. R- Paltauf stellt einen Kranken aus der Abtheilung
des Herrn Primarius E. Bamberger (k. k. Krankenanstalt B^udolf'
Stiftung“) vor, der auch von Prof. Bergmeister beobac e
worden ist. Der 22jährige Mann hat zahlreiche erbsen- bis lurschkein-
und bohnengrosse Tumoren in der Haut und namentlich in der us-
culatur (Arme, Beine), hat auch eine eigenthümliche Iritis mit Knotchen-
bildung überstanden. Die mikroskopische Untersuchung ergab ein aus
Knötchen aufgebautes Granulationsgewebe; die Knötchen bestehen aus
epitheloiden Zellen, haben insoferne viel Aehnlichkeit mit Tuberkel-
Knötchen, unterscheiden sich jedoch durch das Fehlen retrograde!
Metamorphosen und durch reichliche Vascularisation von solchen, en -
sprechen somit sehr den Fremdkörpertuberkeln; auch ergab weder die
Untersuchung noch die Verimpfung des Gewebes an Thieren Tuber
bacillen. Weder die mikroskopische Untersuchung noch die verse ie-
densten Culturversuche konnten den mit Nothwendigkeit anzunehmenden
organisirten Krankheitserreger erweisen, was bei dem fast D/ajahngen
Bestände des Leidens auch durch ein, eventuell spärliches Vorkommen,
stellenweise vielleicht auch Abgestorbensein desselben erklärt werden
könnte. Der Kranke hat auch Veränderungen an den inneren Organen,
Hüsteln, rechtsseitige Spitzendämpfung (keine Tuberkelbacillen im Aus¬
wurfe) vergrösserte, tastbare Milz, Albuminurie, leichte Temperatur¬
steigerungen. (Erscheint ausführlich in dieser Zeitschrift.)
Docent Dr. König st ein: Ich habe den Fall ein ganzes Jahr
lang beobachtet, und kann nur bestätigen, was schon Pal tauf
gesagt hat, dass der Fall ganz unklar geblieben ist. Nach Aus¬
schliessung von Lues hielt ich den Fall für Tuberculose, schickte ihn
in die Klinik Nothnagel, wo man keine Spur von Tuberculose
fand. Von mir wurde der Patient in erholtem Zustande bei normaler
Sehschärfe entlassen; damals waren noch keine Knötchen in der Iris.
Prof. Dr. R. Pal tauf bemerkt auf einige private Anfragen,
dass der Blutbefund normal sei, grössere Parasiten absolut auszu-
schliessen, auch solche aus der Gruppe der Sporozoen höchst unwahr¬
scheinlich seien, eher könnte an Sprosspilze gedacht werden.
Hofrath E. Fuchs erwähnt eines von Mo e 1 1 e r histologisch
untersuchten Falles seiner Klinik. Es handelt sich um einen Augen¬
lidtumor, welcher exstirpirt wurde, nicht recidivirte. Der histologische
Befund ist ganz ähnlich dem vorliegenden, der klinische Verlauf aller¬
dings ganz abweichend.
Prof. Dr. R. P a 1 1 a u f : Bezüglich des von Hofratli 4 u c h s
angeführten Tumors sei zu erinnern, dass an einer von Aussen zu¬
gänglichen Stelle bei derartigen Geschwülsten immer an Fremdkörper
zu denken sei; solche Geschwülste kommen ausser an der Conjunctiva
auch am Ohrläppchen (Ohrgehänge) vor und können hier wie eine
ihm bekannte von Prof. Riehl gemachte Beobachtung lehren, viele
Jahre, ja Decennien bestehen. . .
Prof. Dr. R- Paltauf demonstrirt ferner ein Carcinom a e r
Flexura sigmoidea von einem zwölfjährigen M ä ei¬
chen, das bis auf den Tag vor seinem Tode sich eigentlich wohl
befunden und rasch unter den Erscheinungen der inneren Einklemmung
im Kronprinz Rudolf-Spitale, wo es wegen Fissura ani in Beobachtung
stand, verstorben war; das stenosirende Carcinom hatte bereits zu
Metastasen in der Leber und im Peritoneum gefühlt.
Unter Berücksichtigung der grossen Statistiken von Gur it
Gasser, Winiwarter, der Sammelstatistik Gusserows und
Anderen über Uteruscarcinom kommen auf circa 10.000 Carcinom falle
19 unter das Alter von 20 Jahren; die Mehrzahl dieser fällt auch
näher an das 20. Jahr. _ ..
Wie überhaupt bei den jugendlichen Carcinomen die des Magen-
Darmcanales die häufigsten sind, so ordnet sich auch dieser im
Kindesalter aufgetretene Fall dem ein; es bestand keine Polypose. Die
histologische Untersuchung ergab einen Cylinderzellenkrebs.
Prof. Dr. R. Paltauf demonstrirt ferner eine Geschwulst,
welche ebenfalls im Kronprinz Rudolf-Kinderspital zur Beobachtung
bekommen, von Primarius Dr. v. Török operirt worden war. Bei
einem 472jährigen Mädchen bestand links von der Wirbelsäule unter
dem Schulterblattwinkel eine fluctuirende Geschwulst; auf der Kuppe
sah man noch die Narbe einer vor l‘/2 Jahren stattgefundenen Er¬
öffnung, bei der eine Rippencaries soll constatirt worden sein. ' s
wurde daher ein kalter Abscess angenommen; bei der Eröffnung ent¬
leerten sich viel krümelige Massen und zur Ueberraschung der Aerz e
auch — Haare. ... ^
Die Untersuchung ergab nun eine grosse Hohle, aus deie
Grund nach Resection von vier Rippen diese Geschwulst entfernt
wurde; gleichzeitig fand sich ein Darmstück, und zwar Dickdarm, so
ähnlich normalem, dass man einen Moment fürchtete, es handle sich
um den Darm des Kindes; leider ist dieses Stück in Verlust geratlien,
ebenso wie Stücke der Sackwandung, die zu entfernen nicht ge ang.
Die aus der Höhle entfernte Geschwulst ist mannsfaustgross, keulen¬
förmig, von 12 cm grösster Länge, bei 8 cm grösster Breite am ko -
bigen, 2V 2 cm am verjüngten Ende und hat einen huhnere.gioss
eystischen Antheil, welcher Operationswundfläche zeigt, wählend 1
übrige keulenförmige Theil von einer kindlichen, mit reichlichem
Schmeer überzogenen Haut bedeckt ist. Auf der Kuppe des kolb.gen
Endes findet sich ferner ein Büschel 20 cm langer . ölender : da¬
neben auf der einen Seite zwei, mit klarer Flüssigkeit ge füllte miss
grosse Cysten, auf der anderen Seite ein lippen- und kie^>* f S
Gebilde von 8 cm Peripherie, welche halbkreisförmig aus
198
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 8
Zahnfleisch überkleideten knollig-höckerigen Knochenmasse und einem
schmalen Lippensaume besteht. Die kieferartige Bildung zeigt vier
Protuberanzen, auf welchen sich Zähne mit abgebrochener Krone linden,
nur an der einen seitlichen ist ein gut entwickelter Schneidezahn zu
erkennen. Im Inneren zeigt die Geschwulst bei 2 cm mächtiges sub-
cutanes Fettgewebe und als Achse, so zu sagen, Knochen mit dazwischen
liegenden knorpeligen Antheilen. Die eigrosse Cyste hat, wie die mikro¬
skopische Untersuchung ergab, eine aus Muskelschichten bestehende
W and mit einer dünnen, von Cylinderepithel überkleideten Schleimhaut.
Die eine der Cysten am kolbigen Ende wurde eröffnet, enthielt
eine hühnereiweissähnliche Flüssigkeit und zeigte in der Wand gliöses
Gewebe und eine^aus theilweise Flimmern tragendem Cylinderepithel
bestehende Auskleidung, die auch nach ihrem sonstigen Verhalten dem
Ependym des Centralcanals zu analogisiren wäre.
Demnach kann es keinem Zweifel unterliegen, dass wir es nicht
mit einem einfachen Dermoid zu thun haben, wie College Doctor
Kretz einmal eines, im Mediastinum gelegen, demonstrirt hat (Deutsche
Zeitschrift. 1893, pag. 8G1), sondern mit einem Teratom, hervorge¬
gangen aus einer zweiten Keimanlage, die, zurückgeblieben, von der
anderen zur Entwicklung gekommene Frucht aufgenommen und ein¬
geschlossen worden ist, einem foetus in foetu. K o 1 i s k o hat ge;
legentlich der Demonstration einer solchen Geschwulst aus der Nieren¬
gegend (Deutsche Zeitschrift. 1890, pag. 388), welche noch mehr
Gesichtbildungen zeigte und einer teratoiden sacralen Cystengeschwulst
(Deutsche Zeitschrift. 1894, pag. 391), die Entstehung dieser Bil¬
dungen hier besprechen, so dass hiemit nur darauf verwiesen sei.
Im demonstrirten Falle ist es nach den Angaben des Operateurs
nicht mit Sicherheit festzustellen, ob die Geschwulst ober oder unter
dem Zwerchfell, das ja durch dieselben hoch hinauf gedrängt sein
könnte, gelegen war; ein wirklich intrathoracisch oberhalb dem
Zwerchfell gelegenes Teratom wäre eine sehr grosse Seltenheit, die
abdominalen und sacralen sind viel häufiger.
Primararzt Dr. Schnitzler demonstrirt einen zehnjährigen Knaben
mit nachfolgender Krankheitsgescbichte.
Vor circa 2V2 Jahren stürzte der Knabe in einem mit Teppich
bespannten Zimmer auf das linke Knie, das bald darauf anschwoll und
schmerzhaft wurde. Im Verlaufe weniger Wochen nahmen Schmerzen
und Schwellung beträchtlich ab, doch blieb eine Gelenkschwellung
irerimren Grades zurück und die im Wohnorte des Patienten consul-
0 o %
tir ten Aerzte diagnosticirten beginnenden Fungus des Knie¬
gelenkes. Der Knabe wurde hierauf nach Wien gebracht und hier
wurde von consultirten Kinderärzten und Chirurgen ebenfalls Knie-
gelonkstuberculose diagnosticirt. Schnitzler sah den
Knaben damals — Ende 1897 — auch, erklärte jedoch die damals
von ihm constatirte, durch Flüssigkeitsansammlung im Kniegelenk
bodingte Schwellung als nicht auf Tuberculose beruhend, sondern als
Residuum des Effectes jenes vor einer Reihe von Wochen stattgefun¬
denen Traumas. Dann sah Schnitzler den Knaben bis in die
letzten Tage nicht mehr, hörte jedoch von Zeit zu Zeit immer wieder,
dass eine ganze Reihe consultirter Chirurgen Kniegelenkstuberculose
diagnosticirt hatten und dass eine Behandlung mit fixirenden Verbänden
durchgeführt wurde. Schliesslich wurde der Knabe nach dem Süden
gesendet. Bei dieser Gelegenheit wurde einer der namhaftesten italieni¬
schen Chirurgen consultirt, der ebenfalls die Diagnose auf K n i e-
gelenksfungus stellte und neuerlich eine Behandlung mit fixiren¬
den Verbänden durchführte. Endlich wurde in den letzten Monaten im
lleimatsorte des Kranken die Behandlung in gleicher Weise durch¬
geführt. Die Mutter des Patienten gibt an, dass der Knabe mit dem
starren Verbände ziemlich gut herumgehen konnte, dass aber nach
Entfernung des Verbandes stets nur kurze Zeit Wohlbefinden, respec¬
tive Functionsfähigkeit des linken Beines bestand, dass aber nach
kurzer Zeit immer wieder rasch einsetzende Schwellung und starke
Schmerzhaftigkeit des Kniegelenkes auftrat, so dass neuerlich Bett¬
ruhe, respective Fixation durch einen Verband angewendet werden
mussten. Schnitzler sah nun vor drei Tagen — circa 2';2 Jahre,
nachdem er ihn zu untersuchen Gelegenheit gehabt hatte — den
Knaben wieder. Er konnte eine nenuenswerthe Atrophie des linken
Beines, eine mässige Einschränkung der Beweglichkeit und einen ganz
geringen Erguss im linken Kniegelenk eonstatiren, sonst war absolut
nichts Abnormes nachweisbar.
Auf Grund des Befundes wie des geschilderten Krankheitsver¬
laufes schloss Schnitzler Fungus wieder aus und nahm an, dass
in einem der knöchernen Gelenkstheile, und zwar dem Gelenke dicht
benachbart, ein Entzündungsherd sitzen müsse, der mitunter latent
werde, mitunter aber entzündliche Reizung des angrenzenden Gelenkes
provocire. Es wäre dies den Fällen von recidivirendem Gelenkshydrops
in Folge kleiner osteomyelitischer Abscesse analog zu setzen, wie sie
Garre u. A. beschrieben haben. Schnitzler veranlasste nun eine
Untersuchung mittelst R öntgen-Stralil e n, die von Dr. K i e il¬
ia ö c k im F ii r t h’s chen S a n a t 0 r i u m durchgeführt wurde und
das Resultat ergab, dass im Knorpelüberzug des äusseren
linken Femur condyls eine circa 2 cm lange Nadel
steckt.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass diese Nadel gelegent¬
lich des erwähnten, die ganze Krankheit einleitenden Falles auf das
Knie in dieses eingedrungen ist. Dass sie dortselbst geblieben und
nicht gewandert ist, mag vielleicht durch die zahllosen seither ange¬
legten fixirenden Verbände begünstigt worden sein.
Die durch die Nadel provocirten Anfälle von Gelenksschwellung
gehören in die Rubrik der von Riedel sogenannten „Perialienitis“,
respective „Perixenitis“, d. h. der Entzündungen um Fremdkörper, die
eben häufig auch ohne Entfernung des Fremdkörpers abklingen, um
nach längerer oder kürzerer Pause wieder zu recidiviren. Selbstver¬
ständlich ist hier die Entfernung der Nadel behufs definitiver Heilung
der Erkrankung indicirt.
Der Vorsitzende verliest folgende Erklärung des Docenten
Dr. Hermann Schlesinger:
Hochgeehrte Versammlung!
Mit Rücksicht auf die heutige Erklärung Dr. v. Sölde r’s hebe
ich nachdrücklich Folgendes hervor: Die seiuerzeitige Demonstration
Dr. v. Solder’s im Vereine für Psychiatrie war mir nur aus dem
officiellen Protokolle dieses Vereines bekannt. In derselben ist die
von mir reclamirte Schlussfolgerung nicht enthalten und habe ich
sie bei meinem im Januar 1899 in der Gesellschaft der Aerzte ge¬
haltenen Vortrage hervorgehoben, weil sie bis dahin nicht ausge¬
sprochen, respective publicirt worden war. Mieh freut es, dass Doctor
v. Solder meine Conclusion als selbstverständlich bezeichnet, zumal
auch andere Deutungen der von v. S ö 1 d e r und mir erhobenen Be¬
funde möglich erschienen. Ich stelle fest, dass ich in meinem vor¬
jährigen Vortrage ausdrücklich auf die Demonstration v. Solder’s
verwiesen habe, deren wissenschaftlichen Werth ich auch ohne Kennt-
niss der Ende 1899 erfolgten ausführlichen Publication hoch anschlug,
was mein ausführliches Referat im Neurologischen Centralblatte
beweist.
Dr. Offer theilt einen Stoffwechselversuch mit.
Um die Relation zwischen Nuclein der Nahrung und den im
Harne zur Ausscheidung gelangenden Alloxurkörpern (Harnsäure und
Xanthinbasen) festzustellen, wurde zuerst in einer nucleinfreien Vor¬
periode die Ausscheidungsgrösse jener Alloxurkörper bestimmt, wrelche
den Nucleinen des Organismus entstammen. In der darauffolgenden
Periode wurde zu derselben Nahrung nuoleinsaures Natrium (5 g) hin¬
zugefügt. In der nucleinfreien Periode sank die Alloxurkörperaus-
scheidung bedeutend herab; die bei gemischter Kost im Harne befind¬
lichen Xanthinbasen verschwanden aus demselben.
Das Verhältniss des Alloxurkörperstickstoffes zu Gesammtstick-
stofif betrug 1 : 142 — 143, während es bei gemischter Kost 1 : 47‘5 war.
In der Periode, in welcher nucleinsaures Natrium (5 cj ) der
Nahrung der früheren Periode hinzugefügt wurde, stieg die Menge
der Alloxurkörper ; es traten wieder Xanthinbasen neben Harnsäure
auf. Das Verhältniss des Alloxurkö’perstückstofts zum Gesammtstick-
stoff betrug 1 : 88.
Von dem eingeführten Nucleinstickstoff gelangt nur ein geringer
Theil als Alloxurkörperstickstoff im Harne wieder zur Ausscheidung.
Die Relation zwischen eingeführtem Nucleinstickstoff und ausge¬
schiedenem Alloxurkörperstickstotf ist 021 (gleich den Befunden
W eintrau d’s).
Discussion zum Vortrage Herzfeld's:
Docent Dr. J. Tandler: Meine Herren! Seit einer Reihe von
Jahren mit dem Studium der Bauchhöhlentopographie, vor Allem der
Mesenterialverhältnisse beschäftigt, habe ich mit einem besonderen
Interesse auch die sogenannten pathologischen Darmdislocationen, vor
Allem die Publicationen über die Enteroptose studirt und hiebei selbst¬
verständlich nur den in den verschiedenen Arbeiten enthaltenen ana¬
tomischen Auseinandersetzungen meine specielle Aufmerksamkeit ge¬
schenkt. Der Vortrag des Herrn Docenten Dr. Herz fei d gibt mir
daher willkommene Gelegenheit, Sie in Kurzem mit den mir hiebei
aufstossenden Bedenken vertraut zu machen. Es soll sich meine Aus¬
führung demnach einerseits mit dem Vortrage Herzfeld’s, anderer¬
seits, so weit dies hier möglich, mit den anatomischen Ansichten der
übrigen, meist bestbekannten Autoren beschäftigen.
Herzfeld äusserte sich in dem citirten Vortrage, wenn mich
meine Erinnerung nicht trügt, beiläufig folgendermassen über die
Fixation der Leber: Die Leber wird in ihrer normalen Lage haupt¬
sächlich dadurch erhalten, dass sie dem darunter gelegenen Darm-
convolut aufliegt, da die bekannten Fixationsapparate für das Fest¬
balten der Leber nicht genügen. Nun das ist, meine Herren, nicht
richtig. Wir kennen zwei Fixationsapparate für das F'esthalten der
Leber. 1. Ihre Verwachsung mit dem Zwechfell, 2. ihre Verwachsung
mit der Vena cava inferior. Während die erste Befestigungsform all¬
gemein bekannt ist, wird der zweite Fixationsmodus vielfach vernach¬
lässigt. Wenn man an einer Leiche die Bauchhöhle öffnet, so rückt
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
199
meistens die Leber mit ihrem scharfen Rande sofort nach der Eröffnung
um ein weniges caudalwärts. Ich glaube, dass dies damit zusammen¬
hängt, dass zwischen vordere Leberfläche und Zwerchfell Luft eintritt,
denn es dürfte auch die Adhärenz dieser beiden glatten feuchten
Flächen ein Geringes zur Fixation der Leber beitragen. Löst mau nun
die Verwachsung der Leber mit dem Zwerchfell, was natürlich bei
vollkommen intacter Brusthöhle geschehen muss, so bleibt die Leber
in situ, sie wird eben durch die im Foramen quadrilaterum wohl be¬
festigte Vena cava gehalten. Schneidet man nun auch die Hohlvene
durch, so fällt die Leber herunter. Man kann natürlich den Versuch
auch umkehren. Ich habe den Versuch einige Male durchgeführt, die
Topik der Leber ändert sich nicht merklich, auch bei aufgerichteter
Leiche.
Herzfeld scheint ferner, wenn ich seine Ausführungen richtig
verstanden habe, von der Meinung auszugehen, dass die einzelnen
Darmwände, wenn sich der Abdominalraum bei Hängebauch ver-
grössert, von einander rücken, so dass zwischen den Darmabschnitten
ein freier Raum bleibt. Nun das ist natürlich eine irrige Vorstellung.
Die Ausführungen H e r z f e 1 d’s über Symptomatologie und Therapie
der Enteroptose entziehen sich selbstredend meiner Beurtheilung.
Wenden wir uns nun zu den übrigen Autoren. Die Literatur
über die Enteroptose ist ins Ungeheure angewachsen. So zähle ich
z. B. in der im Jahre 1899 erschienenen Arbeit von W o 1 k o w und
D e 1 i t z i n über die Wanderniere — und diese wird ja von den
meisten Autoren als ein Theil der Enteroptose angesehen nicht
weuiger als 3 IG Autoren mit 3G4 Arbeiten. Ich glaube, dass schon
die Grösse der Literatur ein schlagender Beweis ist für die Ungenauigkeit
der Ansichten über die Enteroptose und für die Divergenz der
Meinungen.
Auch die Statistik über das Vorkommen der Enteroptose zeigt
manche Eigenthümlichkeit. Vor Allem die Häufigkeit der Enteroptose.
Bedenken Sie doch, dass z. B. Stiller in Pest nach seiner eigenen
Angabe jährlich unter 1000 Darmleidenden 700 — 800 Enteroptotiker
sieht. Auch andere Kliniker behaupten, dass die Enteroptose zu den
gewöhnlichen Krankheiten gehört. Ich muss sagen, ein mit den
sonstigen Verhältnissen nicht Vertrauter könnte die Enteroptose fast
für eine acute Infectionskrankheit halten.
Ich glaube nun, dass sehr viele Autoren nicht oder zu wenig
bewandert sind in der Erkenntniss der individuellen Varianten der
Mesenterien. Ich bitte, nicht darauf zu vergessen, dass man ja fast nie
zwei einander gleichende Bauchhöhlen findet, dass ja, fast so wie das
Gesicht eines jeden Menschen sein individuelles Gepräge trägt, dies
auch bei der Topik der Baucheingeweide der Fall ist.
Sagt ja schon Virchow, dass viel mehr Menschen von Dis-
locationen ihrer Baucheingeweide beti offen werden, als normale Lage
der Eingeweide besitzen. Es ist klar, dass das nicht nur pathologische
Dislocationen, sondern einfache Mesenterialvarietäten sind, wie wir sie
im Secirsaal täglich zu sehen gewöhnt sind.
Untersucht man die statistischen Zahlen bezüglich der \ ei-
theilung der Enteroptose nach dem Geschlecht, findet man ebenfalls
eine bedeutende Divergenz der Ansichten. Während die meisten
Autoren von einer ganz bedeutenden Ueberzahl von enteroptotischen
Frauen sprechen — nach manchen Autoren 95% Frauen, 5% Männer
— behaupten andere, dass das weibliche Geschlecht diesbezüglich nicht
so besonders bevorzugt erscheint. Stiller schätzt die Differenz sehr
gering. Aehnliche Differenzen liessen sich auch bezüglich des Alters,
oder bezüglich der von den Frauen durchgemachten Entbindungen
constatiren, kurz, was auf Grundlage der Statistik von der einen Seite
behauptet wird, wird von der anderen Seite durch dieselbe Wissen¬
schaft widerlegt.
Noch viel trauriger sieht es mit der Aetiologie der Enteroptose
aus. Hier wird vielfach Prädisposition und Veranlassung nicht scharf
genug geschieden. Der Curiosität halber habe ich alle mir im Laute
des Literaturstudiums unterkommenden ätiologischen Momente, ohne
Unterschied zwischen causa morbi oder Prädisposition gesammelt und
führe diese 36 Punkte, ohne sie irgendwie geordnet zu haben, nach¬
folgend hier an :
1. Hängebauch. 2. Hereditär-enteroptotische Belastung. 3. Corset.
4. Chlorose. 5. Nervöse Dyspepsie. 6. Hohe Schuhabsätze. 7. Peri-
tonitische Verwachsungen. 8. Kummer. 9. Entbehrung. 10. Ueber-
arbeitung. 11. Ausschweifung. 12. Erworbene Anämie. 13. Neur-
asthenische Dyspepsie. 14. Abmagerung. 15. Erschlaffungszustände der
Bauch wand. IG. Durch Arbeit erhöhter intrathorakaler Druck.
17. Laparotomie. 18. Exstirpation von Tumoren. 19. Zug der Flexuia
coli dextra. 20. Menstruation. 21. Klimakterium. 22. Genitalerki an»
klingen. 23, Prolapsus uteri. 24. Prolapsus vaginae. 25. Zug aut den
Ureter. 26. Parametrane Abscesse. 27. Carcinoma uteri. 28. Ante-
flexio uteri. 29. C r e d e’scher Handgriff (schlecht ausgeführt). 30. Peri¬
typhlitis. 31. Masturbation. 32. Vermehrung des Gewichtes der Nicie.
33. Tumoren benachbarter Organe. 34. Traumen. 35. Knochon-
deformitäten. 3G. Congenital-Enteroptose.
Ein Autor geht sogar so weit, die Enteroptose als eine er¬
worbene weibliche Geschlechtseigenthümliehkeit anzusehen. Ich mims
sagen, dass dies in der Interpretation der Descendens-Theorie doch
ein wenig zu weit gegangen ist.
Sie sehen, meine Herren, wie polymorph die Aetiologie der
Enteroptose ist.
Manche dieser Punkte werden hiebei mit bedeutender Hart¬
näckigkeit angegriffen, respective vertheidigt. Während z. B. Glenard
und seine Schule die Enteroptose für einen absolut erworbenen Process
ansehen, legen Stiller und seine Anhänger das Hauptgewicht auf
die congenitale Veranlagung.
Wodurch ist nun die fast selten gewordene normale Lage
unseres Darmes bedingt? Man sagt im Allgemeinen: durch die Mesen¬
terien und durch den sogenannten intraabdominellen Druck. Auf
letzteren werden wir noch später zurückkommen. Was die Fixation
durch die Mesenterien anbelangt, ist Folgendes zu sagen : Nur dort,
wo die Mesenterien den Process der sogenannten secundären Ver-
löthung im Embryonalleben durchmachen, kann von einer Fixation
durch diese die Rede sein; z. B. am Duodenum, an der Milz, am
Colon ascendens oder descendens. Doch wissen wir, dass dieser secun-
däre Verlöthungsprocess graduell bei den einzelnen Individuen sehr
variirt, ja manchmal theilweise oder ganz ausbleibt.
Ich habe diese sich dadurch ergebenden Mesenterialvarietäten
seinerzeit hier ausführlich zu besprechen die Ehre gehabt. Wenn
z. B. bei einem Individuum die Verlötliung seines axialen Meso-
gastriums ausbleibt, so hat es natürlich eine Wandermilz, das aber
ist doch gewiss kein pathologisches Vorkommniss.
Für die Fixation der Darmschlingen mit sogenanntem freiem
Gekröse kommt das Mesenterium selbst fast gar nicht in Betracht.
Wenn man bei eröft'neter Bauchhöhle eine solche Schlinge aufhebt,
mit ihrem Gekröse als Radius einen Halbkreis beschreibt, so sieht
man, dass der Contour dieses Bogens fast immer über die vordere
Bauchlinie hinausreicht, es ist also meistens das Mesenterium länger
als der dem dazugehörigen Darme gestattete freie Spielraum der
Bauchhöhle.
Bezüglich des sogenannten „intraabdominellen Druckes“ gehen
die Meinungen der Autoren ebenfalls sehr auseinander. Nach den einen
ist er positiv, nach den anderen negativ, manche leugnen ihn ganz.
Man hat ihn auch vielfach in eine Reihe von Componenten zerlegt
und ihn gemessen. Ich kann diese mehr physikalische Frage nur vom
anatomischen Standpunkte beurtheilen und mich im grossen Ganzen
den Ansichten des Anatomen Braune anschliessen. Braune leugnet
einen unter normalen Umständen vorkommenden positiven Druck auf
Grundlage seiner Untersuchungen über die Oberschenkelvene des Men¬
schen. Er folgert aus dem negativen Druck in derselben auch auf
dasselbe Verliältniss in der Bauchhöhle, da sonst die untere Hohlvene
comprimirt würde. Ihm schloss sich auch Weisker, jüngst W olkow
Delitzin und Bü ding er an, die Alle den Ausdruck „intra¬
abdomineller Druck“ vollkommen fallen gelassen wissen wollen. Nur
während der Action der Bauchpresse existirt ein intraabdomi¬
neller Druck.
Man hat den Druck auch gemessen, und zwar entweder ira
Rectum oder im Magen. Doch scheinen mir diese Resultate nicht ein¬
wandfrei, da ja schon auf den Reiz des eingeführten Instrumentes hin
eine Contraction der betreffenden Darmmusculatur und damit ein höherer
Ausschlag des Manometers erfolgen dürfte.
Ich glaube nun ebenfalls, dass unter normalen Umständen von
einem intraabdominellen Drucke nicht die Rede sein könne und stelle
mir die Fixation der Baucheingeweide, wie folgt, vor. Secundäre Ver-
löthung, Elasticität, sowie Tonus der Bauchwandmusculatur im Vereine
mit der Adhäsion der einzelnen Contenta untereinander lassen den
Darm innerhalb des abgeschlossenen luftleeren Bauchhöhlenraumes
schwerlos suspendirt erscheinen, so dass wir einer factisch positiven
Arbeitsleistung beim Tragen unserer Peritonealcontenta nicht bediiifen,
so ähnlich, wie für uns z. B. auch unsere untere Extremität schwer¬
los pendelt.
Innerhalb des so abgeschlossenen Bauchraumes können aber die
einzelnen Darmabschnitte noch immer der Schwere folgen, wie wir
das am S romanum oder am freien Coecum regelmässig sehen.
Auch die Breite der Mesenterien ist individuell sehr verschieden;
auch von diesem Factor wird die Freiheit des zugehörigen Darmstückes
abhängen.
Vergleicht man nun mit den Zahlen, die am Lebenden gewonnen
sind, die Leichenbefunde, so ist die Seltenheit der in cadavere ge¬
fundenen Enteroptosen höchst auffällig. Bei dem doch immerhin be¬
deutenden Leichenmateriale, das mir zur Verfügung stebt, gehört die
Enteroptose zu den seltenen Erscheinungen, während isolirte, also tur
sich allein vorkommende Wanderniere viel häufiger ist. Auch m< in
Clief, Herr Ilofrath Zucker kan dl, hält bei seiner gewiss kolos¬
salen Erfahrung die Enteroptose in cadavere für eine sehr seltene
Erscheinung.
200
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 8
Wir bekommen allerdings nur die Leichen der Armen, aber ich
habe in keiner Statistik gelesen, dass diese von der Enteroptose theil-
weise oder gar ganz verschont blieben.
Eine Thatsache finde ich auch merkwürdig in der ganzen Lite¬
ratur über Enteroptose, und das ist der fast vollständige Mangel ge¬
nauer Sectionsprotokolle. Das Verhalten der secundären Fixationen,
die genauen Masse der Mesenterien, die Lage und Fixationsweise des
Duodenums, das Verhalten der Recessusse wäre doch erwähnenswerth
gewesen. Ebenso ist nirgends, meines Wissens, das Verhältniss der
Cardia zum Hiatus oesophagus des Diaphragmas studirt worden;
ist bei der Enteroptose das Verhältniss zwischen Diaphragma und
Oesophagus geändert oder nicht? Keiner von den Autoren ist eigent¬
lich dieser Sache irgendwie nachgegangen.
Ich kann mich in der kurzen Spanne Zeit, die mir hier zur
Verfügung steht, nicht auf Einzelheiten einlassen, möchte aber doch
einige Punkte kurz hervorheben.
G 1 e n a r d zum Beispiel geht von der Ansicht aus, dass die
abwärtsrückende Flexura coli die rechte dahinter gelegene Niere mit¬
ziehe. Dem gegenüber ist zu erwähnen: In einer grossen Anzahl von
Fällen liegt die Flexur, die überhaupt einen sehr Varianten Punkt der
Eingeweidetopik vorstellt, viel tiefer, als landläufig angegeben wird.
Zieht man aber an der normal gelegenen Flexura coli, so sieht man,
dass die Niere von diesem Zuge überhaupt nicht betroffen wird.
Ein anderer Punkt wäre die sogenannte Wanderleber. Ich muss
gestehen, dass ich an diese Erscheinung überhaupt nicht recht glauben
kann. Man könnte ja von einer Wanderleber nur dann reden, wenn
das Zwerchfell an normaler Stelle bliebe, während die Leber abwärts
steigt. Denn ginge das Zwerchfell mit, dann haben wir nur einen
Tiefstand des Diaphragmas und keine Wanderleber vor uns. Es müsste
also bei einer echten Wanderleber die Verbindung der Leber mit dem
Zwerchfell gelockert, respective verlängert werden. Hiebei käme es
sofort zur Zerrung, ja sogar zur partiellen Abknickung der in der
Leber gelegenen Vena cava inferior, eine Thatsache, die symptomatisch
für das betroffene Individuum von Bedeutung wäre.
Obwohl ich mich nur vom anatomischen Standpunkte mit der
Enteroptose beschäftigt habe, kann ich nicht umhin, hier einen Punkt
aus der Symptomatologie dieser Erkrankung anzuführen, ich meine das
von Stiller so benannte Stigma der Enteroptose, die Costa fluc-
tuans decima.
Des besseren Verständnisses halber seien hier die wichtigsten
Stellen seiner einschlägigen Arbeiten citirt:
Stiller B., Ueber Enteroptose im Lichte eines
n euen Stigma neurasthenicum. (Archiv für V erdauungskrank-
heiten. 2.) :
„Nun aber bin ich in der Lage, einen Schritt weiter zu gehen.
Ich verfolge nämlich seit etwa fünf Jahren ein Symptom, welches
gerade in den markantesten Fällen von enteroptotischer Neurasthenie
vorhanden ist, welches uns daher als unumstösslicher Beweis dient,
dass der ganze Complex der Krankheit auf angeborener Grundlage
beruhen muss.
. . . Diese pathologische Costa fluctuans decima erschien
mir nach längerer reichlicherer Beobachtung als ein wahres Stigma
neurasthenicum oder enteroptoticum.
Ein Griff an die Spitze der zehnten Rippe, und wenn sie mobil
ist, so bin ich dessen fast gewiss, dass auch bewegliche Niere und
ein atonisch dilatirter Magen vorhanden sein müssen. Freilich nicht
umgekehrt, nicht bei jeder Enteroptose fand ich auch die bewegliche
Rippe, aber bei prononcirten Fällen fast immer. Ich glaube sogar
behaupten zu können, dass der Grad d.er Beweglichkeit der
Rippe auf den Grad der Enteroptose und noch
sicherer auf den der Neurasthenie schliessen
lässt. . . .
Ich habe bei Kindern Wanderniere mit oder ohne Costa fluctuans
gefunden, habe aber häufiger die bewegliche Rippe mit dem dazu
gehörigen gracilen Habitus, aber ohne Wanderniere und Magen¬
erweiterung beobachtet. Es ist für mich keine Frage, dass die letzteren
dadurch als künftige Neurastheniker und Enteroptotiker stig-
matisirt sind, und dass sie nur auf die Schädlichkeiten des Lebens zu
warten haben, um factisch es zu werden.“
In einer im vorigen Jahre erschienenen Arbeit von demselben
Autor bleibt der Tenor seiner Ausführungen derselbe.
Meine Herren! Die zehnte Rippe ist bei einer kolossalen Zahl
von Menschen mehr oder minder frei. Dass die freie zehnte Rippe
fast thatsächlich das Normale vorstelle, können Sie schon daraus er¬
sehen, dass z. B. in dem Atlas des Herrn Ilofrath Toi dt drei Thoraxe
abgebildet sind, wobei alle eine Costa decima fluctuans besitzen.
Es ist eine bekannte anatomische Thatsache, dass sich unsere
Rippen in eaudocranialer Richtung in Rückbildung befinden. Zum
Processe der Rückbildung aber gehört das Freiwerden vom Rippen¬
bogen. Bei sehr vielen Individuen ist nun dieser Process bereits voll¬
zogen. Die zehnte freie Rippe ist also gewiss keine „pathologi¬
sche Costa fluctuans decima.“
Die freie zehnte Rippe ist aber auch kein Degenerationszeichen,
kein Atavismus, sondern im Gegentheil, die freie zehnte Rippe ist ein
anthropomorphes Stigma, sie ist ein Zeichen der Fortentwicklung. Der
Kreis der Menschen mit freier zehnter Rippe ist sehr gross, der der
Enteroptotiker nach Stiller ebenfalls, wen wird es wundern, dass
ein grosser Abschnitt der beiden Kreise sich deckt.
Wie aber eine anthropomorphe Einrichtung unseres Skeletes
ein „Symptom“ oder ein „Stigma“ eines pathologischen Processes der
Baucheingeweide abgeben soll, ist mir unverständlich.
Näher auf all das, was ich hier vorgebracht habe, einzugehen,
verbietet mir die Kürze der Zeit.
Wiener laryngologische Gesellschaft.
Hauptversammlung vom 1. Februar 1900.
Vorsitzender: Prof. O. Chiari.
Schriftführer: Dr. Ronsburger.
Administrative Sitzung.
Der Vorsitzende constatirt die Anwesenheit der zur Beschluss¬
fassung erforderlichen Anzahl vod Mitgliedern und verliest eine an die
Gesellschaft gelangte Einladung zur Betheiligung an dem XIII. inter¬
nationalen medicinischen Congress zu Paris im Jahre 1900.
Der Secretär Dr. Ronsburger erstattet den Jahresbericht.
Die Gesellschaft hat ihre erste Sitzung zu Beginn dieses Winter¬
semesters dem Andenken ihres am 13. September 1899 aus dem Leben
geschiedenen Präsidenten gewidmet.
Diese Trauerkundgebung wrurde durch einen warmen Nachruf
des Vice-Präsidenten Prof. Chiari eingeleitet, dem eine vom Secretär
Dr. Ronsburger gehaltene Gedenkrede auf Prof. Stork, welche
den Lebensgang und das Wirken des Dahingeschiedenen schilderte, folgte.
An den sieben wissenschaftlichen Sitzungsabenden des eben ab¬
gelaufenen fünften Vereinsjahres wurden ein Vortrag, und zwar von
Störk, ferner 18 Demonstrationen und Referate, und zwar von Eb¬
stein fünf, von W e i 1 vier, von Chiari drei, von Harm er zwei,
von Heindl, Rischawy, Roth und Scheff je eine abgehalten.
Eine vorläufige Mittheilung wurde von Rischawy erstattet. An die
Demonstrationen und Referate schlossen sich zumeist Discussionen unter
reger Betheiligung zahlreicher Mitglieder.
Die Zahl der ordentlichen Mitglieder am Schlüsse des Vorjahres
betrug 28. Dieser Stand erhöhte sich durch Neuwahl von zwei ordent¬
lichen Mitgliedern auf 30.
Hievon wurde der Gesellschaft im Laufe des Vereinsjahres ein
ordentliches Mitglied durch den Tod entrissen und ein ordentliches
Mitglied schied aus dem Verbände der Gesellschaft.
So zählt die Gesellschaft am Beginne des neuen Vereinsjahres
28 ordentliche Mitglieder.
Das Comite, welches behufs der in der letzten Hauptversamm¬
lung angeregten Gründung einer Bibliothek Vorberathungen pflog,
und diesbezügliche Vorschläge erstattete, hat seine Thätigkeit noch
nicht beendigt, da sich wegen Beschaffung eines Locales mehrfach
Schwierigkeiten ergaben. Doch dürfte diese Angelegenheit in kurzer
Frist einen erwünschten Abschluss finden.
Der Oekonom, Docent Dr. Roth, legt den Cassabericht und
den Rechnungsabschluss für das Jahr 1899 vor, und wird demselben
von der Versammlung das Absolutorium ertbeilt.
Es wird nunmehr zu den Wahlen geschritten, und werden zu
Scrutatoren Docent Dr. Grossmann und Dr. Scheff nominirt.
Dieselben verkündigen sodann das folgende Wahlergebniss:
Zu ordentlichen Mitgliedern wurden den V orschlägen gemäss gewählt :
Docent Dr. S. Hajek, Dr. D. Hecht, Dr. Eugen Pollak,
Dr. Konrad Stein und Dr. R. Steiner.
Die Wahl der Functionäre ergab folgendes Resultat: Es er¬
scheinen gewählt: Als Präsident Prof. O. Chiari, Vice-Prä9ident
Docent Dr. W. Roth, Secretär Dr. E. Ronsburger, Oekonom
Dr. G. Scheff, Bibliothekar Dr. L. Ebstein, Schriftführer
R. A. Dr. C. B i e h 1 , Dr. F. II a n s z e 1 und Dr. K. Mülle r.
Zum Revisor des Rechnungsabschlusses wurde Docent Dr. Gross¬
mann designirt.
Der Präsident, Vice-Präsident und Secretär sprechen der Ver¬
sammlung für ihre Wahl, beziehungsweise Wiederwahl den Dank aus.
*
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900,
201
Wissenschaftliche Sitzung.
Docent Dr. Roth demonstrirt einen Fall von hysterischer
Aphonie mit Verschluss der wahren und falschen
Stimmritze im Momente des Phonationsversuches.
Meine Herren ! Ich erlaube mir, einen Fall vorzustellen, welcher
das Gegenstück zu jenem Falle bildet, welchen Sie in einer der vorigen
Sitzungen zu sehen Gelegenheit hatten. Auch hier handelt es sich um
eine auf hysterischer Basis fussende functioneile Störung der motori¬
schen Kehlkopfnerven, allein, während es sich dort um eine perverse
Bewegung der Stimmlippen während der Inspiration handelte, indem
die Stimmbänder im Momente der Inspiration sich einander in den
vorderen zwei Dritteln bis zur vollständigen Berührung näherten und
auf diese Weise ein Hinderniss für die Einathmung bildeten, sehen
wir hier die Functionsstörung bei der Phonation eintreten — die Patientin
ist vollkommen aphoniscb, während die Athmung ungestört vor sich
geht. Im laryngoskopischen Bilde sieht man während der Phonation
die Taschenbänder bis zur vollständigen Berührung aneinandergerückt,
nur ganz hinten bleibt eine rundliche Lücke offen, durch welche man
die hinteren Enden der sich übrigens auch berührenden wahren Stimm¬
bänder sieht, aber auch diese letzteren lassen hinten eine etwas kleinere,
als die obere Lücke offen. Während der Inspiration weichen sowohl
die Taschen-, als auch die wahren Stimmbänder nach den Seiten aus
so dass die Glottis normal erscheint, und da gar keine organischen
Veränderungen sichtbar sind, erscheint der Larynx während des In-
spiriums auch im Uebrigen vollkommen normal.
Ich kenne die Patientin bereits seit etwa zehn Jahren, während
welcher Zeit ich wiederholt Gelegenheit hatte, das Eintreten der
Aphonie mit dem soeben geschilderten laryngoskopischen Bilde zu be¬
obachten — Aerger, Verdruss, überhaupt Gemüths- und psychische Er¬
regungen gaben stets die Veranlassung dazu, der Zustand blieb dann
immer stabil, wenn keine Behandlung eingeleitet, wurde, konnte aber
jedes Mal durch Application eines starken Hautreizes auf die vordere
Halsfläche, z . B. durch Anwendung des Farada y’schen Stromes,
sofort zum Schwinden gebracht werden, die Patientin sclnie auf und
hatte von da ab wieder ihre alte Stimme. Die sofort darnach ein¬
geleitete laryngoskopische Untersuchung ergab durchaus normale A ei-
hältnisse. Auch durch hypnotische Suggestion war ich im Stande, den
Zustand zu lösen, da diese aber in Betreff der Dauer der Heilung dei
Stimmstörung keine besseren Resultate lieferte, wiederholte ich diesen
Versuch nicht wieder, sondern applicirte jedes Mal nur den elektiischen
Strom. Ich werde dies auch jetzt vor Ihnen ausführen, und Sie können
sich dann von dem prompt eintretenden Verschwinden der Aphonie
und des ihr zu Grunde liegenden Kehlkopfbildes überzeugen.
Es handelt sich somit in diesem Falle um eine „Aphonia hyste¬
rica“, welche nach der üblichen Eintheilung weder als Aphonia
spastica, noch als Aphonia paralytica angesprochen werden kann, \iel
mehr sehen wir im Momente der Phonation die Taschenbändei bis zui
vollständigen Berührung aneinandertreten und die Glottis spuiia
schliessen. Die Deutung dieser Erscheinung kann nun die. sein, dass
der Musculus thyreo arytaenoideus superior übermässig thätig ist und,
indem er die Taschenbänder einander bis zur Berührung nähert, liegen
diese letzteren auf den wahren Stimmbändern auf, hindern die freie
Vibration derselben und bedingen auf diese Weise die Aphonie.. Eine
andere Erklärung ginge dahin, dass es sich da um eine verringerte
Spannung sowohl der wahren, als auch der Taschenbänder handelt,
dass erstere die Aphonie, letztere dagegen die bis auf eine kleine
nach hinten zu offene Lücke eintretende Annäherung der Taschen
bänder bedingt. Welche dieser beiden Erklärungen die richtige ist,
lässt sich wohl in diesem Falle nicht mit Sicherheit erkennen, denn
da man von den wahren Stimmbändern nur die hinteren Enden sieht,
so kann man über den Zustand ihrer Spannung auch nichts Bestimmtes
aussagen. Ich für meinen Theil neige mich der ersteren Erklärung zu
Discussion: Docent Dr. Grossmann: Der demonstrirte
Fall zeigt uns jene Form von Larynx-Hysterie, welche ich in der vor
letzten Sitzung als die zur zweiten Gruppe gehörende seltenere Form
bezeichnet habe. Ich kann die Anschauung des Collegen Roth nicht
theilen, dass es sich hier um einen hyperkinetischen Zustand des dem
Taschenbande angehörenden Antheils des Stimmbandmuskels handle,
und dass die hochgradige Stimmbandstörung einzig und allein dadurch
bedingt sei, dass die wahren Stimmbänder von den falschen gedeckt
und in ihrer Vibration gestört werden. Ich beziehe die Ausfalls¬
erscheinungen aus Gründen, die ich in der vorerwähnten Sitzung aus¬
führlich erörtert habe und bei dieser Gelegenheit demzufolge nicht
abermals wiederholen will, ausschliesslich auf eine func¬
tion eile Störung des M. cricothyreoideus. Ich bin
übrigens, wenn es die Herren wünschen, gerne bereit, die experi¬
mentellen Beweise, auf die ich meine Annahme stütze, in einei dei
nächsten Sitzungen am lebendeu Tliiere zu demonstriren.
Docent Dr. Rethi: Der vorgestellte Fall kann nur so auf¬
gefasst werden, dass sich die Taschenbänder beim Phonationsveisuch
auf die wahren Stimmbänder legen, durch die Berührung die Vibration
der letzteren verhindern und die Phonation unmöglich machen. Beim
Phonationsversuch kommt es in den im Taschenband vorhandenen
Muskelfasern zu einer krampfähnlichen Contraction; die raschenbändei
werden dicker und springen einerseits gegen die Mittellinie bis zur
gegenseitigen Berührung vor und andererseits gegen die obere Fläche
der Stimmbänder bis zum unmittelbaren Aufliegen auf denselben. Diese
Berührung ist in diesem Falle umso eher möglich, als die Spalte, die
in den Sinus Morgagni führt, wie man bei der Respiration sehen
kann, sehr eng und die verticale Distanz zwischen wahrem und
falschem Stimmband sehr gering ist.
Diese übermässige Contraction im M. thyreo arytaenoideus sup.
ist funetioneller Natur, auf hysterischer Basis beruhend und stellt sich
bei jedem Phonationsversuch ein.
Durch den therapeutischen Eingriff wurde der Innervationsreiz
auf das richtige Mass zurückgeführt und die Stimmbänder bleiben nun
bei der Phonation in ihrer ganzen Breite und Länge sichtbar. Keines¬
falls ist aber der Fall geeignet, die Frage discutiren zu lassen oder
zu entscheiden, ob eine Erschlaffung der Stimmbänder vorliegt, weil
er nicht rein ist, weil eine Berührung der falschen und wahren
Stimmbänder thatsächlich vorhanden ist und letztere so gut
wie gar nicht sichtbar sind.
Docent Dr. Iioschie r erinnert daran, dass hysterische
Lähmungen mit organischen nicht zu vergleichen sind, sondern func-
tionell sind. Bei dem vorgestellten Fall sieht man, dass die Stimmbänder
beweglich sind; dieselben können zweifellos auch gespannt werden,
sonst könnte Patient nicht tönend husten. Die hysterische.Aphonie ist
durch die Störung der associativen Vorgänge der Phonation bedingt.
Man denke an den Mutismus hystericus, welcher etwas analoges ist,
und bei welchem die Stimmbänder, die Zunge, die Rippen etc. einzeln
gut beweglich sind. Im Gegensatz zu Herrn Docenten Di. G i o s s-
m ann glaubt Dr. Koschier, dass man hysterische Motilitäts¬
störungen mit solchen, welche durch eine künstliche periphere Lähmung
erzeugt sind, nicht vergleichen kann, weil das Wesen beider Processe
ganz verschieden ist.
Docent Dr. Gross mann: Ich habe bereits hervorgehoben,
dass für die Erscheinungen, wie sie der demonstrirte Fall darbietet,
eine Aufklärung existirt, welche, abgesehen von ihrer Einfachheit,
noch den Vorzug hat, experimentell geprüft zu werden. Die Auffassung
des Collegen Rethi unterscheidet sich von jener des Collegen Roth
nur quantitativ. Er nimmt an, dass es sich in diesen Fällen geradezu
um einen Krampf im oberen Abschnitte des Stimmbandmuskels handelt,
und dass die Störung der Stimmbildung dadurch bedingt sei, dass,
wie schon Roth angegeben hat, die Schwellung der Taschenbänder
die Vibration der wahren Stimmbänder behindert.
Wir haben gesehen, dass nicht allein die wahren, sondern auch
die falschen Stimmbänder in hohem Grade beweglich sind. Die An¬
nahme also, dass hier ein Spasmus in einem Muskeltheile
besteht, der mit jeder In- und Exspiration abwechselnd auftaucht und
wieder verschwindet, erscheint mir von vorneherein kaum zulässig.
Mit Bezug auf die Bemerkungen des Collegen Koschier,
dass die Stimmbänder in den in Rede stehenden Fällen eigentlich
gespannt und nicht relaxirt sind, da solche Patienten unter gewissen
Umständen auch Töne anzuschlagen vermögen, habe ich nur kurz zu
erwidern: das Anschlägen einzelner Töne sind selbst solche Kranke
zuweilen im Stande, bei denen eine Larynxexstirpation vorgenommen
wurde. Das ist also noch kein Beweis für das \ orhandensein exten-
dirter Stimmbänder, ja, wie ich soeben hervorgehoben, nicht einmal
für die factische Existenz von Stimmlippen. Ob ein Stimmband gespannt
ist oder nicht, lässt sich durch den einfachen Augenschein ebenso¬
wenig entscheiden, wie durch den blossen Blick die frage: ob eine
Saite auf der Violine hinreichend gespannt ist. Beim Stimmband wird
uns, von der Functionsstörung abgesehen, namentlich die winkelige
Stellung desselben die erwünschten Anhaltspunkte geben.
Was weiters die Erklärung des Collegen Koschier anbelangt,
dass man in solchen Fällen blos von einer functioneilen Stöiung dei
Phonation zu sprechen habe, erlaube ich mir zu bemerken, dass diese
Selbstbeschränkung unser Verständnis der klinischen Erscheinungen
nicht im Mindesten fördern würde. Uns ist es ja darum zu tliun, die
Ausfallserscheinungen zu analysiren und festzustellen, welchen Muskel
oder welche Muskelgruppe die Functionsstörung getroflen hat.
Dass es sich hier nicht um eine organische Erkrankung, nicht
um eine Paralyse, sondern entsprechend dem Wesen der Hysterie
einzig und allein um functionelle Störungen handelt, darüber hei i se it
wohl keine Meinungsverschiedenheit. Es könnten ja sonst die Ei¬
scheinungen nicht im Handumdrehen verschwinden und wieder auftreten,
wie wir dies auch bei dem heute demonstrirten Fall deutlich genug
gesehen haben. .. .
Docent Dr. Rethi: Es ist natürlich nur eine übermassige
Action der Muskelfasern im Taschenband gemeint, die sich bei jedem
Phonationsversuch einstellt und ist in Analogie zu setzen mit t ei
WIENEK KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
Nr. 8
21,2
starken Contraction in den Stimmbandmuskeln, mit der jede Pkonations-
intention bei der Aphonia spastica beantwortet wird.
Dr. Roth: Der Herr Collega Rethi steht nach seinen Aus¬
führungen eigentlich auf dem Standpunkte, den ich eingenommen
habe, dass nämlich die Ursache der Aphonie die durch das Aufliegen
der Taschenbänder behinderte freie Vibration der wahren Stimmbänder
sei. Die Erklärung, welche uns Herr Collega Grossmann gibt, hat
etwas Bestrickendes an sich, und wäre ich ihm sehr dankbar, wenn
er uns dieselbe durch das versprochene Experiment illustriren würde.
Dass aber auch die so starke Annäherung der Taschenbänder das
Ilervorbringen reiner Töne mechanisch zu hindern vermag, möchte ich
nach den Erfahrungen, die man bei entzündlichen, oder durch Neu¬
bildungen hervorgerufenen Schwellungen der Taschenbänder zu machen
Gelegenheit hat, doch nicht so ganz von der Hand weisen.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
in München.
Vom 17. bis 22. September 1899.
(Fortsetzung.)
Section für Dermatologie und Syphilis.
Sitzung den 19. September.
Vorsitzender: Rille (Wien).
III. Matzenaue r (Wien): Ueber Impetigo conta¬
giosa circinata. (Schluss.)
Aber auch ein Vergleich der histologischen und bacteriologischen
Resultate, welche ich selbst bei der wiederholt sorgfältigsten Unter¬
suchung der Impetigo contagiosa s. vulgaris und der Impetigo circi¬
nata erhalten habe, lässt eine Scheidung dieser klinisch sicherlich zu¬
sammengehörenden uud ein und derselben einheitlichen Erkrankung
ungehörigen Krankheitsbildes nicht zu.
Ich erlaube mir, auf meine diesbezüglichen unter Mikroskop
eingestellten Präparate zu verweisen. (Autoreferat.)
U'n n a (Hamburg) kann trotz der Ausführungen des Vorredners
nicht an seiner Untersuchung schwankend werden. Die Unterschiede
im histologischen Bau beider Formen sind so prägnante, dass von
einer Identität nicht wohl die Rede sein kann.
IV. Freund (Wien) : Die Radiotherapie der Haut¬
krankheiten.
Redner berichtet über seine und Schiffs jüngste Arbeiten
und Resultate auf dem Gebiete der Radiotherapie. Zunächst wird auf
die Analogie der physiologischen Effecte bei den Behandlungen mit
den D’A rsonva l’scheu Hochfrequenzströmen, statischer Elektricität
und Röntgen- Strahlen hingewiesen, die nach der Meinung Freund’s
in der Gleichartigkeit der wirksamen elektrischen Kräfte begründet ist.
Als solche fasst Freund die bei den Funkenentladungen aufcretenden
elektrischen Wellen auf und gibt von diesem Standpunkt aus die Er¬
klärung für die Dosirung des Mittels, die nach seinen und Schiffs
dreijährigen Experimenten und Erfahrungen durchaus wahrscheinlich
ist. Von Dermatosen behandelte Schiff und Freund Hypertrichosis,
Sykosis, Favus, Akne, Furunculose, Lupus vulgaris und Lupus ery¬
thematodes mit günstigem Erfolge. In keinem der beobachteten Fälle
versagte diese Therapie; desgleichen wurde während der ganzen Zeit
keine accidentelle Dermatitis beobachtet. Mit intermittireuder Nachbehand¬
lung konnte bei einer grossen Zahl von Hyper trichosisfällen ein Nach¬
wachsen der Haare bis auf l3 4 Jahre verhütet werden. Bei acht
Patienten von den zehn Sykosisfällen wurden jetzt nach zwei bis drei
Monaten keine Recidive beobachtet; bei zweien trat eine solche nach
zwei Monaten auf, wurde jedoch in wenigen Sitzungen zum Schwinden
gebracht. Favus blieb bis jetzt, das ist durch sechs Monate, ohne
Recidive. Freund betont die Wichtigkeit eines Verständnisses der
physikalischen Principien bei einer Therapie, die, abgesehen von einigen
noch auszufüllenden Lücken, berufen erscheint, einen würdigen Platz
unter den dem Dermatologen zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln
einzunehmen.
*
Sitzung am 20. September 1899 Morgens.
Vorsitzender: Kollmann (Leipzig).
I. Dom m er ( Dresden) : Urethrale Faradisations-
elekt roden.
Redner betont zunächst die hohe Bedeutung der Faradisation
der Urethra, den Vortheil, den der faradische Strom insofern bietet,
als er niemals wieder constante Sehorfbildung beobachtet. Redner
hat zwei Elektroden construirt, welche viele Vortheile bieten. Das eine
ist eine D i 1 1 e l’sche Sonde, welche an ihrem vorderen Ende aus
Metall besteht, welches im geraden Theil durch Hartgummi von der
Urethra isolirt ist. Der zweite Pol der Batterie kommt in das Rectum
zu liegen. Diese Elektrode hat die bekannte Form der Prostatakühler
und ist aus Isolirmasse gearbeitet, an der eoncaven Seite ist eine
Metallplatte eingelegt, welche gegen die Prostata zu liegen kommt. Die
Krümmung des Griffes ist so bemessen, dass der Patient bei Anwen¬
dung bequem sitzen kann. Die Anwendung geschieht ja nach Bedürf-
niss mit mehr oder weniger starken Strömen in Sitzungen von fünf
bis acht Minuten. Die Sitzungen werden gut vertragen. Die Awendung
empfiehlt sich bei Impotentia coeundi, bei Enuresis, bei sexueller Neur¬
asthenie (Masturbation).
Kollmann (Leipzig) hält die vom Redner angegebenen Elek¬
troden für äusserst praktisch. Er warnt vor der Galvanisation mit
Metallsonden, wegen der kolossalen Brandschorfe. Soll der galvanische
Strom in Anwendung kommen, so geht das nur mittelst indifferenter
Elektroden und physiologischer Kochsalzlösung.
II. Schlagintweit (Brückenau) : Ein neues Cystoskop
und einige technische Neuerungen.
Der Redner demonstrirt zunächst eine Gummiballonpumpe, an
welcher er ein Pneumatikventil hat anbringen lassen und welches ge¬
stattet, aus einem Gefäss direct Wasser zu Spülungen etc. hochzupumpen.
Des Weiteren zeigt er eine neue Gleitmasse in Tuben, um urologische
Instrumente schlüpfrig zu machen. Dieses Gleitmittel, von Kraus an¬
gegeben, hat Redner in Tuben füllen lassen und diese mit einem
Tripperspritzenkopfstück versehen lassen. Die Anwendung soll nun
derart geschehen, dass das Gleitmittel direct in die Fossa navicularis
eingebracht wird. (Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag, den 23. Februar 1900, 7 Uhr Abends,
unter dem Vorsitze des Herrn Prof. Weinleclllicr
stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Discussion Uber den Vortrag des Herrn Docenten Dr. Herzfeld.
(Zum Worte gemeldet die Herren Doctoren Sternberg, Knöpfelmacher,
Pauli, Singer und Bum.)
2. Docent Dr. Max Herz: Die heilgymnastische Behandlung von
Eikrankungen des Centralnervensystems.
Vorträge haben angemeldet die Herren: Docent Dr. Kretz, Professor
A. Politzer, Prof. Benedikt, Prof. Weinlecliner, Dr. J. Thenen,
Dr. A. Pilcz, llofrath Prof. Schnabel, Oberstabsarzt Docent Dr. Habart
und Dr. A. Julies.
Bergmeister, Paltauf.
Wiener laryngologische Gesellschaft.
Programm
der am
Donnerstag, den 1. März 1900, 7 Uhr Abends,
im Physiologischen Institute unter dem Vorsitze des Herrn
Prof. Chiari
stattfindenden Versammlung.
Docent Dr. 31. Grossmann: Die Functionen des M. ericothyreoideus
demonstrirt am lebenden Thiere.
Oesterreichische otologische Gesellschaft.
Programm
für die
Montag, den 26. Februar 1900, 6 Uhr Abends,
im Hörsaale der k. k. Universitätsklinik für Ohreukranke des Herrn
Prof. Politzer
stattfindende
Wissenschaftliche Sitzung :
1 . Vortrag des Herrn Dr. Heinrich Joseph : Zum feineren Bau des
C o r t i’schen Organes.
2. Demonstrationen. (Angemeldet die Herren : Professoren Gruber,
Politzer, Urbantschitsch, Doctoren Gomperz. Alt, llammerschlag.
Singer.)
Prof. Dr. A . Politzer, Dr. JosefPollak, Dr. Hugo Frey,
Vorsitzender Seeretär. Schriftführer.
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in 3Vien,
Wiener klinische Wochenschrift
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, Jos. Gruber,
M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann,
R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt, A. v. Vogl,
J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gassenhauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/1, Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang. Wien, 1. März 1900. Hr. 9.
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tion sind zu richten an
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IX 3, Maximilianplatz,
Günthergassei. Bestellun¬
gen und Geldsendungen an
die Verlagshandlung.
Redaction :
Telephon Nr. 3373.
ITS TTK
I. Originalartikel : 1. Aus Prof. v. Hacker’s chirurgischer Klinik zu
Innsbruck. Zur Blasennaht beim hohen Steinschnitt. Von Dr.
Georg Lot heissen, Privatdocent und Assistent der Klinik.
2. Aus der k. k. pädiatrischen Klinik des Prof. Jakubowski in
Krakau. Zur Biologie der Malariaparasiten. Von Dr. Xaver
Lewkowicz, Assistenten der Klinik.
3. Aus der UI. medicinbchen Klinik (Hofrath v. Schrötter) in
Wien. Therapeutische Studien über das Sanatogen. Von Dr.
Eduard R y b i c z k a, Aspirant an obiger Klinik.
Aus Prof. v. Hacker’s chirurgischer Klinik zu Innsbruck.
Zur Blasennaht beim hohen Steinschnitt.
Von Dr. Georg Lotheissen, Privatdocent und Assistent der Klinik.
Immer mehr drängt die Sectio alta die anderen Methoden
des Steinschnittes zurück und bessern sich die Erfolge dieses
Operationsverfahrens mit der Vervollkommnung der Technik,
speciell seit Einführung der Aseptik. Die Gefahren, welche bei
der Sectio alta drohen, sind einerseits die Eröffnung der Peri¬
tonealhöhle, andererseits Harninfiltration des prävesicalen Ge¬
webes von der Blasenwunde aus.
Die Eröffnung der Peritonealhöhle wird sich
zumeist vermeiden lassen, indem man in Beckenhochlagerung
operirt und die Blase gut füllt. Sehr günstig erwies sich mir
da die Füllung mit Luft nach Helfer ich, weil man so bei
der Incision der Blase vermeidet, dass Flüssigkeit das Ope¬
rationsfeld überfluthet und man daher viel reinlicher arbeiten
kann. Hie und da wird selbst bei Anwendung dieser Vorsichts-
massregeln die Peritonealfalte, die ja bisweilen sehr tief herab¬
reicht, nicht genügend hinaufgeschoben, und dann kann es
doch zu einer Eröffnung der Bauchhöhle kommen. Bei asepti¬
schem Vorgehen bietet auch dies keine grosse Gefahr, da man
die Oeffnung alsbald durch Naht verschliessen und diese Stelle
mit einem Jodoformgazetampon bedecken kann, um Infection
von Seiten des Harns zu verhüten. Dass dies gelingt,
konnte ich in einem Fall unserer Klinik beobachten, wo die
Sectio alta wegen hochgradiger Blasentuberculose ausgeführt
wurde.
Auch die Gefahr der Urininfiltration des prävesi¬
calen Raumes ist heute nicht mehr so gross, seit man gelernt
hat, die Blase zu drainiren. Ob man das nun nach v. Dittel’s,
Guyon’s u. A. Vorschrift in Rückenlage, oder nach Tren¬
delenburg in Bauch- oder Seitenlage ausführt, immer
braucht es geraume Zeit, ehe man das Drainagerohr (Knie¬
rohr, T-Rohr) entfernen kann, und noch länger dauert es
^ II T : (AUe Rechte Vorbehalten.)
II. Feuilleton: Prof. Jaus (1696 — 1761). Ein neuer urkundlicher Beitrag
zur Geschichte der Medicin in Wien. Von Robert R. v. Töply,
Privatdocent.
III. Referate: Handbuch der Krankenversorgung und Krankenpflege.
Von Dr. Georg Liebe, Dr. Paul Jacobsohn und Dr.
George Meyer. Ref. Dr. Julius Sternberg. — Atlas
und Grundriss der speciellen pathologischen Histologie. Von
Dr. H. Dürc k. Ref. Dr. Oskar Stoerk.
IV. Aus verschiedenen Zeitschriften.
V. Vermischte Nachrichten.
VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
darnach, bis auch die Hautwunde per granulationem sich ge¬
schlossen hat. Dass aber die Blasendrainage nicht immer tadel¬
los functionirt, beweisen die neuen Verfahren zu ihrer Ver¬
besserung (Kaczkowski1 II. III. IV. V. VI. *), B 1 o o d g o o d 2), Dasara3)
und Andere). Der Urin dringt nun neben dem draini-
renden Rohr heraus; nicht selten wird nicht blos die Wunde,
sondern das ganze Bett überschwemmt und wenn auch sehr
häufig der Verband gewechselt wird, so bekommen doch die
Patienten ein quälendes Ekzem. Dabei ist es gleichgiltig, ob
die Kranken die Rücken-, Seiten- oder Bauchlage einnehmen.
Letztere ist an sich schon auf die Dauer sehr unbequem. Dass
eine solche Ueberfluthung mit Urin nicht zur Harninfiltration,
respective nicht zum Tod durch Harninfiltration führen muss,
ist eine Bemerkung O. Z u c k e r k a n d l’s 4), die mir ganz
richtig erscheint. Diese Gefahr scheint überschätzt zu werden.
Der Exitus letalis nach Sectio alta dürfte in früherer, voranti¬
septischer Zeit wohl eher durch Wundinfection überhaupt zu
Stande gekommen sein.
Frühzeitig hat man daher schon daran gedacht, die
Blasenwunde sofort zu vernähen und die Blase nur auf natür¬
lichem Wege durch die Urethra zu drainiren. Schon 1858 hat
V. v. Bruns als Erster eine Blasennaht ausgeführt und
mit gutem Erfolg. Andere folgten seinem Beispiele, so trat
Albert 5) 1876 warm für die Sectio alta und Blasennaht ein,
v. Bergmann sprach für sie 1884 auf der Naturforscher-
Versammlung.
Auch Prof. v. Hacker führte bereits im Jahre 1883
noch als Assistent Billroth’s mit Erfolg die Naht der Blase
in dem später mitzutheilenden, bisher noch nicht veröffent¬
lichten Falle aus, und zwar ohne die Schleimhaut mitzufassen.
6 Centralblatt für Chirurgie. 1899, Nr. 11 und 21.
2) John Hopkins Hospital Bulletins. 1896, Nr. 61.
3) Policlinico. 1896, Nov. 1.
4) Centralblatt für Chirurgie. 1899, Nr. 16.
5) Wiener medicinische Presse. 1876.
204
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900
Nr. 9
Dadurch, dass Dämlich damals meist die Mucosa mitgefasst
wurde, drainirte man durch die Nähte den Harn in die Wunde.
Dadurch wird es, wenigstens zum Theil, erklärlich, dass
Schmitz0) 1880 bei einer Zusammenstellung in 40% Miss¬
erfolge der ßlasennaht nachweisen konnte.
Da der Dauerkatheter sich zuweilen verstopfte, die Blase
sich dann doch füllte und die Naht gefährdet war, legte
Tiling über die erste Nahtreihe noch eine zweite. Diese
Etagennaht, die jetzt sogar meist in drei Reihen angelegt und
die nach Analogie der L e mb e r t’schen Darmnaht ausgeführt
wird, ist wohl eine der sichersten Methoden.
Die Innsbrucker chirurgische Klinik verfügt, trotzdem
sie jährlich über 1200 stationäre und 6000 ambulante Patienten
hat, über kein sehr reiches Material an Blasensteinen. Diese
scheinen hier zu Lande selten zu sein.
Es war daher bisher wenig Gelegenheit, die Blaseunaht
auszuführen. In der Regel handelte es sich um ältere Personen
mit schwerer Cystitis oder mit Nierenveränderungen, und des¬
halb wurde Drainage angewandt. Prof. v. H a c k e r hält, bevor
ausgedehnte vergleichende Erfahrungen über die mit der Naht
zu erzielenden Erfolge vorliegen, an dem Principe fest, zu in-
dividualisiren und vorläufig die Naht nur in Fällen, wo der
Harn klar ist oder nur geringer Katarrh vorhanden ist, aus¬
zuführen, namentlich bei jugendlichen Individuen, während er
überall dort, wo schwere Veränderungen der Blasenwand mit
alkalischem und zersetztem Harn vorhanden und secundäre
Nierenerkrankungen zu fürchten sind, von der Drainage der
Blase eher Erfolg erwartet. Diesen Grundsätzen ent¬
sprechend hat v. Hacker bereits 1883 operirt. Gleichzeitig
wurden, um Urininfiltration zu verhüten, nachdem die Blase
durch elf die Mucosa nicht mitfassende Nähte exact ver¬
schlossen war, die Bauchdecken nur in den Winkeln vereinigt.
Im fiebrigen wurde der Raum vor der Blase mit Jodoform-
gazestreifen drainirt, damit im Falle der Undichtheit der Nähte
der etwa durchsickernde Urin freien Abfluss habe.
Als ich im vergangenen Jahre Prof. v. Hacke r während
seiner Erkrankung und in den Herbst, ferien zu vertreten hatte,
bot sich mir zweimal Gelegenheit, wegen Blasensteins die
Sectio alta auszuführen. Im ersten Fall wurde wegen schwerer
Cystitis nur partielle Naht der Blase ausgeführt, im zweiten
Fall die Blase vollkommen vernäht.
1. Auguste K., 18 Jahre alt, Spediteurstochter. Eintritt in
die Klinik Billroth 10. August 1883.
Die aus gesunder Familie stammende Patientin war nie er¬
heblich krank, bis vor zwei Jahren, angeblich ohne jede bekannte
Ursache, Schmerzen im Unterleib, besonders in der Blasengegend,
auftraten. Später gesteht sie zu, dass ihr fünf bis sechs Jahre
zuvor von der K ö c h i n, mit der sie in einem Bette lag, eine
zusamrnengebogene Haarnadel in die Vagina, beziehungsweise
in die Urethra g e s-t e c k t worden und dann verschwunden
wäre. Erst vier Jahre darnach traten Beschwerden ein. Sie verheim¬
lichte ihr Leiden gegenüber den Angehörigen bis vor Kurzem. Die
Schmerzen waren nicht constant, sie blieben oft wochenlang aus.
Es trat bald Schleimfluss aus der Vagina auf, der seitdem fort¬
besieht. Im Sommer 1883 wurden die Beschwerden stärker. Die
Schmerzen sind nun heftig, fast andauernd und steigern sich sehr
bedeutend beim Uriniren. Der Harnstrahl ist oft unterbrochen, um
erst nach längerer Zeit wieder einzutreten. Von Zeit zu Zeit besteht
tagelang Incontinenz, wobei der Harn tropfenweise abfliesst. Der
(Usch gelassene Harn ist trüb, von stechendem Geruch und stark
sedimentirend; er enthält oft Sand.
Bei der Untersuchung der gracil gebauten, sonst gesunden
Patientin zeigte sich die Schleimhaut der Harnröhrenmündung und
der Scheide mit zähem, weissem Schleim bedeckt, bei der leisesten
Berührung sehr schmerzhaft, etwas geschwellt, sammtartig aufge-
lockert. Bei der Digitaluntersuchung fühlt man, dass die Blase
v o n e i n e m rundliche n, oberflächlich rauhen, harte n
K ö rper von etwa 1 lühnereigrösse fast ganz erfüllt ist.
Berührung der vorderen Scheidenwand sehr schmerzhaft. Der in
die Blase eingeführte Katheter stösst auf einen rundlichen harten
Körper, der oberflächlich rauh ist und um den die Blase derart
D Archiv für klinische Chirurgie, lid. XXXIII.
contrahirt ist, dass der Katheter nur mit grösster Mühe zwischen
Stein und Blasenwand vorgeschoben werden kann. Der Harn tröpfelt
continuirlich ab, ist frisch gelassen stark alkalisch, von stechendem
Geruch, enthält trübe Flocken, manchmal auch sehr kleine braune
Körner, Eiweissgehalt sehr gross.
Zunächst wurde die Blase mit 2%0 Salzsäurelösung aus¬
gespült und gleichzeitig die Urethra langsam von Charriere Nr. 5
bis zu Nr. 11 erweitert. Innerlich wurde Acid, benzoic. 4:200
Wasser gegeben. So gelang es zwar, den Harn sauer zu machen,
den stechenden Geruch zu vertreiben; die Dilatation der
Urethra bereitete der Kranken aber starke Schmerzen, schliess¬
lich sogar Fieber, so dass man diese Methode aufgeben
musste.
Am 25. August 1883 führte Dr. v. Hacker die Sectio
alta aus. Zuerst wurde wohl noch in Narkose ein Versuch ge¬
macht, mit der Kornzange den im Collum vesicae liegenden Zapfen
abzubrechen, er misslang aber, ebenso ein Versuch, den Stein mit
dem Lithotriptor zu fassen. Er liess sich, selbst nicht nach Injection
von Flüssigkeit, von der Blasenwand abheben und daher nicht
fassen. Es blieb somit nichts übrig, als den Stein durch Stein¬
schnitt zu entfernen. Es wird daher ein Medianschnitt über der
Symphyse gemacht, nach schichtweisem Vorgehen die BTase er¬
öffnet, deren Wand über 1 cm dick ist. Die Schleimhaut ist sehr
gewulstet, dunkelroth. Nun wird zuerst ein Stück, etwa drei Viertel
einer Haarnadel, hervorgezogen. Der Rest der Haarnadel steckte im
Stein. Da dieser zu gross war, um in toto extrahirt zu werden,
wurde er mit dem Lithotriptor zertrümmert, endlich in Trümmern
mühsam extrahirt.
Nachdem die Blase mit l%iger Carbollösung ausgespült
worden war, wurde die Bl äsen wand durch elf, nicht die
Schleimhaut fassende Knopf nähte vereinigt, bis beim Ein¬
spritzen von Flüssigkeit in die Blase nichts mehr in die Wund¬
höhle drang. Auf die Naht wurde ein Jodoformgazestreifen gelegt
und herausgeleitet, die beiden Wundwinkel vernäht. Dauerkatheter
wurde eingelegt; er musste in den folgenden Tagen oft gereinigt,
schliesslich täglich gewechselt werden.
Die Wunde verheilte reactionslos. Die drainirenden Jodoform¬
gazestreifen konnten bald entfernt werden, die Blasenwunde heilte
per primam.
Nach 14 Tagen war die Kranke eigentlich geheilt; da jedoch
der Harn noch etwas eiterhältig war, blieb sie noch bis 29. Sep¬
tember auf der Klinik, wurde dann aber völlig geheilt entlassen.
2. Johann Georg St., 53 Jahre alt, Fabriksarbeiter, wurde
am 27. Februar 1899 wegen linksseitiger incarcerirter Inguinal¬
hernie auf die chirurgische Klinik gebracht. Da die Einklemmung
schon mehrere Stunden bestand und selbst im Bade die Hernie
sich nicht reponiren liess, wurde sogleich die Herniotomie ausge¬
führt und nach Lösung der Incarceration die Bassin i’sche Radical-
operation angeschlossen.
Erst nachher zeigte sich, dass der Kranke auch Harnbe¬
schwerden hatte, die nach der Anamnese nur auf einen Stein zu
beziehen waren. Schon als Kind hatte der Patient beim Uriniren
bisweilen Schmerzen, hie und da soll auch der Harn blutig ge¬
wesen sein. Als der Kranke 23 Jahre alt war, wurden die Be¬
schwerden besonders heftig. Er wurde damals und auch später
mehrmals von Aerzten untersucht, doch konnte keiner von ihnen
einen Stein nachweisen. Seit 1% Jahren war der Urin trüb, öfters
stinkend.
Bei der Untersuchung des kräftig gebauten, sonst anscheinend
gesunden, nur etwas blassen Mannes, findet man eine Striclur der
Urethra. Nur ein dünner englischer Katheter von 2 mm Durchmesser
lässt sich einführen und stösst auf einen harten Körper, der auch
vom Rectum aus als fast apfelgrosser Stein zu palpiren ist.
Am 3. März Operation. Narkose mit B i 1 1 r o t h-Mischung,
Beckenhochlagerung. Medianschnitt in der Linea alba. Die Umschlag¬
stelle des Peritoneum leicht zu finden, die Blase mit zwei Nähten
angeschlungen, dazwischen wird incidirt. Die Incision muss sehr
gross gemacht werden, da sich zeigt, dass der Stein einen voll¬
kommenen Abguss der Blase darstellt. Er hat, wie die weitere
Untersuchung ergab, ein Gewicht von 303 g und ist 8 cm breit,
ebenso lang und 4 '/2 cm dick. Der Kern besteht aus oxalsauren
Salzen, darum ist ein Mantel von Phosphaten geschichtet.
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
205
Da starke Cystitis bestand, wurde nach Ausspülung der Blase
nur eine partielle Naht, nämlich des unteren Antheiles, ausgeführt,
und zwar in drei Etagen, ohne die Mucosa mitzufassen. Die zwei
tieferen Etagen wurden mit Catgut, die oberste mit Seide genäht.
Im oberen Wundwinkel wurde ein Knierohr nach v. Dittel ein¬
gelegt. Die übrige Wunde mit Jodoformgazeschleier nach Mikulicz
tampon irt.
Der Verlauf war nach der Operation anfangs gut. Die
Bl a sen naht hielt vollkommen, doch kam nehen dem
Knierohr stets etwas Urin heraus, so dass der Verband täglich
mehrmals gewechselt werden musste. Die Wunde war rein granu-
lirend. Schon am neunten Tage konnte der Patient gebadet werden
und da er etwas kachektisch war, liess ich ihn schon bald dar¬
nach ausser Bett sitzen, ohne dass dadurch der Urinabfluss gestört
worden wäre.
Anfangs April trat ein Stillstand in der Heilung ein, die
Granulationen der schon stark verkleinerten Wunde wurden schlaff,
unrein, der Patient wurde schwächer, appetitlos, jedoch ohne Tem¬
peratursteigerung zu zeigen. Der Versuch die Wunde zu tamponiren
und durch einen Dauerkatheter die Blase zu entleeren misslang, da
der Kranke eine enge Strictur der Urethra hatte und den Druck
des Katheters nicht vertrug. Gleichzeitig machten sich Schmerzen
in der Nierengegend beiderseits bemerkbar. Der Marasmus nahm
langsam zu trotz Milchdiät und am 27. April erfolgte der Exitus
letalis.
Wie die Obduction ergab, bestanden schwere Veränderungen
in den Nieren. Rechts mehrere Nierenabscesse, nur wenig Paren¬
chym mehr erhalten; links mehrere kleine Steine im Becken,
es bestand Pyelitis, auch hier das Parenchym der Niere ver¬
mindert.
3. Johann B., 20 Jahre alt, Bauernsohn, steckte sich vor
fünf Jahren eine Bohne in die Harnröhre, wie er sagte: »weil es
ihm angenehm war«. Dann streifte er sie zurück bis in die hintere
Partie der Harnröhre. Als er sie wieder herausstreifen wollte, gelang
das nicht. Er ging zu keinem Arzt, hatte auch keine Beschwerden
bis zu Beginn des Jahres 1899. Damals traten leichte Schmerzen
auf, der Harn wurde trüb, hie und da wurde der Harnstrahl
plötzlich unterbrochen, doch kam es nie zu Blutungen.
Der gesund aussehende, kräftige Bursche wurde am 17. Sep¬
tember zur Operation geschickt. Reichlich Eiweiss im Harne, keine
Nierenelemente. Bei der Untersuchung vom Rectum aus fühlte man
einen etwa walnussgrossen, harten Körper im Blasenhals und der
Pars prostatica ziemlich fest sitzend; hei der Sondenuntersuchung
wich er zurück.
Am 20. September wurde in Narkose (Billroth- Mischung)
zuerst die Cystoskopie ausgeführt. Man konnte deutlich einen
Fremdkörper (Stein) von Nussgrösse auf dem Blasengrunde links
liegend erkennen. Im Anschlüsse daran wurde sofort die Sectio
a 1 1 a ausgeführt. Die Blase wurde mit Luft gefüllt, um zu ver¬
meiden, dass bei der Incision das Operationsfeld überfluthet werde,
danach in Beckenhochlagerung Schnitt in der Linea alha. Fassen
der Blase mit zwei Nähten, zwischen denen incidirt wird. Der Stein
zerbrach heim Fassen mit der Steinzange. Im Centrum sass, deutlich
erkennbar eine Bohne. Nach der Extraction wurde ein Dauerkatheter
eingelegt, die Blase vorsichtig mit Bor-Salicyllösung ausgespült, um
die letzten Steinreste zu entfernen.
Nun wurde die Blasenwunde total vernäht in drei Etagen mit
Seidenknopfnähten; jedoch so, dass die Mucosa nicht mitgefasst
wurde. Das Cavum praevesicale wurde mit einem Jodoformgaze¬
schleier locker tamponirt. Am vierten Tag nachher war Nachts der
Katheter herausgefallen; der Kranke meldete es aber nicht, so dass
fünf Stunden oder mehr kein Harn entleert, sondern in der Blase
zurückgehalten wurde. Trotzdem ging die Naht nicht auf; erst am
nächsten Tag war der Tampon ein wenig feucht, es war jedoch
keine Lücke in der Naht zu sehen. Da das Katheterfenster sich
stets verstopfte, musste der Nelaton fast täglich gewechselt werden.
Die weitere Heilung erfolgte anstandslos. Nach 18 Tagen konnte
der Kranke, der inzwischen schon ausser Bett war, spontan
alle zwei Stunden den Harn entleeren. Drei Tage später liess ich
ihn nur alle drei, noch zwei Tage später nur alle vier Stunden
uriniren. 25 Tage nach der Operation war auch die Hautwunde
verschlossen.
Im ersten und im dritten Fall handelte es sich um Pa¬
tienten, bei denen sich der Stein um einen Fremdkörper ge¬
bildet hatte. In der weiblichen Blase linden sich solche Fremd¬
körper häufiger7) als in der männlichen, doch dürften sie auch
hier nicht so überaus selten sein, wie J. P. zum Busch8)
annimmt. Er selbst berichtet über zwei, Trzebicky9) über
sechs Fälle, Sonnenberg hat schon 1872 in seiner Inaugural-
Dissertation eine Reihe solcher Fälle aus der Jenenser Klinik
zusammengestellt uud auch in dem Museum unserer Klinik
findet sich eine Reihe hiehergehörigeF Präparate.
Eine Heilung per primam muss man heute wohl als das
Ideal, dem man nachstrebt, ansehen. Auch beim hohen Blasen¬
schnitt sollte man es also zu erreichen" suchen, leider ist das
aber nicht immer möglich. Da drängt sich die Frage von
selbst auf, welche Umstände einen glatten Verlauf verhindern
können, welche zu berücksichtigen sind, um diese prima intentio
zu erzielen.
Da könnte in erster Linie die Nahtmethode selbst schuld
sein. In der That sind so viele Methoden vorgeschlagen worden,
dass man unwillkürlich auf den Gedanken kommt, sie alle
wären unzulänglich. Manche waren auch mit der Etagennaht
nicht zufrieden und suchten sie zu verbessern. So hat
Brenner10) 1887 eine Schniirnaht in zwei Etagen über¬
einander empfohlen. Sie hat ihm bei Thieren und an der Leiche
gute Erfolge ergeben. Ueber ihre Anwendung beim Menschen
konnte ich keinen Bericht finden. Antal’s Methode der trichter¬
förmigen Anfrischung der Blasenmusculatur erscheint mir
überflüssig. Sie lässt sich nur ausführen, wenn die Blasenwand
sehr dick, hypertrophisch ist, und in solchen Fällen dürfte
eine gewöhnliche Etagennaht auch Erfolg haben (vgl. Fall 1).
Romm11) meint wieder, man solle die Blase transversal er¬
öffnen, man erhalte so breitere Wundflächen, da ja die obere
Muskelschicht in Längsbündeln, die tiefere in circulären
Bündeln geordnet ist. Meiner Ansicht nach sollte man deshalb
aber erst recht longitudinal eröffnen, damit man die Längs¬
bündel senkrecht auf ihren Verlauf in die Naht fassen kann.
Man hat ferner die Misserfolge der Blasennaht zum Theil
damit erklärt, dass die Wunde nicht die nöthige Ruhe habe,
da die Blase ein Hohlorgan von wechselnder Füllung darstelle,
und darum die Cystopexie empfohlen. Die Ventrofixation der
Blase wurde zuerst von Preigh Smith 1886 zur Ver¬
hütung der Urininfiltration vorgeschlagen, da der Urin so nur
nach aussen, nicht aber ins Cavum Retzii gelangen könne.
Rasumowsky hat sie dann zur Ruhigstellung der Nahtlinie
empfohlen, da die Harnentleerung dadurch keinen Schaden
leide. Dass dies thatsächlieh der Fall ist, wissen wir auch
durch die Erfahrungen bei Uretero- cysto-anastomosis nach
Witzei, wo ebenfalls die Fixation der Blase stattfindet.
Rasumowsky’s Methode ist eine Art »doppelter Matratzen¬
naht« mit Silberdraht, die acht bis zehn Tage liegen bleibt12).
Für die Frage der Blasennaht scheint mir die Veranlas¬
sung, die zur Vornahme der Sectio alta führte, von grösster Wichtig¬
keit zu sein. Geschah es wegen Tumoren, die ja mit Vorliebe
an der hinteren Wand sitzen, so ist es, falls man sie mit dem
Thermokauter abgetragen hat, meist sicherer und angenehmer,
die Blase offen zu halten, ja zu tamponiren, wie ich es an
Gussenbaauer’s Klinik einige Male mit gutem Erfolg ge¬
sehen habe. Bei hohem Blasenschnitt wegen Tuberculose und
diphtheritischer Cystitis ist gerade das Offenhalten therapeutisch
nothwendig. Auch bei Blasenruptur wird man sich, wenn es
sich um die intraperitoneale Form handelt, mit Vernähung
der Rupturstelle begnügen und die Wunde der Sectio alta,
die man ja in diesem Fall meist ausführt, offen lassen. Handelt
es sich um Verletzungen der Blase, wie sie z. B. bei Blasen¬
brüchen nicht selten beobachtet werden, so kann man in der
Regel wohl die Naht ausführen. Doch haben wir es hier meist
mit Blasenwunden zu thun, die zum Theil intraperitoneal
") Ygl: Wendel, Beiträge zur klinischen Chirurgie. Bd. XXIII, H. 2.
• 8) Centralblatt für Chirurgie. 1899, Nr. 14.
9) Ebenda. Nr. 19.
,0) Archiv für klinische Chirurgie. Bd. XXXV.
]1) Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. 1897, Bd. XLIV
12) Archiv für klinische Chirurgie. Bd. XLVIII.
20 ß
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 9
liegen. Hier ist es daher besser. fiach der Blasennaht die äusseren
Theile offen zu lassen und erst etwa nach acht Tagen die
Secundärnaht anzuschliessen, wie ich an anderem Orte aus-
geführt habe13).
Die Naht verbleibt somit hauptsächlich für die Fälle von
Fremdkörper und Steinen. Und auch da sind die Meinungen
noch sehr gelheilt. Dsirne14) sagt noch 1898, die meisten
Chirurgen der Gegenwart operirten ohne Naht. Als Contra¬
indication wird vor Allem Cystitis angegeben die freilich bei
Fremdkörpern und Steinen selten fehlen dürfte. Während die
Meisten bei schweren Katarrhen, zumal bei stark ammonia-
kalischer Beschaffenheit des Harns abrathen zu nähen, meinen
Einzelne 15), man solle selbst da, wo doch die Aussicht auf
prima intentio gering ist, exacte Naht machen und Verweil¬
katheter einlegen, weil die Naht wenigsten so lange halten
werde, dass die Wunde erst nach fünf oder mehr Tagen, wo
die Infection schwerer möglich ist, vom Urin bespült werde.
In einzelnen Fällen sind thatsächlich auch so Erfolge zu ver¬
zeichnen. So hat Kasumowsky, der sich sonst gegen die
Naht bei alkalischer Harngährung ausspricht, in einem solchen
Fall doch genäht und Heilung per primam erzielt. Die Er¬
fahrungen sind aber gegenwärtig noch nicht zahlreich genug,
um sich für diese allgemeine Anwendung der Blasennaht aus¬
zusprechen.
Hypertrophie der Blasenwand, die von den Einen als
Indication angesehen wird, halten Andere für Contraindication,
da geringe Tendenz zur Verwachsung bestehe; v. Hacker’s
Fall, in welchem die Blasenwand über 1 cm dick war, beweist,
dass auch die hyperplastische Blase, wenigstens bei jugendlichen
Individuen, zum Verschluss durch die Naht geeignet ist, denn
es erfolgte Heilung per primam ohne Durchsickern von Harn.
Als Contraindication werden ferner Nieren affe ctiomn an¬
gesehen. Kann man sie vor der Operation mit Sicherheit fest¬
stellen, so wäre es rathsnm, die Sectio alta mit Localanästhesie
(Schleie h’scher Infiltration) auszuführen, da in solchen Fällen
die Narkose wohl die Hauptgefahr darstellt. In meinem ersten
Fall war gewiss die in so kurzer Zeit wiederholte Narkose
für die schon in der Function stark beeinträchtigte Niere
nicht gleichgiltig. Obwohl hier offen behandelt wurde, starb
der Kranke nach zwei Monaten.
Manche geben nach Ausführung der Naht keinen Dauer¬
katheter, sondern lassen den Patienten selbst uriniren. Ist die
Naht sehr exact, die Krankenpflege verlässlich, so dass der
Kranke wirklich alle zwei bis drei Stunden angehalten wird,
seinen Harn zu entleeren, so mag die Naht dadurch nicht
* gefährdet werden. Manchmal kann aber der Kranke spontan
nicht uriniren. So war mein zweiter Patient, als ihm am
vierten Tag der Katheter herausgefallen war, nicht im
Stande, selbst den Urinzu entleeren. Wenn freilich
der Kranke, wie im ersten Fall, noch dazu eine Strictura
urethrae besitzt, so ist weder der Dauerkatheter anwendbar,
noch ein regelmässiger Katheterismus durchführbar; wenigstens
konnte dieser Kranke beides nicht ertragen. Das mag dazu
beigetragen haben, dass sich die Blasenfistel nicht schloss.
Man hat einige Male beobachtet, dass Seidenfäden aus
der Nahtlinie in die Blase wunderten und hier neuerlich zu
Concrementbildung führten. Darum wurde empfohlen, Catgut
zu nehmen. Kasumowsky nahm deshalb Silberdraht; er
knüpft ihn auf der Haut über einem Bäuschchen, so dass er
später extrahirt werden kann. Solche Fadenwanderung ist
aber doch relativ recht selten, und wenn man die Mucosa
nicht mitgefasst hat, dürfte sie vielleicht ganz ausbleiben.
Die Heilungsdauer wird durch die Naht der Blase
bedeutend abgekürzt. B i e r s t e i n 16) fand bei offener Be¬
handlung 31 Tage, bei Naht 11 bis 13 Tage Heiluugsdauer.
Im ersten Fall (Beobachtung v. Hacker’s) dauerte es 14 Tage
bis zur völligen Heilung, in meinem zweiten Fall 18 Tage.
l:>“) Beiträge zur klinischen Chirurgie. Bd. XX.
,4) Wratsch. 1899, Nr. 48. Referat: Centralblatt für Chirurgie. 1899.
15) Burckhardt, Chirurgische Klinik der BJasenkrankheiten.
Klinisches Handbuch der Harn- und Sexualorgane. 1894, Bd III.
16) Wratsch. 1899, Nr. 11 und 12. Referat: Centralblatt für Chir¬
urgie. 1899.
Die Gefahren scheinen nicht grösser als bei der
Sectio alta überhaupt zu sein. Angerer macht stets die
Naht und hat keinen Patienten direct durch die Operation
verloren, speciell keinen an Urininfiltration.
In der Literatur der letzten Jahre findet sich eine sehr
grosse Zahl von Blasennähten veröffentlicht. Erst kürzlich
stellte G o 1 i s c h e w s k y 17) 43 Fälle Rasumowsky’s mit
vollständiger Naht zusammen, darunter 40 Heilungen per
primam, i. e. 93% . Selbst wenn die Resultate nicht immer so
gute wäreu (ich fand bei 137 Fällen der neueren Literatur
in 96 Heilung per primam ohne Fistelbildung, d. i. nur 70%),
empfiehlt es sich doch öfter, als es bisher geschah, wenigstens
also bei jugendlichen Individuen und bei normalem Harn,
zu nähen.
Aus der k. k. pädiatrischen Klinik des Prof. Jakubowski
in Krakau.
Zur Biologie der fVlalariaparasiten.
Von Dr. Xaver Lewkowicz, Assistenten der Klinik.
Seit vier Jahren befasse ich mich mit Studien über
Malaria parasiten und habe bereits Ende 1896 eine vorläufige
Mittheilung •) über sie veröffentlicht. Unter dem Einflüsse
neuer Beobachtungen mussten dann mehrmals meine An¬
schauungen Modificationen erfahren und damit auch die Pu¬
blication der ausführlichen Arbeit verschoben werden. Jetzt
trete ich an diese Veröffentlichung umso williger, als die Frage
der Malariainfection in letzten Jahren, vorzugsweise durch die
Wiederaufnahme der Mosquito-Malariatheorie, eine brennende
geworden ist, und ich hoffen kann, dass auch meine Unter¬
suchungen zur Klärung gewisser dunkler Seiten der Biologie
der Malariaparasiten etwas beitragen werden.
Das rege Interesse, welches die Malaria auch in weiteren
Kreisen der Aerzte hervorruft, gibt sich durch den mächtigen
Aufschwung der Malarialiteratur kund. Im Folgenden schien
es mir unmöglich, jeder zu besprechenden Frage eine genaue
Literaturübersicht vorangehen zu lassen. Um an Raum zu ge¬
winnen, musste ich mich auf das Noth wendigste beschränken,
und empfehle Jedem, der sich über den bisherigen Zustand
der gegebenen Fragen genauer orientiren wollte, das Referat
von B a r b a c c i 2), welcher aus einer sechsjährigen Zeitperiode
(1892 — 1897) 361 Publicationen über Malariaparasiten ge¬
sammelt und ihren Inhalt zusammengestellt hat.
Das Material meiner Beobachtungen stammt aus der
pädiatrischen Klinik in Krakau und aus ihrem Ambulatorium.
Es ist nicht nur ziemlich reichlich, sondern auch, was viel
wichtiger, sehr vielseitig. Ich habe im Ganzen vom April 1896
bis Ende 1899 446 Malariafälle beobachtet, nämlich 406 Fälle
der gewöhnlichen Tertiana und Quartana, 40 Fälle der langin-
tervallären und malignen Fieber. Es fallen davon auf die
klinischen Beobachtungen 109 Fälle, d. i. 83 Fälle der Ter¬
tiana und Quartana benigna, 26 Fälle der ästivoautumnalen
Fieber, der Rest auf die ambulatorischen Beobachtungen.
Meinem hochverehrten Chef, Herrn Prof. J a k u b o w s ki,
für das gütige Ueberlassen des klinischen Materials, sowie
Herrn Prof. Bujwid, der mir alle Untersuchungsmittel seiner
Anstalt mit grosser Bereitwilligkeit zur Verfügung stellte,
spreche ich an dieser Stelle meinen aufrichtigsten Dank aus.
Die Abarten der Malariaparasiten.
Entgegen den Anschauungen Laveran’s und seiner
Schule muss es jetzt als bewiesen betrachtet werden, dass die
Malariaparasiten in mehrere Varietäten zerfallen, die durch
ihre morphologischen Eigenschaften, ihren Entwicklungsgang,
sowie durch die klinischen Symptome der durch sie hervor¬
gerufenen Krankheit hinlänglich charakterisirt sind. Damit ist
l7) Archiv für klinische Chirurgie. Bd. LX.
') Lewkowicz. Ueber den Entwicklungsgang und die Eintheilung
der Malariaparasiten. Centralblatt für Bacteriologie. Bd. XXI, Heft 4.
2) Barbacci, Neuere Arbeiten über Malaria. Centralblatt für allge¬
meine Pathologie und pathologische Auatomie. 1899, Bd. X, Nr. 2 und 3.
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
207
aber die Frage der Stabilität dieser Abarten, der Unität oder
Pluralität der Malariaparasiten noch nicht entschieden.
Es sind uns folgende Abarten bekannt:
1. Die grossen Tertianaparasiten. Sie führen ihren Ent-
wicklungscyklus in 48 Stunden zu Ende, und da der h ieber-
anfall bei Malaria immer durch den Zerfall der Parasiten
(Segmentation oder Zerfall der sterilen Parasiten) hervor¬
gerufen wird, so wiederholt sich hier der Anfall, bei An¬
wesenheit einer Parasitengeneration, jeden dritten Tag.
2. Die grossen Quartanaparasiten. Sie bilden die Grund¬
lage des Quartanafiebers. Ihr Entwicklungscyklus dauert
72 Stunden.
Beide dieser Abarten sind von Golgi differenzirt und
beschrieben worden,3)
3. Die kleinen Tertianaparasiten bilden die Grundlage
der malignen oder tropischen Tertiana und dieser fallen die
meisten Fälle der von italienischen Autoren sogenannten ästivo-
autumnalen, sowie der tropischen Fieber zu. Die Entwicklung
der Parasiten dauert 48 Stunden. Sie wurden von Marchia-
fava und Bignami differenzirt.4)
Die Existenz des von Marchiafava und Celli be¬
schriebenen Parasiten der malignen Quotidiana muss als fiag-
lich betrachtet werden, da es sich in entsprechenden Fällen
um Tertiana maligna duplex handeln kann. Fraglich ist auch
das Vorhandensein der malignen Quartana (Lave ran, Zie-
mann5). Möglicher Weise bilden aber die Parasiten der ma¬
lignen und tropischen Fieber, wie Ziemann annimmt, nui
eine Abart, welcher je nach der Malignität der Parasiten und
der Widerstandsfähigkeit des befallenen Organismus verschieden
lange Entwicklungsdauer zukommen kann (24 48 72
Stunden).
Während die Existenz der drei obgenannten Abarten
über alle Zweifel erhaben zu sein scheint, kann man dasselbe
von der nächstfolgenden nicht behaupten.
4. Körper der Halbmondreihe, als die muthniassliche
Grundlage der langinterva Hären Fieber.
Da die diesbezüglichen Meinungen der Autoren weit
auseinandergehen und der Versuch, die Bedeutung der Halb¬
monde für die Entstehung der langintervallären Fieber zu be¬
weisen, den hauptsächlichsten Inhalt dieser Abhandlung bildet,
so muss ich mich in die Literatur des Gegenstandes etwas
mehr einlassen.
Laveran6) sieht die Halbmonde als Cysten an, in
denen die zu Fortpflanzungszwecken dienenden Flagellen zur
Entwicklung gelangen. Das Eindringen in das Innere dei
Blutkörperchen und Encystirung des Parasiten zu Halbmonden
kann nach Laveran nur in einem durch längere Krankheit
kachektisch gewordenen und nicht widerstandsfähigen Oiga-
nismus geschehen.
Diese Meinung muss als irrig betrachtet werden, wenig¬
stens was die Entwicklung im menschlichen Körper anbe¬
langt, denn die sphärischen und geisseltragenden Körper ent¬
stehen, ' wie das schon von mehreren Seiten (Grassi und
Feletti, Lab be, Mannaberg, Sacharow) angegeben
wurde und, was ich vollends bestätigen kann, nur aussei halb
der Blutbahn, und zwar wahrscheinlich unter der Einwirkung
der niederen Temperatur. Man begegnet in den gebubten
Blutpräparaten, die das Bild des kreisenden Blutes am ge¬
treuesten wiedergeben, den sphärischen und geisseltragenden
Formen niemals, und ich habe mehrmals die Gelegenheit ge¬
habt, zu beobachten, dass die gefärbten Präparate ausser den
kleinen Parasiten nur Halbmonde, während die gleichzeitig
entnommenen frischen Blutpräparate nach gewisser Zeit nur
sphärische Körper enthielten. Der gleichzeitige Uebertritt aller
Halbmonde in sphärische Körper konnte nur in der Aenderung
äusserer Bedingungen seinen Grund haben.
3) C. Golgi, Süll’ infezione malarica. Archiv, p. 1. scienze med.
Vol. X. 1886. — Ancora sull’ infezione malarica. Gazetta degli Ospedali.
1886, N. 53.
4) Marchiafava e Bignami, La quotidiana e la terzana estivo-
autunnale. Riforma med. 1891. 1000
5) Ziemann, Ueber Malaria- und andere Blutparasiteu. Jena 18J8.
c) A. Laveran, Traite du paludisme. Paris 1898.
Canalis7) nimmt bei den Halbmonden den Segmen-
tirungsprocess an. Das, was er aber in seiner Abhandlung als
Sporulationskörper der Halbmonde abbildet, sind gewiss nur
sphärische Körper mit Vacuo’en, die mit Sporen verwechselt
worden sind. Solche Vacuolisation der sphärischen Körper, die
zur Bildung von Pseudosporulationskörpern führt, habe ich
mehrmals beobachtet.
Die Entwicklung der Halbmonde sollte nach Canalis
längere aber nicht genau bestimmte Zeit dauern (5 — 6 — 8 — 10
_ 12 — 15 Tage). Dabei soll ein Generationswechsel statt¬
finden. Die Parasiten entwickeln sich anfangs mehrmals in
Cyklen der Quotidiana oder Tertiana maligna (klinisch: Quoti¬
diana- oder Tertianafieber), dann bahnt sich die letzte junge
Generation den Weg in den länger dauernden Entwicklungs¬
cyklus der Halbmonde und deshalb erfolgt in dem klinischen
Bilde ein grösserer fieberfreier Intervall, bis die Halbmonde
zur Segmentirung gelangen. Es folgen dann wieder Quotidiana-
oder Tertianacyklen. Auf diese Weise würden die Halbmonde
die Grundlage der langintervallären Fieber bilden.
Die nicht näher bestimmte Zahl der kurz dauernden
Cyklen und die nicht näher bestimmbare Entwicklungsdauer
der Halbmonde macht es schwer begreiflich, wie überhaupt im
Krankheitsbilde eine Regelmässigkeit im Auftreten der Sym¬
ptome (siehe meine Fälle) zu Stande kommen kann.
Grassi und Feletti8) sehen die Halbmonde als er¬
wachsene und sporulationsfähige Körper einer besonderen
Gattung (genus) an, die sie Laverania malar iae nennen.
Die übrigen Malariaparasiten würden zum Genus H a e m a-
raoeba gehören und in vier Arten (species): H. vivax (Tertia-
nae), H. malariae (Quartanae), H. immaculata und H. praecox
zerfallen. Letztere beide Arten sollen die Grundlage der ma¬
lignen oder Sommerherbstfieber bilden.
Wenn sie oft in Gesellschaft der Halbmonde Vorkommen,
so würde das nur Ausdruck einer Mischinfection sein. Halb¬
monde als solche rufen nur benigne Fieber hervor.
Die Regelmässigkeit der obgenannten Combination spricht
jedenfalls gegen die Zulässigkeit dieser Anschauung.
Die Meinung S a c h a r 0 ff’s 9) steht der obigen Auf¬
fassung am nächsten. Sacharoff betrachtet jedoch die vei-
schiedenen Varietäten der Parasiten der Sommerherbstfieber
und die Halbmonde als zu einer Art gehörend. Diese würde
sich dadurch charakterisiren, dass sie nur Hämatoblasten, d.h.
junge oder kernhaltige Blutkörperchen befällt. Die Ver¬
schiedenheit in der Entwicklungsdauer würde dadurch zu er¬
klären sein, dass die Parasiten Hämatoblasten in verschiedenen
Entwicklungsstadien befallen. Je mehr sie in ihnen Paranuclein
vorfinden, desto länger dauert ihre Entwicklung und desto
grösser wird der Kern des erwachsenen Parasiten. Die grössten
Kerne haben die Halbmonde.
Die Anschauung ist ganz aus der Luft gegriffen. Man
sieht nämlich unsere Parasiten immer auf gut entwickelten
und kernlosen Blutkörperchen.
Im Gegensätze zu obigen Autoren, welche die Sporulations-
fähigkeit der Halbmonde annehmen, betrachten March iafava,
Celli und Bignami die Halbmonde für Bildungen, welche
aus den jungen Parasiten der Sommerherbstfieber durch De¬
generation entstehen und denen deshalb keine besondere Be¬
deutung zukommen kann. Dieser Meinung hat sich auch
Ziemann angeschlossen.
ln letzterer Zeit hat sich aber in dieser Auffassung eine
Wendung geltend gemacht, nämlich unter dem Einflüsse der
Mosquito-Malariatheorie. Man behauptet (Bastianeil i, Big¬
nami und Grassi10), dass die Halbmonde zwar nicht im
Menschenkörper, aber doch ausserhalb desselben zu einei
malarica. Giorn. med. del r.
7) T. Canalis, Studi sull’ infezione
esercito e d. r. marine. 1889. N. 12. .
8) Grassi e Feletti, Heber die Parasiten der Malaria. Centralblatt
für Baeteriologie. 1890, Bd. VII. — Weiteres zur Malariafrage. Centralblatt
für Baeteriologie. 189L Bd. X.
9) n. Sacharoff, Ueber den Entwicklungsmodus . der ver¬
schiedenen Varietäten der Malariaparasiten der unregelmässigen oder
ästivoautumnalen Fieber. Centralblatt für Bactenologie. • b ’ 1 • * '
10) Citirt nach Nut tall, Die Mosquito-Malariatheorie. Centralblatt
für Baeteriologie. 1899, Bd. XXV, Hett 5 10.
208
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
Nr. 9
\v /iteren Entwicklung fähig sind, und ein wichtiges Zwichen-
glied bei der Infection der Mosquitos und dem Zustande¬
kommen späterer, frischer Infectionen des Menschen abgeben
können.
Ich will nur kurz andeuten, dass Mannaberg n) die
Halbmonde für Syzygien, d. h. durch Schmelzung zwei bis
vier junger Individuen entstandene Körper betrachtet, die sich
durch quere Theilung vermehren.
Meine klinischen Beobachtungen würden dafür sprechen,
dass die Halbmonde auch für den inficirten Organismus nicht
bedeutungslos sind, und dass sie nach längerer Zeit — ihre
ganze Entwicklungsdauer würde 22 Tage betragen — zur
Bildung einer neuen Generation, wahrscheinlich auf dem Wege
der Segmentation führen. Sie wären auf diese Weise die
Grundlage der langintervallären Fieber.
Die Entwicklung der Halbmonde schliesst sich oft der
Entwicklung des Parasiten des malignen Fiebers an, oder com-
binirt sich mit ihr. Das Erscheinen der Halbmonde soll, wie
das aus meinen Fällen hervorgeht, ganz im Gegensätze zur
Ansicht Laver ans, als ein Zeichen betrachtet werden, dass
im inticirten Organismus bereits zur Ausbildung einer ge¬
wissen, eventuell im weiteren Verlaufe zur completen Heilung
führenden Resistenz gegen die Infection gekommen ist.
Die langsam vor sich gehende Entwicklung, scheinbar
selbst zeitweilige Einstellung der Lebensfunctionen der Halb¬
monde würde aber andererseits für den Parasiten mit dem Vor¬
theil verbunden sein, dass dieser die ungünstigen äusseren Be¬
dingungen, welche in der relativen Immunität des inticirten
Organismus und in etwaigen therapeutischen Eingriffen ge¬
geben sind, leichter überdauern kann.
Bau der Parasiten.
Erst durch Entdeckung des Färbeverfahrens von Ro¬
man owsky1'-) ist es uns gelungen, in den feineren Bau des
Parasitenleibes, sowie in die Vorgänge, die der Segmentation
vorangehen, tiefer einzudringen.
Die Vorschrift von Ro manowsky lautet folgender-
massen. Nach Fixirung der trockenen Präparate durch Er¬
wärmung bis 105 — 110° C. lässt man sie (die Präparatenseite
nach unten) auf folgender Mischung schwimmen:
Gesättigte wässerige Methylenblaulösung ... 1
lu/0ige wässerige Eosinlösung . 2
Die Methylenblaulösung soll möglichst alt sein und vor
dem Gebrauche filtrirt werden. Obwohl nach der Mischung
ein Niederschlag entsteht, filtrirt man nicht. Man hält die
Präparate zwei bis drei Stunden, wäscht im starken Wasser¬
strahle, um den etwa anhaftenden Niederschlag möglichst weg¬
zuwischen, trocknet und legt in Canadabalsam ein.
Rothe Blutkörperchen werden rosaroth, die Parasiten, wie
das Plasma der Lymphocyten blau, das Kernchromatin der
Parasiten, wie die Kerne der Lymphocyten und anderen
Leukocyten tief violett gefärbt. Tritt diese leuchtende violette
Färbung der Lymphocytenkerne nicht ein, so ist die Färbung
nicht gelungen.
\\ ie das auch Anderen zugestossen ist, so habe auch ich
lange kein befriedigendes Resultat bekommen können. Die
Vorschrift ist nämlich nicht genau, denn die Methylenblau¬
lösung muss gewisse Eigenschaften besitzen. Manche Methylen-
blausorten taugen überhaupt nichts. Erst als ich mein Me¬
thylenbau aus der Fabrik Poulenc fr eres, 122 Boulev.
Saint-Germain, Paris, zu beziehen anfing und gesättigte
’8 — 10"/oige) wässerige, aber, was besonders wichtig, einige
Monate alte und bereits von einem Schimmelüberzuge be¬
deckte Lösungen in Anwendung brachte, waren die Resultate
ausgezeichnet. Auch mein Eosin (ä l’eau) stammte aus der¬
selben Fabrik. Zur Fixirung gebrauche ich übrigens nur ab¬
soluten Alkohol (fünf bis zehn Minuten).
n) Mannaberg, Die Malariaparasiten. Wien 1893.
I!) Ro manowsky, Zur Frage der Parasitologie und Therapie der
Malaria. St. Petersburger medicinische Wochenschrift. 1891, Nr. 34 — 35.
Sacharoff13) und Ziemann14) haben Modificationen
des Verfahrens vorgeschlagen. Vielleicht wird sich Ziemann’s
Modification — Ziemann nennt sie seine eigene Methode —
praktisch erweisen.
In die Details des Baues der Malariaparasiten will ich
mich nicht sehr einlassen und muss den Leser auf die Dar¬
stellung Ziemann's verweisen. Ich muss nur hervorheben,
dass die typische Form eines jungen Parasiten aller Abarten
eine Ringelform ist.
Der grösste Theil dieses Ringes wird vom Plasma, der
kleinere vom Kerne, der wiederum in Chromatin und achro¬
matische Zone zerfällt, gebildet. Der Kern umschliesst einen
Raum, welcher von Mannaberg irrthümlicher Weise für
einen Kern betrachtet wurde. Dieser Raum ist bei den Para¬
siten der gewöhnlichen Tertiana und Quartana, da diese
endoglobulär sind (siehe unten) durch Hämoglobinlösung aus¬
gefüllt und färbt sich rosaroth, wie der übrige Rest des Blut¬
körperchens. In den extraglobulären Parasiten der malignen
Fieber enthält er häufig nur Blutplasma und ist farblos. Der
Parasit kann hier aber einen Buckel des Blutkörperchens
umsehliessen, dann ist auch hier dieser Raum rosaroth
gefärbt.
Bei den amöboiden Bewegungen kann sich der Ring auf-
lösen und wieder schliessen. Die Ringelform dauert bei den
gewöhnlichen Tertiana- und Quartanaparasiten so lange, als
der Parasit wächst. Man sieht sie niemals an den Parasiten,
deren Kern bereits Theilungsvorgänge aufweist. Vielleicht ist es
nicht dasselbe bei den Parasiten der malignen Fieber.
Wenigstens findet man hier oft, aber nicht immer, auch
in ganz erwachsenen Exemplaren (deren Kern noch ungetheilt,
bereits in Theilung begriffen, oder in denen die Segmentation
schon zu Ende geführt ist) gewöhnlich neben dem centralen
Pigmentklümpchen eine, ausnahmsweise zwei dichtanliegende
Vacuolen, die höchst wahrscheinlich mit jenem durch den
ursprünglichen Ring umschlossenen Raume identisch sind. Der
Raum enthält, wie schon früher erwähnt wurde, Blutplasma
und ist deshalb farblos.
In der Monographie Ziemann’s findet man merkwürdiger
Weise über diese Vacuolen keine Erwähnung. Auch in den
Abbildungen wurde sie nicht angedeutet.
Das Kernchromatin färbt sich in den jungen Parasiten
intensiv und man findet hier oft keine achromatische Zone.
Je mehr der Parasit wächst, desto deutlicher wird diese
letztere und das Chromatin wird immer schlechter färbbar.
Vielleicht erhält der Kern eine undurchlässige Membran. Das
Chromatin wird wiederum gut färbbar, als ihre Theilungs¬
vorgänge beginnen. Die Theilung führt zur Bildung secundärer
Kerne, um welche sich das Plasma gruppirt und auf diese
Weise die »nackten Sporen (Gymnosporen)« bildet.
In vielen sowrohl jungen, wie erwachsenen Parasiten
kann man keinen Kern aufweisen. Es stimmt dasselbe auch
auf die Mehrzahl der Halbmonde. Diese Exemplare sind wirk¬
lich degenerirt. Man findet aber doch genug Halbmonde, in
denen der Kern so gut gefärbt ist, wie in den erwachsenen
Exemplaren der Tertiana- und Quartanaparasiten. Man kann
also der Meinung Ziemann’s, der auf Grund seiner Färbe¬
resultate das Zugrundegeben des Chromatins in allen Halb¬
monden annimmt, nicht beipflichten.
Sacharoff15) hat im Gegentheil mit der R o m a-
n o xv s ky’schen Methode nicht nur Chromatin der Halbmonde,
sondern auch Theilungsvorgänge des Chromatins erwiesen.
Die Thatsache würde sehr wichtig sein, denn sie würde be¬
weisen, dass die Halbmonde wirklich zur Segmentation ge¬
langen können. Leider muss ich gestehen, dass ich solche
Halbmonde nicht gesehen habe.
13) Sacharoff, Ueber die selbstständige Bewegung der Chromosomen
bei Malariaparasiten. Centralbatt für Bacteriologie. 1895, Bd. XVIII, Nr. 12
und 13.
“) 1. c.
15) Sacharoff, Ueber den Einfluss der Kälte aut die Lebens
fähigkeit der Malariaparasiten. Centralblatt für Bacteriologie. 1894, Bd. XV.
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
209
Beziehung der Parasiten zum r o t h e n Blut¬
körperchen.
Wie in vielen anderen Punkten, so gehen auch hier die
Anschauungen der Autoren weit auseinander. Lave ran be¬
hauptet bis jetzt, dass die Parasiten an das rothe Blut¬
körperchen nur angeklebt sind (die Halbmonde bilden eine
Ausnahme), die sogenannte italienische Schule mit March ia-
fava und Celli an der Spitze will nur an die en 'loglobuläre
Entwicklung der Parasiten glauben.
Aus einem einfachen und leicht anzustellendem Ver¬
suche, den ich übrigens schon in meiner vorläufigen Mittheilung
beschrieben habe, geht hervor, dass man sich das Blutköipei-
clien als ein Bläschen vorstellen soll, welches aus einer äusserst
dünnen, elastischen Hülle und der diese Hülle lose ausfüllenden
Hämoglobinlösung zusammengesetzt ist.
Die Parasiten der gewöhnlichen Tertiana und Quartana
leben innerhalb dieser Hülle. Uebt man nämlich aut so ein
inficirtes Blutkörperchen, das womöglich einen halberwachsenen
Parasiten enthalten soll, mittelst des Deckgläschens einen Druck
aus, so kann man leicht das Blutkörperchen zum Bersten
bringen. Man beobachtet dann, wie der Parasit durch den
Riss nach Aussen durchgezwängt wird, wie er oft eine Sand¬
uhrform annimmt mit der Verengung, die offenbar dem lasse
in der Hülle entspricht, und wie das Blutkörperchen fast
augenblicklich blass wird, da es plötzlich seinen Hämoglobin¬
inhalt verloren hat.
Die entsprechenden Versuche mit den Parasiten der
malignen Tertiana fallen nicht ganz so eindeutig aus. Man
kann aber aus ihnen doch den Schluss ziehen, dass die Para¬
siten sich hier extraglobulär befinden. Manchmal kann man
überhaupt nicht dazu gelangen, den Parasiten aus derVeitie-
fung in dem Blutkörperchen auszupressen. Bei den Versuchen
berstet manchmal das Blutkörperchen und wird plötzlich blass,
ohne dass der Parasit es verlässt. Einmal ist es mir gelungen,
einen Theil des Parasiten auszupressen und doch wurde das
Blutkörperchen nicht blässer, wenigstens nicht augenblicklich,
was als ein Beweis, dass seine Hülle intact geblieben ist,
angesehen werden muss.
Für die extraglobuläre Entwicklung der Parasiten des
Sommerherbstriebers kann man aber auch andere mehi stich¬
hältige Gründe anführen :
1. Die ganz jungen Parasiten sieht man oft in gefärbten
Blutpräparaten den Rand des Blutkörperchens überragen.
2. Liegen sie auf der Oberfläche, so ist ott genug dei
durch den Ring des Parasiten umfasste Raum nicht gefärbt,
enthält also Blutplasma und nicht Hämoglobiniösung (siehe
oben). Aber nicht nur ganz junge, sondern auch erwachsene
Parasiten enthalten oft, wie schon angedeutet, wahrscheinlich
denselben ungefärbten Raum in Gestalt einer Vacuole.
3. Die Halbmonde ragen manchmal (in gefärbten Prä¬
paraten) mit ihren Spitzen über den Blutkörperchenrand
hinaus.
4. Manchmal beobachtet man auf der einen Seite eines
Halbmondes die beiden Hälften des Blutkörperchenrandes,
was besonders augenscheinlich ist, wenn dieser Rand sägeartig
gekerbt ist. Die Halbmonde sind nämlich durch das 1 >lut-
körperchen ganz umkleidet, befinden sich aber nicht im Innein
der Hülle. Wie ich annehme, entwickelt sich der Parasit
zwischen dem Blutkörperchen und der inneren h lache des
Blutgefässes, an dessen Wand er angeheftet ist. Dabei erhält
das Blutkörperchen eine Schüsselform. Durch Zusammenlegen
dieses schüsselförmiger Blutkörperchen, so, dass die eine Rand¬
hälfte über die andere überrage, entsteht, wie man sich leicht
am Abschnitte eines Gummiballons überzeugen kann, ein spindel¬
förmigen Raum, welcher für die weitere Entwicklung des
Parasiten bestimmt ist. Spindelförmige Parasiten trifft man in
manchen Fällen (siehe mein Fall Nr. 10) gar nicht selten^ in
anderen aber nur ausnahmsweise an. Indem der Parasit weitei
in die Länge wächst, seine beiden Spitzen aber am Aus¬
einanderweichen durch die an einer Seite ausgespannten hand-
hälften des Blutkörperchens verhindert sind, erhält er eine
Krümmung und wird so zum Halbmonde. Die Bildung dei
Halbmondgestalt soll man sich aber gewiss nicht ganz mecha¬
nisch vorstellen; vielmehr muss sie als Ausdruck einer An¬
passung des Parasiten an die äusseren Lebensbedingungen
aufgefasst werden.
Durch die extraglobuläre Entwicklung werden folgende
Besonderheiten erklärlich :
1. Die Parasiten der malignen und langintervallären
Fieber machen nur einen kurzen Theil ihres Lebens im ki eisen¬
den Blute durch. Sehr bald verschwinden sie aus diesem. Es
bleibt ihnen nämlich ein Theil ihrer Oberfläche frei und sie
können sich damit an die innere Wand der Gefässe dei
inneren Organe anhaften. Sie geben hier eventuell zu Ln-
culationsstörungen, und insofern es sich um wichtige Or¬
gane, z. B. um Gehirn handelt, zu entsprechenden klinischen
Symptomen Veranlassung (Febris intermittens maligna, eoma-
tosa). Man findet auf diese Weise im peripheren Blute bei
den reinen malignen Fiebern fast ausschliesslich junge Paia-
siten (Ringelchen). Weitere Entwicklungsstadien dieser Para¬
siten erscheinen hier nur bei sehr starker Infection, lln Ei¬
scheinen in namhafterer Zahl muss als übles Zeichen, nämlic 1
als Zeichen der Ueberfüllung der Gefässe innerer Organe,
angesehen werden.
Bei den langintervallären Fiebern trifft man fast aus¬
schliesslich die jungen Parasiten (Ringelchen) und Halbmonde
an. Uebergangsstadien zwischen beiden werden nur ausnahms¬
weise gesehen, weitere muthmassliehe Entwicklungsstadien
der Halbmonde ausser den nierenförmigen Körpern habe ich
in meinen Fällen nicht angetroffen. Vielleicht werden die
Halbmonde dadurch circulationsunfähig, dass sie bei ihrer
weiteren Entwicklung kugelige Gestalt annehmen.
2. Die erwachsenen Parasiten können hier kleiner sein
und ein Drittel bis die Hälfte des Blutkörperchens nicht über¬
steigen, denn die durch Segmentation gebildeten jungen Para¬
siten gelangen gleich ins Blutplasma. Nicht so wm bm der
gewöhnlichen Tertiana und Quartana, wo die Hülle des Blut¬
körperchens durch den erwachsenen Parasiten zersprengt werden
muss, um die Sporen nach aussen gelangen zu lassen
Man könnte also die Malariaparasiten, wie ich es in
meiner vorläufigen Mittheilung, so vie) ich weiss, zuerst gethan
habe, in zwei Varietätengruppen theilen, in die^ Parasiten mit
endo- und extraglobulärer Entwicklung. Auch Ziem aim ist
geneigt, denselben Unterschied zwischen den verschiedenen
Abarten der Malariaparasiten anzuerkennen.
Unität oder Pluralität der Malariaparasiten.
Laver an steht bis jetzt an der Spitze der Umcisten.
Nach ihm sind die verschiedenen Nuancen im Aussehen des
Parasiten durch Polymorphismus desselben bedingt. La reran
lässt nicht einmal die Existenz specieller Varietäten als Grund¬
lage verschiedener Malariafieber zu. Im Gegensätze hiezu sind
die italienischen Autoren, von den grundlegenden Aroeiten
Golgi’s angefangen, Pluralisten. ,
Vormals auch Pluralist, sah ich mich immer mehr durch
klinische Beobachtungen gezwungen, mich den Unicismus zu¬
zuwenden. Die Existenz mehrerer Varietäten der Malaria¬
parasiten kann, wie ich das schon hervorgehoben habe, nicht
iu Frage gestellt werden. Diese Varietäten sind aber, jeder
Wahrscheinlichkeit nach, nicht stabil und können ineinander
, (Schluss folgt.)
übergehen.
Aus der III. medicinischen Klinik (Hofrath v. Schröttei)
in Wien.
Therapeutische Studien über das Sanatogen.
Von Dr. Eduard Rybiczka, Aspirant an obiger Klinik.
Im Herbste des vorigen Jahres wurde uns von der
Firma Bauer & Cie. in Berlin ein jüngst in den Handel ge¬
brachtes Eiweisspräparat, das Sanatogen, zu Versuchszwecken
übergeben. Ich habe mich umso lieber der Aufgabe untei
zogen, den Werth dieses neuen Präparates an dem ^lm wehen
Materiale der III. medicinischen Klinik zu erpro ben, a
210
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 9
Zahl derjenigen Nährpräparate, die eine wirkliche Bereicherung
unseres Heilschatzes darstellen, trotz der grossen Menge der
fort und fort in den Handel gebrachten derartigen Mittel eine
recht geringe ist. Bei manchen derjenigen Präparate, die ihrer
chemischen Zusammensetzung nach — weil sie hoch zu¬
sammengesetzte Eiweisskörper in grosser Concentration ent¬
halten — Erfolge erwarten -Hessen, scheiterte die praktische
Anwendung daran, dass die Kranken entweder von vorneherein
einen gewissen Widerwillen dagegen äusserten, oder dass sich
ein solcher nach relativ kurzer Zeit einstellte. Es war daher
bei der Beurtkeilung des neuen Präparates auf die letzteren
beiden Umstände, die mögliche Dauer der Darreichung und
die Beeinflussung des Appetites in erster Linie Gewicht zu
legen; denn diejenigen Krankheiten, bei denen wir das Be-
dürfniss empfinden, die gewöhnliche Nahrung durch eine
künstliche zu ersetzen, welche leichte Assimilirbarkeit mit
grossem Nährwerth in geringer Quantität verbindet, haben ja
fast alle das Gemeinsame, dass sie mit chronischen Schwäche¬
zuständen oder chronischen Verdauungsstörungen einhergehen.
Die günstigen Berichte zahlreicher Aerzte über das
Sanatogen Hessen erwarten, dass die mit demselben angestellten
Versuche ein zufriedenstellendes Resultat ergeben würden,
während die geringe Zahl der bisher aus Kliniken vorliegenden
Beobachtungen eine Nachprüfung von dieser Seite wünschens-
werth erscheinen Hessen.
Da Stoffwechseluntersuchungen bereits von Vis und
T reupel ausgeführt wurden mit dem Resultate, dass die im
Kothe ausgeführte Stickstoffmenge bei Sanatogendarreichung
und bei Fleischnahrung nahezu dieselben bleiben, glaubte ich
von der Wiederholung- dieser Versuche Abstand nehmen und
mich auf rein klinische Beobachtungen beschränken zu dürfen.
Haben wir ja doch in dem subjectiven Befinden der Patienten,
der Beeinflussung ihres Appetites^ der Reaction ihres Magen-
und Darmtractes, dem Körpergewichte und dem Hämoglobin¬
gehalt des Blutes ziemlich zuverlässige Werthmesser, um die
Brauchbarkeit und den Erfolg eines Nährpräparates beurtheilen
zu können.
Es wird wohl keiner weiteren Begründung bedürfen, dass
ich aus den meinen Mittheilungen zu Grunde Hegenden
Krankengeschichten nur das Allernothwendigste hervorhebe.
Das Sanatogen stellt ein grauweisses, trockenes Pulver
von unmerklichem Gerüche dar. Auf seinen Geschmack komme
ich später noch zu sprechen.
Das Pulver quillt in kaltem Wasser leicht auf und löst
sich beim Erwärmen desselben zu einer milchigen Flüssigkeit.
Seiner chemischen Zusammensetzung nach stellt das
Sanatogen eine Verbindung von 95% Casein mit 5°/0 glycerin¬
phosphorsaurem Natron dar. Dieses Mittel enthält also einen
leicht verdaulichen Eiweiskörper in Verbindung mit einem
zur Gruppe der nervinen Tonica gehörenden Salze, so dass
es einerseits als ernährendes, anderererseits als anregendes
Agens wirken sollte.
Bezüglich der Verwerthung des Sanatogens im Organismus
verweise ich auf den erwähnten Bericht von V i s und
Treupel in Freiburg: i. B, welche auf Grund ihrer Stoff¬
wechsel versuche das Sanatogen als dem Fleische in dieser
Hinsicht vollkommen ebenbürtig hinstellen. Demnach wäre es
möglich, dieses Mittel als Ersatz für Fleisch in solchen Fällen
anzuwenden, wo Fleischnahrung nicht verabreicht werden kann
oder wo Widerwillen gegen dieselbe vorhanden ist, und
namentlich dann, wenn nebstbei auch ausgesprochener Ekel
gegenüber ausschliesslicher Milchdiät besteht.
Da das glycerinphosphorsaure Natron nach den Er-
fah rungen vieler, namentlich französischer Aerzte — ich
nenne hier Robin, Del age und Starr — speciell zur
Erhöhung des Appetites beiträgt, so legten wir bei der Er¬
probung dieses Mittels auch Gewicht auf diesen Umstand und
fanden uns, wie ich gleich jetzt sagen will, diesbezüglich sehr
befriedigt.
Wir brachten das Sanatogen in Anwendung bei Blutkrank¬
heiten, bei nervösen Depressionszuständen, bei Erkrankungen des
Magen- und Darmtractes und verschiedenen Inanilionszuständen.
Ausserdem Hess ich auch in einem Falle von Chorea, ab¬
gesehen von der Verordnung von kalten Bädern und der Ver¬
abreichung von Bromnatrium, täglich drei Kaffeelöffel Sanatogen in
Milch nehmen und erzielte damit innerhalb zwölf Tagen den Erfolg,
dass die zwölfjährige Patientin während dieser Zeit um 1% kg an
Körpergewicht zunahm.
Die choreatischen Zuckungen hörten nach derselben Zeit,
wohl in Folge der Bäderhehandlung, nahezu gänzlich auf.
Wie mir die Mutter des Mädchens späterhin berichtete,
wurde der früher immer schlechte Appetit des Kindes unter der
Verabreichung von Sanatogen ein dauernd guter, und es verschwanden
auch nach Verlauf von circa drei Wochen alle nervösen Be¬
schwerden.
Die Menge des unseren Kranken verabreichten Sanatogens
schwankte zwischen drei bis fünf Kaffeelöffeln täglich. Dasselbe
wurde meislentheils in der Milch oder Suppe, in einem Falle auch
in Thee und Wein gegeben. Dabei will ich gleich darauf auf¬
merksam machen, dass es absolut nothwendig ist, bei der Ver¬
mengung der genannten Flüssigkeiten mit Sanatogen streng nach
der gegebenen Vorschrift zu verfahren, d. h. das Pulver zuerst
sorgfältigst in der kalten Flüssigkeit zu verrühren und dann durch
Erwärmen zur Lösung zu bringen. Geschieht dies nicht, so bilden
sich kleisterähnliche Bröckelchen, die unangenehm schmecken und
den Kranken Ekel erregen.
Auf diesen Umstand wird wohl in solchen Fällen gut zu
achten sein, wo die Kranken darüber klagen, dass dieses Präparat
in der ihnen verabreichten Form schlecht schmecke.
Alle Kranken, die dieses Nährpräparat verabfolgt erhielten,
nahmen dasselbe gerne zu sich. Weiber nahmen es lieber als
Männer. Die letzteren verspürten, namentlich hei der Darreichung
des Sanatogens in der Suppe, im Anfänge einen unangenehmen
Beigeschmack und gewöhnten sich erst nach und nach daran. In
Milch wurde dasselbe jedoch, selbst in relativ grosser Menge bei¬
gegeben, kaum durch eine Veränderung des Geschmackes erkannt.
Abgesehen von einem ganz verzweifelten Falle von schwerer
Leukämie unterstützte das Sanatogen unsere Therapie auf das Wirk¬
samste und trug wesentlich zur Besserung des Krankheitszustandes
bei. Rasche Zunahme des Gewichtes wurde nur nach Verabreichung
grösserer Mengen von Sanatogen (vier bis fünf Kaffeelöffel täglich)
bemerkt; kleinere Dosen (zwei bis drei Kaffelöffel täglich) führten
wohl immer zu einer Besserung des Appetites und Allgemein¬
befindens, hatten aber nur nach verhältnissmässig langer Darreichung
eine Gewichtszunahme im Gefolge.
Bei einer Anzahl Patienten wurde der Hämoglobingehalt des
Blutes vor und nach der Behandlung mit Sanatogen geprüft und
in einigen Fällen eine wenn auch geringe, doch deutliche Ver¬
mehrung desselben constatirt.
Eine 17jährige Modistin, die an ausgesprochener Chlorose
litt, nahm innerhalb 14 Tagen, während welcher sie täglich vier
Kaffeelöffel Sanatogen in Milch verabreicht erhielt, um 2l/2&y zu.
Der vorher schlechte Appetit besserte sich und blieb sehr rege,
und der Hämoglobingohalt des Blutes stieg von 30% auf 45%.
Vor der Verabreichung von Sanatogen waren Blau d’sche Pillen
und Tinctura arsenicalis Fowl er i ohne merklichen Erfolg ange¬
wendet worden.
Bei einer 19jährigen Näherin, die gleichfalls an hochgradiger
Chlorose litt — es bestanden auffallende Blässe der Haut, Nonnen¬
sausen, anämische Herzgeräusche, Herzklopfen, Magenbeschwerden,
Mattigkeit und Schwindelgefühl, verbunden mit dem Gefühle all¬
gemeiner Hinfälligkeit — erzielten wir einen ähnlichen Erfolg.
Vorher waren gleichfalls ohne ersichtliche Wirkung ver¬
schiedene Eisenpräparate und Arsen angewendet worden.
Die innerhalb von 14 Tagen erfolgte Gewichtszunahme be¬
trug zwar nur 1 kg, aber der Hämoglobingehalt des Blutes stieg
von 15% auf 25%. Die Mattigkeit und das bestehende Schwindel¬
gefühl verliessen die Kranke, Appetit und Wohlbefinden nahmen
wesentlich zu und das früher während des Schlafes bestandene
Erschrecken und Auffahren hörte auf.
Nun hörten wir mit der Darreichung von Sanatogen auf und
gaben wieder Eisenpräparate. Der Appetit blieb auch in den fol¬
genden Tagen ein guter und die Kranke verliess eine Woche
später geistig und körperlich weit frischer das Spital. Während
dieser letzten Zeit schienen auch die Eisenpräparate besser assimilirt
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
211
worden zu sein, denn die vorgenommene Untersuchung hatte eine
weitere Zunahme des Hämoglobingehaltes auf 30% ergeben, und
es ist die Annahme nicht ganz ungerechtfertigt, dass durch Hebung
des allgemeinen Ernährungszustandes auch der Verdauungstract
für die" Aufnahme des Eisens fähiger gemacht worden sei, da ja
vor der Verabreichung desselben kein Erfolg mit den Eisen¬
präparaten erzielt worden war.
Weniger in die Augen fallenden Erfolg hatte die Darreichung
von Sanatogen bei zwei an Carcinoma v e n t r i c u 1 i leidenden
Patientinnen, ln beiden Fällen war hochgradige Kachexie vorhanden,
es bestand starker Brechreiz und vollständige Appetitlosigkeit. So¬
wohl bei der einen wie bei der anderen Patientin war in der
Magengegend ein Tumor durch die Bauchdecken hindurch zu fühlen
und als dem Pylorustheile des Magens angehörig nachzuweisen.
Die erste Kranke, eiue 46jährige Fabriksarbeiterin, vertrug
absolut keine feste Nahrung mehr und nährte sich nur von etwas
Milch und Suppe, die sie in geringen Quantitäten zu sich nahm.
Das Körpergewicht war von 2. October bis 2. December 1899 von
36 '/•> hg auf 34 gesunken. Nebstbei litt die Patientin auch an
Schlaflosigkeit. Man versuchte es nun mit Sanatogen (vier Kaffee¬
löffel täglich). Der Appetit stieg wieder, es wurde sogar nach fester
Nahrung verlangt, und in Folge der gebesserten Ernährungsver¬
hältnisse wurde wenigstens der Gewichtsabnahme ein Einhalt gethan,
und das Gewicht der Kranken betrug nach fast vierwöchentlicher
Anwendung von Sanatogen immer noch 34 V2 %, war a^s0 von
dieser Zeit an constant geblieben. Auch der Schlaf hatte sich wieder
eingestellt.
Die andere Patientin, eine 53jährige Köchin, vertrug nicht
einmal mehr Milch aus Ekelgefühl gegen dieselbe. Etwas Käse,
sowie ein wenig Thee und Wein, denen man täglich fünf Kaffee¬
löffel Sanatogen beimengte, bildeten die einzige Nahrung, welche
die Kranke nicht anwiderte, die unter solchen Umständen natürlich
nicht an Gewicht zunehmen konnte. Doch erreichten wir zum
Mindesten das, dass wir sie im Körpergleichgewichte erhielten, was
immerhin bemerkenswerth ist, wenn man in Betracht zieht, dass
das Körpergewicht der Leidenden vor der Sanatogendarreichung
innerhalb zehn Tagen von 411/2^5r au* 40 hg gesunken war,
während unter derselben das Gewicht volle 14 1 age hindurch
so lange dauerte in diesem Falle die Beobachtung — im Gleichen
(407«/) geblieben war.
Eine recht günstige Wirkung entfaltete das Sanatogen in
einem Falle von Ulcus ventriculi, eine 36jährige Kleider¬
macherin betreffend, die an starken Gastralgien, Druckschmerz in der
Magengegend, Bluterbrechen, Blutabgang mit dem Stuhle, Anämie
und Appetitlosigkeit litt. Die ersten acht Tage versuchten wir es
bei ihr mit reiner Milchdiät, ohne aber besonderen Erfolg damit
zu erzielen. Die geringe von der Kranken gut vertragene Milch¬
quantität reichte nicht aus, eine Gewichtserhöhung bei derselben
zu erzielen (das Gewicht betrug nach Ablauf einer Woche nach
wie vor 38 leg), und die Druckempfindlichkeit in der Magen¬
gegend, sowie der Brechreiz dauerten an. Die Patientin erhielt nun
täglich fünf Kaffeelöffel Sanatogen, der Milch zugesetzt. Innerhalb
der folgenden acht Tage verschwanden die erwähnten Beschwerden
der Kranken fast gänzlich, es bestand nun lebhaftes Nahrungs-
bedürfniss, und die früher bestandene Apathie machte einer leb¬
hafteren Gemüthsstimmung Platz. Das Gewicht der Leidenden war
nach Verlauf dieser Zeit von 38 kg auf 39 hg gestiegen.
Wie weit das Sanatogen in diesem Falle auf den rascheren
Verlauf des Heilungsprocesses, der mit der Verabreichung dieses
Mittels einzutreten schien, Einfluss nahm, entzieht sich der Be-
urtheilung. Jedenfalls scheint es auch bei Magengeschwüren gut
vertragen zu werden und gestaltet uns, einerseits die Milchmenge,
welche bei reiner Milchdiät nöthig wäre, um den Patienten im
Körpergleichgewichte zu erhalten, bedeutend zu vermindern und
ermöglicht es dadurch andererseits, die Patienten durch viel längere
Zeit ohne Widerwillen gegen die Milch bei Milchdiät zu halten, da
wir das Präparat ausser in Milch auch in schwachem Ihee oder
in Suppe reichen können.
Einer an weit vorgeschrittener Phthise (Infiltration beider
Lungenspitzen, Caverne linkerseits) erkrankten 32jährigen l( rau,
bei der nebstbei hochgradige Gastroenteroptose vorhanden
war, brachten wir das Sanatogen per Klysma bei, da per os in
Folge bald darauf eintretenden Erbrechens jegliche Speisenautnahme
unmöglich gemacht worden war. Wir setzten dem Nährklysma
jedes Mal circa 50 g Sanatogen zu.
Nach acht Tagen verlangte die Kranke selbst wieder, in der
üblichen Weise Nahrung aufzunehmen, was wohl nicht so sehr
dem eingeführten Nährpräparate als der vollständigen Ruhig¬
stellung des Magens zuzuschreiben sein dürfte.
Der Versuch, Milch mit Sanatogen zu gemessen, gelang zur
Zufriedenheit, und nach 14 Tagen war die Patientin, die jetzt
regen Appetit zu zeigen begann, bereits so weit, dass sie jegliche
Nahrung zu sich nehmen konnte. Trotz Fortschreitens des tuber-
culösen Processes und des andauernden Fiebers (Tagestemperatur
durchschnittlich über 38° C.) blieb der Appetit ein dauernd guter,
und die Kranke zeigte keinerlei Gewichtsabnahme, während sie vor
der Verabreichung jenes Mittels innerhalb drei Wochen um
mehr als 2 kg abgenommen hatte (41 leg 80 dg : 39 hg 50 dg).
Der Hämoglobingehalt ihres Blutes war während der ganzen
Dauer der Sanatogendarreichung (täglich drei Kaffeelöffel circa acht
Wochen) von 60% auf 52% gesunken, zeigte also trotz Zunahme
des Zerstörungsprocesses in den Lungen keine wesentliche Ab¬
nahme.
Einem 21 jährigen Dienstmädchen, das an beiderseitiger
Lungenspitzen infiltration, Bluthusten und T ubercu-
lose der Nieren litt (U5% Eiweiss im Harne), liessen wir
Sanatogen in der täglichen Menge von drei Kaffelöffeln verabreichen.
Das Gewicht zeigte allerdings innerhalb der 14 Tage,
während welcher die Kranke dieses Mittel erhielt, keinerlei Zu¬
nahme. Aber der schlechte Appetit derselben besserte sich zu¬
sehends.
Ob das Sanatogen hei Nephritiden als Ersatz von Fleischkost
gegeben werden darf, und welchen Einfluss das Präparat auf die
Eiweissausscheidung übt, ist aus obigem Falle wohl nicht zu er-
schliessen, da es sich einerseits um eine Tuberculose der Nieren
handelte, andererseits auch auf Fleischkost keine Zunahme der
Eiweissausscheidung eintrat. Fälle von acuter oder chronischer
parenchymatöser Nephritis standen mir leider nicht zur Verfügung.
Bei einem Patienten mit arterio-sklerotischerSchrumpf-
n i e r e sank unter einer aus Milch, Milchspeisen und Sanatogen
bestehenden Nahrung der Eiweissgehalt des Harnes von 2y2 auf
17
00’
um
dann stationär zu bleiben.
Rasche Gewichtszunahme und Vermehrung des Hämoglobin¬
gehaltes des Blutes konnten wir bei einem 17jährigen Kinder¬
mädchen beobachten, das an Bauchfelltuberculose litt. Es
war Infiltration der Lungenspitzen vorhanden; die Kranke hatte
heftige Bauchschmerzen und Diarrhöen; durch die Bauchdecke
hindurch konnte man dicke Stränge tasten. Wir reichten ihr
Sanatogen in der täglichen Quantität von vier Kaffelöffeln. Es
wurde ohne Beschwerde vertragen und gerne genommen. Appetit
und körperliches Wohlbefinden nahmen wesentlich zu und nach
Verlauf von 14 Tagen war das Körpergewicht des Mädchens von
33 hg 20 dg auf 35 hg angewachsen, der Hämoglobingehalt des
Blutes von 45% aut 65% gestiegen.
Ein Typhusreconvalescent, ein 26jähriger Metall¬
dreher, hatte durch vier Wochen Sanatogen im Ausmasse von
vier Kaffeelöffeln erhalten und nach Verlauf dieser Zeit um 8 hg
zugenommen.
Nun muss man bei Beurtheilung dieser Thatsache den Um¬
stand wohl ins Auge fassen, dass mit dem Eintritt? der Re-
convalescenz bei Typhus eine Steigerung des Appetites und rasche
Gewichtszunahme wohl auch ohne die Anwendung eines Nähr¬
präparates zu erwarten waren.
Ich will daher auch letzterem diesbezüglich keine allzu
grosse Rolle zuschreiben. Von Werth ist aber immerhin der
Umstand, dass das Sanatogen von dem Darmtraete des Kranken
gut vertragen und von diesem gerne genommen wurde. Namentlich
im Beginne der Reeonvalescenz bei Typhus, wo wir in der Qualität
und Quantität der verabreichten Nahrung noch grosse Yorsichl
üben müssen, bildet ein leicht assimilirbares und reizloses Eiweiss-
präparat einen willkommenen Behelf.
Eine 45jährige Frau mit narbiger Stenose des Oeso¬
phagus war in Folge der lange Zeit sehr erschwerten Nahrungsauf¬
nahme und durch den Pneumothorax in ihrem Ernährungszuslande sein
herabgekommen. Die Stenose war eiue so hochgradige, dass di«
Leidende anfänglich nur
Nahrung zu sich nehmen konnte.
212
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Ni. 9
Sie bekam ursprünglich drei Kaffeelöffel Sanatogen per Tag, wobei
sieb nach Verlauf von vier Wochen nur eine Gewichtszunahme
von \\.,kg herausstellte, was wohl mit Rücksicht auf das damals
bestehende hohe Fieber (durchschnittlich 38'3° C.) ein günstiges
Resultat zu nennen ist. Man gab ihr dann weitere vier Wochen
täglich fünf Kaffeelöffel von diesem Präparate. Nach dieser Zeit
war ihr Pneumothorax fast vollständig geheilt und die narbige
Stenose der Speiseröhre durch Dilatation gebessert worden. Ihr
Körpergewicht hatte um weitere 5 kq zugenommen. Der Appetit
war bald nach Verabreichung des Sanatogens ein sehr guter ge¬
worden, und das subjective Wohlbefinden der Patientin war ein
recht zufriedenstellendes.
In dem oben erwähnten Falle von schwerer Leukämie
versagte allerdings das Präparat, dagegen sah ich in einer Anzahl
selbst weit vorgeschrittener Phthisen durchwegs den einen
günstigen Erfolg eintreten, dass dieses Mittel den verloren ge¬
gangenen Appetit wieder belebte.
Zum Schlüsse will ich noch von einem 19jährigen, ambula¬
torisch behandelten Studenten berichten, der an Neurasthenie
litt, und dem ich zur Hebung seines geschwächten Verdauungs¬
systems den Gebrauch von Sanatogen verordnete. Derselbe litt an
nervösem Erbrechen, an fortdauernder Schlaflosigkeit und hoch¬
gradiger gemüthlicher Depression.
Abgesehen von kalten Waschungen und den entsprechenden
hygienisch-diätetischen Verhallungsmassregeln rieth ich ihm an,
täglich vier bis fünf Kaffeelöffel von Sanatogen in leichtem Thee
diesen vertrug er am besten — zu nehmen und dann den
Versuch mit allerlei Milchspeisen, denen dieses Mittel in entspre¬
chender Menge zugesetzt werden sollte, zu machen. Nach 14 Tagen
erschien der junge Mann wieder, um mir zu berichten, dass er
seit einigen Tagen sich wieder eines ununterbrochenen Schlafes
und eines ausgezeichneten Appetites erfreue, und dass ihn das
lästige Aufstössen nach dem Essen nicht mehr plage. Jedenfalls
haben hier mehrere Umstände zugleich den geschilderten
Effect erzielt und hat wohl die leichte Assimilirbarkeit des Sana-
logens, sein hoher Nährwerth, und der Umstand, dass es in keiner
Weise reizend wirkt, dazu beigetragen, das geschwächte Verdauungs¬
system des Patienten und in weiterer Folge sein Nervensystem
wieder in Ordnung zu bringen.
Sicherlich zeigt sich uns im Sanatogen ein Mittel, das in
solchen Fällen, wo die Hebung der Verdauungskraft auch eine be¬
stimmte Rückwirkung auf das irritirte Nervensystem zu äussern
vermag, von unzweifelhaftem Werthe ist.
Unseren nervösen, magenleidenden Erwachsenen, unseren
schwächlichen, blutleeren und appetitlosen Kindern kann eine
Zu that von einigen Kaffeelöffeln Sanatogen zur täglichen Speise
nach den bisherigen Erfahrungen nur nützen.
Die Sanatogen-Cakes, welche nur 20% des Präparates ent¬
halten, habe ich nie allein, immer nur als unterstützende Beigabe
zu dem Pulver verordnet.
Wenn ich nach den gemachten Erfahrungen urtheilen
soll, so kann ich mich gleich zahlreichen Fachgenossen nur
anerkennend über die Wirkungsweise des Sanatogens äussern.
Als Vorzüge seien noch einmal zusammenfassend hervor¬
gehoben der hohe Nährwerth des Präparates, die leichte Ver¬
daulichkeit und Reizlosigkeit, der in keiner Weise prononcirte
Geschmack, der auch bei einer längeren Darreichung nach
meinen Beobachtungen nie widerlich empfunden wird ; die
günstige Beeinflussung des Appetites bei den verschiedensten
Krankheitszuständen, der nervösen Beschwerden, namentlich
auch der Schlaflosigkeit bei Neurasthenikern, des Körper¬
gewichtes und in einigen Fällen auch des Hämoglobingehaltes
des Blutes, und die aus alledem resultirende Steigerung des
subjectiven Wohlbefindens der Kranken.
Zum Schlüsse erfülle ich eine angenehme Pflicht, indem
ich meinem hochverehrten Chef, Herrn Hofrath v. Sehr öfter,
für die Ueberlassung des Krankenmateriales meinen tief¬
gefühlten Dank ausspreche.
FEUILLETON.
Professor Jaus (1696 — 176!).
Ein neuer urkundlicher Beitrag zur Geschichte der
Medicin in Wien.
Von Robert R. v. Töply, Privatdocent.
Franz Josef Jaus zählte zu den hervorragenderen Pro¬
fessoren der Wiener medicinischen Facultät während der ersten Hälfte
der theresianischen Zeit. Gelegentlich der seit Jahren betriebenen Suche
behufs Vervollständigung meiner Sammlung von Belegen für die Ent¬
wicklung der Medicin ’) bin ich unter Anderem in den Besitz von
Schriftstücken gelangt, wTelche geeignet sind, ein neues Licht über
die näheren Lebensumstände dieses Mannes zu verbreiten. Es sind dies
1. ein Diplom aus dem Jahre 1723, 2. eine Niederschrift seiner ana¬
tomischen Vorlesungen aus dem Jahre 1751, 3. ein Diplom aus dem
Jahre 1755. Dazu gesellt sich 4. eine Eintragung ins Stammbuch dor
Witwensocietät der Wiener medicinischen Facultät, dessen ersten Band
ich erst unlängst veröffentlich habe.2) Die in diesen Quellen enthaltenen
Auskünfte sind umso willkommener, als weder das biographische
Lexikon von Gurlt-Hirsch, noch das von W urzbach über
Jaus berichtet. Auch bei H y r 1 1 3), Puschmann4), Kirche n-
b erg er5) finden sich nur einige spärliche Nachrichten über ihn.
Nach Hyrtl war der kaiserliche Leibchirurg Jos. Jaus der
Erste, welcher in Wien das neu errichtete Amt eines Prosectors unent¬
geltlich verwaltete (1730). Doch bald fand er es für räthlich, sich um
einen Substituten (den Chirurgen M i t s c h k o) umzusehen. Ueber seine
kurze Thätigkeit als Professor der Anatomie während der Jahre 1754
bis 1757 berichtet derselbe Gewährsmann, dass Jaus die Anatomie
nur im Wintersemester vorzutragen hatte. Während des Sommer¬
semesters unterrichtete er in der theoretischen und praktischen Chirurgie
sammt Instrumenten- und Bandagenlehre. „Jaus war seines Zeichens
mehr praktischer Chirurg als Anatom. Weder von ihm, noch von
seinem Vorfahrer (Schellenberger) weiss die Geschichte der
anatomischen Entdeckungen irgend etwas zu sagen. Er iiberliess des¬
halb die Sorge um die anatomische Lehrkanzel einem jungen Docenten
(Laur. Gasser).“
Nach Puschmann war der kaiserliche Leibwundarzt Jaus,
welcher in Paris unter Winslow0) studirt hatte und in Wien
mehrere Jahre als Prosector thätig gewesen war, seit dem Jahre 1749
(oder 1750) bis 17G1 Professor der Chirurgie. Er hielt als solcher die
chirurgischen Vorträge und Demonstrationen für angehende Chirurgen
und versah auch in den Jahren 1754 — 1775 gleichzeitig die Professur
der Anatomie.
Jaus hat auch in der Entwicklung des österreichischen Militär-
Sanitätswesens eine Rolle gespielt. Laut Kirchenberger erhielt
im Jahre 1750 der Hofkriegsi’ath die Weisung, nur solche Medici
und Chirurgen bei der Armee anzustellen, wTolche an der Wiener
medicinischen Facultät geprüft und für geeignet befunden wurden. Zwei
Nachtragsverordnungen vom Jahre 1751 bestimmten, dass die Regi¬
menter keine anderen Unterfeldscherer annehmen dürfen, als solche,
welche in der Schule des Leibchirurgen Jaus ihre Profession erlernt
hätten und vom Stabs-Oberchirurgen Kaiser approbirt wären. Gegen
diese Lehrlinge des Jaus erhoben jedoch die Officierskreise bald
heftige Klagen, gegen welche wieder van S wieten in einer aus¬
führlichen Note vom 27. Februar 1759 als Vertlieidiger auftrat, bei
welcher Gelegenheit er sich des angegriffenen Jaus wännstens
annahm. 7)
Diese wrenigen in bekannteren Werken hinterlegten gelegent¬
lichen Bemerkungen über J aus werden durch die erwähnten Urkunden
wesentlich vervollständigt. Vor Allem erfährt man daraus, dass Franz
Josef Jaus als Sohn des kaiserlichen und königlichen Leib- und
Hofchirurgen Ursus Victor Jaus den 13. April 1696 in Wien
geboren wurde. Seine Gattin Anna Theresia (Hueberin), geboren
den 3. August 1718, war um 22 Jahre jünger als ihr Gatte. Ich habe
ähnliche offenbare Missverhältnisse beim Studium der Wiener Aerzte-
familien der theresianischen Zeit nicht allzu selten gefunden, Aus dem
ersterwähnten Diplom geht waiters hervor, dass der Sohn bei seinem
Vater die Chirurgie Üblichermassen erlernt und sich- dann in England
und Frankreich unter den vornehmsten Chirurgen weiter vervoll¬
kommnet hat. Nach seiner Rückkehr bewarb er sich um die durch den
Tod des Vaters erledigte Stelle als kaiserlicher und königlicher Ilof-
chirurg, welche ihm auch zugesprochen wurde. Doch musste er sich
vorher an der medicinischen Facultät der gesetzlichen Prüfung behufs
Erlangung des Magistergrades unterziehen. Er wurde zu diesem Zwecke
durch die beiden Vorsteher der hofbefreiten (privilegirten) Chirurgen
der Facultät vorgestellt, den 8. April 1723 um 3 Uhr Nachmittags
in der Wohnung des Exdecans nach den damals gütigen Vorschriften
im Beisein der beiden erw’ähnten Chirurgen durch vier von der Facultät
entsendete Fachmänner geprüft und den 10. April 1723 als Magister
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
219
der Chirurgie bestätigt. Der seiner Entstehungszeit angepasste naive
Wortlaut des im Anhang vollinhaltlich wiedergegebenen deutschen
Bestallungsdiplomes schildert recht anschaulich das Prüfungsverfahren.
Sieben Jahre später übernahm er, wie bereits erwähnt, die Pro-
sectur (1730). Dem zweiten Diplom zufolge wurde er mit der Zeit zum
Chirurgen der Kaiserin und Königin M aria T h e r e s i a befördert
und (1749/50) zum Professor der Chirurgie ernannt. Als solcher hatte
er den angehenden Chirurgen auch Vorträge über Anatomie zu halten.
Nähere Auskunft über deren Inhalt gibt die eingangs erwähnte Hand¬
schrift. Sie stellt sich dar als ein in Pergament gebundenes Buch von
473 beschriebenen Quartseiten mit dem litel:
„Compendium Anatomicum. In Se C on t mens
Anatomiam Vniversam, Quodque est ex script is
praeclarissimi domini Professor is N o s t r i Jaus, anno
d o m i n i 1751.“ . ..... ,
Die Durchsicht des Buches lohnt nur wenig die Muhe des
Lesens der vergilbten Schrift. Der Stoff ist in die fünf Hauptabschmte
Mvologie (1 — 96), Osteologie (97—272), Angiologie (2(3 ol<),
Neurologie (318— 360), Splanchnologie (361 — 4(3) eingetheilt. Der
Inhalt ist eines höheren Schwunges bar. Fremde Autoren oder deren
Werke werden nicht erwähnt. Stellenweise unterlaufen förmliche
Plattheiten. So sagt Jaus von der Osteologie, sie sei „wohl zu wissen
wenig oder gar nicht noth wendig denen meisten, dannenuero (sie)
auch^gleichsam völlig in Vergessenheit kommet.“ Die Entwicklungs¬
geschichte der Knochen fertigt er kurz ab: „Weilen sich allbier Ein
formirtes Sceleton praesentirt, scheint mir unnöthig zu seyn, untei-
seliidliche zweiffelhaffte Meinungen vihler Authoren auf die Bahn zu
bringen, umb zu wissen, auf was arth das Bein sich formiert, wachst
es Krumb, grad, oder Breit, und dergleichen, wordurch wir ohne
Einzigen nutzen zu ziehen die Zeit verlielierten und keine gewissheit
davon erhalten würden.“
Das ganze Buch macht den Eindruck trockener Schulgelehr-
samkoit, wie sie eben jener Periode entspricht, in der sich Jaus ent¬
wickelt hatte, sowie des Zwanges, unter dem der Lehrer stand, indem
er einen bestimmten Stoff in streng begrenzter Zeit den Schülern bei-
bringen musste.
Jaus scheint in der Gunst der Kaiserin sowie ihres Berathers
van S wie ten rasch gestiegen zu sein. Wie aus dem zweiten Diplom
erhellt, wurde er zur Würdigung seiner Leistungen auf Anordnung
der Kaiserin den 5. November 1755 von der Universität zum Doctor
der Chirurgie erhoben. Als Pathe stand bei diesem Act sein Beschützer
van S wie ten. Es ist recht bezeichnend für das seit dem Reform-
edict vom 7. Februar 1749 neu geschaffene Verhältniss der Facultät
zur obersten Leitung des Unterrichtswesens, dass auch die Ertheilung
akademischer Grade, wie hier des Doctorats der Chirurgie, auf kaiser¬
lichen Befehl erfolgte. Der Wortlaut der diesbezüglichen (lateinischen)
Urkunde erscheint mir genug wichtig, sie hier in Uebersetzung wiedei-
zugeben.
„Wir, der Rector, und die uralte sowie hochberühmte Wiener
Universität, entbieten den Lesern unseren Gruss.
Es ist eine löbliche Satzung, insbesondere unserer Vorfahren,
literarische Ehrungen nur auf Grund hinreichender Verdienste zu er-
theilen. Da nun der hochausgezeichnete und hochgelehrte Mann F r a n z
Josef Jaus, ein Oesterreicher aus Wien, Professor der Chi¬
rurgie, sowie Chirurg unserer erhabensten Kaiserin und Königin
Maria Theresia, durch mehrere Jahve die Chirurgie öffentlich in
höchst lobenswerther Art gelehrt hat, wurde durch . eine Verordnung
der Erhabensten bestimmt, er sei hochverdienter Weise zum Doctoi
d e r C h i r u r g i e zu erheben. Eine Prüfung war nicht nothwendig,
da er so sichere und deutliche Nachweise seiner Gelehrtheit und Fertig¬
keit durch so viele Jahve gegeben hatte; daher wir ihn auf Grund
unserer uns zustehenden Machtvollkommenheit im Jahre, Monat und
Tag, welche zum Schluss gegenwärtigen Diploms ausgedrückt sind,
zum Doctor der Chirurgie erheben, als solchen verkünden und er¬
klären, indem wir ihm alle Freiheiten ertheileu, welche einem wiik-
lichen Doctor der Chirurgie von rechtswegen oder gepflogenheits-
gemäss hier, sowie überall auf Erden zustehen. Urkund dessen haben
wir befohlen, dass das grössere Universitätssiegel diesem Freibriete
angeheftet und er mit der handschriftlichen Bestätigung des Notars
dor hochansehnlichen medicinischen Facultat versehen werde. Gegeben
zu Wien in Oesterreich im Jahre des Herrn 1755, den 5. November.
— Bernhard Nikolas M u n e r e t i von Rottenfeld, Ritter des Heiligen
Römischen Reichs, Doctor der Theologie, Canoniker der Metropolitan¬
kirche zum Heiligen Stephan, derzeit Universitätsrector. Gerhaid L. B.
van S wie ten, Vorsitzender der hochansehnlichen medicinischen
Facultät. Lorenz Edler von Hentschel, derzeit Decan. Anton
Do H a e n , Professor der Medicin, Primarius, Promotor. Franz Anton
S t o i n d 1 von Plesseneck, Notar der hochansehnlichen medicinischen
Facultät.“
Indess Jaus erfreute sich nicht mehr lange der ihm durch
Vermittlung von v a n S w i e t e n zu Theil gewordenen Ehren. Ei staib
laut Zusatz im Stammbuch der Witwensocietät bereits den 13. August
1761. So weit sich aus dem vorliegenden urkundlichen Stoff schlossen
lässt, gehörte er nicht zu den bahnbrechenden Geistern. Man wild (lies
begreiflich finden, wenn man bedenkt, dass seine Studienzeit in jenes
drückende Jahrzehnt fiel (1713-1723), binnen welchem sich Wien
und dessen geistiges Leben von der im Jahre 1713 herrschenden 1 est-
seuche nicht zu erholen vermochte. Von des Schicksals Gunst ge¬
tragen, durch Abstammung, persönliches Vertrauen und hohe Gönner¬
schaft in seiner Laufbahn kräftigst gefördert, brachte er es zu_ manchen
Ehren. Nichtsdestoweniger muss es auffallen, dass er erst mit 53 Jahien
zu jenem Universitätslehramt gelangt ist, welches er bis zu seinem
65. Lebensjahre bekleidet hat. Die späte Anstellung an einen so
wichtigen Platz mag es erklären, dass er, so massgebend auch die
ihm übertragene amtliche Thätigkeit gewesen, die von ihm vertretenen
Fächer nicht mehr zu fördern vermocht hat. Das von Hyrtl divina-
torisch über ihn abgegebene Urtheil erfährt durch diese Urkunden
seine Bestätigung. Durch deren weiteren Inhalt gelangt man zu einem
etwas genaueren Einblick in die Verhältnisse des medicinischen Wien
im XVIII. Jahrhundert. Man kann, um endlich einmal eine bisher
noch fehlende ausführliche Geschichte der Medicin in Wien zu er¬
möglichen, gar nicht genug derartigen Stoffes beibringen, denn neue
Urkunden schaffen neue Gesichtspunkte.
Anmerkungen:
1) Diese Sammlung, die ich mir zu Unterrichtszwecken angelegt
habe, umfasst eine ziemlich reichhaltige Bibliothek mit \\ erken zur
Geschichte der Medicin, seltene Ausgaben älterer Aerzte (Incunabelu,
Orientalia, Holzschnitt- und Kupferstichwerke), Handschriften, Urkunden,
Porträts, Medaillen, antike, mittelalterliche und neuere chirurgische
Instrumente, Pläne, Zeichnungen, Modelle u. dgl. für die grundsätzlich
von Demonstrationen begleiteten Vorlesungen. Theile dieser Sammlung
hatte ich bei den letzten Naturforscher -Versammlungen in \\ len 18J4
und Düsseldorf 1898 ausgestellt.
2) Liber societatis viduarum inch facultatis med., tom. i. Fest¬
schrift anlässlich des 500jährigen Bestandes der Acta facultatis med.
Vindob. Wien 1899. Pag. 97-118. _
s) Th Puschmann, Die Medicin m Wien wahrend dei
letzten 100 Jahre. Wien 1884. 8°. 327 S.
4) Jos. Hyrtl, Vergangenheit und Gegenwart des Museums
für menschliche Anatomie an der Wiener Universität. A\ ien 18S9.
8°. 264 S.
5) L. Kirchenberger, Geschichte des k. u. k. österreichisch-
ungarischen Militär-Sanitätswesens. Wien 1895. 8°. 259 S.
o) Jak. Benignus Winslow (1669 — 1760), der berühmte
Pariser Anatom. , , _ . . ,
7) Diese ursprünglich französische Note hat hirchenbergei
a. a. O. vollinhaltlich übersetzt.
Anhang:
I. Diplom für P. J. Jaus. Wien, 10. April 1(23.
Wir Decanus und Collegium Medicorum der Uralten und welt¬
berühmten Kayserlieh-Königlich und Ertzherzoglichen Universitet zu
Wienn in Österreich sagen Jedermänniglich nach Standes gebühr dienst-
freundlichen Grusz ; demnach die Menschliche Societet jene lobwuidige
und von anbegin übliche gewohnheit eingeführt, dasz wegen erlelirnter
Kunst und Wissenschafften die taugliche Subjecta mittels eines Examims,
gleich auf einen Probierstein versuchet .werden sollen, damit a so denen
freyen Künsten ihre Ehre, und der Embsigkeit ihre Vergeltung ver¬
bleibe, auch mit offenbarer Lobs Verkündung diejenige beehret werden,
welche vor Andern in denen Wissenschafften sich empor geschwungen.
Ausz deren zahl sich besonders hervor thuet der Ehrengeacht und
Kunsterfahrne Herr Frantz Joseph Jaus, Weyl: Herrn ürsi
Victoria Jaus der Röm. Kay. und König. Gatholischen May . Le
und Hoff Chyrurgi Seel, hinterlassener Sohn, welcher, nachdem Ei <■}
obwohlgedachten seinen H. Vattern seek die Chyrurgie üblicher massen
erlehrnet, sodann auch, umb sich mehrere zu perfect, omrn sowo in
Engelland als Frankreich unter Direction deren Vornembsten ( h} i
gorum seine exercitia verrichtet, nunmehro als allermildest von uo
lay. und König. Gatholischen May. resolvirter Hoff Chyrurgus seines
H. Vatters seek Stell zubekleiden vor hat; Wan nun aber zu "
deren Kayser: König: und Ertzherzoglichen Unserer Facultet verliehene
Privilegien Keiner in beiden Ertzherzogtlmmben Österreich ob: un
unter der Ennsz in Chyrurgia befördert werden solle, er habe dan nac ,
beschehener praesentation vor Unserer Facultet mittels seines Examen
darzu fähig gemacht, als haben obgedachten Herrn F rant. ‘ J ° " P “
Jaus die vor Unsz erschiene, und von der Medic ni sehen Facultet
examinirt und approbirte Vorsteher deren Hoff befreyten Ghyimgoru
als Herr Gorg Thomas Fischer H. Andrea Stock , beeae
Hoff befreyte Chyrurgi praesentirt, und demütig gebetten, ‘
211
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 9
in des Supplicanten bitt mittels des Examinis einwilligen möchten,
wessentwegen dan nach genauer Untersuchung und gefundener ricbtig-
keit der Uns schrifftlich vorgehrachten Urkunden einer ehrlichen ge-
burtli und beschehener erlehrnung Wir das gebettene Examen auf den
8. Aprilis des zu End stehenden Jahrs nach Mittag umb 3. Uhr in
Unsers dermahligen Ex Decani habenden Behausung, ausz Unserm
Collegio durch gewisse hierzu benennte Herrn Commissarios- als die
Wohl Edl gebohrne und Hochgelehrte Herrn Andre Jacob v. Fock,
Philosophiae et Medicinae Doctorem, des König. Ordens in Portugal
Rittern, der Röm. Kay. und König. Catholischen May. Rath und Proto-
Medicum, Herrn Pium Nicolaum v. Garelli Philosophiae et
Medicinae Doctorem, öffentlichen ad Cathedram eminentem beruffenen
Professoren! in Bononien, des König. Ordens in Portugal Rittern, der
Röm. Kay. und König. Catholischen May. Rath und Leib Medicum,
Herrn Adam Fridrich Kremer Philosophiae et Medicinae Docto¬
rem, eiusdemque in theoricis Professorem Publicum Primarium, der
Röm. Kay. und König. Catholischen May. wie auch der Verwittibten
Kayserin Hoff Medicum, Herrn Johann Jacob Freund Von
Weyen her g, Philosophiae et Medicinae Doctorem, der Röm. Kay.
und König. Catholischen May. Hoff-Medicum, in beyseyn der ob¬
gedachten Herrn Chyrurgorum vornehmen und verrichten und in selben
widerholten H. Frantz Joseph Jaus auf das schärffest in
der Chirurgie alles Fleisses erforschen lassen, auch selben pro ma-
gisterio das Emplastrum defensivum Rubrum, und Balsamus Arcaei
aufgegeben worden, in welchen allen Er H. Frantz Joseph Jaus
mit besondern Ruhm sich also erfahren und fertig erwisen, dasz alle
anwesende Herrn Examinatores ein sattsambes Vergnügen, und ab¬
sonderliches Wohlgefallen darob gehabt, danuenhero besagten H. Frantz
Joseph Jaus mit Einwilligung des gantzen Collegij Medicorum et
Chyrurgorum von einen tauglich und wohl erfahrnen Maister in der
Chyrurgie geschätzet und erkennet, also, dasz Er seine Kunst zu Trost
der Krancken und Preszhafften gebührender weisz sicher, ruhig und
von Männiglich ungehindert üben, und treiben möge, jedoch hat sich
derselbe dem bey Unserer Facultet abgelegten Jurament gemäsz zu
verhalten; Zu dessen wahrer Urkund haben Wir dis Examen Unserem
Prothocollo einverleibt, und Ihme Herrn Frantz Joseph Jaus
dises Testimonium mit Unsers Collegij grossem anhangenden Sigil,
und Unsers Herrn Ex Decani Spectabilis aigener Hand unterschrifft
auszfertigen lassen. Geschehen in Wienn den lUten April nach der
gnaden reichen geburth JESU CHRISTI in dem Siben Zehen Hundert
Drey und Zweintzigsten Jahrs.
Philippus Ritter Chirurgiae et Medicinae
Doctor Inclytae Facultatis Ex Decanus.
Manu propria.
(S. Collegii Facultatis Medicae Academiae Viennensis.)“
II. Diplom für F. J. Jaus. Wien, 5. November 1755.
„Nos Rector, Et Antiquissima Ac Celeberrima Universitas Vindo-
bonensis, Lectoribus Salutem.
Laudabile imprimis majorum nostrorum institutum est, ut litteraiij
honores, non nisi suffragantibus meritis, conferri soleant. Proinde, post-
quum ornatissimus, et Doctissimus Vir Franciscus Josephus Jaus Austria-
cus Viennensis Chirurgiae Professor, nec non Augustissimae Imperatricis,
et Reginae nostrae Mariae Theresiae Chirurgus per plures annos
Chirurgiam publice Summa cum laude docuerit, statutum fuit Augus¬
tissimae decretö, ut optime meritus in doctorem Chirurgiae promoveretur.
Nec opus fuit ullo examine cum tarn certa et luculenta doctrinae et
dexteritatis suae specimina per tot annos dedisset; hinc Nos authoritate
qua pollemus, eundem anno mense et die iu fine praesentis diplomatis
expresso Chirurgiae Doctorem ereamus, pronunciamus, et declaramus,
tribuentes illi privilegia omnia, quae vero Chirurgiae doctori de jure
vel consuetudine hic, et ubique terrarum competunt. In quorum fidem
his patentibus literis majus Universitatis Sigillum appendi, et eas manu
Notarii Inclytae Facultatis Medicae muniri jussimus, dabamus Viennae
Austriae anno domini millesimo Septingentesimo quinquagesimo quinto.
Mense Novembri, die vero quinta.
Bernardus Nicolaus Munereti de Rettenfeld, mpropria, S. R. J.
Eques. S: S: Thlgiae Doctor Ecclesiae Metrop. ad S: Stephanum
Canouicus, p. t. Universitatis Rector.
Gerardus L. B: van Swieten Incl: facult: Med’. Praeses.
Laurentius nobilis ab Hentschel p t Decanus.
Antonius de Ilaen, Med: Professor primarius, Promotor.
Franc: Anton: Steindl de Plessenek inpropria Incl: Facult:
medicae Notarius.“
REFERATE.
Handbuch der Krankenversorgung und Krankenpflege.
Herausgegeben von Dr. Georg Liebe, Dr. Paul Jacobsohn und Dr. George
Meyer.
Bd. 1 und II, 2. Abtheilung.
Berlin 1898/99, A. Hirsch wal d.
Die enorme Thätigkeit auf dem grossen Gebiete der Kranken¬
fürsorge im weitesten Sinne — eine Thätigkeit, an welcher nicht
nur die Aerzte und ärztlichen Hygieniker, sondern auch die Tech¬
niker fast aller Betriebe, Pädagogen, politische und militärische
Behörden, wie nicht minder die Legislativen theilnehmen — ist
schon jetzt so specialisirt, dass auch eine allgemeine und ganz
oberflächliche Orientirung über ihre Leistungen dem Einzelnen sehr
schwierig wird.
Diese Schwierigkeiten wachsen natürlich, wenn es sich darum
handelt, in irgend einer Detailfrage eine Entscheidung zu treffen,
welche auf der Höhe des Wissens und Könnens stehen soll. Selbst
der erfahrene Krankenhausleiter, der Praktiker auf dem Gebiete der
Krankenversorgung, bedarf einer zusammenfassenden Uebersicht über
diese vielen und vielgestaltigen Materien.
Wer es also unternimmt, den genannten Personen und Körper¬
schaften in dieser Hinsicht entgegenzukommen, befriedigt wirklich
ein »dringendes Bedürfniss« und kann von vorneherein auf grossen
Dank rechnen.
ln weiten Kreisen ist darum das »Handbuch der
Krankenversorgung und Krankenpflege«, von L i e b e,
Jacobsohn und M e y e r mit Unterstützung der namhaftesten
Fachgenossen herausgegeben, lebhaft begrüsst worden. Zum grössten
Theile fertiggestellt, liegt es nun vor. Die einzelnen Abschnitte
sind in sorgfältigster Auswahl und mit weiser Beschränkung zu¬
sammengestellt, Capitel, welche in geringerem Masse der Kranken¬
fürsorge als anderen Disciplinen der Hygiene oder Spitalstechnik
angehören, weggelassen, administrative Details aber, die sonst wenig
zugänglich sind, eingehender berücksichtigt. Auch der Geschichte
der Krankenpflege und ihrer Vertreter ist der gebührende Platz
eingeräumt.
Die Grösse der Aufgabe, welche sich die Herausgeber gestellt
und auch glänzend gelöst haben, wird ersichtlich werden, wenn
wir auch nur eine flüchtige Uebersicht der Abschnitte geben, aus
welchen das Handbuch zusammengesetzt ist.
Eine Abhandlung über die »Geschichtliche Entwick¬
lung der Krankenpflege« von Dietrich (Merseburg)
ist vorausgeschickt. Sie führt uns in anregender Darstellung durch
die Anfänge der Krankenfürsorge im Alterthum, schildert ihre Aus¬
breitung und Durchbildung in den Krankenpflegegenossenschaften
und deren Hospizen im Mittelalter, aber auch ihren Niedergang in
politischen und socialen Wirrnissen der Zeit. Eingehend ist die aus¬
gebreitete humanitäre Bewegung des XVI. und XVII. Jahrhunderts
in den katholischen Orden besprochen, die sich im XVIII. Jahr¬
hundert bedeutend abschwächte, um nach den Freiheitskriegen (in
Deutschland) in der Bevölkerung aller (Konfessionen neu zu er¬
wachen und ungeahnte Dimensionen zu erreichen. Eine eingehende
Statistik der deutschen Genossenschaften für Krankenpflege be-
schliossl das Heft. Die Entwicklung im Auslande in unserer Zeit
und die grossen ausserdeutschen Vereinigungen sind kaum berück¬
sichtigt — ein Mangel, der (wie wir pag. 602 erfahren) »im Plane
dieses Handbuches« gelegen sein soll.
Der erste Haupttheil des Handbuches behandelt die g e sch 1 o s-
sene Krankenpflege: die Krankenanstalten. Die äusserst
umfangreiche Materie füllt den ersten Band (700 Seiten). Sie
gliedert sich in die Schilderung der Specialkrankenhäuser, der
Reconvalescenten- und Siechenanstalten und der allgemeinen
Krankenhäuser.
Die Specialkrankenhäuser sind bearbeitet: Von Levy
und Wolf (Strassburg) für ansteckende Kranke; Liebe (Breslau)
für Lungenkranke; Blaschko (Berlin) für Syphilitische und
Lepröse; L e w a 1 d (Koranowko) für Geisteskranke; W i 1 d e r m u t h
(Stuttgart) für Nervenkranke, Epileptische und Idioten; Fl ade
(Dresden) für Trinker; Brenn ecke (Magdeburg) für Frauen;
Schmid-Monnard (Halle) für Kinder; Silex (Berlin) für
Blinde und Augenkranke; Gutzmann (Berlin) für Taubstumme
und Sprachgebrechliche, und von Rosenfeld (Nürnberg) für
Krüppel.
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
215
In dem ersten Capitel wäre besonders auf die Besprechung
der Isolirspitäler und die ausführliche Darstellung der internationalen
Quarantänegesetzgebung zu verweisen. Mit grosser Wärme sind die
Lungenheilstätten geschildert; der Verfasser, der mehrere
Volksheilstätten, zuletzt Loslau i. Schl., leitete, arbeitet mit reichem
statistischem und klinischem Material und umfassender Literatur-
kenntniss.
B lasch ko vertritt auch hier seine aus den Congressen und
Discussionen des letzten Jahrzehntes bekannten und durchaus be¬
rechtigten Forderungen über die Untersuchung und Behandlung
venerisch erkrankter Prostituirter. Der kurze Abschnitt über
Lepröse bringt unter Anderem den Entwurf eines »Lepragesetzes«
für Deutschland.
Lewald bespricht ausführlich die allgemeine Behandlung
der Geisteskranken nach modernen Principien. schildert als Typus
einer combinirten modernen Anstalt Dziekanka in Preussen und
behandelt die in Discussion stehenden Fragen des Pflegepersonales,
der Krankenbeschäftigung, Familienpflege etc.
Krankenpflegepersonals (circa 5000 Männer und 27.000 Frauen,
exclusive Kriegskrankonpfleger) vorüberziehen gesehen, so erfahren
wir jetzt unter Anderem, dass im Deutschen Reiche im Jahre 1804
an 3700 grössere Heilanstalten (über zehn Botten) mit 240.000
Plätzen vorhanden waren: dabei für je 100.000 Einwohner 276 Plätze
in den allgemeinen Krankenhäusern.
Im letzten Abschnitte dieses Bandes werden die bewährtesten
Grundsätze der Verwaltung und Dienstesorganisation, Be¬
köstigung u. s. w. in allgemeinen Spitälern besprochen.
Der zweite Band des Handbuches enthält die ollcne
Krankenpflege und die »specielle Kranken Ver¬
sorgung«.
Sie gliedert sich in die
Derzeit liegt
Einrichtungen
Schüler und
nur die letztere vor.
Ür Arbeiter, Gefangene,
Waisen, Arme und für Soldaten.
In das erste Capitel gehören die verschiedenen Versicherungen
und Rentenbezüge, die Deutschland im letzten Decennium gesetzlich
eingeführt hat und die von den meisten anderen Staaten nachsrebildet
Sehr ausführlich, vielleicht allzu detaillir
wie die geburts-
aber auch die
über Nervenkranke, Epileptische und Idioten von
Wildermut h. Es nehmen Symptome, Pathogenese und Therapie
mehr Raum ein, als sie in einer Beschreibung der Specialkranken¬
häuser beanspruchen dürften.
Fl ade steht nicht auf dem Standpunkte vollständiger Al¬
koholabstinenz, fordert diesen aber mit Recht für die Ansfalls¬
behandlung. Wir lernen durch ihn die besten der deutschen
Trinkerheilstätten kennen.
Brenneck e’s Abhandlung enthält, wie er selbst vorausschickt,
weniger »ein Augenblicksbild des Bestehenden« als eine Analyse
des Werdens und Wachsens der Fürsorge für Frauen, speciell
Wöchnerinnen.
Sie umfasst demnach verschiedene Themen
hilflichen Lehranslalten, Entbindungsanstalten,
Hebammenreform, Wöchnerinnenasyle, Familienpflege, Vorschläge
zur staatlichen und communalen, sowie genossenschal fliehen Or¬
ganisation etc.
Auch der Abschnitt Schmid-Monnards ist auf breitere
Basis gestellt. Er behandelt unter Anderem die Pflege unehelicher
Säuglinge, Findelhäuser, Krippen, Säuglingsspitäler, Feriencolonien,
Hospize, Kinderspitäler.
Silex gibt in knappen Umrissen ein Bild der Blinden¬
fürsorge der Jetztzeit, der Organisation der Blindenanstalten, der
Augenheilanstalten, der Trachomfrage.
Ebenso behandelt Gutzmann in erster Linie die Fürsorge
und Therapie für Taubstumme und Kinder mit Sprachgebrechen.
Die Fürsorge für Krüppel liegt, wie Rosen feld aus¬
führlicher darlegt, mit geringen Ausnahmen noch ganz in privaten
Händen. Besonders für Kinder muss daher staatliche Organisation
solcher Anstalten gefordert werden, da für erworbene Krüppel
haftigkeit allmälig die Unfall- und Invaliditätscassen die Fürsorge
und Anstaltsversorgung übernommen haben.
Flade (Dresden) berichtet über die Vorkehrungen für
Genesende. Auch auf diesem Gebiete sind nur vereinzelt An¬
stalten zu finden, welche als mustergültig angesehen werden können.
Sie entstanden zum Theile durch die Thätigkeit von Gemeinden,
zum allergrössten Theile aber durch die Anstrengung von Vereinen,
besonders Invaliditäts- und Krankencassen, denen ja aus budgetären
Gründen daran gelegen sein muss, ihre Mitglieder vollständig
arbeits- und beitragsfähig zu machen.
Eschbacher (Freiburg) fügt in einem kurzen Abschnitte
seine langjährigen Erfahrungen über zweckmässige Siechen¬
pfleg e h ä u s e r an. Hier sind die Gemeindeverbände und Bezirke
berufen, # gründend und erhaltend einzugreifen.
Das wichtige Capitel der Allgemeinen Kranken¬
häuser ist an R up pel, Hamburg (Bautechnik), Rahts, Berlin
(Statistik) und C urschmann und Egge brecht, Leipzig (Ver¬
waltung) vertheilt. Ruppel, der Erbauer der mustergültigen neuen
Hamburgischen Staatskrankenanstalten, legt in einer glänzenden
Studie die Grundlagen des modernen Spitalbaues dar.
gebotenen Kürze dürfte sie wohl Alles enthalten und
unbeantwortet lassen.
Mit imposanten Zahlen arbeitet Rahts. Haben wir schon in
der geschichtlichen Einleitung die grosse Armee des deutschen
t, ist der Abschnitt | wurden: Die Krankenversicherung (besprochen von Mugdan, Berlin),
Cottbus), die Invaliditäts- und
die Unfallgesetzgebung
B (Thiem, uuu^uo/,
Alterscassen (Pie licke, Gütergetz). M e n d e (Gottesberg) schliesst
daran (allerdings allzu detaillirt!) die Bergarbeitereinrichtungen, die
manche Besonderheiten aufweisen, Mugdan die Fürsorge für
Dienstboten.
Aus der Feder Pflege r’s in Berlin stammt ein Artikel über
Krankenversorgung in Strafhäusern. Feilchenfeld (Gharlotten-
burg) erörtert die Fragen der Schülerhygiene sowie der Einrich¬
tungen in Internaten und Waisenhäusern. Ueberaus lesenswerth isl
in diesem Bande Abschnitt IV: »Specielle Krankenversorgung für
Unbemittelte« von Roth in Potsdam.
Mit umfassender Sachkenntniss werden die vielen Unter¬
nehmungen auf diesem Gebiete geschildert, die mannigfachen Um¬
wälzungen, welche die Einrichtungen ununterbrochen erfahren, kriti-
sirt und beherzigenswerthe Vorschläge gemacht.
Den Abschluss bildet die Darstellung der Einrichtungen bei
der Armee in Frieden und Krieg von Hel big (Sarkowitz) und
Neumann (Bromberg). Ihr soll im Schlussheft der Sanitätsdienst
bei der Marine folgen.
Die offene Krankenpflege und eine umfassende
Bibliographie der Krankenpflege sind uns noch zugesagt. Beide
Themen können bei ihrer etwas freieren Stellung im Handbuche
auch hier leicht eine gesonderte Besprechung finden.
Die Darstellung dieses umfassenden Stoffes ist durchwegs
eine vorzügliche, zumeist — die Ausnahmen sind schon oben an¬
geführt — knapp und die Rücksicht auf den Zweck gewahrt, ln
manchen Capiteln allerdings mussten sich die Verfasser begnügen,
ihre Wünsche und Vorschläge zu skizziren. Bei dem Eifer aber,
der in der Bevölkerung — in Deutschland — in dieser Hin¬
sicht herrscht, wird eine neue Auflage in wenigen Jahren sicher
schon über Thatsachen zu berichten haben, wo heute erst Pläne
gefasst werden. Hoffentlich finden sich bis dahin auch Bericht¬
erstatter über die Verhältnisse in den anderen Culturstaaten, welche
im Handbuche leider zumeist nur flüchtig gestreift wurden und
doch sehr viel Wissens- und Nachahmenswerthes enthalten. Dann
wird man dem »Handbuche« auch den Ehrentitel eines Standard
Work nicht vorenthalten können. Dr. Julius Sternberg.
Trotz der
keine Frage
Atlas und Grundriss der speciellen pathologischen Histo¬
logie.
Von Privatdocent Dr. II. Diirck, Assistent am pathologischen Institute in
München.
Lehmann’s medicinische Handatlanten. Bd. XX.
München 1900, Lehm a n n.
Mit Vorliegendem bringt Verfasser etwas in seiner Art ganz
Neues, ein mit ausschliesslich farbigen lafeln (125 Abbildungen
reich ausgestattetes Compendium zur Einführung in die paliio-
logische Histologie. Der Versuch ist als ein recht gelungene! zu
bezeichnen.
Der Text zeichnet sich durch wohlberechnete Kürze, die Ab¬
bildungen meist durch instructive Auswahl und leicht lässliche
Einfachheit der Wiedergabe charakteristischer Bilder aus. Diese Ein¬
fachheit erscheint allerdings manchmal, insbesondere bei Abbildungen
21fi
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 9
mit schwacher Vergrösserung, ein wenig auf die Spitze getrieben,
was im Allgemeinen bei einem »Schulbuch« — als solches ist
dieser Alias und Grundriss« doch wohl beabsichtigt — nicht als
Mangel anzusehen wäre, hier aber hie und da bis zur Schwerver-
ständlichkeit gesteigert ist (siehe z. B. die Tuberculose des Kehl¬
kopfes, Tabula 28, Big. I, das tuberculose Darmgeschwür, Tabula 59,
Fig. II, die fibrinöse Pericarditis in Organisation, Tabula 7, Fig. 11
etc.). Auffallend erscheint auch die stiefmütterliche Kürze, mit
welcher Verfasser einzelne Abschnitte bedacht hat, die gewiss auch
für den Anfänger einer eingehenderen Behandlung bedürfen. So
füllen z. B. die Neubildungen des Magens nur eine Seite Text und
eine Tafel (mit zwei Abbildungen, von denen die zweite für den
Anfänger weder inslructiv, noch leicht verständlich ist), während
beispielsweise den Erkrankungen der Arterienwand elf Seiten Text
und sechs Tafeln (mit zwölf Abbildungen) gewidmet sind. Die Neu¬
bildungen der Zunge, des Oesophagus, des Larynx, der Pleura und
des Peritoneums finden überhaupt keine Erwähnung. Allerdings ist
die Schwierigkeit der Vertheilung des Lehrstoffes, des Ausmasses
iu der Vertiefung der einzelnen Abschnitte nicht zu unterschätzen,
und gewiss muss dem subjectiven Ermessen des Lehrenden ein
grosser Spielraum eingeräumt werden. Vielleicht bringt auch noch
die in der Vorrede angekündigte »allgemeine pathologische Histo¬
logie eine Ausfüllung der im Vorliegenden sich bemerkbar machen¬
den Lücken. Jedenfalls werden diese zum grossen Theil durch das
übrige textlich und illustrativ Gebotene aufgewogen.
Insbesondere sind viele der Bilder mit starker Vergrösserung
als höchst gelungene zu bezeichnen und machen dem Zeichner
ebenso wie ihre Reproduction der lithographischen Kunstanstalt
alle Ehre.
Praktisch erscheinen die den einzelnen Capiteln in wenigen
Worten vorausgeschickten Recapilulationen der wichtigsten Details
aus der normalen Histologie des betreffenden Organes.
Die Qualität des bisher erschienenen ersten die Erkrankungen
der Circulations-, Respirations- und Digestionsorgane behandelnden
Bandes lässt auch für die folgenden (Schlussband der » specie' len«
und dritter Band: »Allgemeine pathologische Histologie«) Gutes er¬
warten und glaubt Referent diesem Unternehmen günstigen Erfolg
Voraussagen zu dürfen. Dr. Oskar Stoerk.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
60. Beitrag zurKenntniss der Seelenstörunge n
d e r E p i 1 e p t i k e r. Von Dr. D e i t e r s, Assistenzarzt an der Pro-
vincial-Irrenanstalt in Andernach. Deiters berichtet zunächst
über einen Fall, in welchem bei einem epileptischen und mässig
schwachsinnigen Individuum eine chronische Paranoia vorhanden
ist. Deiters erklärt (im Gegensätze zu Magnan) den krank¬
haften Vorgang so, dass ein zur Wahnbildung disponirtes Individuum
an Epilepsie erkrankt. Diese ruft allmälig psychische Veränderungen
hervor, welche in Folge der Disposition die paranoische Form ge¬
winnen. In einem zweiten von Deiters mitgethcilten Fall traten
bei einer 31jährigen Frau epileptische Anfälle auf. Ein Jahr später
entwickelte sich bei dieser Frau zwei Monate nach einer Entbindung
eine Lactalionspsychose, die als acute Verwirrtheit zu bezeichnen
war und in ihrem ganzen Verlaufe den auch bei. nichtepileptischen
Individuen entstehenden analogen Psychosen entsprach. Die Störung
verlief von den Krampfanfällen völlig unabhängig; letztere verursachten
eine stundenlange Benommenheit, nach deren Vorübergehen die
Psychose wieder unverändert auftrat. Deiters glaubt, dass hier
durch die Epilepsie eine Prädisposition gegeben wurde und auf
dem so vorbereiteten Boden durch das Hinzukommen einer be¬
sonderen Ursache (der Lactation) eine Geistesstörung zum Ausbruch
kam. — (Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. LVI, Heft 5.)
J.
*
01. Spec ifisches Immunserum gegen Epithel.
\ ou Dr. v. Düngern (Freiburg). Die Untersuchungen erstreckten
sieh auf Flimmerepithelzellen, welche aus der Trachea von Rindern
sofort nach deren Tödtung abgeschabt und in physiologischer Koch¬
salzlösung suspendirt, Meerschweinchen in die Bauchhöhle injicirt
worden waren, wo sie nach sechs, selbst zehn Tagen lebend an¬
getroffen werden konnten. Wiederholt man die ganze Procedur
abermals nach etwa zwölf Tagen, so gehen die Epithelzellen dies¬
mal sehr schnell, etwa innerhalb 18 Stunden zu Grunde. Nach
Verfasser hat sich ein Antikörper gebildet, welcher die Epithel¬
zellen angreift, und welcher sich auch nach obiger Vorbehandlung
im Blute nachweisen lässt. Düngern meint nun, dass es bei der
durch ihn nachgewiesenen Möglichkeit, ein Immunserum mit einem
Antikörper gegen Epithelzellen darzustellen, nicht ausgeschlossen
sei, dass es auch gelingen könnte, ein Serum herzuslellen, welches
auf Carcinomzellen schädigend einwirken könne. — (Münchener
medicinische Wochenschrift. 1899, Nr. 38.) Pi.
*
G2. Symptomatischer Korsakoff und Rückenmarks¬
erkrankung bei Hirntumor. Von Dr. 0. Mönkemöller und
Dr. L. Kaplan, Herzberge bei Berlin. Der in dieser Arbeit be¬
schriebene Fall bezieht sich auf eine 47jährige Frau, welche die
psychischen Symptome der Korsakof f sehen Psychose bot. Die
schon in vivo mit grosser Wahrscheinlichkeit gestellte Diagnose auf
Hirntumor wurde durch die Obduction bestätigt, indem sich im
rechten Schläfelappen ein Tumor fand, dessen mikroskopische
Untersuchung ihn als Myxosarkom ansprechen liess. Die im Rücken¬
mark gefundenen anatomischen Veränderungen bezogen sich fast
ausschliesslich auf die Hinterstränge und hinteren Wurzeln, die
vorderen Wurzeln waren frei geblieben. Die Verfasser verweisen
darauf, dass K o r s a k o f f sehe Symptome und Hirntumor in engster
pathologischer Verknüpfung bestehen können und finden für der¬
artige Fälle die Bezeichnung »symptomatischer Korsakoff« gerecht¬
fertigt. — (Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. LVI, Heft 5.)
J.
*
63. F a v i s m o. Von Dr. Montano (Savello). Ueber den
Favismus wurde schon am 11. internationalen Congresso zu Rom
berichtet und man versteht darunter eine in den letzteren Jahren
in Italien nicht selten beobachtete Krankheit, von welcher Per¬
sonen, bei denen offenbar hiezu eine Prädisposition vorhanden ist,
ergriffen werden und die ätiologisch nicht nur auf den Genuss der
rohen oder gekochten Früchte der gemeinen Bohne, sondern sogar
auf den Duft ihrer Bliithen zurückgeführt wird. Sie besteht der
Hauptsache nach in einer mehr oder minder umfänglichen Auf¬
lösung, beziehungsweise Zerstörung der rothen Blutkörperchen mit
ihren Folgen, wie Hämoglobinurie, Milzschwellung u. s. w. Verfasser
berichtet über vier neue von ihm beobachtete derartige Fälle, von
denen zwei tödtlich endigten und von welchen einer einen Säug¬
ling betraf, der erkrankte, nachdem die Mutter ein Gericht Bohnen
verzehrt hatte. — (Verlag: Grieco, Melfi. 1899.) Pi.
*
64. Beitrag zur Statistik, A e t i o 1 o g i e und Sym¬
ptomatologie der allgemeinen progressiven Para¬
lyse der Irren mit besonderer Berücksichtigung
der Syphilis. Von Hans Sprengeler, Wehnen. Die Unter¬
suchungen Sprengele r’s beziehen sich auf 337 auf der psychi¬
atrischen Klinik zu Göttingen in den Jahren 1866 bis 1898 be¬
handelte Fälle von progressiver Paralyse. Unter diesen Fällen war
das Zahlenverhältniss zwischen Männern und Frauen 7 : 1. Die
meisten waren im Aller zwischen 36 und 40 Jahren erkrankt.
Die Durchschnittsdauer der Krankheit betrug bei Männern 2 Jahre
4 Monate, bei Frauen 3 Jahre 5% Monate. Unter den Kranken
befanden sich 13'2% Angehörige der ersten Gesellschaflsclassen,
Landleute nur 2‘34°/0. Verhällnissmässig oft erscheinen die in be¬
sonders verantwortungsvoller Stellung befindlichen niederen Beamten
(zumal die vom Eisenbahndienstpersonal) von der progressiven Para¬
lyse befallen. Die Literatur, welche sich auf den Zusammenhang
zwischen Syphilis und progressiver Paralyse bezieht, findet ein¬
gehende Besprechung, ebenso die auf die übrigen für die Entstehung
dieser Krankheit angeschuldiglen Factoren bezügliche Literatur.
Sprengeler fand bei seinen Paralytikern sicher vorausgegangene
Lues bei 46’2% der männlichen, 35'9% der weiblichen Fälle,
wahrscheinlich vorausgegangener Lues bei 8’3% der männlichen,
18% der weiblichen Fälle. Nach Sprengeler ist Lues die
häufigste, doch durchaus nicht die einzige Ursache der progressiven
Paralyse. Einige Angaben über die Häufigkeit des Vorkommens der
einzelnen somatischen Symptome der progressiven Paralyse, endlich
ein reiches Literaturverzeichniss schliessen die fleissige Arbeit. —
(Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. LVI. Heft 5.) J.
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
217
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Verliehen: Dem Chefarzte Dr. Sigmund Altmann in
Karlsbad, dem Consulararzte Dr. Karl M. Ehrenfreund in
S a 1 o n i c h, dem praktischen Arzte Dr. Josef Hoffmann in
Wien der kaiserlich ottomanische Medschidje Orden III. CI., dem
praktischen Arzte Dr. Ephraim Herdai in Kairo derselbe
Orden IV. CI.
*
Gestorben: Der Geh. San. -Rath Prof. Dr. Leich tenstern in
Köln. — Dr. A. II o a d 1 e y, Professor der orthopädischen Chirurgie
in Chicago.
*
In dem erst vor kurzer Zeit gegründeten „W iener Aerzte-
Club“, der sein geräumiges und behagliches Heim im I. Bezirke,
Schottengasse 7 (Telephon Nr. 15.725), seinen Mitgliedern von 10 Uln
Vormittags bis Mitternacht zur Verfügung stellt, hat sich bereits ein
reges Clubleben entwickelt. Täglich besuchen eine grössere Anzahl
von Mitgliedern, deren der Club derzeit schon über 150 zählt, die
Localitäten, um hier Ansprache, Lecture zu finden oder im Spiele
(Karten, Schach, Billard) Ablenkung und Erholung von den Sorgen
und Mühen der Praxis zu suchen. Jeden Montag hält im giossen
Sitzungssaale der Verein der Aerzte des I. Bezirkes seine Plenar¬
versammlung oder geselligen Abend, jeden Monat tagt hier der Gential-
verband der österreichischen Balneologen, jeden Sonntag Abends ist
gesellige Vereinigung der Clubmitglieder und ihrer Familien und dem¬
nächst soll der erste Club-Herrenabend mit musikalischen und humori¬
stischen Vorträgen stattfinden. Diesen Darbietungen gegenüber ist der
Jahresbeitrag von 12 Gulden (ganz- oder halbjährig zu leisten) und
die Eintrittstaxe von 15 Gulden (die eventuell in drei Jahiesiaten
entrichtet werden kann) gewiss nicht hoch gegriffen. Es ist daher eine
stete Vermehrung der Anzahl der Clubmitglieder wohl mit Sicherheit
zu erwarten.
*
Die constituirende Versammlung des „Verbandes der
Aerzte Wiens“ fand Samstag, den 17. v. M. im Saale des
Wiener medicinischen Doctorencollegiums statt. Nachdem der V oisitzende,
Primarius Dr. Heim, im Namen des Dreiercomites die grosse Be¬
deutung der Organisation der Aerzte Wiens, die hiemit zur Ihatsache
geworden ist, eingehend erläutert hatte, wurde zur Wahl des \ eibands-
vorstandes geschritten. Gewählt wurden : Zum Präsidenten Dr. J o s e f
Heim; zu Vicepräsidenten: Dr. Adolf Gruss, Dr. Ludwig
Stricker; In den Vorstand : Dr. Hans Schum, Dr. Josef
Scholz, Dr. Josef Kornfeld, Dr. Heinrich Jellinek,
Dr. II a n s R. v. W o e r z, Dr. Ferdinand Steiner, Dr. A d o 1 f
Klein, Dr. Rudolf Weiser. Es wurde beschlossen: Ausschüsse
für Pressangelegenheiten, Krankenversicherungs-, Stellungsvermittlungs¬
und Standesangelegenheiten einzusetzen. Ferner wurde der Antrag
auf die Erlassung eines Aufrufes an sämmliche Aerzte V iens an¬
genommen.
*
Dr. Eduard Schiffs Institut für Radiographie und
Radiotherapie.
Nach Ueberwindung mannigfacher Schwierigkeiten haben Docent
Dr. E. Schiff und Dr. L. Freund, deren Verdienste um die Ein¬
führung der Radiotherapie in die Dermatologie wohl allgemein ge¬
würdigt sind, eine mustergiltige Anstalt eröffnet, deren Besuch in
mehrfacher Hinsicht interessant und belehrend ist.
Das Institut ist im Hause Nr. 10 am Bauernmarkt untergebracht
und besteht aus einem grossen, mit Glas gedeckten Hauptraume, in dem die
Apparate aufgestellt sind, und mehreren Nebenräumlichkeiten, die als
Dunkelkammer, Mikroskopirzimmer, Warteraum etc. verwendet werden.
Der Apparatensaal — ursprünglich ein photographisches Atelier liegt
gegen Südost und hat fast den ganzen Tag über directes Sonnenlicht.
Ein kräftiger elektrischer Ventilator soll den Aufenthalt in dem Raume
auch in der heissen Jahreszeit erträglich und angenehm gestalten. Der
Betrieb sämmtlicher Apparate erfolgt durch Gleichstrom, der durch
Anschluss an die Strassenleitung bezogen wird.
Entsprechend den Ergebnissen ihrer dreijährigen Untersuchungen
über die biologischen Wirkungen der R ö n t g e n - Strahlen wandten
Schiff und Freund der Anlage der Apparate zur Röntgen- Behand¬
lung besondere Aufmerksamkeit zu. Der Strassenstrom direct wird
hier zum Betriebe des therapeutischen Apparates nie verwendet. Der¬
selbe hat nur die Aufgabe, von einer Centralstation aus die sechs-
zeilige Accumulatorenbatterie zu laden, welche erst den Strom von
12 Volt bei höchstens 2 Ampere für die primäre Spule des Ruh m-
k o r f f’schen Apparates liefert. Letzterer ist ein Funkeninductor mit
rotirendem Motor-Quecksilberunterbrecher mit einer Schlagweite von
30 cm, doch gibt die eingeschaltete Funkenstrecke bei Verwendung des
bezeichneten Stromes nie mehr als 12 cm Schlagweite. Mit grösstem
Nachdrucke wiesen Schiff und F r eund bei der Demonstration der
Einrichtungen ihres Institutes darauf hin, dass sie es waren, welche
die Dosirbarkeit des Mittels zuerst betonten, dass sie seit Jahren in
Wort und Schrift vor zu intensiven und zu hoch gespannten Strömen
bei der R ö n t g en - Behandlung warnen, dass diese Mahnungen aber
trotzdem immer und immer wieder unbeachtet bleiben, dass noch immer
der Glaube herrsche, ein zum Photographiren geeigneter Apparat gebe
auch günstige therapeutische Resultate und dass die Behandlung mit
derartigen sehr intensiven und hochgespannten Strömen nachweisbar
jene fatalen Folgen habe, die dem ärztlichen Publicum in letzter Zeit
an verschiedenen Orten demonstrirt wurden. Im Institute wurde, wie
bemerkt, jene seit drei Jahren bewährte Einrichtung belassen, der
directe Strassenstrom von 110 Volt Spannung aber nur zu Durch¬
leuchtungszwecken für einen grösseren Röntgen- Apparat benützt,
bei dem ein sogenannter Quecksilberturbinenunterbrecher den primären
Strom in ausserordentlich rascher Aufeinanderfolge unterbricht und
dadurch ein schönes, gleichmässiges, nicht flackerndes Licht erzeugt.
Der ruhige Gang, das Ausbleiben des Warmwerdens der kleinen Ma¬
schine war bestimmend, derselben vorläufig gegenüber dem Wehnelt¬
sehen elektrolytischen Unterbrecher den Vorzug zu geben. Bei diesem
Apparate Hessen Dr. Schiff und Dr. Freund eine kleine, recht
zweckmässige, von den übrigen Röntgen- Installationen abweichende
Einrichtung anbringen. Gewöhnlich befindet sich der Röntgen-
Apparat in dem Raume, wo die Aufnahme gemacht wird; das Sausen
der Motore, das Knattern der Funken hat namentlich bei Kindern,
nervösen und ängstlichen Personen oft manche Unannehmlichkeiten im
Gefolge, indem dieselben oft erschrecken, Bewegungen machen, und so
die Aufnahme stören. Um diese Uebelstände zu vermeiden, wurde die
Wand hinter dem R ö n t g e n - Apparate durchbrochen, die Leitungen
von den Polen der secundären Spirale mittels dichter Isolirungen, die
ebenfalls erst durch mancherlei Experimente gefunden wurden, in die
benachbarte Dunkelkammer geführt, wo die Aufnahme vorgenommen
wird; gleichzeitig wurde vom Stromkreise der primären Spule eine Ab¬
zweigung in die Dunkelkammer geleitet und dort mit einem Ein- und
Ausschalter versehen, so dass der Arzt in der Dunkelkammer ganz
unabhängig vom Apparate den Gang der Aufnahme jederzeit unter¬
brechen kann. Die R ö n t g e n - Röhre verhält sich in der Dunkel¬
kammer nicht anders als eine gewöhnliche Lampe, die unauffällig von
einem Orte zum andern transportirt werden kann ; von einer maschi¬
nellen Vorrichtung sieht und hört der Patient nichts.
Als Lagerungstisch dient ein mit Segeltuch überzogenes verstell¬
bares Ruhebett, auf welchem dem Patienten jede mögliche Stellung,
auch die Trendelenbur g’sche Beckenhochlagerung , gegeben
werden kann, die sich bei Beckenaufnahmen wiederholt bewährte.
F r e u n d machte bei dieser Gelegenheit Mittheilung von den Ergeb¬
nissen seiner Untersuchungen, dass Schwefelwasserstoffgas und Schwefel¬
wasserstoffwasser für X-Strahlen schwer durchgängig seien.
Mittelst entsprechender Drahtleitungen wird im grossen Saale
von der secundären Spule des R u hmkorffs noch der Condensatoi
eines d’A rsonva fischen Apparates beschickt. Derselbe dient zur
Erzeugung der Hochfrequenz- (Tesla-) Ströme, die nach den zahlreichen
Publicationen französischer Autoren (siehe die letzte Nummer der
Leyde n’schen Zeitschrift für physikalische und diätetische Therapie)
sich bei verschiedenen Haut- und Stoffwechselerkrankungen ausser¬
ordentlich bewähren. Als Beweis der Inductionswirkung dieser Ströme
wurde ein Versuch demonstrirt, bei dem eine Glühlampe, die in der
Mitte einer mannshohen Drahtspule frei schwebend ohne irgend einen
Contact mit der Leitung aufgehängt wurde, in lebhaftes Glühen ge-
räth, sobald die Drahtwindungen von den hochgespannten, sehr fre¬
quenten Strömen durchflossen werden. Zur weiteren Vermehrung der
Schwingungen und Erhöhung der Spannung derselben dient der Re-
sonateur nach 0 u d i n, eine Vorrichtung, die aut einem ähnlichen
Princip wie das Mitschwingen gleichgestimmter Stimmgabeln beruht.
Der hier erzeugte Regen leuchtender und geschlängelter Funken wird
nach den Angaben Oudin’s bei Behandlung der Prurigo, des Pruritus
und Schleimhautkatarrhe mit Vortheil verwendet.
Zur Behandlung mit chemischen Lichtstrahlen nach Finsen
befindet sich im Institute erstens ein Sammelapparat für Sonnenlicht :
eine hohle, planconvexe Linse, die, mit ammoniakalisclier Kupfersultat¬
lösung gefüllt, die blauen und violetten Strahlen des Sonnenspectrums
im Focus vereinigt, dann ein Apparat für elektrisches Bogenlicht. Do
selbe besteht zunächst aus einem im Souterrain des Hauses unt> i
gebrachten 1 Opferdekräftigen Motor, der, vom Strassenstrom betrieben,
seinerseits einen Dynamo in Gang setzt, welcher die nöthw endign
Stromintensität von 80 Amperes liefert. Dieser Strom speist eim
mächtige Bogenlampe, auf deren Lichtbogen ein fernrohrahnhcln'r
Linsen-Sammelapparat eingestellt ist. Um die starke Ilitzeentwic >. ung
abzuhalten, ist dieser Sammelapparat von einem stets circuhrenden
Wasserstrom durchflossen, den ein Röhren- und Schlauchsystem von
der Wasserleitung an den Apparat heranbringt. Eine Abzweigung von
letzterem versorgt mit kaltem Wasser das Compressorium, das nach
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 9
218
Angabe F i n s e n’s auf die kranke Hautstelle gedrückt wird, um das,
das Eindringen der Strahlen hindernde Blut zu verdrängen. Eine
eingeschaltete Schichte von Methylenblaulösung fil tri rt die hier un¬
zweckmässigen leuchtenden rothen, gelben und grünen Strahlen des
vvoissen Lichtes ab.
Die Aerzte des Instituts demonstrirten noch die bei der
11 ö n t g e n - Behandlung als Schutzvorrichtung in Gebrauch stehenden
Bleimasken, dann eine grosse Anzahl von colorirten Abbildungen und
Photographien, welche die Resultate der verschiedenen Behandlungs
methoden bei Hypertrichosis, Favus, Sykosis, Herpes tonsurans, Lupus
vulgaris, Lupus erythematodes etc. darstellen. Schiff gab hier dem
Gedanken Ausdruck, dass nach seinen Erfahrungen die Röntgen-
Behandlung des Lupus vulgaris gegenüber jener nach Finsen inso¬
fern der Vorzug zu geben sei, als bei letzterer die Behandlung sehr
langwierig und ausserordentlich theuer sei und überdies ein geschultes
Personal erfordere — Umstände, die bei der R ö n t g e n - Therapie
weniger ins Gewicht fallen.
Das Institut soll selbstverständllich nicht blos praktischen, son¬
dern auch wissenschaftlichen Zwecken dienen und erklärt sich
Dr. Schiff nicht nur bereit, jenen G'ollegen dasselbe zur Verfügung
zu stellen, welche in dieses Gebiet fallende wissenschaftliche Arbeiten
unternehmen wollen, sondern er und Dr. Freund werden sich in
jeder Weise bemühen, dieselben nach Können und Wissen bestens zu
unterstützen.
Schliesslich verdient es besonders hervorgehoben zu werden,
dass unbemittelten Patienten, die von Collegen für die Radiotherapie
geeignet erklärt und empfohlen werden, hier unentgeltliche Behandlung
zu Theil wird.
Aus Anlass des im Jahre 1898 fertiggestellten Neubaues des
Kaiser Franz Josef-Pavillons im k. k. Allgemeinen
Krankenhause in Prag haben der Bauleiter und die Vorstände der
darin untergebrachten oculistischen, internen und Frauenklinik, die
Professoren C z e r m a k, v. J a k s c h und Saenger, es unternommen,
ein Bild des Baues an sich, sowie der inneren Einrichtung des Pavil¬
lons zu geben. Bei Vermeidung jeder luxuriösen Ausstattung war das
Hauptaugenmerk darauf gerichtet, die Einrichtung des Hauses so zu
gestalten, wie sie nach den heutigen Grundsätzen der Krankenpflege
und Hygiene verlangt werden. Die detaillirte, mit zahlreichen Plänen
und Lichtdruckbildern versehene Beschreibung der einzelnen Räumlich¬
keiten des Pavillons, sowie des Inventars gibt einen deutlichen Ein¬
blick in die durchaus gelungene Eintheilung der mit allen für For¬
schung und Krankenbehandlung nothwendigeu Räumlichkeiten und Ein¬
richtungen ausgestatteten Kliniken.
*
Dr. Julius Neumann, Privatdocent für Geburtshilfe und
Gynäkologie, wohnt: I., Hpiegelgasse 18 und ordinirt von 3- — 4 Uhr.
*
Aus dem Sanität s berichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 6. Jahreswoche (vom 4. Februar
bis 10. Februar 1900). Lebend geboren : ehelich 561, unehelich 334, zusammen
895. Todt geboren: ehelich 40, unehelich 19, zusammen 59. Gesammtzah]
der Todesfälle 6H3 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
20 1 Todesfälle), darunter an Tuberculose 124, Blattern 0, Masern 10,
Scharlach 3, Diphtherie und Croup 5, Pertussis 3, Typhus abdominalis 0,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 4, Neu¬
bildungen 41. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
(-j- 25), Masern 378 (-}-85), Scharlach 52 ( — 1), Typhus abdominalio
;) ( — 1), Typbus exanthematicus 0 (=), Erysipel 33 (-(- 2), Croup und
Diphtherie 5G (— j— 4), Pertussis 71 (-j- 20', Dysenterie 0 (=), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 11 (-f- 8), Trachom 2 (-(- 1), Influenza 4 (-(- 2).
Freie Stelle».
Districtarztesstelle im Sanitätsdistricte Ogfolderhaid,
B ölime n. Zu diesem Distriete gehören 21 Oitschaften mit einem Flächen¬
raume von 5031 ha und circa 9000 Seelen. Die Bezüge bestehen in jährlich
800 A Gehalt und 200 A Reisepauschale; ausserdem gewährt der Landes-
ausschuss des Königreiches Böhmen eine Subvention von 400 K. Betreffs
der Behandlung der im Distriete wohnenden Bergwerks- und llolzarbeifer-
familien ist ein Uebereinkommen mit der fürstlich Schwarzenberg’schen
Herrscliaftsadministration Krumau zu treffen. Die vorschriftsmässig inatruir-
ten Gesuche sind bis längstens 15. März 1900 bei dem Bezirks¬
ausschüsse in Oberplan einzubringen. Die Besetzung erfolgt auf ein Jahr
provisorisch, nach dessen Ablauf die Bezirksvertretung über die definitive
Besetzung entscheidet.
Drei Primararztesstellen II. Classe im Status der Ab-
theilungsvoratände der Wiener k. k. Krankenanstalten, und zwar
zwei für mediciuische Abtheilungen und eine Stelle zugleich für eine
chirurgische Abtheilung mit dem Range der VIII. und den Bezügen der
IX. Rangsclasse, d. i. dem Gehalte von 2800 K, mit zwei Quadriennal-
Zu lagen zu je 200 A’und der Activitätszulage jährlicher 1000 A" zu besetzen.
Bewerber um diese Stellen haben ihre vorschriftsmässig gestempelten, mit
dem Tauf- oder Geburtsscheine, dem Heimatscheine, den Nachweisen über die
Erwerbung des Doctorgrades der gesammten Heilkunde an einer öster¬
reichischen Universität, sowie mit den sonstigen Dienstesdocumenten,
beziehungsweise Nachweisen über ihre theoretische und praktische Vor¬
bildung versehenen Gesuche, und zwar wenn die Bewerber bereits im
öffentlichen Dienste stehen, im Wege ihrer Vorgesetzten Dienstbehörde,
sonst unter Anschluss eines amtsärztlichen Gesundheits- und legalen
Sittenzeugnisses unmittelbar im Einreichungsprotokolle der k. k. nieder-
österreichischen Statthalterei bis spätestens 15. März 1900 einzubringen.
G e m e i n d e a r z t e s s t e 1 1 e in Mariapfarr im Lungau,
politischer Bezirk Tamsweg, Salzbu r g, vom 1. April 1. J. zu besetzen.
Einwohnerzahl des Sanitätssprengels 2600. Haltung einer Hausapotheke er¬
forderlich. Bezüge: 400 K von den Gemeinden, 600 70 aus dem Landesfonde.
Für jede Todteubeschau 2 K. Gesuche sind an die Gemeindevorstehung in
Mariapfarr zu richten.
Gemeindearztesstelle in Aldein, Bezirk Bozen, Tirol und
Vorarlberg. Wartgeld 1200 K nebst freier Wohnung und unentgeltlichem
Holzbezuge. Visitengebühr 1 K bei Tag, 2 K bei Nacht ohne Unterschied
der Entfernung. Ordinationsgebühr 50 //, für Todtenbeschau 2 K. Der Ge¬
meindearzt hat eine Hausapotheke zu halten und den Sanitätsdienst im
Sinne der Dienstesinstruction für Gemeindeärzte zu versehen. Die gehörig
belegten Gesuche sind bis 20. März d. J. an die Gemeindevorstehung
in Aldein einzusenden. Taufschein erforderlich.
Bei der Redaction eingelangte Bücher.
(Mit Vorbehalt weiterer Besprechung.)
Hübner, Die operative Behandlung der hochgradigen Kurzsichtigkeit.
Ibidem. 1899. Preis M. 1. — .
Moerieke. Zur Aetiologie der Tubengravidität. Ibidem. 1900. Preis
M. 3.40.
Schirmer, Die Impferkraukungen des Auges. Ibidem. Preis M. 1. — .
Wiliekler, Ueber Gasbäder und Gasinhalationen aus Schwefel wässern.
Ibidem. Preis M. 1. — .
Koeppe, Die physikalisch-chemische Analyse des Liebensteiner Stahlwassers.
Ibidem. Preis M. — .80.
Snchaimek, Die Reizungszustände und Dauerentzündungen des Kehlkopfes.
Ibidem. Preis M. F20.
Hagedorn. Ursachen und Folgen der Erkrankungen des Warzentheiles und
ihre Behandlung. Ibidem. Preis M. 2. — .
Arndt, Wie sind Geisteskrankheiten zu werthen? Ibidem. Preis M. 2. — .
Zander, Die Leibesübungen und ihre Bedeutung für die Gesundheit. Teubner,
Leipzig. Preis M. 1.15.
Willebrand, Zur Kenntniss der Blutveränderungen nach Aderlässen. Weilin
& Göös, Helsingfors 1899. 92 S.
Ebstein. Leben und Streben in der inneren Medicin. Enke, Stuttgart 1900.
Preis M. 1.—.
Fetzer, Lungentuberculose und Heilstättenbehandlung. Ibidem. Preis
M. 2.40.
Von der Bibliothek.
Nachstehende Werke wurden seit 22. Februar 1900 (siehe
Nr. 8, 1900 der »Wiener klinischen Wochenschrift«) von
dem Gefertigten für die Bibliothek der k. k. Gesellschaft
der Aerzte in Empfang genommen:
INTr. e.
Geschenke :
Atti della societä italiana di Dermatologia e Sifilografia. Riunione
annuale 1895, 1897, 1898. Roma 1896 — 1899. 8°. Von Herrn
Prof. L a n g.
Association Francaise d'urologie. Session 1896, 1898, 1899. Paris 1896
bis 1900. 8°. 3 Vols. Von Herrn Prof. Lang.
Laehr Heinrich, Die Literatur der Psychiatrie, Neurologie und Psychologie
von 1459 — 1799. Mit Unterstützung der königlichen Akademie der
Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1900. 8n. 4 Vols. Vom Autor.
»Galenits«, Griechisches medicinisehes Wochenblatt. Athen. Jahrgang 1879,
1883, 1889. Von Herrn Dr. G a 1 a 1 1 i.
*
Neue Tausch exemplare:
Zeitschrift für Tuberculose und Heilstättenwesen. Leipzig 1900 ff.
Quarterly Medical Journal. Sheffield 1900 ff.
*
An gekauft:
Beiträge zur experimentellen Therapie. Ilerausgegehen von Geheimen
Medicinal-Rath Prof. E. Behring, Berlin und Wien 1899 ff.
The Journal of Pathology and Bacteriology. Edit, by G.S. Woodhead.
Edinburgh and London 1899 ff.
Annales d’hygiene publique et de Medecine legale. Par M. M. Adelou,
A n d r a 1 etc. Paris 1900 ff.
Archives Provinciate de Medecine. Paraissant tons les Mois. Redact.
M. B a u d o u i n. Paris 1899 ft-.
Archives Provinciale de Chirurgie. Paraissant tous le Mois. Redact.
M. B a u d o u i u. Paris 1899 ff.
Bibliographia Medica. (Index Medicus.) Directeur-Fondateur : Dr. M. Bau-
d o u i n. Paris 1900 ff.
W i e n, im Februar 1900. Unger.
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
219
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Oongressherichte.
Il^TIiALT :
Officielles Protokoll (1er k. k. Gesellschaft (1er Aerzte in Wien.
Sitzung- vom 23. Februar 1900.
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien. Sitzung vom
13. Februar 1900.
1 Berichte aus dem Verein österreichischer Zahnärzte. Monatsversamm¬
lung vom 6. December 1899.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in München.
Vom 17. — 22. September 1899. (Fortsetzung.)
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
Sitzung vom 23. Februar 1900.
Vorsitzender: Prof. Dr. Weinlcchner.
Schriftführer : Dr. Funke.
Prof. Weinlechner stellt eine 26jährige Köchin wegen eines
eigenthümlichenKniegelenksleidens vor. Dieselbe über¬
stand im December 1899 bis Mitte Januar auf der Abtheilung des
Hofrathes Prof. Dräsche einen Gelenksrheumatismus, wobei nebst
anderen Gelenksanschwellungen auch eine solche im rechten Knie¬
gelenke auftrat. Nach Abschwellen dieses Knies, d. i. seit Mitte
Januar, bemerkte Patientin ein anfangs leises Krachen im Gelenke,
das immer stärker auftrat. Gleichzeitig bestanden Schmerzen, die sie
nöthigten, beim Gehen das rechte Kniegelenk gebeugt zu halten.
Zu Ende der Streckung und bei Beginn der Beugung hört und
fühlt man am Knie ein knackendes Geiäusch, und zwar am deut¬
lichsten in der Kniekehle, theils mehr aussen, theils mehr in der
Medianlinie. Am lautesten ist das erstere. Beide scheinen etwas nach
aussen und hinten im Kniegelenke zu entstehen. Die ganze Kniekehle
ist etwas druckempfindlich, am meisten die Partie medianwärts von
der Bicepssehne. Am grössten ist der Schmerz am Ende der Streckung,
wie auch die vollständig gestreckte Lage am schlechtesten vertragen
wird. Patientin hinkt stark bei mässiger Beugung im rechten Knie¬
gelenke. Dabei wird das rechte Bein abducirt und der Fuss tritt mit
dem inneren Rande auf.
Weinlechner ist der Ansicht, dass die Ursachen des Leidens
am hinteren Ende des rechten Meniscus seinen Sitz habe; welcher Art
dasselbe sei, lässt sich mit Bestimmtheit nicht sagen. Jedenfalls muss
der Knorpel seine Glätte eingebüsst haben, und es müssen an ihm
Dickendifferenzen vorhanden sein, wodurch bei Beugung und Streckung
das Holpern erzeugt wird. Insoferne haben diese Geräusche bei jeder
Streckung und Beugung Aehnlichkeit mit dem federnden Finger. Es
wäre immerhin möglich, dass eine Lockerung der hinteren Verbindung
und eine dadurch bedingte Subluxation des äusseren Meniscus die Ur¬
sache dieser Erscheinungen sei. Indess lässt sich ein Vorspringen nach
hinten zu, wie es sonst bei Luxationen des Meniscus beobachtet wird,
in dem Falle nicht nach weisen.
Weinlechner hat der Kranken die Wegnahme des hinteren,
äusseren Meniscusantheiles angerathen; da die Kranke vorläufig auf
diesen Vorschlag nicht eingeht, so wird die Patientin einen fixirten
Verband in gestreckter Stellung bekommen.
In dem jetzigen Zustande ist die Kranke wegen der heftigen
Schmerzen bei jedem Auftreten vollkommen dienstunfähig.
Prof. Hochenegg berichtet über einen Fall von intra¬
abdominaler Torsion des Netzes. (Erscheint ausführlich in
dieser Wochenschrift.)
Prof. M. Heitler berichtet über im Laboratorium des Profesors
v. Basch aufgeführte Versuche über Volumschwankungen
des Herzens.
Angeregt durch gelegentliche Beobachtungen am Thiere, ins¬
besondere aber durch seine klinischen Erfahrungen über die Volum-
schwankungen des Herzens hat Heitler die Frage einer systemati¬
schen experimentellen Prüfung unterzogen. Die Versuche wurden an
Hunden gemacht, die Volumveränderungen zuerst am freigelegten
Herzen durch Inspection, dann plethysmographisch studirt.
Die Versuche haben Hei tier’s klinische Beobachtungen über
die Volumschwankungen des kranken Herzens vollauf bestätigt. Das
Volum des Herzens ist nicht constant, das Volum des Herzens hängt
mit seiner Function zusammen und die Volum Veränderungen sind den
Functionsvei änderungen vollkommen congruent. Das dilatirte Herz
zeigt in längeren oder kürzeren Intervallen auftretende, erst regel¬
mässige, dann unregelmässig erfolgende Volumschwankungen, ein
succesives An- und Abschwellen; bei Zunahme des Volums ist der
Puls verlangsamt, bei Abnahme derselben ist der Puls beschleunigt;
die Pulscurve zeigt nebst Aenderung der Frequenz auch wesentliche
Aenderung der Druckverhältnisse. Die periodischen Volumschwankungen
sind der Ausdruck einer Störung des Herzens, welche man als
Elasticitätsvermindcrung, als Dehnung bezeichnen kann ; da, wie die
plethysmographische Curve zeigt, minime Volumschwankungen auch
vor dem Eingriffe vorhanden sind, so handelt es sich offenbar um
Steigerung von vor dem Eingriffe vorhandenen Verhältnissen.
Heitler hat die Volumveränderungen bei folgenden Versuchen
geprüft: bei Compression der Aorta und Vena cava, bei Reizung des
Vagus und Accelerans, bei gestörter Athmung, bei mechanischer
Reizung des Pericardiums und bei Transfusion. Ausserdem hat Heitler
beobachtet, dass das Herz, wenn das Thier von Krämpfen befallen
wird, allsogleich anschwillt und dass es beim Aufhören der Krämpfe
allsogleich abschwillt. Bei mechanischer Reizung des Pericardiums und
bei Transfusion zeigten sich die periodischen Volumschwankungen in
prägnanter Weise, und zwar waren die Erscheinungen bei beiden Ein¬
griffen vollkommen gleich, nur waren sie bei der Transfusion inten¬
siver als bei der Pericardialreizung. Bei der Transfusion grösserer
Mengen von physiologischer Kochsalzlösung wurde das Herz stark
dilatirtund starbunter fortwährenden, unregelmässigerfolgenden Volum¬
schwankungen ab, nur bei einem Thiere erholte sich das Herz vollständig.
Discussion über den Vortrag des Docenten Herzfeld:
Privatdocent Dr. Maximilian Sternberg: Obwohl die Discussion
über die Enteroptose durch die wiederholte Unterbrechung erheblich
an Interesse eingebüsst haben dürfte, will ich es doch nicht unter¬
lassen, einige Bemerkungen über den Gegenstand vorzubringen, da er
von grosser praktischer Bedeutung ist.
Dass eine Gruppe von Störungen im Gebiete der Verdauungs-
organe häufig mit einer Gruppe von nervösen Störungen verbunden
ist, ist seit Alters wohl bekannt.
Man hat oft versucht, den ganzen Complex von Erscheinungen
als eine causale Kette zu deuten und je nach der herrschenden An¬
schauungsweise das Anfangsglied an einer anderen Stelle gesucht. So
war die älteste Auffassung die, dass die Darmstörungen das Primäre,
Magenerscheinungen und nervöse Symptome das Secundäre seien. Als
der Begriff der Neurasthenie populär wurde, hat man umgekehrt den
nervösen Depressionszustand für primär erklärt und daraus die nervöse
Atonie, die nervöse Dyspepsie, die neurasthenisehe spastische Stuhl¬
verstopfung abgeleitet. Es war da nun entschieden ein Fortschritt, als
der Badearzt Glenard erkannte, dass ausser deu zahlreichen subjec-
tiven Symptomen, welche solche Patienten darbieten, auch eine ob¬
jective Störung im Bereiche der Bauchorgane vorhanden sei.
Nun hatten allerdings schon früher Andere, so schon Peter
Frank in Wien, auf Verdauungsstörungen bei Lageveränderungen
der Baucheingeweide, beim Hängebauche, bei grossen Ventralhernien
u. s. w. aufmerksam gemacht. Aber die Publicationen Glenards
haben zweifellos das Verdienst, dass eine Gruppe von Kranken heraus¬
gegriffen wurde, die ein ziemlich gleichartiges Bild darbieten. Dass die
Häufigkeit dieses Zustandes so verschieden beurtheilt, von \ielen ent¬
schieden überschätzt wird, liegt wohl daran, dass er nicht genügend
scharf von anderen Fällen gesondert wird, insbesondere von den fällen,
in welchen die Atonie des Darmtractus das wesentliche Leiden bildet,
ferner daran, dass er mit der beweglichen Niere identificirt wird, wie
dies auch Herr College Tandler zu thun scheint. Nimmt man die
bewegliche Niere als Indicator für die Enteroptose, dann wird freilich
dieser krankhafte Zustand ungeheuer häufig.
Zur Erläuterung der hiehergehörigen Fragen muss ich mit einigen
Worten die Pathogenese der Enteroptose und speciell die Lehre vom
intraabdominalen Druck besprechen.
Man kann sieh die Anschauungen über die praktisch bedeutungs¬
volle Frage etwa folgendermassen entwickeln:
Denken wir uns den Menschen in aufrechter Stellung, die Bauch¬
wandungen zunächst starr, die Eingeweide einfach aufeinandei gt
schichtet. Dann lägen auf dem Beckenboden die Organe des Beckens,
darauf die mit Luft und Flüssigkeit gefüllten Därme, ganz oben die
etwa 2 hg schwere Leber, wie auf einem Luftkissen, die Däime com-
primirend und spannend. Der Beckenboden und das untere Viertel dei
vorderen Bauchwand bilden den Boden des Gefässes und hätten dtn
grössten Druck zu tragen, der nach oben erst langsam, dann im 1"-
reiche der Leber rasch abnimmt. Die Autoren, welche dem intraabdo¬
minalen Drucke eine wesentliche Rolle für die Fixirung der Lingew eido
zuschreiben, machen nur folgende Ueberlegung: Alan denkt sich an
Stelle der starren vorderen Bauchwand eine elastische Membran. - mm
hat diese nicht, wie die starre Wand, unten an der Symphyse den
stärksten Druck zu tragen, oben aber einen geringeren, da er mit der
220
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 9
Höhe der lastenden Säule abnimmt, sondern es wird die Membran ver¬
möge ihrer Elasticität gleichmässig ausgedehnt, der von ihr auf die
Eingeweide ausgeübte Druck pflanzt sich daher auch in ihnen gleich¬
mässig fort, drängt die Leber nach oben und hält sie in dieser L^ge,
fixirt die Niere an der hinteren Bauchwand und die Organe des Beckens
in diesem.
Dieser Gedankengang, der auf den ersten Blick sehr plausibel
erscheint, macht nun stillschweigend zwei Voraussetzungen. Erstens,
dass sich der Druck im Bauchraume gleichmässig nach allen Richtungen
fortpflanze — manche Autoren weisen darauf hin, dass ja der Inhalt
der Bauchhöhle aus Luft und Flüssigkeit bestehe — , zweitens, dass
die vordere Bauchwand einer gleichmässig elastischen Membran, etwa
einem lvautschukballon, vergleichbar sei. Beide Voraussetzungen treffen
nun in Wirklichkeit nicht zu. Der Druck pflanzt sich im Bauchraum
nicht nach allen Richtungen gleichmässig fort. Es gilt ja für den
Darm nicht das Gesetz der communieirenden Gefässe, das mit dem
von der gleichmässigen Fortpflanzung des Druckes in Flüssigkeiten im
Grunde identisch ist.
Man sieht auch alle Tage, dass ein Theil des Bauchraumes
gespannt, ein anderer Theil weich und leicht ausdrückbar ist. So kann
z. B. bei gefüllter Blase das Hypocbondrium beiderseits ganz weich
und bis in die Tiefe dem Getaste zugänglich sein, während der untere
Theil des Abdomens gespannt ist.
Mit der Entleerung der Blase wird dieser Theil auch weich, die
Verhältnisse in den Hypochondrien ändern sich nicht wesentlich.
Noch deutlicher wird das unter pathologischen Verhältnissen, bei
Tumoren, partiellen Entzündungen und Anderem. Ferner ist die Bauch¬
wand nicht einer Kautschukmembran zu vergleichen. Die Muskeln sind
ausserordentlich leicht dehnbar und es kann sich die Dehnung auf
einzelne Abschnitte der Bauchwand beschränken, ohne dass der elasti¬
sche Zug auf die ganze Bauchwand gleichmässig vertheilt wird. Auch
das sieht man alle Tage am Krankenbette. Es ist also der ganze Ge¬
dankengang vom intraabdominalen Druck und der Fixation der Ein¬
geweide durch ihn nicht haltbar. Wir können dem intraabdominalen
Drucke und seinen Veränderungen nur eine ganz geringe Rolle beim
Zustandekommen der Enteroptose zuschreiben.
Diese Ueberlegungen, die ich Ihnen da vorbringe, sind übrigens
nicht blos für die Frage der Enteroptose wichtig, sondern haben noch
in mancher anderen Beziehung praktische Bedeutung. Ich will nur auf
einen Irrthum hinweisen, der sich in fast allen Lehrbüchern fortpflanzt.
Es heisst, man solle hohe Irrigationen bei Ileus und Anderem in der
Knieellenbogenlage machen, weil dann der intraabdominale Druck
negativ werde. Es ist von vornherein klar, dass der Druck im
Bauchraum nicht durch irgend eine Lage Veränderung dauernd negativ
werden kann, weil keine Saugkraft vorhanden ist, die den Druck unter
dem Luftdrucke halten könnte und der Bauchraum nachgiebige Hüllen
besitzt. Diese irrige Anschauung beruht auf der Beobachtung, dass in
dieser Lage die Scheide klafft, und auf Druckmessungen im Rectum,
die ein berühmter Gynäkologe ausgeführt hat. Nun, es ist klar, dass
das Rectum und die Vagina erweitert werden, wenn ihre vordere Wand
mit den Baucheingeweiden nach vorne fällt. Wenn man ihre Höhle
durch Quecksilber absperrt, wird natürlich das Quecksilber augesaugt,
das Manometer stellt sich auf einen niedrigeren Stand ein. Das beweist
aber keinen negativen intraabdominalen Druck. Es ist also eine ganz
überflüssige Quälerei der Kranken, sie bei einer hohen Irrigation in
Knieellenbogenlage zu halten. In der That gelingt es in Seitenlage,
ebenso grosse Flüssigkeitsmengen in den Darm einzuführen. Wenn
man gerade auf die paar Centimeter Wasserhöhe, durch welche der
Druck im Rectum in der Knieellenbogenlage abnähme, Gewicht
legt, so kann man sie durch entsprechendes Erheben des Irrigators
erreichen.
Kehren wir nun zur Lage der Baucheingeweide zurück. Herr
Dr. Tändle r hat schon an die F'ixation der Leber durch die Hohl¬
vene erinnert. Es ist aber trotzdem die Leber an dieser Stelle nicht
absolut befestigt, da sie kein starres System, sondern eine plastische
Masse von halbflüssiger Consistenz ist. Die Leber verändert ja ihre
Form beispielsweise sehr wesentlich, wenn sie aus dem Körper heraus¬
genommen und auf den Sectionstisch gelegt wird. Der vordere Antheil
der Leber kann daher, wenn durch Ausdehnung des unteren Theiles
der Bauchwand beim Hängebauche, durch Diastase der Recti u. s. f.,
ihm die Stütze au den Gedärmen genommen wird, entlang dem Zwerch¬
fell und der vorderen Bruchwand gleichsam herabfliessen. So kommen
Formveränderungen und Drehungen der Leber zu Stande und um
diese handelt es sich bei der Enteroptose, nicht um „Wanderleber“
im eigentlichen Sinne.
Von der beweglichen Niere habe ich schon eingangs gesprochen.
Die Niere ist ja wahrscheinlich überhaupt in den meisten Fällen etwas
beweglich, in sehr vielen mit der Respiration verschiebbar. Eine tast¬
bare bewegliche Niere ist bei schlankem Rumpfe ungeheuer häufig.
Sie dart daher nicht ohne Weiteres als Theilerscheiuung der Enteroptose
gedeutet werden, wiewohl sie auch die Folge dieses Zustandes sein
kann. Die bewegliche Niere ist aber an sich nichts Pathologisches-
Sie verursacht nicht die gleichzeitigen nervösen Störungen. Wohl aber
hängt sie mit ihnen durch die Constitution des Patienten zusammen.
Wenn man Gelegenheit hat, ganze Familien zu behandeln, so kann
man oft sehen, dass bewegliche Niere und Neurasthenie oder Hysterie
bei gewissen Mitgliedern derselben häufig sind. Es haben eben die
Mitglieder einer Familie dieselbe Körperform und gleichzeitig dieselbe
nervöse Anlage. Ich muss auch betonen, dass man die bewegliche
Niere, entgegen einer jüngst publicirteu Angabe, auch bei Kindern
findet. Freilich ist sie weit seltener als beim Erwachsenen, es sind
aber die topographischen Verhältnisse des kindlichen Bauchraumes
bekanntlich anders. Deshalb soll man nicht unnöthiger Weise den
Patienten auf seine bewegliche Niere aufmerksam machen, wenn man
nicht die Absicht hat, dieses Organ direct zum Angriffspunkte thera¬
peutischer Massregeln zu machen. Ich habe wiederholt gesehen, dass
die Kranken seit einer solchen ärztlichen Consultation voll hypochon¬
drischer Ideen in Bezug auf ihre Niere waren, und sich für unheilbar
„nierenkrank“ hielten. Es ist in solchem Falle jedenfalls besser, die
Diagnose „Enteroptose“ zu sagen, wenngleich sie eigentlich un¬
richtig ist.
Sondert man so die Fälle von Wanderniere und von Darm¬
störungen, die Fälle von gewöhnlichem Hängebauch, von Nabelhernien,
von Ventralhernien u. s. w., so schrumpft die Zahl der „Enteroptose“-
Fälle beträchtlich zusammen. Immerhin kann man die Diagnose klinisch
aus dem Verhalten des Abdomens in aufrechter und liegender Stellung,
aus dem Zurücktreten des vorderen Leberrandes nach dem Glenar fi¬
schen Griffe auf das Hypogastrium, aus der Insufficienz der Recti
beim Versuche, sich aus der Horizontallage ohne Zuhilfenahme der
Arme zu erheben, aus dem Complexe von Verdauungsstörungen, der
fahlen Gesichtsfarbe und dem missmuthigen Gesichtsausdrucke doch
nicht allzuselten stellen und durch das Resultat entsprechender Be¬
handlung a posteriori verificiren.
In therapeutischer Hinsicht sei nur darauf hingewiesen, dass
die irrige Vorstellung vom abdominalen Drucke dazu geführt hat,
blähende Speisen und Hefe zu verordnen, um dadurch den
intraabdominalen Druck bei Enteroptose auf die normale Höhe zu
bringen. Das ist natürlich theoretisch nicht berechtigt und nicht zweck¬
mässig. Trotzdem aber kann man die Beobachtung machen, dass viele
Kranke sich bei gelegentlicher Verabreichung blähender Speise
wohler fühlen als bei der „leichtverdaulichen“ Kost, die noch immer
von vielen Aerzten verordnet wird. Gerade solche Kranke mit Flatulenz
befinden sich bei der beliebten Verordnung von „gebratenem Fleisch“
schlecht, weil die zähe Kost und die daraus entstehende Stuhl¬
verstopfung die Bildung und Anhäufung von Darmgasen begünstigen.
Ich habe bei einem Patienten eine bedeutende Besserung der Be¬
schwerden gesehen, der auf Verordnung eines alten Weibes schwarzen
Rettig regelmässig genoss. Ich verordne deswegen zur Erhöhung der
Darmperistaltik in geeigneten Fällen mit gutem Erfolge ein altes,
heute fast obsoletes Mittel — das Sie hoffentlich nicht als Signatur
dieser Discussion ansehen werden — nämlich Schwefel in kleinen
Dosen.
Dr. Wilhelm Knoepfelmacher: Meine Herren! Die
hauptsächlichsten Ausführungen des Herrn Dr. Herzfeld haben sich
auf die noeh dunkle Aetiologie der Enteroptose bezogen. Seine dies¬
bezüglichen Anschauungen gipfeln darin, dass vor Allem ein Moment
zur Enteroptose führt, die Schlaffheit jener Gewebe, welche die Wan¬
dungen der Bauchhöhle bilden. Und es stellt nur eine Abart dieser
Entstehungsweise einer Enteroptose dar, wenn Dr. Herz fei d zum
Resultate kommt, dass nicht nur die Schlaffheit der Bauchmuskeln,
sondern auch die des Beckenbodens zur Enteroptose führen kann.
Ich möchte mir nun erlauben, hier von einigen Beobachtungen
Mittheilung zu machen, welche geeignet sind, einen Beitrag zur Aetio¬
logie der Enteroptose zu liefern. Die beiden Fälle, die ich gesehen
habe, sind schon durch das Alter der Patienten von Interesse: es
handelt sich nämlich um Säuglinge. So häufig nun auch Enteroptose
im späteren Alter ist, im Kindesalter ist sie bekanntlich selten, im
Säuglingsalter aber überhaupt noch sehr wenig gesehen worden. Das
beobachtete Krankheitsbild konnte sich natürlich nur im objectiven
Befund mit dem klinischen Bilde der Enteroptose decken und auch
hier war es etwas abweichend; von subjectiven Beschwerden wäre ja
mit Rücksicht auf das Säuglingsalter schwer etwas zu berichten. Be¬
kanntlich wird ja das Schreien der Kinder, wenn man sich nicht hand¬
greiflich vom Gegentheil überzeugen kann, immer auf Kolikschmerzen
bezogen und überdies haben meine beiden Patienten nicht mehr ge-
schrien als andere Kinder ihres Alters. Das eine Kind, ein Bube, war
9 Monate, das zweite Kind, ein Mädel, 4 Monate alt. Die Kinder
fanden wegen Darmkatarrh und Pneumonie Aufnahme im Spital und
dabei fand ich des Bild der Enteroptose: Schlaffen Bauch, abnorme
Beweglichkeit der Nieren, die übrigens in einem der beiden Fälle nur
auf die linke Niere beschränkt war, abnorme Beweglichkeit der Milz
und der Leber. Objectiv also zweifellos Enteroptose. Dabei war es von
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
221
Interesse, zu constatiren, dass der Magen nicht mit herabgesunken,
auch nicht dilatirt war. Füllung des Magens mit Wasser und auch Auf¬
blähung des Magens haben gelehrt, dass seine grosse Curvatur in
Nabelhöhe stand.
Was an den beiden Säuglingen von vornherein auffällig war,
das war eine ganz besondere Schlaffheit der Haut und der Muskeln.
Das Abdomen war weich, so dass die palpirende Hand ohne Weiteres
bequem alle Organe abtasten konnte. Die Muskeln waren so schlaff,
dass ich die stark beweglichen Nieren rückwärts neben der Wirbelsäule
so sehr herausdrücken konnte, dass die Contouren der Nieren zwischen
letzter Rippe und Darmbeinkamm sichtbar waren.
Es ist da gewiss naheliegend, anzunehmen, dass es die abnorme
Schlaffheit der Gewebe ist, welche in diesen Fällen zur Enteroptose
geführt hat, aber es dürfte sein, dass neben der Schlaffheit der Bauch¬
wand auch die Relaxation des Peritoneums an der Entstehung der
Enteroptose betheiligt ist, wie das von manchen Autoren angegeben wird.
Denn wenn Schlaffheit der Bauchmuskeln zu Enteroptose führen thäte,
so wäre es geradezu merkwürdig, dass wir so selten Gelegenheit haben,
Wanderniere im Säuglingsalter zu sehen. Denn hier treffen wir gar
oft, namentlich bei künstlich ernährten darmkranken Säuglingen,
Schlaffheit der Bauchmuskeln, welche nicht allzu selten einen ziemlich
hohen Grad erreicht. Ich denke mir darum, dass Schlaffheit der Bauch¬
muskeln allein nicht genügt, um Enteroptose herbeizuführen, oder dass
ein solcher Zustand erst nach längerem Bestehen dazu führt.
Gestatten Sie mir, noch auf einen Punkt in der Beobachtung der
beiden Säuglinge zurückzukommen. Ich habe in diesen beiden Fällen
die Erfahrung gemacht, dass man die etwas herabgesunkenen Nieren
beim Säugling vom Rectum aus palpiren kann. Das ist bei hochgradigen
Fällen von Wanderniere auch beim Erwachsenen manchmal gelungen.
Ich habe aber dann auch beim normalen Säuglinge der ersten Lebens¬
monate die Tastbarkeit der Nieren vom Rectum aus nachweisen können.
Bei solchen Untersuchungen zeigt sich zumeist ein sehr geringer Grad
von Beweglichkeit der Nieren, auch bei gesunden Kindern. Und das
gilt nicht nur von Säuglingen, sondern auch von älteren Kindern; auch
hier ist meist die Niere ein wenig beweglich. Solche Untersuchungen
an älteren Kindern lassen sich nicht mehr per rectum ausführen. Man
muss daher die gewöhnliche Palpation von Bauch und Lende aus an¬
wenden. Hiezu sind nun Kinder mit Meningitis tuberculosa besonders
geeignet. Denn hier sind die Darme leer und contrahirt; da kann die
auf den Bauchdecken ruhende Hand leicht die Nieren abtasten.
Untersuchungen am Kinde sind, glaube ich, deshalb geeignet,
die Aetiologie der Wanderniere aufzuklären, weil hier die Verhältnisse
viel einfacher liegen und die Schädigungen, welche die Lagerung der
Bauchorgane getroffen hat, in der Regel leichter zu eruiren sind.
Docent Dr. Pauli: Meine Herren! Die Häufigkeit der Entero¬
ptose, als Erkrankung sui generis abhängig von Dislocationen der
Bauchorgane, wird zweifellos übertrieben.
Die Diagnose knüpft sich an den Nachweis des Tiefstandes der
kleinen Magencurvatur und die abnorme Verschieblichkeit der paren¬
chymatösen Unterleibsorgane. Diesen Befund kann man wohl sehr
häufig erheben, hingegen zeigt 1. nur ein kleiner Bruehtheil der
Fälle wirklich Beschwerden — es deckt sich der Befund von Enteroptose
also durchaus nicht mit den Krankheitserscheinungen, 2. wenn man
nur die Fälle mit Krankheitserscheinungen berücksichtigt, besteht kein
Parallelismus zwischen denselben und dem Grade der Dislocation —
es sind oft die Befunde geringer Dislocation mit bedeutenden Be¬
schwerden verknüpft und umgekehrt, 3. Aehnliches gilt für die Hart¬
näckigkeit gegen die Therapie. Weiter muss man die Erkrankungen,
bei denen eine rein mechanische Therapie (z. B. Binde) wirklich zum
Ziele führt, entschieden als selten bezeichnen. Die Anschauung, dass
die Dislocation der visceralen Organe meist einen Nebenbefund dar¬
stellt oder eine secundäre Rolle spielt, und nur selten als eigentliche
Krankheitsursache in Frage kommt, steht auch in guter Uebereinstim-
mung mit sonstigen klinischen Erfahrungen. So kann man sich bei
Fällen von hochgradiger Kyphoskoliose oder mächtiger Lebor- und Milz¬
tumoren leicht von den bedeutenden Dislocationen der Eingeweide
überzeugen, die oft auffallend contrastiren mit den dadurch hervor¬
gerufenen geringfügigen Besch wer dsn.
Es Hessen sich noch manche Momente zu Gunsten der vorge¬
brachten Auffassungen anführen und die anatomischen Erfahrungen
des Herrn Collegen Tandler sprechen entschieden gleichfalls dafür,
dass Dignität und Häufigkeit einer pathologischen Dislocation
der Unterleibsorgane überschätzt worden sind.
Ein weiterer Punkt, den der Herr Vortragende angeführt hat,
betrifft die venöse Hyperämie der Bauchorgane, die sich in stärkeren
Menorrhagien kenntlich macht und auf einer Abnahme des intraabdomi¬
nellen Druckes bei Enteroptose beruhen soll.
Bezüglich dieser Erklärung will ich mich jedes Urtheiles ent¬
halten, an der Thatsache selbst dürfte kaum zu zweifeln sein, da die
Verstärkung der Menstrualblutungen in solchen Fällen bereits von
anderen Autoren constatirt worden ist. Dieselben werden in der Regel
mit durch eine gleichzeitige Ilepatoptose bedingten Circulationsstörungen
im Unterleibe in Verbindung gebracht. Dass solche möglich sind, dafür
scheint mir eine interessante Beobachtung zu sprechen, welche wir im
Rudolfspitale machen konnten.
Es handelte sich um eine hochbetagte Pfründnerin, die mit allen
Zeichen einer schweren Herzmuskelerkrankung eingebracht wurde. In
hohem Grade auffallend war nur das Bestehen eines mächtigen Ascites
neben geringfügigem Knöchelödem. In Folge vitaler Indication musste
die Punctio abdominis ausgeführt werden, und nun konnte man durch
die schlaffen Bauchdecken eine hochgradige Verschieblichkeit der ganzen
Leber constatiren, welche ausser einer Schnürlappenbildung keinerlei
erhebliche Veränderung aufwies. Die Frau ging bald an zunehmender
Herzschwäche zu Grunde und wir stellten die Diagnose auf Myo-
degeneratio cordis, sowie Compression, beziehungsweise Circulations-
behinderung in der Vena portae. Der Befund machte unsere Annahme
in hohem Masse wahrscheinlich. Es fand sich ausser der Herzmuskel-
entartung hochgradige Verschieblichkeit der Leber, welche eine
charakteristische Deformation aufwies. Die untere Leberfläche war
nämlich convex vorgewölbt und über diese Vorwölbung verlief die
Pfortader bis an ihrer Eintrittsstelle gleich einem Bande, welches iibei
eine Walze gespannt wird. Fälle dieser Art bilden wohl Seitenstücke
zu jenen Beobachtungen, welche F. Pick über Pseudocirrhose aus
anderen Ursachen mitgetheilt hat.
Dr. F. H. Kumpf: Zu den Ausführungen des Hern Docenten
H e r z f e 1 d erlaube ich mir, Folgendes zu bemerken. Seit dem geradezu
classisch zu nennenden Vortrage E w a 1 d’s in der Berliner medieinischen
Gesellschaft im Jahr 1891 über die Enteroptose, an welchen sich eine
ungemein lehrreiche und fast alle Seiten der I rage beleuchtende Dis¬
cussion anschloss, sind zahlreiche Publicationen über diesen Gegenstand
erschienen.
Unter diesen auch mehrere in der Wiener klinischen Wochen¬
schrift, 1893, von Huf schmidt und auch von mir, 1897 noch von
Prof. Obrastzow. Herr Dr. Tandler hat die Zahl der bis¬
herigen Publicationen mit 300 angegeben. Es lässt sich also wohl
kaum — wie dies Dr. Herz fei d gethan — mit Recht sagen,
dass dieser Krankheitszustand von ärztlicher beite bisher nui in ge¬
ringem Masse gewürdigt wurde. Einzelne von Glenard in dem
Complexe der Splanchnoptose — mit Enteroptose im engeren Sinne be¬
zeichnet Glenard ja nur als Verlagerungen des Dickdarms — ein¬
bezogene pathologische Zustände, wie die Nephroptose, die Ilepatoptose,
die Gastroptose und der Hängebauch waren auch den deutschen
Aerzten vor Glenard sehr wohl bekannt und beschrieben.
Glenard gebührt allerdings das Verdienst, alle diese Zustände
und die bis dahin unbeachtet gebliebenen Verlagerungen der^ Därme
ätiologisch anatomisch und klinisch unter einem einheitlichen Gesichts¬
punkte zusammengefasst und beschrieben zu haben. Ueber sehi viele
wichtige Punkte der Lehre Glenard’s besteht aber auch heute
noch durchaus keine vollständige Klarheit und Uebereinstimmung und
auch der Vortrag des Herrn Dr. Herzfeld, obwohl er sich mit
einer gewissen Bestimmtheit ausspricht, scheint mir dieselben nicht
gebracht zu haben.
Von Einzelnen wird ja die Enteroptose als eine genuine Er¬
krankung überhaupt nicht anerkannt. Als pathologische Lageveränderung
der Bauchhöhlenorgane besteht die Splanchnoptose gewiss, wenn
auch in der Gesammtheit der sie nach Glenard bildenden Zu¬
stände lauge nicht so häufig als dieser und auch Ilerzfeld es an-
nehmen ; das hat mir die daraufhin vorgenommeue Untersuchung von
mehr als 200 Leichen männlicher und weiblicher Erwachsener und
Kinder gezeigt. Speciell die Hepatoptose, welche den Complex voll¬
ständig machen soll, ist relativ selten.
Viel häufiger aber als Glenard und Viele nach ihm ange¬
nommen, sind die Lageveränderungen des Dickdarms — wie dies schon
Virchow in der Discussion zu dem Vortrage E w a 1 d’s betonte
und zwar am häufigsten eine Verlagerung des Quercolons nach unten,
was ich auch bei Kindern, selbst Neugeborenen, fand.
Lageveränderungen des Dickdarms überhaupt fanden sich in
über 50% der von mir untersuchten Leichen, und zwar beim weiblichen
Geschlechte etwas häufiger.
Die Nephroptose Glenard’s, unsere bewegliche Niere, fand
ich an der Leiche bei Frauen in circa 40% — meine genauen dies¬
bezüglichen Aufzeichnungen sind mir leider nicht zur Hand
Männern in circa 20% der Untersuchten, die Gastroptose auch
ziemlich häufig.
Jener Zusammenhang der einzelnen Ptosen und jenes sich
gegenseitige Bedingen, wie dies Glenard annimmt, bestehen
aber nicht.
Was das klinische Symptomenbild der Enteroptose betrifft, wie es
von Glenard und auch von Herzfeld geschildert wurde, so ist
dasselbe durchaus nicht streng charakteristisch für die Enteroptose.
Ich habe schon in meiner Publication vom Jahre 1893 bezüglich der
Angaben Glenard’s gesagt und ich wiederhole dies heute nach
222
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
Nr. 9
meinen bedeutend reicheren Erfahrungen auch den Angaben Herz-
feld’s gegenüber: „Was die Angaben Glenard’e bezüglich der
typ. subject. Symptome der Enteroptose und den diesbezüglichen drei
Perioden anbetrifft, so kann ich dieselben nur zum Theile und mit
grossen Einschränkungen als richtig anerkennen.
In dem von G 1 e n a r d geschilderten Umfange und Typus waren
sie nur in wenigen Fällen der im anatomischen Sinne sichergestellten
Enteroptose vorhanden. In vielen Fällen erschien es mir auch viel
wahrscheinlicher, dass die Beschwerden der Kranken durch die, ihrerseits
wieder durch andere ursächliche Momente als die Enteroptose bedingte
chronische Obstipation oder die Atonie dos Magens hervorgerufen
wurden.
Zu einer nicht unbeträchtlichen Anzahl fehlten überhaupt alle
subjeetiven Symptome; auch muss ich betonen, dass alle jene Be¬
schwerden, welche Glen a r d als charakteristisch für die Enteroptose
anführt, nicht selten bei genitalkranken Frauen sich finden, ohne jede
nachweisbare Veränderung der Verdauungsorgane, und dass dieselben
mit der Behebung der Genitalerkrankung vollständig verschwinden.
Immerhin blieb eine Minderzahl von Fällen, in denen die in geringerem
oder höherem Grade vorhandenen subjeetiven Krankheitssymptome
beim Fohlen jeder anderen nachweisbaren objectiven Basis als von
der Enteroptose abhängig anzusehen waren, Fälle, welche man bisher
zur nervösen Dyspepsie gezählt hatte. Ich möchte demnach die Entero¬
ptose als eine entite morbide anerkennen, wenn derselben auch ein
Symptomencomplex von charakteristischem Gepräge nicht zugesprochen
werden kann.“
Ich möchte dem noch hinzufügen, dass die geschilderten Be¬
schwerden auch rein neurastlienischer oder hysterischer Natur sein
können.
Bezüglich der Aetiologie der Enteroptose ist für die Feststellung
derselben die Vorfrage: „Wodurch werden die Organe der Bauchhöhle
in ihrer normalen Lage erhalten?“ von grösster Bedeutung. Herr
H e r z f e 1 d sieht nun, abweichend von G 1 e n a r d und vielen Anderen,
welche die anatomischen Befestigungen der Baucheingeweide vornehm¬
lich für Sicherungsmittel ihrer Lage halten, als Hauptgrund
hiefür den vorhandenen intraabdominellen Druck an.
Es erscheint mir denn doch nicht richtig, die einmal zweifellos vor¬
handenen anatomischen Befestigungen der Organe so ausser Acht zu
lassen, und sodann einen höchst vagen, ungemein wechselnden Zustand,
über den die Meinungen überhaupt noch sehr weit auseinandergehen,
den H e r z f e 1 d selbst nur als Gesammtwirkung verschiedener
anatomischer und physiologischer Factoren erklärt, als Haupt¬
grund zu bezeichnen. Herr Herzfeld spricht auch im Weiteren
von der Wiederherstellung des normalen Bauchhöhlendruckes. Wäre
ein solcher aber genügend sichergestellt, so muss er auch ziffernmässig
ausgedrückt werden können als entsprechend einer Quecksilbersäule
von — mm, oder einer Belastung von — g auf 1 cm 2. So weit sind
wir aber meines Wissens noch lange nicht.
Es erscheint mir daher viel richtiger und einfacher, diesen höchst
unbestimmten intraabdominellen Druck aus dem Spiele zu lassen und
zu sagen: „Die normale Lage der Baucheingeweide ist abhängig von
der normalen anatomischen Beschaffenheit und physiologischen Function
ihrer elastischen und musculösen Befestigungen; dann von dem dies¬
bezüglichen Verhalten des Bauchfells, des Zwerchfells, der Bauchdecken,
des Beckenbodens und des Knochengerüstes und endlich von ihrem
eigenen Verhalten.“ Alle Momente, weiche eine abnorme Beschaffenheit
oder Function dieses herbeiführen, sind unter Umständen geeignet, die
normale Lage der Baucheingeweide zu stören, beziehungsweise eine
Enteroptose im engeren oder weiteren Sinne hervorzurufen. Es würde
mich viel zu weit führen, hierauf näher einzueehen. Ich erwähne nur,
dass ich z. B. die chronische Obstipation viel häufiger für eine Ursache
denn als eine Folge der Enteroptose halte, und dass nach meinen
Leichenuntersuchungen das von Vielen als häufig bezeichnete ätiologische
Moment der Lageveräuderung der weiblichen Genitalorgane relativ
selten zutraf.
Bezüglich der Diagnose verweise ich darauf, dass ich als Erster
angegeben, dass und wie es in den meisten Fällen möglich ist, den
Dickdarm in seinem ganzen Verlaufe zu palpiren, und auf den von mir
gefundenen constanten Schmerzpunkt bei der beweglichen
Niere, dessen Constatirung es sofort ohne weitere Untersuchung ge¬
stattet, auf das Vorhandensein der letzteren zu schliessen.
W as die Therapie betrifft, wiederhole ich nur, was ich bereits
1893 gesagt: Ich sehe in einer systemstisch und kunstgerecht durch¬
geführten Gymnastik und Massage jene Therapie, welehe den Indi-
cationen am besten entspricht, und habe ich durch dieselbe in Ver¬
bindung mit einer entsprechenden Diät und Lebensweise überhaupt sehr
gute Resultate erzielt.
Meine seitherigen Erfahrungen gaben mir keine Veranlassung,
hievon abzugehen.
Docent Dr. K. A. Herzfeld: Ich kann in meiner Antwort
ganz kurz sein, da d:e Discussion sich nur in einigen Punkten auf
meinen Vortrag bezog. Zunächst muss ich einige Missverständnisse
klarstellen. Die grosse Anzahl der mehr oder weniger werthvollen
Publicationen über die Enteroptose war mir wohlbekannt, meine Be¬
merkung bezüglich der geringen Anzahl wissenschaftlicher Publicationen
bezog sich blos — wie aus dem Zusammenhänge hervorgeht — auf
die gynäkologische Fachliteratur. Herr College Tandler hat hervor¬
gehoben, er halte es für einen Lapsus linguae, wenn ich behaupte,
„die Leber sei nicht durch anatomische Gebilde fixirt, sondern
schwömme auf den Eingeweiden“. In der Fassung habe ich das auch
nicht behauptet. Ich sagte vielmehr, dass die anatomischen Fixationen
der Leber unter normalen Verhältnissen nicht völlig in Anspruch ge¬
nommen werden. Da die Leber dem Diaphragma unmittelbar unter
Vermeidung eines Hohlraumes anliegt, seien vielmehr einige normale
Fixationsbänder nicht constant gespannt, und die von unten her in die
Höhe steigenden Entera leisten einen Gegendruck für die gemäss ihrem
Gewichte nach abwärts strebende Leber. Fällt dieser Gegendruck weg,
dann allerdings werden die Ligamente gespannt und gezerrt und dann
fühlt die Kranke das Gewicht ihrer Leber.
Ich kann nach dem in der Discussion Gehörten im Grossen und
Ganzen nur eine Bestätigung dessen finden, was den Succus meines
Vortrages bildete, dass das Nachlassen des Tonus der Bauchwandungen
wohl das wichtigste ätiologische Moment für das Entstehen der
Enteroptose abgebe.
Herrn Collegen Sternberg gegenüber betone ich nochmals
— was ich ja schon in meinen Vortrage ausgeführt — dass nicht
jede tiefstehende Niere als bewegliche Niere angesehen werden könne,
und dass man dystopische Nieren wohl zu unterscheiden habe von be¬
weglichen dislocirten Nieren, und dass diesbezüglich gewiss oft
Irrthümer unterlaufen.
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien.
Sitzung vom 13. Februar 1900.
Vorsitzender : Prof. Obersteiner dann Hofrath v. Krafft-Ebing.
Schriftführer: Dr. Elzholz.
1. llofrath v. Krafft-Ebing demonstrirt einen Fall von
hysterischem Schütteltremor des rechten Vorderarmes und der rechten
Hand bei einem 15jährigen Mädchen.
Patientin ist asphyktisch mit Zange zur Welt gekommen, war von
jeher schwach auf linker unterer und oberer Extremität, sonst wohl. Im
zwölften Lebensjahre entwickelte sich ein damals nur auf die Finger
der rechten oberen Extremität beschränkter Tremor, der indessen das
Mädchen nur am Schreiben behinderte; Nähen und sonstige Hantirungen
waren noch möglich. Bis October v. J. konnte die Kranke noch eine
Nähschule frequentiren ; von da an artete der leichte Tremor zum
Schütteltremor, wie er nun zu sehen ist, aus. Dieser Schütteltremor
besteht nun continuirlich seit Wochen, nimmt bei intendirten Be¬
wegungen zu und schwindet während des Schlafes. Er betheiligt
Vorderarm und Hand, ist langsam, zwei Bewegungen in der Secunde
aufweisend; im Uebrigen besteht eine' motorische Schwäche des rechten
Beines, lebhafte Pa^llar-Sehnenreflexe beiderseits, rechts Achilles-
Sebnenreflex lebhafter als links, die tiefen Reflexe an der rechten oberen
Extremität nicht auslösbar, links schwach.
Der leichte Tremor im Reginne des Leidens hätte den Gedanken
an einen posthemiplegischen Tremor, analog der posthemiplegisclien
Athetose oder Chorea nahelegen können. Der Tremor im vorgestellten
Falle ist aber erst im zwölften Lebensjahre entstanden, während die
posthemiplegischen motorischen Reizerscheinungen des kindlichen Alters
nach frühzeitigen Schädeltraumen oder irgend welchen sonstigen
Gehirnläsionen höchstens bis zum zweiten Lebensjahre sich schon ent¬
wickelt vorfinden. Ueberdies konnte anamnestisch als auslösendes
Moment des Tremors ein psychischer Shock, eine heftige Gemüths-
bewegung nach dem Tode der Mutter erhoben werden. Mit Einsetzen
der Pubertät erfolgte die Steigerung zum Schütteltremor. Diese ging
vor sich während der Fahrt mit der Tramway, wobei höchstens die
Abneigung der Patientin gegen das Fahren überhaupt mit in Rechnung
käme. Als Ursache des Leidens sind psychische und biologische (Pubertät)
Momente anzusprechen.
Die Affection stellt eine Neurose dar, für deren Localisation
man sich vorzustellen hat, dass die in Betracht kommende Region der
linken Gehirnhälfte einen Locus minoris resistent'ae abgab, der durch
die einwirkende Schädlichkeit afficirt wurde und so für den Ort der
Störung bestimmend war; hysterische Stigmata fehlen. Es stimmt
dieses Verhalten mit den sonstigen Beobachtungen überein, wonach bei
motorischen Reizerscheinungen sicher hysterischer Individuen hysterische
Stigmata vermisst werden können.
Die Prognose des Falles ist ungünstig; solche Fälle verhalten
sich gegen alle Therapie refraetär; jede bisher versuchte Therapie blieb
bei dem vorgestellten Falle erfolglos.
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
223
2. Dr. A. Fuchs: Erfahrungen in dor Behandlung der con- i
trären Sexualempfindung (Autoreferat).
Der Vortragende befasst sich zunächst mit der Auseinander¬
setzung der Ursachen, warum die conträre Sexualempfiudung zur Zeit
noch Gegenstand gesetzlicher Ahndung sei, und bespricht sodann der
Reihe nach die psychologische, klinische und therapeutische Seite der
einschlägigen Frage. Das gesammte Material ist vom Gesichtspunkte
der Theorielv rafft-Ebing’s betrachtet, die bekanntlich eine bisexuelle
psychische Veranlagung annimmt. Aus dieser Theorie ergeben sich die
Wege und Mittel für die Therapie. Dieselbe hat danach zu streben,
das floriie, conträrsexuale Centrum zu unterdrücken und das latente,
heterosexuale zu erwecken. Sie ist in ihrem Wesen eine psychische, wo es an¬
geht suggestive, wo nicht auf Wachsuggestion beschränkte, und wurzelt in
einem pädagogischen Vorgehen. Die Behandlungsweise hat der persönlichen
Eigenart der einschlägigen Fälle weitgehendst Rechnung zu tragen
und sich den individuellen Bedürfnissen streng anzupassen, insbesondere
in den fetischistischen Motiven sich Angriffspunkte für die Behandlung
zu suchen. Bei angeborenen Fällen muss man sich oft mit dem Er¬
reichen sexueller Indifferenz begnügen; bei der erworbenen Form kann
man bei hinreichend langer Dauer der Behandlung Genesung erreichen.
Gegen die Ehe geheilter Conträrsexualer ist nichts einzuwenden, die
conträrsexuale Empfindung als solche nicht vererblich.
Die Anzahl der beobachteten und behandelten Fälle beträgt 42,
die Anzahl der hievon geheilten 14, welche sämmtlich nach längerer
Beobachtung auch geheilt geblieben sind. Zur sexuellen Indifferenz
_ Neutralität — gelangten 8. Nicht inbegriffen sind dabei Fälle von
psychisch sexueller Hermaphrodisie, bei welcher das Ergebniss der Be¬
handlung ein günstigeres ist.
Discussion: Hofrath v. Krafft-Ebing:
Ich will einige Worte den hier vorgebrachten Ausführungen
hinzufügen, mit denen ich mich im ganzen Grossen einverstanden
erkläre.
Ich hatte Gelegenheit, einen Theil der Patienten des Vortragenden
zu sehen und die Erfolge zu verificiren; in einem Punkte könnte ich
ihm nicht zustimmen, nämlich, wenn er der Ansicht ist, dass die Kranken
genesen sind, selbst da nicht, wo eine minutiöse, sehr sorgfältigeBeliandlung
stattgefunden bat. Hier kann man aber weder von Krankheit noch von
Genesung sprechen. Es handelt sich vielmehr um in der Anlage begründete
Abnormitäten, um gewisse Eigenthümlichkeiten. Normaler Weise geht
das sexuelle Fühlen parallel mit den sexuellen Drüsen des Individuums.
Der Mann als Träger der Testikel fühlt sich zum Weibe und um¬
gekehrt das Weib zum Manne hingezogen. Beim Conträrsexualen ist
ein erprobtes Naturgesetz verletzt. Der Boden, auf dem die conträre
Sexualempfindung gedeiht, ist die hereditäre Degeneration. Die con¬
träre Sexualempfindung reiht sich eben den sonstigen Abweichungen
ein, die man bei Degenerirten findet; man kann demnach hier nur
von einer Anomalie, nicht von Krankheit sprechen. Das Wesentliche
derselben ist die Verquickung männlicher Drüsen mit weiblichem Em¬
pfinden und weiblicher Drüsen mit männlicher Fühlweise. Daraus
ergibt sich, dass die conträrsexualen Männer sich wie Weiber gehaben
und als Weib sich zum Manne hingezogen fühlen; das conträr
sexuale Weib fühlt sich als Mann und strebt dem eigenen Ge-
schlechte jaach.
Ich muss ernstlich bezweifeln, dass durch das vom Vortragenden
auseinandergesetzte Verfahren Genesung erfolgt; es handelt sich hiebei
nur um Entfernung von Schädlichkeiten, die den heterosexualen Be¬
ziehungen im Wege sind, nur um eine Dressur des hetrosexualen
Centrums. Ferner vermag ich keinen principiellen Unterschied zwischen
der angeborenen und der erworbenen conträren Sexualempfindung zu
erblicken. Es ergibt sich dies aus einer näheren Würdigung der er¬
worbenen conträren Sexualempfindung; auch hier ist auf die Ver¬
anlagung zu recurriren. Man hätte nur eine originäre und eine tardive
Form, eine Form mit längerer Latenz des Leidens zu unterscheiden,
ebenso wie man eine originäre und eine später zur Entwicklung kom¬
mende Paranoia auseinanderhält. Wenn man sieht, dass oft ein gering¬
fügiges Erlebniss den Anstoss zum Ausbruche des Leidens gibt, so
wird man auch für die tardiven Fälle eine degenerative Basis anzu¬
nehmen haben.
Was die forensische Seite der Frage betrifft, so ist zu erwarten,
dass die heute noch durch das Gesetz geforderte Ahndung der per¬
versen Sexualempfindung in 100 Jahren ebenso belächelt werden wird,
wie gegenwärtig die Hexenprocesse. Das Gesetz straft Denjenigen,
der widernatürliche Unzucht begeht. In den Augen der Conträrsexualen
ist aber der homosexuale Verkehr das Natürliche, das Andere das
Widernatürliche. So gelingt es hier, das Gesetz ad absurdum zu führen.
Berichte aus dem Verein österreichischer Zahnärzte.
Officieller Bericht.
Sitzung vom 6. December 1899.
Vorsitzender: Dr. Johann Pichler.
Schriftführer: Dr. y. Wnnsclilieim.
Nach Erledigung des Einlaufes und der geschäftlichen Angelegen¬
heiten ertheilt der Präsident Herrn Dr. R. Vier thaler das Wort.
Dr. R. Vierthaler demonstrirt einen Patienten, welchem
wegen eines Carcinoms der linke Oberkiefer resecirt worden war, und
dem Vortragender eine Prothese (Obturator) angefertigt hatte. Die
Schwierigkeit des Abdrucknehmens überwand der Vortiagende durch
Anfertigung eines eigens dem Defecte angepassten Abdrucklöffels,
mittelst welchem zuerst mit Abdruckmasse und hierauf mit Gypsbrei
ein genaues Modell angefertigt wuide. Dor Defect reichte vom linken,
mittleren Schneidezahn bis zum linkeu Weisheitszahn, welch’ letzterer
gleich dem Siebener der rechten Seite mit einer Vollkrone versehen
wurde. Da die Achsen der zur Befestigung dienenden Zähne mit der
Achse des Substanzverlustes einen Winkel bildeten, welcher die An¬
fertigung der Prothese in einem Stück contraindicirte, construirte der
Vortragende dieselbe aus zwei Stücken, dem eigentlichen Obturator,
welcher die Gestalt eines Hütchens aus schwarzem Kautschuk erhielt,
in dessen Vertiefung die Platte der Prothese sehr exact hineinpasste
und so einen sehr ruhigen und festen Sitz, sowie auch ein leichtes
Herausnahmen und Einsetzen ermöglichte. Der Patient, ein Oberjäger,
war nach Anfertigung der Prothese wieder im Stande, seinen Dienst
zu versehen.
Discussion: Dr. Kraus zeigt einen alten Obturator, der
nach K i n g s 1 e y angefertigt worden war und dessen oberer Theil aus
mit Luft gefülltem Weichgummi bestand; dadurch, sowie in Folge
dessen, dass auch die aus hartem Kautschuk bestehenden dickeren
Theile der Prothese hohl gearbeitet waren, erhielt dieselbe eine grosse
Leichtigkeit.
Es folgt nunmehr die Discussion zu Dr. Weise r’s Vortrag vom
Mai und October d. J.: ,, Allerlei aus der zahnärztlichen
und zahntechnischen Praxis“:
Dr. v. Wunschheim z<dgt ein unteres, zum Theile aus Gold,
zum Theile aus Vulcanit angefertigtes Stück, bei welchem er die von
Weiser empfohlene Galerie oder Charnierklammer zur Anwendung
gebracht hatte. Diese vom Erfinder für solche Fälle, in welchen die
unteren Vorderzähne vorhanden sind, die Backen- und Mahlzähne aber
fehlen, empfohlene Befestigungsalt bewährte sich auch dem Redner
vortrefflich, indem dadurch ein ausserordentlich fester und ruhiger Sitz
der Prothese erreicht wurde.
Dr. R o b i c s e k erwähnt, dass er solche Prothesen bisher nicht
angefertigt habe, wohl aber einen der Galerie ähnlichen Apparat zur
Befestigung lockerer Zähne bei Alveolarpyorrhoe. Jedoch sei regel¬
mässig Empfindlichkeit der Zahnhälse eingetreten, was er nur durch
Aufcemeutiren der Galerie vermeiden konnte. Redner befürchtet, dass
auch bei Prothesen mit Galerie Hypersensibilität der Zahnhälse anf-
treten könne.
Dr. Weiser tfit dieser Befürchtung im Hinblicke auf seine
mehrjährigen Erfahrungen, die ihn niemals eine solche Complication
beobachten Hessen, entgegen. Ebenso sprechen sich auch Dr. v. Wu n s c h-
heim und Dr. Pichler gegen die Möglichkeit einer solchen Rei¬
zung im Hinblicke darauf, dass es sich in solchen Fällen um gesunde,
feste Zähne handle, aus.
Dr. Pichler regt die Verwendung der Galerie zur Befestigung
von partiellen Prothesen an, während Dr. W e i s e r noch Mittheilung
von einem Falle macht, in welchem unten die zwei Eckzähne allein
übrig geblieben waren. Redner brachte die Kunstzähne an der nach
vorne aufklappbaren Galerie an und vermied dadurch die unangenehmen
Folgen des dreieckigen Raumes zwischen Stützzähnen und Prothese.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
in München.
Vom 17. bis 22. September 1899.
(Fortsetzung.)
Section für Dermatologie und Syphilis.
Sitzung am 20. September 1899 Morgens.
Vorsitzender: Kollniann (Leipzig).
II. Sehlagintweit (Brückenau) : Ein neues Gystoskop
nd einige technische Neuerungen. (I ortsetzung. )^
■ Das vom Redner demonstrirte Gystoskop soll folgende \ ortheile
eten : erstens soll vermieden werden, dass dem Patienten mehrmals
istrumente in einer Sitzung in die Harnröhre eingilül.it "(l|l'n
üsseu. Zweitens soll das Instrument gestatten, als einfacher Spul-
224
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 9
katheter vei wendet zu werden. Die Construction ist folgende: Ein
einfacher Katheter trägt die Lampe am Eude seines Schnabels und
hat an der concaven Seite ein Fenster. In diesen Katheter kann man
die Optik einschieben, deren Prisma aus dem Fenster hervorsieht. So¬
wie man die Op t i k entfernt, kann man sofort die Blase bespülen. Bei
Blaseninhaltstrübungen hat man also den Vortheil, ohne Zeitverlust
aus einem weiten Kohr sofort die Blase spülen zu können. Die Optik
kann nun so gearbeitet sein, dass sie in verschiedene Katheter mit
Lampen passt.
Frank (Berlin): Dem Instrument haften zwei Mängel an : erstens
fliesst in dem Augenblick des Herausziehens der Optik Flüssigkeit ab,
zweitens wird der Patient beim Einschnappen der Optik in den Katheter
einen unangenehmen Schmerz empfinden.
Man kiewicz (Berlin) glaubt, dass die Optik des vorgeführten
Instrumentes nur ein beschränktes Gesichtsfeld gewähren kann.
Goldberg (Köln) erblickt bei dem gezeigten Instrument einen
Hauptvortheil darin, da:s man auch langscbnabelige Katheter verwenden
kanu. Es gibt Prostatahypertrophien, welche mit kurzschnabeligen In¬
strumenten nicht passirbar sind.
III. W o s s i d 1 o (Berlin) : Eine neue Centrifuge.
Diese Centrifuge ist nach dem Princip der Kreiselcentrifugen
gebaut, nur mit dem Unterschied, dass dieselbe nicht an einen Tisch
angeschraubt zu werden braucht. Sie stebt fest genug durch ihre
eigene Schwere. Die Schleuderscheibe dreht sich horizontal. Der An¬
trieb geschieht mittelst Schnurabzug. Dieselbe Centrifuge bat Wos-
s i d 1 o auch mit einem kleinen Elektromotor in Verbindung bringen
lassen, welcher eine ungemein bequeme Handhabung ermöglicht. Die
Tourenzahl bei der ersten Form mit Handbetrieb beträgt etwa 1500
pro Minute, lässt sich natürlich bei der elektrischen beliebig steigern.
Ein grosser Vortheil ist die Geräuschlosigkeit des Betriebes.
Kollmann (Leipzig) berichtet über seine weiteren Erfahrungen
mit dem von ihm angegebenen und von Ileynemann in Leijazig
angefertigten Instrumenten für Intraurethrotomie bei weiten Stricturen
der Harnröhre.
Er hat im Ganzen jetzt 18 Fälle damit behandelt und ist mit
den Resultaten durchaus zufrieden. Einige Punkte wurden von Koll¬
mann eingehend besprochen. Vor Allem empfiehlt er nochmals nach¬
drücklich die Benützung von gewöhnlichen endoskopischen Tuben be¬
hufs Aufsuchens des vorderen Strictureinganges; diese sind nach seiner
Meinung hier noch nützlicher als das bougie k boule mit olivenförmigem
Ende. Die Ko 1 1 m a n n’schen Instrumente, welche mit auswechselbaren
Knöpfen versehen sind, lassen sich für Stricturen, die ein engeres
Caliber haben als 18 Charriere, nicht verwenden, weil es nicht gut
möglich ist, den Umfang der Instrumente noch mehr zu reducireu ;
nach oben zu ist aber das Gebiet ihrer Anwendung viel weniger be¬
schränkt. Ursprünglich waren dem Instrumentarium nur beigegeben die
Kopfnummern bis 32 Charriere. Kollma n n würde aber nicht
zögern, in geeigneten Fällen auch noch weit höher hinaufzugehen. Ob
das Orifieium ursprünglich so weit ist, dass es die Passage dieser
hohen Nummern ermöglicht, oder erst artificiell auf die nöthige
Weite gebracht wird, ist für das Gelingen des Eingriffes ziemlich
gleichgiltig.
Die Kollman n’schen Instrumente lassen eine verschiedene
Anwendungsweise zu. Man kann dabei verfahren, wie bei dem inneren
Schnitte von engen Stricturen, wo man zumeist auf einmal die ge¬
plante Weite herstellt. Dies ist aber nach K o 1 1 m a n n’s Erfahrungen
bei weiten Stricturen nicht besonders empfehlenswert!], da dann stets
klinische Behandlung erforderlich ist. Kollmann hat in den bisher
besprochenen Fällen stets ambulante Behandlung durchführen können.
Kollmann verfährt ganz ähnlich wie bei der Oberlände r’schen
Dilatation, welche man ja auch im Laufe längerer Zeit bis zu dem ge¬
wünschten Ziele treibt. Asepsis und Antisepsis sind selbstverständlich.
Vor und nach dem Eingriffe spült Kollmann mit warmer Borlösung.
Kollmann zeigt ferner einen mit zwei verschiebbaren Knöpfen ver¬
sehenen zweitheiligen Dehner nach Oberl ander -Otis, welcher
auch ein Messer enthält. Diese Instrumente hat Kollmann auch
zu rein diagnostischen Zwecken benützt. Mit diesem Instrumente
ist es ihm leicht gelungen, die Ausdehnung einer Strictur genau
zu messen, er fand dieselben oft länger als man gewöhnlich an¬
nimmt.
W o s 8 i d 1 o (Berlin) hat sehr gute Erfahrungen mit den K o 1 1-
m an n’schen Instrumenten gesehen. Er hat nie heftige Blutungen noch
Infectionen erlebt.
Frank (Berlin) kann dasselbe an der Hand von zehn Fällen
bestätigen; die von ihm angegebene Modification, um unter Beleuchtung
arbeiten zu können, hat mehr Werth für den Unterricht.
Goldberg (Köln) hält die Urethrotomia interna für ganz un¬
gefährlich und gibt bei entstehenden traumatischen Stricturen nur einer
unterlassenen curativen Dilatation die Schuld.
Kollmann (Leipzig): Die gezeigten Instrumente sind nur für
die vordere Harnröhre bestimmt. Eine Nachbehandlung ist natürlich
wie bei allen anderen Methoden nötliig.
IV. v. Notthafft (München) : Ueber die Verminde¬
rung der Widerstandsfähigkeit des Körpers gegen¬
über Infectionen durch Erkrankungen der Haut und
der Harnwege.
Nach einem Ueberblick über die bisher beobacheten Thatsachen
einer Förderung der Entstehung von Infectionskrankheiten des übrigen
Körpers durch viele Erkrankungen der Haut und der Haruwege,
und über die wenigen bisher vorliegenden Versuche einer experimen¬
tellen Herbeiführung verminderter Widerstandsfähigkeit berichtet
Referent über eigene Versuche, welche er zu gleichem Zwecke an¬
gestellt.
Er verwendete eine abgeschwächte Pneumoeoecencultur und in-
ficirte Versuchsthiere (Kaninchen) und Coutrolthiere mit derjenigen
Menge, welche gerade nicht mehr im Stande war, beim gesunden Thiere
Sepsis zu erzeugen. War das Versuchsthier zu narkotisiren oder ihm
die Bauchhöhle zu eröffnen, so wurde in gleicher Weise mit dem Con¬
trolthier verfahren.
Es wurden folgende Versuche ausgeführt: Erzeugung schwerer
diphtheritischer Cystitis durch eingelegte Kantharidentragacanthkugeln,
von Nephritis durch tägliche subcutane Injectionen von Tinct. canth.,
von Urämie durch Nieren- oder Ureterenunterbindung, von acuten
Dermatitiden durch Senf, Krotonöl und Kanthariden und von schweren
Verbrennungen dritten Grades. Ausserdem wurden zwei schwer se¬
borrhoische Thiere inficirt. Das Ergebniss der Impfung war, dass die
Cystitisthiere, ferner die Thiere mit Krotonöl- oder Senfdermatitis und
die seborrhöen nicht einer Sepsis erlagen, während die urämischen,
die nephritischen, die verbrannten und die mit Kantharidendermatitis
behafteten rasch septisch endeten. Den Grund für den verschiedenen
Ausfall der Dermatitisversuche sieht Redner in der bei den Kantha-
ridendermatitiden gleichzeitig auch immer noch gegeben Nierenentzün¬
dungen, welche deletär gewirkt haben.
Die letzte Ursache der Dispositionserhöhung sucht Redner in
Blutveränderungen. Er hat denn auch gefunden, dass einerseits acute
und schleichende Vergiftungen mit den Blutgiften Pyrogallol und
Toluylendiamin, die künstliche Alkalescenzverminderung des Blutes
durch Säuredarreichung und der wiederholte Aderlass die Disposition
des Kaninchens für Pneumococcen-Sepsis steigerten; er hat ferner bei
seinen urämischen Thieren Alkalescenzverminderung des Blutes, bei den
leichten Kanthariden Vergiftungen dagegen keine constanten Blut¬
veränderungen gefunden, wärend man bei der Nephritis des Menschen
Eiweissverarmung, grösseren Wasserreichthum und Zunahme der
eosinophilen Zellen beobachtet hat und eine Retention giftiger, harn¬
fähiger Stoffe im Blute auf jeden Fall anzunehmen ist. Die Blutunter¬
suchungen bei Cystitis, Krotonöl- und Senfdermatitis haben nur bei
Cystitis und Krotonöldermatitis eine leichte Vermehrung der Leuko-
cyten ergeben. Bei den verbrannten Thieren wurden die bekannten
Veränderungen der rothen Blutkörpereben gesehen, andere nennen
als Blutveränderung bei Verbrennungen Wasserverlust und Ptomain¬
bildung. (Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag, den 2. März 1900, 7 Uhr Abends,
unter dem Vorsitze des Herrn Hofrathes Prof. Clirobak
atattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
I. Administrative Vorversammlung.
1. Verlesung der Wahl Vorschläge und der Wahlliste.
2. Wahl zweier Scrutatoren.
3. Mittheilungen.
II. Wissenschaftliche Sitzung.
2. Docent Dr. Max Herz: Die heilgymnastische Behandlung von
Erkrankungen des Centralnervensystem?.
Vorträge haben angemeldet die Herren: Docent Dr. Kretz, Professor
A. Politzer, Prof. Benedikt, Prof. Weinlechner, Dr. J. Tlienen,
Dr. A. Pilcz, Hofrath Prof. Schnabel, Oberstabsarzt Docent Dr. Habart,
Dr. A. .Tolles und Docent Dr. Ratin'.
Bergmeister, Pal tauf.
Wiener medicinisches Doctoren-Collegium.
Programm
der am
Montag, den 5. März 1900, 7 Uhr Abends
im Sitzungssaale des Collegiums: I., Kothenthurmstrasse 21 23
unter dem Vorsitze des Herrn Prof. Obersteiner
stattfindenden
Wissenschaftlichen Versammlung.
Dr. Offer, emeritirter Assistent: Ueber diätetische Behandlung von
Stoffwechselkrankheiten.
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900. Nr. 9.
Bester und billiger Ersatz für Jodoform.
Im Gebrauch geruchlos, ungiftig selbst bei innerlicher
Darreichung grosser Dosen als Darmantisepticum. Ausge¬
sprochen schmerz- und blutstillend, nicht reizend, kein Ekzem
erzeugend. Desodorisirt selbst jauchige Secrete, wii kt eminent
austrocknend und reducirt die Eiterproduction auflallend
schnell. Wirkt in manchen Fällen zwar weniger stark gra-
nulirend als Jodoform, übertrifft aber Jodoform und alle an¬
deren Mittel eminent in epithelbildender Wirkung. Von
specifischer Wirkung bei ulcera mollia, ulcus cruris, allen
nässenden Ekzemen u. s. w. Frische Wunden heilen pei
primam und alle Autoren haben abgekürzte Heilungsdauci
constatirt. Infolge der Ungiftigkeit und schmerzstillenden
Wirkung von grossem Vortheil in der Gynäkologie und bei
Brandwunden. Bei chronischen nässenden Ekzemen (Intertiigo
etc.) genügt einfaches öfteres Einreiben mit Xeroform-Watte¬
bausch. Bäder und Verbandstoffe werden dabei vollständig
erspart.
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Peristaltik. I
Obstipation
während der
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und der
Lactation.
Chole¬
lithiasis.
Das »Casearine« ist ein chemisch bestimmter krystallisirter Körper etc. (Comptes
rendus de l’Academie des Sciences, Bd. CXV, pag. 286.) Begründet wurde seine thera-
peutische Wirkungsweise wissenschaftlich (M. LafFont, Bulletin de l’Academie de l ede-
eine 14. Jnni 1892) und klinisch (Societe de Therapeutique : Constantin Paul ; Dujardm-
Beaumetz, Medications nouvelles, 2. Serie ; Bibliotheque Charcot-Debove, 1 iirgatif.s,
pag. 104; Prof. Lemoine in Lille. Therapeutique clinique, pag. 3ü5 ; Tison, Hop-tal
St.-joseph und Congres pour l’avancement des Sciences, Bordeaux, 1895, 1. Theil,
pag. 963, Prof. Charles in Lüttich, Cours d’accouchements u. s. w.)
Seine Wirkung ist regelmässig, leicht zu erzielen, ohne Angewöhnung, aus¬
gezeichnet bei habitueller Verstopfung und gegen bacterielle Proliferation des Rheuma¬
tismus (Dr. Roux) bei Typhus abdominalis etc.
Dosirung: 2 Pillen Abends oder bei den Mahlzeiten,
f Je nach der Wirkung die Dosis verringern oder steigern.)
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Um Nachahmungen zu vermeiden, verordne man gefl. stets: „Casearine Leprince .
Jede Pille trägt obige Aufschrift.
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Verpackungen vorkommenden Nachahmungen, bitten wir die Herren Aerzte ge
„Casearine Leprince“ verschreiben zu wollen. _ \'A)
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Verstopfung.
Leber¬
beschwerde
Antisepsis
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Wohlgeschmack vor allen anderen Nähr¬
präparaten ans.
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sowohl als Nährpräparat für Schwerkranke
als auch als Kräftigungsmittel für Schwäch¬
liche, Kinder und Erwachsene bestens empfohlen.
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löffel, gelöst in Suppe, Milch oder Wasser, drei¬
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Berl. Klin. Wochenschrift No. 25, p. 557. 1896. — Deutsche medic. Wochenschr. No 25
p. 393 , 1896. — Berl. luin. Wochenschr . No. 6 u. 7, 1897 , Nr. 11 u. 13, 1898 , No. 50, 18! 9.
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Zuschriften für die Iieuae-
tion sind zu richten an
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Redaction:
Telephon Nr. 3373.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, Jos. Gruber,
M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann,
R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, G. Toldt, A. v. Vogl,
J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Güssen Dauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Rediffirt von Dr. Alexander Fraenkel.
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Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, V 1 1 1/1, Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang.
Wien, 8. März 1900.
Nr. 10.
IdNTHALT:
I. Originalartikel: 1. Aus der I. medicinischen Klinik des Herrn Hufrat hes
Prof. Nothnagel in Wien. Das radiographische Verhalten der
normalen Brustaorta. Von Dr. G. Holzknecht, Aspirant der
Klinik.
2. Aus dem allgemeinen öffentlichen Krankenhause in Baden bei Wien.
Ein Fall von angeborener stenosirender PylorushypertropLie. Von
Dr. Franz H a n s y.
3. Aus der k. k. pädiatrischen Klinik des Prof. Jakubowski in
Krakau. Zur Biologie der Malariaparasiten. Von Dr. Xaver j
Lewkowicz, Assistenten der Klinik. (Schluss.)
II. Referate: Pathologie und Therapie der entzündlichen Erkrankungen
der Nebenhöhlen der Nase. Von Dr. M. Hajek. Ref. O. Ciliar i.
— I, Volvulus coeci. Von W. Zoege v. Man teuffei. II. Die |
irrt* < i *• ' tf «> * . «
(Alle Rechte Vorbehalten.)
Brüche der Mittelfussknochen in ihrer Bedeutung für die Lei re
von der Statik des Fusses. Von Gustav Muskat. III. La
gastrostomie. Par J. Braquehaye. IV. L’appendicite. ParAng.
Proca, V. Chirurgie du foie et des voies biliaires. Par J. Pan-
taloni. VI. A Manual of Surgery. By Charles Sto n h a m.
VII. Uober Amputationen und Exarticulationen. Von August
Bier. lief. K. B ü d i n g e r. — Handbuch der praktischen Chi¬
rurgie. Von E. v. Bergmann, P. v. Bruns und J. v. Miku¬
licz Ref. Alex. Fraenkel.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften nml Congressberichte.
Aus der I. medicinischen Klinik des Herrn Hofrathes Prof.
Nothnagel in Wien.
Das radiographische Verhalten der normalen
Brustaorta.
Von Dr. G. Holzknecht. Aspirant der Klinik.
Diejenige innere Erkrankung, auf die die Rön tgen’sche
Entdeckung zu allererst diagnostische Anwendung fand, war
das Aneurysma der Brustaorta. Damals hörte man in einer
deutschen ärztlichen Gesellschaft die sanguinischen Worte:
»Das Aneurysma, besonders das verborgen beginnende, hat
am längsten mit der ärztlichen Kunst Verstecken gespielt,
Röntgen hat es entlarvt«. Dieses zuversichtliche Wort hat sich
bisher nur für zwei Grade des Aneurysmas erfüllt, füi dasjenige,
bei welchem sich bereits diagnostisch ausreichende klinische
Symptome, vor Allem abnorme Pulsationen ausgebildet haben,
und dann für jene, die zwar klinisch nicht mit Sicherheit
diagnostieirbar, doch schon zu bedeutender Grösse heran¬
gewachsen waren. Bei den beginnenden liess es dagegen sehr
oft im Stich.
Das kam so: Vorgeschrittene Aneurysmen zeigten, im
Gegensatz zu den in Fig. 1 schematisch angedeuteten normalen
Durchleuchtungsbildern, oberhalb des Herzens, einer- oder
beiderseits vom Mittelschatten des Thorax, annähernd halb¬
kugelige, synchron oder fast synchron mit dem Herzen pul-
sirende Vorsprünge (Fig. 2). Da war nun nichts leichter, aber
auch nichts falscher, als das Urtheil einfach umzukehren und
zu sagen: Solche pulsirende Vorsprünge sind Aneurysmen.
Und da sich deren eine grosse Menge fand, wurde eine grosse
Anzahl von Diagnosen auf Aneurysma incipiens aortae gestellt.
Die besprochene Regel hatte ziemlich lange Geltung, gerade
so lange, bis die ersten so beurtheilten Fälle, die unter cardialen,
cerebralen und anderen Symptomen starben, zur Autopsie
kamen. Da war es mit der Regel natürlich vorbei. Die anato¬
mischen Diagnosen dieser Fälle lauteten: Insufficientia valvu-
larum aortae*, Myodegeneratio cordis * Arteriosklerose; Nephri-
Fig. 1 Schematische Darstellung des normalen röntgenoskopischen Herz-
und Mittelschattens des Thorax. — Fig. 2. Schematische Darstellung des
Mittelschattens des Thorax, aus dem ein den grossen Gefä-sen angehöngei
pulsirender Vorsprung austrit.t.
Haemorrhagia cerebri und Anderes mehr, und rasch tei tig wai
s Wort: »Das Verfahren ist nichts werth«. Fs war ja auch zu
jerlich, blos auf das mit Jugendkraft gesprochene Wort des
ntgenographen hin von seiner gesicherten Diagnose anzuge u-n.
i dann bei der Autopsie desavouirt zu werden. Solche abfällige
theile, die wohl an eine falsche Adresse gerichtet sind, hört man
“h immer häufig und erst kürzlich wurden sie gewi^ei müssen
►
226
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 10
autorisirt dadurch, dass ein hervorragender Chirurge1) ge¬
legentlich der letzten Naturforscherversammlung sich mit ihnen
identilicirte. Derartige zahlreiche Irrthümer, wieder besprochene,
und gewisse industriöse Uebertreibungen und Voreiligkeiten
praktischer Aerzte, die übrigens, wie mir scheint, anderwärts
mehr in Schwang sind, als bei uns, mögen ihn bewogen haben,
ein so radicales und summarisches Urtheilüber den internistisch¬
diagnostischen und den therapeutischen Werth dieses Ver¬
fahrens zu fällen.
Ich komme zurück zur rüntgenoskopischen Diagnose des
Aneurysmas. Zur Erklärung der Widersprüche in den Befunden
der pulsirenden Ausladungen bei der Ilöntgenoskopie einerseits
und der fehlenden Aneurysmen bei der Autopsie andererseits
wurde nun von den Einen (wie von Levy- Dorn in Berlin)
angenommen, die Frequenz des Aortenaneurysmas sei eine viel
grössere, als man bisher angenommen hatte, der Process sei aber
unter günstigen Umständen eines baldigen Abschlusses, ja eines
Rückganges fähig. Diese Ansicht basirte wohl darauf, dass
sich solche pulsirende Vorwölbungen thatsächlich zurückbilden
können, wovon ich mich selbst mehrfach überzeugt habe.
rechts links
Fi g. 3.
Normaler Thorax, sagittaler, postero-anteriorer Strahlengang; die Wirbelsäule
hebt sich als gleiehbreites dunkelstes Band vom Mittelschatten ab, die
Mitte desselben wird oben durch den negativen Schatten der Trachea aus¬
gespart. Vom Fluoreseenzschirm abpausirt.
Andere meinten, es handle sich um eine circumscripte, die
Elasticitätsgrenze nicht überschreitende und daher die Wand
nicht im physikalischen Sinne dehnende Dilatation der Aorta,
die in geringen Dimensionen, autoptisch unnachweisbar, unter
der Wirkung des Blutdruckes am Lebenden in Erscheinung
tritt. Locale circumscripte Angioparalysen, auf deren Rechnung
dann auch die cardialen Beschwerden des Falles zu setzen
wären, sollten das ätiologische Moment dazu abgeben.
Ich glaube, dass das ganze Raisonnement auf schwankenden
Füssen steht, weil die Behauptung, von der es ausgieng, das
normale Bild der Brustorgane sehe so aus, wie Fig. 1 zeigt,
unzureichend und die Annahme, dass jede nicht mit einem
Aneurysma behaftete Brustaorta sich im Mittelschatten des
Thorax verbirgt, falsch ist. Pathologie zu treiben ohne aus¬
reichende anatomische Grundlage hat auch hier wie überallzu
Irrthümern geführt. Unsere nächste Aufgabe war die: 1. das
normale röntgenoskopische Bild der Aorta und 2. die ein¬
schlägigen Verhältnisse bei denjenigen Erkrankungen zu stu-
diren, die von solchen pulsirenden Verwölbungen begleitet sind,
ohne dass ein Aneurysma besteht. Auf dieser Basis konnte
dann an das Studium des röntgenologischen Verhaltens der
Aneurysmen geschritten werden. Die Resultate der Unter¬
suchungen bezüglich des normalen Verhaltens der Aorta sind
im Folgenden auseinandergesetzt.
Betrachtet man das Durchleuchtungsbild2) des Thorax
eines jugendlichen, gesunden Individuums bei postero-anteriorem
Strahlen gang, also die Röhre im Rücken, den Schirm an der
Brust (Fig. 3), so sieht man über dem Herzen zwischen den
hellen Lungenfeldern einen von parallelen Rändern begrenzten,
also überall gleich breiten Schattenstreif den Thorax in zwei
symmetrische Antheile zerlegen. Derselbe ist der Ausdruck
der in diesem Bereich statttindenden Absorption der Rönt-
gen’schen Strahlen durch die Wirbelsäule, die grossen Ge-
fässe und das Sternum. Die Intensität des Schattens ist un¬
gleich, die Randpartien sind heller, setzen sich aber noch immer
scharf scharf genug von den hellen Lungenfeldern ab, der
mediane Antheil ist dunkler, lässt sich bei hoher Strahlen¬
intensität nach unten meist durch den Herzschatten hindurch
verfolgen und erreicht an Saturation beinahe die schwerst-
durchleuchtbaren Theile, Abdomen und Becken. Dies gilt
jedoch nur für die untere Hälfte des Schattenstreifes, in
M' VXliUltcU,
Schematische Darstellung der löntgenoskopischen Untersuchung des rechten
Herzschattenrandes mit und ohne Bleiblende. Die diffusen Stiahlen a und b,
welche vom linken Humerus und vom Röhrenstativ ausgesandt und in ihrem
Verlauf durch den Körper punktirt gezeichnet sind, bedingen auf dem
Schirm S S1 einen Zerstreuungskreis. Durch die Bleiblende B B‘ werden sie
abgeblendet, so dass nur der focale Strahl d den Schirm triffr.
der oberen sehen wir gerade die Mitte desselben eingenommen
von einem helleren, sich gegen die dunklen Randpartien scharf
abgrenzenden Bande, das sich vom vierten Brustwirbelkörper
nach aufwärts erstreckt und in den hellen Pharynxraum über¬
geht. Es ist durch die luftgefüllte und daher wenig absorbirende
Trachea bedingt. Die Breite des ganzen Schattenstreifes übertrifft
gewöhnlich um etwas die des Sternums ■ sie schwankt in nicht
unerheblichen Dimensionen und diese Differenzen hängen von
Entwicklung der Musculatur und des Fettpolsters ab. Bei
dieser Variabilität der Breite des Mittelschattens kann es sich
mit Rücksicht auf die geringe musculäre Ausstattung der
vorderen Thoraxwand wohl nur um die hinter und neben der
Wirbelsäule liegenden Muskelschichten handeln, die sich sammt
den zwischenliegenden Fettschichten in grösserer oder gerin¬
gerer Ausdehnung und Mächtigkeit von der Wirbelsäule late-
ralwärts erstrecken. Bei sehr schlechtem Ernährungszustände
o
ist das mediane Schattenband am schmälsten und dann auch
oft nicht parallelrandig, sondern sanduhrförmig, wobei die
schmälste Stelle ungefähr auf den fünften Brustwirbelkörper
fällt. Sie wird wahrscheinlich durch Schattenaussparung in
Folge der hier auseinander tretenden Hauptbronchen und viel¬
leicht auch durch die hier geringe Breite des Brustbeines an
der Verbindungsstelle des Manubrium mit dem Corpus sterni
hervorgebracht. An diesen Schattenstreif sind seitlich die
’) Bergmann. Naturfoi Seherversammlung in München. 1899.
-’) Die zugehörige Fig. 3 ist eine vom Schirmbilde gemachte Pause.
Nr. 10
WIEN Eli KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
227
Schatten der Schlüsselbeine und vorderen Rippenantheile an- ,
gesetzt.
Bei anteroposteriorem Strahlengange, also Röhre vor der
Brust, Schirm am Rücken, erhalten wir ein im Wesentlichen
ähnliches Bild. Nur der mittlere dunkelste Schattenstreif zeigt
sich noch schärfer begrenzt, was dafür spricht, dass er durch
die jetzt knapp hinter dem Schirm liegenden Körper und
Bogen der Wirbelsäule bedingt ist. Ausser der respiratorischen
Bewegung des Zwerchfelles, der Rippen und den Pulsationen
der linken Herzcontour sind in beiden sagittalen Durchleuch¬
tungsrichtungen keinerlei anderweitige, besonders keine Be¬
wegungserscheinungen an dem medianen, die Aorta enthalten¬
den Schattenstreif zu sehen.
Hier muss ich bemerken, dass viele von den bisher bespro¬
chenen und fast alle noch zu besprechenden’Details nur bei Gebrauch
einer Bleiblende gut erkennbar sind. Dieselbe wird noch viel zu wenig
in Verwendung gezogen und sie sei daher nachdrücklichst empfohlen.
Die Bleiblende ist in ihrer einfachsten Form eine 2—4 mm dicke Blei-
platte von beliebiger runder oder vierseitiger Form von 25 cm Seite,
Retro- Herz Retro- Wirbel-
sternalraum cardialraum säule
Fig. 5.
Normaler Thorax, frontaler Strahlengang von rechts nach links.
Schirmpause.
respective Durchmesser, versehen mit einem kreisrunden Ausschnitt
in der Mitte, dessen Durchmesser 3— 5 cm beträgt und am besten re-
o-ulirbar ist. Wird er zwischen Röhre und durchleuchteten Körper
gehalten, so engt er zunächst das sichtbare Fluorescenzfeld ein.
Dieses erscheint dunkler, die Contraste aber und damit die Schärfe
des Bildes- nehmen erheblich zu. Bei ihrem Gebrauche hat man den.
selben Eindruck, wie beim Gebrauch der Blende am Mikroskop, nach
deren Muster sie am besten zu construiren ist. Ihre Wirkung beruht
offenbar auch auf ähnlichen Vorgängen. Bekanntlich wird jeder von
Röntgen-Strahlen getroffene Körper zum Ausgangspunkte neuer,
sich nach allen Richtungen des «Raumes fortpflanzender gleicher
Strahlen.
Es ist daher begreiflich, dass solche im umgebenden Raume
und im durchleuchteten Körper entstehende und aus allen erdenk¬
lichen Richtungen auf den Schirm fallenden Strahlen das Schatten¬
bild unscharf und verschwommen (in Zerstreuungskreisen) zeichnen.
Dasselbe wird nur dann scharf, wenn alle Strahlen aus einem punkt¬
förmigen Focus hervorgehen (Schlagschatten). Indem nun die Blende
einerseits die aus dem umgebenden Raum kommenden diffusen
Strahlen auffängt (Fig. 4, a ), andererseits nicht gestattet, dass andere,
als die gerade zu untersuchenden Partien des Körpers von focalen
Strahlen getroffen (Fig. 4, b ) und so zu weiteren Quellen von
Röntge n’schen Strahlen gemacht werden, lässt sie zwar weniger
Strahlen zum Schirm gelangen (das Bild wird dunkler), dieser Rest
(Fig. 4, d ) kommt aber nur aus dem Focus der Röhre (das Bild wird
schärfer).
Röntgenogramme des Thorax von vorne und
von hinten aufgenommen enthüllen')' nicht wesentlich mehr
als die röntgenoskopische Untersuchung mit Bleiblende.
Nur der mediane dichteste Schattenstreif löst sich auch bei
minder gelungenen Bildern in rechteckige, aufeinander ge-
thürmte Felder, die einzelnen Wirbel auf, und lässt bei guten
Aufuahmsbedingungen weitere Details der Wirbel erkennen.
Er beweist so seine vermuthete Abstammung. Im Uebrigen ist
hier wie überall in der internen Medicin die Röntgenographie
von secundärer ^ Bedeutung gegenüber der Röntgenoskopie.
Das Ergebniss der beiden sagittalen Durchstrahlungen
(von vorne nach hinten und umgekehrt) ist abo, dass kein
Fig. 6.
Sagittal medianer Gefriersclmitt eines normalen Thorax nach Tafel I A des
»Topographisch-anatomischen Atlas« von Braune. Die Aorta ascendens
bildet die hintere Begrenzung des Retrosternalraumes, der unterste I heil
der Aorta descendens die hintere Begrenzung des Retrocardialraumes.
Theil der Brustaorta als distincter Schatten im Bilde sichtbar
wird, sondern die ganze normale Brustaorta durch den Mittel¬
schatten gedeckt ist.
Die Durchleuchtung in frontaler Richtung
kann von rechts nach links und umgekehrt vorgenommen werden.
Immer werden sich diejenigen Theile auf Schirm und Platte am
besten abbilden, die diesen am nächsten liegen. Diesem allge¬
meinen Grundsatz entsprechend, werden wir zur Durchleuchtung
der Aorta, deren aufsteigender Schenkel fast median, deren
absteigender Theil in der linken Thoraxhälfte liegt, den Strahlen¬
gang von rechts nach links dirigiren und daher den Schirm
an die linke Seite unter dem Arm anlegen, welch letzterer
dabei am zweckmässigsten gestreckt und nach oben gehoben
wird. Das so zu Stande kommende röntgenoskopische Bild ist
folgendes (Fig. 5, Schirmpause): Der Thoraxinnenraum stellt
sich als ein unregelmässiges Viereck von ungleicher Heiligkeit
•228
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1(J00.
Nr. 10
dar. In die vordere untere Ecke desselben ist das Herz ein¬
gelagert, dessen vordere Fläche nach obenhin allmälig sich
von dem im Sagittalschnitt erscheinenden Sternum abhebt und
dort mit letzterem einen hellen Raum von sphärisch dreieckiger
Form begrenzt, den Retrosternalraum, dessen hintere
obere Grenze durch einen von hinten einspringenden und sich
mit der Herzsilhouette verbindenden diffusen Schatten gebildet
wird. Die hintere Herzschattengrenze steigt nach mehr minder
scharfer Krümmung vertical vom Zwerchfell auf und begrenzt
mit dem Schatten der hinteren Thoraxwand einen zweiten,
viereckigen, nach oben unscharf contourirten, minder hellen,
den Retroca’rdialraum, dessen Helligkeit inspiratorisch
erheblich wächst. Davon und von der respiratorischen Zwerch¬
fellbewegung abgesehen sind keine Bewegungsphänomene, be¬
sonders keine Pulsationen im Bilde wahrzunehmen. Die Grösse
beider hellen Felder, des retrocardialen und des retrosternalen
Raumes, hängt vom Bau des Thorax, von seiner grösseren
oder geringeren Tiefe, vom Stande des Zwerchfelles, von par¬
tiellen Dehnungszuständen und 'Absorptionsverhältnissen der
rechtes Wirbel- TTerz und Aorta linkes
Lungenfeld säule Lungenfeld
Fig. 7.
Normaler Thorax, schräg von links hinten nach rechts vorn gerichteter
.Strahlengang, Schirmpause. Der helle Spalt zwischen Wirbelsäule einerseits
und Herz und Aorta andererseits ist zum Theil durch die in den Oeso¬
phagus eingefahrte bleischrotgefüllte Sonde eingenommenen; links vom
Herzen ein auf der Mitte des Sternum befestigter Bleistab.
Lunge und den Grössenverhältnissen des Herzens, und, wenn
alle diese in Rechnung gezogen sind, schliesslich von der Aorta
ab. Vergleichen wir das Bild mit einem anatomischen Median¬
schnitte des Thorax (Fig. 6):i), so sehen wir, dass die Basis des
lang gestreckten Dreieckes des Retrosternalraumes durch das
Sternum, der untere Schenkel durch die Auricula dextra und
weiters durch die Aorta ascendens gebildet wird, während der
obere Schenkel im Röntgenogramme von dem besprochenen
Schatten beigestellt wird, der von der Sehultermusculatur, be¬
sonders vom M. latissimus dorsi herrührt. (Man erinnere sich
daran, das bei dieser Durchleuchtung der linke Arm nach oben
und vorne gehoben ist.) Als hintere Begrenzung des retro-
cardialen Raumes ergibt sich die Wirbelsäule, der in der
ganzen liier in Betracht kommenden Ausdehnung der Ösophagus
vorgelagert ist, während die Aorta thoracica erst vom siebenten
Brustwirbelkörper an auf die Vorderseite der Wirbelsäule
tritt und so die hintere untere Begrenzung des hellen Raumes
bildet. Fig. 5 ist nach einer Sehirmpause verfertigt, da ein
Röntgenogramm nur selten gelingt und auch dann für das an¬
gewendete Reproductionsverfahren nicht contrastreich genug
ist. Aus Allem ergibt sieh für die Beurtheilung des Zustandes
3) Nach Braüne’s Topographisch-anatomischem Atlas. Tafel 1.
der Aorta, dass bei frontaler (querer) Durchstrahlung die Aorta
ascendens den unteren hinteren Schenkel und die hintere
Ecke des dreiekigen Retrosternalraumes bildet, dass der Bogen
im Scliultersclmtten, die erste Hälfte der Descendens im
Schatten der Wirbelkörper, neben denen sie liegt, gedeckt
bleibt, dass die untere Hälfte derselben aber im Verein mit
dem Oesophagus die hintere Begrenzung des retrocardialen
Raumes bildet. Sollen die Aorta ascendens und die untere
Hälfte der descendens thoracica als normal bezeichnet werden, so
müsste also das Retrosternal- und Retrocardialfeld in ganzer
Ausdehnung hell gefunden werden. Der Satz erlaubt natürlich
nicht ohne Weiteres eine Umkehrung. Dass diese Begrenzungen
nicht pulsirend wahrgenommen werden, spricht nicht etwa
gegen obige Auffassung, erklärt sich vielmehr leicht aus der
Lichtschwäche und Unschärfe der Bilder der seitlichen Durch¬
leuchtung, die sich wieder aus der Grösse des Querdurchmessers
des Thorax ergeben.
Am werthvollsten für die Beurtheilung des Zustandes der
Aorta erscheint nächst der anfangs besprochenen sagittalen die
Fig. 8.
Horizontaler Gefrierschnitt eines normalen Thorax in der Höhe des sechsten
Brustwirbels und des sternalen Endes des dritten Intercostalraumes nach
Tafel XI des »Topographisch-anatomischen Atlas« von Braune.
B = Röhre, S= Schirm. 11 S = Schräge Durchleuchtungsrichtung von links
hinten nach rechts vorn.
erste der folgenden Durchleuchtungsriclitungen. Es sind das
schief durch den Thorax gehende Projection s-
richtungen, und zwar vier:
1. Von links hinten nach rechts vorn;
2. von rechts vorn nach links hinten;
ff. von links vorn nach rechts hinten;
4. von rechts hinten nach links vorn. Die Erontalebene
des Patienten wird zur Strahlenrichtung jedes Mal in einen
Winkel von 45° gebracht. Nochmals sei hier erwähnt, dass
zum Erkennen der im Folgenden besprochenen Schirmbilder
die Bleiblende unerlässlich ist.
Wir beginnen mit der ersten schrägen Durch¬
leuchtung, dervon hinten links nach vorn rechts.
Den vor der Röhre stehenden mit der Brust uns zugekehrten
Patienten drehen wir so nach links, dass seine rechte Thoraxseite
uns zugewendet ist, während die Röhre hinter seine linke
Schulter zu stehen kommt. Bei einem bestimmten Drehungs¬
winkel, es sind meist genau 45°, sehen wir nun folgendes
Bild (Fig. 7, Schirmpause, und Fig. 11, Röntgeno¬
gramm): An Stelle zweier heller Lungenfelder sind drei
getreten, die statt, wie früher durch einen, jetzt durch
zwei verticale Schatten getlieilt werden. Der rechte zieht
parallelrandig, links schärfer linear, rechts weniger scharf be¬
grenzt in sanftem Bogen nach unten und rechts. Er ist die
Silhouette der V irbelsäule. Bei der Drehung des Körpers um
seine Achse sind die vorderen Antheile des Thorax nach links,
die hinten liegende Wirbelsäule nach rechts gewandert. Ihre
Nr. 10
229
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
nach links vorn gewendeten Wirbelkörper verleihen ihr die
schärfere linke, ihre nach rechts gewendeten Dorn- und rechten
Querfortsätze, sowie die rechtsseitige ihr an gehörige Musculatur
verursachen die unscharfe, zackige rechte Contour. Die Krüm¬
mung des Schattenbandes mit der Convexität nach rechts
rührt von der normalen Dorsalkyphose der Wirbelsäule her
und beträgt in Folge der blos 45° betragenden Drehung des
Thorax natürlich nur die Hälfte der wirklichen Dorsalkrüm¬
mung. Im zweiten Schattencomplex erkennen wir das Herz,
das fn dieser Stellung die Form eines gleichseitigen Dreieckes
angenommen hat, das nur nach links unten etwas stärker aus¬
gezogen ist, andererseits aber hier die scharfwinkelige Spitze
verloren hat und eine mehr abgerundete Ecke zeigt.
An die obere Ecke des dreieckigen Herzschattens scldiesst
sich continuirlich ein schmales aufsteigendes Schattenband, das
offenbar der Aorta ascendens und dem Arcus aortae an gehört4).
Da Röhre, Aorta ascendens und Bogen bei dieser Anordnung
in einer Ebene liegen, werden die Aorta ascendens und des-
cendens, sowie die vordere und hintere Hälfte des Bogens
aufeinander projicirt und erscheinen als Band mit freiem
oberen Ende. Dass es sich hier um die Projection der Aorta
handelt, geht aus den Eigenschaften des Schattenbandes hervor :
Ein vom Herzschatten abgehendes (1) in Halb¬
linksstellung (45° zwischen Sagittalebene und Strahlen¬
richtung) sichtbares, (2) von derWirbelsäule durch
einen hellen Streif getrenntes, (3) überall gleich
breites, (4) nach beiden Seiten, und zwar (5)
mit dem Herzen alternirend pulsirendes (6) i n-
a und c Schattenconfiguration des Aortenbogens bei schräger Durchleuchtung.
b Erklärung von a.
tensiv dunkles Schattenband, (7) dessen oberes
Ende abgerundet ist und (8) a 1 1 s e i t i g, auch nach
oben, pulsirt, (9) noch dunkler als das übrige
Band ist und (10) in der Höhe der Artic.sterno-
clavicu laris und des dritten Brust dorn es liegt',
dieses so beschaffene Schattenband dessen
Bild (11) bei Gesunden constant ist, kann nur
die Projection der Aorta ascendens und des
Bogens sein.
Gehen wir die einzelnen Punkte nochmals durch.
Ad 1. Die Betrachtung eines anatomischen Querschnittes des
Thorax in der Höhe des vierten Brustwirbelkörpers (Fig. 8) 5) zeigt in
der Medianebene den Anfangstheil der Aorta, flankirt von der Arteria
pulmonalis, die ihren höchsten Punkt erreicht hat und sich theilend
rechts und links in den Lungen verschwindet, und andererseits von
der Vena cava superior vor ihrem Eintritt in den rechten Vorhof.
Man begreift, dass die Aorta bei sagittalem Strahlengange nicht ge¬
sehen wird. Ihr Schatten fällt in den der Wirbelsäule. Drehen wir
aber den Körper so, dass die neue Strahlenrichtung mit der Sagil tal¬
ebene einen Winkel von 45° einschliesst, dann gehen die Strahlen
unter Vermeidung der Wirbelsäule blos durch das durchlässige
Lungenparenchym und treffen auf ihrem Wege (US, Fig. 8) die
Aorta, deren Schatten sie auf den Schirm werfen. Die Construction
am Bilde des Querschnittes ergibt also die gleiche \\ inkelstellung
(45°), die der Durchleuchtungsversuch erheischt.
’) v. Crieger n hat dieses Scliattenband gelegentlich seiner Untei-
suebungen über Herzmessung ebenfalls gesehen und hält es für die Aorta,
wie aus einer Bemerkung (1". Congress für internationale Medicin, pag.
302) hervorgeht.
5) Fig. 8 ist nach Tafel 11 des »Topographisch-anatomischen Atlas«
von Braune angefertigt.
Ad 2. Der mittlere helle Streif zeigt im Ganzen spindelige Ge¬
stalt. Das untere Ende ist, falls er, wie gewöhnlich bis zur Zwerch¬
fellkuppe reicht, durch letztere abgestumpft, das obere ist meist ölten
und um das obere Ende des Schattenbandes herum mit dem linken
Lungenfelde in Communication. Die Breite des spindelförmigen Feldes
schwankt nicht unerheblich mit der Tiefe des Thorax, der Haltung
der Brustwirbelsäule, respective ihrer Krümmung. Die das spindel¬
förmige Mittelfeld erhellenden Strahlen passiren auf ihrem Wege
(11 S, Fig. 8), wie ein Blick auf obigen Querschnitt lehrt, den linken
Unterlappen in seinem hinteren Antheile und die vorderen
Antheile des rechten Ober- und Mittellappens. Diese Lungentheile
müssen, wenn der Raum hell sein und das Schattenbild der Aorta
erscheinen soll, frei von erheblichen Verdichtungen sein.
Ad 3. Das Schattenband der Aorta ist normaler Weise überall
gleich breit, also parallelrandig, und steigt mit wechselnder schwacher
Krümmung und Neigung vom Herzen auf. Das gewöhnlichste Ver¬
halten scheint das zu sein, dass das Band leicht nach rechts geneiet
und leicht mit der Concavität nach rechts gekrümmt ist, wenigstens
trifft das bei solchen Personen zu, deren normales Herz und normaler
Zwerchfellstand ausser Zweifel ist. Die Breite des Schatten¬
bandes schwankt je nach Alter, Geschlecht und Körperbau zwischen
2 und 3 'l2cm bei 50 cm Röhrenschirmdistanz. Vom Parallelismus der
Ränder weicht nur das obere Ende des Schattenbandes bisweilen ab,
Fig. 10.
Schematische Darstellung der Projection der einzelnen Abschnitte der Aorta
bei verschiedener Höhenstellung der Röhre (o o' o") auf den Fluorescenz-
schirm S S' .
indem es ein wenig kolbig angeschwollen erscheint. Da der Aorten-
querschnitt auf der Bogenhöhe durch Gefässabgabe ab-, sicher nirlu
zugenommen hat, so lässt sich die Anschwellung nur daduich er¬
klären, dass ein Theil des Bogens, sei es die vordere, sei es die
hintere Hälfte, aus der präsumirten Ebene desselben etwas heraus¬
tritt und so die beiden Theile sich in der Projection nicht vollständig
decken. Fig. 9, a und b gibt das Bild und die Erklärung’. F ür die
Richtigkeit derselben spricht auch die Thatsache, dass die Grösse der
Anschwellung zu oder abnimmt, ja dass sie ganz verschwinden kann,
wenn man mit dem Patienten kleine Drehungsbewegungen um die
gewählte Halblinksstellung als Mittelstellung macht, und zwar \ei-
schwindet die Anschwellung dann, wenn man die Drehung nach
links über 45" hinaus vermehrt. Statt dessen tritt dann ein blässerei
und schmälerer Schatten auf, der vom oberen Ende des Bandes, also
vom Bogen schief nach abwärts und einwärts zur Wirbelsäule hinzieht
(Fig. 9, cf Es liegt nahe, ihn für das Anfangsstück der Aorta descendens zu
halten, diebei dieser stärkeren Drehunghinten aus der besproohenenEbene
nach rechts herausgetreten ist. Dafür spricht: 1. die Lage hinter dei
Aorta ascendens; diese ergibt sich daraus, dass der Schatten dann
erscheint, wenn man den Patienten über die Ausgangsstellung um
etwas nach links hinaus dreht; 2. die Verlaufsrichtung und der schiefe
Ansatz an den Bogen einerseits und die Wirbelsäule andererseits,
3. die Blässe des Schattens jedes Mal gegenüber dem der Aorta as¬
cendens, die grössere Entfernung vom Schirm zur Ursache hat;
4 die geringere Breite des kurzen Streifes gegenüber der übrigen
Aorta. Letztere hat nach Abgabe der Arteria anonyma und der Caro-
tiden, sowie der Arteria subclavia sinistra erheblich an Labber ver¬
loren. Dass sie weiter hinten, also dem focus dei Stiahlen naiiei
liegt und daher in der Schattenprojection mehr vergrössert wird als
280
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
Nr. 10
rechtes Lungenfeld Wirbelsäule
Herz und Aorta
linkes Lungenfeld
Fi g. 11.
Normalei 1 borax, schräg von links hinten nach rechts vorn gerichteter Strahlengang; Röntgenogramm, das wegen der respiratorischen, pulsatorischen
w‘C i'Y •• *'r^ien 1 urulie bei der beträchtlichen Expositionszeit (sechs Minuten) den Schirmpausen an Schärfe nachsteht. Der helle Spalt zwischen der
irbelsäule einerseits umQ dem Herzen und der Aorta andererseits wird zum Theil durch den Schatten der in den Oesophagus eingefixlnten Bleisonde
eingenommen. Vom Sternum nichts zu sehen (vgl. Fig. 7 und Text).
letztere, fällt offenbar bei der geringen Distanz der beiden gegenüber
der grossen Röhrenschirmdistanz nicht ins Gewicht.
Ad 4. Die Pulsation nach beiden Seiten hin ist mitunter nicht
erkennbar6), was dann meist in technischen Ursachen (Ruhe und In¬
tensität des Lichtes, welch letztere meist zu gross, nur selten zu
klein ist), seine Begründung findet und sich oft beheben lässt. Immer¬
hin bleiben eine Anzahl Fälle übrig, die die Pulsation gar nicht er¬
kennen lassen. Das ist dann natürlich kein Grund, das typisch ge¬
formte Gebilde^ nicht für die Aorta zu halten. Bei starker Obesitas
und in anderen Fällen war das Lungenfeld so wenig durch¬
sichtig, dass sich das Schattenbild der Aorta nur in ganz
undeutlichen Con touren repräsentirte. Die Pulsation des Schatten-
°) Ohne Anwendung der Bleiblende sieht man sie nie.
bandes hat den Charakter des Arterienpulses, die Diastole ist ener¬
gisch, erreicht rasch die Höhe der Welle, um dann langsamer abzu-
schwellen, das Bild lässt nicht im Entferntesten an die Cava descen-
dens denken, die ja hier ansonsten immerhin in Betracht käme. Es
ist nämlich auffallend, und ein Blick auf den anatomischen Querschnitt
(Fig. 8) wird dieses Bedenken verstärken, dass die zur Rechten der
Aorta ascendens absteigende Vena cava superior nicht ebenfalls im
Schattenbilde erscheint oder wenigstens die Klarheit und Schärfe
des Aortenschattens trübt. Eine hier in die Wagschale fallende Diffe¬
renz im Caliber der beiden oder im specifischen Gewicht des venösen
und arteriellen Blutes ist nicht vorhanden. Ich muss die Frage nach
dem Verbleib des Cavaschattens hier offen lassen. Dass der besprochene
pulsirende Schatten nicht der Vena cava, sondern der Aorta ange¬
hört, das erhellt aus dem oben erwähnten arteriellen Charakter der
Nr. 10
231
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Pulsation, sowie daraus (ad 5), dass sie alternirend mit der Herzaction
erfolgt. Synchron mit jeder sichtbaren Contraction des linken Ven¬
trikels und jedem Carotidenpulse tritt eine Diastole des Schatten¬
bandes auf und mit der Diastole der Ventrikel fällt eine Systole des
Schattens zusammen, während die Vena cava die entgegengesetzten
Phasen zeigen müsste.
Ad 6. Die Tiefe und Saturation des Schattens gleicht der bei
Aneurysmen gewöhnlichen nahezu.
Ad 7 und 8. Das obere abgerundete Ende pulsirt überall
senkrecht auf seine halbkreisförmige Peripherie.
Ad 9. Es erscheint noch dunkler als der übrige Theil des
Bandes. Das rührt wohl daher, dass man gleichsam durch das den
Bogen bildende Rohr in seiner Längsrichtung hindurchsieht, also die
Strahlen eine etwa doppelt so dicke Schichte des stark absorbiren-
den Blutes als tiefer unten durchdringen müssen (Fig.lO).Uebrigens wird
das ganze Band und vor Allem das obere Ende durchaus nicht immer
von denselben Antheilen der Aorta gebildet, es hängt vielmehr von
der Stellung der Röhre zum Patienten ab, welche Theile dasselbe
constifuiren.
Das ergibt sich aus der Erwägung der einschlägigen anatomi¬
schen Verhältnisse und aus der Betrachtung der Figur 10. Diese
zeigt die Projection der Aorta von drei Röhrenstellungen aus:
o, o' und o“. Die entsprechenden Silhouetten der Aorta, die die
Röhren auf den Schirm S S1 werfen, A a, A1 a' und A a , untei-
scheiden sich nicht durch Aussehen und Breite, sondern durch ihren
verschieden hohen Stand, projicirt auf die vordere Brustwand und ihre
verschiedene Länge, sowie dadurch, dass sie von verschiedenen An¬
theilen der Aorta herrühren. Bei mittlerer Röhrenstellung (o) bildet
der im Querschnitt gesehene Bogen (5 — 5) das obere Ende (a), die
Ascendens (1 — 3) das übrige Band (a A). Bei hoher Röhrenstellung (o') |
wird die ganze Aorta ascendens (1 — 3) zum Band (o' A‘ ) aber nur die
vordere Bogenhälfte (3—4) im Querschnitt gesehen zum oberen
Ende a‘ . Bei tiefer Stellung (o") wird das Band (a" A“) durch die
Aorta ascendens mit Ausnahme des Anfangstheiles, der im Schatten
des linken Vorhofes und der rechten Aorta pulmonalis untertaucht
und unsichtbar bleibt und durch die vordere Hälfte des Bogens ge-
bihlet (2—4), während sein oberes Ende («") von der im Querschnitt
gesehenen hinteren Bogenhälfte und dem angrenzenden Stück der
Aorta descendens (4—5) gebildet wird. In den Zwischenstellungen
treten natürlich Combinationen ein, welche zwischen den be¬
schriebenen liegen. Als Röhrenstellungen werden bei gleichbleiben¬
der Röhrenschirmdistanz von 50 cm für o die Höhe des dritten und
vierten Brustdornes, für o‘ die Höhe des Halses, für o die der letzten
Brustwirbel gewählt. Kurz wiederholt, man sieht die Aorta ascendens
in jeder Röhrenstellung, nur den Anfangstheil bei tiefer Stellung
nicht; vom Bogen die vordere Hälfte im Querschnitt bei hoher, in
Bandform bei tiefer Stellung, den ganzen im Querschnitt bei mitt¬
lerer Stellung der Röhre. Die Schattenbilder selbst erscheinen, wie
angedeutet, in allen Stellungen, abgesehen von den höheren oder
niederen Stande und geringen Längendifferenzen, ziemlich gleich
und man wird durch nichts darauf geführt, dass man nicht immer
dieselben Antheile der Aorta vor sich hat, wenn man sich nicht
theoretisch über dieses geometrische Verhalten klar geworden ist.
Ad 10. Bestimmt man mit einer geeigneten Vorrichtung die
horizontalen Projectionspunkte des oberen Endes des Schattenbandes
auf die vordere und hintere Fläche des Thorax, so ergeben sich mit
kleinen Abweichungen die Articulatio sternoclavicularis und der
dritte Brustdorn, übereinstimmend mit den diesbezüglichen Befunden
an anatomischen Gefrierdurchschnitten. Hier ist Gelegenheit, aut die
auffallende Erscheinung hinzuweisen, dass das Sternum in dieser
Stellung sowohl röntgenoskopisch als auch röntgenographisch kaum
einen Schatten wirft (vgl. Querschnitt Fig. 8, Röntgenpause Fig. 7 und
Röntgenogramm Fig. 11), Rippen und Schlüsselbeine sind deutlich sicht¬
bar; um aber auch nur eine Andeutung der Silhouette des Sternums, das
doch der Platte oder dem Fluorescenzschirm ebenso nahe liegt wie die
Rippen, zu sehen, muss man, mit den Fingern daran tastend, die Stelle im
Bilde aufsuchen, wo der Schatten erscheinen sollte. Die Ursache liegt
wohl darin, dass dieser Knochen aus einer weitmaschigen, grosse Mark¬
räume und wenig Strahlen absorbirende Knochensubstanz enthaltenden
Spongiosa und aus einer sehr dünnen Corticalis besteht. Dass das
aufsteigende Schattenband nicht etwa von dem schief gestellten und
daher im Schattenriss schmäler erscheinenden Sternum herrührt, geht
aus den fast immer sichtbaren Pulsationen des Bandes, dem (wech¬
selnden) Abstande dos oberen Endes desselben von den sternalen
Enden der Schlüsselbeine hervor und wird zum Ueberflusse durch
die Schirmpause (Fig. 7) erwiesen, vor deren Aufnahme die Mitte des
Sternums durch einen mit Heftpflaster befestigten Metallstab mar-
kirt wurde. Die Schatten der Aorta und des Metallstabes erscheinen
gesondert, dieser der Anordnung entsprechend links von jenem.
Die Technik dieser Schirmpausen wurde an anderer Stelle be¬
sprochen.7)
Ad 11. Was die Constanz des besprochenen Bildes betrifft, ver¬
weise ich auf das ad 4 Gesagte.
Interessant ist es noch, die Entwicklung dieses Bildes
durch Drehung des Thorax aus der en face- Stellung nach
links zu verfolgen, also den Uebergang von big. 1 zu big- < •
Man sieht die beiden Schatten sich isoliren, sieht, wie der der
Wirbelsäule angehörige nach rechts, der des Herzens und der
Aorta nach links ausweicht, bis der besprochene spindelförmige
helle Spalt zwischen beiden seine volle Ausdehnung erreicht;
dabei wird dem Beschauer auch die vordere und hintere
Localisation der respectiven Theile klar, indem sich die vor der
Drehungsachse liegenden Theile, Herz- und grosse Gfefässe
im gleichen Sinne, der Schatten der hinter der Drehungsachse
liegenden Wirbelsäule in dem der Drehung entgegengesetzten Sinne
bewegen.
Die Betrachtung der anatomischen Gefrierschnitte des
Thorax (Fig. 6 und 8) lehrt, dass die den spindelförmigen
hellen Raum schräg durchsetzenden Strahlen den Oesophagus in
seinem ganzen, im Thorax liegenden Verlaufe treffen müssen.
Dass trotzdem kein erkennbares Schattenbild desselben sicht¬
bar wird, erklärt sich durch die geringe Absorption von
Röntge n’schen Strahlen seitens des zu einem flachen, häu¬
tigen Bande collabirten Rohres. Bringt man dagegen eine mit
Quecksilber oder Bleischrot gefüllte Sonde in den Oesophagus
ein, so sieht man, wie Fig. 1 1 und 7 zeigen, die Silhouette der Sonde
als intensiv dunkles Band den hellen Raum schräg von oben
innen nach unten links durchziehen, derart, dass sie an der
oberen Spitze desselben der Wirbelsäule anliegt, sich ab¬
steigend allmälig von ihr entfernt und unten entweder in den
Herzschatten eintritt, oder, falls der Spaltraum, wie meist, in
Folge geringer Tiefendimension des Herzens bis zum Zwerch¬
fell0 reicht und von diesem am unteren Ende abgestumpft
wird in der linken vorderen Ecke hart am Herzen und in
grösster Entfernung von der Wirbelsäule durch das Zwerch-
feR tritt. Von da lässt sie sich in den Magen verfolgen (Fig. 11).
Es bleiben uns noch drei schräge Durchstrahlungs¬
richtungen des Thorax: 1. von vorne rechts nach hinten links,
die entgegengesetzte zur vorigen, 2. von hinten rechts nach
vorne links und 3. von vorne links nach hinten rechts.
Während aber die Untersuchungen in den bisherigen Richtun¬
gen deutliche und verwerthbare Bilder geben, die sich bei
Gesunden constant finden und durch ungünstige Verhältnisse
(bedeutenden Umfang des Thorax, starke Entwicklung des
Fettpolsters) zwar beeinflusst, aber nur sehr selten zerstört
werden, sind die Bilder in obigen Durchleuchtungsrichtungen
undeutlich, verschwommen und nur unter besonders günstigen
Umständen halbwegs verwerthbar. Ich übergehe dieselben.
Auf dieser anatomischen Basis haben sich Studien über
das röntgenologische Verhalten der kranken Aorta mit Erfolg
betreiben lassen. Zwei als Fortsetzung dieses in Kiiize er
scheinende Artikel werden die Resultate derselben o.j bezüg¬
lich des Aneurysma aortae, b) der übrigen pathologischen Zu¬
stände der Aorta behandeln.
Meinem hochverehrten Lehrer, Herrn Hofrath Noth¬
nagel, -schulde ich für Ueberlassung des klinischen und
technischen Materiales und Anregung ergebenen Dank.
7) Verfasser, Methodisches. Wiener klinische Rundschau. 1899.
Nr. 45.
232
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 10
Aus dem allgemeinen öffentlichen Krankenhause in Baden
bei Wien.
Ein Fall von angeborener stenosirender Pylorus-
hypertrophie.
Von Dr. Franz Hansy.
Vorgestellt in der Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte vom
16. Februar 1900.
Die relative Seltenheit, mit der bisher die angeborene
stenosirende Pylorushypertrophie beobachtet und besonders zum
Gegenstand einer operativen Behandlung gemacht wurde, mag
die Mittheilung nachfolgenden Falles rechtfertigen. Selbst grössere
chirurgische Lehrbücher und Sammelwerke tliun von dem
Krankheitszustande gar keine Erwähnung.
Neurath ') hat in einem Referate eine grössere Anzahl von
Fällen congenitaler stenosirender Pylorushypertrophie bei Kindern
im ersten Lebensjahre zusammengestellt. Noch seltener scheint
der Zustand bei älteren Individuen mit Sicherheit constatirt
worden zu sein (s. Neurath, 1. c.), wohl deshalb, weil die
meisten schon früher an dem schweren Leiden zu Grunde
gegangen waren.
Soweit mir die Literatur zugänglich ist, konnte ich nur
vier Fälle finden, bei welchen bisher wegen des in Rede
stehenden Leidens ein operativer Eingriff zur Ausführung ge¬
langte. Der erste Fall stammt von Meitzer (s. Neurath),
der zweite von Stern2), der dritte von Rosen heim3), der
vierte von Abel1).
In drei Fällen handelte es sich um Kinder im ersten
Lebensjahre (Stern 61/., Wochen, Abel 8 Wochen).
Rosenheim betont in dem von ihm veröffentlichten
Falle von stenosirender Pylorushypertrophie, einem sechs¬
jährigen Knaben, der durch die Gastroenterostomie geheilt
wurde, dass zur Zeit seiner Veröffentlichung kein zweiter
analoger Fall bekannt sei. — In allen vier Fällen wurde die
Gastroenterostomie gemacht, in den zwei ersten mit tödtlichem
Ausgang, in beiden letzteren mit günstigem Erfolge.
Der hier milzutheilende Fall betrifft einen elfjährigen Knaben,
welcher im October vergangenen Jahres anscheinend wegen Ver¬
dacht auf Bauchfelltuberculo.se dem Krankenhause überwiesen
wurde.
Aus der leider mangelhaften Anamnese — da Patient keinerlei
Angehörige hat — ergibt sich, dass derselbe seit jeher einen auf¬
fallend grossen Bauch gehabt und besonders in den letzteren Jahren
wiederholt an Erbrechen gelitten. Aus diesem Grunde, sowie wegen
einer überstandenen schweren Augenentzündung hat Patient auch
nie die Schule besuchen kommen. Schmerzen hatte er, ausser
soweit ihm solche direct durch den Brechact bewirkt wurden, nie.
An dem gracil gebauten, damals sehr mageren Knaben fiel
neben einer deutlichen Cyanose der Lippen eine Auftreibung
des A b d o m ens besonders auf. Dieselbe betraf den ganzen Bauch
in ziemlich gleichmässiger Weise, zeitweilig trat jedoch eine tumor¬
artige Vor Wölbung nach links und nach unten v o m
N a b e 1 besonders deutlich zu Tage.
Der übrige Befund am Abdomen war lange Zeit ein sehr
unklarer. Ascites konnte nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden.
Die Lage der Leber Hess sich nicht bestimmt nachweisen,
indem sich nur in der .Magengrube eine schmale Zone gedämpften
Schalles vorfand.
Der Knabe hatte meist guten Appetit, hie und da stellte sich
jedoch Erbrechen unverdauter Massen in grosser Menge ein. Dieses
Erbrechen trat in letzter Zeit immer häufiger auf.
') Die angeborene hypertrophische Pylorusstenose. Centralblatt für
die Grenzgebiete der Medicin und Chirurgie. 1899. Nr. 17—19.
~) Heber Pylorusstenose beim Säugling nebst Pemerkungen über deren
chirurgische Behandlung. Deutsche Medicinische Wochenschrift. 1898. Nr. 83.
j Heber stenosirende Pylorushypertrophie bei einem Kinde. Berliner
klinische Wochenschrift. 1899. Nr. 32.
9 V. A bei, Der erste Fall von erfolgreicher Gastroenterostomie
wegen angeborener stenosirender Pylorushypertrophie bei einem achtwöchent¬
lichen Säugling. Münchener Medicinische Wochenschrift. 1899. Nr. 48.
Die Thoraxorgane zeigten normales Verhalten ausser einem
massigen Hoehstand des Zwerchfelles, ebenso der Urin. Stuhl trat
nur selten ein und meist erst nach Irrigation. Niemals" Fieber.
Nach wiederholten Untersuchungen durch Aufblähen mit
Kohlensäure, Nachweis von Plätschern etc. konnte constatirt werden,
dass der grösste Theil der Auftreibung des Abdomens durch den
dilatirten Magen bewirkt war. Ein Tumor in der Pylorus-
gegend war — wohl in Folge der starken Auftreibung des Bauches
— nicht zu fühlen. Es fehlte daher über die Ursache dieser
Magendilatation jeder Anhaltspunkt.
Eine Magenspülung vor der Operation konnte leider nicht
vorgenommen werden, da sich der Patient entschieden dagegen
wehrte und zu besorgen war, dass er sich deshalb, wie schon
einmal vorher, einer weiteren Behandlung entziehe.
Da der Knabe in seinem Ernährungszustände sichtlich herab¬
kam, wurde am 5. December 1899 zur Laparotomie ge¬
schritten.
Nach Eröffnung des Abdomens durch einen vom Processus
xiphoideus bis zum Nabel reichenden Schnitt fiel vor Allem auf,
dass die Leber nicht ihre normale Lage, sondern eine Median¬
stellung inne hatte. Nach rechts reichte dieselbe bis wenig über
die rechte Mamillarlinie, während sie nach links fast die linke
Axillarlinie erreichte. Das Ligamentum Suspensorium hepatis fiel in Folge
dessen nicht wie gewöhnlich, nach rechts vom medianen Hautschnitt,
sondern nach links und musste, um die Pylorusgegend zur Ansicht
zu bringen, weit nach rechts verdrängt werden.
Nachdem dies geschehen, erwies sich nun, dass die ganze
linke Bauchseite von dem kolossal dilatirten Magen aus¬
gefüllt war. Derselbe reichte nach unten mit seiner grossen Cur-
vatur bis fast zur Symphyse, nach rechts bis über die rechte
Mamillarlinie hinaus.
Ausserdem war auch das Colon ascendens und trans-
v e r s u m stark gebläht. Es dürfte dies aber nur ein Artefact gewesen
sein, als Folge der der Operation vorausgegangenen Auftreibungs¬
versuche mit Kohlensäure vom Rectum aus.
Der Pylorus fand sich in annähernd normaler Lage, er¬
wies sich jedoch als ein walzenförmiger, quer gela¬
gerter, im U e b r i g e n ganz frei beweglicher, mit
glatter Oberfläche versehener Tumor von circa 7 cm
Länge und 2 V2 cm Dicke. Derselbe erschien zu Stande gekommen
durch gleichmässige, circulare Hypertrophie seiner Wandungen.
Da es sich also sichtlich um eine durch diese Hypertrophie
bewirkte Stenose des Pylorus als Ursache des ganzen Krankheits-
processes handelte, wurde an die Umgehung der Stenose durch
Gastroenterostomie geschritten. Dieselbe wurde mit Rück¬
sicht auf die starke Blähung des Colon hinter demselben angelegt
und zwar nach dem Vorgänge von Alex. Brenner5) nach
Durchziehung der dem Duodenum benachbarten Jleumschlinge
durch eine Lücke des Mesocolon transversum. Die Darmschlinge
wurde mittelst Murphy -Knopf an die hintere Magenwand fixirt.
Bei der Eröffnung des Magens fiel die abnorme Dicke der Muscu-
laris besonders auf, indem dieselbe fast 1 cm betrug. Die Operation
war durch die starke Blähung der Därme, sowie durch die Dicke
und Starrheit der Magenwand sehr erschwert.
Eine Besichtigung der Innenfläche der Pars pylorica, sowie
eine Sondirung der Stenose war leider nicht möglich wegen der
Schwierigkeit, die die richtige Ausführung der Operation im Ueb-
rigen bot.
Nach Vollendung der Gastroenterostomie wurde die Bauchwunde
mit Etagennähten geschlossen.
Patient erbrach die ersten Tage nach der Operation sehr
viel, so dass am vierten Tage eine Magenspülung vorgenommen
werden musste, wobei grosse Mengen dünner, gallig gefärbter Flüs¬
sigkeit entleert wurden.
Der weitere Verlauf der Wundheilung war ein sehr günstiger,
so dass Patient bereits am zwölften Tage nach der Operation das
Bett verlassen konnte.
Seither hat er nicht mehr erbrocheiWund verträgt bei stets
gutem Appetit selbst schwere Speisen sehr gut. Patient hat jetzt
spontan 1 — 2mal täglich reichliche Stuhlenlleerung. Die Cyanose
5) Centralblatt für Chirurgie. 1892, Nr. 43.
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
233
der Lippen ist geschwunden und das Körpergewicht hat seit der
Operation um mehr als 7 kg zugenommen.
Das Abdomen hat gegenwärtig bereits eine annähernd nor¬
male Configuration. Ueher der Magengegend lässt sich jedoch noch
meist Plätschern constatiren. Es bedarf jedenfalls noch längerer
Zeit, bis sich das kolossal dilatirte Organ zu seinem normalen Vo¬
lumen zurückgebildet hat.
Die seit der Operation mehrmals einige Stunden nach der
Mahlzeit ausgeführten Magenausspülungen ergaben stets nur spär¬
lichen Mageninhalt ohne Zeichen einer Stauung desselben.
Die Leberdämpfung ist jetzt wieder an normaler Stelle
und in normaler Ausdehnung nachweisbar.
Der Murphy- Knopf ist leider bis jetzt noch nicht im
Stuhle gefunden worden; ich glaube, ihn bei stossweiser Palpation
ganz gut fühlen zu können und annehmen zu müssen, dass er sich
noch in seiner ursprünglichen Lage, durch die abnorm dicke
Magenwand festgehalten, befindet. Ein an der Klinik Gussen-
bauer durch Herrn Dr. H. Salzer gütigst angefertigtes R ö n t g e n-
Bild bestätigt auch diese Annahme.
Aus der Anamnese, dem Befunde bei der Operation und
allen weiteren diagnostischen Erwägungen ergibt sich wohl
mit Sicherheit, dass es sich in diesem b alle um eine a n-
geborene Pylorushypertrophie gehandelt hat, die
in Folge relativer Stenose des Magenpförtners allmälig zu
dieser bedeutenden Dilatation des Magens geführt hat.
Ein anderes Leiden — es käme wohl nur Neoplasma
malign um oder Ulcus ventriculi in Betracht hätte wohl un¬
möglich so lange bestehen können, ohne Schmerzen und besondcis
ein Uebergreifen aut die Nachbarschaft, resp. entzündliche V ei -
wachsungen mit der Umgebung nach sich zu ziehen. Hier fand
sich eben ein vollkommen frei beweglicher, cylindrischer, durch
gleichmässige. circulare Verdickung aller Partien der Pyloius-
wandung enstandener Tumor.
In unserem Falle hat es sich gewiss auch nicht um eine
blos vorübergehende, spastische Stenose des Pylorus im Sinne
P f a n d 1 e r’s 6) gehandelt, wie er sie au den Leichen von
Kindern mit gesunden Verdauungsorganen als sogenannte
»systole Mägen« wiederholt gefunden bat. Denn es fand sich
der Pylorus bei der Betastung nicht einfach wie contrahirt,
sondern als ein förmlicher Tumor scharf abgegrenzt von dei
übrigen Magenwand. Zudem hätte eine blos spastische Contractur
des Pylorus unmöglich Jahre lang bestehen und zu einer so
enormen Dilatation und Hypertrophie des Magens führen
können. , .. ,,
Erschwert wurde weiters die Diagnose vor der Eröffnung
der Bauchhöhle hauptsächlich durch die abnorme Verlagei ung
der Leber nach links, so dass im ganzen rechten Hypochon
drium nur Darmschall zu finden war und an Situs visceium
inversus oder eine andere Abnormität gedacht wurde. Die Li-
klärung für diese auffallende Verschiebung der Leber düitte
wohl darin zu suchen sein, dass durch den schon von den
ersten Lebenstagen an abnorm dilatirten Magen der ganze
linke und untere Bauchraumausgefüllt und die Gedärme nach
rechts und oben verdrängt wurden. Die Leber fand in der
Magengrube und dem linken Hypochondrium am leichtesten
Platz, da der Magen in Folge seiner Schwere die Tendenz
hatte, nach abwärts zu sinken.
Ueber die Art der Behandlung der angeborenen
Pylorusstenose dürfte wohl, besonders bei dem heutigen Stande
der Chirurgie, kein Zweifel erhoben werden hönnen. Gewiss
wird vorerst der Versuch gemacht werden müssen, die be¬
stehenden Beschwerden durch diätetische Massnahmen, vor
Allem aber durch systematische Magenspülungen zu beseitigen
und in manchen Fällen von nur geringgradiger oder wirklich
nur spastischer Stenose von Erfolg begleitet sein. Ist dies aber
nicht der Fall, so darf nicht so lange mit dem operativen
Eingriffe gezögert werden, bis der Patient fast verhungeit und
für die Operation zu schwach ist.
Es ist übrigens sehr die Frage, ob eine Laparotomie,
selbst wenn sie mit Gastroenterostomie verbunden ist, ein gar
6) Zur Frage der sogenannten congenitalen Pylorusstenose und iluei
Behandlung. Wiener klinische Wochenschrift. 1898, pag. 102A
so unverhältnissmässig schwererer Eingriff ist als eine ganze
Serie von Magenspülungen. Wir hatten erst unlängst mehrmals
Gelegenheit, zu beobachten, wie eine wegen Carcinoma ventri¬
culi herabgekommene Frau bei jeder Magenspülung ohnmächtig
und pulslos wurde, während sie die in vorsichtiger Aethernar-
kose ausgeführte Gastroenterostomie gut und ohne Alteration
ihres Kräftezustandes überstand.
Von den verschiedenen möglichen operativen Eingriffen
wird wohl fast stets die Gastroenterostomie am Platze
sein, vor oder hinter dem Colon, mit Murphy- Knopf oder
Naht, je nach der Natur des Falles. Eine Resection des
hypertrophischen Pylorus wird als ein viel schwererer Eingriff
wolil selten gerechtfertigt sein, obwohl durch diese Operation
für die Beurtheilung der Natur des Leidens höchst werthvolle
Substrate gewonnen würden. Neben diesen beiden Operationen
treten die übrigen noch möglichen Eingriffe gewiss vollkommen
in den Hintergrund, so L o t e t a’s Divulsion und die Pyloro-
plastik nach Heineke-M i k u 1 i c z. 4 hatsächlich hat aut h
letztere Operation in dem Falle Rosenheim’s zu einem
Misserfolge geführt, so dass in einer zweiten Operation^ die
Gastroenterostomie gemacht werden musste. In unserem Falle
wäre die Pyloroplastik ganz unmöglich gewesen wegen der
ausgedehnten Hypertrophie und bedeutenden Starrheit der
Wandungen des Pylorus.
Aus der k. k. pädiatrischen Klinik des Prof. Jakubowski
in Krakau.
Zur Biologie der Malariaparasiten.
Von Dl-, Xaver Lewkowicz, Assistenten der Klinik.
(Schluss.)
Die klinischen Beobachtungen.
Ich gehe jetzt zur Schilderung der wichtigeren meiner
klinischen Fälle über, und werde sie fast durchgehends in der
Reihenfolge anführen, in welcher sie zur Beobachtung gelangt
sind. Diebeiden ersten Fälle werde ich nur der Vollständigkeit
wegen beschreiben. Der erste ist überhaupt zu verwischt, dass
man sichere Schlüsse aus ihm ziehen könnte, der zweite war
zu kurz und unmittelbar nach der Chininbehandlung, welche
immer Verwirrung im Krankheitsbilde hervorruft, beobachtet.
Auf diese Weise würde vielleicht erklärlich sein, dass die in
diesen Fällen bestimmte Entwicklungsdauer der Halbmonde
sich mit der aus folgenden Fällen ermittelten nicht deckt. .
Fall 1. J. K., 11 Jahre alt, wurde am 24. Juli 1896 in
die Klinik aufgenommen. Die Untersuchung wies Fieber¬
zustand, einen kleinen Milztumor und erdfarbenes, bleiches
Hautcolorit aus. Bei der am 30. Juli ausgeführten Blutunter¬
suchung wurden die ersten Halbmonde, einige Zeit darnach
auch die kleinen ringförmigen, amöboid beweglichen Para¬
siten der ästivo-autumnalen Fieber erwiesen. Wie sich später
zeigte, warden die Halbmonde bereits vor mir in Krakau be¬
obachtet und beschrieben worden, nämlich von P a r e n s k i und
53 1 ci 1 1 © i s ^
Es wurden anfangs Beobachtungen der Halbmonde unter
dem Mikroskope im Thermostaten bei 370° angestellt. Kege
Hoffnungen, die mit diesen Beobachtungen verbunden waren,
sind nicht in Erfüllung gegangen. Die meisten Halbmonde
unterlagen überhaupt keinen Veränderungen, oder die Ver¬
änderungen waren lauter regressiver Natur. Ich muss aber
einige Observationen anführen, die im Stande waren, mii c en
Glauben an die Sporulationsfähigkeit der Halbmonde einziitiössen.
Zweimal habe ich beobachtet, dass ein Halbmond kürzer,
dicker und zugleich doppelt contourirt wurde. Ich sah den
Vorgang als einen Process der Encystirung an, Oie der
Segmentation vorangeht, und das umsomehr, als man solche
kurze Halbmonde, oder eigentlich nierenförmige Körper auch
im kreisenden Blute antreffen kann Diese Anschauung schien
durch folgende Beobachtung eine Bekräftigung zu erfahren.
iß) Parenski und B 1 a 1 1 e i s, O pasorzycie zimnicy. Frzegl.
lekarbki. 1892, Nr. 10—20.
234
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 10
Zwei in einem Gesichtsfelde befindliche nierenförmige
Körper haben im Laufe von 1 '/2 Tagen kugelige Form an¬
genommen. Das anfangs lebhaft schwärmende Melanin ballte
sich in ihnen in einen centralen Klumpen zusammen, um
welchen sich mehrere den Sporen entsprechende Abschnitte
zeichneten. Der ganze Process schien den Vorgängen bei der
Segmentation der Tertiana- und Quartanaparasiten ganz ähnlich
zu verlaufen. Ich konnte nicht umhin, hier Segmentation an¬
zunehmen. zumal ich in dem frisch untersuchten Milzblute aus
demselben Falle zwei Körper ausfindig machen konnte, die
den Sporulationskörpern der Tertiana- und Quartanaparasiten
anscheinend ganz ähnlich waren, aber durch ihre Grösse und
durch die grosse Zahl der muthmasslichen Sporen auffielen.
Da ich aber in dem gleichzeitig entnommenen und gefärbten
Blute keine entsprechenden Körper vorfand, da ich später (von
den ersten Monaten 1898 angefangen) mit der Romanowsky-
schen Methode keine Theilungsvorgänge der Kerne in den
Halbmonden erweisen konnte, so wurde ich gegen meine
früheren Resultate misstrauisch und muss zugeben, dass es
sich vielleicht doch um etwas Anderes, z. B. von ihrem Kerne
abgelöste Theile der eosinophilen Körperchen, die Melanin¬
körner aufgenommen haben, handeln konnte.
Die Betrachtung der Fiebercurve (siehe Tafel Nr. I)
lässt den Verlauf der Krankheit in Fieber- und fieberlose
Perioden eintheilen. Je eine Fieberperiode mit der nächst¬
folgenden apyretischen würde, wenn wir den Anfang der
Perioden am 7. August, 22. August und* 6. September an
nehmen, 15 Tage betragen. Wenn wir nur die Möglichkeit
der langintervallären Entwicklung der Halbmonde annehmen,
so drängt sich uns unwillkürlich der Vergleich mit dem Fieber¬
verlaufe bei Quartana duplex auf. Die Anfälle in den genannten
ersten Tagen der Fieberperioden müssten dann durch eine
Generation der Parasiten, die der folgenden durch mehrere
Generationen, welche in 24stündigen Intervallen nacheinander
zur Segmentation gelangen und zu ihrer Entwicklung 15 Tage
bedürfen, hervorgerufen werden.
Der folgende Fall war geeignet, mich in dieser An¬
schauung zu bekräftigen.
Fall 2. L. M., 11 Jahre alt, aufgenommen am 5. No¬
vember 1890.
Der Anamnese nach litt er bereits vor drei Wochen an
Fieberanfällen, nahm durch drei Tage Chinin ein, worauf das
Fieber für einige Tage beseitigt wurde, am 31. October,
2. und 4. November aber (also in Tertianaabständen) wiederum
zu Anfällen anstieg. Der weitere Verlauf des Fiebers ist in
der Tafel Nr. II notirt.
Die obere Linie gibt in den Tafeln den Fieberverlauf
an. Die Kreuzchen an ihr bedeuten Schüttelfrost. Die Tafeln
enthalten noch die Zusammenstellung der Blutuntersuchungen,
welche in der Regel zweimal täglich wiederholt wurden. Die
durch eine Linie verbundenen Kreischen beziehen sich auf
die Zahl der jungen Parasiten (»die Ringelchen«). Es wurde
jedes Mal ihre Zahl in 50 Gesichtsfeldern (1 Gesichtsfeld =
200 rothe Blutkörperchen) notirt. Die Kreuzchen bedeuten die
Zahl der Halbmonde (Zahl in 500 Gesichtsfeldern). Die
schattirte Partie bedeutet die Zahl der Halbmonde, die im
frischen Blutpräparate bei Zimmertemperatur zu sphärischen
oder geisseltragenden Körpern geworden sind. Alles nach den
seitwärts in den Tafeln angebrachten Scalen.
Wenn man die durch die Anamnese sichergestellten
Anfälle, dazu noch den Anfall vom 6. November einerseits,
andererseits die Anfälle vom 15., 17., 19. und 21. November
in Betracht zieht, so muss man auch hier einen lötägigen
Fieberintervall annehmen und an ebenso lang dauernde Ent¬
wicklung der Parasiten denken.
Mit dem Anfalle erscheinen die jungen Parasiten im
peripheren Blute und sind noch am Vormittag des nächst¬
folgenden Tages zahlreich vorhanden, enthalten auch damals
meistens schon Melaninkörnchen. Nach einigen Tagen er¬
scheinen die Halbmonde, um wiederum etwa drei Tage vor
dem entsprechenden nächstfolgenden Anfall aus dem peripheren
Blute zu verschwinden.
Die Zahl der nach der Chinindarreichung erschienenen
Halbmonde war geringer als ihre Zahl vor der Fieberperiode.
Das, dass sie überhaupt nach der Chinindarreichung aus dem
Blute nicht verschwinden, kann nicht als Beweis ihrer
Resistenz gegen das Chinin angebracht werden. Ihre Ent¬
wicklung war ja schon mit dem Momente des Erscheinens
der jungen Parasiten während der Anfälle angebahnt, das
Chinin konnte nicht das Aussehen der fast fertigen Halbmonde
aus den inneren Organen verhindern, vielleicht auch nicht
einmal gänzlich ihre Entwicklung auf halten, so wie das
Chinin z. B. auch die Theilung des Kernes bei den erwach¬
senen Tertiana- und Quartanaparasiten nicht aufzuhalten ver¬
mag. Die Halbmonde werden aber doch in ihrer Lebens¬
fähigkeit beeinträchtigt, denn die neue Reihe der Anfälle
erschien nicht. Es wurde nur ein Anfall beobachtet, aber ohne
Erscheinen der jungen Generation im Blute, also gewiss nur
als Ausdruck des Zerfalles eines Theiles der steril gewordenen
Halbmonde.
Fall 3., W. G., 8 Jahre alt, aufgenommen am 29. No¬
vember 1896.
Die zwei ersten Fieberperioden, welche am 4. December
und am 26. December beginnen, sind von einander durch
einen 22tägigen Intervall geschieden. Dieselbe Zeitdauer
würden auch die Parasiten zu ihrer Entwicklung benöthigen,
man müsste folglich das Fieber als eine Vigesimotertiana
bezeichnen.
In der ersten Fieberperiode (4. bis 10. December) hat
das Fieber quotidianen Charakter. Nichtsdestoweniger hat die
Curve der Zahl der jungen Parasiten, die im Blute gefunden
wurden, eine ausgeprägte tertiane Zeichnung. Es kommt das
in der zweiten Fieberperiode zum Ausdrucke (26. December
1896 bis 1. Januar 1897). Hier hat das Fieber den Cha¬
rakter einer Tertiana maligna, wie sie von Marchiafava
und Bignami beschrieben wurde. Wir sehen fast continuir-
liches Fieber mit kurzen, in tertianen Abständen angebrachten
Intermissionen.
Charakteristisch und für unsere Betrachtungen sehr
wichtig ist die Wirkling des am 28. und 29. December dar¬
gereichten Chinins.
Tabelle I. Fiebercurve.
Nr. 10
WIEN KR KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
235
Die Darreichung geschah deswegen, da ich am 27. De¬
cember das Erscheinen eines halberwachsenen »grossen« Ter-
tianaparasiten constatirt habe. Ich sah damals den Vorfall als
Ausdruck einer Mischinfection an. Die Meinung, dass die Halb-
Tabelle H.
Obere Linie = Fiebercurve. X = Schüttelfrost. O = Zahl der jungen
Parasiten (»Ringelchen«), -j- = Zahl der Halbmonde.
n = Zahl der zu sphärischen Körpern gewordenen Halbmonde.
-r
monde bei ihrer Segmentation einem lertianaparasiten Leben ge¬
ben könnten, lag mir gänzlich fern (siehe unten). In der Furcht,
dass die Tertianaparasiten durch ihre rasche Vermehrung die
Halbmonde, die ich für Vigesimo-Jertianaparasiten beti achtete,
nicht überwucherten, gab ich Chinin in einer kleinen Gabe,
um die Halbmonde womöglich nicht stärker anzugi eiten, det
weiteren Entwicklung aber der durch Chinin leicht angreif¬
baren Tertianaparasiten vorzubeugen.
Nach der Darreichung des Chinins fällt die Zahl der jungen
Parasiten schnell zum Nullpunkte, aber das Fieber daueit
fort und zeigt tertianen Typus. Auch jetzt, wo ich die Giünde,
die gegen die Sporulationsfähigkeit der Halbmonde sprechen,
gut kenne, muss ich behaupten, dass dieses Fieber durch die
Annahme einer kurzintervallären Entwicklung der jungen
Parasiten nicht erklärt werden kann. Das lieber musste viel¬
mehr von der Sporulation der Halbmonde abhängen, welche
während der ersten Fieberperiode als junge Parasiten im
peripheren Blute erscheinen, daselbst dann als erwachsene
Parasiten, Halbmonde, in der fieberfreien Zeit am zahlreichsten
zu finden waren und welche das Chinin wahrscheinlich wählend
der Kerntheilung getroffen hat. Das Chinin hat auf den Ver¬
lauf der Kerntheilung, wie wir das auch bei den gewöhnlichen
Tertiana- und Quartanaparasiten sehen, scheinbar keinen Ein¬
fluss. Der erwartete Anfall kommt zu Stande (bei Quaitana
etwas verspätet), die neugebildeten Parasiten sind abei lebens¬
unfähig und befallen neue Blutkörperchen gar nicht. So sehen
wir auch hier, dass die Anfälle zur rechten Zeit erschienen,
aber fast ganz steril waren.
Die obige Deutung scheint nur die einzig annehmbare
zu sein. Sie gab aber zu einem Irrthume Veranlassung, denn
damals, wo ich die Sporulationsfähigkeit der Halbmonde einei-
seits, die Unveränderlichkeit der Parasitenarten andereiseits
über alle Zweifel erhaben glaubte, liess ich mich verleiten, in
meiner vorläufigen Mittheilung die Existenz des laiasiten dei
Tertiana maligna zu negiren.
Auf den Fieberverlauf haben unsere Chiningaben erst
in der folgenden Fieberperiode ihren Einfluss ausgeübt. Die
Periode sollte am 17. Januar beginnen. Wir haben hier abei
nur einen subfebrilen Zustand und sehen im Blute nur späi-
liche junge Parasiten erscheinen. Am folgenden Jage ist dei
Zustand fieberlos, die Parasiten noch spärlicher, und da die
Tage 19. und 20. Januar 1897 der Darreichung des Chinins
entsprechen, so muss man sagen, Chinin übe auf die eben
geborenen, und ganz jungen, eben an die Blutköi peichen an¬
gehefteten Parasiten den grössten Einfluss aus. Zum Uebei-
o-ewicht gelangen die nächstfolgenden Generationen (21. Januar
bis 28. Januar), die dann auch zu einer mächtigen Production
der Halbmonde führen. Vom 8. Februar erscheint wiedeium
Tabelle HI. Signatur wie Tabelle H.
236
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 10
hohes Fieber. Da aber auch vor der Chinindarreichung kein
entsprechendes Erscheinen der jungen Parasiten constatirt
wurde, und da später ganz ausgeprägte Symptome von Lungen¬
entzündung im rechten, unteren Lungenlappen auftraten, so
war das Fieber vom Anfang an wahrscheinlich nicht mala¬
rischer Natur. Nichtsdestoweniger sah ich mich gezwungen
es mit Chininbehandlung zu bekämpfen, und so die weitere
Beobachtung des Falles abzubrechen.
Fall 4. Am 27. Januar 1897 wurde 1 cm3 Blut aus
vorigem Falle intravenös einem zweijährigen Kinde, das mit
der Diagnose des Idiotismus und eines Milztumors in die
Klinik aufgenommen wurde, injicirt: Das injicirte Blut enthält
fast nur junge Parasiten und eine geringe Anzahl Halbmonde.
Man konnte hoffen, dass sich das Bild einer reinen Vigesimo-
tertiana ausbilden wird. Die Sporulation würde dann am
18. Februar und 12. März (22 und 44 Tage nach der In¬
fection) stattfinden.
Der Temperaturverlauf war folgender (ich notire nur
die Fieberbewegungen über 37’0°):
17. Februar 376°.
18. Februar 38'3°.
19. Februar 38-2°.
20. Februar 38'5°.
24. Februar 37 7°.
11. März 37'4°.
Sonst bis 17. März, wo das Kind nach Hause genommen
wurde, war der Zustand fieberlos. In der Zeit, auf welche also die
eine Sporulation fallen sollte, sehen wir leichtes intermittirendes
Fieber mit angedeutetem tertianem Typus. Es muss dies als
Zeichen angesehen werden, dass die Halbmonde theilweise in
maligne Tertianaparasiten übergegangen sind, aber die Ent¬
wicklung der letzteren Infection durch die Kräfte des inficirten
Organismus schnell überwunden wurde. Die Temperatur¬
steigerung 37‘7° am 24. Februar könnte vielleicht den injicirten
Halbmonden entsprechen. Um die Zeit der zweiten Sporula¬
tion finden wir nur am 11. März eine Temperatursteigerung
bis 37‘4°. Auch die Entwicklung der Halbmonde stiess also
auf Hindernisse. Die kann nur dadurch erklärt werden, dass
der Organismus gegen die Infection bereits resistent war.
Diese Resistenz war gewiss durch Ueberstehen einer früheren
Malariainfection entstanden, wie dies die Anwesenheit eines
Milztumors bezeugte.
Durch die ganze Zeit waren keine Parasiten constatirt
worden. Gewiss nur deshalb, weil ihre Zahl zu gering war,
um sie im peripheren Blute erscheinen zu lassen.
Fall 5. M. K., 8 Jahre alt, in die Klinik aufgenommen
am 18. October 1897.
Am 18., 19. und 20. October sind Fieberanfälle con¬
statirt worden, im Blute waren grosse Tertianaparasiten vor¬
handen, es handelte sich also um Tertiana benigna duplex.
Es wurden Chinopyrininjectionen angewandt, wobei am
21. October 0‘45, am 23. und 25. October jedes Mal Vor¬
mittags je 0'60 Chininum hydrochloricum mit entsprechender
Antipyrindose in Anwendung gelangte. Man constatirte darnach
nur am 21. October eine unbedeutende Temperatursteigerung,
sonst aber war der Zustand afebril. Die Blutuntersuchung war
vom 23. October an negativ.
Zwischen 25. October und 2. November unregelmässiges,
leichtes Fieber, Blutuntersuchung negativ, Tonsillen geschwollen,
geröthet, Schluckbeschwerden. Das Fieber lässt nach ohne
Chininbehandlung und die Kranke wird am 28. November als
geheilt entlassen.
Sie kehrt am 5. December zurück und gibt an, dass sie
wieder einen Fieberanfall, nämlich am 3. December, bekommen
hat. Der weitere Krankheitsverlauf ist aus der Tafel er¬
sichtlich (Fig. IV).
Die Anfälle vom 3. und 5. December und die vom
25. und 27. December stehen in einem Abstande von 22 Tagen
von einander. Wir haben also eine Vigesimotertiana duplex.
Die nächstfolgenden Anfälle sollten auf IG. und 18. Januar 1898
fallen. Sie sind auch vorhanden, aber wenig ausgebildet, zum
Beweise, dass die Infection nachlässt. Im Blute werden Körper
der Halbmondreihe und kleine, ringförmige Parasiten gefunden.
Grosse Tertianaparasiten sind nicht zu entdecken. Die Blut¬
untersuchung weist nach, dass ausser den zwei zahlreichsten
Generationen, die die oben erwähnten Anfälle hervorgerufen
hatten, noch andere, weniger zahlreiche, in tertianen Abständen
sporulirende vorhanden waren.
Nach den Anfällen vom 25. und 27. December wird
die Zahl der Parasiten allmälig immer kleiner, die Anfälle
weniger ausgebildet, indem die zwei stärksten Generationen
den anderen gleich werden.
Es muss dies Alles als Ausdruck einer Neigung zur
Selbstheilung angesehen werden. Gleichzeitig wird eine mächtige
Vermehrung der Zahl der eosinophilen Blutkörperchen notirt,
die gewiss in der Ausbildung der zur Selbstheilung eventuell
führenden Resistenz des Organismus gegen die Infection eine
wichtige Rolle spielen.
War die während des zweiten Aufenthaltes in der Klinik
festgestellte Infection mit den Parasiten des ästivoautumnalen
Fiebers von der während des ersten Aufenthaltes constatirten
benignen Tertianainfection unabhängig? Verlegt man die Zeit
der zwei stärksten Anfälle vom 3. und 5. December um
22 Tage und wiederum um 22 Tage nach rückwärts, so er-
Tabelle IV. Signatur wie Tabelle ü.
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
237
hält man die Daten 20. und 22. October, und es ist auffallend,
dass die erste Chinopyrininjection gerade zwischen diese Daten
fällt. Will man sich nicht begnügen, dies durch einen blossen
Zufall zu erklären, so muss man annehmen, dass die erste
Chinopyrininjection (21. October) einen Theil der benignen
Tertianaparasiten, die am 20. October geboren waren, auf den
Weg der 22tägigen Entwicklung geleitet hat. Ein anderer
Thed ging steril zu Grunde, vielleicht zu den unregelmässigen
Fieberbewegungen zwischen 25. November und 2. November
beitragend.
Der Rest führte seine Tertianaentwicklung weiter und
gelangte am 22. October zur Sporulation, denn nur dadurch
wird es begreiflich, dass die zweite Chinopyrininjection die
zweite Generation der Parasiten der Vigesimotertiana ab-
zweigen konnte. Indem die dritte Injection auf die Zeit der
Sporulation der noch vorhandenen Generation der Tertiana¬
parasiten fällt, macht sie ihrer weiteren Entwicklung ein Ende,
wie es die erste Injection der anderen Generation dieser Para¬
siten schon am 21. October gethan hat.
Nach der Sporulation der Halbmonde wird aber wiederum
ein Theil der Parasiten zu Tertianaparasiten, nämlich zu den
Parasiten der Tertiana maligna. Es muss überhaupt angenommen
werden, dass die Vigesimotertiana-Entwicklung der Parasiten
sich mit der Entwicklung nach Art der Parasiten der Tertiana
maligna fast immer combinirt. Das klinische Bild hängt nur
vom Uebergewicht ab, welches die eine über die andere er¬
langt. In unserem Falle war der inficirte Organismus genug
widerstandsfähig und erlaubte die stärkere Entwicklung der
malignen Tertianaparasiten nicht. Es konnte sich nur das Bild
der Vigesimotertiana ausbilden, aber auch dieses Fieber ging
später der spontanen Heilung entgegen. Dass aber dieselben
Parasiten im nicht immunisirten Organismus das typische Bild
einer Tertiana maligna erzeugen können, lehrt uns der fol¬
gende Fall.
Fall 6. Am 27. December 1897 wurde lern3 des dem
vorigen Falle entnommenen Blutes einem fünfjährigen, an Hydro¬
cephalus chronicus leidenden Kinde intravenös injicirt. Wie die
beigegebene Tabelle (Fig. V) lehrt (Temperatur wurde hier in
recto gemessen), entwickelt sich darnach vom 2. Januar 1898
an das typische Bild einer Tertiana maligna, Die Zahl der Para¬
siten wird schnell enorm, so dass man energisch mit der Eu-
chininbehandlung einschreiten musste. Halbmonde wurden
während des ganzen Verlaufes der Infection nicht gesehen.
Auf einen Umstand wollte ich besonderes Gewicht legen.
Nach der Einleitung der Euchininbehandlung fällt mit dem
Verschwinden der jungen Parasiten im peripheren Blute auch
die Temperatur zur Norm. Also ganz anders, wie in dem oben
beschriebenen Falle 3. Es kann dies als Beweis bezeichnet
werden, dass dort das Fieber von der langintervallären Ent¬
wicklung der Halbmonde, hier von der kurzintervallären der
malignen Tertianaparasiten abhängig war.
Die Betrachtung unseres Falles 5 musste den Verdacht
erwecken, dass man durch Chinindarreichung willkürlich die
benigne Tertiana in langintervalläres Fieber überführen kann.
Ich habe auch mehrere entsprechende Versuche angestellt, kann
aber nur einen Fall anführen, wo das Resultat, aber auch hier
nicht gänzlich positiv ausgefallen ist.
Fall 7. J. D., 10 Jahre alt, aufgenommen am
22. April 1898.
Am 22. und 24. April wurden Fieberanfälle bis 40°, im
Blute die grossen Tertianaparasiten constatirt.
Am 25. April Morgens und am 30. April Morgens wurde
je 0 30 Euchinin dargereicht. Die Parasiten waren am 26. April
im peripheren Blute nicht mehr zu finden. Am 25., 26. und
27. April werden noch Temperatursteigerungen bis 38'5"
notirt, dann aber folgt fieberloser Zustand bis 9. Juni.
Am 9. Juni Fieberanfall bis 39‘2°, am 11. Juni, also im
Tertianaintervall, wiederum ein Anfall bis 38'6°, dann afebriler
Zustand, bis endlich am 3. Juli eine Temperaturerhöhung von
38'6° notirt wird. Durch die ganze Zeit werden im Blute keine
Parasiten, aber eine grosse Vermehrung der Zahl der eosino¬
philen Zellen (bis 50 auf 50 Gesichtsfelder) constatirt.
Verlegen wir die Daten der zwei Anfälle um 44 Tage
nach rückwärts, so bekommen wir die Daten von 26. April
und 28. April. Damals musste also die Abzweigung der zwei
langintervallären Generationen stattgefunden haben. Daraus
müsste man folglich annehmen, dass das Chinin die Entwick¬
lung der Tertianaparasiten auch dahin abzuändern vermag,
dass die jungen, bei den nächsten Spekulationen geborenen
Parasiten die langintervalläre Entwicklung einschlagen. Die
nächsten Anfälle waren auf den 1. Juli und 3. Juli berechnet,
es kommt aber nur der zweite (38 6°) zur Ausbildung.
Der zweitägige Abstand der ersten Anfälle lässt keine
Zweifel darüber erwachen, dass es sich hier um Malariafieber
handelte. Das Fieber war nicht von den grossen lertiana-
parasiten abhängig, welche leicht aufgefunden werden konnten;
es war also durch die ästivoautumnalen Parasiten, respective
Halbmonde hervorgerufen, die aber in zu geringer Anzahl
vorhanden waren, um im peripheren Blute zu erscheinen
(vergleiche Fall 4).
Tabelle V. Signatur wie Tabelle II.
Die Fieberbewegungen sind bei Malaria im Allgemeinen
gijj Anzeichen des Zerfalles der Malariaparasiten, und es ist
gleichgiltig, ob die Parasiten steril sind, oder der Zerfall durch
Segmentation bedingt ist. Wenn man 4 6 Stunden voi dem
erwarteten Tertianaanfall eine hinreichende Chinindose dar¬
reicht, so geht die ganze entsprechende Generation der Para¬
siten zu Grunde. Der Anfall kommt aber dennoch zui Aus
bildung. Da die jungen Parasiten an den Blutkörperchen nicht
erscheinen, so kann der Anfall dem Befallenwerden der Blut¬
körperchen durch die Parasiten nicht zugesprochen werden,
und muss nur dem Zerfalle der alten Parasiten seinen Ui
sprung verdanken. Mit dem Zerfalle der Parasiten wird näm¬
lich wahrscheinlich eine pyrogenetische Substanz frei, die zum
Anfalle führt. Die Anwesenheit des Chinins im Blute kann
dem Anfalle nicht Vorbeugen, die Wirkung des Chinins als
Antipyreticum kann also gänzlich vernachlässigt werden.
Lässt man bei einer Tertiana benigna simplex den
Kranken eine Chiningabe in dem fieberfreien Tage, etwa
24 Stunden nach dem letzten Anfalle, einnehmen, so erscheint
der nächste Anfall nicht, aber auch an dem Tage der Dar¬
reichung des Chinins erscheint kein Fieber, obwohl die grösste
Zahl der Parasiten innerhalb weniger Stunden aus dem peri¬
pheren Blute verschwindet. Dieses Verschwinden kann also
nicht als Zeichen des Zerfalles der Parasiten unter der Chinin-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 10
238
einwirkung angesehen werden, da keine entsprechende Tem¬
peraturerhöhung constatirt werden kann. Man muss vielmehr
annehmen, dass die Parasiten mit ihren Blutkörperchen nach
der Chinindarreichung in inneren Organen deponirt werden.
Wir haben schon gesehen, zu was diese Parasiten werden
können. Sie können aber auch zu einer einfachen Recidive
führen. Es unterliegt aber auch keinem Zweifel, dass eine
grosse Anzahl dieser Parasiten später, gewissermassen secundär,
doch steril zu Grunde geht und die kleinen Temperatursteige¬
rungen, die ich in manchen meiner Versuche einige Tage
nach Darreichung zweier oder dreier Chiningaben (diese
wurden immer zu unseren Zwecken in drei- und zweitägigen
Intervallen gegeben) beobachtet habe, scheinen davon abzu¬
hängen. Ich bin sehr geneigt zu glauben, dass dieses Absterben
der sterilen Parasiten sehr dazu beiträgt, die Resistenz des
Organismus gegen die Infection und selbst seine complete Im¬
munität herbeizuführen. Es folgt eine Vermehrung der Zahl
der eosinophilen Zellen, die in der Hervorbringung dieser Im¬
munität eine wichtige Rolle zu spielen scheinen.
Es ist durch diese Betrachtungen der Weg angedeutet,
auf welchem die künstliche Immunität gegen Malaria erlangt
werden kann. In unseren Versuchen stand aber die Ausbildung
einer solchen Resistenz oder Immunität der Entwicklung des
beabsichtigten, langintervallären Fiebers und der namhafteren
Vermehrung ihrer Parasiten im Wege. Damit würden manche
Misserfolge zu erklären sein. Auch die grosse Beobachtungs¬
dauer war hinderlich, da sich manche Fälle frühzeitig der Ob¬
servation entzogen. Es muss endlich auf einen Umstand hin¬
gewiesen werden. So wie wir bei unserem dritten Falle die
Geburt eines Parasiten der Tertiana benigna in Folge der
Sporulation der Halbmonde als wahrscheinlich angenommen
haben, so müssen wir auch die Möglichkeit zugeben, dass die
Tertianaparasiten durch die Chinineinwirkung in langinter-
valläre Entwicklung übergeführt, nach der nächsten Sporulation
wieder in die frühere Entwicklung überschlagen. Der folgende
Fall möge als Beispiel gelten.
Fall 8. A. H., 12 Jahre alt, aufgenommen am 8. April 1899.
An demselben Tage fängt der Anfall an (37 6°) und dauert
über die Nacht bis zum nächsten Vormittag (40'60). Im Blute
sind grosse Tertianaparasiten in grosser Zahl gefunden worden.
Am 10. April wird Morgens 0‘60 Euchinin gegeben, von
weiterer Behandlung aber Abstand genommen, da bereits in
derselben Zeit in dem Blute keine Parasiten mehr ausfindig
gemacht werden konnten. Es folgt ein afebriler Zustand bis
30. April, wo ein Fieberanfall bis 39'0° notirt wird, es ist
dies eben 22 Tage nach dem ersten Anfalle vom 8. April.
Dann folgt wiederum fieberfreie Pause, respective kleinere sub¬
febrile Steigerungen, bis am 12. Mai 39-4° und am 14. Mai
38 2" notirt werden. Wieder einige Tage subfebrile Temperatur,
dann vom 22. Mai ab complete Apyrexie.
Nach dem Anfalle vom 30. April findet man keine Pa¬
rasiten, der Anfall war also grösstentheils steril. Die Parasiten,
welche damals geboren sind, waren grosse Tertianaparasiten,
denn diese kommen dann am 3. Mai zum Vorschein (6:500
Gesichtsfelder Ihre Anzahl ist anfänglich zu geling, um An¬
fälle hervorzurufen. Diese Zahl geht noch etwas herab : 7. Mai
2 Parasiten auf 500 Gesichtsfelder, um dann wieder am
11. Mai bis 12 auf 500 Gesichtsfelder zu steigen. Die Folge
dessen sind die Anfälle von 12. und 14. Mai. Dann steigt die
Zahl der Parasiten wiederum herunter, um am 18. und 19. Mai
den Nullpunkt zu erreichen. Es ist also Selbstheilung ein¬
getreten.
Wichtig war die Beobachtung der Zahl der eosinophilen
Zellen. Am 8. April werden 5 : 500 Gesichtsfelder, am 3. Mai
bereits 26, am 7. Mai 26, am 9. Mai 60:500 Gesichtsfelder
beobachtet. Dann bemerkt man mit dem Ueberwinden der In¬
fection das Herabfallen dieser Zahl: am 19. Mai 20, am 7. Juli
2:500 Gesichtsfelder. Der Abfall zur Norm, den die Zahl der
eosinophilen Blutkörperchen erfahren hat, muss als Zeichen
des Aufhörens der Infection und completen Heilung angesehen
werden. Da das Chinin ausser der ersten Dose nicht gegeben
wurde, handelte es sich um spontane Heilung.
Die vorhergehenden Fälle illustriren die Beziehungen,
welche wahrscheinlich unter der Tertiana benigna, maligna
und meisten Fällen der langintervallären Fieber bestehen.
Der folgende Fall berührt die entsprechende Frage in Bezug
auf Quartana.
Fall 9. F. N., aufgenommen am 19. December 1898.
Es handelte sich um Quartana triplex. Die tagtäglichen
Anfälle gelangen hier Nachts zur Ausbildung; im Blute waren
nur Quartenaparasiten zu finden (Fig. VI). Am 25. December,
Abends, 30. December Früh und 3. Januar 1899 früh Morgens gibt
man je eine Gabe salzsauren Chinins a 0'75. Man beobachtet
darnach eine Verspätung der Anfälle und ihre Verschmelzung
untereinander, darnach aber afebrilen Zustand. Die Zahl der
Parasiten, wie überhaupt nach Chininbehandlung bei Quar¬
tana, verminderte sich rasch, sie verschwanden aber gänzlich
erst nach fünf Tagen nach der ersten Chiningabe. Am
10. Januar wird aber wiederum ein melanischer Leukocyt,
am 12. Januar ein ein Drittel des Blutkörperchens ausfüllender
Quartanaparasit gesehen. Zwischen 9. und 13. Januar wird
eine Angina diphtheritica (virulente Löffler’sche Bacillen er¬
wiesen) constatirt und mit Serum behandelt. Den Fieberanfall
vom 14. Januar (40'0°) muss man aber wahrscheinlich schon
als von Malaria abhängig betrachten. Er fällt 22 Tage nach
dem 23. December. Man könnte also auch hier behaupten,
dass die jungen Quartanaparasiten vom 23. December Abends
und 24. Morgens durch die erste Chiningabe in Vigesimo-
tertianaparasiten übergeführt worden sind und am 14. Januar
Abends und am folgenden Tage zum Zerfalle, respective zur
Sporulation gelaugt sind. Der Anfall vom 14. Januar war
hauptsächlich vom Zerfall abhängig; am 15. Januar wurden
aber gewiss junge Parasiten, und zwar grosse Tertianapara¬
siten, geboren, denn wir finden die halberwachsenen am
16. Januar ziemlich reichlich im Blute. Sie vermehren sich
daun schnell und geben den Tertianaanfällen am 17. und
19. Januar Veranlassung. Da der letzte Anfall bis 40'5°
reichte, musste zum Chinin gegriffen werden. Die Tertiana¬
parasiten verschwinden dann aus dem peripheren Blute.
Gleichzeitig werden Quartanaparasiten, aber in sehr spärlicher
Zahl, constatirt.
Der Fall ist jedenfalls geeignet, den Gedanken zu er¬
wecken, dass auch Quartana in langintervalläres Fieber über¬
geführt werden und dieser Uebertritt jenen ins gewöhnliche
Tertiana anbahnen kann. Ich muss noch einen Grund an¬
führen, der diesen Schluss bekräftigt. Bei meinen Anemnesen-
entnahmen habe ich besonders in den Fällen von Quartana,
wo das Fieber schon einige Monate dauerte, mehrmals die
Angabe erhalten, dass das Fieber wiederholt nach der
Chininbehandlung den Typus geändert habe, von der aus¬
geprägten Tertiana zur Quartana wurde und umgekehrt.
Fall 10. Eines Falles muss ich noch gedenken, der aus
meinen frühesten Beobachtungen herrührt (Jahr 1896), wo
auch die Observation nur vier Tage gedauert hat, so dass von
einer Bestimmung der Entwicklungsdauer der Parasiten keine
Rede sein konnte. Das klinische Bild entsprach vollkommen
dem Bilde eines schweren malignen Malariafiebers. Das Blut
war durch »ästivo-autumnale« Parasiten förmlich überfüllt, so
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
239
dass man in jedem Gesichtsfelde bis zehn junge Parasiten
auffinden konnte. Ausser diesen fand man reichlich (nach
meinen späteren Färbungen nach Romanowsky im Jahre
1898) auch ältere und erwachsene Parasiten mit centralem
Melaninklümpchen. Endlich wurden zahlreiche Halbmonde,
sowie ihre Abarten, die cigarren- und wetzsteinförmigen Körper,
beobachtet.
Die Parasiten schienen von den Parasiten der Tertiana
maligna und Vigesimotertiana durch folgende Merkmale ab¬
zustechen: Das Pigment war in den älteren Parasiten, auch
in den Halbmonden, in gröberen Körnern zusammengeballt,
war auch viel schwärzer. In den erwachsenen und zur Seg¬
mentation gelangten Parasiten wurde die oben beschriebene
Vaeuole wenigstens in der Hälfte der Fälle angetroffen. Es
fanden sich die spindelförmigen und wetzsteinförmigen Körper
verhältnissmässig zu den Halbmonden zahlreicher vor, als in
meinen anderen Fällen. Das Pigment war in ihnen häufig
über den ganzen Parasitenkörper unregelmässig zerstreut.
Zweimal sah ich solche Körper ihre lange Achse verkürzen
und verlängern. Einmal sah ich in einem wetzsteinförmigen
Körper das grobe, durch den ganzen Parasitenleib zerstreute
Pigment sehr lebhaft beweglich. Seine Gruppirung änderte
sich so rasch, dass ich mich sehr beeilen musste, die Ver¬
änderungen, die jede zwei bis drei Minuten sehr evident
waren, skizziren zu können.
Diese Lebhaftigkeit der Bewegungen schien mir von
einer kurzen Entwicklungsdauer der Halbmonde zu sprechen.
Der Fall von Rene ki. Rencki17) hat mit mir
meinen ersten Fall beobachtet, später aber selbstständige Be¬
obachtungen in der Klinik der inneren Krankheiten in Krakau
angestellt.
Ein löjähriger Knabe wurde in der Klinik vom 8. De¬
cember 1896 bis 24. Januar 1897 in Observation gehalten.
Im Blute wurden die kleinen Parasiten und Halbmonde con-
statirt. Ausser den fast quotidianen Temperatursteigerungen
bis 38'0° — 40'0° traten stärkere Anfälle (bis 40'4 — 40-8°), die
mit Erbrechen und dem Erscheinen eines Urticariaausschlages
verbunden waren, nach der Anamnese, zu Hause am 5. und
7. December 1896, in der Klinik am 27. und 29. December
1896, und wiederum am 18. und 20. Januar 1897 ein. Jedes
Anfallspaar steht von dem anderen in einem Abstande von
22 Tagen. Also wir haben wiederum eine Vigesimotertiana
duplex in Combination mit Tertiana maligna duplex, wie in
unserem Falle 5.
*
Damit würde die Besprechung der wichtigeren und länger
dauernden von meinen Beobachtungen zu Ende geführt, es
soll mir jetzt erlaubt werden, die Schlüsse, die aus ihnen ge¬
zogen werden können, hier zusammenfassend durchzugehen.
Febris vigesimotertiana. Die klinische Be¬
gründung dieses langintervallären, von der supponirten 22tä-
gigen Entwicklung der Halbmonde abhängigen Fiebers ist in
den Fällen 3, 4, 5, 7 und dem Falle von Rencki
gegeben. Die Fälle 8 und 9 könnten vielleicht auch
dahin verwerthet werden. Einen Fall, wo ich anfangs zehntägige
Entwicklung angenommen habe, könnte man den letzteren
Fällen einreihen.
Also, die Fälle 1 und 2 angenommen, würden sonst alle
acht Fälle, in welchen die Bestimmung der Entwicklungsdauer
versucht werden konnte, für die 22tägige Entwicklung sprechen.
Das scheint mir jedenfalls genug zu sein, die Möglichkeit eines
Zufalls unwahrscheinlich zu machen.
Man könnte dagegen einwenden, dass die Entwicklung
der Parasiten der Tertiana maligna zur Erklärung der lang¬
intervallären Fieber ausreichen kann, es kann sich nämlich
um periodisch wiederkehrende, spontane Heilungen und Reci-
diven handeln. Auch wenn wir den immer sich wiederholenden
Typus des 22tägigen Intervalls übergehen wollten, so müssen
wir dem Obigen gegenüber bemerken, dass die Fälle der
Tertiana benigna, Quartana benigna und auch der reinen (ohne
n) Rencki, O przyrodzie i rozwoju postaci polksieäycowatych
pasorzyta zimnicy ztosliwej. Pami^tnik Tow. lek. warszaw. T. XCVI1I, Z, 2.
Halbmonde im Blute, wie unser Fall 6) Tertiana maligna
niemals einen langintervallären Charakter ausweisen. Diesen
findet man nur in den Fällen von ästivoautumnalen Fieber,
wo Halbmonde vorhanden sind. Obwohl daher die ganze Ent¬
wicklung der Halbmonde mikroskopisch nicht verfolgt werden
konnte, so scheint mir doch gänzlich begründet zu sein, diesen
Körpern den langintervallären Verlauf des Fiebers zuzuschreiben
und nach der Analogie mit der Tertiana und Quartana den
Fieberintervall als identisch mit der Entwicklungsdauer der
Parasiten anzunehmen.
Einzahl oder Mehrzahl der Parasitenarten.
Wir sind durch die Betrachtung unserer Fälle zum Schlüsse
gelangt, dass die benigne Tertiana, Vigesimotertiana und Ter¬
tiana maligna einen und demselben polymorphen Parasiten ihre
Entstehung verdanken. Und es muss nicht unwahrscheinlich
erscheinen, dass derselbe Parasit gewisse somatische Verschieden¬
heiten aufweist und auch verschiedene klinische Symptome
hervorruft, abhängig davon, ob er sich im Inneren des Blut¬
körperchens, oder nur an ihm festsetzt. Die Entwicklungsdauer
bliebe aber in beiden Fällen die gleiche. Derselbe Parasit
könnte auch in den für ihn ungünstigen Verhältnissen (Resi¬
stenz des Organismus, Chinineinwirkung) die langintervalläre
Entwicklung einschlagen und dann wiederum gewisse Eigen¬
tümlichkeiten aufweisen.
Durch Analogie könnte man dann an einen zweiten poly¬
morphen Malariaparasiten denken. Von diesem würde Quartana
benigna, Quartana maligna (L a vera n und Zieman n) und
ein unbekanntes langintervalläres Fieber abhängig sein. Viel¬
leicht Hesse sich mein Fall 9 als durch Combination der
Infection mit Parasiten der Quartana maligna und ent¬
sprechenden Körpern der Halbmondreihe entstanden auffassen.
Mein Fall 9 wäre geeignet, mich zu veranlassen, die
Verteidigung des Pluralismus ganz aufzugeben. Erst weitere
und zahlreichere Beobachtungen werden aber über diese Frage
volle Aufklärung bringen können, vorläufig muss man sich des
endgiltigen Ausspruches enthalten.
Das Zustandekommen der Infection. Anfangs
1897 von den positiven Erfolgen der Blutüberimpfung aus¬
gehend, kam ich auf den Gedanken, dass die Mosquitos in der
Natur die Rolle der Spritze beim Experimente vertreten
können. Der Gedanke war nicht neu ,s) und wenn ich ihn
erwähne, so geschieht dies nur deshalb, um zu erklären, dass
mein Ideengang mich im Gegensätze zu anderen Autoren an
directe Ueberimpfung denken Hess, d. h. derselbe Mosquito,
der den Malariakranken gestochen hat, müsste danach die
Krankheit, aber vielleicht erst nach einigen Tagen, auf einen
Gesunden übertragen.
Vom September 1897 führe ich ein genaues Register
der auf Malaria im Ambulatorium und der Klinik untersuchten
Fälle. Ausser den Generalien, dem Zustande der Ernährung,
der Hautfarbe und des Milztumors, dem Fiebertypus der
eventuell gefundenen Parasitenart, wird immer die Erkrankung,
respective der Umstand, ob es sich um eine frische Erkrankung
oder Recidiv handelt, notirt. Ich werde vielleicht noch später
Gelegenheit finden, diese Beobachtungen zusammenzustellen
und zu veröffentlichen. Jetzt aber muss ich schon andeuten,
dass ich Koch t9) nicht bestimmen kann, dass die frischen
Malariafälle sich nur in den wärmsten Jahresmonaten Juli,
August und September ereignen.
Schon im frühesten Frühling, einige Wochen nach Ein¬
tritt der ersten wärmeren Tage (also wie im Jahre 1898 Ende
Februar und im März) werden die ersten frischen Malaria¬
fälle notirt. Es sind dies durchgehends Fälle der benignen
Tertiana.
Frische Infectionen mit Tertiana werden dann auch im
Sommer und Herbst notirt, sie sind hier aber jedenfalls nicht
zahlreicher, im Gegentheil scheint ihre Zahl etwas herab¬
zugehen.
Es würde dies ein Beweis sein, dass das Blut der Tertiana
kranken nicht als Material dient, weitere Tertianainn ctionen
18) Vgl. M a u s g n (1. c.). ,
19) Koch, Erster Bericht über die Thätigkeit der Malariaexpedition.
Deutsche medicinische Wochenschrift. 1899, Nr. 37.
240
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900
Nr. 10
auf dem Wege der Ueberimpfung durch die Mosquitos hervor¬
zurufen.
Als Material können also nur die chronischen Infectionen
(mit Halbmonden) dienen, und das umsomehr, da sie leicht
überwintern. Der Kranke leidet nämlich (vgl. unseren Fall 5)
an keinen grösseren Fieberanfällen, befindet sich verhältniss-
mässig wohl und findet so keine Veranlassung, sich behandeln
zu lassen. Diese Verhältnisse kann man sich auch deshalb
schwer anders denken, da die Fälle der Tertiana benigna bei
der grossen Beeinflussbarkeit der entsprechenden Parasitenart
durch Chinin fast niemals als solche überwintern.
Man muss annehmen, dass nur das Blut, welches über¬
wiegend, oder ausschliesslich die Körper der Halbmondreihe
ausweist, bei der Ueberimpfung, aber vielleicht erst (nach den
Untersuchungen von Ross20) zu urtheilen) nachdem die Halb¬
monde gewisse Entwicklungsphasen im Körper der Mosquitos
durchgegangen haben, die benigne Tertiana hervorruft. Die
Ueberimpfung der kleinen, ringelförmigen Parasiten müsste
dagegen, wenn man die Resultate der Ueberimpfungsversucke
mit der Spritze auf die Ueberimpfungen durch die Mosquitos
übertragen darf, ohne dass die Parasiten irgendwelche Ver¬
änderungen zu erfahren brauchen, Tertiana maligna hervorrufen.
An unserem fünften Falle haben wir gesehen, dass in
länger dauernden Fällen mit Neigung zur Selbstheilung am
Ende nur Halbmonde im peripheren Blute zu finden sind.
Die Ueberimpfung aus solchen Fällen durch die Mosquitos
würde nur der Tertiana benigna Anfang geben können und
solche Verhältnisse herrschen in unserem Klima im Frühling.
Im Sommer und Herbst endet ein Theil der chronischen In¬
fectionen, welche überwintert haben, in den besseren äusseren
Bedingungen, in welchen sich grösstentheil der inficirte Orga¬
nismus jetzt befindet, durch Selbstheilung. Dadurch würde das
Herabgehen der Zahl der frischen Fälle der Tertiana benigna
im Sommer und Herbst seine Erklärung finden.
Aus den frischen Tertianafällen können aber, wie wir
sahen, Vigesimotertianafieber sich ausbilden. Sie entstehen aber
gewiss auch direct durch Ueberimpfung aus den überwinterten
chronischen Fällen, denn ich konnte niemals bei ihnen durch
Anamnesenentnahme frühere acute Malariaerkrankung aus-
weisen. Nehmen wir den ersten oder zweiten Fall an (lange
Entwicklungsdauer der Parasiten), so muss immer der Aus¬
bruch der Krankheit auf ziemlich späte Zeit, Ende Sommer
oder Herbst fallen, also auf die Periode, wo in unseren klima¬
tischen Verhältnissen die Thätigkeit der Mosquitos bereits
nachlässt, oder aufhört. Da diese Fälle, in denen die jungen,
ringelförmigen Parasiten im peripheren Blute manchmal in
enormer Zahl vorhanden sind, als Ueberimpfungsmaterial für
die Entstehung der frischen Fälle der Tertiana maligna ange¬
sehen werden müssen, so ist es begreiflich, dass Tertiana
maligna in unserem Klima zu den Seltenheiten, in den tropi¬
schen Gegenden dagegen, wo die Thätigkeit der Mücken das
ganze Jahr dauert, zur Regel gehören wird.
Man kann nicht genug die Bedeutung des Umstandes
hervorheben, der aber jedenfalls weitere Nachforschungen er¬
heischt, dass die Malariaparasiten nur im menschlichen Körper
zu überwintern scheinen. Ihre Existenz in dem Körper des
Mosquitos währt, nach den Untersuchungen von Ross zu
urtheilen, nicht lange. Andere Thiere ausser den Menschen und
Mosquito befallen sie nicht. Und zwar nicht deshalb, wie
Koch21) annimmt, dass man ganz identische Parasiten in
keinem Thiere gefunden hat — man hat ja mit einem viel¬
gestaltigen Organismus zu thun, welcher in verschiedenen
äusseren Bedingungen verschiedene Formen annehmen kann —
sondern deshalb, weil Ueberimpfungen vom Menschen auf
Thiere niemals gelungen sind, obwohl die Parasiten vom
Menschen zu Menschen sich leicht überimpfen lassen.
Demnach würde die Verkettung der malarischen Epi¬
demien des einen Jahres mit denen des folgenden nur durch
IJeberwintern der chronischen Fälle bedingt sein. Die Durch¬
brechung dieses Verbindungsgliedes würde der Ausbildung der
nächsten Malariaepidemie Vorbeugen. Diese Durchbrechung ist
20) Citirt nach M a n s o n (1. e.).
*') 1. c.
aber möglich, da man jeden chronischen Fall durch Blut¬
untersuchung entdecken kann, und andererseits im Chinin ein
Mittel besitzt, das, wenigstens meinen Untersuchungen zufolge,
jede Malariainfection sicher heilt. Die Blutuntersuchungen
könnten entfallen, wenn sich die ganze Bevölkerung in Malaria¬
gegenden im Winter während ein bis zwei Wochen der
Chininbehandlung unterziehen wollte.
Den Gedanken, dass man möglicher Weise durch
Heilung der chronischen Fälle während des Winters der
nächsten Malariaepidemie Vorbeugen können wird, habe ich, so
viel ich weiss, als Erster ausgesprochen.22) Letzthin hat ihn
Koch aufgenommen23), ohne mich aber zu citiren. Das ist
umsomehr befremdend, da ich Koch meinen Aufsatz mit
einer kurzen Angabe seines Inhaltes in deutscher Sprache,
bereits im December 1898 übersandt habe.24)
REFERATE.
Pathologie und Therapie der entzündlichen Erkrankungen
der Nebenhöhlen der Nase.
Von L)r. M. Hajek, Docent an der Universität Wien.
Mit 89 grösstentheils Originalabbildungen.
Leipzig und Wien 1899, Franz D e u t i c k e.
Das uns vorliegende Buch ist ein tüchtiges Lehrbuch, dem
man es überall ansieht, dass der Verfasser das ganze Thema sowohl
in anatomischer und pathologischer, als auch in diagnostischer und
therapeutischer Hinsicht praktisch durchgearbeitet und in vielen
Demonstrationscursen durchgesprochen hat. Es bringt nichts wesent¬
lich Neues, wird aber als Lehrbuch immer Werth haben, da über¬
all auf das Bedürfniss des Schülers Rücksicht genommen ist und
alle die häufigen, besonders im Siebbeinlabyrinthe vorkommenden
Anomalien durch zahlreiche sehr gelungene Abbildungen klar dar¬
gestellt sind.
Es zerfällt in zwei Theile: Im allgemeinen Theile werden die
Aetiologie, Symptome, Anatomie und Diagnose der Nebenhöhlen¬
entzündungen überhaupt und im speciellen dieselben Punkte und
die Therapie jeder einzelnen Nebenhöhle abgehandelt.
Schliesslich stellt Haj ek in zwei Capiteln die Complicationen
in den Augen und im Gehirne dar, und zwar, wie er selbst sagt,
»mangels eigener Erfahrungen « nach den Werken von Kuhn t und
Dreyfus s.
Mit Ausnahme dieser zv7ei Gapitel spricht er sonst überall aus
eigener Erfahrung. Dieser Umstand macht das Buch auch für den
Fachmann werthvoll.
Wohlthuend berührt es, dass Hajek nirgends die Häufigkeit
und Wichtigkeit der Nebenhöhlenerkrankungen übertreibt, wie
Grünwald u. A.
Er geht z. B. nicht so weit, zu behaupten, dass Nasenpolypen
pathognomonisch für Nebenhöhlenerkrankung seien; dass dagegen
das Bild der Ozäna durch herdweise und nicht durch allgemeine
Secretion der Schleimhaut der Nase oder des Rachens bedingt ist,
scheint ihm in der Mehrzahl der Fälle erwiesen; er steht auch
nicht an, zu erklären, dass er diesbezüglich seine im Jahre 1895
ausgesprochene Ansicht geändert habe.
Der schon von Zuckerkandl ad absurdum geführten
Lehre Woakes’ von der »necrosing ethmoiditis als Ursache der
Polypen« hat er durch histologische Untersuchungen jeden Boden
entzogen.
Recht zweckmässig ist die Eintheilung der Nebenhöhlen in
zwei Serien: in die der ersten Serie, Kiefer-, Stirn- und vorderen
Siebbeinzellen, welche in den mittleren Nasengang einmünden, und
die der zweiten Serie, hinteren Siebbein- und Keilbeinhöhlen, welche
sich in den oberen Nasengang eröffnen.
Therapeutisch ist Hajek, wie alle erfahrenen Rhinologen,
für ein langsames, vorsichtiges Vorgehen bei der Sondirung und
“) Lewkowicz, O szerzeuiu sie zimnicy i mozliwosci skutecznego
zapobiegania jej endemiom. Przeglad lekarski. 1898, Nr. 33.
-q l. c.
24) Nach N u 1 1 a 1 1 (Neuere Forschungen über die Rolle der Mos¬
quitos bei der Verbreitung der Malaria. Centralblatt für Bacteriologie. 1900,
Bd. XXVII, Nr. 5) ist- dieselbe Ansicht auch von Grassi (31. August 1899),
einige Tage vor der Publication K o c h’s, ausgesprochen worden. Jedenfalls
würde die Priorität mir zufallen. (Anmerkung bei der Correctur.)
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
241
Eröffnung der erkrankten Nebenhöhlen und speciell bei ihrer even¬
tuell nöthigen Auskratzung.
Warum er aber der Jodoformgazetamponade der Highmors¬
höhle vom Proe. alveolaris aus gar nicht erwähnt, ist bei der Be¬
quemlichkeit und Wirksamkeit dieser Methode gar nicht ein-
zusehenTZur Behandlung der Highmorshöhleneiterung zieht er die
Anbohrung von der Fossa canina der durch den Processus alveo¬
laris vor.
Die Eröffnung der Siebbeinzellen bewerkstelligt er mit kleinen
Häkchen und scharfen Löffeln, welche den G r ü n w a 1 d’schen
Instrumenten ähnlich, nur viel zarter sind.
Es ist nicht zu wundern, dass der Autor unter den von
vielen Seiten empfohlenen Methoden die auswählt, die er mit Vor¬
liebe ausführt, und diese besonders empfiehlt. Doch werden auch
die anderen besprochen, so dass das Buch trotz seiner stark
individuellen Färbung einen Ueberblick über den Stand des
Themas gibt.
Druck und Ausstattung sind, dem Rufe der Verlagsbuchhand¬
lung entsprechend, vorzüglich; fleissig gearbeitete Verzeichnisse der
Abbildungen, Literaturangaben und Themata ermöglichen schnelles
Orientiren und Nachschlagen. 0. G h i a r i.
I. Volvulus coeci.
Von AV. Zoege v. Manteuffel.
Volkmann’sche Sammlung'. 1899, Nr. 260.
Leipzig, Breitkopf und Härtel.
II. Die Brüche der Mittelfussknochen in ihrer Bedeutung
für die Lehre von der Statik des Fusses.
Von Gustav Aluskat.
Volkmann’sche Sammlung. 1899, Nr. 258.
Ibidem.
III. La gastrostomie.
Par J. Braquehaye.
Les actualites medicales.
Paris 1900, B a i 1 1 i e r e.
IV. L’appendicite.
Par Ang. Proca.
Lesactualites medicales. Ibidem.
V. Chirurgie du foie et des voies biliaires.
Par J. Pantaloni.
Paris 1900, Inst, de Bibliogr. seien t.
VI. A Manual of Surgery.
By Charles Stonham.
London 1899, Macmillan.
Drei Bände.
VII Ueber Amputationen und Exarticulationen.
Von August Bier.
Volkraann’sche Sammlung. 1900. Nr. 264.
Leipzig, Breitkopf und Härtel.
I. Zoege v. Manteuffel hat zuerst im Jahre 1898 auf
die Darmstenosen hingewiesen, welche durch Achsendrehungen des
Cöcums zu Stande kommen und bespricht nun an der Hand von
acht eigenen und fünf fremden Beobachtungen dieser Art das
Krankheitsbild des Volvulus coeci. Die durch schematische Zeich¬
nungen illustrirte Arbeit bedeutet eine wesentliche Bereicherung
unserer Kenntnisse in dem so schwierigen Gebiete und ist nicht
nur für’ den Fachmann, sondern auch für den praktischen Arzt
von grösster Wichtigkeit, da, wie Zoege v. Manteuffel an
seinen eigenen Fällen zeigt, die Diagnose bei genügender Unter¬
suchung in der Regel nicht nur bezüglich des Sitzes der
Krankheit, sondern auch bezüglich der Unterscheidung, ob
es sich um Strangulation oder Obturation handelt, zu stellen ist;
es braucht nicht besonders betont zu werden, dass eine rechtzeitige
Diagnose das Leben des Patienten retten kann. Auf die örtliche
Diagnose leitet uns der locale Meteorismus, auf die causale der
Verlauf. Bei der Strangulation ist der Beginn stets ein plötzlicher,
oft im Anschlüsse an bestimmte heftige Bewegungen, meist stellt
sich gleich anfangs Erbrechen, erhöhte, auch febrile Temperatur bei
heftigen Schmerzen ein. Der Puls ist zu Beginn nicht frequenl,
eine Pulszahl von 190 und mehr macht es schon wahrscheinlich,
dass Peritonitis entstanden ist, welche bekanntlich fast immer auch
Trockenheit der Zunge mit sich bringt. Bei der Obturation sind
fast immer schon früher leichtere Anfälle vorausgegangen, auch
beginnt der Symptomencomplex nicht so plötzlich, einmal z. B.
bildete er sich innerhalb 14 Tagen heraus, die Erscheinungen fordern
oft weniger kategorisch zur Operation auf. Gerade aus diesem
Grunde hält der Autor die Obturation für besonders gefährlich,
da leicht der richtige Zeitpunkt zum Operiren versäumt
werden kann.
*
II. Brüche der Mittelfussknochen kommen beim Civil sehr
selten, beim Militär sehr häufig vor, wurden aber vor der An¬
wendung der Röntgen-Untersuchungen lange verkannt. Sie betreffen
in 54'5% der Fälle den zweiten, in 36‘8% den dritten Mittelfuss¬
knochen. Daraus deducirt der Autor, dass diese beiden Knochen
gemeinsam den vorderen Stützpunkt des normalen Fusses darstellen.
Danach wäre hiemit die Ansicht H. v. M e y e r's widerlegt, welcher
nur den dritten Metatarsalkochen als Stützpunkt anspricht und die
Auffassung Beel y’s findet eine neue Bestätigung, jedoch mit der
Ausnahme, dass nicht beide Knochen zusammen, sondern jeder für
sich in Betracht kommen. Dagegen widerspricht Muskat der An¬
schauung Beely’s, dass auch die Tuberositas metatarsi quinti bei
Belastung des einzelnen Beines mit als Stütze diene, weil die
Fracturen des fünften Mittelfussknochens nur 0 6% der Fälle aus¬
machen. Als Ursache für die Fracturen gerade beim Militär be¬
zeichnet Muskat die Belastung des Fusses -j- dem Factor des
Schwunges, welche besonders beim »Marschiren im Tritt« und
»Parademarsch« zur Geltung kommen.
*
III. B r a q u e h a’y e gibt eine ausführliche Uebersicht der
Gastrostomie in historischer Beziehung, in Hinsicht auf die Indications-
stellung und eine ziemlich erschöpfende Aufzählung der Operations¬
methoden, theilweise mit kritischer Beleuchtung. Neue Thatsachen
und Gesichtspunkte finden sich in dem Werkchen nicht, doch dar!
dasselbe immerhin als eine bibliographisch recht brauchbares Aus¬
kunftsmittel dienen. Braquehaye zieht allen anderen die Me¬
thode von F o n t a n (1896) vor, welche stets vorzügliche Resultate
gab. Sie besteht in Folgendem: Durch den Fenger’schen Schnitt
zieht man mittelst einer Pince den oberen Theil des Magens nahe
der kleinen Curvatur vor, so dass eine conische Magenhernie
gebildet wird, an deren Basis das Perit. parietale angenäht wird.
Dann stülpt man mit Hilfe der Pince die Magenhernie handschuh-
fingerförmig ein und bildet aus dem invaginirenden Theile durch
Sero-Serosanälite Falten in Kreuzform, so dass nach Entfernung
der Pince ein »bischofsmützenartiger« Canal bleibt, dessen Spitze
durchbohrt wird. Zum Schlüsse wird ein Katheter eingeführt und
einige Tage in situ_T>elassen.
*
IV. Unter der Unzahl von Aufsätzen über die Appendicitis,
welche für das Bedürfniss des Nichtchirurgen geschrieben sind,
nimmt dies Büchlein durch frische und klare Darstellung, ent¬
sprechende Würdigung der einzelnen Capitel und wohlthätige
Reserve einen ehrenvollen Platz ein. Der Verfasser gehört nicht zu
den »Radicalen«, welche stets im Beginne der Erkrankung zum
Messer greifen wollen, sondern zu den »Opportunisten«, welche
verlangen, dass jede Appendicitis von dem Chirurgen behandelt und
mit dem Messer in der Hand bewacht werde, um im richtigen
Momente der Operation zu verfallen.
Bekanntlich ist dieser Standpunkt auch bei uns fast allgemein
acceptirt.
In ätiologischer Beziehung hält Broca die Influenza für sehr
wichtig und erklärt daraus die bedeutende Zunahme der Krankheits¬
fälle, welche er in den letzten Jahren und besonders seit der
grossen Influenza-Epidemie von 1890 sah.
Bei Abscessen verzichtet er auf die Exstirpation des Processus,
bei der Resection ä froid unterbindet er denselben in toto an der
Wurzel und exstirpirt darauf die Mucosa des Stumpfes mit der
Scheere, worauf die übliche Einstülpungsnaht des Cöcums ausge¬
führt wird.
*
V. Das gross^angelegte Werk von über 600 Seiten enthält
eine erschöpfende Akiurgie der Leber und Gallenwege auf Grund¬
lage der internationalen Literatur, welche mit grossem Fleisse be¬
arbeitet ist. Es besteht aus vier Theilen: 1. Die Operationen an
der Leber selbst, als Ganzes, die eigentliche Leberchirurgie; 2. die
Operationen an den Adnexen der Leber (Ligamente, Drüsen, grosse
Gefässe); 3. und 4. die Operationen an den Gallenwegen, und zwar
getrennt die Eingriffe, welche das gesammte System betreften und
jene, welche einzelne Theile angehen.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 10
2 42
Bei wissenschaftlichen Arbeiten wird das Buch vorzügliche
Dienste thun, indem es die Auffindung versteckter Angaben er- '
leichtert und etwa eine schnelle Orientirung ermöglicht, wenn
man sich nach gemachter Operation über Aehnliches Raths er¬
holen will.
Zum Studium erscheint dem Referenten die Anordnung speciell
für die Gallenblasenchirurgie ungeeignet; t, Nicht ein Auseinander¬
zerren, sondern im Gegentheil eine möglichst concentrirte Ueber-
sichtlichkeit thut bei einem so complicirten Gebiete Noth, bei dem
man nach Belieben neue Namen für verschiedene operative Mass¬
nahmen einführen könnte.
Hier sollte man eine Bibliothek nicht nach dem Format,
sondern nur nach dem Inhalt ordnen.
Sehr zweckmässig ist, dass von den vielen Abbildungen ein
grosser Theil den Originalabhandlungen entnommen ist, was der
Uebersichtlichkeit gute Dienste leistet; dagegen wäre es weniger
notlnvondig gewesen, Scalpelle, Laminariastifte etc. unter die Ab¬
bildungen aufzunehmen, da man doch glauben sollte, dass ein
Operateur, der sich an Leberchirurgie macht, solche Dinge kennt.
Zum Schlüsse möchte sich Referent noch eine Bemerkung
erlauben: Auf pag. 45 findet sich gelegentlich der Leberzerreissung
folgende, auch bei anderen Autoren oft angewendete Phrase: »Mieux
vaut cent laparatomies inutiles, forcement benignes, qu’une seule
mort par intervention retardee on non executee.« Richtig! Aber es
gibt nicht 100 absolut ungefährliche Laparotomien! Die Asepsis
allein macht es nicht, unter 100 Laparotomien wird vielleicht
doch sogar mehr als eine durch die Narkose, durch Herzschwäche
oder Pneumonie u. dgl. grosse Lebensgefahr bringen. Referent würde
sich 100 unnöthige Laparotomien nicht gestatten.
*
VI. Das Compendium der Chirurgie beruht nach S t o n h a m's
eigener Angabe auf einer 16jährigen Erfahrung als Spitalsarzt und
Lehrer. Die Anordnung ist eine übersichtliche, die Ausführlichkeit
im Verhältniss zum Umfang des Werkes bemerkenswerth.
Der erste Band enthält die allgemeine Chirurgie inclusive
— was bei uns bekanntlich nicht üblich ist — eines 57 Seiten ausfüllenden
Abrisses über Pathologie und Therapie der Gonorrhoe und Syphilis.
Der zweite Theil enthält unter dem Titel »Injuries« zunächst die
Principien der Wundheilung und die Pathologie der Wunden, der
Blutstillung und einen grossen Theil der Operationslehre, das Ganze
mehr weniger um den Gegenstand »Verletzung« gruppirt. Hier sei
das Capitel über Naht und Nahtmaterial erwähnt, in welchem der
Autor in mancher Hinsicht von den unseren abweichende An¬
schauungen vorbringt. Als Nahtmaterial empfiehlt er vorzugsweise
Rosshaar, für Entspannungsnähte Silberdraht. Die Knopfnaht wird
der fortlaufenden stets vorgezogen, weil eine Schlinge von der
anderen unabhängig sei. Für versenkte Nähte werden Schwefel¬
chromgut oder -Seide, für die tiefen Nähte bei Hernienoperation
Känguruh-Sehnen empfohlen. Bei der Bauchnaht schreibt S t on h a m
vor, zuerst Silkwormgutnähte durch die ganze Dicke der Bauch¬
wand zu legen, dann jede Schichte einzeln mit Chromgut zu ver¬
nähen und darüber die tiefen Nähte zu knüpfen. Beim Vorhanden¬
sein grösserer Wundhöhlen (z. B. nach Mammaamputation) wird für
drei Tage oder länger ein Drain eingelegt.
Der dritte und umfangreichste Theil enthält die specielle
Chirurgie, welche verhältnissmässig kurz gefasst ist. Sehr hübsch
sind hier besonders die typischen Operationen und unter diesen
vor Allem die Unterbindungen abgehandelt.
*
VII. Die Abhandlung dürfte einen wichtigen Umschwung in
der Technik der Abtragungen an den unteren Extremitäten zur
Folge haben. Bekantlich hat sich Bier schon seit längerer Zeit
mit dieser Frage beschäftigt und auch sehr zweckmässige Ope¬
rationsmethoden angegeben. Die vorliegende Arbeit begründet seine
Ansichten über die Tragfähigkeit der Stümpfe in logischer und
scharfsinniger Weise, so dass es über kurz oder lang keinen den¬
kenden Arzt mehr geben wird, der sich ihnen nicht anschliesst.
Es wird bewiesen, dass es unter gewöhnlichen Verhältnissen nur
einen Grund gibt, welcher die Tragfähigkeit verhindert, d. i. die
Empfindlichkeit der ungeschützten Knochennarbe.
Von den alten Postulaten ist nur noch eines zu Recht be¬
stehend. Die Hautnarbe soll nicht an einer belasteten Stelle liegen,
jedoch kann auch in solchen Fällen noch ein gutes Resultat erzielt
werden. Tragfähige Stümpfe liefern also alle Exarticulationen:
S y m e (ohne Amputation), M a 1 g a i g n e, Knie und Oberschenkel-
enucleation, ferner osteoplastische Amputationen: Pirogoff und
seine Modificationen, Gritti (dieser wegen der Beschaffenheit der
Patella nicht zu empfehlen), Sabanjeff etc. Die Bier’sche Me¬
thode der osteoplastischen Methode ist leicht ausführbar, da hiebei
jetzt stets zuerst der Weichtheillappen abgelöst und hierauf
mittelst der vom Autor modificirten Hel ferich’schen Säge der
Periost-Knochenlappen gebildet wird. Die erzielten Resultate über¬
ragen zweifellos alles’ bisher Erreichte.
K. B ü d i n g e r.
Handbuch der praktischen Chirurgie.
Herausgegeben von E. v. Bergmann, I*. v. Bruns und J. v. Mikulicz.
Stuttgart 1900, F. Enke.
Das Werk ist bis zur 10. Lieferung gediehen. Wir hatten
bereits Gelegenheit, die ersten Hefte anzuzeigen und auf die vor¬
treffliche Bearbeitung, die namentlich einzelne Capitel auszeichnete,
hinzuweisen. Viele der bedeutenderen Abschnitte des Werkes sind
ja von denselben Autoren, die auch bei dem vorliegenden Hand¬
buche mitwirken, in der »Deutschen Chirurgie« bearbeitet worden,
nur finden sie, dem Programm der »praktischen Chirurgie« ent¬
sprechend, hier eine knappere, mehr dem praktischen Bedürfnissen
angepasste Wiedergabe. Als besonders werthvolle zusammenfassende
Bearbeitungen, die auch wirklich neue Erscheinungen der chirur¬
gischen Literatur sind, begrüssen wir die monographische Darstellung
der Krankheiten und Verletzungen der Schilddrüse von v. Eiseis¬
berg und der Krankheiten und Verletzungen der Speiseröhre von
v. Hacke r.
Man hätte nicht leicht berufeneren Autoren die Bearbeitung
gerade dieser Capitel anvertrauen können. Es ist allgemein ge¬
würdigt, welcher Antheil v. Eiseisberg an der Ausgestal¬
tung der Lehre namentlich der physiologischen Bedeutung der
Schilddrüsenfunction für den Organismus zukommt. Wie seine dies¬
bezüglichen Arbeiten zum grössten Theile noch in seine Assistenten¬
jahre an der B i 1 1 r o th’schen Klinik zurückdatiren, so bezieht er
sich auch in diesem Werke noch vielfach auf die reichen Er¬
fahrungen, die er in diesem Wirkungskreise zu sammeln Gelegenheit
hatte. In anatomischer Hinsicht fusst er hauptsächlich auf
Wölfler’s einschlägigen grundlegenden Arbeiten. Es ist erfreulich,
ein so wichtiges Capitel der modernen Chirurgie trotz aller Knapp¬
heit der Diction, die ein umständliches Abschweifen auf Unwesent¬
liches ausschliesst, so klar und abgerundet dargestellt zu sehen:
eine concentrirte Wiedergabe alles Wissenswerten, ausgehend von
einer auf viele Jahre ausgedehnten, eindringenden eigenen Forscher¬
arbeit bei voller Berücksichtigung aller beachtenswerten Erfahrungen
und Arbeitsergebnisse Anderer.
v. Hacker’s Verdienste um die Durchbildung der Technik
der Oesophagoskopie, seine auf breiter anatomischer Basis durch¬
geführten Studien über die Stricturen des Oesophagus, die erfolg¬
reiche Einführung wichtiger chirurgischer Methoden (Sondirung
ohne Ende, Technik der Gastrostomie) prädestinirten ihn gleichsam
für die monographische Bearbeitung der Speiseröhrenkrankheilen.
Seit König in seinem vortrefflichen Buche dasselbe Thema be¬
handelte, ist gerade auf diesem Gebiete so viel Neues hinzu¬
gekommen. dass es sehr an der Zeit war, wieder einmal eine Ueber-
sicht des gegenwärtigen Wissensstandes zu geben. Es hätte diese
Aufgabe kaum in vollkommener Weise gelöst werden können, als
dies durch v. Hacker geschehen ist, und seine Arbeit wird für
die nächste Zukunft für die Lehre von den Krankheiten und Ver¬
letzungen der Speiseröhre ebenso massgebend bleiben als es bisher
das Buch von König war. Alex. Fraenkel.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
65. (Aus dem pharmakologischen Institute in Würzburg.)
Ueber das Verhalten des Brom im Thierkörper. Von
Dr. Fessel. Die toxischen Wirkungen des Brom sind zunächst
damit zu begründen, dass das Brom, statt gleich dem Jod zum
grössten Theile wieder ausgeschieden zu werden, im Körper unter
theilweiser Verdrängung des Chlor in grosser Menge zurückgehalten
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
2 49
wird. So wurde hei längerem Bromgebrauch im Magensaft statt
Salzsäure Bromwasserstoffsäure gefunden. Laudenheimer fand
bei einem sonst gesunden Epileptiker, welcher täglich 10 <7 Brom¬
natrium bekam, nach Verlauf von acht Tagen nur 30 «7 Bromsalz
ausgeschieden. Es wird täglich immer mehr Brom ausgeschieden,
bis endlich die Ausfuhr gleich der Zufuhr wird, was bei einem
diesbezüglich beobachteten Patienten am 17. Tage eingetreten
war. Ein ähnliches Verhalten zeigten auch Versuchshunde, denen
Bromsalz verfüttert worden war. Gleichzeitig wurde bei den Hunden
beobachtet, dass die Ausscheidung des Brom wesentlich durch
Darreichung grösserer Kochsalzgaben beschleunigt werden konnte.
Bei einem Thiere, das im Ganzen 20 g Bromnatrium erhalten hatte,
konnte noch nach zehn Wochen Brom im Harn nachgewiesen
werden, während der Hund, welcher nachträglich Kochsalz be¬
kommen hatte, schon in der Hälfte der Zeit mit der Bromaus¬
scheidung zu Ende war. Was die Vertheilung des Brom im Orga¬
nismus betrifft, so wurde die Hauptmengo beim Hunde im Blut,
ferner im Gehirn gefunden. — (Münchener medicinische Wochen¬
schrift. 1899, Nr. 89.)
*
6ß. (Aus der medicinischen Poliklinik des Prof. v. Mering
in Halle.) U e b e r die Wirkung einiger Morphinderi¬
vate auf die A t h m u n g des Menschen. Von Dr. W i n t e r-
n i t z. Ueber die Wirkung des Morphin hinsichtlich der Abnahme
der Erregbarkeit des Athemcentrums besteht kein Zweifel; anders
verhält es sich mit dessen Derivaten, deren diesbezügliche Wirk¬
samkeit er durch Versuche an gesunden Menschen festzustellen
bemüht war. Nach denselben soll, entgegen manchen anderen An¬
gaben, C o de i n (Methylmorphin) und D i 0 n i n (salzsaures Aethyl-
morphin) die Erregbarkeit des Athemcentrums nicht beeinträchtigen,
das Heroin (Diacetylmorphin) dagegen dieselbe beträchtlich herab¬
setzen. Die betreffs des Codein und Dionin erhaltenen Ergebnisse
sind hinsichtlich ihrer therapeutischen Verwendung, namentlich bei
der Phthise, insoferne nicht ohne Bedeutung, als aus ihnen hervor¬
geht, dass sie die Lungengymnastik nicht beeinträchtigen, wobei
auch noch in Betracht kommt, dass sie die Expectoration nicht
behindern, — (Therapeutische Monatshefte. 1899, Nr. 9.)
*
67. Ueber Erbrechen kaffeesatzartiger Massen
nach gynäkologisch-geburtshilflichen Narkosen.
Von Dr. Beuttner (Genf). Es werden sieben Fälle beschrieben,
in denen während oder kürzere oder längere Zeit nach der Ope¬
ration kaffeesatzartige Massen erbrochen wurden, was zum Theil
schwerste Anämie zur Folge hatte. Magen- und Herzkrankheiten
hatten nicht bestanden, Chloroform, Aether und Technik waren
ätiologisch nicht direct zu beschuldigen, ln einem zur Section
gelangten Falle (Myomoperation von 5'/2 Stunden Dauer) wurden
im Magen zahlreiche hämorrhagische Erosionen gefunden. Die ge¬
nannte Erscheinung ist ätiologisch nicht recht aufgeklärt. Möglicher
Weise spielen zwei Ursachen hier eine Rolle: die venöse Stauung
in Folge der Narkose und eine reichliche Salzsäuremenge im Magen.
— (Corrcspondenzblatt für Schweizer Aerzte. 1899, Nr. 18.)
*
68. Prof. W y s s demonstrirte im ärztlichen Centralverein zu
Zürich einen von einem achtjährigen Mädchen entfernten, manns¬
kopfgrossen Ovarialtumor, welcher sich als ein sehr ausgesprochenes
Teratom erwies. Dasselbe enthielt drei wirbelkörperähnliche
Knochen, Knorpel, Gehirnsubstanz, Haarbälge, Schweiss- und Talg¬
drüsen in den Cystenwandungen, sowie Bildungen, welche man als
Chorioidea, beziehungsweise Retina auffassen zu können glaubte.
— (Correspondenzblatt für Schweizer Aerzte. 1899, Nr. 18.)
Pi.
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Der Verband der Aerzte Wiens versendet nachstehenden
Aufruf :
Collegen ! Die Organisation der Aerzte Wiens ist vollzogen !
Müde der langen, unfruchtbaren Gegnerschaft, geeinigt in der
Erkenntniss, dass die den ärztlichen Stand von allen Seiten bedrohen¬
den Gefahren nur durch einmüthiges Vorgehen abgewehrt werden
können, gedrängt durch die erschreckend um sich greifende Nothlage
eines grossen Theiles tüchtiger und braver Collegen, haben die
Aerztevereine Wiens mit seltener Einmüthigkeit in dem „Ver¬
bände der Aerzte Wiens“ eine festgeschlossene Organisation
geschaffen.
Dieser Verband hat sich am 17. Februar 1900 auf Grund der
von der k. k. Statthalterei genehmigten Statuten constituirt und
einen Centralausschuss gewählt, in welchem alle Vereine durch ihre
Obmänner und Delegirten vertreten sind. Gross und wichtig sind die
Aufgaben, welche dieser Verband zu lösen hat.
Nicht nur das gesunkene Ansehen des ärztlichen Standes, die
Einbusse, die derselbe in seiner socialen Stellung erlitten hat, sondern
ganz besonders die wirtschaftlichen Schäden, die dem Aerztestande
durch planmässige Missachtung seiner gerechten Forderungen zugefügt
werden, erheischen ein geschlossenes, zielbewusstes Vorgehen. Seit
einem Decennium leiden wir an den drückenden Consequenzen eines
Krankenversicherungsgesetzes, welches ohne Mitwirkung der Aerzte
geradezu gegen deren vitalste Interessen geschaffen wurde, eines Ge¬
setzes, dessen Ausdehnung auf immer weitere Kreise des Mittelstandes
unseren vollständigen materiellen Ruin herbeizuführen droht.
Die Angriffe, welche die Aerzte von den verschiedensten Seiten,
insbesondere den Anhängern der sogenannten Naturheilmethode er¬
leiden müssen, haben Dimensionen angenommen, die nach jeder
Richtung hin den ärztlichen Stand zu untergraben geeignet sind. Die
in letzterer Zeit sich häufenden Fälle von Ertheilung der Praxis¬
berechtigung an kenntnisslose und gesetzlich unberechtigte Laien¬
personen fügen dem ärztlichen Stande in jeder Beziehung einen er¬
heblichen Schaden zu. Die Ausnützung der nur für Arme bestimmten
Kranken- und Humanitätsanstalten durch Wohlhabende hat die Aerzte
schon längst zu einem bisher leider erfolglosen Einschreiten gegen
diesen Missbrauch veranlasst.
Gegen alle diese Schäden und die vielen anderen den ärzt¬
lichen Stand schwer bedrückenden Uebelstände vorzugehen, ist eine
so dringende und wichtige Aufgabe, dass sie trotz ihrer Schwierig¬
keit nicht rasch und energisch genug in Angriff genommen
werden kann.
Gelingt es uns, auch nur in einigen dieser Punkte Erfolge zu
erzielen, dann haben wir den Boden geschaffen, auf dem unsere
legale Vertretung, die A e r z t e k a m m e r, eine wirklich erspriessliche
Thätigkeit entfalten kann. Dann werden wir mit Recht die Aerzte-
kammer als den Schlussstein unserer Organisation betrachten können
und werden ihr — wenn wir geschlossen und geeinigt
hinter ihr stehen — Macht und Einfluss verleihen.
Das Schwergewicht unserer Organisation liegt
in den Vereinen. Nur sie sind im Stande, den Bau, den wir
mühsam und hoffnungsfreudig aufgeführt haben, zu stützen und zu
erhalten. Sie sollen durch ihre agitatorische Thätigkeit die Theilnahme
der Collegen anregen, das Gefühl der Zusammengehörigkeit in ihnen
erwecken und die widerstrebenden Elemente heranzuziehen suchen.
Von den Collegen erwarten wir, dass sie es als eine Pflicht
ansehen, selbstthätig in die Organisation des Standes einzugreifen und
sich durch sofortigen Eintritt in einen der bestehenden ärztlichen
Vereine dem Verbände, der ja alle Berufsgenossen umfassen soll, an-
zuschliessen.
Collegen ! Wir haben keine Opfer gescheut, um das schwierige
und doch von Allen so sehr ersehnte Werk der Einigung zu Stande
zu bringen. Wir haben dies gethan in dem festen Vertrauen auf
Euere Uebereinstimmung mit uns, auf Euere Unterstützung und Mit¬
wirkung. Bringt auch Ihr uns dasselbe Vertrauen entgegen. Seid Un¬
entschlossen, an dem Bunde, den wir gegründet, festzuhalten, dann
muss unsere gerechte Sache den Sieg erringen.
Dr.
Das Präsidium:
Dr. Josef Heim
Präsident.
Ludwig Stricker
Vicepräsident.
D e r
Vorstand
Dr. Adolf Gruss
Vicepräsident.
Dr. Ferdinand Steiner
erster Schriftführer.
Dr. Adolf Klein
Säckelwart.
Dr. Josef Kornfeld.
Dr. Josef Scholz.
Dr. Heinrich J e 1 1 i n e k
zweiter Schriftführer.
Dr. II a ns v. Woerz
Säckelwart-Stell Vertreter.
Dr. Hans Sc h u m.
Dr. Rudolf Weiser. *
Verliehen: Den Primarärzten und Abthoilungsvorständen
des allgemeinen Krankenhauses in Wien Dr. Franz Scholz
und Prof. Dr. Johann Ilofmokl der Titel eines Hofrathes.
Dem Zahnarzte Dr. Karl J arisch in Wien der 1 itel eines
Regierungsrathes. — Dem Primarärzte und Leiter des Leopoldstäd er
Kinderspitales in Wie n, Dr. Balthasar Unterhölzer, das
Ritterkreuz des Franz Josef Ordens und dem Director des Kaiser
Franz Josef Ambulatoriums in W i e n, Dr. Leopold Dörnen v, dei
244
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 10
Titel eines kaiserlichen Rathes. — Dem Besitzer der Wasserheil¬
anstalt in Vöslau-Gainfarn, Dr. Theodor Fried mann,
der Titel eines kaiserlichen Rathes.
*
Gestorben: Der Professor der Neurologie in Brooklyn,
Dr. Sha w. — Der Privatdocent für Neurologie, Dr. P a c e 1 1 i
in Rom.
*
In der Sitzung des Obersten Sanitätsrathes am
24. Februar d. J., welcher mit Rücksicht auf die zur Verhandlung
gelangenden pharmaceutischen Angelegenheiten auch die Vertreter des
Apothekerstandes zugezogen worden sind, gelangten nach Mittheilung
über verschiedene Geschäftsangelegenheiten durch den Vorsitzenden
Ilofrath v. Vogel nachstehende Referate zur Erledigung: 1. Beur-
theilung verschiedener von einem Materialwarenhändler erzeugten und
in Verkehr gebrachten Arzneizubereitungen in Bezug auf ihre Zu¬
lässigkeit (Referent: Sections Chef v. Kusy). 2. Gutachten über die
von der belgischen Academie royale de medecine angeregte Verfassung
einer internationalen Pharmakopoe für heroische Mittel (Referent : Hof¬
rath v. Vogl namens des pharmaceutischen Comites). 3. Gutachtliche
Aeusserung über die Qualification der Bewerber um eine erledigte
Oberbezirksarztesstelle in Dalmatien (Referent : ausserordentliches
Mitglied des Obersten Sanitätsrathes, Ministerialrath Dr. J. D a i m e r).
4. Begutachtung eines Gesetzentwurfes, betreffend die Neuregelung der
Dienstverhältnisse der staatlichen Veterinärorgane (Referent : Professor
P o 1 a n s k y). 5. Gutachten über ein für den Unterricht an BilduDgs-
cursen für Kindergärtnerinnen und an höheren Mädchenschulen be¬
stimmtes Lehrbuch der praktischen Kindererziehung (Referent : Hof¬
rath C h r o b a k). Schliesslich gelangte ein Initiativantrag des Pro¬
fessors P o 1 a n s k y, betreffend die Einsetzung eines ständigen Fach-
comitcs des Obersten Sanitätsrathes für veterinäre Angelegenheiten zur
Berathung und Beschlussfassung.
*
Congress zur Bekämpfung der Tuberculose.
Auf Veranlassung des neapolitanischen Comites der „Lega contro la
Tuberculosi“ wird vom 25. — 28. April 1900 dieser Congress zu
Neapel stattfinden, von welchem Ihre Majestät die Königin von Italien
geruht hat, das Patronat anzunehmen, und von welchem Se. Ex-
eellenz der Minister B a c c e 1 1 i der Präsident sein wird. Das Geueral-
comite, dessen Präsident der Senator Prof. De R e n z i und dessen
Secretär der Prof. A. Rubino ist, sorgt für die Ordnung des Con¬
gresses, dessen Arbeiten das gleiche Ziel verfolgen, wrelches auf dem
Berliner Congress zuerst angestrebt ist. Das Ganze ist in folgende
Sectionen, von welchen jede ein besonderes Ordnungscomite hat, ein-
getheilt : 1. Aetiologie und Prophylaxis; 2. Klinische
Pathologie; 3. Therapie; 4. Sanatorien. An diesem Con¬
gress sind berechtigt Theil zu nehmen : Aerzte, Naturforscher, Inge¬
nieure, sowie die Vertreter der socialen und philanthropischen Wissen¬
schaften. Die Einschreibungsgebühr beträgt für jeden 20 Lire (italienisch)
und berechtigt zum Empfange der Beglaubigungskarte und dem
Congressabzeichen, sowie zu den auf der Eisenbahn und den Dampf¬
schiffen gewährten Fahrpreisermässigungen, zum Empfange der Congress-
acten, sowie aller zu dieser Gelegenheit gemachten Veröffentlichungen,
zum freien Eintritt in die Museen, zum Besuche von Pompeji, Herculanum
u. s. w. Die Damen der Congressisten können nach Erlegung der gleichen
Summe von 20 Liren an dem Congresse theilnehmen. Bei Gelegenheit
des Congresses werden zahlreiche Festlichkeiten stattfinden : Empfang
seitens des Municipiums von Neapel, Galavorstellung im Theater
5. Carlo, Ausflüge mit Lunch nach Pompeji, Sorrento und
Capri,“ nach Palermo und Besuch des Sanatoriums „Hygiea“ (ge¬
gründet vom Commendatore Florio). Das genaue Programm dieser
Festlichkeiten wird den Congressisten möglichst bald mitgetheilt
werden. Die Anmeldungen sowfie die Einschreibungsgebühren sind zu
richten an das Secretariat des Generalcomites: la Clinica Medica della
R. Universifä di Napoli (O s p e d a 1 e C 1 i n i c o).
*
Am 18. Februar hat sich in Berlin im Sitzungssaale des Cultus-
miuisteriums des Comite für Krebsforschung constituirt, zu
dessen vorläufigen Vorsitzenden v. Leyden und Kirchner ge¬
wählt wurden. Wie die Münchener medicinische Wochenschrift Nr. 9
mittheilt, wurde der Plan des weiteren Vorgehens erörtert und die
Betheiligung aller Aerzte, aller wissenschaftlichen und ärztlichen Ver¬
einigungen, Versicherungs- und Heilanstalten an der Sammelforschung
in Aussicht genommen. Für die Ausarbeitung von Fragekarten und
Fragebogen wurde eine besondere Commission ernannt.
*
Der Bericht über den zu Berlin von 24. bis 27. Mai 1899
abgehaltenen Congress zur Bekämpfung der Tuber
c u 1 o s e als Volkskrankheit, redigirt von Dr. P a n n w i t z
und herausgegeben von der Congressloitung, ist nun in Buchform,
855 Seiten stark, erschienen.
*
Nach einem vorliegenden ersten Hefte der „B i b 1 i o g r a p h i a
medica“ wird nun in Frankreich der Versuch gemacht den „Index
medicus“ wieder neu aufleben zu lassen. Verleger für dieses Unter¬
nehmen, welches von Bau do ui n redigirt wird, ist das Institut de
Bibliographie zu Paris.
*
Im Verlage von Ambrosius Barth in Leipzig sind_fol-
gende Compendien neu aufgelegt erschienen : P a r e i d t, Zabnheilkundo
(dritte Auflage) ; K r ü c h e, Allgemeine Chirurgie (siebente Auflage)
und das diagnostisch-therapeutische Vademeeum, zusammengestellt von
Schmidt, Friedheim, Lamhofer und Donat. (4. Auflage.)
*
Das „Taschenbuch der medicinisch-klinischen Diagnostik“, heraus¬
gegeben von Seifert und M filier ist bei Bergmann in Wies¬
baden in 10. Auflage erschienen.
*
Sanitätsve r hält n isse bei der Mannschaft des k.u.k. Heer es
im Monat Decemb er 1899. Mit Ende November 1899 waren krank ver¬
blieben bei der Truppe 2185, in Heilanstalten 8327 Mann. Kranken¬
zugang im Monat December 1899 16.724 Mann, entsprechend pro Mille
der durchschnittlichen Kopfstärke 61. Im Monat December 1899 wurden
an Heilanstalten abgegeben 7733 Mann, entsprechend pro Mille der
durchschnittlichen Kopfstärke 28. Im Monat December 1899 sind vom
Gesammtkrankenstande in Abgang gekommen 18.296 Mann, darunter als
diensttauglich (genesen) 16.102 Mann, entsprechend pro Mille des
Abganges 880, durch Tod 64 Mann, entsprechend pro Mille des Ab¬
ganges 3 50, beziehungsweise pro Mille der durchschnittlichen Kopf¬
stärke 0 23. Am Monatsschlusse sind krank verblieben bei der Truppe
1623, in Heilanstalten 7317 Mann.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 7. Jahreswoche (vom 11. Februar
bis 17. Februar 1900). Lebend geboren : ehelich 684, unehelich 350, zusammen
1034. Todt geboren: ehelich 32, unehelich 30, zusammen 62. Gesammtzahl
der Todesfälle 607 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
19 2 Todesfälle), darunter an Tuberculose 122, Blattern 0, Masern 8,
Scharlach 4, Diphtherie und Croup 4, Pertussis 3, Typhus abdominalis 0,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 3, Neu¬
bildungen 49. Angezeigte Infectionskrankheiten: Blattern 0 (=), Varicellen
109 ( — 36), Masern 291 ( — 87), Scharlach 27 ( — 25), Typhus abdominalis
5 (=), Typbus exanthematicus 0 (=), Erysipel 32 ( — 1), Croup und
Diphtherie 55 ( — 1), Pertussis 59 ( — 12), Dysenterie 0 (=), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 3 ( — 8), Trachom 0 ( — 2), Influenza 3 ( — 1).
Freie Stellen.
Der »Oesterreichisch-ungarische Consular-Correspondenz« ist folgende
Zuschrift des k. u. k. Consulates in Port Said zugegangen:
Ausschreibung von Arztesstellen in Suez.
Der internationale Sanitäts-Conseil in Alexandrien
schreibt einen Concurs aus zur Besetzung einer Arztesstelle in Suez mit
einem monatlichen Gehalte von 22 — 28 L. E. (circa 270 — 350 fl. ö. W.)
und eine gleiche Stelle für eine Aerztin mit demselben Gehalte. Diesbezüg¬
liche Eingaben können direct an den Sanitäts-Conseil in Alexandrien ge¬
richtet werden, wo auch die näheren Bedingungen zu erfahren sind.
Bei der k. k. Tabakfabiik in Bautsch (Mähren) gelangt die
Stelle eines Fabriksarztes in der II. Kategorie (Jahreshonorar
2200 Kronen), beziehungsweise provisorisch in der III. Kategorie (Jahres¬
honorar 1600 Kronen), in jedem Falle verbunden mit einem Fuhrenpauschale
von 600 Kronen, zur Besetzung. Concurstermin 15. März 1900. Die voll¬
ständigen Kundmachungen können in den Sanitäts-Departements der Statt-
haltereien in Brünn und Prag, sowie bei der Tabakfabrik in Bautsch und
der General-Direction der k. k. Tabakregie in Wien eingesehen werden.
Wien, am 17. Februar 1900.
Neu systemisirte Stelle eines Landes-Sanitätsinspectors für
Tirol und Vorarlberg mit den Bezügen der VII. Rangsclasse der Staats¬
beamten und dem Reisepauschale jährlicher 1600 Kronen. Bewerber um
diese Stelle, von welchen die Kenntniss der beiden Landessprachen gefordert
wird, haben ihre mit dem Geburts- und einem Gesundheitszeugnisse, ferner
mit dem Nachweise des erlangten medicinischen Doctorgrades, der ab¬
gelegten Physicatsprüfung, der bisherigen Dienstleistungen und allfälliger
fachwissenschaftlicher Arbeiten, sowie der eventuellen Absolvirung specieller
Curse über Hygiene und deren Zweige documentirten Gesuche, — inso¬
weit sie dem Stande der Staatsbeamten angehören, im vorgeschriebenen
Dienstwege — bis längstens 15. März 1. J. beim k. k. Statthalterei-
Präsidium in Innsbruck einzubringen.
Gemeindearztesstelle in der aus den Gemeinden Pischelsdorf
und St. Georgen bestehenden, 1725 Einwohner zählenden Sanitätsgemeinde
Pischelsdorf, Oberösterreich. Mit dieser Stelle ist eine Bestallung von
480 Kronen verbunden.
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
245
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte,
INHALT:
Officielles Protokoll (1er k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 2. März 1900.
Verhandlungen der Wiener dermatologischen Gesellschaft. Sitzung
vom 24. Januar und 7. Februar 1900.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in München.
Vom 17.— 22. September 1899. (Fortsetzung.)
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
Sitzung vom 2. März 1900.
Vorsitzender: Hofrath Chrobak.
Schriftführer: Prof. R. Paltauf.
A. Administrative Sitzung.
Der Schriftführer theilt mit, dass 37 Wahl Vorschläge, und zwar
zwei für correspondirende, 35 für ordentliche Mitglieder eingelangt
sind; von letztem waren zwei verspätet eingelangt und konnten ebenso
wie vier weitere, welche nicht den statutarischen Vorschriften ent¬
sprachen, vom Verwaltungsrathe nicht in die Wahlliste aufgenommen
werden. Letztere enthält somit zwei correspondirende und 29 ordent¬
liche Mitglieder; die Namen werden verlesen.
Der Verwaltungsrath hat zu Scr utatoren die Henen
Regierungsrath v. Frisch, Dr. Khautz und Dr. Pas chkis ge¬
wählt; als Delegirte des Plenums empfiehlt der Vorsitzende Dr. 1 e-
leky und Dr. Eisenschitz. Die Versammlung ist einverstanden.
Der Verwaltungsrath empfiehlt ferner zur Annahme das Refeiat
über die Frage der Gestaltung des österreichischen internationalen Ur¬
heberrechtes (Beitritt von Oesterreich zur Berner Convention), welches
von Dr. Adler verfasst, vom Comite einstimmig angenommen
worden war. Dasselbe gipfelt in folgender Ueberlegung und dem
Anträge:
„Der Standpunkt, welchen die Gesellschaft der Aerzte bei ..Be¬
antwortung dieser Frage einzunehraen hat, ist durch die Rücksicht¬
nahme auf die medicinische Literatur gegeben. Es kommen demgemäss
zwei Gruppen von Interessenten in Betracht: Die Autoren medicinischei
Werke auf der einen, die Aerzte und die Studenten der Medicin auf
der anderen Seite. Das Verlangen der Autoren medicinischer Werke
nach einem intensiveren Schutze ihrer Urheberrechte als derjenige ist,
welchen sie gegenwärtig geniessen, ist schon deshalb ein berechtigtei ,
weil — mit wenigen Ausnahmen — der materielle Lohn, welcher aus
der Publication medicinischer Werke flieset, ein verhältnissmässig
geringer ist und in der Regel mit der aufgewandten Mühe und Albeit
in gar keinem Verhältnisse steht. Ursache hievon sind die gewöhnlich
hohen Herstellungskosten medicinischer Werke und die geringe Höhe
der Auflage, bedingt durch den relativ kleinen Kreis von Gonsumenten.
Der österreichische Autor ist überhaupt nur in Frankreich, Gross¬
britannien, Italien und Deutschland geschützt, in allen anderen Landein
können seine Schriften ungestraft nachgedruckt oder übersetzt
werden.
Die zweite Interessentengruppe ist die der Aerzte und Studenten.
Diese Gruppe ist aber viel zu klein, als dass eine , erschwerte Er¬
reichung des idealen Endzweckes alles literarischen Schattens, die Ver¬
hinderung des Eindringens in die breitesten Schichten der Bevölkerung
sich auf Sie beziehen könnte.
Es würde für diese Interessentengruppe keinen erheblichen
Schaden mit sich bringen, wenn den fremdländischen Autoren bei uns
ein weiterreichender Schutz zu Theil würde, weil 1. Oesterreich mit
den vier bedeutendsten der der Berner Convention beigetretenen Staaten
ohnehin sich im Reciprocitätsverhältnisse befindet, und weil 2. ein hoch-
entwickeltes Zeitungswesen für die Propagirung der Fortschritte des
Auslandes auf medicinischem Gebiete genügend Sorge trägt.
Während also das berechtigte Interesse der Autoren für den
Anschluss an die Berner Convention spricht und ein erhebliches In¬
teresse anderer Kreise gegen diesen Anschluss nicht ins Feld gefüllt t
werden kann, erscheint schon im Interesse des Ansehens unseiei
Monarchie der Anschluss an die Convention, welcher die meisten Cultur-
staaten angehören, dringend geboten.
Die k. k. Gesellschaft der Aerzte spricht sich daher mit aller
Entschiedenheit für den Anschluss an die Berner Convention aus.
Das Referat wird einstimmig angenommen.
Der Präsident theilt mit, dass die Gesellschaft der Autoien,
Componisten und Musikverleger in Wien ihr ausführliches Referat über
dasselbe Expose des k. k. Justizministeriums der k. k. Gesellschaft
der Aerzte übermittelt hat. Es liegt im Lesezimmer auf. Dasselbe
spricht sich in sehr eingehender Weise für den Anschluss Oesterreichs
an die Berner Convention aus.
Der Vorsitzende bringt eine Zuschrift des Herrn Docenten
Dr. E. Schiff zur Kenntniss, in welcher derselbe die k. k. Gesell¬
schaft der Aerzte zur Besichtigung seines Institutes für Radiographie
und Radiotherapie für Montag den 12. März, 6 Uhr Abends, einladet.
Das Institut befindet sich : L, Bauernmarkt 10.
Der Präsident theilt mit, dass hinsichtlich einer im Beginne dieses
Jahres anonym im Beschwerdebuch Ausdruck gegebenen Beschwerde über
das Eindringen der Küchengerüche aus dem Souterrain in die Parterre*
localitäten durch Anbringen eines Luftabzugcanales Abhilfe geschaffen
worden ist; er ersucht jedoch, solche Wünsche nicht unter dem Mantel
der Anonymität vorzubringen, sondern zu unterzeichnen.
B. Wissenschaftliche Sitzung.
Prof. Lang: Um ein sicheres Urtheil über irgend eiue Lupus¬
behandlung, sei es welche immer, zu erlangen, muss man die be¬
treffenden Kranken in fortwährender Evidenz halten. Der Vortragende
ist diesem Principe bis zum heutigen Tage treu geblieben. In einer
demnächst erscheinenden Arbeit seines früheren Assistenten, Herrn
Dr. Reiner, wird über 74 operirte Lupusfälle berichtet. Mehrere
derselben konnten nicht mehr eruirt werden; bei einigen trat Recidive
auf, und etwelche sind darum nicht zu zählen, weil seit der Operation
noch keine sechs Monate verstrichen sind. Nach der so gewonnenen
Tabelle blieben bis zur letzten Untersuchung frei von Recidiven: 3 Fälle
durch '/, Jahr, 2 Fälle durch 3/4 Jahr, 5 Fälle durch 1 Jahr, 2 Fälle
durch l'U Jahr, 4 Fälle durch l>/2 Jahre, 4 Fälle durch 13,4 Jahre,
1 Fall durch 2 Jahre, 3 Fälle durch 2 '/4 Jahre, 3 Fälle durch
2 1/2 Jahre, 1 Fall durch 3 Jahre, 1 Fall durch 33/4 Jahre, 1 Fall
durch 4 Jahre, 3 Fälle durch 5 Jahre, 1 Fall durch 5’/4 Jahre,
2 Fälle durch ö1/* Jahre und 1 Fall durch 63/4 Jahre.
Es blieben somit recidivfrei 21 Fälle bis zu zwei Jahren und
16 Fälle während eines Zeitraumes von über zwei bis über sechs
Jahren. Aus diesen Zahlen ist der unschätzbare Werth der operativen
Behandlung des Lupus zu entnehmen; sie ermuntern aber auch zur
eifrigen Pflege der plastischen Deckung der gesetzten Defecte. Dei
Vortragende stellt hierauf einige Plastiken vor:
1. Ein 20jähriges Mädchen, bei dem ein Lupus der linken
Nasenhälfte Ende November 1899 exstirpirt und der fast 4 cm im
Durchmesser haltende Defect durch einen stiellosen Lappen, dem linken
Oberschenkel entnommen, gedeckt wurde. Die Einheilung erfolgte
geradezu in idealer Weise, wie man aus der Geschmeidigkeit, Ver¬
schieblichkeit und Faltbarkeit entnimmt.
2. Bei dem 26 Jahre alten Herrn wurde ein Lupus der rechten
Hand exstirpirt, der vom Metacarpus bis über das erste Iuterphalangeal-
gelenk reichte und beide Seiten der ersten Phalanx occupirte. Dei
zurückgebliebene Defect betrug 10 cm in der Länge, 6 cm in der
Breite, und wurde durch einen stiellosen Lappen, . gleichfalls dem
Schenkel entnommen, gedeckt. In diesem Falle stiessen sich zwar
einzelne kleine Partikelchen des Lappens ab, doch ist die Haut zum
allergrössten Theile gut erhalten, die Follikel sind kenntlich, die Be¬
weglichkeit des Fingers ungehindert.
3. Bei einem 28jährigen Manne musste wegen Lupus der Ohr¬
muschel, der bis an den Gehörgang reichte und auch die Haut hinter
dem Ohre und unter dem Läppchen an der Wange occupirte, ein
Defect gesetzt werden, der die halbe Ohrmuschel betraf. Dieselbe
wurde durch einen hinter dem Ohre und seitlich vom Halse ent¬
nommenen Lappen nach entsprechender Zurichtung ersetzt und, wie
man sich überzeugen kann, muss der plastische Ersatz als gelungen
angesehen werden. .... . •
4. Bei dem 42 Jahre alten Manne fand im August vorigen
Jahres durch Umstürzen einer Petroleumlampe eine ausgedehnte Ver¬
brennung des linken Armes statt. Sie betraf die untere Hälfte des
Oberarmes und den ganzen Vorderarm bis über den Handrücken.
Patient befand sich im Wiedener Spitale, woselbst bis zum November
an der Streckseite Alles zur Ausheilung gelangte; an der Beugesei c
jedoch, wo die Zerstörung die ganze Dicke der Haut und die untei-
liegende Fascie betroffen hatte, lag eine granuliren de Fläche vor, die
nur sehr langsam vernarben wollte. Hätte man hier die Uebernarbung
abgewartet, so wäre die Folge ein Heranziehen der Vorderarmes geg n
den Oberarm gewesen und eine spitzwinkelige Stellung im Ellbogen
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Kr. 10
246
gelenke durch ankylosirenden Narbenzug. Um dem vorzubeugen, wurde
die ganze granulirende Rasis sammt dem schwieligen Narbenrande bis
auf die Musculatnr abpräparirt und in die Beugeseite hinein ein dem
Stamme entnommener Lappen eingeheilt. Derselbe misst 280 cm~, der
Rest der granulirenden Fläche am Vorderarme wurde gethierscht.
Beugung und Streckung ist im freiesten Ausmasse möglich und der
Manu nunmehr im Stande, seinem Schlosserhandwerk nachzugehen.
5. Endlich demonstrirt Prof. Lang einen bedauernswerthen,
30 Jahre alten, im Wachsthum sehr zurückgebliebenen Kranken mit
ausgedehntem serpiginösem Lupus am Kopfe, Stamme und den rechten
Extremitäten. Die serpiginöse Form kann grössere Ausbreitungen als
irgend eine andere erlangen, weil der Lupus gleichsam nomadisirend
sehr grosse Hautflächen verödet. So paradox es im Anblick dieses
Falles klingt, bemerkt der Vortragende, so ist es doch wahr, dass
nach seiuen Erfahrungen gerade diese Form, nämlich die serpiginöse,
die günstigsten Chancen für die operative Behandlung bietet; freilich
darf man nicht zuwar.ten, bis die Krankheit diese Ausdehnung er¬
langt hat.
Emil Schwarz demonstrirt einen Fall von hysterischer
Arthralgie, welche durch eigentümliche Crepitationsgeräusche ein
organisches Gelenksleiden vortäuscht. Bei der 22jährigen Patientin be¬
stehen seit sechs Jahren hysterische Anfälle. Vor vier Monaten ver¬
spürte sie plötzlich im rechten Kniegelenk einen stechenden Schmerz,
und fortan war das Gehen unmöglich geworden. Als sie in die Behand¬
lung des Vortragenden an dessen Abtheilung im Kaiser Franz Josef-
Ambulatorium kam, war der Befund folgender: Vollkommene Fixiruug
des rechten Kniegelenkes in Streckcontraction, ebenso auch im Sprung¬
gelenke. Complete Auästhesie der rechten Unterextremität iu Strumpf¬
form, von den Fussspitzen bis zum Kniegelenk, woselbst sich die
anästhetische Zone scharf kreisförmig unterhalb der Tuberositas libiae
abgrenzte. Das Kniegelenk weder activ noch passiv beweglich, schmerz¬
hafte Druckpunkte daselbst über dem Condylus internus und dem
Capitulum fibulae, welche jedoch die Haut und nicht die tiefen Theile
betreffen. Hypästhesie der gesammten rechten Körperhälfte, Fehlen
des Schlund- und Cornealreflexes. Nach hypnotischer Suggestion wird
das Kniegelenk beweglich, so dass PatienLn aufstehen und, wenngleich
mühsam, ohne Stütze gehen kann. Doch wird sowohl bei activer als
passiver Bewegung, sowohl bei der Beugung, mehr jedoch bei der
Streckung im Kuiegelenk ein lautes Krachen hörbar. Hiedurch wurde
die Frage nahe gelegt, ob nicht doch ein organisches Leiden im Gelenke
vorliege. Die radiographische Untersuchung (Dr. Kienböck) ergab
völlig normalen Befund. Wenn man ferner die passiven Bewegungen
im Kniegelenke sehr rasch nacheinander, namentlich bei Fixation des
Oberschenkels, ausführte, blieb das Knacken im Gelenke aus. Die
nähere Untersuchung zeigte, dass die Patientin das Geräusch spontan
durch Einschnappen des Gelenkes erzeugt, indem sie bei jeder Bewe¬
gung die Antagonisten energisch anspannt und im gegebenen Momente
ganz plötzlich erschlafft. Bei langsameren Bewegungen fühlt man den
Widerstand der Antagonisten sehr deutlich, das Gelenk ist sehr schwei-
passiv zu beugen oder zu strecken. Boi sehr rascher Wiederholung
schwindet derselbe und auch das Krachen mit ihm. Die Patientin ist
eben in diesem Falle nicht in der Lage, den Bewegungen mit ihrem
Willenspulse genügend rasch zu folgen, um die Muskeln iu den ent¬
gegengesetzten Sinne anzuspannen. Das Gelenk erschlafft völlig und
die lauten, auch auf Distanz hörbaren Geräusche sind verschwunden.
Die genauere Anamnese ergibt, dass dieses Krachen schon lange,
D/a Jahre vor dem Auftreten des Schmerzes, bestanden habe. Es ist
daher anzunehmen, dass bei der exquisit hysterischen Psyche der Pa¬
tientin eine vielleicht auf „Diathese de contracture“ beruhende Eigen-
thümlichkeit oder schlechte Gewohnheit gleichsam im Wege des
psychischen Reflexes den Zustand der hysterischen Arthralgie hervor¬
gerufen hat.
Docent Dr. Max Herz hält seinen angekündigten Vortrag:
Die heilgymnastische Behandlung von Erkrankun¬
gen des Centralnervensystems. (Erscheint demnächst aus¬
führlich.)
Verhandlungen der Wiener dermatologischen Gesellschaft.
Sitzung vom 24. Januar 1900.
Vorsitzender : Kaposi.
Schriftführer: Kreibich,
Neuman n stellt vor :
1. Einen 33jährigen Mann aus Croatien mit Perforation des
harten Gaumens und narbigen A eränderungen des Pharvnx in Folge
von tertiärer Lues. Der Mann stammt aus einem Orte Tabar, gelegen
an der Militärgrenze im süd-westlichen Theile Croatiens, woselbst unter
dem Namen „skrljevo“ endemisch sich eine Krankheit findet, charak-
terisirt durch schwere ulceröse Veränderungen iu der Nase und Mund¬
höhle. Nach den Untersuchungen von v. Pernhofer, A u s p i t z und
Zechmeister handelt es sich hier meist um uubehandelte Formen
schwerer Syphilis, die Neumann genauer zu studiren Gelegenheit
hatte, und gegen welche er sanitäre Massnahmen zu treffen in der
Lage war.
2. Einen 26jährigen Mann mit Herpes iris an den Vorder¬
armen.
3. Einen 25jährigen Kranken mit crustösem Syphilid am Kopfe.
Infection erst erfolgt im Sommer 1899.
4. Einen 25jährigen Mann mit Naevus vasculosus der rechten
Gesichtshälfte von den Augenlidern bis zum Unterkiefer reichend. Im
Bereiche des Naevus die Haut wulstförmig verdickt und das Krankheits¬
bild in Bezug auf Diagnose erschwert durch einen seeuudären folli-
culären Entzlindungsprocess.
Kaposi bemerkt hiezu, dass hier ein Naevus mollusciformis
vorliegt.
Lang bemerkt, dass bei Mitbetheiliguug der Nerven an der
Geschwulstbildung die Nerven selbst intact bleiben.
Neumann stellt vor:
5. Einen 54jährigen Mann mit einem Carcinoma faciei in lupo
der rechten Wange, Oberlippe und Nasenhälfte. Die Geschwulst ist
faustgross, jauchig zerfallen und von 1—2 cm hohen grobhöckerigen
Rändern von harter Consistenz umgeben. Das Carcinom sitzt in einer
noch von Lupus eingenommenen Haut, in weiterer Entfernung findet
sich Narbe nach Lupus. Der Lupus besteht seit frühester Kind¬
heit, der Carcinom hat sich innerhalb kurzer Zeit rapid ent¬
wickelt.
Kaposi verweist auf die rapide Entwicklung des Lupuscar-
cinoms, seine Malignität und rasche Metastasirung.
Neumann stellt vor:
6. Eine Frau mit Lupus des rechten Nasenflügels..
7. Eine 32jährige Frau mit Gumma nasi, das Gumma über¬
greifend auf die Oberlippe. Perforation des knöchernen Nasen¬
septums, Nasenrücken sattelförmig eingesunken. Nasenbein gelockert.
8. Eine Frau mit concentrischen Kreisen an den Vorderarmen,
die in ihrer Peripherie aus miliaren Knötchen gebildet sind. Es stellt
ein circinäres Syphilid dar mit grosser Aehnlichkeit mit einem Herpes
tonsurans.
Kaposi bemerkt dazu, dass es sich bei diesen Ringformen nicht
um Roseola, sondern um circinär angeordnete, flach papulöse Efflo-
rescenzen handle, deren Infiltrat sehr wenig sichtbar ist. Roseolaflecke
können sich nicht vergrössern.
Neumann führt aus, dass das orbiculäre Syphilid sich be¬
sonders an Stellen findet, wo Talgdrüsen in grösserer Menge vor¬
handen sind.
Lang meint, dass die Roseola annularis nicht blos hervorgeht
aus Gruppirung von Papeln, sondern, dass es eine wirkliche Roseola
annularis als eine Spätform der Lues gebe.
Finger spricht sich ebenfalls für das Vorhandensein kreis¬
förmiger Roseolaflecke aus. Die Roseola könne sich auch vergrössern.
Nach Fournier finden sich dieselben als Spätrecidiven.
Neumann unterscheidet mehrere Formen von Roseola annu-
lata: die erste Form kann sich entwickeln aus einem nicht behandelten
maculösen Syphilid, die zweite Form stellt eine Spätrecidive im> Sinne
F o u r n i e r’s dar. >
Lang verweist gleichfalls auf die Richtigkeit der Fournier-
schen Beobachtung.
Ehr mann erinnert an die von Unna beschriebenen Neuro-
syphilide.
U 1 1 m a n n verweist ebenfalls auf den Zusammenhang der
Roseola annularis mit einer von Talgdrüsen reich durchsetzten Haut.
Im Gegensätze dazu betonte
Neuman n, dass die Erkrankung dieser Partien als eine
Localisation der Syphilis an weniger widerstandsfähigen Stellen auf¬
zufassen ist.
Kaposi stellt vor einen Naevus hemilateralis, Gruppen von
rüthlich-braunen Knötchen zwischen kleinen atrophischen Narben an
der rechten Stirnhälfte, der rechten Halsseite, ferner in einer im
Zickzack verlaufenden, vielfach unterbrochenen Linie an der rechten
Rückenfläche, Steissbein, Aussenfläche der Waden und einen Naevus
striatus verrucosus in der Mittellinie der Planta pedis von der Mitte
zur vierten Zehe reichend.
Matzenaue r stellt den bereits einmal vorgestellten Fall von
Pemphigus vegetans vor.
N o b 1 zeigt einen Fall von Lues gummosa ulcerosa der
Handhöhle.
Kaposi einen Fall von lues circinnata. Auf der Stirne drei
bis vier kreisrunde, mit Krusten bedeckte Herde, ein Herd zeigt einen
doppelten Kreis.
Reiner (Abtheilung Lang) stellt vor:
1. Einen Herpes zoster.
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
247
2. Einen Fall von Psoriasis wegen der Aehnlichkeit mit einem
papulös-squamösen Syphilid.
3. Einen Fall von Lues orbicularis - des Penis.
4. Einen Fall von Lupus erythematodes im Gesichte und am
Handrücken und an beiden Fussrücken wegen Aehnlichkeit mit
Erythema multiforme nodosum. Krankheit besteht acht Jahre. \
5. Ein Fall von Onychie und
6. Ein Fall von Psoriasis universalis, behandelt mit 5%iger
Eurobinsalbe mit conseeutivem, toxischem Erythem.
Kaposi stellt vor ein Epithelioma frontis in der Ausdehnung
von der Mittellinie bis zum Ohre.
Kaposi stellt vor einen Fall von Herpes iris.
Lang stellt vor ein Mädchen mit inoperablem Lupus beider
Wangen, der Oberlippe und Nase. Derselbe fordert, dass Patientin
nach Röntgen* Behandlung in Bezug auf Dauerresultate in Evidenz
gehalten werden soll und hebt gegenüber der R ö nt g e n - Behandlung
die Vortheile der F i n s e n’schen Methode hervor, indem zur Strahlen¬
wirkung auch noch die Wirkung des mechanischen Druckes sich hinzu¬
gesellt, denn Finsen empfiehlt, mit Linsendruck die behandelte
Stelle zu anämisiren. Lang hat beim vorgestellten Mädchen Linsen¬
druck allein ohne Bestrahlung wirken lassen und eine bedeutende
Besserung bemerkt. Lang tritt sehr für die Fi n s e n - Methode ein
und empfiehlt, an grösserer Zahl von Fällen namentlich die Wiikung
des Druckes zu erproben. Die Druckwirkung ist allerdings zu ver¬
gleichen mit der Druckwirkung unter der Pflastertherapie.
Freund bemerkt, dass die Sonnenlichtbehandlung in Wien
keine grosse Aussichten habe, weil die wirksamen ultiavioletten
Strahlen durch die Rauchschichte absorbirt werden. Man müsste an
Stelle der Glaslinse Quarzlinsen verwenden, besser seien die Aus¬
sichten bei Bogenlichtbehandlung.
Uli mann bemerkt, dass die F i n s e n’sche Fabrik thatsächlich
Bergkrystall linsen liefert.
Schiff glaubt, dass die von Lang empfohlene Anämisirung
durch Druck in der Richtung besonders einwirke, dass die Lessening
durch Veränderung der Blutcirculation bewiikt wird.
Kaposi bemerkt, dass die günstige Wirkung der Druck¬
behandlung auf Lupus seit lange bekannt sei, doch schwinden nur die
Infiltrate, während die Lupusknötchen bestehen bleiben.
Schiff hebt hervor, dass die R ö n t g e n - Behandlung besser
für ausgebreitete, die Finsen Behandlung für locale Herde ge¬
eignet sei.
*
Sitzung am 7. Februar 1900.
Vorsitzender : Kaposi.
Schriftführer : Kreibich.
Ehr mann demonstrirt einen Fall von Lupus erythema¬
todes, der nach viermoiiatlicher Behandlung in seinem Centrum eine
hellergrosse, seichte Exuleeration zeigt, wie sie sonst nie bei Lupus
erytb. vor kommt, so dass man an eine Misch form, die sich zum Theil
dem Lupus vulg. nähert, denken muss.
Kaposi betont, dass es keinen Uebergaug von Lupus erythem.
zu Lupus vulgaris gebe und dass ein solcher Substanzverlust nur durch
mechanische Reizung zu Stande kommen könne.
Lang hat in seltenen Fällen das Nebeneinanderbestehen beider
Lupusformen gesehen, hält es aber blos für ein zufälliges.
Neumann sah bei Lupus eryth. der Kopfhaut durch strafte
Spannung der entstehenden Narben seichte Substanzverluste entstehen.
Ein gleichzeitiges Bestehen von Lupus vulgaris und eryth. hat er noch
nie beobachtet. Auch
Kaposi sah trotz der grossen Zahl von Beobachtungen noch
nie ein gleichzeitiges Vorkommen der zwei Erkrankungen.
Kreibich stellt vor eine vor vier Jahren a u s ge¬
führte Plastik nach Exstirpation von Lupus vulgaris an der
rechten Wange mittelst eines stiellosen Lappens vom Oberschenkel.
Der Lappen ist trotz an zwei Stellen eingetretener Nekrose ideal
eingeheilt.
Lang weist bezüglich der schwierigen Einpflanzung und des
Erfolges stielloser Lappen auf seine zahlreichen Demonstrationen in
der Gesellschaft hin.
Spiegle r demonstrirt einen in der Literatur bisher noch
nicht mitgetheilten Sitz des syphilitischen Primär affects
am hinteren linken Gaumenbogen bei einem 25jährigen
Mädchen vor. Bezüglich des Infectionsmodus ist nichts bekannt. Die
localen Lymphdrüsen in der Unterkiefergrube sind nicht auffallend
vergrössert.
Lang zeigt im Anschlüsse an K r e i b i c h’s Fall einen Pa¬
tienten, bei dem ein lupöser Herd am Dorsum und den Seiten¬
flächen des rechten Mittelfingers im Ausmasse von 1 1 cm Länge und
6 cm Breite exstirpirt und durch einen stiellosen Lappen vom linken
Oberschenkel ersetzt wurde. Ideale Heilung und vollständige Gebrauchs-
fähigkeit des Fingers.
Spitzer stellt aus der .Abtheilung Lang vor:
1. Einen Mann mit ulcer irtem Gumma des Stirn¬
beins', das in seiner ganzen Dicke der Nekrose anheimfiel. Nach
Extraction des auch einen Theil der Lamina interna enthaltenden
Sequesters lag die pulsirende Dura mater blos; die Pulsation ist auch
in der jetzt granulirenden Wundfläche noch zu sehen. Die bis nun
drei Monate sistirenden, anfänglichen epileptiformen Anfälle sind in
den letzten Tagen wieder aufgetreten und weisen auf einen noch nicht
genau localisirten Gehirnprocess hin.
.2. Eine ungewöhnliche Form von P a 1 m a r s y p h i 1 i d, das in
seinem Aussehen ganz an Erythema multiforme erinnert, mit dem
beim Mangel anderer syphilitischer Symptome eine Verwechslung
möglich ist.
3. Einen 32jährigen Candidaten der Mediciu, der am ganzen
Körper neben serpiginös angeordneten Papeln und alten Pigmen-
tirungen vorzugsweise an beiden Oberschenkeln zum Theil sehr tief¬
greifende Narben zeigt, die von den zahlreichen Morphiuminjectionen
herrühren, die sich der Patient als Morphinist selbst machte.
Neumann stellt vor :
1. Einen Lupus exfoliativus von Flachhandgrösse,
scharfer Begrenzung an der hinteren Halsfläche bei t einem robusten
Manne.
2. Gumma t a linguae et laryngis bei einem 58jährigen
Beamten, der vor 40 Jahren Syphilis acquirirt hatte und seither frei
von Erscheinungen war. Im rückwärtigen Dritttheil der Zunge findet
sich ein nussgrosser Tumor, dessen Centrum kraterförmig zerfallen und
am Rand derb infiltrirt ist. Die Zungenaffection besteht angeblich sechs
Wochen.
3. Eine 25jährige Kranke mit Roseola annularis. Seit
der vor sechs Jahren erfolgten Infection war dieselbe fast alljährlich
mit dieser immer recidivirenden Form in Behandlung. Auch jetzt in der
Nacken- und Lumbalgegend, an den Oberschenkeln und Kniebeugen
über thaler- bis flachhandgrosse, kreisrunde, bandförmige Roseolen mit
normalem Hautcentrum.
Kaposi bemerkt auch heute hiezu, dass dies keine Roseolen,
sondern ein deutliches Infiltrat seien, das aus Papeln hervorgehe.
Matzenauer demonstrirt bei einem 48jährigen Manne ein
sehr derbes Carcinoma der Glans penis innerhalb eines pbimotisclien
Präputialsackes und weist dabei auf die differentialdiagnostische
Schwierigkeit dieses Falles und die schlechte Prognose des leniscai-
cinoms überhaupt hin.
Lang erwähnt hiezu zwei von ihm beobachtete Fälle, darunter
ein Carcinom auf dem Boden einer Sklerose.
Kaposi zeigt zu diesem Fall einen 84jährigen, Mann, bei .dem
die ganze- Glans und vordere Penis hälfte durch ein üppig
wucherndes, über faustgrosses Carcinom substituirt ist. Auch die In¬
guinaldrüsen sind beiderseits ergriffen. ,
Nobl demonstrirt ein gruppirtes, squamöses Syphi¬
lid des Naseneinganges.
Kaposi stellt einen in seiner Art ganz allein stehenden Fall
von Lupus disseminatus vor. Das elfjährige MädeKen, flii • sein
Alter mittelgross und kräftig, leidet seit fünf Jahren an einem lungus
genus dextri, der mit winkeliger Ankylose nach Subluxation der Tibia
ausheilte. Vor zwei Wochen wurde Streckung und Fixirung des Ge¬
lenkes vorgenommen. Ungefähr vier bis fünf Jahre soll auch die
jetzige Hauterkrankung bestehen; doch wurde sie im Ganzen wenig
beachtet. Wo sie begann, ist nicht genau zu ermitteln; doch sollen
einzelne Knötchen auch spontan sich rückgebildet haben.
Es finden sich jetzt am ganzen Körper zerstreut, dichter am
Halse und den Extremitäten, zahlreiche, im Ganzen 145 linsen- bis
hellergrosse, runde Knötchen, welche scharf umschrieben tumoiaitig
protuberiren, braunroth sind und schlaffe Consistenz zeigen; die Haut
darüber nirgends exulcerirt. In der rechten Ellenbeuge ein thaleigiossei ,
in der Mitte eingesunkener Lupusherd. An der oberen Grenze des
Kniegelenkes drei eingezogene, mit dem Knochen verwachsene Naiben,
rückwärts eine ähnliche grössere, alle mit eingesprengten brauniothen
Knötchen.
Ist der Fall schon durch die Anzahl und Ausbreitung des 1 re¬
cesses merkwürdig, so kommt noch mehr der milde, langsame "\ erlauf
in Betracht, der auf die zahlreichen einzelnen kleineren Herde be¬
schränkt bleibt und an ihnen nicht den gewöhnlichen Fortschritt zu
Ulceration, Narbenbildung und Vergrösserung der Krankheitsherde
nimmt.
Lang möchte diesen Fall als hämatogene Infection ansehen.
Neumann weist auf den Mangel von Involutionserscheinungen
an den Lupusefflorescenzen trotz ihres langen Bestehens und die seltene
unicale Art des Falles hin.
Kreibich bespricht die Aehnlichkeit der fungösen Granu¬
lationen und des Lupusgewebes in ihrer pathologisch-anatomischen
248
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 10
Eigenart und dem seltenen Befunde von Tuberkelbacillen in denselben
und lässt die Frage offen, warum hier eben dem fungösen Gelenks-
processe entsprechend sich ein Lupus disseminatus und nicht eine
Miliartuberculose entwickelt hat.
Schiff und Freund demonstriren einen Fall von vier Jahre
behandelter, hartnäckiger und besonders intensiver Sykosis, die von
Herrn Assistenten Kreibich Ende November 1899 ihrer Röntgen-
Behandlung zugeführt wurde. Nach 20 Sitzungen erscheint die Gesichts¬
haut normal bis auf eine ziemliche Röthe, welche die Akne der Re¬
action darstellt, bei der die Bestrahlung unterbrochen wird.
Kaposi stellt vor:
1. Einen Herpes zoster frontalis bei einer 26jährigen
Frau, deren rechte Stirnhälfte von einer zum Theil schwärzlich ver¬
färbten Bläscheneruption eingenommen ist. Augenlider und Conjunctiva
geschwollen und ödematös. Cornea und Iris normal.
2. Ein Gumma der Stirnhaut bei einer 62jährigen Frau.
3. Herpes zoster sacro-cruralis, dessen häufiges Auf¬
tauchen in der letzten Zeit die alte Ansicht von dem zeitweisen epi¬
demischen Auftreten des Herpes zoster deutlich bestätigt.
4. Vitiligo nach Psoriasis. Bei einem 14jährigen Knaben
traten an Stelle der einzelnen Psoriasisefflorescenzen bei Fernhalten
von Chrysarobin und nur indifferenter Behandlung helle, scharf begrenzte,
pigmentlose Flecke.
5. Ichthyosis universalis bei einem 20jährigen kräftigen
Mann, dessen Eltern und elf Geschwister angeblich eine ganz normale
glatte Haut haben.
6. Einen Fall von Erysipelas perstans und Elephan¬
tiasis a r ab um. Das 14jährige Mädchen erkrankte vor vier Jahren
zum ersten Male an einer Schwellung der rechten Gesichtshälfte, die
seither einige Male wiederkehrte und seit August 1899 nicht mehr
zurückging.
Der vom Augenwinkel und dem Unterkieferrand bis zur hinteren
Medianlinie reichende Erkrankungsherd ist am Rande leicht elevirt,
nach innen zu bläulich-cyanotiscb, bei Berührung bretthart, an die
Unterlage fixirt, unbeweglich. Der Fingerdruck lässt eine deutliche,
langsam verschwindende Delle zurück. Durch die derbe Schwellung
aller Antheile der Ohrmuschel ist der Meatus aud. ext. vollständig
verlegt.
Die Eintrittspforte der Infection dürfte in einer Erkrankung des
äusseren Gehörganges, vielleicht auch in einer perforativen Mittel¬
ohrentzündung liegen, was derzeit noch nicht entschieden werden kann.
Ehrmann demonstrirt das histologische Präparat einer sj'phi-
litischen Lymphdrüse (Färbung mit Methylenblau) und weist nach einer
Beschreibung der Histologie der Lymphdrüse überhaupt auf die An¬
häufung von Lymphzellen in den Lymphsinus der Drüse hin. Dabei
zeigen zahlreiche der Lymphkörper deutliche Kerndegeneration, so dass
sich auch einzelne isolirte Trümmer der Kernzerfallsproducte in Form
der seinerzeit schlecht gedeuteten, stärker tingiblen Körperchen
finden.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
in München.
Vom 17. bis 22. September 1899.
(Fortsetzung.)
Section für Dermatologie und Syphilis.
Sitzung am 20. September 1899 Morgens.
Vorsitzender: Kollmann (Leipzig).
IV. v. Notthafft (München) : Ueber die Verminde¬
rung der Widerstandsfähigkeit des Körpers gegen¬
über Infectionen durch Erkrankungen der Haut und
der Harnwege. (Schluss.)
Es haben also gerade diejenigen Experimente, welche Verände¬
rungen des Blutes zeigen, die Widerstandsfähigkeit des Kaninchens
gegen Pneumococceninfection herabgesetzt. Andererseits konnten die
Pneumococcen bei denjenigen Krankheiten, welche ohne Blutverände¬
rungen einhergehen, keine Sepsis erzeugen. Redner ist nicht im Stande,
einem bestimmten Bluttheile einen schützenden Einfluss zuzuschreiben.
Er betont ausdrücklich, dass mau die gewonnenen Ergebnisse nicht
verallgemeinern dürfe, da Thier und Mensch sich ja verschieden ver¬
halten, hält sie aber für gut übereinstimmend mit den zuerst skizzirten
Erfahrungen der Dermatologen und Urologen und meint, es läge nahe,
daran zu denken, dass die Herabsetzung der Widerstandsfähigkeit des
Körpers gegenüber Infectionen bei gewissen Haut- und Harnwegen Er¬
krankungen vielleicht ebenfalls in einer Alterirung des Blutes ihren
Grund hat.
V. S i e b e r t (München) : Ueber Syphilis infantilis.
Auf Grund der negativen Ergebnisse, die alle Versuche über
das Resorptionsvermögen der gesunden Haut ergab, und auf Grund
anderweitiger Erwägungen wurde Prof. Welander in Stockholm
zu der Annahme geführt, dass die Schmiercur mit Quecksilbersalbe
im Wesentlichen eine Einathmungscur sei, dass das Quecksilber nicht
durch die Haut, sondern durch die Lungen in den Körper geräth.
Auf diesem Gedanken fussend, hat Welander versucht, die
mancherlei Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten der Schmiercur
dadurch zu umgehen, dass er das Quecksilber auf andere Weise zur
Einathmung bringt.
Er macht das in der Weise, dass er die Patienten mehrere
Stunden des Tages und während der Nacht in der Bettwärme Säcke
tragen liess, deren Innenseite er mit grauer Salbe bestrichen hatte.
Die W e l a n d e r’sche Methode hat sich rasch bei den Syphili-
dologen Anhänger verschafft und so hielt ich mich für berechtigt, dieselbe
in ihrer Wirksamkeit bei der hereditären Lues zu erproben, zumal
mehrere Gründe sie von vornherein bei Kindern besonders wirksam und
angebracht erscheinen Hessen.
1. Stellt diese Methode an die Anstelligkeit der Warteperson gar
keine Anforderung.
Ist man bei Patienten aus bemittelten Ständen nie recht klar,
ob und wie eine Schmiercur durchgeführt wird, so noch vielmehr bei
unbemittelten Leuten, die die Poliklinik aufsuchen.
2. Ist man nicht gezwungen, stark wirkende Mittel den Müttern
in die Hand zu geben, wie es bei Sublimatbädern oder innerlichen
Medicationen der Fall ist.
3. Sind die Patienten fortwährend in der Bettwärme, die auf
die Verdunstung des Quecksilbers befördernd wirkt.
4. Ist es beim Kinde eine verhältnissmässig grössere Oberfläche
als beim Erwachsenen, die die Verdunstung besorgen kapn.
*
Section für Chirurgie.
Referent: Wohlgemuth (Berlin).
11. Sitzungstag, Dienstag den 19. September, Vormittags.
Vorsitzender : Se. königl. Hoheit Prinz Dr. Ludwig' Ferdinand von
Bayern.
IX. K ii m mell (Hamburg) : Ueber circulare Naht der
G e f ä s s e.
Was die an Menschen ausgeführte Arterienlängsnaht anbetrifft, so
hat Israel die verletzte Arteria iliaca communis erfolgreich genäht
und Lindner die Arteria femoralis communis durch die Längsnaht
erfolgreich geschlossen. II a i d e n h a i n nähte eine Arteria axillaris, M a n-
teuffel eine Längswnnde der Arteria femoralis, der Münchener College
Ziegler eine Stichverletzung der Carotis mit Erfolg, auch Murphy
berichtet über gelungene Gefässnähte.
Die Möglichkeit der cireulären Naht ist wenigstens für die Arte¬
rien durch Thierexperimente bewiesen.
Bei den Menschen scheint dieselbe, soweit er aus der Literatur
ersieht, nicht ausgeführt worden zu sein. Vortragender hatte im Laufe
dieses Jahres Gelegenheit, bei einer Patientin ein circa 5 cm langes
Stück der careinomatös entarteten Arteria femoralis zu reseciren und die
Enden durch die Naht zu vereinigen. In einem zweiten Falle resecirte
er ein circa 1 cm langes Stück der careinomatös entarteten Vena femo¬
ralis und verschloss die Wunde durch circuläre Naht. Beide Patienten
genasen. (Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag;, den 9. März 1900, 7 Uhr Abends,
unter dem Vorsitze des Herrn Prof. v. ReilSS
stattflndenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Dr. Holzkneclit: Eine Demonstration.
Docent Dr. Kretz: Ueber Lebercirrhose.
Vorträge haben angeineldet die Herren: Prof. A. Politzer, Professor
Benedikt, Prof. Weinlecliner, Dr. J. Thenen, Dr. A. Pilcz, Ilofrath
Prof. Schnabel, Oberstabsarzt Docent Dr. Habart, Dr. A. Julies und
Docent Dr. Röthi.
Bergmeister. Pal tauf.
Wiener medicinisches Doctoren-Collegium.
Programm
der am
Montag, den 12. März 1900, 7 Uhr Abends,
im Sitzungssaal des Collegiums: I., Rothenthurmstrasse 21 23
unter dem Vorsitze des Herrn Dr. P. Mittler
stattfindenden
Wissenschaftlichen Versammlung.
Docent Dr. Adolf Jolles: Neue Mittheilungen aus dein Gebiete der
Methodik der Harnuntersuchung.
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, Jos. Gruber,
M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann,
R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt, A. v. Vog'1,
J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gussenbauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichseilbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redaction :
Telephon Nr. 3373. Redigjft VOI1 I)l‘. .416X1111(101' FFtieilK6l.
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Die „Wiener klinische
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Verlagshandlung :
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Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VI 1 1/1, Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang.
Wien, 15. März 1900.
Hr. 11.
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel : 1. Aus der III. medieinischen Universitätsklinik (Hofrath
Schrötter) in Wien. Ueber die sogenannte pericarditische
Pseudolebercirrhose (Fr. Pick). Von Dr. Victor Eisenmenger.
2. Hämatokolpos und Hämatometra in Folge von Atresia hymenalis
congenita. Von Dr. E. T o f f, Frauenarzt in Braila (Rumänien).
3. Aus der chirurgischen Abtheilung des Privatdocenten Dr. Alex.
Fraenkel an der Allgemeinen Poliklinik in Wien. Zur Dia¬
gnostik der Oesophagusdivertikel. Von Cand med. Victor Blum,
Hospitant der Abtheilung.
II. Referate: I. Ueber diätetische Behandlung der Verdauungsstörungen
der Kinder. Von Prof. Dr. Biedert. II. Ueber die sogenannte
Landkartenzunge im Kindesalter. Von Henry Böhm. III. Kinder¬
heilkunde in Einzeldarstellungen. Von Prof. Dr. Alois Monti.
IV. Lehrbuch der Kinderheilkunde für Aerzte und Studirende. Von
Dr. Bernhard B e n d i x. Ref. Escherich. — I. Beiträge
zur Frage der Volksheilstätten (IV). Von Dr. med. Hans
W e i c k e r. II. Ueber »infectiöse« Lungenentzündungen und den
heutigen Stand der Psittakosis Frage. Von Prof. Dr. Leichten-
stern. HI. Die Bedeutung der Lungenschwindsucht für die Lebens-
versicheruDgsgesellschaften. Von Paul C r o n e r, IV. Zur Be¬
kämpfung der Lungenschwindsucht. Von Dr. med. Theodor
Büdingen. V. Die Handhabung des Heilverfahrens bei Ver¬
sicherten durch die Hanseatische Versicherungsanstalt für Invali¬
dities- und Altersversicherung im Jahre 1898 und Ergebnisse des
Heilverfahrens bei lungenkranken Versicherten bis Ende 1898.
VI. Leitende Gesichtspunkte bei der Auswahl und Nachbesichti-
gung der in Heilstätten behandelten Lungenkranken im Bezirke
der Hanseatischen Versicherungsanstalt und Bemerkungen über
Sommer- und Wintercuren. Von Dr. A u g. Predöhl. VII. Die
Erfolge der Heilstättenbehandlung Lungenschwindsüchtiger, und
klinische Bemerkungen zur Tuberculosis pulmonum. Von Dr. F.
Reiche, vni. La Tuberculose est curable. Moyen de la recon-
naitre et de la guerir. Instructions pratiques k l’usage des families.
Par Dr. Elisee Ribard. Ref. v. W e i s m a y r.
III. Ans verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
| V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften nnd Congressberichte.
Aus der III. medieinischen Universitätsklinik (Hofrath j
Schrötter) in Wien.
Ueber die sogenannte pericarditische Pseudo¬
lebercirrhose (Fr. Pick).
Von Dr. Victor Eisenmenger.
Im Jahre 1896 hat Friedei Pick1) den Versuch ge¬
macht, ein neues Krankheitsbild unter dem Namen der peri-
carditischen Pseudolebercirrhose aufzustellen. Dasselbe charak-
terisirt sich im Wesentlichen dadurch, dass klinisch ein Sym-
ptomencomplex besteht, der eine gewisse Aehnlichkeit mit
dem der Cirrhose besitzt, nämlich hochgradiger Ascites bei
mangelnden oder geringen Beinödemen, während pathologisch¬
anatomisch als Grundlage der Erkrankung, eine chronische,
schwielige oder adhäsive Pericarditis gefunden wird.
Pick’s Anregung hat Erfolg gehabt. In dem kurzen
seither verstrichenen Zeitraum ist eine ganze Reihe von Pu-
blicationen erschienen, welche einschlägige Beobachtungen
bringen und der Mehrzahl nach den Vorschlag Pick’s voll¬
inhaltlich acceptiren, ja, es ist der Name sogar in einzelne
Lehrbücher aufgenommen worden.
Angesichts dieses Erfolges erscheint es berechtigt und
nothwendig, die Arbeit Pick’s einer eingehenden Kritik zu
unterziehen.
') F r i e d e 1 Pick, Ueber chronische, unter dem Bilde der Leber-
cirrhose verlaufende Pericarditis (pericarditische Pseudolebercirrhose). Zeit-
sclnift für klinische Mediein. 1896, Bd. XXIX.
Schon auf den ersten Blick drängt sieh ein gewichtiger
Einwand, allerdings mehr formaler Natur auf.
Eines der wesentlichen Merkmale des Begriffes der »peri-
carditischen Pseudolebercirrhose«, das sich schon im Namen
ausdrückt, ist ein, mehr oder weniger verzeihlicher, diagnostischer
Schnitzer. Die Ausdehnung der betreffenden Krankheitsgruppe
hängt demnach von der diagnostischen Begabung des betref¬
fenden Klinikers einerseits, andererseits von dem momentanen
Stande unserer Hilfsmittel zur Diagnose der Pericarditis ab.
Die Krankheitsgruppe ist also nicht bestimmt abgegrenzt,
und wenn der Fortschritt der Diagnostik uns einmal die Er¬
kennung aller Fälle von Pericarditis ermöglicht, muss sie ver¬
schwinden.
Ferner: Wer soll denn die Diagnose: »pericarditische
Pseudolebercirrhose« machen ?
Der Kliniker kann sie nicht machen, denn er weiss
nichts von der Pericarditis.
Der pathologische Anatom andererseits wird gar nicht in
Versuchung kommen, an eine Lebercirrhose zu denken. Man
könnte den Ausdruck höchstens als Correctur für den Kopf
einer Krankengeschichte verwenden. Für das Geständniss, einen
Fehler in der Diagnose begangen zu haben, brauchen wir
aber keinen besonderen Namen.
Abgesehen von diesen formellen Einwänden bähen wir
aber noch andere, viel wesentlichere Gründe, der Aufstellung
eines neuen Symptomencomplexes im Sinne von Pick die
Berechtigung abzusprechen.
Es lässt sich nämlich der Naöhweis führen, dass trotz
der gegentheiligen Behauptung Pick’s eine ein lie it lie ie
250
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 11
pathologisch - anatomise he Grundlage für diese
Zustände nicht existirt.
Pick sieht den Grund für das Vorwiegen des Ascites
über die übrigen Oedeme bei der »periearditischen Pseudo-
lebercirrhose« darin, dass in Folge der chronischen Blutstauung
in der Leber Bindegewebswucherungen und Schrumpfungen
entstehen, wodurch ein Theil des Capillarsystems verloren
geht, analog wie bei der Säufercirrhose. Es entsteht also se-
cundär eine Stauung im Pfortaderkreislauf, welche von der
primären, durch die Pericarditis erzeugten unabhängig ist,
d. h. sie würde nach Beseitigung der letzteren selbstständig
weiter bestehen.
Diese Meinung, dass durch chronische Stauung in der
Leber Veränderungen entstehen können, die in ihren Folgen
für den Pfortaderkreislauf den Veränderungen bei der Leber-
cirrkose gleichwertig sind, ist nun durchaus nicht so allge¬
mein anerkannt, wie Pick annimmt.
Ich habe mich eingehender mit der Frage beschäftigt,
habe aber meine Arbeit noch nicht zum Abschluss gebracht
und muss mich daher auf die folgenden Ausführungen be¬
schränken.
Die älteren Autoren, mit Rokitansky an der Spitze,
nehmen an, dass durch chronische Stauung Lebercirrhose ent¬
stehen könne.
Die Fortschritte der mikroskopischen Technik führten
aber bald zur Erkenntniss, dass Stauungsleber und Leber¬
cirrhose vollständig von einander verschiedene Processe seien.
Besonders durch Virchow wurden die histologischen Vor¬
gänge in der Stauungsleber klargestellt, doch glaubt auch er
noch, dass durch Steigerung der Störung zu entzündlicher
Höhe die Stauungsleber in die gewöhnliche Cirrhose sich um¬
bilden kann.
Erst Bamberger stellte mit vollständiger Präcision
die Thatsache fest, dass Herzkrankheiten nie¬
mals zu eigentlicher Cirrhose, sondern nur zu
atrophischer Muscatnussleber führen, ein trotz
der äusseren Aehnlichkeit doch dem Wesen
nach gänzlich verschiedener Process.
In Frankreich wird heute noch die Stauungsleber als
Cirrhose cardiaque unter die übrigen Cirrhosen eingereiht. Aber
auch dieFranzosen unterscheiden die Cirrhose cardiaque sehr wohl
von der Säufercirrhose. Nach der Auffassung einer Anzahl von
Autoren besteht der Unterschied im Wesentlichen darin, dass bei
der ersteren die Wucherung des Bindegewebes in der Umgebung
der am meisten dilatirten Gefässe, also der Leber venen, statt-
tindet, und demgemäss ihren Sitz im Centrum der Acini hat,
bei der letzteren dagegen vorwiegend in der Peripherie.
Uebrigens wird eine solche Bindegewebswucherung im Centrum
der Acini auch von Rokitansky beschrieben.
L i e b e r m e i s t e r 2), auf den sich Pick hauptsächlich
stützt, nimmt einen ganz gesonderten Standpunkt ein. Er er¬
kennt wohl die Verschiedenheit der beiden Processe an, be¬
hauptet aber auf Grund einer Anzahl von Fällen, die er zu
untersuchen Gelegenheit hatte, dass sowohl bei der Lebercirr¬
hose, als auch bei der Stauungsleber Bindegewebswucherung
in der Peripherie der Leberläppchen stattfindet. Der Unter¬
schied besteht darin, dass in dem letzteren Falle die Binde¬
gewebswucherung sich auf die Bahnen beschränkt, in welchen
bereits unter normalen Verhältnissen das interlobuläre Gewebe
verläuft, nämlich auf den Verlauf der interlobulären Gefässe,
während bei der Säufercirrhose die Bindegewebswucherung
sich flächenhaft ausbreitet und die Leberläppchen ganz ein¬
scheidet. Doch gibt es auch Fälle von atrophischer Muscat¬
nussleber, bei denen eine Bindegewebswucherung ebenfalls
flächenhaft die Leberläppchen umgibt, die mithin alle der Cir¬
rhose zukommenden histologischen Eigenschaften besitzen.
Bezüglich der klinischen Folgen der Erkrankung sucht
Lieber meiste r den Beweis zu führen, dass die höheren
Grade der in Folge von Stauungshyperämie auftretenden Binde-
gewebswuclierung in der Leber an und für sich, ebenso wie
2) C. Liebermeister, Beiträge zur pathologischen Anatomie
und Klinik der Lsberkrankheiten. Tübingen 1864.
die Cirrhose, eine besondere Ursache der Stauung im Pfort¬
adersystem darstellen und zu Ascites führen.
Dem gegenüber will ich in Kurzem eine Darstellung
der Genese der Muscatnussleber geben, wie sie heute ge¬
lehrt wird.
In Folge der Stauung erweitert sich zunächst das Gefäss-
system der Leber; naturgemäss ist diese Erweiterung am in¬
tensivsten gegen das Centrum zu, also im Gebiete der Leber¬
venen, und nimmt nach der Peripherie, den Pfortaderästen
hin, ab.
Die nächste Folge davon ist, dass das den ausgedehnten
Gefässen anliegende Leberparenchym atrophirt. Diese Atrophie
ist, dem Grade der Erweiterung der Lebergefässe entsprechend,
am stärksten ausgesprochen in der Umgebung der Lebervenen,
im Centrum der Leberläppchen und nimmt von da gegen die
Peripherie ab.
Es kann auf diese Weise ein mehr oder minder grosser
Antheil des Parenchyms, ja sogar der ganze Acinus, zu Grunde
gehen. Liegt ein solcher Acinus, dessen Parenchym geschwunden
ist, der Oberfläche an, so entsteht eine Vertiefung, die Ober¬
fläche der Leber wird höckerig. Der Verlust an Parenchym
hat zur Folge, dass sich das Gesammtvolum der Leber ver¬
ringert.
Auf diese Weise erklärt schon Virchow die Verklei¬
nerung des Organs bei der atrophischen Muscatnussleber.
Liebermeister hält dem entgegen, dass der Raum, der
durch den Schwund des Parenchyms frei wird, durch die aus¬
gedehnten Gefässe eingenommen wird, denn der Druck eines
ausgedehnten Gefässes kann nur so viel vom 'Parenchym zur
Atrophie bringen, als das Gefäss selbst an Volumen zuge¬
nommen hat.
Die thatsächlich stattfindende Verkleinerung des Organes
könne daher auf diesem Wege nicht erklärt werden und man
müsse schon deshalb eine Schrumpfung des neugebildeten
Bindegewebes annehmen.
So einleuchtend das auf den ersten Blick zu sein scheint,
ist der Schluss doch nicht ganz richtig. Wir dürfen zur Er¬
klärung des Schwindens des Parenchyms nicht ausschliesslich
die Druckatrophie geltend machen, sondern es spielen dabei
auch Ernährungsstörungen in Folge der verlang¬
samten Blutcirculation eine wichtige Rolle.
Wir finden in solchen Fällen immer eine mehr oder
minder ausgesprochene fettige Degeneration
des noch erhaltenen Leberparenchyms. Der
Schwund des Parenchyms findet daher rascher statt, als es
der Erweiterung der Gefässe entspricht und so können wir
uns die Verkleinerung des ganzen Organes ganz gut erklären.
Endlich entsteht in der Wandung sämmt-
lic her Gefässe, offenbar als eine Folge des er¬
höhten Wanddruckes, eine Zunahme des Binde¬
gewebes. Dieses Bindegewebe hat aber nicht
den Charakter einer entzündlichen Bindege¬
webswucherung, sondern ist ein normales, wel¬
liges Bindegewebe. Die Wandung der grösseren Gefässe
erscheint gegen die Norm etwas verdickt; bei den Capil¬
lar e n äussert sich die Verdickung ihrer Wan¬
dungen dadurch, dass sie deutlicher sichtbar
sind, als in der Norm.
Ziegler sagt: Das periportale Bindegewebe ist meist
unverändert, doch kommt es vor, dass dasselbe hypertrophisch
und zellig infiltrirt ist, so dass eine besondere Form der Cir¬
rhose entsteht. Das sieht so aus, wie eine Bestätigung der Be¬
funde Lieber meiste r’s. Die Abbildung bei Ziegler3) zeigt
aber, dass auch in diesen Fällen eine Wucherung in Schrum¬
pfung des Bindegewebes, in der Weise, dass man eine Compression
und Verödung der Capillaren erwarten konnte, nicht vorliegt. Das
Bindegewebe in der Umgebung der Gefässe ist wohl etwas
vermehrt und auch kernreicher, aber das Bild ist nicht im
Entferntesten mit dem der Cirrhose zu vergleichen.
Ein anderes Bild als das einer einfachen
Verdickung der Gefässwand habe ich in zahl-
Ziegler, Handbuch der pathologischen Anatomie. 1898.
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
251
reichen Präparaten, die ich durch die Güte
des Herrn Professors Paltauf zu sehen Ge¬
legenheit hatte, niemals zu Gesicht bekommen
können.
Prof. Paltauft heilte mir auch mit, dass er
bei Stauung kein ähnliches Bild gesehen habe,
wie es von Liebermeister beschrieben wurde,
dass er überhaupt niemals eine Wucherung des
Bindegewebes und Schrumpfung desselben ge¬
sehen habe, die zur Obliteration eines grösse¬
ren Antheiles des Lebergefässssy stems hatte
führen können.
Ich sah dagegen bei Pal tauf Präparate, welche er¬
klären, auf welchem Wege Täuschungen in dieser Richtung
entstehen können.
Bei einer Leber, bei welcher makroskopisch eine von
dem gewöhnlichen Typus abweichende Cirrhose diagnosticirt
worden war, zeigte die genauere Untersuchung, dass ein Ver¬
schluss der Lebervenen an ihrer Eintrittsstelle in die Hohl¬
venen vorlag. Die Lebervenen waren thrombosirt, die Thromben
organisirt und so entstand ein Bild, welches grosse Aebnlich-
keit hatte mit Bindegewebswucherungen im Centrum der
Acini.
Aehnliche anatomische und klinische Bilder sind von
Budd, Frerichs, Hainski, Rosenblatt als Folge von
secundärer, von Chiari als Folge primärer (syphilitischer)
Phlebitis der Lebervenen beschrieben worden.
Um nun zusammenzufassen, haben wir gesehen, dass
die atrophische Muscatnussleber Charakter i-
sirt ist durch Verkleinerung des ganzen Or¬
ganes, durch die höckerige Oberfläche des¬
selben, durch eine auf Bindegewebszunahme be¬
ruhende grössere Derbheit: Merkmale, die auch
der Säufercirrhose zu kommen.
Dieser äusseren Aehnlichkeit steht aber
der fundamentale Unterschied entgegen, dass
bei der Cirrhose die Gefässe t heilweise ver¬
engert, com primirt, verödet sind, bei der Stau-
ungsleber dagegen sind sie durchgeh ends er¬
weitert.
Wenn überhaupt Fälle Vorkommen, bei denen wirklich
eine Bindegewebswucherung und Schrumpfung im Sinne der
älteren Autoren vorliegt, so dürfen wir doch nach unseren
heutigen Erfahrungen sagen, dass es sich da mindestens um
grosse Seltenheiten handelt.
Der Symptomencomplex Pick’s ist nun ein gar nicht
so seltener, wie schon die relativ grosse Anzahl der seit 1896
veröffentlichten Fälle beweist. Ich glaube, dass jeder Kliniker
von einiger Erfahrung über solche Fälle aus seiner eigenen
Beobachtung verfügt.
Strümpell4) macht schon 1883 die Bemerkung, dass
ihm gerade bei Pericarditis wiederholt stärkere Transsudat¬
ansammlungen in den Körperhöhlen ohne gleichzeitiges Haut¬
ödem aufgefallen sind.
Wenn wir überdies, nach dem Vorgänge von Pick
selbst, alle jene Fälle auf Wucherungs- und Schrumpfungs
processe in der Leber beziehen, bei welchen sich im Gefolge
einer langdauernden, durch Erkrankung des Herzens oder der
Lungen bedingten Circulationsstörung hochgradiger Ascites bei
fehlendem oder geringem Beinödem entwickelt, so müssen wir
solche Zustände geradezu als häufige bezeichnen.
Es ist nun augenscheinlich nicht zulässig, ein
häufiges Krankheitsbild auf eine seltene Ur¬
sache zurückzuführen.
Man wird einwerfen, dass diese Einwendungen mehr
theoretisch und nicht beweiskräftig genug sind gegenüber den
vorliegenden Thatsachen. Pick hat ja drei solche Fälle pub-
licirt und den Sectionsbefund mitgetheilt und ausser ihm
haben das auch noch eine Anzahl von anderen Autoren
gethan.
4) A. S t r ü m p e 1 1, Lehrbuch der speciellen Pathologie und Therapie.
Leipzig 1883.
Wenn man aber, in der Erwartung, einen Beweis für
die Supposition Pick’s zu finden, seine Fälle studirt, so wird
man enttäuscht. Nicht in einem einzigen Falle ist durch
mikroskopische Examination der Nachweis von gewuchertem
und geschrumpftem Bindegewebe in der Leber als Folge der
Stauung geführt. Ja noch mehr, wir finden sogar nicht un¬
wesentliche Anhaltspunkte dafür, dass die Deutung, die Pick
den vorliegenden Thatsachen gibt, unrichtig ist.
In seinem ersten Falle finden wir bei der Leber die bekannten
Merkmale der Stauungsleber angegeben, das Organ ist aber
vergrössert, es handelt sich also nicht um das Endstadium der
Stauungsleber und es ist demgemäss sehr unwahrscheinlich,
dass sich im Bindegewebe schon Wucherungs- und Schrum¬
pfungsvorgänge entwickelt haben sollen.
Bei den beiden anderen Fällen ist in der
Obduc tionsdiagnose der Zustand der Leber
geradezu als »Cirrhosis hepatis« verzeichnet.
Pick meint allerdings, dass man sich dadurch nicht
irreführen lassen dürfe, es sei damit höchstwahrscheinlich die
Cirrhose cardiaque der Franzosen gemeint und fügt hinzu,
dass auch Prof. Chiari die Ansicht ausgesprochen habe, »dass
es sich offenbar um solche Fälle von »Cirrhose cardiaque«
secundär in Bezug auf die Herzbeutelaffection gehandelt habe«.
Es ist aber vollständig ausgeschlossen, dass ein deutscher
Anatom in einem Sectionsprotokoll eine »Cirrhose cardiaque«
als eine Cirrhosis hepatis absichtlich bezeichnet.
Die Ansicht P i c k’s involvirt also, dass ein diagnostischer
Irrthum des Obducenten Vorgelegen sei. Es wäre die Aufgabe
Pick’s gewesen, diesen Irrthum exact nachzuweisen, wenn er
darauf so weit gehende Schlussfolgerungen basiren will, wie er
es gethan hat.
Ich glaube, dass wir gar keine Berechtigung haben, an
den stricten Angaben des Sectionsprotokolles zu deuteln, und
dass wir daher annehmen müssen, in den beiden letzten Fällen
Pick’s sei wirklich Säufercirrhose Vorgelegen.
In dem einem Falle heisst es bei der Beschreibung: »Die
Leber vergrössert, ihre Oberfläche stark uneben, indem dieselbe
zahlreiche grössere und kleinere Körner und Höcker zeigt.
Das Parenchym derselben sehr derb, deutlich gefeldert, indem
die interlobulären Spatien eingesunken sind und die von den¬
selben eingerahmten Lobuli in grösseren und kleineren Be¬
zirken über die Schnittfläche hervorragen. Stellenweise auch
das Parenchym deutlich in Folge fettiger Infiltration gelblich
gefärbt.
Das soll eine atrophische Muscatnussleber sein?
Im anderen Falle wird von der Leber gesagt:
Sie ist gewöhnlich gross, grobhöckerig und auf dem
Durchschnitte sowohl von grösseren Bindegewebszügen durch¬
zogen, als auch, namentlich in einzelnen grösseren Herden um
alle Läppchen herum mit gewuchertem und narbig geschrumpftem
Bindegewebe versehen. Das Parenchym am Durchschnitte
t Beils kleinhöckerig, theils granulirt und sehr derb. Das ist die
Beschreibung einer Lebercirrhose und nicht die einer
Stauungsleber.
Ich bin überzeugt, dass Chiari, wenn er das Sections¬
protokoll genau gesehen hätte, sich nicht so bestimmt ausge¬
drückt hätte.
Und warum soll denn keine Lebercirrhose Vorgelegen
sein? Die chronischen, schwieligen und adhäsiven Pericarditiden
sind sehr häufig tuberculöser Natur und das häufige Vor¬
kommen der Cirrhose bei Tuberculösen ist bekannt.
Zudem heisst es in der Anamnese in einem Fall: »Pa¬
tient ist kein gewohnheitsmässiger Trinker, doch gibt er an,
an Sonntagen 2 — 3^ Bier und Vc^^cin getrunken zu haben,
an Wochentagen gewöhnlich i/2 1.«
Im anderen Fall heisst es: »Patient trank täglich circa
zwei Glas Bier, bei besonderen Gelegenheiten höchstens sechs
Glas.« Das ist doch wohl mehr als der blosse ^ erdacht auf
Potatorium. .
Wenn wir nach dem Bisherigen die von Fried. 1 ick
gegebene Erklärung des überwiegenden Ascites bei gewissen
cardialen Circulationsstörungen nicht acceptiren können, so tritt
an uns die Aufgabe heran, zu untersuchen, welche andere
252
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 11
ätiologische Momente wir dafür verantwortlich machen können.
Diese Aufgabe ist eine doppelte: Wir müssen erstens unter¬
suchen, warum in manchen Fällen von cardialen Circulations -
Störungen im Allgemeinen Ascites frühzeitiger und intensiver
auftritt, als die übrigen Oedeme, und wir müssen zweitens
untersuchen, warum gerade bei Circulationsstörungen, die durch
schwielige oder adhäsive Pericarditis verursacht werden, der
Ascites noch häufiger in den Vordergrund tritt, als bei den
übrigen.
Eigentlich wäre die erste Frage umgekehrt zu stellen:
Warum tritt bei cardialen Circulationsstörungen nicht immer
zuerst Ascites und dann erst Oedem auf? Der Pfortaderkreis¬
lauf hat ja bei dem Umstand, als er sein Blut, bevor er es
in die untere Hohlvene entleeren kann, erst noch durch das
Capillargebiet der Leber senden muss, gewiss grössere Wider¬
stände zu überwinden, als der grosse Kreislauf. Theilweise
wird das dadurch compensirt, dass der Weg, den das Blut des
Capillarsystems des grossen Kreislaufes bis zum Herzen zu
durchlaufen hat, ein längerer ist, als der des Pfortadergebietes,
und dass demgemäss der Reibungswiderstand dort ein grösserer
ist als hier. Auch ist der Stromwiderstand des Lebercapillar-
systems nicht allzu hoch anzuschlagen, weil die Capillaren sehr
weit und die Strömung demgemäss eine sehr langsame ist.
Theoretische Erwägungen geben uns keine weiteren Auf¬
schlüsse und wir müssen daher an die klinische Beobachtung
appelliren.
Die klinische Beobachtung lehrt uns, dass zuerst die
Oedeme der unteren Extremitäten aufzutreten pflegen, dann
der Ascites, dann erst Oedeme an den oberen Extremitäten.
Die Kreislaufverhältnisse im Pfortadergebiete sind also nur
gegenüber dem Kreislauf der unteren Körperhälfte besser ge¬
stellt, nicht aber gegenüber der oberen. Daraus geht hervor,
dass es im grossen Kreisläufe im Allgemeinen schwerer zu
Oedemen kommt, als im Pfortadergebiet, und dass für die
de facto bestehende Prävalenz der Oedeme der unteren Ex¬
tremitäten specielle Ursachen gesucht werden müssen. Diese
liegen nun augenscheinlich in den hydrostatischen Verhältnissen
der verschiedenen Venensysteme.
Die Circulation in den unteren Extremitäten hat ceteris
paribus einen Mehrdruck zu überwinden, der dem Druck einer
Blutsäule von der Niveaudifferenz zwischen ihrem Capillar¬
gebiet und der Einmündungsstelle der Vena cava in den
rechten Vorhof entspricht. Diese Differenz ist am grössten bei
aufrechter Stellung und verschwindet oder wird beträchtlich
kleiner bei horizontaler Lage.
Für das Pfortadersystem ist diese Niveaudifferenz unter
allen Umständen sehr gering, für das obere Hohlvenensystem
ist sie gleich Null oder negativ, so dass eine den Blutdruck
entlastende Heberwirkung zu Stande kommt.
Wir sehen daher oft genug, wenn ein Kranker mit
Ascites und Beinödem ins Bett kommt und dadurch der
hydrostatische Druck in den unteren Extremitäten verringert
wird, dass dann die Oedeme der unteren Extremitäten rascher
und frühzeitiger zurückgehen als der Ascites, und bei Kranken,
welche schon vor dem Auftreten des Hydrops bettlägerig sind,
kann der Ascites von vorneherein zuerst auftreten.
Ist somit unter sonst normalen Verhältnissen die Tendenz
zum Auftreten von Transsudationsprocessen in den verschie¬
denen Venensystemen annähernd die gleiche, so können,
ausser der mechanischen Wirkung der Schwerkraft auch noch
die verschiedenartigsten pathologischen Processe ihren Einfluss
zu Ungunsten des einen oder des anderen Systems geltend
machen.
Schon individuelle Verschiedenheiten verdienen Berück¬
sichtigung. Es unterliegt gar keinem Zweifel, dass solche in
Bezug auf die Circulation in der Leber sehr ausgesprochen
sind, und dass es aus diesem Grunde bei dem einen Individuum
leichter zu Ascites kommt als bei dem anderen. Dasselbe gilt
von der Disposition des Bindegewebes transsudativen Processen
gegenüber.
Von pathologischen Zuständen, welche das Auftreten des
Ascites begünstigen, will ich hier nur zwei hervorheben.
Erstens entzündliche Veränderungen.
N. Weiss vermuthet in einem einschlägigen Fall, dass
eine vorausgegangene chronische Peritonitis durch die von ihr er¬
zeugten Gefässveränderungen die Transsudation begünstige.
Zweitens können Leberveränderungen verschiedener Art,
auch wenn sie noch so gering sind, dass sie sich dem anato¬
mischen und vollends dem klinischen Nachweis entziehen, doch
schon einen schädigenden Einfluss auf die Pfordadercirculation
haben. Namentlich mag auf die Folgen des Potatoriums hin¬
gewiesen werden.
Es kann auch eine ausgesprochene Lebercirrhose zufällig
concomitiren. Eine Anzahl von Fällen, in denen wirkliche B nde-
gewebswucherung bei Stauungsleber gefunden wurden, sind
vielleicht auf diese Weise zu erklären.
Von pathologischen Zuständen, welche das Auftreten
eines Hydrops der unteren Extremitäten begünstigen, seien
hervorgehoben: Angioneurosen, syphilitische und andere Gefäss-
erkrankungen, indirect die so häufigen Phlebektasien der unteren
Extremitäten.
Von entscheidender Bedeutung für die Beantwortung
unserer Frage scheinen mir die senilen Veränderungen der Ge-
fässe und Gewebe zu sein.
Pick macht selbst darauf aufmerksam, dass der von ihm
beschriebene Symptomencomplex häufiger bei jugendlichen
Individuen beobachtet wird als bei älteren. Auch von Rosen¬
bach wird das ausdrücklich betont. Ebenso ist auch bei den
übrigen Herzkrankheiten ein Prävaliren des Ascites über die
übrigen Symptome bei jugendlichen Individuen häufiger als bei
älteren.
Eine Erklärung wird weder von Pick noch von
Rosenbach versucht. Mir scheint sie sehr einfach zu sein.
Die peripheren Gefässe des grossen Kreislaufes sind die¬
jenigen Organe des menschlichen Körpers, welche am raschesten
altern, während gerade das Peritoneum am wenigsten der
Altersinvolution unterliegt.
Die senilen Veränderungen der Gefässe, der Verlust der
Elasticität ihrer Wandungen, die grössere Durchlässigkeit der¬
selben, betheiligen sich aber sehr wesentlich an der Genese
der hydropischen Erscheinungen. Auch die Verminderung der
Elasticität des Bindegewebes, eine constante Folge des
Alters, bedeutet eine weitere Disposition zur Entstehung von
Oedem.
Die senilen Veränderungen beginnen aber bekanntlich
nicht erst im eigentlichen Greisenalter, sondern schon sehr viel
früher und steigern sich allmälig.
Je älter das betroffene Individuum also ist, je mehr die
senilen Involutionen vorgeschritten sind, desto mehr überwiegt
die Disposition des subcutanen Bindegewebes zu transsudativen
Vorgängen über die des viel langsamer alternden Peritoneums.
Die Fälle, in denen das Ueberwiegen des Ascites gegen¬
über dem Oedem ein nicht sehr stark ausgesprochenes ist,
lassen sich aus physiologischen oder nahezu physiologischen
Verhältnissen erklären. Ist der Ascites aber sehr ausgesprochen,
höchstgradig und fehlen die Beinödeme ganz, so besteht ein
Missverhältnis, das sich nur durch anderweitige pathologische
Complicationen der ursprünglichen Kreislaufstörung erklären
lässt. Dieser letztere Zustand ist demgemäss seltener.
Wenden wir uns nun zur zweiten Frage, warum gerade
bei schwieliger und adhäsiver Pericarditis die Circulations¬
störungen sich hauptsächlich im Pfortadergebiet manifestiren,
so finden wir, dass auch hier nicht eine einheitliche, sondern
eine ganze Anzahl von verschiedenen Ursachen dafür verant¬
wortlich gemacht werden müssen.
Schon in den bisherigen Publicationen entsteht eine Di¬
vergenz bezüglich der Pathogenese, indem einzelne Autoren
(Heidemann, Schupfe r, W e r h a t u s) nicht die Peri¬
carditis, sondern die bei Sectionen solcher Fälle häufig gefun¬
dene Peritonitis als die primäre Ursache des Ascites ansehen.
Gegen die ätiologische Bedeutung der chronischen Peri¬
tonitis für den Ascites in diesen Fällen wendet Pick Folgen¬
des ein: 1. In einer ganzen Anzahl von Fällen fehlten stärkere
Peritonealveränderungen bei der Section; 2. auch in den
Fällen, in welchen starke Peritonitis und insbesondere Peri-
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
253
hepatitis gefunden wurde, liess sich im Beginne hochgradige
Lebervergrösserung constatiren • 3. ein lang anhaltendes Ueber-
wiegen des Ascites gegenüber den Beinödemen kommt auch
bei anderen Herzkrankheiten vor.
Diese Einwände beweisen aber nicht, wie Pick glaubt,
dass die Peritonitis nicht die Ursache des Ascites sei, sondern
sie beweisen nur, dass sie nicht immer die Ursache sei. Das¬
selbe gilt von einem in jüngster Zeit von Nachod ver¬
öffentlichten Fall.
Die vorhandenen Symptome legten die Diagnose einer
tuberculösen Peritonitis nahe, die vorgenommene Laparotomie
aber deckte keine anderen Veränderungen, als hochgradigen
Ascites und Stauungsleber auf. Bei der längere Zeit später
vorgenommenen Section fanden sich dagegen, neben einer
schwieligen Pericarditis, ziemlich ausgebreitete peritonitische
Veränderungen. Es ist richtig, dass in diesem Falle der Be¬
fund bei der Section ohne vorausgegangene Laparotomie zu
den Schluss geführt hätte, dass die Peritonitis die directe Ur¬
sache des Ascites gewesen sei. Aber abgesehen davon, dass
die Inspection der Bauchhöhle bei der Laparotomie doch wahr¬
scheinlich nicht gründlich genug war, um nicht circum scripte
peritonitische Veränderungen etwa an der Porta hepatis zu
übersehen, lässt sich die Verwerthung des Befundes doch nicht
in dem Sinne verallgemeinern, dass auch in den anderen ähn¬
lichen Fällen die Peritonitis secundär entstand, und dass die
Häufigkeit dieses Vorkommens dadurch erklärt wird, dass
durch den vorher bestandenen Ascites die Propagation des
Krankheitsprocesses vom Herzbeutel her begünstigt wird.
Von grösserer Bedeutung erscheint mir ein anderer Ein¬
wand zu sein, den man solchen Fällen gegenüber machen
könnte. In Fällen, bei denen durch lange Zeit hochgradiger
Ascites besteht, kommt es zu Trübungen und Verdickungen
des Peritoneums durch Organisation von Niederschlägen aus
der Ascitesflüssigkeit, die leicht zu der irrigen Annahme einer
entzündlichen Veränderung des Peritoneums führen können
und es wäre daher zu erwägen, ob nicht in einem fl heil der
publicirten Fälle ein solcher Irrthum Vorgelegen sei.
Die Thatsache aber steht fest, dass eine chronische Peri¬
tonitis, namentlich dann, wenn sie sich an der Porta hepatis
localisirt, längs der Gefässe in die Leber hineinwandern kann,
und dann dort endophlebitische und periphlebitische Processe
erzeugen kann, die dann ihrerseits Stauung im Pfortader¬
gebiete zur Folge haben kann.
Die Combination einer chronischen Pericarditis mit einer
chronischen Peritonitis ist nun etwas so Häufiges, dass sich
daraus das häufigere Vorkommen eines auf diese Weise ent¬
standenen Ascites ganz gut erklärt.
Ausser der chronischen Peritonitis kennen wir aber noch
eine Anzahl von anderen Complicationen und Folgezuständen
der Pericarditis, welche zu Ascites führen können.
Wie schon oben bemerkt wurde, stellt die chronische
Pericarditis in vielen Fällen nur eine Theilerseheinung der
chronischen Allgemeintuberculose dar und wir haben demnach
relativ häufig eine Complication mit Lebercirrhose zu erwarten.
Eine solche Complication liegt wahrscheinlich in zwei von
den drei Fällen Pick’s vor. Ferner kann der Entzündungs-
process vom Pericard längs der Hohlvene in die Leber wandern
und dort in den Lebervenen endophlebitische und peri¬
phlebitische Processe mit consecutiver Stauung im Pfortader¬
gebiet erzeugen.
Für eine weitere Anzahl von Fällen mag auch die von
Weinberg5) gegebene Erklärung zutreffen. Er nimmt an,
dass durch einen gleichzeitig bestehenden rechtsseitigen pleu¬
ralen Erguss im Sinne der bekannten Experimente Rosen-
bach’s6) eine Knickung der Cava inferior erzeugt wird, die
zur Stauung im Pfortaderkreislauf führt.
Endlich möchte ich noch auf einen Umstand hinweisen,
der manchmal die Ursache der Entstehung eines Ascites bei
chronischer Pericarditis sein mag.
5) W. Weinberg, Zwei Fälle von Pericarditis tuberculosa mit
Herzbeutelverwachsung und Ascites. Münchener medicinische Wochen¬
schrift. 1884.
°) Rosenbach, Virchow’s Archiv. Bd. CV.
Bei schwieligen, pericarditischen Processen, die ja fast
immer sich auf das extrapericardiale Gewebe erstrecken, läuft
die Vena cava eine verhältnissmässig lange Strecke in schrum¬
pfendem, schwieligem Bindegewebe. Es kommt dabei natur-
gemäss zu Compressionen, zu Verzerrung der Vene und ihrer
Einmündungsstelle in den rechten Vorhot, vielleicht auch zu
Verzerrungen an den Einmündungsstellen der Lebervenen.
Dadurch wird ein Circulationshinderniss in der unteren
Hohlvene erzeugt. Wäre dieses Circulationshinderniss ein ab¬
solutes, so müssten sich die Folgen der Verstopfung der unteren
Hohlvene in toto einstellen, Oedem der ganzen unteren Körper¬
hälfte, Ascites, Ausbildung eines Collateralkreislaufes etc.
Da aber das Circulationshinderniss nur ein theil weises
ist, so müssen sich seine Folgen vorwiegend im Pfortaderkreis¬
lauf einstellen, weil die Entlastung derselben durch Collateralen
nach dem Venensystem der oberen Körperhälfte viel unvoll¬
kommener und schwieriger vor sich geht, als bei dem übrigen
Stromgebiet der unteren Hohlvene.
Diesem letzteren stehen mächtige Venenstämme zur Ver¬
fügung. Das ganze System der vorderen und hinteren Rumpf¬
venen bildet eine Anastomosenkette, welche die paarigen
Venen der unteren Körperhälfte mit der oberen Hohlvene
verbindet. Darunter sind die mächtigen Venenstämme der
Azygos und Hemiazygos, deren Bauchstücke, die Venae lum¬
bales ascendentes, nichts weiter sind als eine Anastomosenkette,
bestehend aus verticalen Röhren stücken, welche je zwei von
den quer zur Cava gehenden Lendenvenen mit einander und
die letzte mit der Vena ilio-lumbalis verbinden (Langer).
Im Verhältniss dazu sind die Anastomosen. welche das
Pfortadergebiet mit dem Gebiete der oberen Hohlvene ver¬
binden, bekanntlich sehr spärlich. Es ist daher begreiflich,
dass sich die Folgen eines partiellen Circulationshindernisses
in der unteren Hohlvene mit aller Schwere im Pfortader¬
system äussern müssen, während sich das übrige Strom¬
gebiet desselben verhältnissmässig leicht durch die Collateralen
entlastet. „
Ich glaube nicht, dass damit die Möglichkeiten erschöpft
sind, durch welche wir uns das häufige Vorkommen eines
isolirten Ascites bei Pericarditis gegenüber der Seltenheit des¬
selben bei den übrigen Herzkrankheiten erklären können. Es
genügen aber die angeführten, um die flfliatsache unserem \ er-
ständniss näher zu bringen.
Aus diesen Thatsachen und Erwägungen lassen sich
folgende Schlüsse ziehen:
E s i s t richtig, dass im Gefolge einer adhä¬
siven oder schwieligen Pericarditis verhält¬
nissmässig häufig hochgradiger Ascites bei
Fehlen von Beinödem entsteht.
Ist die Pericarditis latent, so hat der Sy m-
ptomencomplex eine gewisse Aehnlichkeit mit
dem der Lebercirrhose.
Dieser Symptom encomplex wird aber nicht,
wie Pick behauptet, dadurch hervorgerufen,
dass die Circulationsstörungen in der Leber
zu Bindegewebswucherungen führen, welche
durch Stauung im Pfortaderkreislauf den As¬
cites zur Folge haben, sondern ist in den 's ei-
schiedenen Fällen Folge verschiedener Li¬
sa c h e n.
Hervorzuheben sind: Verzerrungen, Co m-
pression, Knickungen der unteren Hohlvene
durch ein gleichzeitig bestehendes Exsudat
oder der pericardio-mediastinalen Schwielen,
gleichzeitig bestehende Peritonitis an der
L e b e r p f o r t e, endlich bei dem Umstand,, dass
der Symptom encomplex vorwiegend bei jün¬
geren Individuen vorkommt, die normal e, j u gen d -
liehe Beschaffenheit der Capillaren und klei
neren Gefässe des grossen Kreislaufes, daher
es weniger leicht zur ödematösen t ranssudation
kommt. , •
Nachdem dem von Friedel Pick beschrie¬
benen Symptom encomplex somit eine ein m it
254
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 11
liehe anatomische Ursache nicht zu Grunde
liegt, so darf derselbe auch klinisch nicht als
ein einheitliches Krankheitsbild betrachtet
werden, undnachdemdein von Pick vor geschlagenen
Namen »pericarditische Pseudolebercirrhose«
ein Begriff zu Grunde liegt, der als ein wesent¬
liches Merkmal einen, allerdings in vielen
Fällen schwer zu vermeidenden diagnostischen
Fehler enthält, so kann auch dieser Name nicht
acceptirt werden.
Zum Schlüsse erlaube ich mir noch, Herrn Professor
Paltauf für seine überaus freundliche Unterstützung aufs
Beste zu danken.
Hämatokolpos und Hämatometra in Folge von
Atresia hymenalis congenita.
Von Dr. E. Toff, Frauenarzt in Braila (Rumänien).
Obwohl die Casuistik der teratologischen Formen weib
lieber Genitalien relativ eine recht stattliche ist, halte ich doch
den folgenden selbst beobachteten Fall für erwähnenswerth,
da er gewisse interessante Eigenthümlichkeiten bot.
Nachstehend in Kürze die betreffende Krankengeschichte:
2. September 1899. Rosalia S., 13 Jahre alt, Näherin, noch
nicht menstruirt, war, mit Ausnahme unbedeutender Kinderkrank¬
heiten, bis nun immer gesund. In den letzten Monaten verspürte
sie bei längerem Gehen eine gewisse Schwere im Unterleibe, sonst
aber keine Schmerzen und keine irgendwie gearteten Beschwerden.
Vor drei Tagen wurde das Uriniren sehr erschwert, es stellten sich
heftige, kolikarlige Schmerzen im Bauche und Ziehen im Kreuze
ein, zugleich bestand auch hartnäckige Verstopfung. Am Morgen
des gestrigen Tages trat gänzliche Harnverhaltung auf und wurde
Patientin seither von verschiedenen Aerzten mehrmals katheterisirt,
worauf die sonst unerträglichen Beschwerden immer für einige
Stunden sistirten.
Status praesens: Ein gracil gebautes blasses Mädchen
mit kaum entwickelten Brüsten und spärlichen Schamhaaren. Die
Kranke windet sich im Bette hin und her und klagt über äusserst
heftige Leib- und Kreuzschmerzen. Temperatur 37T°, Puls 100.
Der Unterleib leicht vorgewölbt, namentlich unterhalb des Nabels,
wo durch vorsichtige Percussion absolute Dämpfung bis drei Quer¬
finger über der Symphyse nachzuweisen ist. Die Palpation ergibt
einen rundlichen Tumor, der am meisten einer schwangeren Gebär¬
mutter im fünften Monate der Gravidität ähnelt.
Die Untersuchung des Genitales ergab Folgendes: Die grossen
Schamlippen etwas auseinanderstehend; zwischen ihnen wölbt sich
ein etwa hühnereigrosser, dunkelblaurother, glatter, fluctuirender
Tumor hervor. Derselbe reicht nach oben bis an die Mündung der
Harnröhre und verliert sich nach unten und hinten in das Mittel¬
fleisch. Rechts und links sind zwei tiefe Furchen zwischen Tumor
und grossen Schamlippen und beim Auseinanderziehen derselben
kann man den Uebergang der Vorhofschleimhaut auf die Ge¬
schwulst ohne Unterbrechung verfolgen. Die Nymphen sind un¬
sichtbar.
Beim Touchiren durch das Rectum erwies sich das ganz
kleine Becken durch eine prall-elastische, fluctuirende, fast kinds¬
kopfgrosse Masse erfüllt, welche sich gegen das äussere Genitale
hin fortsetzte und mit der oben beschriebenen Geschwulst als com-
municirend nachgewiesen werden konnte. Die obere Begrenzung der-
selben konnte nicht touclnrt werden, ebensowenig war vom Uterus
und den Adnexen etwas zu fühlen; bimanuelle Palpation wurde
wegen eventuell bestehender Hämatosalpinx unterlassen. Die Diagnose,
welche sich unter diesen Umständen aufdrängte, war H ä m a t o-
k o 1 p o s und möglicher Weise auch Hämatometra in Folge
von Imperforatio hymenis.
Nach Entleerung der Harnblase durch einen elastischen
Katheter, welcher nur mit vieler Mühe eingeführt werden konnte,
machte ich unter Cocainanästhesie und den üblichen anti septischen
Cautelen, auf der Höhe der Geschwulst, praeparando vorgehend,
einen 2 cm langen Schnitt, worauf sich über 1 1 einer dunkelbraun¬
rothen, dicklichen, sich ziehenden, geruchlosen Flüssigkeit entleerte;
gleichzeitig sistirten auch alle Schmerzen. Der Schnitt wurde nach
oben bis nahe an die Harnröhrenmündung und nach unten bis nahe
an das Perineum verlängert. Die durchtrennte Membran war bei
Qmm dick, fibrös und bestand deutlich aus zwei supraponirten,
mit einander verwachsenen Schichten.
Man konnte hierauf das innere Genitale bequem mit dem
Finger exploriren. Die Scheide war in einen weiten, schlaffen Sack
verwandelt, der Uterus gross, in leichter Anteversion, der äussere
Muttermund weich, für den Finger durchgängig, der innere nur
leicht erweitert, fast geschlossen. Die Adnexe, auf Druck nicht
schmerzhaft, boten normalen Befund.
Die Höhle wurde dann mit schwacher Sublimatlösung
(1 : 5000) ausgespült, durch sechs Knopfnähte das innere und
äussere Schleimhautblatt an den Schnitträndern vereinigt und Jodo¬
formgaze eingelegt. Die Nachbehandlung bestand in täglicher antisepti¬
scher Ausspülung der Vagina und nachfolgender Einlage eines
Streifens Jodoformgaze. Am sechsten Tage war die Wunde geheilt
und die Nähte wurde entfernt. Während der ganzen Zeit war das
Befinden der Patientin ein vorzügliches; die Temperatur variirte
zwischen 366° und 371°. Heute ist das Hymenallumen für den
kleinen Finger leicht durchgängig, die Menstruation ist seither vier¬
mal wiedergekehrt, dauert drei Tage, ist sonst normal und gänzlich
schmerzlos. Die kleinen Schamlippen, deren Falten in die Geschwulst
einbezogen waren, sind deutlich prominirend und haben normale
Entwicklung. Um einer zu starken Zusammenziehung der Oeffnung
vorzubeugen, werden zeitweise leichte Dilatationen vorgenommen.
Wie ich nachträglich erfuhr, hat eine Tante mütterlicherseits
an derselben Anomalie gelitten. Dieselbe wurde in ihrem 18. Lebens¬
jahre operirt, wobei sich viel Blut aus ihren Geschlechtstheilen
entleert haben soll, hat seither geheiratet und drei Kinder normal
geboren.
Im Anschlüsse daran möchte ich einige allgemeine Be¬
merkungen über den beobachteten Fall und anderen ähnlichen,
in der Literatur befindlichen, machen.
Die Atresia hymenalis congenita wird theo
retisch als auf einer Störung in der Entwicklung der Müll er¬
sehen Canälchen w'ährend des embryonalen Lebens beruhend,
erklärt. Bekanntlich verschmelzen dieselben in ihrem unteren
Antheile zu einem unpaarigen Röhrchen, aus welchem zu Ende
des dritten Monates Vagina und Uterus sich entwickeln, und
welches im weiteren Verlaufe in den Sinus urogenitalis mündet.
Wenn diese Verbindung nicht stattfindet, so fehlt die Hymenal-
öffnung und es bildet sich eine Atresie. Die näheren Bedin¬
gungen des Zustandekommens sind nicht bekannt, dies umso
weniger, als auch überhaupt die embryonale Entwicklung
des Hymens nicht vollkommen klargestellt ist, denn während
einige Forscher, wie Bland in, Henle undBudin, dasselbe
als einen einfachen Vorsprung des unteren Vaginalendes be¬
trachten, ist Pozzi auf Grund seiner Untersuchungen dahin
gelangt, die Hymenalmembran als Theil der äusseren Ge¬
schlechtsorgane anzusehen. ') Jedenfalls können wir aber an¬
nehmen, dass es sich in den Fällen von Atresie nicht um zu¬
fällige Störungen, sondern um tiefer begründete Eigenthüm¬
lichkeiten in der Organisation der betreffenden Individuen
handelt. Anders wären die Fälle von Heredität und von
häufigem Vorkommen der in Rede stehenden Anomalie in
derselben Familie nicht zu erklären. So litten z. B. in dem
Falle von Yates2) eine Schwester und zwei Basen an Im¬
perforation des Hymens, in dem Falle von Amann3 4) eben¬
falls eine Schwester und in dem obigen eine Tante.
Auffallend ist in fast sämmtlichen Fällen die besondere
Dicke der obturirenden Membran uud man kann in Anbetracht
dessen wohl der Meinung Pozzi’s1) beistimmen, dass es sich
da nicht nur um Hymenal-, sondern fast immer auch um
Atresie des Endstückes der Vagina handelt. Wenn die Mem-
*) D e b i e r r e, Les vices de conformation des Organes genitaux-
nrinaires de la femme. Paris 1892, pag. 70.
2) The Lancet. 14. Juni 1870, citirt nach Quere tin, These. Paris
1873, pag. 16.
3) Münchener medicinische Wochenschrift. 1888, Nr. 52, pag. 909.
4) Pozzi, Gynäkologie. Uebersetzt von R i n g i e r. Basel 1892,
pag. 1107.
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
255
bran in hyperextendirtem Zustande 5, 8, selbst 10 mm Dicke
hat, so dürfte sie im Ruhezustände noch viel dicker gewesen
sein, und es würde schwer fallen, dies Alles aut Rech¬
nung des Hymens zu setzen. Vielleicht würde die in meinem
Falle beobachtete Zweischichtung dahin zu erklären sein, dass
die äussere Schichte das eigentliche Hymen, während die innere
den atretischen Theil der Vagina repräsentirt.
Der Verschluss der Scheide durch ein imperforirtes
Hymen bildet nicht nur ein fast absolutes Conceptionshinder-
niss, sondern kann auch zu sehr ernsten, selbst lebensgefähr¬
lichen Gesundheitsstörungen führen, indem die Secrete des
weiblichen Geschlechtsapparates und das Menstrualblut im Ab¬
flüsse gehemmt sind und sich oberhalb des Hindernisses stauen.
Zwar o-ibt es auch Fälle, wo trotz Vorhandensein eines Hymen
occl^um et im perforatum die Menstruation normal
war und selbst Conception eintrat. So in den Beobachtungen
von C. Braun5), wo die Vagina in die Harnröhre mündete,
und Zinsstag6), wo es sich möglicher Weise um eine ähn¬
liche Anomalie gehandelt hat. Derartige, aber nicht erkannte
Fälle scheinen auch die drei von Pucch7 8) citirten gewesen
zu sein, wo man eine Transsudation des Menstrualblutes durch
das imperforirte Hymen an nahm. Endlich kann die Vagina in
das Rectum münden und der Abfluss der Menstrua, ja selbst
eine eventuelle Geburt erfolgt auf diesem \\ ego* )
Krankhafte Erscheinungen in Folge einer angeborenen
Atresia hymenalis treten gewöhnlich erst zurZeit derPubeitat
auf. Sie können gänzlich fehlen, falls zugleich rudimentäre
Entwicklung oder Mangel des Uterus dieselbe complicirt, denn
es besteht dabei gewöhnlich Amenorrhoe. Sonst aber sammelt
sich das menstruale Blut in dem blind endenden Vaginahaume
an, den es ad maximum erweitert (H ämatoko 1 p o s), dabei
den Uterus nach oben drängend; dann, wenn auch viel später,
wird das Uteruscavum ausgedehnt (Hämatometra), ja es
können selbst die Tuben ergriffen und durch das gestaute Blut
in prall gefüllte Säcke verwandelt werden (H ä mo s a 1 p i n x).
Früher wurde letztere Complication als ein Rückstauungsphä¬
nomen gedeutet, da aber heute die Tubenmenstruation9) als
eine erwiesene Thatsache angenommen werden muss, so dürfte
es sich in erster Reihe um Behinderung im Abfliessen des von
den Tuben secernirten Blutes handeln.
Mitunter sind Blutretentionen durch ein sogenanntes
supplementäres Hymen bedingt, oder durch andei-
weitige angeborene Stenosen der Scheide. In seltenen Fällen
ist die ganze Vagina atretisch und das Blut sammelt sich nui
im Uterus an. 10)
Sind die Störungen in der Entwicklung der Mü Der¬
schen Gänge tiefgreifendere, so findet keine V erschmelzung
derselben statt und es besteht ein doppelter, mehr oder weniger
gut entwickelter Geschlechtsapparat. Einer derselben kann
nach aussen normal communiciren, der andere durch eine
Atresie verschlossen sein. Es kann dann zur Entwicklung
eines Hämatokolpos oder eventuell auch eines Pyokolpos
lateralis kommen, indem die Retention nur in der obturirten
Vagina stattfindet. Auf diese Anomalien wollen wir hier nicht
weiter eingehen.
Nicht immer veranlasst die Imperforatio hymenis eine
Blutretention. Es kann in der Kindheit, noch vor Auftreten
der Menstruation durch Schleimverhaltung ein H y d r o k o 1 p o s
gebildet werden. Derartiges ist von Godefroy11 *) bei einem
5) C. Braun, Lehrbuch der Gynäkologie. Wien 1881, pag. 52.
6) W. Z i n s s t a g, Ein Fall von Conception bei Hymen occlusum.
Centralblatt für Gynäkologie. 1888, Nr. 14, pag. 221.
7) Puech, De Tatresie des voies genitales de la femme. Paris 1864,
pag. 43.
8) Payne, Cas d’absence congenitale d ostium vaginae et accouche¬
ment par l’anus. Archives de Tocologie. 1886, pag. 854.
9) M. Landsberg, Heber »Hämatosalpinx« und »Tubenmenstrua¬
tion.« Inaugural-Dissertation. Breslau 1896. — H. Thomson, Zui biage
der Tubenmenstruation. Centralblatt für Gynäkologie. 1898, Ni. o,
p&g. 1227.
10) P o 1 a i 1 1 o n, Memoires de la Societe de Chirurgie. 23. Mars 1887.
Citirt nach Rivalta, These. Paris 1898, pag. 36.
”) Gaz. des hopitaux. 1856, Nr. 42. Citirt nach Serriere, These.
Paris 1866.
zwei Monate alten und von Legendre1-) bei einem dt ei¬
jährigen Mädchen beobachtet worden. Rivalta13) erwähnt
einen Fall von Hydrosalpinx bei vollständigem Mangel
der Vagina. .
Nach einer entleerenden Punction kann ein rlamato-
kolpossack in Eiterung übergehen und, falls eine neue Retention
stattfindet, zur Bildung eines Pyokolpos und einer Pyo-
metra Veranlassung geben. Es war dies in vorantiseptischen
Zeiten ein häufiges Vorkommniss. Primärer Pyokolpos ist
selten; ein interessanter Fall ist von R h e i n s t a e d t e r 1 1) be¬
schrieben worden.
Die Symptome, welche die in Rede stehenden Retentionen
her vorrufen, sind höchst mannigfacher Natur. Symptomenloser
Verlauf wie in dem von mir beobachteten Falle, wo in An¬
betracht der grossen angesammelten Blutmenge die Menstrua¬
tion gewiss seit vielen Monaten aufgetreten sein muss, ist selten.
Gewöhnlich sind periodisch auftretende Harnbeschwerden
und immer wiederkehrende Molimina menstrualia bei absoluter
Amenorrhoe in fast allen beschriebenen Fällen zu finden. Oft
sind diese beiden Hauptsymptome vereinigt, oder es werden
nur Compressionserscheinungen von Seiten der Blase beobachtet
(fortwährender Harndrang, Dysurie, Harnretention), oder nur
Menstrualkoliken. , .
Die objectiven Symptome sind derartig unzweideutige,
dass eine einigermassen genaue Untersuchung die Diagnose
unbedingt sichern muss. Trotzdem ist wohl kein pathologischer
Zustand so oft verkannt worden, als eben der uns hier be¬
schäftigende.
Ein Theil der Fehldiagnosen ist darauf zurückzutuhren,
dass keine Localuntersuchung vorgenommen und so Cystitis,
Schwangerschaft, Ascites, Tumoren des Uterus, Cysten der
Ovarien und Anderes diagnosticirt wurde. Aber selbst nach
Inspection des sich vorwölbenden Hymens wurde dasselbe
öfters mit Blasenhernie, Fruchtblase, Gebärmuttervorfall, selbst
Uteruspolyp15) verwechselt. .
Sich selbst überlassen, führen diese Retentionen ott zu
den schwersten Complicationen. Die Berstung und Entleerung
des Sackes durch die Vulva nach aussen ist relativ noch der
günstigste, aber auch seltenste Ausgang. Es können aber
Perforationen in die Blase und den Mastdarm Vorkommen,
Rupturen der Tubensäcke mit nachfolgender tödlicher Peri¬
tonitis, oder Bildung von Blutcysten. Diese können vereitern
und in benachbarte Organe durchbrechen, mit einem \\ oi tc
die Prognose der nicht behandelten Imperforation ist eine
höchst ungünstige. ,
Die Therapie besteht in Eröffnung der Atresie und
Sicherung des freien Abflusses der gestauten Secrete. Trotzdem
dies heute als selbstverständlich erscheint, sprachen sich doch
viele ältere Chirurgen (Dupuytren, Cazeaux) gegen
jedwede operative Intervention aus. In vorantiseptischen
Zeiten bildeten derartige Blutsäcke ein noli me tangere, denn
der Eröffnung folgten oft schwere Infectionen, langwierige
Metroperitonitiden und selbst plötzliche Todesfälle. Man suchte
den Grund im Eintritte von Luft in die Hohlräume oder in
1 Zerreissungen von bestehenden Adhärenzen (Gosselin) und
Entleerung des Blutes in die freie Bauchhöhle. Um ersterem
vorzubeugen, wurde von Magen die und Marjolin c ie
Punction" vom Rectum aus vorgeschlagen und auch von
Dubois, Scanzoni, Baker -Br own und Routh aus-
geführt. Diese Methode verdient gewiss wegen der lntections-
gefahr keine Nachahmung. Auch die von Simon ") tur ge¬
wisse Fälle angegebene Eröffnung von der Blase aus, nach
vorhergehender Erweiterung der Urethra, dürfte heute wohl
wenig Anhänger finden, dies um so weniger, als die Eröffnung
5. Citirt nach Gueretin, Tnese.
1J) Gaz. des hopitaux. 1866, Nr. C
Pai',S ^Rivalta, Contribution ä l’etude des malformations congenitales
de Thymen et du \agin. Thfese de Paris 1889, pag. o2.
») Rhein „fa.dter, Primärer Pyokelpor «ml Pyo™,,a bei
einem 13jährigen Mädchen, Centralblatt für Gynäkologie. 18JU, Nr.
Pag; 14i?j Bar net che, Considerations cliniques et therapeutiques sur
l’imperforation de l’hymen. These de Paris. 18*9, Pfg- •
itf) Berliner klinische Wochenschritt. Ni. ^o.
256
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 11
von der Vulva oder von der Vagina aus (bei Haematocolpos
lateralis) unter streng antiseptischen Cautelen die er¬
wähnten Gefahren gänzlich beseitigt hat. Es wird empfohlen
den Schnitt anfangs nur klein zu machen und die Flüssigkeit
langsam ausHiessen zu lassen, oder die Entleerung durch
Troicart vorzunehmen, um Zerreissungen in den tieferen Or¬
ganen (Hämatosalpinx) vorzubeugen. Die gemachte Oeffnung
wird dann erweitert; die Art der Schnittführung ist voll¬
kommen gleichgiltig, sei es, dass man einen einfachen Längs¬
oder Querschnitt, einen Kreuz- oder H-förmigen Schnitt macht.
Von Manchen wurde das Hymen gänzlich excidirt. 17)
Von Wichtigkeit ist es, nach ausgeführter Operation der
sehr rasch eintretenden Narbenconstriction vorzubeugen; es
wurde daher empfohlen18), die Schleimhaut der atretischen
Höhle gleich mit der äusseren zu vernähen. Für alle Fälle ist
auch für späterhin eine periodische Dilatation der künstlich
gemachten Oeffnung angezeigt. 19)
Je ausgedehnter aber die Atresie ist, um so schwieriger
wird die Operation. Ist ein grosser Theil der Vagina ver¬
wachsen, so ist das Eingehen zwischen Urethra und Mast¬
darm eine recht heikle Arbeit und die Gefahr der Eröffnung
dieser Organe oder auch des Peritoneums ist jedenfalls eine
sehr grosse. Ist endlich auf diese Weise ein künstlicher Vaginal¬
canal hergestellt, so kann derselbe nur durch Transplantationen
von Schleimhaut- oder Hautstücken dauernd offen erhalten
werden. Derartige Operationen wurden mehrfach mit Erfolg
ausgeführt, so von P i c q u e211), Mackenrodt 21), ferner von
Villa r, Segond und Schwartz 22).
Bezüglich der complicirenden Hämatosalpinx wird all¬
gemein die Entfernung derselben durch Laparotomie empfohlen.
Thatsächlich bilden derartige Blutsäcke eine immerwährende
Lebensgefahr für die Trägerin und können sowohl von selbst,
als auch in Folge von Trauma 23) bersten. Spontane Entleerung
der Tube nach Eröffnung des Hämatokolpos, wie sie von
A mann 24) beobachtet wurde, ist jedenfalls ein sehr seltener
Ausgang.
Aus der chirurgischen Abtheihmg des Privatdocenten
Dr. Alex. Fraenkel an der Allgemeinen Poliklinik in Wien.
Zur Diagnostik der Oesophagusdivertikel.
Von Cand. med. Victor Blum, Hospitant der Abtheilung.
Wohl jeder einzelne Fall von typischem Oesophagus¬
divertikel beansprucht schon wegen der relativen Seltenheit
dieser Krankheit und der noch vielfach dunklen Aetiologie
eine eingehende Würdigung; die nachfolgenden Auseinander¬
setzungen sollen aber auch deshalb mitgetheilt werden, weil
die Diagnose dieser Erkrankung nicht immer eine leichte ist und
wir oft in einem gegebenen Falle erst nach Anwendung aller
zu Gebote stehenden Hilfsmittel die Diagnose mit Sicherheit
werden stellen können.
Es ist wohl kein Zweifel, dass man ein Oesophagusdiver¬
tikel leicht diagnosticiren kann, wenn bei vorgeschrittener
Krankheit deutliche Symptome, wie das Auftreten einer Ge¬
schwulst am Halse nach der Nahrungsaufnahme, Verschwinden
der Anschwellung beim Regurgitiren der genossenen Speisen
etc. ausgebildet sind. Es kann aber dann, wie aus der Lite¬
ratur ersichtlich, wenn die Erkrankung schon solche Fort¬
schritte gemacht hat, für eine eingreifende Therapie wegen
des bedeutenden Marasmus des Kranken schon zu spät sein.
1 ') T i 1 1 a u x, publicirt von Gillette, Union medicale. 1874, Nr. 4.
1S) Martin A., Pathologie und Theranie der Frauenkrankheiten.
1887, pag. 64.
1 ') B r e i s k y, Deutsche Chirurgie, llerausgegeben von Billroth und
Lücke. Krankheiten der Vagina. 1886, pag. 49.
-ü) Annales de gyn. et d’obstetrique. 1890. Citirt nach R i v a 1 1 a, 1. c.
pag. 34.
' ) Mackenrodt A., Ueber den künstlichen Ersatz der Scheide.
Centralblatt für Gynäkologie. 23. Mai 1896.
~~) Societe de Chirurgie de Paris. Seance du 30 Octobre 1895.
i3) Bine solche Ruptur in Folge von Fall ist von R. Asch in
Breslau mitgetheilt worden, Barnetche, 1, c, nag. 40.
J4) 1. c. pag. 910.
Andererseits sind die Mittel, welche uns die Frühdiagnose
dieser Krankheit erlauben, so spärlich und häutig so unsicher,
dass man als diagnostischen Behelf das Röntgen-Verfahren,
welches in unserem Falle die Diagnose ermöglicht hatte, in
allen ähnlichen Fällen wird anwenden können, und man dürfte
auf diese Art die Erkrankung richtig erkennen zu einer Zeit,
wo man die Radicaloperation, die souveräne Therapie der Di¬
vertikel, noch mit grosser Aussicht auf Erfolg beginnen kann.
In früherer Zeit wurde die in Rede stehende Krankheit
überhaupt nur selten diagnosticirt. In der Arbeit von Zencker
und Ziemssen (1877) 4) sind im Ganzen 27 Fälle aus der
Literatur zusammengestellt. Die Diagnose stützte sich in diesen
Fällen — so weit sie intra vitam überhaupt gestellt wurde —
nur auf die subjectiven Beschwerden der Kranken, die — wie
erwähnt — allerdings in vorgeschrittenen Fällen sehr charak¬
teristisch sind.
Als Hauptsymptome gelten das Steckenbleiben der Speisen
an einer bestimmten Stelle mit nachfolgender Regurgitation
des Genossenen, während zeitweilig keine Dysphagie besteht;
der Nachweis der Geschwulst am Halse, welche sich durch
einen Druck mit quatschendem Geräusche entleeren lässt, die
Symptome von Seite der durch das Divertikel comprimirten
Nachbarorgane (Trachea, Gefasse, Nerven) galten als ausschlag¬
gebend für die Diagnose: Divertikel der Speiseröhre, v. Berg¬
mann* 2) legte noch auf einen anderen Umstand grosses Ge¬
wicht, indem er betonte, dass das Symptom des Steckenbleibens
einer Sonde das eine Mal, und das anstandslose Hinabgleiten
das andere Mal für die Diagnose des Divertikels entscheidend sei.
Ein weiteres Hilfsmittel bei der Diagnose bietet die
Oesophagoskopie.
Ueber die Verwendbarkeit dieser Untersuchungsmethode
lauten die Urtheile der einzelnen Beobachter sehr wider¬
sprechend.
In neuester Zeit theilte Killian3 4) zwei Fälle mit, bei
denen er mit Leichtigkeit mit Hilfe des Oesophagoskopes die
Diagnose stellen konnte; er berichtet jedoch über einen dritten
Fall, bei dem es ihm nur gelungen war, mit dem Oesophagoskop
bis in den Sack vorzudringen, so dass er immer nur dessen
glatte, gespannte Wand zu sehen bekam.
Einen vollständig ähnlichen ösophagoskopischen Befund
constatirte Rosenheim4), der ebenfalls in einem derartigen
Falle keine Diagnose stellen konnte, so dass erst bei der
Section das Divertikel erkannt wurde, während intra vitam
eine carcinomatöse Strictur der Speiseröhre diagnosticirt wurde.
v. Hacker5) hatte nur einmal Gelegenheit, ein echtes
Divertikel ösophagoskopisch zu untersuchen. »Das Divertikel
erschien als faltiger Schleimhautsack, an dessen Wänden viel
schleimiges Secret haftete. Vom Eingang in den Oesophagus
war wegen Unruhe des Kranken kein deutliches Bild zu ge¬
winnen.«
Und auch in unserem Falle konnte man die Ergebnisse
der ösophagoskopischen Untersuchung nur wenig verwerthen,
wie die nun folgende Krankengeschichte zeigt.
Johann Z., 06 Jahre alt., Eisenbahnbeamter in Pension.
Patient kommt mit der Klage, dass er im Halse eine Lähmung
haben müsse, da er ganz eigen thümliche Schlingbeschwerden habe,
die er in charakteristischer Weise folgendermassen schildert:
Es kommt ihm häufig vor, als ob die Speisen nicht direct
in den Magen gelangten, sie blieben ihm in der Höhe des Kehl¬
kopfes stecken.
Diese Beschwerden stellen sich aber nicht nach jeder Art
von Nahrung ein, gewöhnlich gleiten flüssige und breiige Speisen
leicht hinab, während feste, namentlich in grösseren Bissen ver¬
schluckte Nahrung stecken bleibt und jede weitere Zufuhr von
Speisen verhindert. Er pflegt dann mit dem rechten Daumen in der
') Krankheiten des Oesophagus. Ziemssen’s Handbuch. Bd. VII.
2) Ueber das Oesophagusdivertikel. Archiv für klinische Chirurgie.
Bd. XLII.
s) Die ösophagoskopische Diagnose des Pulsionsdivertikels der Speise¬
röhre. Münchener medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 4.
4) Deutsche medicinische Wochenschrift. 1899, pag. 53.
D Die angeborenen Missbildungen, Verletzungen und Erkrankungen
der Speiseröhre. Handbuch der praktischen Chirurgie. 1900.
Nr. 1L
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
2ö7
Gegend der rechten Hälfte des Ringknorpels einen Druck nach
hinten innen und oben auszuführen, worauf sich gewöhnlich unter
einem laut hörbaren gurrenden, quatschenden Geräusche die Speisen
mit unverändertem Geschmacke gegen die Mundhöhle entleeren.
Dieselben werden dann abermals gekaut und in verkleinertem Zu¬
stande geschluckt passiren sie dann unbehindert in den Magen.
Dabei hat der Kranke bemerkt, dass bei diesem Regurgitiren der
Speisen häufig bei früheren Mahlzeiten Genossenes abermals in den
Mund kommt, sogar Speisen, die er vor 24 Stunden und darüber
zu sich genommen hatte.
Er bemüht sich deshalb, seine Nahrung so langsam und vor¬
sichtig als möglich einzunehmen, und trotzdem klagt er über
häufiges Verschlucken. Dabei kommt es mitunter zu Würgen und
später zu Erbrechen, und er kann genau unterscheiden, dass beim
Erbrechen zuerst unverändert schmeckende Speisen ausgeworlen
werden — Divertikelinhalt — und dann saurer und bitterer
Mageninhalt.
Ueber den Verlauf und die Ursache seiner Erkrankung be¬
fragt, macht Patient folgende Angabe:
Die ersten Reschwerden fühlte er vor vier Jahren (1896)
und er will sein Leiden auf eine im Jahre 1884 oder 1885 er¬
littene Verletzung zurückführen.
Er schluckte eines Tages beim Speisen einen Knochen eines
Huhnes, der ihm im Schlunde tief unten stecken blieb. Die hierauf
auftretenden heftigen Schmerzen und die Unfähigkeit, zu schlucken,
veranlassten ihn, ein Krankenhaus aufzusuchen, wo vergebliche Ex¬
tractionsversuche unternommen wurden und hierauf die Bougirung
des Kranken begonnen wurde.
Durch ein bis zwei Wochen konnte er darauf nur unter
heftigen Schmerzen seine Nahrung schlucken, da der Schlund, wie
man ihm im Spitale sagte, angeblich »ganz verschwollen war«.
Nach ungefähr drei Wochen war er von diesen Beschwerden
befreit, und er fühlte in der folgenden Zeit nicht die geringste Ab¬
normität des Schlingactes, bis sich im Jahre 1896 die ersten Zeichen
seiner jetzigen Erkrankung einstellten.
Er litt an häufigem Verschlucken mit Husten- und Erstickungs¬
anfällen. Er musste, um diese zu vermeiden, sehr vorsichtig essen.
Damals fand er zuerst, dass ein Druck in der Höhe des Pomum
Adami die Speisen in den Mund zurückbefördere, wenn sie nicht
von selbst nach mehrstündigem Verweilen im Halse in den Mund
oder in den Magen glitten.
Seine Beschwerden nahmen seit dieser Zeit immer zu; er
bekam seine »Anfälle von Schlinglähmungen« sehr häufig, nament¬
lich nach Genuss kalter Getränke und saurer Speisen.
Seit ungefähr einem Jahre bleiben ihm die Speisen an einer
tiefer gelegenen Stelle im Halse stecken als vordem, und es nützt
der Druck in der Höhe des Schildknorpels nichts mehr, er muss
ungefähr drei Finger breit tiefer unterhalb dieser Stelle nach auf¬
wärts und innen drücken, um die Speisen in den Mund zu
bringen.
Soweit die Angaben des Kranken, dessen Anamnese noch
ergibt, dass er ausser einem »gastrischen Fieber« im Jahre 1862
niemals ernstlich krank gewesen sei und nie an einer geschlecht¬
lichen Krankheit gelitten habe.
Der Status praesens ergibt: Grosser, im Vergleich zu
seinem Alter rüstiger und kräftiger Mann. Gesunde, bräunliche Ge¬
sichtsfarbe, Musculatur und Knochenbau kräftig entwickelt. Keine
deutlichen Zeichen von Unterernährung, Körpergewicht 72 hg. (Er
soll in den letzten Jahren einige Kilogramm seines Gewichtes ver¬
loren haben.) Patient fühlt sich gesund und kräftig und hat mit
Ausnahme seines »Halsleidens« keine Beschwerden.
Die Untersuchung der inneren Organe ergibt normale Ver¬
hältnisse.
Der Hals ist ziemlich lang, fettarm. Die Musculi sternocleido-
mastoidei springen deutlich vor. Die Schilddrüse ist nicht ver-
grössert, an normaler Stelle undeutlich zu tasten. Auch nach
Nahrungsaufnahme kein Tumor am Halse zu sehen
oder zu fühlen.
Die Raehenschleimhaut blass; die Gaumenreflexe sind fast
gar nicht auslösbar. Kein Foetor ex ore. Die bis zur Entfernung
von 13'/2 cm von der Zahnreihe eingeführte Hand tastet nichts
Abnormes.
Die Untersuchung mittelst der Oesophagussonden ergibt
Folgendes:
Gewöhnlich stösst man bei Anwendung dicker Sonden
auf einen unüberwindlichen Widerstand — 23 cm von der
Zahnreihe entfernt; es zeigt sich dabei, dass die Sonde nicht
ganz in der Mittellinie hinabgleitet, sondern gewöhnlich nach
der linken Seite abweicht.
Mitunter gelingt es jedoch, namentlich bei stark abge¬
bogener Sondenspitze, dieselbe bis in den Magen ungehindert
einzuführen.
Einige Male konnten wir eine Sonde bis in den Magen
leiten und gleichzeitig eine zweite Sonde einführen, die in der
Entfernung von 23 cm stecken blieb, sich jedoch hier in ge¬
ringen Excursionen nach rechts und links bewegen liess.
Der ösophagoskopische Befund, den ich der Güte des
Herrn Dr. Hanszel verdanke, lautet:
Gleich beim Einfuhren der ösophagoskopischen Röhre
(3 Vo cm im Umfange und 27 cm lang) gleitet die Röhre in einer
Richtung, die etwas nach links und vor Allem nach rückwärts
(gegen die Wirbelsäule zu) von der gewöhnlichen Richtung
abweicht. 19 cm von den Schneidezähnen des Oberkiefers ent¬
fernt findet sich ein elastisches aber absolutes Hinderniss für
das Weiterschieben der Röhre. Nach Anstecken des Panelcktro-
Vig. 1.
Seitliche Durchleuchtung des Halses. In der Speiseröhre der mit Queck¬
silber gefüllte Schlauch. Hinter diesem das Divertikel vor der Wirbelsäule.
('/t8 der natürlichen Grösse.)
skopes sieht man deutlich eine auffallend blasse, sonst not male
Schleimhaut und ist kein Lumen auffindbar. Während wiederholter
Untersuchungen gelang es auch einmal, Speisereste (Kaffee)
fünf Stunden nach der Nahrungsaufnahme in diesem Blind¬
sacke nachzuweisen. Dagegen gelang es niemals, eine ösopha¬
goskopische Röhre am Hindern iss vorbeizusohieben.
Eine Communicationsöff nung des angenommenen
Sackes mit dem Oesophagus wurde niemals gesehen,
da daselbst die überaus starke Schleimbildung — selbst wenn
Patient nichts zu sich genommen hatte, nicht cocainisitt war
und fleissig ausgetupft wurde — sich störend bemerkbar machte.
Da uns nun in diesem Falle die Oesophagoskopie weitere
Aufschlüsse nicht geben konnte, versuchten wir, die Diagnose
durch Untersuchung mit Röntgen-Strahlen sicherzustellen.
Es wurden vorerst Durchleuchtungen vorgenommen.
Nach Verabreichung von 50 cm3 einer 5%igen Bismuthum
subnitrium-Mixtur konnte man bei seitlicher Durchleuchtung
an einer früher ganz hellen Stelle vor der Wirbelsäule einen
ovalen Schatten auftreten sehen.
Es wurde versucht, einen dicken, am unteren Ende
geschlossenen Kautschukschlauch in den Magen einzuführen,
was nach einiger Mühe gelang; derselbe wurde nun mit me¬
tallischem Quecksilber gefüllt.
FD. 1 wurde von einer derartigen Durchleuchtung
gewonnen. Der mit Hg gefüllte Schlauch liegt im Oesophagus
258
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 11
und hinter demselben zeigt sich ein ovaler, ringförmiger
Schatten, dessen unterer Pol von der Zahnreihe etwas über
23 cm entfernt ist.
Dass dieses Oval thatsächlich einem Divertikel entspricht,
konnten wir dadurch nachweisen, dass wir einen Schlauch in
den Schlund einführten, und nun bei fortgesetzter Controle
durch die Röntgen-Strahlen eine Wismuthmixtur durch den
Schlauch eingossen. E3 entstand sofort entsprechend dem ge¬
nannten Oval ein Schatten.
Um über die Grosse des Sackes eine Vorstellung zu ge¬
winnen, wählte ich folgendes Verfahren: Ein dünnwandiger
Gummiballon, der in einen Kautschukschlauch auslief, wurde
luftleer (nach Art eines Kolpeurynters zusammengelegt) unter
Leitung eines Mandrins eingeführt, und nun liess ich in den
Schlauch eine concentrirte Bromkaliumlösung — die sich als
sehr undurchlässig für die X-Strahlen erwies (Sehrwald) —
einfliessen, und konnte auf diese Art den ganzen Sack durch
den in ihm befindlichen Ballon ausfüllen.
Fig. 2 zeigt diese Verhältnisse bei seitlicher Durch¬
leuchtung.
Durch Einführung einer mit einem Bleikern versehenen
Sonde bei gleichzeitiger Bougirung des Oesophagus mit einer
Fig. 2.
Seitliche Durchleuchtung- des Halses.l Das Divertikel' ist ausgefüllt durch
den eingeführten Gummiballon. Im Oesophagus der Kautschukschlauch.
Das Divertikel geht links hinter die Wirbelsäule. (718 der natürlichen Grösse.)
ebenso beschaffenen Bougie konnte man constatiren, dass die
beiden Sonden nach abwärts zu divergirten, und zwar ging
die ins Divertikel eingeschobene Sonde mehr nach links von
der Mittellinie.
Es liess sich somit durch die radiographische Unter¬
suchung constatiren:
1. Dass ein Divertikel der hinteren Oesophaguswand that¬
sächlich bestehe.
2. Der Sitz des Divertikels — sein oberer Pol in der
Höhe des vierten, der untere zwischen sechstem und siebentem
Halswirbel.
3. Die Gestalt des Divertikels ; dasselbe ist länglich-oval,
liegt vor der Wirbelsäule und weicht nach links von der Mittel¬
linie ab, sein oberer Pol überragt die Communicationsöffnung
mit dem Oesophagus (ein Verhalten, wie es auch der von
Schwarzenbach* 6) aus der Klinik Billroth’s mitgetheilte Fall
aufwies).
4. Die Ausdehnung des Divertikels; dasselbe wurde durch
den mit circa 70 cm 9 Flüssigkeit ausgedehnten Ballon voll¬
ständig ausgefüllt.
Die Radiographie setzt uns also in derartigen Fällen in
den Stand, die Diagnose auch in nicht vorgeschrittenen Fällen
mit grosser Sicherheit zu stellen, und sie dürfte namentlich
dann als werthvoller diagnostischer Behelf gelten, wenn die
) Zur opeiativen Behandlung und Aetiologie des Oesophagusdiver-
tikels. 1\ iener klinische Wochenschrift. 1893, Nr. 24.
ösophagoskopische Untersuchung keine sicheren Resultate
ergibt.
Ausserdem werden sich aus diesen Untersuchungen für
die Ausführung der Operationsmethode wichtige Anhaltspunkte
ergeben, da man auf diese Weise eine genaue Lage- und
Grössenbestimmung erzielen kann.
In der mir zugänglichen Literatur über diesen Gegen¬
stand findet sich kein Fall von echtem Oesophagus-
divertikel, bei dem radiographische Untersuchungen ange¬
stellt wurden.
Nur eine kurze einschlägige Mittheilung brachte Rosen-
feld7). Er konnte eine in der Höhe des Herzschattens befind¬
liche Speiseröhrenerweiterung — also kein typisches Oesophagus-
divertikel — dadurch zur Anschauung bringen, dass er das¬
selbe durch eine in den Sack eingeführte Condomgummiblase
mit Luft aufblies. Radiogramme sind dieser Mittheilung nicht
beigefügt.
Rumpel8) hat auf die Bedeutung der radioskopischen
Untersuchung aufmerksam gemacht in einem Falle von einer
diffusen spindelförmigen Erweiterung der Speiseröhre an deren
unterem Ende. Er diagnosticirte dieselbe dadurch, dass er
nach Darreichung einer Wismuthgummi-Emulsion den Kranken
durchleuchtete und in der Gegend der Cardia einen breiten
Schatten auftreten sah.
Auch Rosenheim9) empfiehlt zur Diagnose das
R ö n t g e n - Verfahren, ohne über eigene Beobachtungen zu
berichten.
Zum Schlüsse möchte ich darauf hinweisen, dass der
oben beschriebene Fall auch in ätiologischer Beziehung ein
gewisses Interesse bietet, indem aus der Anamnese des Falles
hervorgeht, dass der Kranke, wenn auch vor mehr als zehn
Jahren, ein schweres Trauma erlitten hat. Er könnte somit,
die von vielen Autoren (König, v. Bergmann, Schwarzen¬
bach, Hofmann und Anderen) geleugnete Theorie von
der traumatischen Entstehung der Oesophagusdivertikel stützen,
und es schliesst sich unser Fall den von Klose und Paul,
Hoffmann, Ludlow und Kühne publicirten Kranken¬
geschichten an. In dem Falle Ktihne’s handelte es sich, wie
in dem unseren, um das Steckenbleiben eines Geflügel¬
knochens.
Es wäre also unser Fall folgendermassen aufzufassen.
Es fand vor circa zehn Jahren eine Verletzung der Pharynx¬
schleimhaut statt, an welche sich eine heftige Entzündung an¬
schloss. Dass solche periösophageale Entzündungen zur Bildung
von Divertikeln führen können, beweist auch der Fall Hoff¬
mann’s10), wo eine Verletzung und Entzündung des
Oesophagus nach Verschlucken eines Porzellanscherbens als
Ursache für die Entstehung des Divertikels angegeben wird.
Um eine solche periösophageale Entzündung hat es sich
wahrscheinlich auch bei unserem Kranken gehandelt.
Es dürfte zu einer ausgehnten Narbenbildung gekommen
sein, wobei sich Narbenstränge bis an die Wirbelsäule ge¬
zogen haben. Die langsame aber continuirliche Schrumpfung
dieses Narbengewebes, welches ausser dieser Traction noch
einen inneren Druck von Seite der geschluckten Ingesta zu
erleiden hatte, dürfte den ersten Anstoss für die sackartige
Vorstülpung der hinteren Oesophaguswand gegeben haben.
Auf andere Weise könnte man sich die starke Vor Wölbung
der oberen Wand des Divertikels nicht vorstellen, und so
sprechen sowohl dieser Umstand als auch die präcisen ätio¬
logischen Angaben des Kranken für unsere Annahme, dass
es sich vielleicht um eine Combination von Trac¬
tions- und Pulsionskräften handelte, die in unseren
Falle zur Ausbildung des typischen Pharynxdivertikels geführt
hat. Dabei bleibt es unerörtert, ob nicht doch zu alledem eine
congenitale Anlage in jedem Falle als letzte Ursache ange¬
nommen werden muss.
') Casuistische Beiträge zu den Erkrankungen des Tractus intestinalis.
Centralblatt für innere Medicin. 1898, Nr. 29.
s) Klinische Diagnose der spindelförmigen Speiseröhrenerweiterung
Münchener medicinische Wochenschrift. 1897, Nr. 15.
9) Eulenburg’s Realencyklopädie. 1898, Bd. XVII.
,0) Deutsche medicinische Wochenschrift. 1889, Nr. 19.
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
259
In therapeutischer Beziehung ist in diesem Falle als
einzig wirksame Massregel wohl nur die Exstirpation des
Sackes indicirt. Der äusserst geduldige Patient hat sich aber
zunächst mit seinen Beschwerden so weit abgefunden und
den Entschluss, sich operiren zu lassen, für die wohl kaum
ausbleibende Eventualität noch in höherem Masse gesteigerter
Schwierigkeit der Ernährung sich Vorbehalten.
Wären die Dimensionen des Divertikels beträchtlich
kleiner als wir sie durch die radiographische Untersuchung
thatsächlich erkannt haben, dann wäre der Versuch noch einer
anderen therapeutischen Methode gerechtfertigt gewesen. Man
hätte bei längere Zeit fortgesetzter methodischer Bougirung
und ausschliesslich künstlicher Ernährung durch den Magen¬
schlauch — also bei einem Verfahren, welches jedweden
Eintritt von Ingestis in den Sack von vorneherein sicher aus-
schliesst — mit der Möglichkeit einer allmäligen Schrumpfung
und Verödung des Sackes rechnen können. Aber, wie gesagt,
die Grösse des in unserem Falle vorliegenden Divertikels liess
eine solche Cur von vorneherein aussichtslos erscheinen.
REFERATE.
I. Ueber diätetische Behandlung der Verdauungsstörungen
der Kinder.
Von Prof. Dr. Biedert.
Stuttgart 1899, E n k e.
II. Ueber die sogenannte Landkartenzunge im Kindes¬
alter.
Von Henry Böhm.
Volkmann’s Sammlung klinischer Vorträge. Neue Folge, Nr. 249.
Leipzig 1899, Breit köpf und Härtel.
III. Kinderheilkunde in Einzeldarstellungen.
Vorträge, gehalten an der Allgemeinen Poliklinik von Prof. Dr. Alois Monti.
8. Heft: Syphilis — Scroplrulose ; 9. Heft: Tuberculose.
Wien 1899, Urban und Schwarzenberg.
IV. Lehrbuch der Kinderheilkunde für Aerzte und
Studirende.
Von Dr. Bernhard Bendix.
Zweite Auflage von weiland Uffelmann’s kurzgefasstem Handbuch der
Kinderheilkunde.
Wien 1899, Urban und Schwarzenberg.
I. Die einfache und in ihren Mischungsverhältnissen variable
Zusammensetzung der Kuhmilch, des einzigen oder doch vorwiegenden
Nahrungsmittels der künstlich ernährten Säuglinge, der offenkundige
Einfluss ihrer Zusammensetzung, respective ihrer Veränderungen auf
den Ablauf der Verdauung, endlich die Empfindlichkeit der kind¬
lichen Darmschleimhaut gegen Medicamente haben von jeher auf
die rein diätetische Behandlung der Verdauungsstörungen der Säug¬
linge hingewiesen. Biedert hat das Verdienst, schon im Jahre 1883
gewisse leitende Grundsätze derselben aufgestellt zu haben.- Allzu¬
massige Stühle müssen durch Verminderung der Nahrungsmenge,
bröckelige, stinkende Ausleerungen durch Verminderung des Caseins,
Fettdiarrhöe durch fettarme Nahrung bekämpft werden. Durch genaues
Vorschreiben der Menge und Zusammensetzung der Nahrung, be¬
rechnet auf das Körpergewicht, und sorgfältige Control e der in den
Stühlen etwa erscheinenden Nahrungsreste »ist es möglich, den
Zustand der Verdauung des Kindes einerseits, das Schicksal der an¬
gewendeten Nahrungsmischung andererseits, mit einer an die Schärfe
des physiologischen Experimentes heran streifenden Genauigkeit zu
verfolgen« und die durch fehlerhafte Nahrung hervorgerufenen
Krankheitszustände in wirksamster Weise zu beeinflussen.
Seit dieser Zeit sind freilich unsere Vorstellungen über diese
Vorgänge umso complicirter geworden, je eingehender man sich mit
der Chemie und Bacteriologie des Darminhaltes beschäftigte und man
kann sagen, dass die Aufstellung der Regeln für eine rationelle
diätische Therapie heute sehr viel schwieriger ist als sie damals
erschien. Biedert, der, wie kein Anderer, das Gebiet der Säuglings¬
diätetik beherrscht, hat sich in dankenswerther Weise dieser Aufgabe
unterzogen. Er erörtert einleitend die Verdauungsvorgänge und die
Semiotik des Stuhles, wobei er der Reaction besondere Auf¬
merksamkeit widmet; sodann die Entstehung der Verdauungs¬
störungen, die im Wesentlichen auf die Wucherung abnormer
Bacterien in der Nahrung oder dem schädlichen Nahrungsreste zurück¬
zuführen sind; endlich die verschiedenen Milchpräparate und die
Verwendung derselben bei den einzelnen Formen der Magendarm-
erkrankungen.
Es ist nicht möglich, auf Einzelheiten einzugeben. Es sei nur
erwähnt, dass Biedert hier wieder der Vermehrung des Fettes,
wie sie in seinem Rahmgemenge erreicht wird, sowohl für normale,
als pathologische Verhältnisse waren, das Wort redet. Er schreibt
demselben, respective der im Darme vor sich gehenden Fettspaltung
die Erzeugung der sauren Reaction des Darminhaltes und eine die
Eiweissfäulniss hindernde Rolle zu. Referent weicht in dieser Hinsicht
von der Anschauung des hochgeschätzten Verfassers insoferne ab,
als er die Meinung vertritt, dass vielmehr die Kohlehydrate, speciell
der Milchzucker, respective die auf Kosten desselben ablaufenden
Gährungsprocesse das Eiweiss schützen und auch therapeutisch zu
diesem Zwecke verwendet werden können. Die geringe Berück¬
sichtigung, Avelche Biedert der diätetischen Verwendung der Kohle¬
hydrate zu Theil werden lässt, geht auch daraus hervor, dass er
unter den Nährpräparaten der Liebig’schen Suppe und der treu¬
lichen Dienste, die sie bei Enteritis follicularis leistet, keine Er¬
wähnung thut. Dieser Streitpunkt hindert den Reterenten aber nicht
anzuerkennen, dass der hier von Biedert vertretene Grundsatz
der diätetischen Behandlung der Verdauungsstörungen der Säuglinge
die allgemeinste Anerkennung verdient und das Handeln des Praktikers
beherrschen muss. Wer sich ein Bild von der gegenwärtigen Aus¬
gestaltung der Ernährungsmethode B i e d e r t’s und von der Art
seines praktischen Vorgehens machen will, der kann dieses Büchleins
nicht entrathen und wird es nicht unbefriedigt aus der Hand legen.
*
II. Der Autor gibt eine Zusammenstellung der Literatur über
die erst seit Mitte dieses Jahrhunderts beachtete und unter ver¬
schiedenen Namen: Pityriasis linguae, Etat lichenoide, Glossite
exfoliatrice, Wandering rash etc. beschriebene Erkrankung. Sie beginnt
mit einer circum scripten Proliferation der Epithelzellen des Zungen¬
rückens, die zur Entstehung eines weissen Fleckes führt. Durch Ab-
stossung der gewucherten Partien im Centrum bildet sich eine rothe,
nur von dünnen Epithelien überkleidete Stelle, die durch eine bogen¬
förmig verlaufende, scharf doppelt contourirte Randzone von der
normalen Zungenoberfläche getrennt ist. Meist finden sich mehrere
solcher Kreise, die, sich kreuzend und verschmelzend, allmälig über
den ganzen Zungenrücken fortkriechen. In den abgeschabten Ab¬
lagerungen findet man Epithelzellen, Bacterien und Lymphkörperchen,
wie sie auch im gewöhnlichen Zungenbeläge zu sehen sind. Das
Leiden kommt vorwiegend bei Kindern der ersten Lebensjahre vor.
Sein Verlauf ist ein eminent chronischer, subjective Beschwerden
fehlen gänzlich. Das Wesen dieser Erkrankung ist dunkel. Das Interesse,
das man derselben entgegenbringt, knüpft sich an die Frage, inwieweit
ein Zusammenhang mit dyskrasischen Zuständen besteht. Hervorragende
Autoren haben die Landkartenzunge — wohl mit Unrecht — als
ein Symptom der Lues betrachtet. Andere sehen darin einen Aus¬
druck gestörter Verdauung oder der Anämie. Böhm hat die
Liste dieser Zustände noch um einen weiteren bereichert. Bei
zwei Dritteln der von ihm beobachteten 103 Fälle fanden sich auf
Scrophulose, beziehungsweise Tuberculose hinweisende oder ver¬
dächtige Symptome, theils mit, theils ohne hereditäre Belastung.
Das familiäre Auftreten der Affection, der chronische Verlaui und
das allmälige Verschwinden derselben im späteren Kindesalter,
erscheint ihm anolog den lange dauernden, häufig recidivirenden
Katarrhen, wie sie auf anderen Schleimhäuten bei der Scrophulo-
tuberculose beobachtet werden. Befremdlich erscheint nur, dass
dieses neue Syndrom der Scrophulose nach den eigenen Angaben
des Autors in der Hälfte der Fälle schon unmittelbar nach dei
Geburt, somit zu einer Zeit erscheint, in welcher andere scrophulose
Erscheinungen fehlen, oder doch äusserst selten sind.
*
III. Von den in rascher Folge erschienenen Lieferungen enthält
das achte Heft eine sehr sorgfältige Bearbeitung der Syphilis, bei
der wir die Berücksichtigung der neuesten Literatur, speciell dei
Arbeiten von Hecker undAntonelli hervorheben müssen. Die
Therapie bringt eine fast vollständige Aufzählung und auf eigene
Erfahrung gegründete Beurtheilung fast aller gegen Lues angewendeten
Mittel und Methoden. Nur bei der Behandlung der Syphilis tarda
hätte Referent eine stärkere Betonung der specifischen Wirkung der
Jodpräparate gewünscht, die ja geradezu als diagnostisches IlilU-
mittel Verwendung finden kann. Auch in dem Capitel übei Suop ui
260
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 11
lose fesselt der therapeutische Theil in erster Linie unser Interesse
insbesondere durch die Gegenüberstellung der in den See- und den
Alpenhospizen erzielten Erfolge, wofür Monti als Begründer der in
San Pelagio und in Ischl bestehenden Heilstätten ein unerreichtes
Vergleichsmaterial besitzt. Beide ergeben — die Dauerbehandlung
in wohlorganisirten Anstalten vorausgesetzt — gegenüber den
scrophulösen Haut- und Schleimhautaffectionen die gleichen günstigen
Wirkungen, während bezüglich der einfach hypertrophischen
Schwellung der Drüsen und der Entzündung des Periostes die
Seeluft und die Seebäder viel günstiger wirken als Alpenluft und
Soolbäder.
Weniger glücklich erscheint das Capitel über Patho¬
genese und Symptomatologie der Erkrankung. Das Wesen
derselben bezeichnet Monti als eine durch anomale Func¬
tion des trophischen Nervensystems zu Stande gekommene
»Herabsetzung des Stoffwechsels, die sich nicht allein in einer
vermehrten (?) Aufnahme und Abgabe von Stoffen charakterisirt,
sondern vorwiegend in einem mangelhaften Verbrauch und einem
verminderten Umsatz der Nährstoffe in den Geweben selbst«. Auch
die Eintheilung der Scrophulose in drei Stadien, wovon das erste
durch die geringere Widerstandsfähigkeit, das zweite durch die Ent¬
wicklung örtlicher entzündlicher und hyperplastischer Processe, das
dritte durch den Uebergang der letzteren in die bekannten Er¬
scheinungen der Localtuberculose gekennzeichnet ist, entspricht nicht
ganz den heutigen Anschauungen, denen zufolge die tuberculöse
Infection schon erheblich früher, im zweiten, ja sogar im ersten
Stadium erfolgen kann.
Das folgende neunte Heft bringt eine eingehende Schilderung
der Miliartuberculose, der Tuberculöse der Lungen, der Lymph-
drüsen und der Verdauungsorgane. Der Autor hat dabei die patho¬
logisch-anatomischen Veränderungen mit besonderer Aufmerksamkeit
behandelt und sich bemüht, die klinische Eintheilung und Sympto¬
matologie auf Grund derselben zu entwickeln. In der erschöpfenden
Darstellung der durch Bronchialdrüsentuberculose hervorgerufenen
Erscheinungen thut Verfasser auch des Smith’sclien Geräusches
als eines zu wenig gewürdigten diagnostischen Hilfsmittels Erwähnung.
Referent kann dies aus eigener Erfahrung bestätigen. Er hat jedoch das
Phänomen nicht nur bei Bronchialdrüsenphthise, sondern auch in
Fällen beobachtet, wo keinerlei Vergrösserungen der Bronchialdrüsen,
wohl aber eine Struma vorhanden war. Man wird also in der Ver-
werlhung desselben vorsichtig sein müssen.
ln der Therapie nehmen die diätetischen und klimatischen
Behandlungsmethoden die erste Stelle ein und speciell den öster¬
reichischen Collegen wird es von Werth sein, das auf so reiche
Erfahrung gestützte Urtheil Monti’s über unsere Luftcurorte nach¬
zulesen. Der längere Aufenthalt tuberculöser Kinder während der
Wintermonate in Meran, Gries, Arco, ja selbst Gossensass ist oft
von ausgezeichnetem Erfolge, während südlichere Gegenden geringeren
Werth haben. In den Sommermonaten empfiehlt sich der Aufenthalt
im Mittelgebirge, in windgeschützten Gegenden, wie Gleichenberg,
Ischl, Aussee, Reichenhall, Semmering etc. Den Schluss bildet eine
sorgfältige Zusammenstellung der intern verwendeten Heilmittel und
deren Erfolge, unter denen auch die Organotherapie und die Serum¬
behandlung nicht vergessen sind.
*
IV. Zu der grossen Zahl der schon vorhandenen Lehrbücher
ist ein neues hinzugekommen, glücklicher Weise ein solches, das
genug Vorzüge besitzt, um neben und vor manchem älteren seine
Existenz zu rechtfertigen. Diese Vorzüge sind : die lebendige fliessende
Darstellung bei knapper, alles Ueberflüssige vermeidender Diction,
welche es ermöglicht, den reichen Inhalt auf 546 Seiten zusammen¬
zudrängen, die Beherrschung des Stoffes, die sich nicht nur in der
Bekanntschaft mit den neuesten Forschungsresultaten, sondern auch
in der von dem Schema abweichenden Behandlung bekannter Krank¬
heitstypen äussert, die Bestimmtheit und Entschiedenheit des
Urtheils, insbesondere auch in therapeutischen Dingen, die bei dem
Leser das Gefühl der Unsicherheit und die Qual einer Wahl zwischen
verschiedenen Anschauungen und Mitteln nicht aufkommen lässt.
Das letztere verdankt der Autor wohl in erster Linie dem Um¬
stande, dass er als langjähriger Assistent der Berliner Universitäts-
Kinderklinik in seinem Buche die Lehrmeinungen und Grundsätze
der H e u b n e r’schen Schule in systematischer Weise zum Ausdruck
gebracht hat. Diese Eigenschaft verleiht dem B e n d i x’schen Werke
ein hervorragendes Interesse für die wissenschaftlichen Kreise, während
die oben genannten Vorzüge es zugleich als Handbuch für die
Studirenden empfehlen.
Das Lehrbuch ist als die zweite Auflage des Handbuches der
Kinderheilkunde von Uff el mann, des verstorbenen Professors
der Hygiene in Rostock, erschienen und die etwas unbefriedigende
Eintheilung des Stoffes rührt noch von diesem her. Die dem Werke
Uffelmann’s eigentümliche starke Betonung der Hygiene und
Prophylaxe ist dem allgemeinen Tlieile zu Gute gekommen, der den
besten und eigenartigsten Theil des Buches darstellt. Nur in dem
Capitel über Ernährung hätte Referent eine wärmere Em¬
pfehlung der gemischten Ernährung und eine weniger ein¬
seitige Darstellung der künstlichen Ernährung mit Kuhmilch ge¬
wünscht. In der zweiten Tabelle der Nahrungsmengen auf pag. 25 ist
übrigens das Princip der volumetrischen Methode in ganz folge¬
richtiger Weise zur Durchführung gelangt, wenn auch diese Be¬
zeichnung vermieden wurde. Ein weiterer Vorzug dieses Abschnittes
ist die scharfe Unterscheidung und Trennung der Altersperioden,
die den Verfasser zu einer anschaulichen Darstellung der wech¬
selnden Morbidität des Kindesalters geführt hat. Warum nicht
auch der Mortalität?
Auch der klinische Theil, speciell die so schwierige Darstellung
der Verdauungsstörungen ist durchwegs gelungen. Ein Beweis für das
selbstständige Urtheil ist das Capitel über den Dentitio difficilis.
Wir lesen darin nicht nur von örtlichen Beschwerden, sondern auch
von Fiebern, eklamptischen Anfällen etc., die durch den Zahnprocess
hervorgerufen werden können und erwarten nunmehr, dass der Autor
auch den wissenschaftlichen Beweis dafür erbringen wird. Nur
Weniges haben wir vermisst; so die Erwähnung der Bernheim¬
sehen Schiffchen bei der Stomatitis ulcerosa, die wir wiederholt zu
bestätigen Gelegenheit hatten, der endemischen Grippe Filatow’s,
gewisser Formen von Herzmuskelerkrankungen etc. Ein Lapsus calami
auf pag. 305 sei richtig gestellt, wo das Trou de Botal mit Ductus
arteriosus statt mit Foramen ovale übersetzt ist.
Escherich.
I. Beiträge zur Frage der Volksheilstätten (IV).
Von Dr. med. Hans Weicher.
Breslau 1899, Grass und Barth.
II. Ueber »infectiöse« Lungenentzündungen und den
heutigen Stand der Psittakosis-Frage.
Von Prof. Dr. Leichtenstcrn (Köln).
Separat- Abdruck aus dem Centralblatt für allgemeine Gesundheitspflege.
XVIII. Jahrgang. Bonn 1899, Strauss.
III. Die Bedeutung der Lungenschwindsucht für die
Lebensversicherungsgesellschaften.
Von Paul Croner, praktischer Arzt aus Berlin.
Inaugural-Dissertation. Berlin 1899, Schede.
IV. Zur Bekämpfung der Lungenschwindsucht.
Streifzüge eines Arztes in das Gebiet der Strafrechtspflege.
Von Dr. med. Theodor Büdingen in Mainz.
Separat-Abdruck aus der Deutschen Vierteijahrsschrift für öffentliche
Gesundheitspflege. Bd. XXXI, Heft 3. Braunschweig 1899, Vieweg.
V. Die Handhabung des Heilverfahrens bei Versicherten
durch die Hanseatische Versicherungsanstalt für In-
validitäts- und Altersversicherung im Jahre 1898 und
Ergebnisse des Heilverfahrens bei lungenkranken Ver¬
sicherten bis Ende 1898.
VI. Leitende Gesichtspunkte bei der Auswahl und Nach¬
besichtigung der in Heilstätten behandelten Lungen¬
kranken im Bezirke der Hanseatischen Versicherungs¬
anstalt und Bemerkungen über Sommer- und Winter-
curen.
Sonderabdruck aus dem Berichte über den Congress zur Bekämpfung der
Tuberculöse als Volkskrankheit.
Von Dr. Aug. Predöhl in Hamburg.
VII. Die Erfolge der Heilstättenbehandlung Lungen¬
schwindsüchtiger, und klinische Bemerkungen zur Tuber¬
culosis pulmonum.
Von Dr. F. Reiche.
Deutsche medicinische Wochenschrift. 1899, Nr. 31, 32, 31.
VIII. La Tuberculöse est curable. Moyen de la reconnaitre
et de la guerir. Instructions pratiques ä Tusage des
families.
Par Dr. Elisöe Ribard.
Paris 19C0, Carre et C. N a u 1.
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
261
J. Der unermüdliche Leiter des »Krankenheim« in
Görbersdorf hat uns wieder eine statistische Arbeit geliefert, die
Jedem einen Einblick in den Betrieb dieser Heilanstalt gestattet.
Wir erfahren nicht nur die Heilerfolge, die Dauer derselben, um deren
Mittheilung es dem Verfasser in der vorliegenden Arbeit ganz besonders
zu thun war, sondern hören auch die verschiedensten auf die
Heredität, die Lebens- und Erwerbsverhältnisse etc. bezugnehmenden
Zahlen. Darauf auch nur andeutungsweise einzugehen, verbietet
sich von selbst, es kann daher nur wahllos da und dort ein Stück
herausgenommen werden, um kurz darüber zu referiren.
Weicker berichtet zuerst über die Heilerfolge der im
Jahre 1898 entlassenen Kranken, von denen 66 = 10% dem
ersten, 287 = 44'4% dem zweiten und 293 = 45'4% dem dritten
Stadium angehören; dabei rechnet er unter die erste Gruppe die
Fälle von Bronchitis, Peribronchitis, disseminirten Herden in einer
Spitze; zur zweiten Infiltration geringeren Grades in beiden Supra¬
clavicular-, respective Supraspinalgruben oder Infiltration eines
Lappens, zur dritten Gruppe alle über zwei hinausgehenden Er¬
krankungen. Erfreulicher Weise bessert sich die Auswahl der
zur Aufnahme empfohlenen Kranken fortwährend, was er mit Recht
auf zunehm endesinter esse von Seite der Aerzte zurückführt.
Von diesen angeführten, im Jahre 1898 entlassenen Patienten
waren :
1. Gebessert . 600 = 92-8%
2. Ungebessert .... 33= 5'1%
3. Verschlechtert . . . 8= 1‘2%
4. Verstorben .... 5= 0*9%
Ferner mit Rücksicht auf die Erwerbsfähigkeit:
Arbeitsfähig . 406 = 62‘9%
Theilweise arbeitsfähig . 95 = 14*6%
Nicht arbeitsfähig . . . 140 = 2U6%
Verstorben . 5 = 0'9%
Jene statistischen Angaben, die sich auf die Dauer der
Anstaltserfolge beziehen und durch Umfragen gesammelt
wurden, ergaben nach W e i c k e r’s eigenen Worten die folgenden
Resultate:
»Nach vorstehender Statistik haben von dem
derHeilstätte zugeführten Kranken material selbst
noch nach drei und vier Jahren ein Drittel aller
Patienten ohne jede Ausscheidung (der ungeeigneten
Fälle etc. Anmerkung des Referenten) einen Dauererfolg,
indem sie nach eigener schriftlicher Mittheilung
befähigt sind, ihrer Arbeit voll und ganz nach¬
zugehen.
Düster, fast entmuthigend dagegen sehen die Zahlen in der
Rubrik »Verstorben« aus. Nach bereits zwei Jahren sind
von sämmtlichen früheren Insassen derHeilstätte
nahezu einDrittel, nach drei und vier Jahren schon
die Hälfte verstorben; jedoch ist hier nicht zu übersehen, dass
in dem Zahlenmaterial viele fortgeschrittene Fälle enthalten sind.«
Die Schlüsse, die man aus diesen Thatsachen ziehen kann,
sind ja gewiss sehr interessant; immer und immer wieder kommt
die Forderung heraus: Gute Auswahl bei der Aufnahme!
Den Geeigneten kann für lange Zeit, ja für immer geholfen werden,
der bei Ungeeigneten erzielte Erfolg ist, wenn überhaupt vorhanden,
ephemer. Aus jeder Specialstatistik der ausgezeichneten Arbeit
W e i c k e r’s geht die Berechtigung dieser Ansicht hervor. Er führt
aber auch eine Statistik an, die gerade diesen Punkt illustrirt:
Während von den in den Jahren 1896, 1897, 1898 arbeitsfähig
entlassenen geeigneten Fällen 100, 97, respective 95%
arbeitsfähig geblieben sind, sind von den nicht arbeits¬
fähig entlassenen ungeeigneten Kranken (drittes Stadium)
944, 80'0, respective 564% gestorben.
Ganz richtig sagt daher Weicker: »Es ist eine falsche
Humanität, ungeeignete Phthisiker einer Volksheilstätte zu über¬
weisen. . . . Ich erkenne durchaus die Bediirfnissfrage an, dass
Krankenhäuser geschaffen werden, welche den vorgeschrittenen
Fällen geeignete Unterkunft bieten. Soll aber eine Heilstätte
eine Stätte der Heilung sein, so gilt es vor Allem, das
Krankenmaterial sorgfältig zu prüfen, ehe es der Heilstätte über¬
wiesen wird.«
Diesen Worten kann gar nichts hinzugefügt werden, als der
lebhafteste Wunsch nach baldiger Realisirung dieser Idee. Arbeiten
wie die vorliegende, die ebenso durch ihre klare Ausdruckweise
wie durch die grosse Aufrichtigkeit jeden Leser für sich einnimmt,
müssen endlich den gewünschten Erfolg haben!
*
II. Die Leichtenster n’sche Arbeit beschäftigt sich mit
jener interessanten Krankheit, die unter dem Namen der Psitta-
kosis allgemein bekannt, aber doch noch immer recht dunkel
ist. Vor Allem constatirt der Verfasser, dass es sich um keine
bacteriologische Einheit handelt. Ebenso ist es bisher noch nicht
gelungen, den Nachweis zu liefern, dass diese Erkrankung, die
stets unter dem Bilde einer atypischen, oft mit typhösen Er¬
scheinungen einhergehenden Pneumonie auftritt, in der That vom
Papagei direct auf den Menschen übertragen wird. Andererseits
aber ist es aus den angeführten Beispielen zu sehen, wie der Weg,
den eine Papageiensendung von einem Ort zum anderen nimmt,
durch das Auftreten besonders bösartiger Pneumonien gezeichnet
ist, so dass nicht viel Phantasie dazu gehört, einen Causalnexus
zwischen den Papageien und dieser Krankheit herzustellen. Sehr
lehrreich ist die von Leich ten stern angeführte Pariser
Epidemie vom Jahre 1892 :
Zwei Händler beziehen aus Südamerika 500 Papageien, die,
in Paris angekommen, in verschiedene Häuser verkauft werden. Im
Hause des einen Händlers war der erste Krankheitsherd,
dessen Ausbreitung sich nun genau verfolgen lässt, da überall,
wo Papageien verkauft werden, dieselbe Krankheit auftritt. Im
Ganzen umfasst dieser Herd 26 Personen, von denen 8 sterben.
Der zweite Besitzer der Papageien, der anderswo wohnt, erkrankt
nicht nur selbst, sondern mit ihm noch 10 Mitbewohner desselben
Hauses, von denen 5 starben. Von dort aus wurden Vögel ver¬
kauft an:
Herrn V., der erkrankt;
Herrn B., der sammt Frau und Tochter erkrankt; er stirbt;
Herrn V., der erkrankt;
Fräulein G., die erkrankt und stirbt;
Herrn M., der erkrankt und stirbt;
Herrn C., der sammt seiner Frau erkrankt und stirbt;
zwei Personen, die erkranken.
Diese Papageien-Sendung hat also im Ganzen 49 Erkrankungs¬
fälle (mit 16 Todesfällen) zur Folge gehabt.
Analog dieser Epidemie, die ja für den Vorurtheilslosen an
sich schon fast beweisend ist, werden noch die verschiedenen an
anderen Orten beobachteten Fälle erzählt, bei denen immer wieder
das Zusammentreffen der Krankheit mit dem Ankäufe eines Papageis
auffällt, so dass auch in diesen Fällen von Pneumonie-Epidemien
an das thatsächliche Vorliegen von Psittakosis gedacht
werden muss.
Die Schlüsse, die Leichtenstern selbst aus den ange¬
führten Thatsachen zieht, sind ungefähr folgende:
Der sichere Beweis, dass die Ansteckung in den bis¬
herigen Fällen that sächlich von Papageien ausging, ist zwar
nicht erbracht; dagegen ist das Vorkommen schwerer Infections-
krankheiten bei diesen Vögeln bewiesen. Ohne Zweitel können die
diesen Erkrankungen zu Grunde liegenden Mikroorganismen (Strepto-,
Staphylo-, Pneumococcen, Proteus- und Goli-Arten) auf den Menschen
übertragen werden. Die sogenannte P s i 1 1 a k os i s ist eine in allen
Epidemien gleiche, atypische Pneumonie, oft mit typhösen Sym¬
ptomen. Die g 1 e i c h e n Hausepidemien können auch ohne Inte r-
vention von Papageien Vorkommen. Trotzdem darf man
aber die Möglichkeit der Entstehung gewiss nicht einfach leugnen,
da einige Epidemien, besonders die früher erzählte vom Jahre 1892
(Paris), doch mit der grössten Wahrscheinlichkeit auf die Ent¬
stehung der Krankheit durch Papageien hinweisen. Auch in Bezug
auf die Prophylaxe empfiehlt der Verfasser grösste Vorsicht beim
Ankauf von Papageien (keine kranken Vögel!) und bchutzmass-
regeln von Seite der Sanitätsbehörden.
Die Arbeit ist nicht nur für den Epidemiologen von Interesse,
sondern jedem Praktiker zu empfehlen, weil wir es in der frag¬
lichen Erkrankung mit einem zwar ziemlich seltenen, aber desto
ernsteren Zustand zu thun haben.
*
III. Von welcher enormen Bedeutung die Tuberculose für
die Lebensversicherungs-Gesellschaften ist, davon kann man sich
wohl nur in Deutschland die richtige Vorstellung machen, weil dort
262
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 11
durch das Gesetz das Versicherungswesen auf einer ganz anderen
Stufe steht als bei uns. Cr on er hat sich der Mühe unterzogen,
durch genaues Studium einer grossen Zahl von Krankengeschichten
diesen Einfluss kennen zu lernen und hat gleichzeitig die Mittel
angegeben, die Verhältnisse in einer Weise zu ändern, die beiden
Theilen nützt.
Der eine Weg, nämlich jenen Unglücklichen, von denen an-
zunehmen ist, dass sie bald der Schwindsucht zum Opfer fallen
werden, die Aufnahmsbedingungen zu erschweren, widerspricht, wie
Cr on er ganz richtig hervorhebt, dem idealen Zweck der »Ver¬
sicherung« ganz und gar, denn gerade diese Leute wollen die
tröstliche Gewissheit haben, »die Angehörigen nach ihrem Tode
nicht in Noth zurückzulassen, und ihnen wenigstens die erste
Hilfe zu gewähren, wenn ihnen der Ernährer genommen ist.«
Der einzig richtige Weg ist die Gründung von
Lungenheilanstalten. » Sie (die Versicherungsgesellschaften)
müssen sich vereinigen und Heilstätten begründen, in welchen sie
ihre Versicherten zu ermässigten Preisen aufnehmen könnten, so¬
bald hei diesen die ersten Zeichen der Tuberculose festgestellt
wären.« Sehr zweckmässig erscheint des Verfassers Vorschlag, die
Versicherten zu verhalten, alljährlich ein ärztliches Zeugniss über
ihren Gesundheitszustand der Gesellschaft vorzulegen, um so den
richtigen Zeitpunkt nicht zu versäumen. Dann aber müssten that-
sächlich in einer solchen Anstalt nur »geeignete« Fälle aufgenommen
werden, die Heilerfolge daher glänzende sein. »Im Interesse
der Humanität, welches wir Aerzte ja allein zu vertreten haben,
wäre es erfreulich, wenn die Gesellschaften diesen Punkten näher
treten würden.« Diesen Schlussworten des Autors kann nur lebhaft
zugestimmt werden. Wäre es doch nur in Oesterreich
auch schon so weit!
*
IV. B ü di n gen’s Arbeit betrachtet die Tuberculose von
einem bis nun kaum gewürdigten Standpunkte: Bekämpfung
gewisser Seuchenherde ist seine Devise. Solche sind vor
Allem in den Strafanstalten zu finden. Aus den mit grosser
Genauigkeit zusammengestellten Zahlen, die aber nach Bü dingen’s
Angabe stets entschieden hinter der Wirklichkeit Zurückbleiben,
ergibt sich nicht nur die enorme Häufigkeit der Tuberculose in
Strafanstalten, sondern auch die sehr zu beherzigende Thatsache, dass
Viele tuberculös entlassen werden, dass also durch die
Strafanstalten die Ausbreitung der Tuberculose
wesentlich erleichtert wird.
»Man muss sich nur ein Bild zu machen suchen«, sagt der
Verfasser (pag. 15), »zu wie vielerlei Infectionsmöglichkeit ein schwind¬
süchtig entlassener Sträfling auf der Wanderschaft, der Land¬
streicherei oder in wiedererlangter Stellung, in der Werkstätte und
in seiner eigenen Behausung Veranlassung geben kann!
Darin liegt die grosse, die gefahrvolle Be¬
deutung der Strafanstalten auch für die freie Be¬
völkerung. In der Geschichte der Ausbreitung der
Tuberculose spielen sie eine grosse, jedenfalls
eine über ihre bisherige Würdigung herausgehende
Rolle in allen Ländern.«
Der Verfasser geht dann auf die Auseinandersetzung jener
Umstände ein, die für die Häufigkeit der Schwindsucht in Straf¬
anstalten verantwortlich gemacht werden müssen. Die gegen den
Krankheitserreger gerichteten prophylaktischen Massregeln sind an
der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt, die allgemeine Pro¬
phylaxe zwar noch erweiterungsfähig, aber nicht vielversprechend.
Es müssen daher andere Massregeln zur Anwendung kommen, die
besonders auf folgende Punkte hinauslaufen:
1. Beschränkung des Zuganges nach den
Seuchenherden.
2. Verhütung der Entlassung Kranker.
3. Schutz der Gesunden in den Anstalten durch
Isolirung der Kranken.
Der ersten Forderung kann durch Anwendung der »be¬
dingten Begnadigung«, d. h. eines Strafaufschubes bei
jugendlichen, erstmalig zu leichten Strafen verurtheilten Leuten,
die unter Umständen in die Begnadigung übergehen kann, Genüge
gethan werden; dies umsomehr, als die juridischen Autoritäten
dieser Massregel freundlich gegenüberstehen. Da es ein »vitales
Interesse der Gesellschaft ist, dem tuberculösen Verbrecher eine
besondere Behandlung angedeihen zu lassen«, verlangt B ii d i n ge n
die Zwangsbehandlung bedingt begnadigter, in den
Frühstadien der Lungentuberculose stehender
Kranker, wenigstens jener, die erblich belastet und bei denen
eine Spontanheilung nicht mehr zu erwarten ist. Was die Finanzirung
des Projectes betrifft, so schlägt der Verfasser vor, sich an die
Versicherungsanstalten zu halten, da es ja in ihrem eigenen Inter¬
esse liegt, die Invalidität hinauszuschieben. Für schwer kranke Ver-
urtheilte will er keine Begnadigung, sondern Isolirung in
der Strafanstalt. Ebenso sollte auf solche Sträflinge das Recht der
bedingten Entlassung nicht an ge wendet werden.
»Was soll ein derartig bedauernswerther Mensch — doppelt be-
dauernswerth: als Kranker wie als entlassener Gefängniss- oder
Zuchthausinsasse — in und mit der Freiheit beginnen?... Mit
dem Augenblicke seiner Freilassung beginnt die Grausamkeit der
Gesellschaft gegen ihn und seine Rache an der Gesellschaft.«
Um nicht, wie es so oft geschieht, dadurch überrascht zu
werden, dass ein gesund eingelieferter Häftling plötzlich schwer
tuberculös ist, verlangt der Verfasser ein Gesetz, nach dem alle
Insassen der Anstalt in bestimmten Intervallen ärztlich untersucht
werden müssen. Jene, die vor ihrer Entlassung krank werden,
sollten nach dem Princip des »Progressivsystems« in geeigneten,
gut gelegenen ad hoc errichteten Stationen untergebracht werden ^
Die Entscheidung der dritten der früher angegebenen Forderungen
gehört in die' Gompetenz der Hausärzte der Strafanstalten.
Den Schluss der Arbeit bildet eine Art von Selbstkritik, die
Besprechung verschiedener eventueller Einwände gegen des Ver¬
fassers Forderungen.
Die kleine Brochure behandelt einen Gegenstand, der ohne
Zweifel von der allergrössten Bedeutung für die Tuberculose als
Volkskrankheit ist. Wenn auch die Vorschläge des Verfassers
vielleicht in einzelnen Details auf Schwierigkeiten in der all¬
gemeinen Durchführung stossen, so bleibt es immerhin ein an-
erkennenswerthes Unternehmen, auf diesen Gegenstand, der in der
Tuberculosenfrage bisher weniger beachtet worden ist, als er ver¬
dient, aufmerksam gemacht zu haben. Es wäre daher lebhaft zu
wünschen, dass nicht nur Aerzte, sondern ganz besonders Rechts¬
kundige dem Verfasser auf seinen »Streifzügen« folgen, damit das
grosse Uebel, das er klar und ohne Rücksicht aufgedeckt hat, mit
der Wurzel ausgerottet werde.
*
V. Eine statistische Arbeit, die auszugsweise nicht wieder¬
gegeben werden kann. Sie beginnt mit einem Vorworte aus der
Feder des rührigen Directors der Hanseatischen Versicherungs¬
anstalt in Lübeck, Gebhard, der sich die Bekämpfung der
Tuberculose mehr zur Lebensaufgabe gemacht hat, als so mancher
Arzt. Welchen Antheil die Invaliditäts-Versicherungsanstalten in
Deutschland an der Heilstättenbewegung nehmen, ja dass die ver¬
schiedenen Anstalten ihre eigenen Heilstätten bauen, darf wohl als
bekannt vorausgesetzt werden.
Eine Folge dieser erspriesslichen Thätigkeit ist der vorliegende
Bericht, der sich zum Theile auf die Ergebnisse des Jahres 1898,
zum Theile auf die Gesammtzeit (1893 — 1898) bezieht. Aus der
grossen Reihe der Tabellen über die verschiedensten Verhältnisse
der Behandelten seien nur wenige Daten herausgegriffen.
Auf Kosten der Hanseatischen Anstalt wurden im Jahre 1898
zur Behandlung übernommen: G38 Kranke, dazu 83 vom Vorjahre
Verbliebene, zusammen also 721. Am Schlüsse des Jahres 1898
blieben 102 von diesen noch in Behandlung. Diese erfolgte zum
grössten Theile in der eigenen Heilanstalt in 0 d e r b e rg (Männer),
respective in St. Andreasberg und Salzuflen (Weiber),
theils in anderen Heilanstalten (Rehburg, Altenbrak, Görbersdorf)
oder Curorten (Büsum).
Der Grad des bei 2169 Lungenkranken erreichten Erfolges
(bei einer durchschnittlichen Behandlungsdauer von 10 — 15 Wochen)
war folgender:
1. Voll erwerbsfähig . 441 = 10’7°/o
2. Voll erwerbsfähig, aber die Dauer der Erwerbsfähigkeit
nicht sicher . . 1185 = 55‘5%
3. Erwerbsfähigkeit wesentlich gebessert . 243 = 11'4%
4. Erwerbsunfähig . 259 = 12‘1° 0
5. Verstorben . 4 = 0-2%
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900
263
(Hier sind sämmt liehe Kranke von 1898 — 1898 gezählt,
ausser jenen, die weniger als vier Wochen in Behandlung
waren.)
In 187 Fällen wurde eine Wiederholung des Heilverfahrens
gewährt.
Ausserordentlich wichtig sind die von der Anstalt angestellten
Nachuntersuchungen; die Resultate dieser sind denn auch ganz
genau angeführt. Daraus sei nur erwähnt, dass von den bis
Ende 1897 Entlassenenen Ende 1898 noch 7T8% erwerbs¬
tätig waren, ein gewiss recht günstiger Erfolg.
Wer sich für die Heilstättenbehandlung der Tubereulose
interessirt, findet in dem Berichte, der auf den ersten Blick aller¬
dings einer Logarithmentafel nicht unähnlich ist, einen sehr
wichtigen Behelf zur Beurtheilung der betreffenden Verhältnisse.
*
VI. Predöhl, der Vertrauensarzt der Hanseatischen Ver¬
sicherungsanstalt hat dasselbe Krankenmaterial zur Basis seiner
Beobachtungen genommen, das schon in V angeführt ist. Er spricht
sich ganz präcise über die wichtige Frage aus, wann ein Kranker
zur Aufnahme in eine Heilanstalt geeignet sei und wann nicht.
Dass er Kehlkopfcomplicationen, selbst leichter Art, von der
Aufnahme ausschliesst, scheint doch etwas zu weit gegangen. Denn
gerade nach dieser Richtung kann man oft die schönsten Erfolge
sehen, wenn die allgemeine mit der localen Behandlung com-
binirt wird.
Der zweite Theil der Arbeit beschäftigt sich mit der Unter¬
suchung über die Dauer der Cure r folge; er beschränkt sich
aber darauf, die Gesichtspunkte anzugeben, nach welchen diese
Frage entschieden werden soll, ohne dass er thatsächliche Zahlen
anführt. Schliesslich stellt er einen Vergleich zwischen den Er¬
folgen der Sommer- und Wintercuren an, der ergibt, dass kein
Unterschied besteht.
*
VII. Auch Reiche’s Arbeit hängt mit den beiden ange¬
deuteten Publicationen zusammen, auch sie beschäftigt sich mit
jenen Lungenkranken, welche die Hanseatische Versicherungs¬
anstalt bisher einer Behandlung zugeführt hat. Wie dort, so sollen
auch hier nicht so sehr definitive Schlüsse aus den erzielten Re¬
sultaten gezogen werden, sondern vielmehr nur der Weg angegeben
werden, auf welchem man zur grösstmöglichen Ausnützung der
Erfahrungen gelangen kann. Auf diese Art ist bei gleichmässigem
Vorgehen Aller am leichtesten eine Generalstatistik zu erzielen, die
es erst gestatten wird, unwiderlegliche Schlüsse über den Werth
der Heilstättenbehandlung zu ziehen.
*
VIII. Eine zwar populäre, jedoch nur für die gebildeten Kreise
bestimmte Darstellung der Tuberculose und deren Bekämpfung. Der
Verfasser trachtet, durch eine ziemlich eingehende Beschreibung,
durch eine Reihe recht guter Abbildungen das Verständniss zu
erleichtern.
So ist z. B. die Schilderung des tuberculösen Habitus derart,
dass der aufmerksame Leser schliesslich ein klares Bild dieses
Menschen vor Augen hat. Zu weit ist es wohl gegangen, wenn der
Verfasser- auch die Haarfarbe in Betracht zieht und besonders im
rothen Haare ein wichtiges Zeichen der Prädisposition sieht, wenn
der Beschreibung der Augen, Nase, Zähne, Nägel u. dgl. je ein
eigener Abschnitt zugedacht ist.
Gelegentlich der Besprechung der Verhütung und Heilung
stellt er sich ganz auf den Standpunkt der modernen Anschauungen.
Sehr eingehend durch Illustrationen unterstützt, werden jene gym¬
nastischen Uebungen erklärt, die zu einer Kräftigung der Athem-
musculatur, zur Stärkung der Lunge selbst führen. Das Büchlein
schliesst mit einem warmen Appell an die Mütter, die ihre
Kinder behüten, die A e r z t e, dass sie die Krankheit recht früh
diagnosticiren mögen, an die Reichen, die Sanatorien gründen
sollen, an die Behörden, die die öffentliche Gesundheit zu
überwachen haben und schliesslich an die Kranken selbst, die
auf sich achten, die Krankheit heilen mögen; »guerissez-vous,
car, le voulant, vous le pouvez. «
Arbeiten, wie die vorliegende, erscheinen in letzter Zeit so
häufig, dass, wenn jede nur in einen kleinen Leserkreis Eingang
findet, die Kenntniss der Tuberculose, jene Grundbedingung zu
ihrer Bekämpfung, endlich doch Gemeingut der ganzen Bevölkerung
werden muss. Darum ist auch jede derartige Publication, als
Tropfen, der endlich den Stein aushöhlt, mit Freude zu begrüssen.
v. Weismay r.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
69. Zweiter Bericht über dieThätigkeit der
Malaria-Expedition. (Aufenthalt in Niederländisch-Indien vom
21. September bis 12. December 1899.) Von Prof. Ko ch (Berlin).
Schon durch die ersten Erkundigungen wurde in Erfahrung gebracht,
dass in Batavia die Malaria weitaus nicht mehr die Rolle spielt,
wie ehedem; im Laufe von fünf Wochen konnten daselbst nur
30 Malariafälle ausfindig gemacht werden. Am deutlichsten zeigte
sich die Abnahme der Malaria bei der Colonialarmee, bei welcher
in den letzten 15 Jahren die Zahl der Erkrankungen um mehr als
50% gesunken ist. Als eine der Hauptursachen hiefür sieht Koch
die unentgeltliche Abgabe von Chinin an die Bevölkerung an. In
welchem Umfange das geschieht, kann man daraus ermessen, dass
während der letzten zehn Jahre durchschnittlich 2000 Chinin
jährlich aus dem Reichsmagazin an die Bevölkerung verabfolgt
worden waren; 1899 wurden bis Anfang October 2394 hg Chinin
verbraucht. Daselbst angestellte Versuche, Malaria auf Affen zu
übertragen, sind vollständig negativ ausgefallen, so dass aller
Wahrscheinlichkeit nach der Mensch der einzige Träger des Para¬
siten bleibt, eine Thatsache, welche für die Prophylaxis der Malaria
von grösster Bedeutung ist. Von Batavia wandte sich die Expedition
nach dem in Mittel-Java liegenden Ambarawa, einer vollständigen
Sumpfgegend mit den allergünstigsten Bedingungen für die Ent¬
wicklung der Malaria; dennoch konnten hier nur 21 Malariafälle
aufgefunden werden. Dieses immerhin sehr auffällige Verhalten
führte dazu, die Kinder auf Malaria hin zu untersuchen, wobei in
einzelnen Ortschaften dieselben bis zu 21% (bis 41% der noch
nicht ein Jahr alten!) malariakrank befunden wurden. Es scheint
demnach, dass die Bewohner dieser Gegend die Malaria schon in
der Kindheit durchmachen und wenn sie derselben nicht erliegen,
gewissermassen eine weitgehende Immunität gegenüber der Malaria
erlangen. Gegenüber der Theorie, dass die Malaria durch Mosquitos
übertragen werde, wird auch behauptet, dass aut Java Orte sich
befinden, in denen es keine Mücken gebe, und dass trotzdem dort
Malaria vorkäme. Koch konnte theils selbst, theils durch Um¬
fragen feststellen, dass es auf Java keine mückenfreie Ortschaften
gebe bis auf zwei, in welchen aber die auftretenden Malariafälle
immer eingeschleppte waren. Es hat sich auch auf Java der Satz
bestätigt: »Wo keine Mosquitos, dort ist auch keine endemische
Malaria«. — (Deutsche medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 5.)
Pi.
*
70. Der epileptische Wandertrieb (Poriomanie).
Von Dr. Julius Donath. (Archiv für Psychiatrie. 1899,
Bd. XXXII, Heft 2.) Verfasser definirt den epileptischen Anfall jed¬
weder Form und jedweden Ursprunges als »eine krankhafte Er¬
regung der Hirnrinde, welche plötzlich ansteigt, periodisch wieder¬
kehrt, typisch abläuft und rasch abklingt«. Die Bewusstseinsstörung
lässt er nicht als ständiges Merkmal des epileptischen Anfalles
gelten, da es nur von der Stärke und Ausbreitung des Reizes ab¬
hängt, ob ein Anfall mit oder ohne Bewusstseinsstörung, demnach
mit oder ohne Amnesie abläuft. Von diesen Anschauungen aus¬
gehend, schildert er drei Fälle von Wandertrieb (Poriomanie,
7) 7iopsta = Wanderschaft), welchen das plötzliche An- und Ab¬
klingen des veränderten Seelenzustandes während der Dauer des
Wandertriebes, beziehungsweise die Plötzlichkeit der Handlung, ihre
Periodicität und ihr typischer Verlauf gemeinsam sind. Nachfolgende
Amnesie besteht in keinem der Fälle. Verfasser tritt für die epi¬
leptische Natur des Wandertriebes in seinen drei Fällen ein und
vertritt die Anschauung, dass die epileptische Poriomanie ein psy¬
chisches Aequivalent besonderer Art sei, von dem gewöhnlichen
dadurch unterschieden, dass die Bewusstseinsstörung entweder
gänzlich fehlt, oder durch ihre Geringfügigkeit in den Hintergrund
tritt. ^
*
71. Ueber Erkrankungen der unteren Rücken¬
marksabschnitte nebst einem Beitrag über den
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. II
261
Verlauf der secundären Degenerationen im Rücken¬
marke. Von Dr. H. Zingerle, klinischer Assistent
in Graz. Die aus den unteren Rückenmarksabschnitten ent¬
springenden Wurzeln verlaufen in Folge der Endigung des Markes
in der Höhe des zweiten Lendenwirbels eine grössere Strecke
innerhalb des Rückgratcanales nach abwärts, bis sie denselben
durch die For. intervert. zur Cauda equina vereint verlassen
können. Läsionen in verschiedenen Höhen der tieferen Rücken¬
marksabschnitte können klinisch dieselben Ausfallserscheinungen
hervorrufen je nachdem das Mark selbst erkrankt ist oder die
Wurzeln während ihres absteigenden Verlaufes in der Cauda
equina ergriffen sind. Zingerle sucht nun an der Hand von
vier Fällen, unter welchen drei traumatischer Natur sind, die
charakteristischen Merkmale für die Mark- und jene für die
Wurzelsymptome. Nach Zingerle sprechen reissende Schmerzen,
Hyperästhesie und Krämpfe für Wurzelerkrankungen, hingegen
schmerzlose Lähmungen mit rasch eintretenden Atrophien begleitet
von fibrillären Zuckungen, Neigung zu Decubitus und das Erhalten¬
bleiben der Reflexe im Bereiche willkürlich gelähmter Muskeln für
Markläsionen. Die unterhalb einer Läsion des Rückenmarkes ge¬
legenen Reflexe sind gesteigert. Wenn von mehreren in einem be¬
stimmten Rückenmarksegment localisirten Muskelgruppen nur ein
Theil functionsunfähig wird, verweist dies eher auf theilweise Zer¬
störung des Segmentes, etwa durch Blutung, als auf Läsion ein¬
zelner Wurzelfädchen. Verlauf und Prognose sind bei Wurzelläsionon
viel günstiger. — (Jahrbücher für Psychiatrie. Bd. XVIII, Heft 3.)
S.
*
72. Magensyphilis. Von Dr. Dalgliesh. Wie die
Schleimhaut des Respirationstractes hei Syphilis in Mitleidenschaft
gezogen sein kann, so kann möglicher Weise ein Magenkatarrh auf
syphilitischer Basis beruhen und ebenso auch ein Gumma daselbst
die Symptome einer schweren Magenerkrankung hervorrufen. Dass
man sich an diese Möglichkeit erinnere, das ist für die Therapie
natürlich von grösster Bedeutung. Verfasser berichtet über drei von
ihm 1898 beobachtete Fälle von Magenerkrankungen mit sehr
schweren Symptomen (bedeutende Abmagerung, Anämie, Hämat-
emesis), welche früher syphilitisch inficirte Individuen betrafen und
die auf Jodkali prompt reagirten. — (The Lancet. 1899, Bd. II,
Nr. 7.) Pi.
*
73. Ueber die Localisation des Ton Vermögens.
Von Dr. M. Probst, emerit. klinischer Universitätsassistent. (Archiv
für Psychiatrie. 1899, Bd. XXXII, Heft 2.) Den in dem Titel ge¬
gebenen Thema nähert sich Probst durch das Studium der patho¬
logischen Anatomie der verschiedenen Formen der Amusie. Unter
letzterem Ausdruck ist der Verlust des Musikverständnisses und des
musikalischen Ausdrucksvermögens zu verstehen. Man unterscheidet
demnach — entsprechend den Aphasieformen — eine sensorielle
und motorische Amusie. Erstere umfasst die Tontaubheit und Noten¬
blindheit, letztere hingegen unterscheidet sich als vocale motorische
Amusie (Unvermögen, zu singen), instrumentale motorische Amusie
(Unvermögen, ein Instrument zu spielen), und die musikalische
Agraphie. Klinisch sind Amusie und Aphasie von einander getrennt,
denn die eine kann ohne die andere auftreten. Es ist daher der
Rückschluss gestattet, dass die beiden Zustände auch pathologisch¬
anatomisch von einander gelrennt sind. Um die Frage der Localisation
der verschiedenen Amusieformen einer Lösung zuführen zu können,
hat Probst die wenigen (29) Obductionsfälle in der Literatur, in
welchen über das musikalische Verständniss und das Vermögen des
musikalischen Ausdruckes einige klinische Aufzeichnungen existirten,
gesammelt, und einen selbst beobachteten Fall, der auf Serien¬
schnitten mikroskopisch untersucht wurde, hinzugefügt. In diesem
Falle handelt es sich um eine Patientin mit totaler Aphasie, rechts¬
seitiger Hemiplegie und Hemianopsie, welche Melodien gut verstand
und diese nachzusingen vermochte, die bekannten mit Text, die
unbekannten nachträllernd. Die Affectsprache war im Gegensatz zur
Spontansprache gut erhallen. Dieser Fall ist dafür beweisend, dass
das Musik verständniss nicht an das Sprachverständniss gebunden
ist und ebenso auch nicht das willkürliche Singen an das spontane
Sprachvermögen. Es muss also das musikalische Vermögen anders
localisirt sein, als das Sprachvermögen. Nach der von Probst
gegebenen Zusammenstellung der in der Literatur enthaltenen Ob¬
ductionsfälle ist es mit grosser Wahrscheinlichkeit anzunehmnen,
dass das Musikverständniss in den vorderen Theilen der Temporal¬
windungen und zwar zumeist jener der linken Hemisphäre localisirt
ist. Ein Eintreten der einen Hemisphäre für die lädirte andere
wurde bisher nicht beobachtet. Dieselbe Wahrscheinlichkeit spricht
für die Localisation der motorischen Amusie in der zweiten Fron¬
talwindung und zwar, je nach individueller Verschiedenheit, bald
der linken, bald der rechten Hemisphäre. Nach den wenigen Ob-
ductionsfällen, welche bezüglich der Localisation der Notenblindheit
zur Verfügung stehen, lässt sich erstere in der nächsten Nähe der
Localisationsstelle für Wortblindheit vermuthen. Wahrscheinlich
kommt auch hier das untere Scheitelläppchen in Betracht. J.
*
74. Der seg mentale Begrenzungstypus bei
Hautanästhesien am Kopfe, insbesonders in Fällen
von Syringomyelie. Von Dr. Friedrich v. Sölde r,
klinischer Assistent. Der peripherische Typus bei Läsionen
peripherischer Nerven, der cerebrale Typus, der bei organischem
Ursprung Erkrankungen des Gehirnes und noch prägnanter bei
Hysterie vorkommt, und der segmentale Typus, den man den
Rückenmarks- und Wurzelläsion zuschreiben darf, sind bisher als
typische Begrenzungsformen der Hautempfindungsstörungen bekannt.
Der letztere Typus, bisher nur an Rumpf und Extremitäten dar¬
gestellt, ist wie Sold er an sechs Fällen von Syringomyelie beweist,
auch am Kopfe zu constatiren. Die von S ö 1 d e r schematisch dar¬
gestellten Sensibilitätsgruppen am Kopfe finden sich nicht bei
Hysterie, sind bei Syringomyelie bis auf wenige, unwesentliche und
in besonderen anatomischen Verhältnissen begründete Variationen
constant und daher von diagnostischem Interesse. Per analogiam
schliesst S ö 1 d e r, dass die den segmentalen Typus am Kopfe
repräsentirenden Grenzlinien die typische Begrenzungsform für
Sensibilitätsstörungen der organischen Läsionen des obersten Cervical-
markes und der Medulla obl. bilden, welcher Schluss durch aus
der Literatur citirte Fälle Unterstützung findet. Am Rumpfe und
an Extremitäten ist die Begrenzungsform der Anästhesien bei
spinalen und Wurzelläsionen identisch. Wie aus drei von Sold er
angeführten Fällen hervorgeht, fehlt am Kopfe diese Ueberein-
stimmung in der Begrenzungsform typischer Mark- und Wurzel¬
anästhesien. — (Jahrbücher für Psychiatrie. Bd. XVIII, Heft 3.)
S.
*
75. (Aus der Heidelberger medicinischen Klinik des Professors
Erle.) Ueber Behandlung der gonorrhoischen Epi¬
didymitis mit Salicylpräparaten. Von Dr. Bett mann.
Von einer Mischung von einem Theil Methylsalicylat und zwei Theilen
01. oliv, werden 6 — 8 cm3 auf ein Stück nicht entfetteter Watte
gegossen und dieses auf das Scrotum applicirt; darüber kommt ein
vollständig abschliessendes Stück Guttaperchapapier. Fixation des
Ganzen mit einem ausgepolsterten Suspensorium. Der Verband wird
alle zwölf Stunden erneuert. Diese Methode soll die Schmerzen
prompt beseitigen und schon nach drei bis vier Tagen die Ver¬
wendung des üblichen Druckverbandes ermöglichen. — (Münchener
medicinische Wochenschrift. 1899. Nr. 38.) Pi.
*
76. Kritisches zum Capitel der normalen und
pathologischen Sexualität. Von Dr. P. Näckl, Oberarzt
in Hubertusburg. (Archiv für Psychiatrie. 1899, Bd. XXXII, Heft 2.)
Das Pathologische des Geschlechtslebens erscheint nur dann fest
gegründet, wenn das Normale bekannt ist. Bis jetzt* stehen nur die
Grundzüge der normalen Sexualität fest, so dass wir nur die aus¬
geprägteren Fälle von sexuellen Perversitäten als pathologisch hin¬
stellen sollten und auch das nicht immer, da wir die Variations¬
breite des sogenannten normalen Geschlechtslebens nicht oder nur
ungenügend kennen. Ueberdies ändert sich diese Variationsbreite
des Normalen je nach Zeit, Ort und Race. Näckl sucht zunächst
den Begriff des Geschlechtstriebes festzustellen und spricht dann über
die Einzelheiten des normalen Sexualtriebes. In dem den patho¬
logischen Sexualzuständen gewidmeten Theile seiner Arbeit bespricht
Näckl die Onanie, den Exhibitionismus, das Tagträumen (Dag-
Dreaming), den Narcismus und den homosexuellen Verkehr. Das
Tagträumen wurde hauptsächlich durch die Amerikanerin Mabel
Lewoy d studirt. Es findet sich häufiger beim weiblichen Geschlecht
als beim männlichen. Den Ausgangspunkt bietet ein Ereigniss in einem
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
265
Buche oder eine persönliche Erfahrung, die weiter ausgesponnen
wird, besonders in der Einsamkeit und im Bette vor dem Ein¬
schlafen. Dabei ist häufig ein sexueller Hintergrund vorhanden. Das
Vorhandensein von Narcismus (Selbstverliebtheit) lässt Näckl nur
gelten, wenn die Betrachtung des eigenen Ichs oder seiner Theile
von deutlichen Zeichen des Orgasmus begleitet ist (auto-erotism).
Narcismus soll sich besonders bei Frauen finden. Näckl bespricht
endlich den homosexuellen Verkehr. Er unterscheidet eine früh und
eine spät auftretende Homosexualität. Die erstere ist die echte,
eventuell angeborene, die zweite die erworbene Form und meist ein
gemeines Laster. Näckl tritt für die Aufhebung des § 175
(D. St. 0.) ein und hält dafür, dass der homosexuelle Verkehr
unter dieselben Strafbestimmungen fallen soll, wie der heterosexuelle.
J.
*
77. lieber Perseveration, eine f o r in a 1 e S t ö r u n g
i m Vorstellungsablauf e. Von Dr. Friedrich v. Sölder,
klinischer Assistent. Sölder gibt auf Grund von vier Be¬
obachtungen eine Besprechung des Symptoms der Perseveration.
Diese ist eine bei Gehirn erkrankungen mit umschriebenen Functions-
defecten (Aphasie, Seelenblindheit, Asymbolie) ferner in Begleitung
einer allgemeinen Schwäche der Associationsleistung auftretende
formale Störung im Vorstellungsablaufe, darin sich äussernd, dass
eine einmal geweckte Vorstellung in den unmittelbar nachfolgenden
Vorstellungsreihen in sinnloser Verbindung wiederkehrt. Sölder
gibt an Beispielen eine Uebersicht über die beobachteten Formen
der Perseveration: Perseveration gesprochener, gehörter Worte,
Perseveration beim Schreiben, beim Lesen, Perseveration einfacher
Muskelactionen, Perseveration begrifflicher Vorstellungen. Das
Symptom kann beim einzelnen Kranken sich nur auf einem um¬
schriebenen Functionsgebiete geltend machen, oder es kann all¬
gemein verbreitet sein. Gewöhnlich findet man eine Beschränkung
auf das Sprachgebiet als Begleitsymptom der Aphasie oder selbst¬
ständig ohne eine solche. Sölder findet in mancher Beziehung
eine Uebereinstimmung der Phänomene der optischen Nachbilder
und der Perseveration und möchte daher letzere als psychisches
Nachbild bezeichnen. — (Jahrbücher für Psychiatrie. Bd. XVII 1,
Heft 3.) ' S.
*
78. Bericht über zwölf mit Strontiumbromid
behandelte Fälle von Epilepsie. Von Dr. Smith
(London). Verfasser hat das für die Epilepsiebehandlung angepriesene
Strontiumbromid in zwölf Fällen versucht und ist zu dem Schlüsse
gekommen, dass dieses Mittel, obwohl theurer als das Bromkali,
nicht mehr als dieses leiste, dass im Gegentheile dem letzteren
bei kleinerer Dosis eine noch schnellere Heilwirkung zukomme, als
dem Strontium salz. — (The Lancet. 1899, Bd. II, Nr. 7.)
*
79. (Aus dem pharmakologischen Institute der deutschen
Universität in Prag.) Beiträge zur Physiologie und
Pharmakologie der Diurese. Von Dr. Schwär z. Ein¬
gehende, am Thiere vorgenommene Versuche führten zu dem Er¬
gebnisse, dass keines der echten Diuretica durch Vermittlung der
Nierencirculation wirkt. Sowohl die Salze, als auch Coffein und
Kalomel beeinflussen die Diurese, ohne dass die Strömungsgeschwin¬
digkeit des Nierenblutes erhöht wird. Es muss demnach angenommen
werden, dass die Epithelien der Harncanälchen durch die harn¬
fähigen Stoffe zu secretorischer Thätigkeit angeregt werden. —
(Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie. Bd. XLIlf,
Heft 1 und 2.) Pi.
*
80. Ein weiterer Beitrag zur Lehre von der
Mikrocephalie nebst zusammenfassendem Berichte
über d i e E r f o 1 g e der Craniotomie b e i d e r Mikro¬
cephalie. Von Dr. Alexander P i 1 c z, klinischer Assi¬
stent. Pilcz publicirt in der vorliegenden Arbeit einen Fall von
echter Mikrocephalie, welcher einerseits durch seine Anamnese eine
Stütze der von Pilcz in einer früheren Arbeit vertretenen An¬
schauung bildet, dass die ätiologischen Factoren der Mikrocephalie
vera in Störungen liegen, welche auf den Keim seihst schädigend
einwirkten (anamnestisch hatte sich nämlich in dem Falle Pilcz's
schwerer Alkoholismus in der Ascendenz des mikroeephalen In¬
dividuums feststellen lassen), andererseits durch den constatirten
Mangel von Nahtsynostosen das Irrationelle einer eventuellen
Graniektomie erhellen kann, welch letztere auf der Voraussetzung
beruht, dass die abnorme Kleinheit des Schädels und seines In¬
haltes durch eine primäre prämature Nahtsynostose bedingt sei,
demnach die Mikroencephalie secundär durch die Mikrocephalie
entstehe. Nach Darlegung des Falles in klinischer und anatomischer
Hinsicht gibt Pilcz eine kritische Zusammenfassung jener Ar¬
beiten, welche die chirurgischen Eingriffe bei der Mikrocephalie
zum Gegenstand haben. — (Jahrbücher für Psychiatrie. Bd. XVIII,
Heft 3.) S.
*
81. Beitrag zur pathologischen Anatomie der
schweren acuten Verwirrtheit. Von Dr. E. Bisch off,
gewesenem klinischen Assistenten. Das Studium der durch tödtlichen
Ausgang bei ganz rapidem Verlauf ausgezeichneten Fälle acuter
Verwirrtheit, welche unter dem Sammelnamen Delirium acutum
vereinigt wurden, bietet die Möglichkeit, über die Vorgänge Auf-
Schlüsse zu erlangen, welche in letzter Linie die Psychose hervor¬
bringen. B i s c h o f f hat bei drei hiehei gehörigen Fällen, welche in-
soferne eine Sonderstellung einnahmen, als in jedem derselben
langdauernde Koprostase, respective nekrotisirende Enteritis vorlag,
eine genaue mikroskopische Untersuchung des Centralnervensystems
vorgenommen. Den mitgetheilten Krankheitsbildern kommen zwei
gemeinsame Befunde zu: Die Hyperämie der Hirnrinde und die
Erkrankung des Darmcanales. Die Durchsicht der Literatur über
das Delirium acutum lässt die Hyperämie der Hirnrinde als einzigen
constanten Befund constatiren. Nach einer von Bischoff ent¬
wickelten Hypothese wird das Zurückgehen einmal vorhandener
Hyperämie theils in Folge mechanischer Behinderung durch Ver¬
schluss der Abflusswege, theils in mangelhafter Function der Vaso¬
motoren verhindert und die Steigerung der klinischen Erscheinungen
dadurch erklärt. Aufgabe der Therapie ist es, durch hydrotherapeu¬
tische Massregein und kräftige Anregung der Darmthätigkeit, die
Circulationsstörung zu bekämpfen, zumal dann, wenn — wie in
Bischoff’s Fällen - eine hochgradige Störung der Verdauungs-
thätigkeit vorhanden ist. In anatomischer Beziehung fand sich in
den drei Fällen B i s ch o f f’s eine vorzugsweise auf die Hirnrinde
und die weichen Hirnhäute ausgezeichnete Hyperämie mit conse-
cutivem Oedem. Die Veränderungen die sich in den beiden ersten
Fällen an den Rlndenzellen fanden, gestatten auf die Natur des
ursächlichen Krankheitsprocesses keinen Rückschluss. Im dritten
Falle waren die Ganglienzellen der Hirnrinde grösstentheils normal. —
(Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. LVI, Heft 5.) J.
*
82. Ein Fall von Vergiftung mit hypermangan-
saurem Kali. Von Dr. Box (London). Eine 47 Jahre alte, dem
Trünke ergebene Frau hatte eine Handvoll übermangansaures Kali
in Bier aufgelöst und die Lösung getrunken. Tod nach 35 Minuten,
nachdem die Athmung früher als das Herz zum Stillstände ge¬
kommen war. Die Obduction ergab ausser der durch das Alkali
bedingten Verfärbung der Zunge unter Anderem Glottisödem und
eine oberflächliche Nekrose der Magenschleimhaut. Letztere war
gleichzeitig mit einem schwarzen, festhaftenden, körnigen Pulver
bedeckt, welches wahrscheinlich als Manganhydroxyd anzusehen ist
und sich durch Reduction des mit organischen Substanzen (Bier,
Mageninhalt) in Berührung gekommenen übermangansauren Kalis
gebildet hat. — (The Lancet. 1899, Bd. II, Nr. 7.)
*
83. (Aus der Abtheilung des Prof. v. Noorden am städti¬
schen Krankenhause in Frankfurt a. M.) lieber die Unter¬
scheidung des weissen und dunklen Fleisches für
die Krankenernährung. Von Dr. Offer und Dr. Rosen-
quist. Die Untersuchung erstreckte sich auf den Gehalt an Ex-
tractivstoffen in den verschiedensten Fleischsorten. Die daraus ge¬
zogene Schlussfolgerung der Verfasser geht dahin, dass die in der
Diätetik allgemein beliebte Unterscheidung zwischen hellem und
dunklen Fleisch auf einem unbegründeten Vorurtheile beruhe,
welches den Patienten — besonders Gichtikern und Nierenkranken
— lästige Beschränkungen auferlege. — Gegen diese Auslegung
wendet sich Senator in einer unter gleichem Titel erschienenen
Publication, indem er unter Anderem einwendet, dass der Unter¬
schied der Fleischsorten - — von der Verdaulichkeit und dem Nähr-
werthe derselben ganz abgesehen noch durch ganz andere Um-
266
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 11
stände bedingt sei, als durch den Gehalt an Extractivstoffen. Des-
halb sei kein Grund vorhanden, von der praktischen Erfahrung
abzugehen, dass im Allgemeinen weisses Fleisch für Gicht- und
Nierenkranke zuträglicher sei, als dunkles. — (Berliner klinische
Wochenschrift. 1899, Nr. 48, 44, 45.)
*
84. Die Schalen haut des Hühnereies, eine
epithelhaltige Membran, und ihre Verwendung zur
Ueberhäutung granulirender Flächen. Von Professor
Schüller (Berlin). Verfasser weist nach, dass die dem Eiweiss
zu<rewendete Seite der Schalenhaut des gewöhnlichen Hühnereies
ein Epithel trägt und dass diese Haut in möglichst grossen Stücken
auf gereinigte, von Eiter freie und trocken getupfte Granulations¬
flächen aufgetragen, im Stande ist, in ihrem Bereiche Epithelbildung
hervorzurufen. Die Schalenhaut wird gleich nach dem Ausfliessen
des Eies, ohne dass sie durch Berührung irgendwie verunreinigt
oder geschädigt worden ist, mit der inneren Seite auf die Wund¬
fläche gelegt, und mit einem einfachen Verbände befestigt. Haupt¬
sache ist, dass sie der Fläche gut angeschmiegt bleiht und nicht
verschoben wird; wenn Schüller nur in der Mitte einer Granu¬
lationsfläche die Haut auftrug, so entstand nur an dieser Stelle eine
Epithelneubildung; mit der der Schale zugewendeten Fläche auf¬
getragen, fand keine Epithelbildung statt, ein Beweis, dass diese
von der oberwähnten Zelllage abhängig ist. — - (Monatsschrift für
Unfallheilkunde. 1899, Nr. 9.)
*
85. (Aus der chirurgischen Klinik in Bonn.) Eine neue
Methode der Röntgen-Photographie des Magens.
Von Dr. Bade. Durch Aufblähen des Magens mit Kohlensäure
sollen die Contouren desselben, besonders bei Kindern, aber auch
bei Erwachsenen, bei der Durchleuchtung mit Röntgen-Strahlen zur
Ansicht gebracht werden können. — (Deutsche medicinische Wochen¬
schrift. 1899, Nr. 38.) Pi.
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
In der Sitzung vom 6. März d. J. kamen im preussisehen Ab¬
geordnetenhause die zu so unliebsamer Berühmtheit gelangten, zu Im-
munisirungszwecken ausgeführten Seruminjectionen Professor Neisser’s
in Breslau zur Sprache und erfuhren ein geradezu verdammendes Ur-
theil. Es wird gewiss Niemandem beifallen, muthwillig unternommene
Experimente — selbst wenn es sich nur um Thiere als Versuchsobjecte
handeln würde — in Schutz zu nehmen und irgendwie gut zu heissen.
Aber die Beantwortung der Frage wäre doch für den ferner Stehen¬
den in dieser Angelegenheit von ausschlaggebender Bedeutung: ob es
denn schon so ohne Weiteres feststeht und von einem competenten
fachmännischen Areopag — denn nur einem solchen scheint
uns hier ein massgebendes Urtheil zuzukommen — ausgesprochen ist,
dass den von Professor Neisser ausgeführten therapeutischen Ver¬
suchen jene wissenschaftlichen Voraussetzungen und Grundlagen von
vorneherein auch thatsächlich fehlten, die, indem sie einerseits einzig
und allein den Experimenten erst Berechtigung geben, andererseits
etwaige unglückliche Folgen in einem ganz anderen, jedenfalls viel
milderen Lichte erscheinen lassen. Wer hat ein Recht, daran zu
zweifeln, dass Professor Neisser an die Versuche mit der wissen¬
schaftlichen Ueberzeugung und dem zuversichtlichen guten Glauben
herangetreten ist, ein therapeutisches Experiment auszuführen, das
eventuell für die Lösung eines der wichtigsten Probleme von segens¬
reichster Bedeutung werden könnte, und wer darf es in Frage stellen,
dass er gewiss davon durchdrungen war, dass er mit diesen Versuchen
zum mindesten Niemandem einen Schaden zufügen werde. Wenn man
die ganze Angelegenheit von solchen Gesichtspunkten betrachtet, dann
mag vielleicht das Urtheil dahin zusammenzufassen sein, dass hier ein
Mann von den eminenten wissenschaftlichen Qualitäten und von der
hervorragenden fachlichen Einsicht wie Neisser einem verhängniss-
vollen Irrthum zum Opfer gefallen ist und mit ihm Jene, an denen
er die Versuche ausgeführt hat. Man wird es mehr wie je beklagen
müssen, dass gerade auf dem Gebiete der Syphilisforschung jener Mittel¬
weg versagt ist, der bei vielen anderen Infectionskrankheiten über die
Klippen des therapeutischen Experimentes am Menschen hinweghilft:
dass das Thierexperiment wegen der natürlichen Immunität der Thiere
gegen Syphilis zur Lösung der mannigfachen hier in Betracht kommen
den wissenschaftlichen Fragen nicht herangezogen werden kann.
Darin liegt ja der beklagenswerthe Grund der Stagnation in der Sy
philisforschung, dass wir lediglich auf die Beobachtung am Menschen
angewiesen sind. Die Aerzte haben in ihrem Forscherdrange häufig
genug daraus die unerbittliche Consequenz gezogen, an ihrem eigenen
Körper mit dem furchtbaren Gifte zu experimentiren. Man erinnere
sich nur der historisch denkwürdigen Versuche Hunter’s! Man sollte
all diese Dinge sich ein wrenig ins Gedächtniss zurückrufen und es
würdigen, in wie grosser Zahl die Geschichte unserer Wissenschaft
seit Alters her bis auf den heutigen Tag Beispiele aufzuweisen hat
von im Interesse der Wissenschaft aufgebrachtem Opfermuthe der
Aerzte! Man würde dann vielleicht doch Bedenken tragen, das gewiss
beklagenswerthe Ereigniss, dass ein vielverdienter Mann der Wissen¬
schaft in seinem Bestreben, der ganzen Menschheit einen Dienst zu
erweisen, von einer, wie es sich nachträglich zeigte, irrthümlichen Auf¬
fassung ausging und einzelne Menschen an Leben und Gesundheit
schädigte, zum Ausgangspunkt eines nicht nur gegen einen angesehenen
Gelehrten, sondern auch gegen die gesammte medicinische Forschung
und den ärztlichen Stand gerichteten gehässigen Angriffes zu benützen.
Merkwürdig genug, dass in einer Zeit, wo man der ärztlichen Wissen¬
schaft so ausserordentliche Errungenschaften zu danken hat, solche
ärzte- und forschungsfeindliche Strömungen so sehr überhandnehmen
konnten! Man missverstehe es ja nicht: es soll dem muthwilligen Ex¬
perimentiren und mit ihm dem Streberthum in der Medicin wahrhaftig
nicht das Wort geredet werden. An der Strafwürdigkeit eines unzu¬
lässigen Versuches — dies nur nebenbei bemerkt im Hinblick auf
in der Discussion des Falles Neisser geäusserte- Meinungen — ändert
es wohl gar nichts, ob hiezu vorher die Einwilligung des Kranken
eingeholt wurde oder nicht. Das Unzulässige bleibt unter allen Um¬
ständen unzulässig und das „Volenti non fit injuria“ kann hier
wohl kaum Anwendung finden. Aber bei der grössten Gewissenhaftig¬
keit wird der so erwünschte Fortschritt unserer Kunst nie ohne den
in all seinen Folgen von vorneherein nicht genau absehbaren Versuch
und immer nur mit Opfern zu erreichen sein. „Der Weg zu unseren
Erfolgen führt über Berge von Leichen!“ Diese Worte hat Bill¬
roth gesprochen. A. F.
*
Ernannt: Der a. o. Professor der Augenheilkunde in Inns¬
bruck, Dr. Friedrich Dimmer zum ordentlichen Professor dieses
Faches an der Universität in G r a z. — Privatdocent Dr. Ewald
Hering zum a. o. Profsssor für allgemeine und experimentelle Patho¬
logie an der deutschen Universität in P r a g. — Dr. E m i 1 J. M a 1 v i c
in S p a 1 a t o zum Oberbezirksarzte. — Dr. Carle zum ordentlichen
Professor der chirurgischen Pathologie in Turin. — Dr. Cervesato
zum ordentlichen Professor für Kinderkrankheiten in Bologna. —
Dr. Weber zum ordentlichen Professor der Psychiatrie in Genua.
— Dr. Juvara zum Professor der chirurgischen Anatomie in Jassy.
*
Verliehen: Dem Oberstabsarzte Dr. Hermann Spitz in
Ta r nopol das Ritterkreuz des Franz Joseph-Ordens. — Dem Regi¬
ments-Arzte des Ruhestandes Dr. Otto Hassack der Stabsarztes-
Charakter ad honores.
*
Habilitirt: Dr. Lamari für medicinische Pathologie in
Messina.
*
Gestorben: Professor Lorenzo Bruno in Turin. —
Dr. Eugen Boeckel, ehemals Professor zu Strassburg. —
Der Professor der Chirurgie zu Reims, Dr. Deces.
*
In der Sitzung des nieder österreichischen Landes-
Sanitäter athes am 5. März d. J. wurden folgende Gutachten
erstattet: 1. Ueber die Verleihung einer Apotheker-Concession in
einer Gemeinde Niederösterieichs ; 2. über die bei dem Auftreten
schwerer Epidemien zur Verhinderung der Weiter Verbreitung derselben
zu treffenden Vorkehrungen; 3. über die Gebahrung in den Ambula¬
torien der k. k. Krankenanstalten Wiens ; 4. über ein Ansuchen zur
Errichtung eines ärztlichen Institutes für Heissluftbebandlung.
Freie Stellen.
Oberbezirksarztesstelle im Küstenland mit den Be¬
zügen der VIII. Rangsclasse, bei eventuellen Vorrückungen, Bezirks¬
arztesstelle der IX., respective Sanitätsconcipistenstelle
der X. Rangsclasse. Bewerber um die vorgedachten Posten haben die mit
den Nachweisen über ihre bisherigen Dienstleistungen und die Kenntniss
der Landessprachen belegten Gesuche durch die Vorgesetzte Dienstbehörde
bei dem Statthaltereipräsidium in Triest bis 19. März 1. J. einzu¬
bringen.
Gemeindearztesstelle in Offenhausen, Bezirk Wels, Ober¬
österreich. Die Sanitätsgemeinde besteht aus der Gemeinde Offenhausen
und Theilen der Gemeinden Bachamning, Meggenhofen und Penewang
mit einer Bevölkerungszahl von 2227 Personen. Mit dieser am 1. April
zu besetzenden Stelle ist eine jährliche Bestallung von 800 Kronen
verbunden. Die Vertragsbedingungen liegen zur Einsichtnahme im Ge¬
meindeamte auf. Im Markte Offeuhausen befindet sich keine Apotheke, und
sind die nächst befindlichen Aerzte 10 bis 15 lcm entfernt. Bewerber um
diese Stelle wollen ihre Gesuche bis längstens Ende März d. J. bei der
Gemeindevorstehung Offenhausen überreichen.
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
267
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
INHALT:
Officielles Protokoll (1er k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung' vom 9. März 1900.
Greifswalder medicinisclier Verein. Sitzung vom 3. Februar 1900.
Wissenschaftlicher Verein der k. u. k. Militärärzte der Garnison
Wien. Sitzung vom 16. December 1899.
Berichte aus dem Verein österreichischer
lung vom 7. Februar 1900.
Zahnärzte.
Monatsversamm-
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in München.
Vom 17.— 22. September 1899. (Fortsetzung.)
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
Sitzung vom 9. März 1900.
Vorsitzender: Prof. V. Renss.
Schriftführer: Dr. Alois Kreidl.
Docent Dr. Karl A. Herzfeld : Ich will nur kurz über einen
Fall referiren, der in mehrfacher Hinsicht interessant und charakteri¬
stisch ist. Vor wenigen Tagen kam mir eine 22jährige Frau aus
Mähren zur Beobachtung, welche, seit drei Jahren verheiratet, vor
l'/2 Jahren das erste Mal und normal geboren hatte.
Anfangs März 1899, somit vor mehr als einem Jahre das letzte
Mal menstruirt, fühlte sie sich bald darauf schwanger und hatte all
die ihr bekannten Schwangerschaftssymptome, welche durch zehn bis
zwölf Wochen andauerten, dann jedoch aufhörten, ohne dass ihr
Unterleib an Umfang zunahm, und ohne dass irgendwelche Theile aus
dem Genitale abgestossen wurden. Nachdem ein Aboitus nicht eintrat,
hielt die Kranke sich überhaupt nicht für schwanger. Eine im Monate
Juli durch längere Zeit sich zeigende blutige Secretion wurde von
dem Fachgynäkologen, der sie behandelte, einer stärkeren Erosions¬
bildung der Portio zugeschrieben und hörte nach vierwöchentlicher
Behandlung, die in Toucliirung der Portio bestand, auf. Die nun seit
mehr als zwölf Monaten bestehende Amenorrhoe wurde mit der sich
immer deutlicher zeigenden Anämie und der fortdauernden Abmagerung
und Schwächung der Kranken in Zusammenhang gebracht.
Als ich diese Anamnese hörte, war es mir klar, dass es sich
wahrscheinlich um die Rentention eines degenerirfen Eies in der
Uterushöhle handeln dürfte, umsomehr als Breus im Jahre 1892
eine typische Form der Molenschwaugerschaft beschrieb, bei welcher
der Verlauf und die Symptome ähnlich waren, wie in diesem meinem
Falle. Breus hatte in seiner Monographie über das tuberöse sub-
choriale Hämatom der Decidua eiue Reihe von Präparaten beschrieben,
die er alle als typische Bilder einer besonderen Form der Fleisch¬
molen — ■ er nannte sie auch Hämatommolen — bezeichnete. Danach
kommt es in solchen Fällen zu einer Unterbrechung der Entwicklung
des Embryo im Verlaufe des zweiten Monates, während die Eihäute
bei fortschreitende!- Ernährung des Eies weiter wachsen, in Folge des
mangelnden Inhaltdruckes der Eihöhle — bedingt durch das voll¬
kommene Fehlen des Fruchtwassers — sich in Falten legen, Divertikel
bilden, Hohlräume, welche dann durch aus den intravenösen Räumen
stammende Blutextravasate, die somit subchorial gelegen sind, aus¬
gefüllt werden. Solche Choriondivertikel zeigen mitunter im Durch¬
schnitte einen lappigen, zottigen Bau, entprechend dem, dass die
Faltung der Eihäute das Primäre, die Blutung das Secundäre war.
Diese mit Blut gefüllten, in einzelnen Fällen aber auch leeren
Divertikel des Chorions, welche selbstverständlich von Amnion überall
überkleidet sind, prominiren in das Innere der Eihöhle und geben
derselben ein ganz eigenthiimliches Gepräge. In allen Fällen
Breus’ war ein Embryo vorhanden, der in der Länge zwischen 9 '/2 und
17 mm schwankte. Die längste Schwangerschaft betrug elf Monate.
An das Vorhandensein einer solchen Hämatommole musste ich nun
denken, und nachdem die Kranke in der letzten Zeit sichtlich herunter¬
kam, sich unwohl und beängstigt fühlte, wurde die Geburt, die sonst
vielleicht noch längere Zeit auf sich hätte warten lassen, nach mehr
als einjähriger Schwangerschaft durch Einführung einer Bougie einge¬
leitet. Das Product der Geburtsthätigkeit war eine typische Hämatom¬
mole im Sinne Breus, wie ich sie Ihnen hier demonstrire. Die ganze
Länge des Eies beträgt 101/ 2 cm, die Placenta umgibt weitaus die
grösste Peripherie des Eies, das nur an einer kleinen Partie — ent¬
sprechend dem Chorion laeve — die freien Eihäute zeigt. Dieselben
liegen der vis ä-vis-Wand innig an — mit anderen Worten: es ist
jede Eihöhle aufgehoben.
Schon durch das uneröffnete Ei hindurch erblickt man die
dunklen, rothbraun gefärbten Protuberanzen an der amniotischen
Fläche. Nach Aufschneiden des Eies wird zunächst wiederum das voll¬
ständige Fehlen des Fruchtwassers constatirt.
Wir sehen die ganze Placenta und die der Reflexa entsprechende
Partie des Chorion mit diesen Knoten besetzt, welche an manchen
Stellen divertikelartig ausgebuchtet sind, an ihrer dem Ei zugewendeten
Partie viel breiter als an ihrer Basis, somit wie gestielt erscheinen,
und, mit Ausnahme von einigen wenigen leeren Divertikeln, mit altem,
geschichtetem Fibringerinnsel ausgefüllt sind. An der unteren Peripherie
des Eies, zwischen zwei grösseren Protuberanzen, der Abgang des
17 mm langen, wohl erhaltenen, etwas ödematösen Nabelstranges, der
zu einem 11 mm langen, geschrumpften, aber nicht macerirten und die
H i s’sche Cylinderform zeigenden Embryo hinzieht. Derselbe ungefähr
dem Entwicklungsstadium des zweiten Monates entsprechend. W ir
sehen daher an dem Präparate alle jene typischen Zeichen, wie sie
Breus in seiner Monographie beschrieb.
Nun hat Julius Neumann im Jahre 1896, im fünften
Bande der Monatshefte für Geburtshilfe und Gynäkologie eine aus¬
führliche Arbeit publicirt, in welcher er auf Giund eines grösseren
Materiales von Präparaten zu der Ueberzeugurg kommt, ^ dass die
B r e u s’schen Fälle durchaus nicht eine typische und specielle Form
der Fleischmolen bezeichnen, sondern eben Fleischmolen seien, nie
alle anderen; nur dass es primär zu Blutungen in den sirbchorialen
Raum komme, und dass die Folge dieser Blutungen die Abhebung
des Chorions sei.
Ohne mich in eine weitere Discussion einzulassen, muss ich nur
bemerken, dass wohl jeder unbefangene Leser das Material Neu¬
mann’s, auf das er seine Schlussfolgerungen basirt, als ein ganz
anderes bezeichnen muss, als das, welches der B r e u s’schen Arbeit
zu Grunde lag. Es handelt sich um ein durchaus ungleichartiges
Substrat in den Arbeiten Breus’s und Neumann’s, und dadurch
erklärt sich wohl die Disparation der Conclusionen. Dieses Präparat
aber, das ich Ihnen hier vorstelle, erscheint mir als ein neuer Beweis
dafür, dass es wirklich eine typische Form der Hämatommole gibt,
wie sie Breus unter dem Namen des tuberösen subchorialen Häma¬
toms der Decidua beschrieben hat.
Dr. F. Pencil stellt einen Fall von Papillom der Harn¬
blase vor.
Der Kranke, ein kräftiger Mann im Alter von 49 Jahren, litt
seit Sommer 1898 an in längeren Intervallen wiederkehrender Hämat¬
urie; von Ende December 1899 bis zu seiner Aufnahme ins Kranken¬
haus bestand die Hämaturie in ziemlich unveränderter Stärke, zugleich
stellten sich dysurische Beschwerden ein. Ende Januar d. J. suchte
der Kranke die III. chirurgische Abtheilung auf; die Cystoskopie ergab
ein der rechten Blasenwand aufsitzendes Papillom. Der Harn war
| sauer, sehr reichliche Epithelien, vereinzelte Eiterkörperchen enthaltend,
j Am 31. Januar d. J. machte Pen dl typischen hohen Blasenschnitt.
Das ziemlich breit gestielte, walnussgrosse Papillom sass über der
rechten Uretermündung; es wurde aus der Blasenwand excidirt, die
Wundränder durch Catgutnähte vereinigt ; die Blutung stand
vollständig, die Blase wird daher in zwei Etagen vernäht, darüber
die Hautwunde bis auf eine Drainagecffnung für den prävesicalen
Raum geschlossen, ein Verweilkatheter in die Blase eingelegt. Während
des Erwachens aus der Narkose war Patient sehr unruhig, schlug um
sich und presste heftig.
Bald nach der Operation gingen einige Tropfen blutigen Urins
aus dem Katheter ab.
Am Nachmittage desselben Tages klagte Patient über sehr hef¬
tige Schmerzen im Unterbauche, fortwährenden Harndrang; aus dem
Katheter entleerten sich nur Tropfen dicken Blutes, geringe Mengen
in den Katheter eingespritzter antiseptischer Flüssigkeit flössen nicht
zurück. Der Verband wurde geöffnet und es zeigte sich, dass die Blase
bis zum Nabel ausgedehnt und prall gespannt war; es konnte wohl
keinem Zweifel unterliegen, dass die Ausdehnung der Blase durch eine
Blutung bedingt war. Die Blasen wunde wurde daher neuerlich eröffnet,
und durch dieselbe aus der Blase 600 g coagulirten Blutes entleert.
Es lag nahe, anzunehmen, dass die Nähte an der Stelle, wo das 1 n-
pillom excidirt worden war, insufficient geworden seien; die Ope¬
rationsstelle wurde daher behufs Stillung der Blutung zur Ansicht
gebracht. Es blutete jedoch nach Entleerung der Coagula über¬
haupt nicht mehr, die Nähte an der Excisionsstelle waren voll¬
ständig sufficient. Die Blasenwunde wurde nun verkleinert, der Rest
nach aussen drainirt.
268
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 11
Neun Tage nach der Operation konnte das Drain entfernt
werden, am Ende der dritten Woche war die Blasenfistel geschlossen
und der Patient konnte das Bett verlassen. Heute ist er völlig geheilt.
Der Zwischenfall, der nach der Operation eingetreten ist, wirft
die Frage auf, oh es bei blutigen endovesicalen Eingriffen überhaupt
gerathen ist, die Blasenwunde vollständig zu verschliessen ; es unter¬
liegt keinem Zweifel, dass die Blutung in unserem Falle durch die
während des Erwachens aus der Narkose besonders heftig arbeitende
Bauchpresse eingeleitet, durch die Ausdehnung der Blase in Gang er¬
halten worden ist; dies wäre nicht möglich gewesen, wenn vom Anfang
an eine Drainageöffnung in der Blase als Sicherheitsventil belassen
worden wäre. Der Fall soll zur Klärung der jetzt so häufig zur Dis¬
cussion stehenden Frage, ob Blasennaht oder Blasendrainage, beitragen.
Dr. Holzknecht demonstrirt aus der Klinik N o t h n a g e 1 einen
Fall von Mitbewegung eines intrathoraeischen Tumors
beim Schluckacte.
Bei dem 54jährigen Patienten besteht ein in jugulo und hinter
der rechten Clavicula eine zum Theil umgreifbare pulsirende Geschwulst,
deren untere Contour röntgenoskopisch, deren mediale tracheoskopisch
(Compression der Trachea von rechts her) nachweisbar ist. Bezüglich
der Differentialdiagnose zwischen A. anonyma und Aortenbogen als
Sitz des Aueurysmas, die wegen der immer wieder ventilirten Frage
der Operation bei dem ersteren auch von eminent praktischer Bedeutung
zu werden verspricht, entscheidet sich Redner wegen der höher rechts¬
seitigen Lage des ziemlich kleinen Aneurysmas, wegen der durch das¬
selbe bedingten Compression der Trachea von rechts her und wegen
einer theil weisen röntgenoskopischen Isolirbarkeit in schräg von hinten
links nach vorn rechts gehender Durchleuchtungsrichtung für die Ano¬
nyma. Bezüglich letztgenannter Durchleuchtungslichtung verweist er
auf den in der vorhergehenden Nummer dieser Zeitschrift veröffent¬
lichten ausführlichen Artikel. (Demonstration von Röutgenogrammen
und Schirmpause.)
Weiters bespricht Redner die physiologische stossweise Hebung
des ganzen Mediastinums inclusive Aneurysma beim Husten und end¬
lich die Thatsache, dass der Aneurysmenschatten wie auch der Schatten
des nach der linken Seite verdrängten Aortenbogens, wenn der Patient
schluckt, um 1 cm gehoben wird.
Redner verweist auf die Analogie dieser Erscheinung mit der
Mitbewegung der Thyreoidea beim Schluckact und die Beziehungen
zum Olive r - Car do r eil i’schen Symptom, das der Patient ebenfalls
darbietet, und deutet es auf feste Verbindung des Aneurysmas mit
Trachea und rechtem Bronchus. Das palpable Aneurysma lässt die
Mitbewegung auch fühlen. (Erscheint in extenso in der Wiener klinischen
Rundschau.)
Docent Dr. R. Kretz hält den angekündigten Vortrag: Ueber
Lebercirrhose. (Erscheint demnächst ausführlich.)
Greifswalder medicinischer Verein.
Sitzung am 3. Februar 1900.
Vorsitzender: Landois.
Schriftführer: Busse.
1. Rosenthal demonstrirt einen Fall von hochgradigem
Meteorismus, wahrscheinlich in Folge von angeborener Darmstenose.
Das jetzt 3 '/Jährige Kind soll von Geburt an einen aufgetriebenen
Leib gehabt haben, dessen Umfang stets, besonders aber in den letzten
acht Wochen zugenommen hat. Am 13. Januar 1900 wurde es in der
Universitäts-Kinderklinik aufgenommen, nachdem die schon vorher
spärlichen und unregelmässigen Stuhlentleerungen angeblich seit fünf
W ochen überhaupt ausgeblieben waren. Ernährungszustand äusserst
dürftig, das Abdomen hatte einen Grössenumfang von 84 um. Das
Kind verdrängt 14 l Wasser exclusive Kopf und Hals, während es
im Ganzen nur 10 '6 ly wiegt. Durch Darmausspülungen, Bauchmas¬
sage etc. wurden reichliche übelriechende Faces und Darmgase ent¬
leert und der Umfang um 20 cm vermindert. Der Umstand, dass
dieser Zustand schon von Geburt au besteht, spricht gegen chronische
Dyspepsie und für eine angeborene Darmstenose, die nach Besserung
des Allgemeinbefindens chirurgisch zu beseitigen sein wird.
2. Grawitz: Ueber Adenocareinome mit Projection von
Mikrophotogrammen. Die Bildung der drüsenähnlichen Geschwülste
kann auf sehr verschiedene Weise vor sich gehen. Einmal sieht man,
dass von Drüsen aus, bei der Wucherung derselben eine Ausstülpung
des Drüsenlumens nach der verschiedensten Richtung hin erfolgen kann
(Typ. I), es bestehen also von vorneherein Lumina, die von annähernd
cylindrischeir Zellen ausgekleidet sind. Zweitens kann die Wucherung
zunächst kleine solide Zellhaufeu schaffen, die erst später bei der
Ausreifuug der Zellen hohl werden und um das Lumen Cylinderzellen
formiren (Typ. II). Bei dieser Art der Bildung kann man noch zwei
Unterabtheilungen unterscheiden, entweder die Zellnester stehen im
directen unmittelbaren Zusammenhänge mit Drüsenbläschen, das Wachs¬
thum der Epithelien erfolgt in continuirlichem Zuge oder aber, ent¬
fernt von den fertigen Drüsenbläschen entstehen im Bindegewebe
Zellhaufen, bei denen also ein Zusammenhang mit den vollendeten
Epithelschläuchen nicht zu erkennen ist, discontinuirliches Wachsthum.
Drittens kommen nun auch Tumoren zur Beobachtung, in denen
Epithelien in den Lymphbabnen des Bindegewebes wuchern und dabei
dickere und dünnere Bindegewebsbündel umschliessen, durch deren
Schmelzung und Verflüssigung dann ein Lumen zu Stande kommt
(Typ. III). Nur bei Typ. I handelt es sich von vorneherein um
Cylinderzellen und ausschliesslich um ein Hervorgehen aus einer bereits
mit drüsigen Hohlräumen versehenen Matrix. Bei Typ. II und 111
gibt es zunächst kleine solide Zellhaufen einfacher runder Zellformen,
die sich erst nachher zu Cylinderzellen difterenziren.
In diesem Falle ist es gar nicht einmal erforderlich, dass die
Matrix der Geschwülste schon an sich drüsige Structur besitzt, sondern
z. B. auch das Epithel der Oberhaut und der Nebenniere und das
Zahnkeimepithel kann nach anfangs soliden Zell Wucherungen schliess¬
lich Drüsenschläuche oder kleine Cysten bilden. Typ. I wird in einem
Adenom der Thräuendrüse, Typ. II in einigen Photogrammen von
Gallertpfropf gezeigt. Einen extremen Grad des discontinuirlichen
Wachsthums stellen die nicht selten in Knochen beobachteten Meta¬
stasen von Struma maligna dar.
Der Typ. III tritt am deutlichsten in einem Tumor der Hypophysis
hervor. In Adeno-Carcinomen des Rectum und Ovarium finden sich ge¬
wöhnlich alle drei Typen. Einige Photogramme zeigen das Hervor¬
gehen von Drüsenschläuchen aus den tieferen Schichten des Rete
Malpighi in einem Tumor der Achselhöhle bei einem Soldaten und
einer Geschwulst der Nackenhaut bei einer älteren Frau.
In einem Tumor der Nebenniere wird ein anderes Beispiel de-
monstrirt, wie durch Verflüssigung von Epithelien und Bindegewebe
aus soliden Massen durchaus glanduläre Bildungen werden können.
Auch die cystischen Geschwülste des Unterkiefers, die von den
„Debris epitheliaux“, den nicht verbrauchten Zahnkeimresten hervor¬
gehen, liefern nach Typ. II und III vielfach cystische und drüsige
Geschwülste. Zum Schlüsse w’erden zahlreiche Bilder aus den Parotis-
gescliwülsten demonstrirt, die den Beweis liefern, dass die Drüsen-
epithelien selbst in Wucherung gerathen und die Abkömmlinge der¬
selben den Hauptantheil der so oft als Endotheliome aufgefassten Ge¬
schwülste liefern, vielfach auch nach dem Typ. III.
Der histologische Bau gibt nur annäherungsweise einen Mass¬
stab für den Grad der Bösartigkeit; im Allgemeinen ist der Tumor
um so bösartiger, je weniger rasch und je weniger vollständig die
krebsigen Anfangsstadien zu dem vollendeten Drüsen- und Cystenbau
übergehen.
3. Trie pel: Ueber Stossfestigkeit der Knochen.
Es empfiehlt sich in der Anatomie und Chirurgie, nicht nur An¬
gaben über die statische Festigkeit der Gewebe und Organe in
Gewichtseinheiten zu machen, sondern auch solche über die Stoss¬
festigkeit in Kilogramm-Metern. Versuche über die Stossfestigkeit sind
mit ziemlich beträchtlichen Schwierigkeiten verknüpft, weil von der
lebendigen Kraft, die man im Experiment auf einen Körper einwirken
lässt, immer mehr oder weniger verloren geht, und nur wenige der-
aitige Versuche liegen bisher vor. Man kann nun aber die Stoss¬
festigkeit aus der statischen Festigkeit berechnen, mit Hilfe von
Gleichungen über die bei der statischen Beanspruchung geleistete
Arbeit. Die Gewalten, die im Körper zu Continuitätstrennungen führen,
müssen immer grösser sein als die für die Stossfestigkeiten berech¬
neten Werthe, weil eben auch hier lebendige Kraft in Verlust gerätb,
d. h. zu anderen Aufgaben als den Continuitätstrennungen verwendet
wird, vor Allem durch die Unterlage und durch die Gewebe, die sich
zwischen dem stossenden und dem zerbrechenden oder zeri’eissenden
Körper befinden. Es werden einige Zahlenangaben gemacht über die (durch
Rechnung ermittelten) Stossfestigkeiten einiger Knochen. Eine aus¬
führliche Darstellung wird an anderer Stelle gegeben werden.
Wissenschaftlicher Verein der k. und k. Militärärzte der
Garnison Wien.
Sitzung vom 16. December 1899.
Vorsitzender: Generalstabsarzt Dr. J. Uriel.
Schriftführer : Regimentsarzt Dr. K.* Bielll.
Der Vorsitzende dankt dem Herrn Oberstabsarzt Dr. Leibnitz
und dem Herrn Regimentsarzt Dr. Zimmer mann für ihre bis¬
herige Thätigkeit als Schriftführer.
Sodann führt Regimentsarzt Dr. S c h e i d 1 drei Soldaten mit
Gehverbänden von der chirurgischen Abtheilung des k, u. k. Garnisons-
Spitales Nr. 2 (Chefarzt Oberstabsarzt Dr. J. H a b a r t) vor, um
einerseits den in die Garnison frisch eingerückten Militärärzten Ge-
269
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
legenheit zu bieten, derlei Verbände kennen zu lernen und anderer¬
seits die Vorzüge derselben zu demonstriren.
1. Fall, einen Kanonier mit offenem Knochenbruch (Durch-
stechungsfractur) des Unterschenkels betreffend, gelangte binnen vier
Wochen unter einem Dauerverbande ohne Verkürzung zur Heilung
und geht gegenwärtig in der Br uns ’sehen Gehschiene an¬
standslos herum, während er am gesunden Fusse einen Schuh mit
erhöhter Korksohle trägt.
2. Fall (Infanterist) mit doppeltem Bruch des Schienbeines und
einem Schrägbruch des Wadenbeines mit einer Verkürzung von 3 — 4 cm
heilte in derselben Zeit mit mächtigem Knochencallus gleichfalls unter
einem Verbände binnen vier Wochen ohne Verkürzung und trägt
gegenwärtig die Lie r mann ’s che Gehschiene, mit welchei ei
gut herumzugehen vermag.
3. Fall (Feldwebel) von doppeltem Bruch des Schienbeines
(supramalleolar und intermediär) und Querbruch des V adenbeines,
kam am 4. December in das Garnisons-Spital und erhielt sofoit in
Chloroformnarkose (behufs Ausgleichung der Verkürzung von 3—4 cm)
einen Geh verband aus Gyps nach der in der chirurgischen
Abtheilung geübten Methode. Das rasirte und rigoros extendirte Bein
wird in der Mittellage zwischen Pro- und Supination, Beugung und
Streckung durch einen verlässlichen Assistenten fixirt, und nachdem
eine Fusssohle aus dicker Baumwollelage behufs Suspension derselben
nach Prof. Dollinger angelegt worden ist, werden Gypsbinden
directe auf die Haut applicirt und die Gypstouren an den
unteren Kniegelenksknorren (am Schienbein und Wadenbein) leicht
eingedrückt behufs Erzielung einiger Stützpunkte, während dieselben
in der Kniekehle durch Einlegen eines Fingers nur locker durchlaufen,
um keine Blutstauung zu bewirken. Zur Verstärkung dient Schustei-
span, Pappe, Draht u. dgl.
Die Vortheile dieser Gehverbände sind so augenfällig, dass sie
allgemeine Anwendung verdienen. Einerseits leiden die Kranken wedei
an den Folgen des langen Bettliegens (keine Hypostasen), noch an
denen der festanliegenden Verbände, indem Gelenksversteifungen
(Anchylosen), Ernährungsstörungen (Muskelatrophien) nie beobachtet
worden sind, andererseits gestaltet sich der Pflegedienst viel einfachei,
indem die Kranken selbstständig sind und das Pflegepersonal entlastet
wird. Der Hauptvortheil liegt jedoch in der Erleichterung des
Verwundetentransportes im Felde, und aus diesem
Grunde sollten die Gehverbände aus Gyps Gemeingut aller Militär¬
ärzte werden. Das Anlegen derselben in der Cbloroformnarkose macht
die langwierige Extension entbehrlich und gewährt die beste Sicher¬
heit gegen Zurückbleiben einer Knocbenverkürzung oder fehlerhafte
Stellung.
Oberstabsarzt Dr. J. Habart führt einen Kanonier vor, bei
welchem er vor fünf Wochen wegen complicir ter Schädel-
fractur mit Impressionserscheinungen primäre Tre¬
panation und am zehnten Tage die Deckung des 4 — 5 cm langen und
3 cm breiten Knochendefectes im Bereiche des linken hinteren Scheitel¬
beinhöckers mittelst Celluloid (Heteroplastik nach A. Frankel) mit
gutem Erfolge ausgeführt hat. Die schweren Drucksymptome seitens
des Gehirnes , welches muldenförmig eingedrückt war und keine
Pulsation zeigte, steigerten sich bis zum Koma, so dass nach voll-
führter Operation letaler Ausgang drohte. Nach 48 Stunden schwanden
jedoch alle bedrohlichen Druck- und Herdsymptome, der Mann erholte
sich allraälig und konnte Anfangs der vierten Woche das Bett ver¬
lassen. Die eingelegte Celluloidplatte ist reactionslos eingeheilt,
und gegenwärtig bestehen bei dem Verletzten ausser einer Puls¬
beschleunigung (100 — 120 Schläge) keine bemerkenswerthen Er¬
scheinungen.
Derselbe demonstrirt weiters einen Landwehrmann nach g e-
heiltem Bauchschnitt, welcher in Folge von Bauchfelltuberculose
und Bauchwassersucht vor acht Wochen mit gutem Erfolge ausgetührt
worden ist. Der elende Zustand des schwer kranken Mannes, die
bräunlichgelbe Ascitesflüssigkeit, welche in der Menge von 3 f entleert
wurde, und der pathologische Befund am grossen Netze und an den
Gedärmen (dicke Auflagerungen von Exsudatschwarten mit linsen¬
grossen Knötchen) Hessen keinen günstigen Erfolg erwarten. Nichtsdesto¬
weniger erholte sich der Mann nach vollführter Laparotomie, bei
welcher die Gedärme mittelst steriler Gazecompressen mit warmer
Kochsalzlösung abgewischt worden sind, zusehends und kräftigte sich
binnen vier Wochen in der Weise, dass er das Bett verlassen konnte,
und seither hat sich auch sein Körpergewicht gehoben. Derselbe fühlt
sich hinlänglich kräftig, um seiner Beschäftigung als Schneider nach-
kommen zu können.
Regimentsarzt Drastich stellt einen Recruten vor, der am
29. November d. J. dem Spitale wegen Verdachtes auf Simulation
übergeben worden war. Der Mann klagte bei der Truppe übei Un¬
vermögen, die Gewehrgriffe auszuführen und behauptete, seit einem
im Mai 1898 erlittenen Sturze auf die vorgestreckten Arme, wobei er
sich einen beiderseitigen Knochenbruch oberhalb der Handgelenke zu¬
gezogen habe, eine zunehmende Schwäche und Abmagerung beider
Arme wahrzunehmen.
Die objective Untersuchung ergab eine auffallende Schlaffheit
der Musculatur an beiden oberen Extremitäten, einschliesslich einer
beginnenden Atrophie der kleinen Handmuskeln, Schwäche und
Functionsbehinderung der Arme, erhebliche Herabsetzung der faradi-
schen und galvanischen Muskelerregbarkeit ohne qualitative Aenderung
derselben, Herabsetzung der tactilen Sensibilität im Bereiche des
Trigeminus auf beiden Seiten, Aufhebung derselben an den Armen
und in einer beiläufig zwei Hand breiten Zone an Brust und Rücken
und partieller Empfindungslähmung für Schmerz und Temperatur¬
differenzen, namentlich an der Aussenseite der Arme, schliesslich vaso¬
motorische Störungen im Sinne blau-roth verfärbter, kühl an¬
zufassender Hände. Druckschmerzhaftigkeit der grösseren Nerven-
stämme besteht nicht, dagegen klagt der Patient über Schmerzen an
den Handgelenken und leichte Parästhesien in den Fingern.
Der Vortragende beschreibt diesen Fall als Syringomyelie und
weist auf die Nothwendigkeit hin, bei jeder scheinbaren Simulation
auch einen genauen Nervenstatus aufzunehmen.
Regimentsarzt Dr. K. B i e h 1 zeigt ein erst einige Tage altes
und ein abgelaufenes Othämatom, welches beide Male durch ein Trauma
verursacht wurde. Bei ersterem Kranken wird die Concha auriculae sin.
von einer über haselnussprossen Geschwulst eingenommen. Dieselbe
zeigte beiläufig in der Mitte, horizontal verlaufend, eine deutliche Ein¬
senkung der Oberfläche. Die Geschwulst ist prall gespannt, leicht
fluctuirend, wenig druckempfindlich und gegen die Umgebung nicht
verfärbt. Der Eingang zum äusseren Gehörgang ist durch dieselbe
vollständig verschlossen und nur durch langsames Zurückdrängen ein
Einblick in die Tiefe desselben ermöglicht. Fast den gleichen Befund
bot auch der zweite Kranke, als er ins Spital abgegeben wurde. Bei
diesem wurde erst nur die von L a u b i n g e r ') empfohlene, an der
Klinik Haug geübte Therapie in Anwendung gebracht. Dieselbe be¬
steht in einem Einspritzen mehrerer Tropfen einer Jodlösung. Nach
Ablauf der reactiven Entzündung, also nach beiläufig vier bis fünf
Tagen, machte sich beim erwähnten Kranken ein ziemlich rasches
Kleinerwerden der Geschwulst bemerkbar. Dieses günstige und nament¬
lich so rasch erzielte Resultat — heute ist nur eine geringe
Verdickung der Haut in der Concha bemerkbar — fordert zur Wieder¬
holung bei dem frisch zugewachsenen Kranken auf. Die Methode ist
einfach, unter allen Verhältnissen ausführbar und den Militärärzten
nur zu empfehlen.
Hierauf hält Regiments- und Gardearzt Dr. Johann Steiner
den angekündigten Vortrag : Ueber das Militär-Sanitäts¬
wesen in der Schweiz.
Der Vortragende, welcher den grossen eidgenössischen Manövern
des Jahres 1899 beigewohnt hat, stellt auf Grund der hiebei ge¬
wonnenen Erfahrungen das schweizerische Heeres-Sanitätswesen als das
am rationellsten organisirte hin, da der Sanitätsdienst in der ganzen
Armee von der den anderen Truppengattungen völlig gleichgestellten
Truppe, deren Officiere die Aerzte sind, einheitlich ausgeübt wird.
Nach detaillirter Besprechung der Organisation und Ausrüstung
der schweizerischen Militärsanität schildert der Vortragende seine per¬
sönlichen Erlebnisse während der Manöver und die Eindrücke, welche
er von dem kriegmässig durchgeführten Sanitätsdienste gewann.
Oberarzt Dr. Schubert demonstrirt einige mikroskopische
Präparate vom inneren Ohre des Hundes und des Meerschweinchens.
Er bespricht im Anschlüsse daran die von ihm angewendete Methode
zur Bereitung derselben. Er betont insbesondere die Wichtigkeit einer
guten Entkalkungsflüssigkeit und nennt als solche ein ihm vom
Doeenten Dr. Günther zur Verfügung gestelltes Gemenge, bestehend
aus der Müller’schen Flüssigkeit mit 1% Zusatz concentrirter Salz¬
säure. Die Flüssigkeit wurde täglich gewechselt und in grosser Menge
verwendet.
Berichte aus dem Vereine österreichischer Zahnärzte.
Officieller Bericht.
Sitzung vom 7. Februar 1900.
Vorsitzender: Dr. Bardacll sen.
Schriftführer: Dr. v. Wunschheim.
Nach Erledigung des Einlaufes und der geschäftlichen Ange¬
legenheiten erhält Herr Dr. Breuer das Wort zu seinem angekün¬
digten Vortrage : Ueber Solilagold. (Derselbe erschemt aus¬
führlich in der „Oesterreichisch-ungarischen Vierteljahrsschrift für Zahn¬
heilkunde“.) TT
Dr. Breuer berichtet zunächst sehr eingehend über den Untei-
schied des Solilagoldes von allen anderen Goldsorten und bespricht
*) Laubinger,
Perichondritis. Archiv für
Beiträge zur Casuistik der Othämatome und der
Ohrenheilkunde. 13d. XLV1I, Heft 1 und 2.
270
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 11
die physikalischen Eigenschaften desselben. Bezüglich der Herstellung
von Füllungen mit diesem Golde ist er in manchen Funkten mit den
Vorschriften De Trey’s nicht einverstanden. Der Vortragende wendet
sich sodann der Herstellung einer Füllung mit Solilagold zu, wie sich
dieselbe nach seiner dreijährigen Erfahrung bewahit hat, und betont,
dass das Solilagold insbesondere bei grossen Cavitäten und bei Con-
tourfüllungen mit Vortheil anzuwenden sei. Der Vortragende steht
somit mit Prof. Sachs, welcher ein ungünstiges Urtheil über Solila
gold gefällt hat, insofern in Widerspruch, als er glaubt, dass bei
richtiger Behandlung auch mit Solilagold schöne Erfolge erzielt werden
können. Zum Schlüsse seines Vortrages demonstrirt Redner eine in
einer Stahlmatiize hergestellte Füllung aus Solilagold, sowie zum Ver¬
gleiche eine von Dr. v. Wunschhei m in derselben Matrize her¬
gestellte Füllung aus Herbs t’schen Cylindern.
Discussion: Dr. Weiser bemerkt, er müsse trotz der Aus¬
führungen des Vortragenden auch jetzt noch davor warnen, nach den
von De Trey angegebenen Regeln Füllungen mit Solilagold auszu¬
führen. Auch sei dadurch, dass man mit Solilagold ebenso lange
brauche, wie mit anderen Goldsorten, wenn man eine gute Füllung
hersteilen wolle, kein Vortheil gegenüber den bisherigen altbewährten
Goldpräparaten erreicht.
Dr. Breuer erwidert, dass er mit seinen Ausführungen nur
darthun wollte, dass man mit Solila bei richtiger Behandlung ebenso
schöne Resultate erzielen könne, wie mit anderem Golde, und dass er
nicht, wie Prof. Sachs, durch stricte Verwerfung des Solilagoldes ein
ungerechtes Urtheil fällen wollte.
Prof. Bleichsteiner erwähnt, dass er nach Günther’s
Schule seinerzeit die Füllungen mit Krystallgold in der Weise be¬
gonnen habe, dass zunächst ein in Dütenform gebrachtes Pellet aus
Goldfolie in die Gavität gebracht wurde, um ein festes Haften des
Goldes an der Gavitätenwand zu erzielen, was mit Krystallgold allein
sehr schwierig war. Nach seinen Erfahrungen sei das Arbeiten mit
Solilagold ebenso mühsam, wie mit allen anderen Goldsorten, und
wenn De Trey zugleich mit seinem Golde nicht auch seinen Instru-
nrentensatz angegeben hätte, so würde man mit demselben überhaupt
nicht haben arbeiten können, da eine Dichtung des Solilagoldes mit
spitzen Instrumenten überhaupt nicht möglich sei.
Dr. Breuer stimmt dem Vorredner in diesem Punkte zu und
betont, dass er in seinem Vortrage diesen Umstand bereits hervor¬
gehoben habe.
Dr. Breuer zeigt im Anschlüsse an die Discussion noch die
Herstellung von Abdrucklöffeln nach der Methode von Bulin.
In der sich darüber entspinnenden Debatte hebt Dr. v. Wunsch¬
heim hervor, dass er, ohne die genannte Methode zu kennen, in jedem
halbwegs schwierigen Falle sich auf die genannte Art einen Abdruck¬
löffel herstelle, da er die Erfahrung gemacht habe, dass man damit
schneller zum Ziele komme, als w7enn man eine Reihe von Abdrücken
nehme und doch keinen brauchbaren erhalte. In letzter Zeit stanze er
sich jedoch die Löffel aus Messingblech und erziele damit eiue grössere
Haltbarkeit derselben.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
in München.
Vom 17. bis 22. September 1899.
(Fortsetzung.)
Section für Chirurgie.
Referent: Wohlgemuth (Berlin).
II. Sitzungstag, Dienstag den 19. September, Vormittags.
Vorsitzender : Se. königl. Hoheit Prinz Dr. Ludwig Ferdinand von
Bayern.
IX. K ii m mell (Hamburg): U e b e r circulare Naht der
Gefässe. (Fortsetzung.)
Fall I. Eine 52jährige Patientin bemerkte seit circa elf Wochen
in der rechten Leistenbeuge das Auftreten einer ziemlich rasch wachsenden
Geschwulst, und gleichzeitig eine Abnahme ihres Körpergewichtes.
Mehrfach gemachte Incisionen förderten nur etwas Blut zu Tage. Die
mittelgrosse, massig gut genährte Patientin, deren übrige Organe gesund
waren, zeigte in der rechten Inguinalgegend eine über faustgrosse, theil-
weise stark zerklüftete, auf der Unterlage nur wenig verschiebliche
Gewulst, aus der an einigen Stellen jauchiger Eiter hervortritt. An
den Genitalien war ausser einer leichten Infiltration in der rechten
Seite der Vulva nichts Besonderes zu fühlen.
Am 28. April wurde der carcinomatöse Drüsentumor exstirpirt.
Nach Umschneidung des Tumors im Gesunden wird derselbe theils
stumpf, theils mit Hilfe der Seheere herausgelöst. Nachdem die Ge¬
schwulst ringsum frei präparirt ist, zeigt sich, dass sie an der Vena
und Arteria femoralis adhärent ist.
Nach vorsichtigem Ablösen von den Gefässen zeigt sich, dass die
Arterie ringsum von carcinomatösen Massen umwachsen ist. Das Lumen
der Arterie ist durchgängig, die Pulsation ober- und unterhalb der
carcinomatösen Stelle normal. Auch die Vordeifläche der Vene ist in
einer Ausdehnung von 2 cm mit carcinomatösen Massen bedeckt. Die
Arterie wurde in weiter Ausdehnung frei präparirt, oben und unten je
eine Arterienpincette angelegt und, das erkrankte Stück in einer Aus¬
dehnung von 4 — 5 cm resecirt.
Der untere Schnitt lag ungefähr 1 cm oberhalb des Abganges
der Arteria profunda. Durch vorsichtiges Hervorziehen, durch genügendes
Freipräpariren und durch Beugen des Beines im Hüftgelenk gelang
es, die Enden einander zu nähern und ohne Spannung zu vereinigen.
Diese Vereinigung wurde in der Weise ausgeführt, dass zunächst das
obere Arterienende in das untere etwa 7a cm weit eingeschoben und
dann beide mit einem feinen, fortlaufenden Seidenfaden und einer mög¬
lichst feinen, leicht gekrümmten Nadel genäht wurden.
Die Nadel durchdrang nur die äussere und mittlere Schicht der
Arterienwand, während die Inlima nicht mit durchstochen wurde. Nach
Entfernung der Klammern entleerte sich aus einzelnen Stichcanälen
Blut. Durch eine darüber gelegte zweite Naht, w'elche nur die Adven¬
titia fasste, wurde die Blutung nunmehr vollständig gestillt. Das Blut
drang sofort in das Gefäss ein, die Nahtstelle wurde zur weiteren
Sicherung mit einem Muskel umnäht und die grosse Hautwunde gut
mit Gaze tamponirt. Nach kurzer Zeit wurde in der Poplitea deutliche
Pulsation gefühlt. Ernährungsstörungen des Beines waren nicht vor¬
handen. Die ebenfalls carcinomatÖ3 erkrankte Vena femoralis war offen
liegen geblieben und mit einem aseptischen Tampon bedeckt, um even¬
tuell später, nachdem die Circulation des Beines gesichert, die erkrankten
Theile reseciren zu können. Die Vene thrombosirte jedoch schon in
den nächsten Tagen an der erkrankten Stelle. Ein mässiges Oedem des
Beines entstand und nach einigen Tagen stiess sich das freiligende
Venonstiick nekrotisch ab.
Die Wunde heilte per granulationem bis auf eine kleine zw7eimark-
stückgrosse Stelle, in welchem sich nach einigen Wochen ein Recidiv
entwickelte, welches sich rasch weiter verbreitete, so dass sich all-
mälig ein grosses carcinomatoses Geschwür entwickelte. Das Bein
wTurde schliesslich stark ödematös und Patientin ging am Ende an
allgemeinem Kräfteverfall circa vier Monate nach der Operation zu Grunde.
Leider war bei der Section von der Gefässnaht nichts zu sehen, da die
Arterie allmälig vollständig durch die carcinomatösen Massen zerstört
war. In der rechten Seite der Vulva befand sich der primäre Carci-
nomherd. In dem Reste der Arterie oberhalb der ursprünglichen Naht¬
stelle befand sich ein bis zur Iliaca reichender Thrombus, der erst in
der letzteren Zeit entstanden war.
Fall II. Patientin, 41 Jahre alt, bemerkte seit circa einem Jahre
eine allmälig gänseeigross gewordene Geschwulst, nicht schmerzhaft,
hart, auf der Unterlage etwas verschieblich. Primärer Carcinomherd
konnte weder in der Vagina, noch im Uterus nachgewiesen werden.
Sonst innerer Befund normal.
Operation am 27. Mai. Umschneidung des Tumors im Gesunden,
Auslösung desselben theils stumpf, theils mit dem Messer. Lösung des
Tumors von der Arterie leicht durchführbar, dagegen Verwachsung mit
der Vena femoralis, die in einer Ausdehnung von 2 cm vom Carcinom
durchwachsen ist. Freipräparirung der Vene in einer Ausdehnung von
6 cm. Anlegung einer Schieberpincette, mit Gummi armirt, oben und
unten. Resection des Tumors. Die Vene war nun in einer Länge von
2 cm bis auf eine schmale, 2 mm breite Brücke hinten vollständig
durchtrennt. Durch Beugt n des Beines im Hüftgelenke gelang die
Annäherung der Wundränder sehr leicht. Die beiden Gefässenden
wurden durch eine möglichst enge, fortlaufende Naht geschlossen. Eine
Invagination des oberen ins untere Ende fand nicht statt, so dass
Gefässwand mit Gefässw^and vereinigt waren. Bei der relativen Dünne
der Gefässwand wird nicht immer das Eindringen des Fadens durch
die Intima vermieden worden sein. (Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag, den 16. März 1900, 7 Uhr Abends,
unter dem Vorsitze des Herrn Regierungsrat lies Prof. Mauthner
stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Prof. Benedikt: Therapie der Tabes.
Vorträge haben angemeldet die Herren: Prof. A. Politzer, Professor
Weinleclmer, Dr. J. Thenen, Dr. A. Pilcz, Hofrath Prof. Schnabel,
Oberstabsarzt Docent Dr. Habart, Dr. A. Jolles, Docent Dr. Rötlii und
Regimentsarzt Dr. J. Fein.
Bergmeister, Paltauf.
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumülier in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900. Nr. 11
Qollavcjolum.
(Crede’s wasserlösliches Silbermetall). Ungiftiges, reizloses,
äusserst energisches Antisepticnm für äusserlichen und inner¬
lichen Gebrauch. Angezeigt bei Lymphangitis, Phlegmonen,
allen septischen Erkrankungen (reinen und gemischten), bei
infectiösen Magen- und Darmerkrankungen, sowie bei den
Leiden des Nervensystems, wo Arg. nitr. angezeigt ist. (An¬
wendungsform: In Lösung rein oder innerlich als Zusatz zu
Getränken, als Salbe zur Silbersehmiercnr, als Pillen, Stäb¬
chen etc.)
<3 frei.
Stark antiseptisches, reiz- und geruchloses, ungiftiges Silber¬
präparat für Crede’s Silberwundbebandluug, für die Augen¬
therapie (speciell Hornhautgeschwüre), sowie für die Behand¬
lung der Blasen- und Geschlechtskrankheiten.
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Antisyphiliticum, besonders in Form der 10 °/0 igen colloidalen
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Verstopfung.
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beschwerde.
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Verdauungs-
tractus.
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Peristaltik.
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Gravidität
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Lactation.
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I lithiasis.
Pillen und Elixir.
Das »Cascarinec ist ein chemisch bestimmter krystallisirter Körper etc. (Comptes
rendns de l’Academie des Sciences, Bd. CXV. pag. 286.) Begründet wurde seine thera-
peutische Wirkungsweise wissenschaftlich (M. Laffont, Bulletin de 1 Acadcmie de Mecle-
cine, 14, Juni 1892) und klinisch (Societe de Therapeutique : Constantin Paul ; Dujardm-
Beaumetz, Medications nouvelles, 2. Serie ; Bibliotheque Charcot-Debove, 1 uigatifs,
pag. 104; Prof. Lemoine in Lille. Therapeutique clinique, pag. 305; Tison, Hop.tal
St.-Jo8eph und Congr6s pour l’avancement des Sciences, Bordeaux, 1895, 1. Theil,
pag. 963 ; Prof. Charles in Lüttich, Cours d’accouchements u. s. w.)
Seine Wirkung ist regelmässig, leicht zu erzielen, ohne Angewöhnung, aus¬
gezeichnet bei habitueller Verstopfung und gegen bacterielle Proliferation de3 Rheuma¬
tismus (Dr. Roux) bei Typhus abdominalis etc.
Doslrung: 2 Pillen Abends oder bei den Mahlzeiten.
(Je nach der Wirkung die Dosis verringern oder steigern.)
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Um Nachahmungen zu vermeiden, verordne man gefl. stets: ,,Cascarino Leprinco ■
Jede Pille trägt obige Aufschrift.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900. Nr. 11.
Die Blaud’schen Eisenpillen
_ _ _ von Zipperer & Weis
mit Cliocolade-Ueberzug.
>-h) Wien, I. Tuchlauben 27 e-<
empfehlen sich nach ärztlichen Gutachten dadurch, dass sie
weich sind, sich leicht lösen und angenehm zu nehmen sind.
aUTACHTElT:
Euer Wohlgeboren! Wien, 16. Jänner 1899.
Ich bestätige Ihnen sehr gerne, dass ich Ihre Blaud’schen Pillen mit
Chocoladeüberzug selbst häufig in meiner Praxis verwende und mit den¬
selben sehr zufrieden bin, indem dieselben allenthalben sehr gut vertragen
werden und den grossen Vorzug haben, angenehm genommen zu werden.
Hochachtungsvoll Prof. Hr. Gustav Lott.
Euer Wohlgeboren! Klosterneuburg, 3. Februar 1899.
Ich l abe die von Ihnen ei zeugten Blaud’schen Eisenpillen mit Choco¬
ladeüberzug nun durch längere Zeit bei den Pfleglingen der hiesigen Irren¬
anstalt angewendet und bin mit dem Erfolge ganz besonders zufrieden, da
die Pillen augenscheinlich leicht vertragen werden, keine unangenehmen
Nebenerscheinungen hervorrufen und von den Kranken gerne genommen
werden. Achtungsvoll Dr. Weiss.
Euer Wohlgeboren! Wien, 19. Jänner 1899.
Ich bestätige Ihnen mit Vergnügen, dass ich Ihre mit Chocoladeüber¬
zug versehenen Blaud’schen Eisenpillen wiederholt mit Erfolg verwendete
und dass alle Patienten, die dieselben nahmen, mit deren guten Geschmack
und leichten Verdaulichkeit sehr zufrieden waren.
Primararzt Dr. Leo Retltenbacher,
Vorstand der III. med. Abth. im k. k. allg. Krankenhause.
Sehr geehrter Herr! Innsbruck, 15. April 1899.
Ersuche höflichst, mir wieder umgehend 4 Schachteln Ihrer mit Choco-
lade überzogenen Blaud’schen Pillen zu senden. Ich habe nunmehr Ihre
Pillen in 4 schweren Fällen von Chlorose, die sämmtlich bereits mit einer
grossen Anzahl verschiedener Eisenpräparate ohne Erfolg behandelt worden
waren, angewendet und konnte bereits nach ca. 14 Tagen, bei einem
besonders schweren Falle nach 5 Wochen eine auffallende Besserung
sämmtlicher Beschwerden constatiren. Ihr ergebener
Dr. Brixa, prakt. Arzt, Innsbruck, Landhausstrasse 7.
P. S. Die Pillen werden zum Unterschied von den gewöhnlichen Blaud’schen durch¬
wegs gern genommen und leicht verdaut, wirken auch absolut nicht stopfend.
Herrn Josef Weis, Besitzer der Apotheke »Zum Mohren«,
Wien, I. Tuchlauben 27.
Für Ihre Freundlichkeit, mir Ihre Pil. Blaudii c. chocolad. obduct. zu
eigenem Gebrauche zur Verfügung zu stellen, bestens dankend, kann ich
Ihnen heute mit grosser Freude berichten, dass Ihre Pillen sich ausgezeichnet
bewähren. Sie nehmen sich angenehm ein und besitzen vor den magistraliter
verschriebenen gewöhnlichen Pillen den grossen Vorzug, keine Unannehm¬
lichkeiten nach sich zu ziehen. Aber auch der Erfolg ist ein eminenter,
indem schon nach Verbrauch von 150 Pillen die quälendsten Beschwerden
der Chlorose schwinden. Die Ernährung und das Allgemeinbefinden heben
sich sehr rasch. Indem ich Sie versichere, von Ihrem Präparate bei meinen
Kranken häutigen Gebrauch zu machen, zeichne ich hochachtungsvoll
Brünn, 13. Jänner 1898. Dr. Gustav Haas.
Note.
1899.
Wien, am 8. April
Herren Zipperer & Weis, Apotheker, Wien.
Die von Ihnen dem k. k. Wilhelminen-Spital zu Versuchszwecken gratis
übermittelten »Pilulae Blaudii c. chocolade obductae« wurden in allen geeig¬
neten Fällen mit bestem Erfolge verwendet. Ihres angenehmen Geschmackes
und der leichten Verdaulichkeit wegen werden dieselben gern genommen
und gut vertragen. Dr. Tölg,
Director des Wilhelininen-Spitales, Wien XVI.
P. T. Mohren-Apotheke, Wien. Wien, 10. Februar 1899.
Ich bin erfreut, Ihnen mittheilen zu können, dass ich auf Grund meiner
fast zweijährigen Versuche Ihre Blaud’schen Pillen mit Chocolade überzogen
bei Bleichsucht und Anämie als das wirksamste Heilmittel schätzen gelernt
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Achtungsvoll Dr. E. Orvtin, prakt. Arzt.
Sillein, 3. Mai 1899.
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den Umstand, dass sie leicht und gerne von den Patienten genommen
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in denen Eisen indicirt ist, zu verordnen. Hochachtungsvoll
Dr. Georg Kristan, Districts-Arzt
Euer Wohlgeboren!
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Die „Wiener klinische
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erscheint jeden Donnerstag
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stens zwei Bogen Gross¬
quart.
Zuschriften für die Redac¬
tion sind zu richten an
Dr. Alexander Fraenkel,
IX/3, Maximilianplatz,
Günthergassei. Bestellun¬
gen und Geldsendungen an
die Verlagshandlung.
E. Albert, G. Braun, O. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner,
Jos. Gruber, M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing,
I. Neumann, R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. v. Vogl, J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuekerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs. Karl Gussenbauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselhaum.
, Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Abonnementspreis
jährlich 2J K = 20 Mark.
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tions-Aufträge für das In-
und Ausland werden von
allen Buchhandlungen und
Postämtern, sowie auch von
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nommen. — Abonnements,
deren Abbestellung nicht
erfolgt ist, gelten als er¬
neuert. — Inserate werden
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zweigespaltene Nonpareille¬
zeile berechnet. Grössere
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kommen.
- *
s? -
Redaction :
Telephon Nr. 3373.
Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII 1,
Telephon Nr. 6034.
Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang.
Wien, 22. März 1900.
Nr. 12.
INHALT:
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Ori^inalartikel: 1. lieber Lebercirrhose. Von PrivatdocentDr. Richard
Kretz, Prosector am k. k. Kaiser Franz Josef-Spitale in A\ ien.
2. Aus der I. psychiatrischen Universitätsklinik in Wien (Professor
Dr. v. Wagne r). Ueber einige Ergebnisse von Blutdruck¬
messungen bei Geisteskranken. Von Dr. Alexander Pilcz,
klinischem Assistenten.
II. Referate: I. Ueber Besserhören im Lärm und die Bedeutung dieses
Phänomens für die Pathologie und Therapie der chronischen pio-
gressiven Schwerhörigkeit im Lichte der Neuronlehre. Von Dr.
Max Breitung. II. Gibt es ein Hören ohne Labyrinth'? Von
Dr M a x K a m m. III. Die tuberculösen Erkrankungen des
Gehörorganes. Von Dr. Otto Bar nick, IV. Der Schai lach und
das Scharlach diphtheroid in ihren Beziehungen zum Gehörorgan.
Von Dr. E. W e i 1. Ref. Arthur Singer. — Handbuch der
Ohrenheilkunde. Von Dr. Wilhelm Kirchner. Ref. B i e h 1.
— Durchschnitt durch das menschliche Auge. Von M. Salz¬
mann. Ref. Hanke. — Dermato-histologische Technik. Von
Dr. Max Joseph und Dr. Georg Löwenbach. Referent
P r a n t e r.
III. Therapeutische Notizen.
V. Vermischte Nachrichten.
IV. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressbenchte.
Ueber Lebercirrhose.
Von Privatdocent Dr. Richard Kretz, Prosector am k. k. Kaiser Franz
Josef-Spitale in Wien.
Vortrag mit Demonstration in der Sitzung der k. k. Gesellschatt der Aerzte
in Wien am 2. März 1900.
Der histologische Bau der cirrhotisch erkrankten Leber
war schon so vielfach das Object eingehendster Untersuchun¬
gen, dass es kaum mehr möglich scheint, diese Veränderungen
genauer und besser zu beschreiben, als dies bisher schon ge¬
schehen ist, und doch lehrt die vielfach und zu keinem ab¬
schliessenden Urtheile gediehene Discussion über das Wesen
des Processes, dass die Untersuchungsresultate noch einer ein¬
heitlichen allgemein anerkennbaren Zusammenfassung ent¬
behren; eine solche zusammenfassende Darstellung in grossen
Zügen will ich Ihnen im Folgenden vorzuführen versuchen.
Vor dem Eingehen auf das eigentliche Thema ist es noth-
wendig, über die Bestimmung des Begriffes »Lebercirrhose«
einige kurze Bemerkungen zu machen, denn ein Iheil der
Schwierigkeiten für die Theorie der Pathogenese liegt daiin,
dass Kliniker wie Anatomen verschiedene Formen der Krank¬
heit im Begriffe »Cirrhose« einreihten, ohne sich genau dai übei
Rechenschaft zu geben, was als verschiedenes Stadium eines und
desselben Processes, was als differenter Process anzusehen sei.
Als Todd vor mehr als 40 Jahren, der L a e n n e c’schen
Cirrhose mit Organatrophie die hypertrophische Form dei
Cirrhose gegenüberstellte, begannen jene Verschiebungen im
klinischen und anatomischen Begiffe der Krankheit, die in der
Scheidung der französischen Autoren in eine uni- und intra¬
lobuläre und in eine multi- und interlobuläre I orm ihren
präcisesten, aber nicht einwandfreien Ausdruck fanden.
Mit der Aufstellung der »Cirrhose hypertroph ique avec
ictere« durch Charcot und Go mb a ult wurde ein Process
sui generis der L a ene c’schen und Todd’schen Cirrhose an¬
gereiht. Diese neue Form der hypertrophischen Cirrhose ist
nachträglich oft missdeutet worden und die Beobachtung
cholangoitischer Indurationsprocesse wurde zum I heile mit der
C. h. a. i. confundirt und die secundäre Atrophie dieser Leber¬
indurationen fälschlich in das Bild der C. h. a. i. mit aufge¬
nommen; diesen unrichtigen Vorstellungen über ein atrophisches
Stadium der hypertrophischen Cirrhose mit Ikterus wurde
parallel eine hypertrophische Cirrhose als Vorstadium der
atrophirenden L a e n n e c’schen halb beobachtet, halb construct
und diese Supposition verquickt mit der alten und sicheren
klinischen Beobachtung, dass der Erkrankung an atrophischen
Lebercirrhose zumeist eine Periode der Lebervergrösserung
vorangeht. .
Die Beobachtung hypertrophischer Gewebspartien in
atrophischen Organen hat die Auffassung der Processe noch
mehr ins Schwanken gebracht und so kam es, dass die Ab¬
trennung der hypertrophischen biliären Cirrhose von der einfach
hypertrophischen, das wechselnde Vorkommen von Ikterus bei
atrophirenden, mit Ascites verbundenen Lebercirrhosen, das
Hereinziehen der cholangoitischen Processe zwar das Detail-
wissen über diese Leberkrankheiten sehr bereichert hat,
der Entwicklung einer einheitlichen Auffassung über die Patho¬
genese aber nicht förderlich gewesen ist.
Ich will für die folgenden Ausführungen von der einen
eigenen, wohl charakterisirten Typus der Leberkrankheiten
darstellenden »Cirrhose hypertrophique avec ictere« Char c ot
und Go mb au It’s absehen und ebensowenig mich auf die
verschiedenen cholangoitischen Processe, welche wahrscheinlich
nur zum kleinen Theil mit einiger Berechtigung als Cirrhosen
angesehen werden können, beziehen; auch die Gin host ^ >
Bronzediabetes und die Cirrhose paludienne will ich vorläufig
nicht mitberücksichtigen, sondern nur das grosse und wich¬
tige Gebiet der Cirrhosen, die im Typus etwa zwischen der
L a e n n e c’schen und der Todd’schen Form schwanken, m
den Kreis meiner Erörterungen ziehen.
Durch die Beobachtung der localisirten Hypertrophien
des Parenchyms in cirrhotischen Lebern, aut oie um .
einigen Jahren mein Lehrer weiland Hofrath
leitete, kam ich dazu, dem ursprünglichen aemösen Bau in
vor
K u n d r a t
272
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 12
cir rhotischen Leber nachzugehen; es war das eine ziemlich
schwierige, aber, wie sich nachträglich erwies, dankbare Auf¬
gabe und vielleicht habe ich mit der Unterstützung Professor
Pa 1 tauf’s jene Auffassung gefunden, welche Kundrat im
Geiste schon vorschwebte, als er mich zur Bearbeitung dieses
Themas anregte.
Auf den ersten Blick scheint die Beantwortung der
Frage nach den Beziehungen zwischen normalem Leberacinus
und Granulum Lebergewebe bei der Cirrhose sehr einfach:
Die Cirrhose ist eine interstitielle Hepatitis, die Parenchyminseln
sind also einfach die auseinandergedrängten und deformirten
alten Acini; die körnige« Zeichnung der cirrhotischen Leber
wäre nach dieser Auffassung eine rein acinose; das ist
aber in Wirklichkeit nur sehr theilweise der Fall.
Die Entscheidung der Frage nach der Identificirung
der Lebergewebsgranula mit den alten Elementen der Leber-
structur, den Acinis, erfordert eine kurze Erörterung der
Kriterien, welche die Erkennung der Acini gestatten.
Das zumeist und vorwiegend zu diesem Zwecke beob¬
achtete interacinöse Pfortadergefässsystem mit den begleitenden
Gallengefüssen und Leberarterienästchen ist hiefiir nicht gut
geeignet; denn die Vertheilung dieses vermehrten »interstitiellen«
Gewebes weicht in gleichem Sinne und ebenso sehr von der
Norm ab. wie die Lebergewebsgranula von den Acinis differireu.
Aber das Lebervenensystem besitzt in den letzten Endästen,
in den Centralvenen der Leberläppchen eine Gefässbildung, die
durch ihre Beziehungen zu den Parenchymzellen, durch den
Man gel von begleitenden Gallencapillaren und arteriellen Gefäss-
chen gut kenntlich ist; für die Identificirung der Lebergranula mit
den alten Acinis sind diese Gefässchen besser geeignet, weil
sie in dem von der meist veränderten Peripherie am weitest
abgelegenen Parenchymtkeile liegen.
Die wichtigsten Unterschiede im Aufbau der normalen
und cirrhotischen Leber sind nun folgende: Die normale Leber
besteht aus kleinen Läppchen, den sogenannten Acinis, die
aber mit freiem Auge trotz hinreichender Grösse deshalb nicht
gesehen werden, weil das interacinös sich ausbreitende Gefäss-
netz der Pfortader, der Leberarterie und der Gallengänge
in den letzten Aesten nicht sichtbar ist und in der mensch¬
lichen Leber eine die Acini umgrenzende Bindegewebskapsel
fehlt; im mikroskopischen Bild sind die portalen Gefässrami-
ticationen gut zu sehen und leicht zu kennen, aber eine all¬
seitige Umgrenzung der Acini bilden sie nicht, sondern die
Leberzellbalken benachbarter Acini stehen an manchen Stellen
der Peripherie in directem Zusammenhang; dadurch aber,
dass die Leberzellbalken im normalen Läppchen eine radiäre,
der Centralvene zustrebende Richtung besitzen, kommt der
acinöse Bau im Bilde deutlicher zur Anschauung, als der that-
sächlichen Begrenzung durch interacinöse Gebilde entspricht;
man kann deshalb, wenn auch einzelne Zell-Individuen an der
Grenze zweier benachbarter Läppchen nicht immer sicher dem
einen oder anderen Acinus zugerechnet werden können, von der weit
überwiegenden Mehrzahl der Zellen leicht und sicher ihre
Zugehörigkeit zu einem bestimmten Acinus constatiren.
Die Peripherie des normalen Läppchens ist ausserdem
durch eine specielle Gefässeinrichtung ausgezeichnet; in ihr
ergiessen nämlich die Leberarterien ihr Blut in die Pfortader-
capillaren und dieser von dem gemischten Pfortader- und ar¬
teriellen Blut durchströmte Gefässbezirk bildet ein feinmaschiges
Capillarnetz, von dem nach den diametral entgegengesetzten Seiten
die Lebercapillaren abzweigen. Durch diese Eigenthümlichkeit ist
es bedingt, dass die Leberzellen in der Peripherie nicht nur, wie ge¬
wöhnlich angenommen wird, der erste Angriffspunkt für viele func-
tionelle Schädigungen sind, sondern auch die intensivste Repro-
ductionsfähigkeit besitzen. Das interacinöse Capillarnetz der
normalen Leber ist kurzmasehig und mit dem intraacinösen
gleich calibrirt; es lässt sich an den tangentialen Berührungs¬
flächen benachbarter Acini als ein ganz schmaler Streifen
erkennen.
Die Gestalt der Acini ist eine rundlich-polygonale, mit
deutlichem Ueberwiegen jenes Durchmessers, der die Richtung
der Centralvene markirt; an den Zusammentrittsstellen der
fast rechtwinkelig sich verzweigenden centralen Lebervenen
findet man nun häufig eine partielle Confluenz der Leber¬
substanz und es entstehen so auch in der ganz normalen
Leber herzförmige oder inehrbuckelige Acinusconglomerate.
Der grösste Durchmesser eines Acinus überschreitet meist
1 kann auch 2 '/2 mm erreichen; der kleinere beträgt
meist etwa 1 mm. Für eine normale Leber des Erwachsenen
mit etwa 1800^ Gewicht berechnet sich die Zahl der Acini
auf etwas über drei ViertelmiKionen.
Der soeben kurz skizzirte Aufbau des Organes aus
Acinis kommt nun, wenn auch die Grenzen der Läppchen
makroskopisch nicht erkennbar sind, doch indirect sehr gut
zur Anschauung des Obducenten; dadurch nämlich, dass die
centralen Theile der Läppchen beim Erwachsenen durch eine
etwas dunklere Färbung sich auszeichnen, kommt auf der
Schnittfläche eine feinfleckige Zeichnung zu Stande; diese
eigenthiimliche Fleckung, die bei massiger Blutstauung im
Centrum oder durch leichte Fettinfiltration der Peripherie sehr
deutlich wird, in kindlichen oder den braunen Lebern der alten
Leute aber schwerer zu sehen ist, zeigt die Distanz der Centra der
einzelnen Acini ; da nun die Entfernung von Mitte zu Mitte der
Läppchen durchschnittlich genau so gross- ist, wie die von
Peripherie zu Peripherie, so ermöglicht die sichtbare Entfernung
der Acinuscentra ein rasches und sicheres Urtheil über die
Grössenverhältnisse der Baueinheiten des ganzen Organes.
Man kann beispielweise auf den ersten Blick sagen, dass die
fettinfiltrirten Acini der Leber eines Tuberculösen etwas
grösser sind, als die einer Stauungsleber mässigen Grades,
weil bei gleicher Form und Vertheilung der dunkleren
Fleckchen die Distanzen derselben im ersten Falle etwas
grösser sind als im zweiten.
In manchen pathologischen Fällen ist nun die Leber fein
netzförmig gezeichnet und man sieht z. B. bei Lebern von
etwa einer Woche alten Phosphor Vergiftungen die Hauptmenge
des Parenchyms opak hellgelb, mit feiner, etwas einsinkender
netzförmiger Zeichnung ; das ist eine rein acinöse Zeichnung,
die vieleckigen abgegrenzten Felder entsprechen den Acinis, die
netzförmige Umgrenzung bringt das interacinöse und even¬
tuell den äussersten Rand des acinösen Gewebes unmittelbar
zur Anschauung.
Vergleicht man nun diese netzförmige acinöse Zeichnung
der Leberschnittfläche mit dem Durchschnitte einer cirrhoti¬
schen Leber, so muss man sofort die principielle Differenz in
der Art der Zeichnung zugeben ; die beiden Structurbilder sind
vollkommen unähnlich und Kaufmann hat vollständig Recht,
wenn er den nicht selten gebrauchten Terminus »acinös ge¬
zeichnet« durch den richtigeren »pseudoacinös gezeichnet« er¬
setzt; am zutreffendsten wird wohl das Structurbild einfach
beschreibend als »körnige Schnittfläche« gekennzeichnet; auch
sind die Terminis »grob — feinkörnig — ungleichmässig
gekörnt«, welche Hofrath K u n d r a t gebrauchte, anschaulicher
und mehr sagend, als ein vages »pseudoacinös«.
Das Structurbild einer atrophischen Cirrhose, die etwa
dem Typus der Laenne c’schen entspricht, zeigt makroskopisch
weder eine Fleckung wie eine Stauungs- oder Fettleber, noch
jene feine netzförmige Zeichnung, die früher als acinöse
Structur beschrieben wurde; das hellgelbbräunliche, leicht vor¬
tretende Parenchym bildet vielmehr rundliche oder mehr
länglich gestaltete Inselchen von sehr differenter Grösse; die
umfangreichsten übertreffen die Dimensionen eines normalen
Acinus bei weitem, die kleinsten unter ihnen sind fast immer
rundlich, mit freiem Auge eben noch sichtbar; eine dunklere
Färbung des Centrums fehlt auch an den grössten derartigen
Bildungen. Die grossen Ramificationen der portalen Gefässe
und der Lebervenen sind entsprechend der Reduction des
Gesammtvolumens mit ihren Querschnitten etwas zusammen¬
gerückt, im Vergleiche zu den Entfernungen im normalen
Organe. Ein besonderes Vortreten der Bindegewcbsproliferation
um die grösseren portalen Gebilde fehlt; die Bindegewebszüge
zwischen dem Parenchym wechseln in ihrer Breite in ziemlich
weiten Grenzen bei verschiedenen Fällen ebenso wie im selben
Organe; die allerkleinsten Lebergewebsinselehen sieht man
nicht selten in besonders mächtigen Bindegewebszügen und
Flecken eingesprengt ; relativ zarte Kapseln umschliessen
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
273
grösserere Parenchyminseln, aber es gibt auch grobkörnige I
Cirrhosen mit derben und feinkörnige mit schmalem, sein-
hartem Bindegewebe. Die Körnung ist bald gleichmässig feiner
oder gröber, bald ungleiclnnässig bis zum Auftreten förmlich
tumorartige Prominenzen. Kleine cirrhotische Lebern können
eine grobe oder feine Körnung des Parenchyms zeigen, und
derselbe Unterschied kommt in geringerem Grade auch bei
relativ grossen cirrhotischen Lebern vor; eisenpigmentirte und
eisenpigmentlose Cirrhosen zeigen in der Hinsicht ganz die
gleiche Vielgestaltigkeit Nur in einer Beziehung scheint eine
gewisse Regelmässigkeit zu bestehen, nämlich die, dass die
Cirrhosen jugendlicher Individuen auch bei hochgradiger
Atrophie des Organes grob granulirt sind; sie zeigen nicht
selten zahlreiche erbsen- ja bis bohnengrosse Parenchyminseln.
Was nun die Structuränderungen der cirrhotischen Leber
im mikroskopischen Bilde betrifft, so will ich die interacinöse
Bindegewebsentwicklung, die Gallengangsneubildung, wech¬
selnde zeitige Infiltration und anderes mehr vorläufig bei Seite
lassen und mich gleich den Veränderungen des acinösen Baues
zuwenden, wie er aus der Beobachtung im mikroskopischen
Bilde abgeleitet werden kann. Würde es sich bei der Cirrhose
nur um die Entwicklung eines interacinösen Bindegewebes
und primäre oder secundäre Acinusatrophie handeln, so sollten
auf der Schnittfläche des atrophischen Organes die Central¬
venenlumina vermehrt erscheinen im Vergleiche zu der gleich
grossen Schnittfläche einer normalen Leber. In Wirklichkeit
nimmt aber die relative Zahl der Centralvenenlumina sehr be¬
trächtlich ab und schon vor 20 Jahren hat Ackermann
diese relative Abnahme der Centralvenenlumina beobachtet
und daraus geschlossen, dass nicht nur die Verkleinerung der
Acini, sondern auch die Abnahme ihrer Zahl zur Atrophie des
ganzen Organes führe, dass also bei der Lebercirrhose ein voll¬
ständiges Zugrundegehen eines Theiles der Acini Vorkommen
müsse. Nur über die Schwere und Ausdehnung dieser Zer¬
störung giebt Ackermanns Darstellung keinen erschöpfen¬
den Aufschluss; es finden sich in einigermassen atrophischen
Organen weniger als die Hälfte der Centralvenenquerschnitte
auf der Schnittflächeneinheit, und die Reduction der Zahl ist
factisch noch weit beträchtlicher als der unmittelbare Anblick
lehrt, denn in der cirrhotischen Leber sollten ja die Central¬
venenlumina entsprechend der Volumsverminderung gegen die
Norm in der Schnittflächeneinheit zugenommen haben.
Nun entspricht dieser Abnahme der Zahl der Central¬
venenlumina nicht eine gleiche Verminderung der Parenchym¬
inseln in der cirrhotischen Leber, sondern nur die Zahl der
als alte Acini erkennbaren Lebergewebskörner ist sehr ver¬
mindert. Das Lebergewebe findet sich aber noch in einer
zweiten Form im kranken Organe, nämlich als Lebergewebs¬
körner von meist geringeren Umfange, die von einem kurz-
maschigen Capillarnetze durchzogen sind, denen aber ein als
Lebervene erkennbares Gefäss vollständig fehlt; ich habe eine
grössene Reihe cirrhotischer Lebern gerade mit Rücksicht auf
diese Bildungen in etwa 2 mm dicken Stückchen in Serien¬
schnitten von °/ioo bis 1 % oo mm Intervall untersucht und diese
Bildungen immer, wenn auch wechselnd reichlich, durchs ganze
Organ zerstreut gefunden; stark geschrumpfte feinkörnige
Cirrhosen enthalten sie in der grössten Anzahl, ja es gibt
Stellen in solchen Organen, wo auf den Bezirk von sechs
bis acht normalen Acinis nur ein oder gar kein Lebergranulum
mit einer Centralvene, aber eine grosse Zahl lebervenenloser
Parenchymkörner entfalt.
Die Centralvenen zeigen aber in der cirrhotischen Leber
noch eine andere Abweichung von der Norm; sie sind nämlich
nicht nur an Zahl vermindert, sondern auch im Lebergewebs-
granulum, so weit es sich als Rest eines alten Acinus er¬
kennen lässt, nicht mehr central, sondern excentrisch gelagert;
Diese Veränderung der Lage geht so weit, dass zahlreiche
Lebervenen — als Centralvenen kann man sie füglich nicht
mehr bezeichnen — ganz nahe an die Begrenzung des Paren-
chymgranulums vorgeschoben sind, ja nur mit einer Seite ihrer
Wand demselben angehören. Grössere Lebergewebsinselchen
enthalten des Oefteren mehr als eine Lebervene, aber nicht
mehr von jener gleichmässigen Calibriung und mit der nahezu
rechtwinkeligen Abzweigung der normalen Centralvenen.
Diese Lebergewebsinselchen mit mehrfachen unregel¬
mässig gebildeten Centralvenen trifft man vorzüglich in den
grossknotigen Cirrhosen juveniler Individuen und in den
geschwulstähnlichen Hypertrophien in atrophischen cirrhotischen
Lebern; sie finden sich ferner in den Ausheilungsstadien
degenerativer Processe, welche beispielsweise F r e r i c h s noch
den knotigen Cirrhosen zurechnet. Sie gleichen vollständig
den Bildern, die P on fick bei der Leberge websregeneration
nach Leberexstirpation sah und sind offenbar als Regenerations¬
herde, die von relativ intactem Parenchym ausgehen, anzu¬
sehen.
Endlich wäre an den Lebervenen bei Cirrhose noch eine
dritte Abweichung von der Norm zu erwähnen; im normalen
Acinus streben die spitzwinkelig zusammenfliessenden, gleich¬
mässig calibrirten Lebercapillaren in radiärer Richtung dem
centralen Sammelgefässe zu und durch die gleichmässige Ein¬
reihung der Leberzellen kommt jener bei schwacher Ver-
grösserung so charakteristische, regelmässige Aufbau des nor¬
malen Läppchens zu Stande; bei der Cirrhose fehlt auch den
Lebergran ulis mit erkennbaren Lebervenenlumen diese regel¬
mässige Configuration der Capillaren und Leberzellreihen ; es
ist ein mehr weniger ziemlich engmaschiges Netzwerk mit
viel stumpfwinkeligeren Capillarcommunieationen, in das die
Leberzellen in sich durchflechtenden Zügen eingelagert sind.
Die Bilder ähneln oft den Schnitten aus einen normalen Acinus,
der tangential gekappt ist; nur ist an Lebergranulis bei
Cirrhose das Maschenwerk weniger gleichmässig gebildet.
Diese Abweichung von der Norm ist nichts für ( ürrhose
speciell Charakteristisches, sondern dieselbe Umänderung des
Capillarbaues tritt in Regenerationsherden der Leber auf, die
nach experimenteller Exstirpation beträchtlicher Gewebstheile
oder als Heilungsvorgang bei partiellen aber relativ ausgedehnten
Parenchymsdegenerationen zu Stande kommt.
Diese weitgehenderen Aenderungen im Capillargefäss-
system sind nach meiner Meinung die Ursache des Auftretens
der Symptome der Pfortaderblutstauung, vor Allen des Ascites;
die Ürsache hiefiir ist ungefähr folgende: Durch das Ab¬
schmelzen des Parenchyms kommt es mit dem completen
Zugrundegehen von ganzen Acinis zum Ausfall der entsprechen¬
den Anzahl von Centralvenen und der zugehörigen Leber¬
capillaren, und es tritt eine Verschmälerung insbesondere der
den grössten Durchströmungswiderstand bietenden Capillarbalm
ein; dieses Circulationshemmniss allein wird aber relativ gut
vertragen und es ist nach Experimenten wie Sectionserfahrungen
anzunehmen, dass eine Einengung der Capillarenstrombahn der
Leber auf weniger als die Hälfte des Querschnittes ohne
Ascites, ja manchmal ohne dauernde Stauung im Darme er¬
tragen wird; bei der Cirrhose kommen nun noch andere
Stromerschwerungen in Betracht: Unter geringem Druck
lassen sich hier von der Pfortader die Lebervenen mit In-
jectionsmassen wenigstens theilweise füllen, sie dringt aber,
wie z. B. auch Orth constatirte, vorwiegend durch die atro¬
phischen Parenchymstheile durch, nicht durch die turgescenten
Lebergewebsinselchen, die sich nur an der Peripherie zum
geringen Theile injiciren; es besteht also neben der nicht un¬
beträchtlichen Verschmälerung der capillaren Strombahn von
der Pfortader zur Lebervene eine besondere Circulations-
erschwerung in den eingeschalteten Parenchymsinseln; die geben
ihr Blut zum Theile nicht direct an die Centralvenen ab, sondern
erst am Umwege der verschmähen acinösen Bahn gelangt es
dort hin; der capillare Gefässmantel mit den inneren Pfort¬
aderwurzeln ist beträchtlich verbreitert, seine Entleerung in die
Centralvene durch die Acinusseite aber erschwert; dazu kommt
noch Eines; die Zunahme der arteriellen »inneren« Ptortader-
wurzeln, die durch die Beobachtung über die Zunahme des
Lumens der Leberarterie und durch Injectionsversuche schon
lange gekannt ist; der vermehrte Zufluss des arteriellen, untei
höherem Drucke stehenden Blutes steigert den capillaren G<‘-
fässdruck und erschwert somit den Abfluss des Pfortaderblutes
gleichfalls. Die mangelnde Blutstauung im Leberparenchv m
beweist, dass das Stromhinderniss hauptsächlich ein capillaies
274
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 12
ist, und wenn man bedenkt, dass die Strombahnverengerung
auf die Hälfte, ihre Verlängerung durch Einschiebung neuer
Gefässe aufs Doppelte, den Widerstand vervierfacht, dass der
zunehmende arterielle Blutstrom den capillaren und indirect
den Pfortader-Blutdruck auch noch steigen lässt, so wird man
zugeben müssen, dass hier und nicht in der weder makro¬
skopisch noch mikroskopisch nachweisbaren Compression der
Pfortaderramificationen durch schrumpfendes Bindegewebe die
Ursache des Ascites liegt; diese Compression fehlt ja evident
bei Ascites durch Lebern mit reichvascularisirtem schlaffem Binde¬
gewebe; die Unnachgiebigkeit der Einkapselung der Capillaren
wird die Stauung wohl steigern, sie ist aber nicht die Haupt¬
ursache der Vermehrung des Widerstandes in der Leber-
circulation. Die relativ spärlichen Communicationen zwischen
Pfortaderzweigen und Lebervenen, die in menschlichen und
thierischen Cirrhosen constatirt werden können, vermögen in der
überwiegenden Mehrzahl der Fälle diese Verhältnisse nicht
nennenswerth zu beeinflussen.
Alle diese Ausführungen sind nichts wesentlich Neues
und dieselben Verhältnisse lassen sich ganz gut von den vor¬
züglich naturgetreuen Abbildungen aus dem Atlas von
Frerichs und in einer Reihe von Lehrbüchern herablesen;
die Abweichungen der Leberzellbalkenbildung sind vielfach
beschrieben und speciell von französischen Autoren als Ver¬
krümmungen und Verbiegungen der Zellreihen bei Leber-
cirrhose betont werden. Bezüglich des »interstitiellen« Binde¬
gewebes sei ergänzend angeführt, dass es namentlich bei den
atrophischen Cirrhosen reichlich Capillaren arteriellen Ur¬
sprunges enthält und erst nach dem Auftreten dieser neu¬
gebildeten Gefässchen reicher an elastischen Fasern wird. Von
den vielfachen Gallengangssprossen des interacinösen Gewebes
steht nach älteren und neueren Untersuchungen fest, dass sie
mit den alten Gängen sowohl, wie mit dem secernirenden
Parenchym in offener Communication stehen; auch die leber¬
venenlosen Parenchymsgranula sind als abgesprengte Acinus-
reste, als isolirte Leberzellconglomerate schon oft beschrieben
worden; sie finden sich auch vielfach abgebildet und Mertens
fand sie auch bei der von ihm experimentell erzeugten Cirrhose
der Kaninchen.
Es ist nach den geschilderten Befunden ebenso unmöglich,
die Lebercirrhose ohne Weiteres den interstitiellen Entzündungs¬
processen einzureihen, was bisher vielfach geschah, wie es
angeht, sie einfach als chronische Atrophie zu bezeichnen, denn
die Bindegewebsproliferation und der Schwund eines Theiles
des secernirenden Parenchyms sind wohl wesentliche Attribute
des cirrhotischen Processes, das Hauptgewicht der Verände¬
rungen liegt aber nach meiner Meinung in der durchgreifenden
Veränderung des Aufbaues der Leber: was an Leberparenchym
in der cirrhotischen Leber vorhanden, sind sicher nicht nur
Reste des ehemaligen Parenchyms, entstanden durch de-
generatives Abschmelzen der Peripherie der Läppchen und durch
passive Compression von Seite des neugebildeten Bindegewebes;
es sind ja die Lebergewebsinseln gar nicht erkennbar comprimirt,
d. h. es fehlt an ihnen die charakteristische Zellverschiebung
und Abplattung, die z. B. ein metastatischer Carcinom-
knoten im cirrhotischen Gewebe an seiner Peripherie erzeugt;
der Wachsthumsdruck in den Parenchyminseln ist also grösser
als die Oompressionskraft des umgebenden Bindegewebes; es
handelt sich auch nicht um einfache chronische Atrophie,
sondern das secernirende Parenchym der Leber zeigt in allen
Theilen einen tiefgreifenden Umbau, in den Alles bis zu den
Capillaren und Leberzellenreihen herab mit einbezogen ist.
Die Ungleichmässigkeit der Deutung des histologischen Bildes
der Lebercirrhose. die Controverse über mono- und multilobuläre
Formen, über primäre Zelldegeneration oder primäre Binde¬
gewebsneubildung, rührt in Vielem daher, dass man zu sehr
geneigt war, die Structur der cirrhotischen Leber ohne Weiteres
vom normalen acinösen Bau abzuleiten. Wenn in einer Paren¬
chyminsel bei Cirrhose die Lebervene seitlich verschoben ist
und der Capillarbau des Läppchenrestes aus einem radiären
in einen netzförmigen verwandelt wurde, so sind das nach dem
Gesagten nicht blos passive Deformirungen des ursprünglichen
Gebildes, sondern schwere Aenderungen des Aufbaues.
Für die Beurtheilung des Entstehens dieser Verände¬
rungen im Aufbau liegen nun in den Studien über die Re¬
generation des Lebergewebes gute und hinreichend weit ge:
diehene Untersuchungen vor; P on fick hat in methodischer
Weise die kolossale, kaum zu erschöpfende Regenerationsfähig¬
keit des Leberparenchyms experimentell erforscht. Mar.chand
und Ströbe haben die Regeneration nach Degenerativ-
processen genau studirt; aus den Arbeiten über die hyper¬
trophischen Formen der Cirrhose ist den Anatomen die Vor¬
stellung einer Parenchymsproliferation in der cirrhotischen Leber
geläufig geworden; Greco hat in einer bisher wenig beach¬
teten Mittheilung Befunde vielfacher localisirter Leberzellneu¬
bildungen in atrophischen Cirrhosen bei Individuen mit Tod
an intercurrenter Erkrankung mitgetheilt.
Die Deutung des geänderten Structurbildes ist bisher
immer vom Gesichtspunkte der Rückbeziehung des Leber-
granulums in der Cirrhose auf den normalen Acinus versucht
worden; sie ist bisher nicht befriedigend gelungen; trotzdem
nun der Befund lebervenenloser Zellhäufchen schon früh dazu
genöthigt hatte, den tieferen Veränderungen des Aufbaues
der cirrhotischen Leber ein besonderes Gewicht zuzuschreiben,
blieb bisher fast ausschliesslich die Ansicht geltend, es handle
sich um Abschnürungen durch in den Rand der Acini ein¬
dringende Bindegewebsneubildung; ein relativ häufiges Vor¬
kommen von Degenerationszeichen an Zellen solcher Con¬
glomerate schien mit dieser Anschauung im Einklänge zu
stehen, aber man hat nicht überlegt, dass eine blosse Ab¬
schnürung durch die sectorenförmige Einschnürung eines Ca-
pillargebietes des Acinus zur Blutstauung durch Einengung
des Abflusses gerade so führen musste, wie die Verengung
der Centralvene Stauungsatrophie bewirkt. Es muss also schon
vor der Isolirung von solchen Zellengruppen zur Umänderung
der capillaren Circulation gekommen sein.
Wie weitgehend die symptomenlose Einschiebung von
neugebildetem Parenchym sein kann, zeigen die Bilder aus¬
gedehnter Regeneration, wie eine Leber mit totaler Atrophie
des rechten, schwerer Erkrankung des linken und kolossaler
Hypertrophie des Lobulus Spiegelii ; all das ist ohne klini¬
sche Symptome an einem physisch schwer arbeitenden
Manne zu Stande gekommen. Bei Kindern wie Erwachsenen
findet man überhaupt verhältnissmässig häufig schwere abge¬
laufene Leberläsionen, ohne die Symptomenlosigkeit immer mit
Recht einer mangelhaften Anamnese oder Krankenbeobachtung
in die Schuhe schieben zu können. Man muss vielmehr an¬
nehmen, dass eine höhere Reserve an Arbeitsfähigkeit des
Parenchyms und die sehr regsame Regeneration bedeutende
Defecte functioneil vollständig überwinden können; von der
Ausdehnung der Umgestaltungen, die im Parenchym einer
kranken Leber ohne tödtliche Functionsstörung vor sich gehen
können, vermag folgende theilweise eisenpigmentirte Cirrhose
ein sehr anschauliches Bild zu geben.
Man weiss aus den Untersuchungen über die hämatogene
Eisenablagerung in der Leber, dass alle Leberzellen im Acinus,
concentrisch von aussen nach innen abnehmend, sich mit Pig¬
ment beladen und dasselbe relativ lange Zeit festhalten ; ich
kann Ihnen nun eine Leber zeigen, in der die kleinere Hälfte
des Parenchyms — meist grössere Granulationen zeigend —
rostbraun pigmentirt, die andere, in Form turgescenter Granu¬
lationen zerstreut eingeschoben, nahezu pigmentfrei ist ; hier
muss also eine beträchtliche Lebergewebsproduction nach Ab¬
lauf des mit Pigmentirung verbundenen Processes stattge¬
funden haben und die Pigmentdepots, die im mikroskopischen
Bilde die jungen pigmentfreien Bildungen umgrenzen, beweisen,
dass sie einer untergegangenen pigmentirten Generation von
Leberzellen an derselben Stelle folgten; sie zeigt auch sehr
schön, wie in der cirrhotischen Leber Degeneration schon um¬
gebauten Parenchyms von einer und nicht minder intensiven
Regeneration ausgeglichen wird.
Die Beobachtung Greco’s über kleinere und grössere
Herde von Leberzellproliferationen habe ich an zahlreichen
atrophischen Cirrhosen bestätigen können und es kann keinem
Zweifel unterliegen, dass die centralvenenlosen Zellenconglo-
merate der cirrhotischen Leber in erster Linie solchen circum-
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
275
scripten Leberzellproliferationen ihren Ursprung verdanken;
so erklärt sich auch die eigenthümliche Vascularisation dieser
Gebilde, die nach vielfachen Untersuchungen den tangentialen
Verzweigungsbezirken der Pfortader und namentlich auch neu¬
gebildeten arteriellen Capillaren, den »inneren Pfortaderwurzeln«
an gehören.
Diese Intercalirung jungen Leberparenchyms findet aber
nicht nur in der schon cirrhotischen Leber statt, sie gehört
dem Vorstadium der Cirrhose, der vorangehenden Leberhyper¬
trophie der Potatoren an; das zeigt beispielsweise nicht nur
die Leber eines an Erysipel verstorbenen Potators, die bei
massiger Consistenz und kaum vermehrtem Bindegewebe schon
deutlich ungleichförmig granulirt ist, sondern auch die Fett¬
lebern der Potatoren documentiren durch die Unregelmässig¬
keit der fleckigen Zeichnung am Durchschnitt schon die be¬
ginnende Structuränderung; auch in Abbildungen des Fr er ich s-
schen Atlas sind die Läppchenhypertrophie und der Umbau
des Capillarensystemes an den vorgewölbten Buckeln der Peri¬
pherie der Acini leicht zu erkennen.
Die Cirrhose der Leber ist in ihrer anatomischen Er¬
scheinungsform nie in allen Theilen vollkommen gleichmässig
ausgebildet, und wenn auch einzelne Fälle hauptsächlich
Schrumpfung, Fettinfiltration, Parenchymsregeneration oder
Bindegewebshypertrophie zeigen, so gibt es doch keinen ein¬
zigen Fall, in dem nicht die histologischen Verschiedenheiten
in Schnitten aus demselben Organe bewiesen wurden, dass die I
Cirrhose ein herdweise aufflammender und wieder ausheilender
Process sei. Von der hypertrophischen Potatorenleber bis zur
geschrumpften Laenn e c’schen Cirrhose, von der knotigen
Hyperplasie bis zur feinsten Körnung gibt es keine absolut
scharfe Grenze in der Reihe der Bilder; der eine oder andere
individuelle Fall mag einem gangbaren Typus noch so sehr
entsprechen, wer bei einem etwas reichlicherem Material auf¬
merksam beobachtet, wird immer und immer wieder auf I alle
stossen, die dem Schema nicht ohne Weiteres sich einreihen
lassen und er wird entweder zur Aufstellung neuer Unterarten
schreiten müssen, oder die Nöthigung empfinden, die Begriffs¬
bestimmung der Cirrhose und die Theorie ihrer Pathogenese
anders zu fassen.
Für den Weg der Trennung sind die bisherigen Unter¬
suchungsresultate nicht weit genug gediehen; wenn auch der
didaktische Werth der Abtrennung einzelner Typen sehr hoch
zu schätzen ist, so scheint mir doch nur eine ätiologische Ein-
theilung von dauerndem Werthe zu sein und für die fehlen
bisher vor Allem hinreichende klinische Erfahrungen, die
den anatomischen Befunden erst weitere Verwerthbarkeit
geben. Bliebe der zweite auch vielfach beschrittene Weg der
Modification der Begriffsbestimmung; heute wird man die best
präcisirte moderne Anschauung über Cirrhose am ehesten in
den Ausführungen S ie g e n b e c k van Heukelom’s finden,
der den Process als combinirtes Resultat einer fortschreitenden
»degenerativen« und »sklerogenen« Schädiguog der Leber an¬
sieht. Ich glaube, dass die Annahme der Einwirkung der combinir-
ten verschiedenen pathogenen Factoren gewiss als eine fruchtbare
zu bezeichnen ist; sie wird durch das Ineinanderfliessen der
Typen dem Anatomen förmlich aufgedrängt. Soll man aber
mit Siegenbeck van Heukelom ein eigenes sklerogenes
Moment annehmen? Zur Entscheidung dieser Frage wären
zunächst die Erfahrungen über ausheilende Degenerations-
processe heranzuziehen und da findet sich, dass nach acuten
und namentlich subacuten Degenerationen das residuale Ge¬
webe von erkennbaren Acinusresten, die förmliche Gefäss-
skelete des Läppchens darstellen, bis zu einem gefässarmen
sklerosirten Bindegewebe mit Gallengangsprossen alle
Zwischenstufen finden, ja selbst zum Acites kann es nach
einer Beobachtung Strobe’s in solchen Fällen kommen. Nun
haben K ah Iden und Reimann subacute Lebercirrhosen be¬
schrieben, die ihrer anatomischen Erscheinung nach heute, ähnlich
dem einen Falle Strobe’s, der durch Regeneration ausheilenden
Atrophie zuzurechnen sind. Diese Bilder, welche ältere Autoren
wie Frerichs, noch direct als Cirrhosen bezeichneten,
sind nach meiner Ansicht der Schlüssel zur Auffassung der
Cirrhose: die regenerirten Parenchympartien sind die Granula
der Cirrhose, das Gallencapillaren führende Bindegewebe ist
die Vorstufe, oder besser das Analogon des »interstitiellen« Ent-
zündungsproductes der Cirrhose; auch hier schwindet die
Schärfe der differenzirenden Kriterien bei der Beobachtung
an vielen Fällen; die Analogie dieser Fälle erstreckt sich bis
auf das Vorkommen adenomartiger Bildungen von Lebergewebe
und das Auftreten des Ascites, und zwischen ihnen und den
abgelaufenen grossknotigen Cirrhosen der juvenilen Individuen
gibt es keinen Unterschied, der sich nicht ungezwungen durch
die Differenz der zeitlichen Entwicklung des einzelnen Falles
erklären liesse, und von den grossknotigen Lebern gibt es,
wie schon erwähnt, alle Mittelstufen bis zu den feingekörnten.
Wenn man nun die Analogien in den Gewebsverände¬
rungen der heilenden Atrophie und der Lebercirrhose erwägt,
so ist durch die Klärung der Entwicklung der acuten und
subacuten Lebererkrankung auch eine Auffassung der Patho¬
genese des cirrhotischen Processes zu geben, die besser als
die bisherigen Hypothesen die Vielgestaltigkeit der I ormen
einheitlich in sich begreift: Die Lebercirrhose ist ein
herdweise localisirter, recidivirender, chroni¬
scher Degenerationsprocess mit ein gescho¬
benen Regenerationen des Parenchyms. Der
Process beginnt mit kleinen Degenerationsherden in der
Peripherie der Acini, ihm folgt neben Abschmelzung der
degenerirten Partien unter Hinterlassung kleinster verödeter
Bezirke eine Regeneration ; diese verläuft zunächst unter dem
Bilde der Regeneration an der Peripherie des Läppchens in
der Zone der tangentialen Pfortaderverzweigung, zum Theile
wahrscheinlich auch durch Einschaltung junger Elemente in
den Zellbalken ; eine solche wechselnde Degeneration und Neu¬
bildung functionirender Parenchyms führt, langsam hin- und
herwandernd, allmälig zum Umbau der normalen Acini
und zu massigen Gestaltsveränderungen derselben, insbesondere
ändert dieser sich wiederholende Vorgang auch die capillare
Blutvertheilung und damit die Ernährung der verschiedenen
Theile des Parenchyms; später erkranken unter dem an¬
dauernden oder erneuten schädigenden Moment auch tiefer
im Parenchym sitzende Leberzellcomplexe, hier führt dann
die consecutive Involution zur Verödung intra-acinöser Bezirke
und zur stärkeren Regeneration der im tangentialen Gefäss-
bezirk liegenden früheren Parenchymwucherungen; der Pro¬
cess führt endlich an einzelnen Stellen zum completen Unter¬
gang des Acinus, die zunehmende Abschmelzung auch des
neuen Leberparenchyms bewirkt eine steigende Anhäufung
von verödeten Bezirken, die, einer weiteren Rückbilduung
nahezu unfähig, die Parenchyminseln auseinanderdrängen, ja
sie secundär in ihrer Function und Reproductionsiähigkeit
schädigen. Schliesslich erlahmt die überangestrengte Vermehrungs-
kraft der Leberzellen und, nachdem das Organ durch den
Wechsel von Degeneration und Regeneration vielfach erneut
und umgebaut worden ist, kommt es zum Ueberwiegen des
Abganges über den Nachwuchs, zur progressiven Atrophie, die
schliesslich durch den Ausfall der lebenswichtigen Function
der Leber zum Tode führt, wenn nicht früher schon der
marascente Organismus secundäi’en oder intercurrenten Pro¬
cessen auch leichterer Natur erlegen ist.
Je mächtiger die einzelnen Degenerationsattaquen sind,
je seltener sie eintreten, desto mehr nähert sich die
Cirrhose dem Bilde der knotigen, regeneratorischen Hyper¬
trophie, die nach dieser Anschauung conform der Auffassung
älterer Autoren den Cirrhosen einzureihen, als subacute oder
acute, eventuell abgelaufene Form derselben zu bezeichnen
wäre; der Process kann nach diesen Ausführungen in jedem
Stadium durch Ausbleiben neuer Zellschädigungen zum Still¬
stände kommen, und finden sich bei Sectionen umgebaute Lebern
gar nicht so selten, die verschiedenen stationär gebliebenen oder
etwas zurückgebildeten Stadien der geschilderten Entwicklu
entsprechen, eine Ansicht, die Kundrat schon vor längere!
Zeit geäussert hat und die durch spätere, auch klinische M'.t-
theilungen über einzelne Fälle von Heilung der Leberciri hov
selbst bei schon entwickeltem Ascites bestätigt wurde.
Darüber, dass bei Cirrhose die Reproductionsthätic heit
der Leberzellen sehr früh beginnt, liegt auch schon eine ex-
276
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 12
perimentelle Erfahrung vor, denn Mertens gibt bei Schilde¬
rung der Befunde an der Kaninchenleber vor Entstehung der
Cirrhose ausdrücklich das Auftreten zahlreicher Kerntheilungs-
iiguren in den Parenchymzellen an. Auch die auffallende und
merkwürdige Häufigkeit von Adenom- und Carcinombildung
in der cirrhotischen Leber deutet auf eine ganz besondere In¬
anspruchnahme der Reproductionsthätigkeit und ich halte
dieses Zusammentreffen von Carcinom und Cirrhose für eine
Exemplification der W e i g e r fischen Hypothese von der Ubers
Ziel schiessenden Regeneration: die fortwährende übermässige
Inanspruchnahme der Reproductionsthätigkeit der Zellen macht
diese anaplastisch mit Persistenz ihrer Vermehrungsfähigkeit
und unter allmäligem Schwunde der höheren functionellen
Eigenschaften.
Die hier entwickelte Ilvpothese über die Entstehung der
Lebercirrhose fusst im Wesentlichen auf der Kenntniss der
ganz enormen Regenerationsfähigkeit des Lebergewebes und bietet
einen weiteren Einblick in die vielgestaltige Wirksamkeit der
reproducirenden und uniformenden Tkätigkeit der Leberzellen ;
dass es so spät gelang, dieses umbauende und neu schaffende
Leben der Zelle für die Veränderung der cirrhotischen Leber
aus den entstandenen Abweichungen der Norm herauszulesen,
liegt in der ausserordentlichen Vollkommenheit, mit der im
lebenden Organismus functioneile wie morphologische Störungen
ausgeglichen werden. Die Aehnlichkeit des neugebildeten und
normalen Gewebes geht so weit, dass durch lange Zeit die
ausgezeichnetsten Forscher die unterscheidenden Kriterien des
Baues wohl sahen und beschrieben, aber den Weg der Ent¬
wicklung unrichtig deuteten, da sie das pathologische Bild
direct auf normale Verhältnisse zurück bezogen.
Als historische Reminiscenz mag schliesslich erwähnt werden,
dass der erste Beschreiber der Cirrhose, L a e n n e c, dieser
Anschauung insofern schon nahe gekommen ist, als er die
Parenchymknötchen bei Cirrhose als Elemente neuer Bildung
als Neoplasmen, ansah. Die mikroskopische Bildung zeigte
scheinbar sofort die Unhaltbarkeit dieser Ansicht; heute müssen
wir zugeben, dass ein Körnchen Wahrheit in ihr enthalten
ist: die Lebergewebskörner der Cirrhose sind wohl kein Neo¬
plasma im engen Sinne des Wortes aber doch Elemente neuer
Bildung.
Ob den hier entwickelten Anschauungen dauernder Werth
beizumessen ist, kann erst die kritische Nachuntersuchung
feststellen, gerade so, wie auch erst die Zukunft lehren kann,
ob diese Hypothese für die Klinik verwerthbar ist und be¬
fruchtend auf die Fortbildung der Kenntnisse über die Leber¬
cirrhose einwirkt.
Aus der I. psychiatrischen Universitätsklinik in Wien
(Prof. Dr. v. Wagner).
Ueber einige Ergebnisse von Blutdruckmessungen
bei Geisteskranken.
Von Dr. Alexander Pilcz, klinischem Assistenten.
Es ist wohl überflüssig, die Wichtigkeit von Blutdruck¬
messungen in der klinischen Psychiatrie erst des Längeren zu
erörtern. In den Lehrbüchern sowohl wie in einzelnen casuisti-
schen Beiträgen ist immer wieder die Rede von vasomotori¬
schen Erscheinungen und Störungen bei Geisteskranken, und
eine grosse Zahl von theoretisch und praktisch interessanten
Fragen über das Verhalten der Gefässnerven, des Circulations-
apparates überhaupt drängen sich uns tagtäglich auf.
Umso befremdender muss es erscheinen, dass Arbeiten,
welche directe Blutdruckmessungen bei Geisteskranken zum
Gegenstände haben, so gut wie gar nicht existiren. Die meisten
Autoren sprechen von gesteigertem oder herabgesetztem Blut¬
druck, indem sie dabei das sphygmographische Pulsbild analy-
siren. oder allgemeine grob sinnfällige Erscheinungen, wie
Hyperämie, Anämie u. s. w. berücksichtigen. Wirkliche
Messungen des Blutdruckes aber konnte ich, soviel mir die
Literatur zugänglich ist, nur in zwei Publicationen finden,
auf welche ich später zurückkommen werde, in den Arbeiten
von Cra m e r und von Craig.
Die gründlichen Arbeiten K o r n f e 1 d’s, welchen ich
auch mehrfach citiren werde, behandeln nicht speciell be¬
stimmte Kategorien von Psychosen.
Der Grund des Missverhältnisses zwischen Interesse und
Bearbeitung mag bei dieser Frage wohl darin liegen, dass wir
bis vor Kurzem thatsächlich kein Instrument hatten, das Blut¬
druckmessungen in einer leicht ausführbaren und zuverlässigen
Weise gestattete, zwei Bedingungen, welche der von Professor
Gärtner ersonnene Tonometer vollauf erfüllt.
Es ist hier nicht der Ort, auf eine kritische Vergleichung
des G ä r t n e Eschen mit anderen Apparaten einzugehen; ich
dürfte mich dazu auch gar nicht berufen betrachten. Ich will
nur so viel sagen, dass ich alsbald den Werth dieses Instru¬
mentes ebenso schätzen lernte, Avie andere Collegen, die sich
desselben bedient hatten (ich verweise auf die Ausführungen
von Winternitz, Grebner u. s. w.).
Bevor ich nun die Ergebnisse meiner Untersuchungen
mittheile, möchte ich in Betreff der Prüfungsmethode einige
Bemerkungen vorausschicken, aus denen zugleich die grosse
Exactheit des G ä r t n e r’schen Tonometers erhellt.
Die Messungen wurden stets derart vorgenommen, dass
ich den Apparat applicirte, während ein College den Ball com-
primirte. Ich beobachtete nunmehr nach Abnahme des anämi-
sirenden Ringes nur die Fingerbeere, der Assistent beschäf¬
tigte sich mit der Ablesung am Quecksilber-, beziehungsweise
Federmanometer. Derart unabhängig von einander, waren wir
sicher, in völlig objectiver Weise vorzugehen. Jede einzelne
der untersuchten Personen wurde wiederholt, in einer Sitzung
mehrmals hintereinander, gemessen und da war es nun höchst
interessant, zu sehen, wie die gefundenen Werthe bei einem
und demselben Individuum meist haarscharf zusammenfielen.
Das eben Gesagte bezieht sich, wie ich gleich bemerken will,
auf wiederholte Untersuchungen an einem und demselben In¬
dividuum, die in kurzen Zwischenräumen vorgenommen worden
waren.
Anfangs Avaren Avir darauf bedacht, stets denselben
Finger zu wählen, überzeugten uns aber bald, dass die Werthe
einander auch bei Messungen an verschiedenen Fingern gleich
bleiben bei einem und demselben Individuum.
Kornfeld, welcher mit dem v. Bas elf sehen Apparate
arbeitete, hatte gezeigt, wie psychische Momente, Zorn, Lachen,
Schreck etc. den Blutdruck beeinflussen.
Prof. Gärtner hatte seinerzeit erwähnt, dass bei ner¬
vösen Individuen schon die minimale Aufregung, Avelche mit
der Untersuchung überhaupt verbunden ist, genügt, um den
Blutdruck zu steigern, so dass von ZAvei aufeinanderfolgenden
Messungen die erste noch unter dem Eindrücke der neuen
und ungewohnten Procedur vorgenommen, häufig etwas höhere
Zahlen ergibt, als die zweite. ') Diese Beobachtung konnte ich
im Allgemeinen bestätigen, fand aber bei einer bestimmten
Classe von Geisteskranken eine recht bemerkenswerthe Aus¬
nahme davon. Auch wir nahmen ursprünglich bei jedem
Geisteskranken zwei Messungen hintereinander vor; bei den
Paralytikern aber erwies sich diese Vorsicht bald als unnöthig.
Bei diesen dementen Kranken entfällt eben jenes von Pro¬
fessor Gärtner erwähnte psychische Moment, und die bei
derselben Untersuchung gefundenen beiden Zahlen waren jedes
Mal genau dieselben. Ich wiederhole, dass ich, nur mit der Be-
’) Der Einfluss psychischer Momente auf den Blutdruck zeigte sich
in höchst instructiver Weise unter Anderem auch in folgendem Falle aus
unserer Ambulanz. Ein Mann hatte bei einer Rauferei einen Schlag auf
das Hinterhaupt erhalten, wovon ihm eine Knochendepression und eine
ausserordentlich druckempfindliche Narbe zurückgeblieben war. Patient zuckte
nicht nur bei Druck auf die Narbe schmerzlich zusammen, sondern verrieth
schon deutlich Angst, sobald man nur Miene machte, die Narbe zu berühren.
Der Blutdruck von 150 mm Hg, welchen dieser Mann für gewöhnlich auf¬
wies, schnellte nun jedes Mal bei der Ankündigung, man werde jetzt die
Narbe drücken, sofort auf 180 mm Hg empor, eine Zahl, welche auch bei
thatsächlich ausgeübtem Drucke nicht weiter überschritten wurde. Dies liess
sich mit der Sicherheit eines Experimentes einige Male constätiren. In der
kürzlich erschienenen Arbeit von Kapsammer wird der psychische Factor
bei Blutdrucksteigerung auch betont.
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
277
obacktung der Fingerbeere beschäftigt, von dem jeweiligen
Stande des Manometers keine Ahnung haben konnte.
Nun zu meinen Ergebnissen.
Mein Material umfasst etwa 900 — 950 Messungen, ange¬
stellt bei 240 Geisteskranken. Als normalen Blutdruck be¬
zeichne ich mit Prof. G ä r t n e r Werthe von 105 — 130mm Hg.
Als Controlpersonen dienten mehrere Collegen, Wärter und
einige Geisteskranke, bei welchen wir nach den herrschenden
Anschauungen und aller psychiatrischen Erfahrung gemäss
irgendwelche Stoffwechselerkrankungen oder Alterationen der
Vasomotoren nicht anzunehmen haben, z. B. Paranoiker.
Die untersuchten Kranken recrutirten sich aus folgenden
Formen:
Paralyse, Hebephrenie, periodisches Irresein (periodische
Manie und Folie circulaire), Melancholie und Epilepsie.
Auf Grund meiner Untersuchungen an Paralytikern
darf ich Folgendes aussagen: Die Patienten weisen in der
ersten Zeit ihrer Erkrankung im Allgemeinen Blutdrucke auf,
welche noch als normal zu bezeichnen sind, jedoch sich an
der unteren Grenze bewegen. 100 — 11 0 mm Hg sind die durch¬
schnittlichen Werthe. Je länger das Leiden besteht, desto mehr
zeigt der Blutdruck die Tendenz, zu fallen (Werthe von 80
bis 100 mm Hg), bis endlich bei den Paralytikern in den ter¬
minalen Stadien, bei den dauernd bettlägerigen, unreinen, zu
Decubitusbildung neigenden Kranken sehr niedrige Werthe die
Regel sind (50 — 80 mm Hg).
Die Frage nach der Pathogenese des Druckbrandes bei
Geisteskranken war bekanntlich Gegenstand vielfacher Dis¬
cussion. Die bei den terminalen Paralytikern gefundenen
niedrigen Werthe für den Blutdruck erfahren nun ein inter¬
essantes Gegenstück durch die Untersuchung an einem nicht
paralytischen Kranken unserer Klinik, welcher sich schon seit
über 2 Jahren unter ganz denselben äusseren Bedingun¬
gen befindet, welche für das Entstehen des Decubitus mit ver¬
antwortlich gemacht werden. Es handelt sich um einen 40jährigen
Kranken, der seit etwa 29 Monaten das exquisite Bild der Kata¬
lepsie in ganz ungewöhnlicher Intensität bietet. Derselbe liegt
regungslos dahin in Rückenlage, ist dauernd unrein mit Ivoth,
zeigt einen extremen Grad von Abmagerung, welch letztere
auch die Muskeln ergriffen hat; gleichwohl trat bei diesem
Kranken an keiner Stelle des Körpers Decubitus auf.
Der Blutdruck hält sich (bei wiederholten Messungen)
stets auf 100 — 105 mm Hg.
Die stetige Herabsetzung des Blutdruckes im Verlaufe
der progressiven Paralyse erscheint dann einen Stillstand zu
erfahren, wenn sich eine Remission einstellt. Es erreicht der
Blutdruck wieder normale Werthe, ja vielleicht ein wenig
höhere Werthe, als sie bei Paralytikern überhaupt die Regel
sind. So fand ich bei Kranken, welche ich vor zwei bis drei
Jahren als beginnende Paralytiker kennen gelernt hatte, mit¬
unter Zahlen von 110— 130mm Hg; diese Fälle aber, welche
trotz des langen Bestehens ihres Leidens normalen Blutdruck
hatten, befanden sich, wie die Krankheitsgeschichte und die
Gewichtstabelle lehrten, in einer weitgehenden Remission.
Gelegentlich ergaben sich nun Ausnahmen von dem oben
zusammengefassten Ergebnisse meiner Untersuchungen, Aus¬
nahmen, welche aber in jedem einzelnen Falle ihre genügende
Erklärung fanden. So beobachtete ich z. B. bei einem in den
Endstadien dahinsiechenden Paralytiker, dessen Erkrankung
auf etwa 3l/2 Jahre zurückdatirt, statt der erwarteten niedrigen
Zahl einen Blutdruck von 150 mm Hg. Aus dem Kranken¬
journale ging hervor, dass dieser Patient zugleich an Morbus
Brightii chron. litt. Ungewöhnlich hohe Werthe (145 bis
170 mm Hg) fand ich bei Paralysen der hypochondrischen,
überhaupt der depressiven Form, eine Thatsache, welche im
Einklänge damit steht, dass bei nicht paralytischen, melan¬
cholischen Geisteskranken, mag es sich um Zustandsbilder
oder um Krankheitsformen handeln, der Blutdruck immer
hohe Ziffern ergibt, wie ich später ausführen werde.
Einer Mittheilung werth erscheint mir auch folgende Be¬
obachtung. Es ist eine jedem Irren arzte bekannte Thatsache,
dass den Zeitpunkt des Exitus beiläufig vorauszusagen gerade
bei den Paralytikern ausserordentlich schwer ist. Ein die längste
Zeit bettlägeriger Kranker verfällt unter unseren Augen zu¬
sehends. Eines Tages liegt er bei der Visite nahezu pulslos
dahin, mit halonirten Augen, Cornealreflexe nicht mehr aus¬
lösbar. Den Angehörigen stellen wir den Eintritt des Todes
im Laufe der nächsten Stunden in Aussicht, und .... der
Kranke lebt tage-, wochenlang, ja erholt sich vielleicht
wieder. Jeder Fachcollege wird sich ähnlicher Fälle aus seiner
Erfahrung erinnern.
Ich hatte nun einen Kranken drei Stunden ante exitum
gemessen und fand einen Blutdruck von 15 — 20 mm PIg. In
einem anderen Falle, wo ich die Untersuchung etwa zwei
Stunden vor dem Tode vornahm, konnte der Blutdruck über¬
haupt nicht mehr gemesen werden, nachdem wir schon auf
Null herabgegangen waren, ohne dass die Fingerbeere sich
wieder geröthet hätte. In einem dritten Falle (senile Demenz
mit hochgradiger Arteriosklerose) fand ich einmal bei einer
Visite einen Blutdruck von 35 mm Hg und wagte daraufhin
den Exitus innerhalb der nächsten 24 Stunden zu prognosti-
ciren. Der Tod trat 17 Stunden nach der Messung ein. Noch
interessanter war folgender Fall: Seniles Individuum mit
starker Atheromatose. Blutdruck 160 mm Hg. Bei einer Visite
auf einmal Blutdruck von 70 mm Hg, der einige Tage darauf
auf 45 mm Hg gesunken war. Jetzt konnte ich wieder den
Tod innerhalb eines Tages Voraussagen. Exitus etwa sechs
Stunden nach der letzten Messung. (Kapsammer gibt als
unterste Grenze des Blutdruckes, bei dessen Dauer das Leben
bestehen kann, 60 mm Hg an bei Geistesgesunden. Als Minimum
fand ich bei einer Paralytica durch längere Zeit hindurch
50 — 55 mm Hg.)
Dagegen nun erschienen in einem Falle von Paralyse
mit gangränösem Decubitus 2), äusserster Kachexie und man¬
gelnder Nahrungsaufnahme die Stunden des Kranken nach
seinem Aussehen und seiner Pulsbeschaffenheit einmal bei
einer Visite bereits gezählt. Der Blutdruck zeigte aber
140 mm Hg. Nun, die gangränösen Hautfetzen stiessen
sich ab, der Kranke erholte sich wieder und lebte bis
16. Februar 1900. (Diese Messung war am 18. November 1899
vorgenommen worden.) Ebenso konnte ich bei einem I alle,
der das Bild der sogenannten galoppirenden Paralyse bot, trotz
des rapiden Kräfteverfalles, trotz der wiederholt constatirten
subnormalen Temperaturen (!), trotz der bald auftretenden
Oedeme an den Knöcheln Voraussagen, dass der Exitus
wenigstens nicht binnen kurzer Zeit zu gewärtigen sei, da der
Blutdruck bei wiederholten Messungen sich stets auf 105 bis
110 mm Hg hielt. Der weitere \ erlauf hat mir Recht gegeben.
Der Kranke lebte noch, nachdem er schon einmal im Rectum
35’8° gemessen hatte, etwa zwei Monate lang. Bei einer \ isite
aber wies der Blutdruck 40— 45 mm Hg auf und der Kranke
starb am Abend desselben Tages.
Bevor ich die Ergebnisse der Blutdruckbestimmungen
bei Paralytikern verlasse, muss ich noch auf Folgendes auf¬
merksam machen. Das Alter der Kranken spielt natürlich auch
eine gewisse Rolle. Gärtner theilte mir mit, dass Individuen
jenseits der Fünfziger- Jahre im Allgemeinen oft recht hohe
Werthe (140, 150) zeigen, ohne dass die objective Unter¬
suchung irgend eine Organerkrankung nachweisen könnte.
Die gefundenen niedrigen Zahlen von 100 — 110 be¬
ziehen sich eben auf das Gros der Paralytiker; nun fällt dei
Beginn dieses Leidens bekanntlich meistens in die Dreissiger-
und Vierziger-Jahre. Von den Kranken, welche einen Blutdruck
von 120—140 hatten, zählten die Meisten, soferne es sich
nicht um eine Remission handelte, über 50 Jahre.
2) Bei diesem Kranken, welcher einige Monate vor den eben erwähn¬
ten bedrohlichen Symptomen bei wiederholten Messungen einen Blutdiiul-.
von 110 aufgewiesen hatte, fand die ungewöhnliche Steigerung aut 140 ein
interessantes Corrolar in dem Umstande, dass gleichzeitig mit dem Auftreten
des Decubitus der Harn eiweisshältig wurde. Gegenwärtig hat derselbe
Kranke wieder dauernd einen Druck von 100— 110 mm Hg. Der Harn ist.
wieder frei von abnormalen Bestandtheilen. Ebenso fand ich in einem andci cu
Falle von Decubitus bei Paralyse einen Druck von 155 und gleichzeitig
Albuminurie, welche bei der Aufnahme des Kranken vor 1 , Jahren siclu-r
nicht bestanden hatte. Während also, wie wir oben sahen, das Ent¬
stehen des Druckbrandes durch einen ganz geringen Blutdruck bedingt ist,
so kann wieder der Druckbrand allerlei Complicationen mit sich bringen,
welche den Blutdruck in die Höhe zu treiben im Stande sind.
278
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 12
Die ganz hohen Werthe aber (140 — 170) fanden, wie
ich schon erwähnte, stets ihre ausreichende Erklärung, sei es
durch Angstaffecte, sei es durch irgend eine körperliche
Affection (Nierenleiden oder bedeutende allgemeine Atheromatose
u. s. w).
Es ist vielleicht nicht überflüssig, wenn ich ferner be¬
merke, dass man nicht so selten gerade bei den marastischen
Paralytikern gelegentlich der Messung (vielleicht durch
die Procedur des Anämisirens) einen Angiospasmus der
kleinsten Gefässe trifft, welcher eine Messung unmöglich macht
oder einen ganz abnorm niedrigen Blutdruck Vortäuschen
könnte. Gärtner hatte schon darauf aufmerksam gemacht.
Ich kam in solchen Fällen immer zum Ziele, wenn ich die
Hand des betreffenden Kranken für einige Minuten in warmes
Wasser tauchen liess, wodurch sich der Gefässkrampf löste;
ein anderes von Gärtner angegebenes Mittel besteht darin,
dass man in dem betreffenden Finger für einige Minuten eine
Stase erzeugt, dadurch, dass man auf ihn mit dem Apparate
einen Druck von etwa 30 mm Hg einwirken lässt.
Endlich muss ich erwähnen, dass es mir in zwei Fällen
von Paralyse überhaupt nicht gelingen wollte, den Blutdruck
zu messen, weil die Fingerbeere nicht zu anämisiren war. Die Hände
des Kranken boten schwere vaso-paraly tische Erscheinungen,
waren gedunsen, kühl, livide verfärbt. Hier nahm die Finger¬
beere, sobald der anämisirende Ring zurückgewälzt wurde,
nach wenigen Augenblicken ihr früheres blauröthliches Aus¬
sehen an, obgleich das Manometer auf einen Druck von
260mm Hg dauernd eingestellt gehalten wurde. Gärtner
erzählte mir, dass er diese Erscheinung bei Geistesgesunden
auch einmal gefunden hatte.
Bei der Hebephrenie, welche ihrem traurigen Aus¬
gange nach irreparable Läsionen des Centralnervensystems
voraussetzen lässt, welche, nach den Anschauungen der Heidel¬
berger Schule, eventuell in einer Erkrankung des Gesammt-
organismus begründet wäre, konnten a priori auch irgend¬
welche Ergebnisse der Blutdruckmessung erwartet werden.
Jedoch kam ich bei diesen Kranken zu keinem Resultate. Der
Blutdruck war in jedem einzelnen Falle verschieden, ging in
seinen maximalen und minimalen Werthen nirgends über die
normale Grenze hinaus, sei es, dass ich frische oder abge¬
laufene, einfach demente Fälle untersuchte. Nur bei zwei
Kranken dieser Art, deren Psychose sich aber durch gewisse
klinische Besonderheiten auszeichnete, konnte ich bei wieder¬
holt angestellten Messungen ein bestimmtes Ergebniss con-
statiren. Ich will darüber berichten, wenn ich von den perio¬
dischen Psychosen sprechen werde.
Bei der Melancholie beobachtete ich immer hohe
Werthe. Es verhielten sich hier die einfach depressiven Formen
anders als die mit Angstzuständen einhergehenden.
Bei Ersteren kamen hohe Zahlen vor, welche den höchsten
noch als normal zu bezeichnenden Zahlen entsprachen (130)
oder um wenig darüber hinausgingen (140), dasselbe gilt von
der Angstmelancholie, wrenn die Kranken entweder durch
eine entsprechende Medication (Opium) beruhigt sind, oder
sich, bei paroxysmal auftretenden Angstzuständen, in der
anfallsfreien Zeit befinden. Sowie aber der Angstparoxysmus
sich einstellt oder versuchsweise mit der eben ausreichenden
Opiumdosis herabgegangen wird, schnellt der Blutdruck rasch
empor. Ich habe hiebei die höchsten Zahlen gefunden, welche
ich überhaupt bei durch keine somatische Affection com-
plicirten Psychosen beobachtete (170 — 200 Hg).
Bei dem circulären Irresein gehen die Veränderungen
im Blutdrucke ganz parallel mit dem Wechsel im psychischen
Bilde: während der melancholischen Phase hohe Zahlen
(bis 170), während der manischen niedrige (bis 60). Ich hatte
Gelegenheit, dieses Verhalten mehrmals nacheinander bei solchen
Kranken zu prüfen, deren Zustandsbilder rasch (innerhalb
\\ ochen — Monate) wechseln, und fand Differenzen von
40 — 50 Hg bei einem und demselben Individuum, zu derselben
Tageszeit und unter denselben äusseren Bedingungen gemessen.
Besonders instructiv waren hier jene Fälle des manisch-
depressiven Irreseins, welche brüske Uebergäuge zeigen, wobei
die Kranke, zum Beispiel, sich als Maniaca niederlegt und
in einer schweren Melancholie am nächsten Tage erwacht.
Eine unserer Kranken, welche während ihrer Manie
einen Blutdruck von 105 — 110, während ihrer Melancholie
einen von 145 — 155 Hg hatte, zeigte eines Tages, als ich sie
in der expansiven Phase untersuchte, zu meinen Erstaunen
einen Blutdruck von 135 Hg. Zwei Tage später lag die Kranke
bei der Frühvisite schon in der tiefsten Depression dahin. Hatte
so in diesem einen Falle der hohe Blutdruck bei noch be¬
stehender Manie seine Erklärung in der unmittelbar darauf¬
folgenden Melancholie gefunden, dieselbe gewissermassen schon
angekündigt, so kann ich nicht verschweigen, dass ich unter
meinen Kranken mit cyklischem Irresein auch Fällen
begegnet bin, welche mit der oben angegebenen Regel nicht
stimmten.
So fand ich zum Beispiel bei einem classischen Falle
von Folie circulaire während der Manie (und nur während
einer solchen konnte ich den Kranken beobachten) einen
Blutdruck von 125 Hg. Andererseits wieder constatirte ich
während der depressiven Phase bei einer älteren Kranken
einen Blutdruck von 90 — 100 Hg. Auch in diesem Falle war,
während ich meine Untersuchungen begann, nur mehr das eine
Zustandsbild vorhanden.
Bei diesen zwei Kranken lagen, wie erwähnt, Messungen
nur während einer Phase vor; es wäre immerhin möglich,
dass die oben angegebene Differenz zwischen dem Blutdruck
bei der exaltirten und bei der depressiven Periode sich auch
in diesen Fällen heraussteilen würde, wenn wir die Kranken
nach geraumer Zeit in einem anderen Phasen bilde wieder
untersuchen würden.
Kornfeld beobachtete eine Blutdrucksteigerung auch
durch den Zornaffect. Für meinen hier erwähnten manischen
Kranken könnte ich dies auch zu dem Versuche einer Er¬
klärung heranziehen, da gerade dieser Patient während seiner
manischen Phase weniger heitere, als andauernd reizbare,
zornmüthige Verstimmung zeigte. Einstweilen aber muss ich
diese Facten einfach verzeichnen, ohne sie erklären zu
können.
Die oben erwähnte Beobachtung von Kornfeld kann
ich übrigens nur vollauf bestätigen. Gerade die Labilität der
Stimmung bei den Maniacis bewirkt es, dass man bei wieder¬
holten Messungen gelegentlich höhere Werthe bekommt als
an anderen Tagen. Während in der Melancholie und der depres¬
siven Phase des cyklischen Irreseins der Blutdruck constant
dieselben hohen Werthe gibt, sind bei der Manie Schwan¬
kungen zu constatiren, und die in der Regel niedrigen
Werthe erfahren bei einem und demselben Kranken oft
vorübergehend eine Steigerung (bis zu 130).
Bei meinen übrigen Kranken aber mit circulärem Irresein,
bei welchen die einzelnen Phasen in lang dauernden Cyklen
verlaufen, so dass derzeit meine Untersuchungen auch nur
auf einen Zustand sich beziehen, fand ich die oben angegebene
Gesetzmässigkeit, welche mir bei den rasch wechselnden Zu¬
standsbildern entgegentrat, bestätigt, d. h. hohe Zahlen in der
Depression, niedere bei der Exaltation. Interessant ist hier zum
Beispiel ein Mädchen, das im Juni v. J. nach einer Manie
in eine schwere Melancholie mit Stupor verfiel; derzeit be¬
findet sich Patientin in einem Zustande, der eigentlich keine
Stimmungsanomalie verräth. Monate vorher schon machte sich
aber das Abklingen der Melancholie trotz äusserer Hemmung
klinisch bemerkbar in einem gelegentlichen leisen Lächeln,
in einer der Melancholie absolut fremden Reizbarkeit, in einer ge¬
wissen Spontaneität etc. Der Blutdruck, welcher im Juni
170 mvi Hg betragen batte (18jähriges, körperlich gesundes
Individuum) war im Verlaufe der folgenden Monate stufen¬
weise auf 120 mm Hg gesunken; in einem anderem Falle von
langdauernder Melancholie mit dem Schwinden derselben von
145 auf HO. Die letztere Kranke zeigt aber schon unver¬
kennbar manische Züge.
Es will mir scheinen, dass der hohe Blutdruck bei den
depressiven Zuständen der traurig-ängstlichen Verstimmung
als solcher zukommt, mag es sich um eine selbstständige
Geisteskrankheit oder um eine vorübergehende Phase handeln,
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
279
nicht aber einer bei der Melancholie, namentlich der circularen
Depression, nicht selten vorkommenden und recht augen¬
fälligen Erscheinung, nämlich dem Stupor.
Ich möchte in diesem Verhalten sogar ein bis zu einem
gewissen Grade differentialdiagnostisch verwerthbares Hilfs¬
mittel erblicken bei der Entscheidung zwischen circulärem
und katatonem Stupor.
Wir haben zum Beispiel auf der Klinik drei Kranke,
welche das schönste Bild des Stupors bieten (einen dieser
Kranken hatte ich schon an früherer Stelle erwähnt); diese
Kranken nun, bei welchen von circulärem Irresein absolut
nicht die Rede ist — es handelt sich in diesen Fällen um
Katatoniker — haben normalen (und sogar einer einen recht
niedrigen) Blutdruck, der eine Kianke, wie erwähnt, 110,
der andere Fall (weibliche Person) lzO, der dritte 80 — 75.
Fälle rein periodischer Manie hat unsere Klinik
zwar mehrere, ich muss aber gestehen, dass ich nur einen
davon in einwandfreier Weise messen konnte. Ich fand einen
Blutdruck von 65 — 75 mm Hg auf der Höhe der Manie. Ge¬
rade dieser Fall betraf einen 50jährigen Menschen, der ohne
hereditäre Belastung nach einer Apoplexie (!) in spätem
Lebensalter an periodischer Manie erkrankte. Die anderen
Kranken aber machten durch ihre heftige psychomotorische
Unruhe, durch ihr Lachen, Schreien, Aufspringen, jähen Um¬
schwung von Heiterkeit und Zorn u. d gl . jegliche Messung,
welche halbwegs Anspruch auf Exactheit erheben will, illu¬
sorisch. Hingegen gelang es mir, zwei hebephrene Kranke mit
ganz regelmässigen periodischen Erregungszuständen wieder¬
holt, während der Ruhe, wie während der exaltirten Phase zu
messen. Das Bild während der letzteren entsprach beiläufig
einer Mania gravis, wenngleich es sich durch gewisse klinische
Charaktere, Stereotypie, Clownismus, eigenthümlich manierirtes
theatralisches Gebahren u. s. w., schon an sich als katatone
Erregung kennzeichnete. Besonders aber während der^ruhigen
Phase konnte bei der zunehmenden Verblödung der Kranken,
bei der eigenthümlich steifen Körperhaltung u. s. w. über das
ominöse Grundleiden kein Zweifel mehr obwalten. Auch diese
beiden Kranken nun wiesen constant (bei vielen Unter¬
suchungen) während der Erregungszustände einen um 20 bis
30 mm Hg niedrigeren Druck auf, als während der Ruhe.
Damit habe ich mitgetheilt, was sich einstweilen bei
Blutdruckmessungen an Geisteskranken ergeben hat. Ich er¬
streckte meine Untersuchungen ausserdem noch auf folgende
Fragen.
Fe re hat bekanntlich angegeben, dass während des
epileptischen convulsiven Anfalles der Blutdruck bedeutend
steige, nachher aber unter den dem einzelnen Epileptiker m
der interparoxysmellen Zeit eigenen und habituellen Werth
herabsinke. Diese Herabsetzung des Blutdruckes solle sich
noch fünf bis sechs Stunden nach einem Anfalle constatiien
lassen. Bei der eminent praktischen Wichtigkeit dieses Themas
— ich erinnere nur zum Beispiel daran, wie wichtig gerade
dem Militärärzte der objective Nachweis eines convulsiven
Anfalles wäre — machte ich auch diese Frage zum Gegen¬
stände meiner Untersuchungen. Wie es die Natur der Sache
mit sich bringt, war ich trotz der grossen Zahl von Epileptikern
in unserem klinischen Materiale nicht im Stande, umfassende
Untersuchungen während der convulsiven Attaque vorzu¬
nehmen.
Bis das Wartepersonal den Kranken genügend fixirt hat,
bis es gelungen ist, während der heftigen tonisch-klonischen
Krämpfe den Apparat zu appliciren, bis für ausreichende Be¬
leuchtung gesorgt ist u. s. w., ist meist der Anfall schon vor¬
über. In der That gelang es mir nur zweimal, in vor mir
selbst völlig einwandfreier Weise Kranke auf der Höhe des
Anfalles zu messen. Ich fand bei einem Patienten 220 (!)
(Uebergang der tonischen Krämpfe zu den Klonismen), bei
einer Frau 150 (nur während der Klonismen gemessen);
während des postparoxysmalen Sopors sank der Blutdruck
bei Ersterem auf 80, bei Letzterer auf <0. Eine Viertelstunde
später hatte der Mann 135, die Frau (nach etwa fünf Minuten)
125. Ich verfüge aber ausserdem über eine grosse Anzahl von
Blutdruckbestimmungen unmittelbar nach dem Anfalle, während
der soporösen Phase. Ich beobachtete nun folgendes. Mn d i
Erschlaffung der Glieder, mit dem ersten tief schnarchenden
Athemzuge, der die Relaxation einleitet, sinkt dei Blutdiu >
bedeutend, steigt aber schon nach wenigen Secundtn
wieder an und erreicht nach etwa ein bis zwei Minuten die
Höhe, welche der Kranke in seiner anfallsfreien Zeit zeigt.
Meine Ergebnisse decken sich also vollständig mit denen von
Kornfe 1 d. Messungen, y4— i 5 Stunden, nach einem convulsiven
Aufalle vorgenommen, ergeben durchaus dieselben Wmthe,
wie sie der betreffende Patient aufweist, wenn mehret e läge
bis Wochen kein Anfall vorausgegangen war.
Ich kann nach meinen Erfahrungen demnach dieFere-
sche Behauptung nicht bestätigen.
Prof. Gärtner theilt mir übrigens mit, dass auch beim
Thierexperimente, nach künstlich erzeugtem epileptischen An¬
falle der anfangs bedeutend gesteigerte Blutdruck mit dem
Aufhören des Krampfes nach einer jähen Depression sehr
rasch wieder seine normale Höhe erreicht.
Als ganz interessante Thatsache will ich noch nachtragen,
dass die kurzdauernde postparoxysmale Depression im Blut¬
drucke niemals niedrigere Werthe erreicht, als dieselben Indi¬
viduen im physiologischen Schlafe haben.
Ich habe endlich die von Kornfeld, dann von
v Wagner und Gärtner seinerzeit angestellten Unter¬
suchungen über das Verhalten des Blutdruckes während
des Schlafes weiter verfolgt und konnte auf Grund von
o-rösseren Zahlen die von diesen Autoren gefundenen Resultate
vollauf bestätigen. Zur Zeit der grössten Schlaftiefe, also etwa
zwei Stunden nach dem Einschlafen, ist der Blutdruck immer
herabgesetzt, und zwar gegenüber dem wachen Zustande bei
einem und demselben Individuum um 20 35 mm Hg. (K o r n-
feld fand noch grössere Differenzen.)
Es erübrigt mir endlich, auf die einschlägigen Unter¬
suchungen anderer Autoren einzugehen. Cramer, welcher
mit dem v. Base h’schen Sphygmomanometer arbeitete, stellte
seine Beobachtungen an Angstmelancholien an. Er constatirte
während der Angstanfälle durchschnittliche Werthe von
152 mm Hg. Ueber den Blutdruck in der intervallären Zeit
spricht Cramer nicht ausdrücklich; aus den mitgetheilten
Tabellen würde hervorgehen, dass dabei sogar verhältnissmässig
niedrige Werthe zur Beobachtung kamen (110— 120 mm Hg).
Auf verschiedene Formen von Geisteskrankheiten ei
streckte sich die Arbeit von Craig. Dieser Autor bediente
sich des Sphygmomanometers von Barnard und Hill.
Die Ergebnisse Craig’s stimmen im Grossen und
Ganzen mit den meinen überein. Bei Melancholie hohe, bei
Manie niedrige Werthe. Nur bewegen sich die Maximal- und
Minimalzahlen bei den Kranken Craig’s innerhalb geringerer
Differenzen (140—160 bei der Depression, lOo— 110 bei
exaltirten Formen). . .
Obwohl Craig angibt, unter seinen Kranken keinen
Fall von cyklischem Irresein untersucht zu haben, findet sich
doch in seinen Tabellen ein hierhergehöriger Fall mit folgenden
Blutdrucken :
Melancholie 150, Manie lOo, lucides Intel vall 125. Le
züHich der Angstmelancholie kommt Craig zu einem Re¬
sultate, das mir nicht recht verständlich ist; er sagt, da&s der
Blutdruck im Allgemeinen herabgesetzt sei, wenn die Agitation
ihren äussersten Grad erreiche. Ebensowenig konnte ich ein
anderes Ergebniss dieses Autors bestätigen, wonach bei einem
Erschöpfungsstupor nach Manie der Blutdruck in der vege
niedrig sei, bei Stupor im Allgemeinen erhöht. Ein Stupor
nach Melancholie ist wohl ein circulärer Stupor ; dabei land
ich den Blutdruck gesteigert, während Stupor im Allgemeinen,
zum Beispiel bei der Katatonie, ohne Einfluss aut den Blut
druck zu sein scheint. n
Bezüglich der progressiven Paralyse kam Lraig zu
keinen bestimmten Ergebnissen; bei den Termmalstadien fand
auch er den Blutdruck herabgesetzt (auf 100 mm Ilg); mi
Uebrigen schwankten die Werthe zwischen 160— 100 mm l g.
Craig selbst bemerkt, dass er zu wenig passendes Material
hatte, nur ein paar vorgeschrittene Fälle.
280
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
Nr. 12
Mit meinen Mittheilungen wollte ich nur Tkatsachen
bringen, Beiträge zir klinischen Psychiatrie geliefert haben.
Theoretische Erwägungen oder therapeutische Versuche
daran zu schliessen, erscheint mir verfrüht.
Literatur.
Gärtner, Ueber einen neuen Blutdruckmesser (Tonometer). Wiener
klinische Wochenschrift. 1899, Nr. 25.
Cramer, Ueber Verhalten des Blutdruckes während der Angst der
Melancholischen. Münchener medicinische Wochenschrift. 1892, Nr. 6
und 7.
Craig, Blood-pressure in the insane. The Lancet. 1898, Bd. I,
pag. 1792.
Fere, Comptes rendus de la societe de biologie. 1889, 26 mars.
Bulletins de la societe biolog. 1888, pag. 506.
Kapsammer, Blutdruckmessungen mit dem G ä r t n e r’schen
Tonometer. Wiener klinische Wochenschrift. 1899, Nr. 51.
v. Wagner, Discussion zu dem Vortrage Prof. Gartner’s im
Wiener psychiatrischen Vereine. Juni 1899. Wiener klinische Wochenschrift.
1899, Nr. 26.
Kornfeld, Ueber das Trional als Schlafmittel etc. Wiener medi-
ciuische Blätter. 1898, Nr. 1, 2, 3.
Derselbe, Ueber die Beziehungen von Blutkreislauf und Atlimung zur
geistigen Arbeit. Brünn 1899. Festschrift der k. k. technischen Hochschule
in Brünn zur Feier ihres 50jährigen Bestehens etc.
Derselbe, Ueber den Einfluss physischer und geistiger Arbeit auf
den Blutdruck. Wiener medicinische Blätter. 1899, Nr. 30 bis 32.
REFERATE.
I. Ueber Besserhören im Lärm und die Bedeutung dieses
Phänomens für die Pathologie und Therapie der chro¬
nischen progressiven Schwerhörigkeit im Lichte der
Neuronlehre.
Von Dr. Max Breitling, Medicinalrath in Coburg.
II. Gibt es ein Hören ohne Labyrinth?
Von Dr. Max Kamm in Breslau.
III. Die tuberculösen Erkrankungen des Gehörorganes.
Von Dr. Otto Barnick, Ohrenarzt am Anna-Kinderhospital und am Landes-
Taubstummen-Institut zu Graz.
IV. Der Scharlach und das Scharlachdiphtheroid in ihren
Beziehungen zum Gehörorgan.
Von Dr. E. Weil in Stuttgart.
Klinische Vorträge aus dem Gebiete der Otologie und Pkaryngo-Rhinologie.
Herausgegeben von Docenten Dr. Haug (München).
Bd. Ill, Heft 2, 3, 4 und 5.
Jena 1899, Gustav Fischer.
I. Das anscheinend so paradoxe, im Verlaufe der chronischen
progressiven Schwerhörigkeit auftretende Phänomen des Besser¬
hörens im Lärm hat bis heute keine Erklärung gefunden, welche
allgemein als genügend angenommen worden wäre. Die meisten
Autoren pflichten der Ansicht Tröltsch’s bei, nach welcher bei
der Paracusis Willisii durch die Erschütterungen Veränderungen in
der Schwingungsfähigkeit des Trommelfelles und der Gehörknöchel¬
chen veranlasst werden. Medicinalrath Dr. Max Breitung ver¬
sucht nun in einem Vortrage, den er auf der 70. Versammlung
deutscher Naturforscher und Aerzte in Düsseldorf hielt, die Erschei¬
nung der Paracusis im Lichte der Neuronlehre zu erklären. In
seinen Auseinandersetzungen stützt sich hiebei der Autor besonders
auf zwei Präparate des Dr. K a t z, aus denen hervorging, dass ein
einfacher Contact zwischen Endbäumchen des Nervus vestibuli und
den Hörzellen bestehe. Die Begriffe der Function und der anato¬
misch-histologischen Constitution seien durchaus incongruent. Die
Parakustiker spüren die Schwebungen früher als die Normalhören¬
den, während die einfache Reizempfindlichkeit abgenommen hat.
Urbantschitsch hat darauf aufmerksam gemacht, dass es bei
Millelohrerkrankungen vorkomme, dass das Klappern des Wagn er¬
sehen Hammers hörverbessernd wirke, ohne selbst wahrgenommen
zu werden. Breitung beobachtete, dass auch die Erschütterungen
beim Radfahren bei Schwerhörigen hörverbessernd wirken. Die Frage,
ob die Hörverbesserung bei Parakustikern an die Dauer der Er¬
schütterungsreize gebunden ist, mit dem Ende derselben erlischt,
oder ob sie die Dauer der Einwirkung überdauert, wird dahin be¬
antwortet, dass die Wirkung der heftigen Reize durchaus nicht
immer an die Dauer derselben gebunden ist, sondern oft dieselbe
um eine erhebliche Zeit überdauert, wovon Urban tschitsch
in seinem Lehrbuche mehrere Beispiele anführt. Den Endeffect der
hochfrequenten Erschütterung verlegt Autor mehr in den Nerven-
endapparat, als in die Mechanik des Mittelohrapparates und kommt
zum Schlüsse seiner Theorie, für welche allerdings eine materiell¬
experimentelle Basis fehlt, dass, wie eine ultimale Erschütterung
der Neuronketten eine Erschütterung mit Amnesie, mit Perturbatio
mentis herbei führen könne, eine geringere anregende Wirkung in
den Neuronkelten durch einen mehr corrigirenden als schädigenden
Impuls einlreten kann.
*
II. Dieser Vortrag, der allerdings keinerlei eigene Beobachtung
enthält, gibt eine Zusammenstellung aller jener Arbeiten, die sicli
mit dieser Frage beschäftigen. Das Resume desselben ist:
1. Nach experimenteller Zerstörung der beiderseitigen Schnecken
bei Tauben bleibt noch ein Rest von Hörvermögen.
2. Nach experimenteller Exstirpation des gesammten Laby¬
rinthes ist ein bewusstes Hören nicht mehr vorhanden.
3. Die Hörreactionen der Thiere in E w a 1 d’s Experimenten
beruhen auf Reizung sensibler Nerven anderer peripherer Organe.
4. Es ist physiologisch denkbar, dass auch beim Menschen
nach Verlust der Schnecke allein, noch ein Rest von Hörvermögen
bestehen bleibt.
5. Die klinischen Beobachtungen sprechen dafür, dass nach
Labyrinthnekrose völlige Taubheit entsteht.
6. Die dem anscheinend widersprechenden Fälle beruhen
theils auf zurückgebliebenen functionsfähigen Theilen des Labyrinths,
theils auf Beobachtungsfehlern.
Zum Schlüsse wird eine Tabelle der Fälle von Labyrinth¬
nekrose, bei denen anscheinend Hörvermögen noch bestand, angefügt.
*
III. Nach einem kurzen geschichtlichen Rückblick über den
Zusammenhang gewisser eiteriger Processe im Ohre mit der soge¬
nannten »Phthise«, einer der verderblichsten Krankheiten des
Menschengeschlechtes, kommt Verfasser zur Eintheilung der tuber¬
culösen Erkrankungen des Gehörorganes, die er dem Sitze nach in
solche des äusseren, mittleren und inneren Ohres gruppirt. Dem
klinischen Verlaufe nach unterscheidet er eine acute und chro¬
nische Form. Was die Art der Entstehung anbelange, so handle
es sich in den meisten Fällen um eine secundäre Infection des
Organs im Anschluss an eine primäre Tuberculose der Lymph-
drüsen des Halses, des Darmcanals, beziehungsweise der Lungen
und des Nasen-Raohenraumes. Die tuberculösen Erkrankungen des
äusseren Ohres treten hauptsächlich in vier verschiedenen Formen
auf, unter dem Bilde des Lupus vulgaris, der circumscripten Knoten-
tuberculose des Unterohres, der tuberculösen Perichondritis und
des einfach tuberculösen Hautgeschwüres.
Ein Eindringen des Tuberkelbacillus in die Mittelohrräume
erfolgt auf dreierlei Art : Erstens durch das Ilineinschleudern der
infectiösen Massen durch die Ohrtrompete, zweitens auf dem
Wege des Lymph-, beziehungsweise Blutstromes und drittens durch
ein Weiterschreiten tuberculöser Processe der Nase, des Nasen-
Rachenraumes oder des äusseren Ohres auf die Trommelhöhle.
Endlich die Tuberculose des Labyrinths kommt stets dadurch zu
Stande, dass die Erkrankung vom Mittelohr auf das innere Ohr
übergreife. Zum Schlüsse wird noch eine kurze Schilderung der
durch die tuberculösen Entzündungen des Gehörorganes hervor¬
gerufenen Erkrankungen des Gehirns, seiner Häute und Blutleiter
beigefügt.
*
IV. Bereits Wilde klagt, dass beim Scharlachfieber die
Aerzte nicht genügend auf den Zustand der Ohren Acht geben,
eine Unterlassung, die oft zu permanenter Taubheit und bei jungen
Patienten zu Taubstummheit führte. Eine Klage, die leider noch
heute ihre volle Berechtigung hat (Referent). Auch Burck-
hardt-Merian verlangt mit energischen Worten, dass schon
das ärztliche Mitgefühl den Collegen den Ohrenspiegel in die
Hand drücken und sie zwingen sollte, mit gebieterischem Ernste
Alles anzuwenden, was die praktische Erfahrung gegen dieses
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
281
Leiden zur Verfügung stelle. Nur die Kinderärzte nähern sich den
Ansichten der Ohrenärzte und halten die Otitis media purulenta
für eine eminent wichtige Complication des Ohres, wie be¬
sonders Bagin sky. Die Frage, in welchem Procentsatz das Ohr
bei Scharlach überhaupt erkrankt, wird mit 10% beantwortet, ein
Procentsatz, der sicher viel zu niedrig ist. Wiewohl der Scharlach
alle Theile des Ohres ergreifen kann, sind doch die häufigsten
Begleiterscheinungen des Scharlachs unstreitbar die Mittelohr¬
erkrankungen.
Leichte Mittelohrerkrankungen kommen nach des Autors An¬
sicht beinahe hei allen etwas schwereren Scharlacherkrankungen
vor. Betreffs der Symptome der Scharlachmittelohrerkrankungen
wäre besonders das eine Moment hervorzuheben, dass starke Ent¬
zündungen im Ohre vorhanden sein können, ohne dass sie be¬
sonders auffallen. Diese Erfahrung ist deshalb so schwerwiegend,
weil bekannter Weise viele praktische Aerzte auf die Ohren nur
dann achten, wenn diese eitern. Schliesslich citiit Vei fassei di(
Ansicht B 1 a u’s, dass die bekannten schweren Schädigungen des
Gehörorganes nach Scharlach nur in der Minderheit der fälle nui
der ursprünglichen Malignität der pathologischen 1 locesso beruhen,
in der Mehrheit der Fälle dagegen hätten sie einzig und allein
ihren Grund in der Vernachlässigung des Ohrenleidens.
Die Lecture dieser allerdings zum grossen Theil statistischen
Arbeit ist ob ihres wichtigen Inhaltes den praktischen Aerzten aul
das Wärmste zu empfehlen. Arthur Singer.
Handbuch der Ohrenheilkunde.
Von Dr. Wilhelm Kirchner, Professor etc. in Würzburg-.
Sechste Auflage. Mit 44 Abbildungen.
Braunschweig 1899, W reden.
Nach kaum zwei Jahren ist wieder eine neue (6.) Auf¬
lage von Kir chner’s »Handbuch der Ohrenheilkunde« er¬
schienen. Dies muss als ein neuer Beweis dafür angesehen werden,
dass dieses Buch trotz der nicht geringen Auswahl von Lehr¬
büchern dieses Faches Jedem, welcher sich mit den wichtigsten
Errungenschaften der Ohrenheilkunde vertraut machen will, ein
willkommener und entschieden sehr empfehlenswerter Behelf ist.
Die vorgenommenen Aenderungen in den Abhandlungen über
die Erkrankungen des Nasen-Rachenraumes, sowie über die operative
Thätigkeit bei den Eiterungsprocessen im Mittelohr geben Zeugniss,
dass Kirchner bestrebt ist, der raschen Entwicklung dieses Ge¬
bietes gerecht zu werden.
Nicht unterlassen kann ich hier die Bemerkung, dass doch
endlich einmal der unglückselige Name »Radicaloperation« für die
operative Freilegung aller Mittelohrräume (Küster, Zaufal,
Starke) fallen möge! Sind denn alle die übrigen Eingriffe, wenn
sie vollständige Heilung erzielen, nicht »radical«? Biehl.
Durchschnitt durch das menschliche Auge.
Von M. Salzmann.
XVII. Heft der Magnus’schen augenärztlichen Unterrichtstafeln.
Breslau 1899, J. U. Kern (Max Mülle r).
Das vorliegende Heft besteht aus zwei farbigen F oliotafeln
und einem kurzen begleitenden Texte.
Die erste Tafel stellt einen Horizontaldurchschnitt durch den
menschlichen Augapfel in 30facher Vergrösserung dar und zeichnet
sich durch bemerkenswerthe Uebersichtlichkeit aus, die auch da er¬
halten bleibt, wo der Autor auf genaue Details (wie bei der Dar¬
stellung der Ursprünge und Ansätze der verschiedenen Zonulafasern
oder der feineren Anatomie der Kammerbucht) eingeht. Die leinen
Unterschiede in der Form der temporalen und nasalen Seite des
Kammerwinkels, durch die differente Grösse und Gestalt des Ciliar¬
körpers und der Iriswurzel bedingt, sind hier zum ersten Male
bildlich dargestellt und das in einer dem aufmerksamen Beobachter
augenfälligen, dabei aber nicht übertriebenen Weise, sondern
genau auf Grund exacter Messungen durchschnittener, gut gehärtetei
und conservirter menschlicher Bulbi gezeichnet.
Die zweite Tafel gibt ein klares Bild des Iriswinkels und
seiner Umgebung in 150facher Vergrösserung und vereinigt grosse
Anschaulichkeit mit wahrhaft künstlerischer Ausführung, peinlicher
Genauigkeit und Berücksichtigung aller Details.
So erscheint die Aufgabe, die sich der Autor stellte, in nach
jeder Richtung mustergültiger Weise durchgeführt und kann dieses
Heft der augenärztlichen Unterrichtstafeln als ein ausgezeichnetes,
man könnte sagen, unentbehrliches Hilfsmittel lür den akademischen
und Selbstunterricht wärmstens empfohlen werden. Hank e.
Dermato-histologische Technik.
Ein Leitfaden für Aerzte und Studirende.
Von Dr. Max Joseph in Berlin und Dr. Georg Loewenbach in Wien.
Berlin 1900, Louis Marcus.
Die in der Vorrede des Büchleins ausgesprochene Absicht,
einen Leitfaden für Anfänger wie für bereits vorgeschrittene Forscher
zu schreiben, der eine rasche Uebersicht über die technischen
Methoden der Dermatohistologie gewährt, haben die beiden Ver¬
fasser in vortrefflicher Weise erfüllt. Die Zahl der ausgewählten und
angeführten Methoden ist eine reichliche, doch nicht übermässige,
die Anordnung des Materiales eine übersichtliche. Die Beschreibung
der einzelnen Methoden ist kurz, dabei doch wieder so ausführlich,
dass bei der genauen Angabe der Mass- und Gewichtsverhältnisse
der Reagentien wie der Zeitdauer der einzelnen Proeeduren auch
der minder Geübte mit Erfolg zu arbeiten vermag. Durch Klein¬
druck sind schwierigere oder weniger verlässliche Verfahren ge¬
kennzeichnet. Viele Literaturangaben ermöglichen die Einsicht in
die entsprechenden Originalarbeiten. Eine übersichtliche Inhalts¬
angabe, wie ein alphabetisches Register erleichtern das rasche
Auffinden eines bestimmten Verfahrens.
So wird dieser Leitfaden Jedem erwünscht und von Nutzen
sein, der sich mit histologischen Untersuchungen der Haut befasst.
Pran ter.
THERAPEUTISCHE NOTIZEN.
Dr. F r i e s e r schildert das C i t r o p h e n (citronen saures Phene¬
tidin) als das beste Ersatzmittel für die Salicylsäure, dessen unan¬
genehme Nebenwirkungen ihm zu fehlen scheinen. Die Dosis beträgt
für Erwachsene täglich 3 — 4 cj in Pulver oder Lösung. (Theiapie
der Gegenwart. 1899, Nr. 11.) ...
Aehnliches wird von Wohlgemuth vom Aspirin be¬
hauptet. Aspirin ist Acetylsalicylsäure und bildet ein weisses krystal-
linisches Pulver, welches, in Wasser schwer löslich, am besten in
Oblaten verabreicht wird. Der wichtigste Unterschied zwischen Aspiiin
und Salicylsäure soll darin liegen, dass jenes den Magen unverändert
passirt, ihn also nicht schädigt und erst im alkalischen Darmsaft, in
Blut- und Gewebsflüssigkeit zur Spaltung gelangt. (Therapeutische
Monatshefte. 1899.)
*
Nach Dr. v. Hauschka wurde der „Nährstoff Heyden“
im Maria Theresien-Frauenhospitale in Wien sehr häufig angewendet
und soll derselbe bei Schwächezuständen und von Reconvalescenten
sehr gut vertragen werden, der Appetit sich sehr bessern. Eiterige Er¬
krankungen sollen eine Contraindication für die Anwendung des Nähr¬
stoffes abgeben. — (Aerztliche Rundschau. 1899, Ni. 5U.)
*
(Aus der chirurgischen Klinik des Prof. Hacker in Inns¬
bruck.) Mittheilungen über Heroin. V on Dr. V i e s n e 1 .
Die hustenstillende und dyspnoebeseitigende Wirkung des Heroins
ist schon zur Genüge bekannt. An obiger Klinik wurde fast ausschliess¬
lich die narkotische, schmerzstillende und sedative Wirkung des Mittels
erprobt, wobei sich herausstellte, dass mit einer kleineren Dosis die¬
selbe Wirkung wie bei grösseren Morphingaben erzielt werden konnte,
ohne dass besondere Nebenwirkungen beobachtet worden wären. Das
Mittel war bei 65 Fällen 481mal angewendet worden und hat me in
Stich gelassen; in einer Viertel- bis einer halben Stunde horte der
grösste Schmerz auf. Auch als Schlafmittel gleicht seine Wirkung der
des Morphins. Bei internem Gebrauch wurden 5—10 Tropfen einer
l%igen Lösung von Heroinum muriaticum (= 0 0025—0 005), subcutan
0-005, erst bei längerem Gebrauch 001 pro dosi und 003 pro die,
nie mehr, verabreicht. — (Deutsche Aerztezeituug. 1900, Nr. 3.)
*
(Aus der Klinik von Prof. Senator in Berlin.) lieber
K 1 y fl t i e r e und Suppositorien von Heidelbeerextr a e r
zur Behandlung von colitischen Processen. \ on Doctor
Strauss. Mit den genannten Mitteln waren Falle von Proktitis,
chronischer Colitis, Colica mucosa mit bestem Erfolge behandelt woiden.
Statt der gewöhnlichen Heideibeerabkochungen wurde das von from
282
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 12
in Frankfurt a. M. hergestellte Extract verwendet, indem in V4 1
warmen, mit etwas Soda versetzten Wasser ein Esslöflf^l Extract auf
gelöst wurde. Die Klystiere haben auf den Krankheitsprocess eine
stärkere Wirkung, als die Suppositorien, welche folgende Zusammen¬
setzung hatten: Rp. Extr. vacc. myrtilli 30*0, Kal. carb. 3-0, Aq
dest. 7 0, Ol. cacao G0 0. M. f. Supp. Nr. 30. S. 2 Supp, täglich.
— (Therapeutische Monatshefte. 1900, Nr. 3.)
*
Die im chemisch bacteriologischen Institute des Dr. Aufrecht
in Berlin angestellten Versuche über die desinficirende Wirkung einiger
Thonerdej)räparate, und zwar des Liquor Aluminii acetici, d. i. der
essigsauren Thonerde, und des Aluminium acetico-tartaricum — essig¬
weinsaure Thonerde -= A 1 s o 1 haben ergeben, dass letzteres nicht
nur die essigsaure Thonerde, sondern auch die Carbolsäure in der
üblichen Concentration hinsichtlich der antiseptischen Wirkung
wesentlich übertreffeu soll. — (Deutsche Aerztezeitung. 1900, Nr. 4.)
*
Dr. Lindemann (Hamburg) benützt zur localen Heissluft-
behandlung der verschiedenen Gelenksleiden, Rheumatismen,
Neuralgien etc. statt der üblichen mit Gas oder Spiritus geheizten
Apparate einen Kasten, dessen Innenraum durch den elektrischen
Strom bis auf 170° C. erwärmt werden kann. Bei der heute gegebenen
leichten Möglichkeit der Beschaffung einer Stromquelle und der aner¬
kannten Vorzüge der Heissluftbehandlung besitzen diese Apparate
wesentliche Vortheile gegenüber den sonst gebräuchlichen Behandlungs¬
kästen. — (Therapeutische Monatshefte. 1900, Nr. 3.)
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Der Vorstand der laryngologischen Klinik in Wien, Prof. Dr.
Ottokar Chiari, ist der „Wiener klinischen Wochenschrift“ als
ständiger Mitarbeiter beigetreten. Die Red.
*
Ernannt: Prof. Julius Hochenegg in W i e n zum
correspondirenden Mitgliede der „Societe de Chirurgie“ in Bukarest.
— Dr. P o z z i zum Professor der Chirurgie in Reims.
*
Verliehen: Dem Sections-Chef im Ministerium des Innern,
Dr. Emanuel R. K u s y v. D u b r a v, der fürstlich montenegrini¬
sche Danilo-Orden I. CI. — Dem Gerichts- und Gefangenhausarzte
Dr. Samuel Perl in Neu titschein der Titel eines kaiserlichen
Rathes. — Dem Wundarzte Franz Seeliger in Weissen¬
kirch e n a. d. Perschling das goldene Verdienstkreuz.
*
Habilitii’t: Dr. V. Mladejovsky für Balneologie und
Klimatologie an der böhmischen Universität in Prag. — In Mos¬
kau: Dr. Polijewtkow für Kinderkrankheiten, P o 1 j a k o w für
Krankheiten der Athmungsorgane, Berestnew für Bacteriologie.
*
Gestorben: Der Professor der Chirurgie in Bonn, Doctor
Karl v. Mos engeil. — Dr. Sauer, Assistent am pathologischen
Institute in Bonn in Folge einer Blutvergiftung. — Doctor
Skoczynski, Privatdocent für Augenheilkunde in Krakau.
*
In der Sitzung des niederösterreichischen Landes-
Sanitätsrathes am 12. März d. J. wurden folgende Gutachten
erstattet: 1. Ueber das Ansuchen eines Vereines in Wien um die Be¬
willigung zur Errichtung und zum Betriebe eines Wöchnerinnenheims,
2. über die Zweckmässigkeit der Einführung einer zur Bekämpfung
der Schwindsucht dienenden Bildertafel in den Schulen. Schliesslich
wurde wegen der Neuorganisation des k. k. Allgemeinen Kranken¬
hauses in Wien ein Beschluss gefasst, welcher die Anschauungen des
Laudes-Sanitätsi athes in dieser das sanitäre Interesse der Bevölkerung
sehr wesentlich berührenden Frage darlegt.
*
Das C o m i t e des ersten internationalen Con¬
gresses für ärztliche Standesinteressen und ärzt¬
liche Pflichtenlehre vom 23. bis 28. Juli 1900 zu
Paris tlieilt Folgendes mit: Wirkliche Mitglieder des Congresses sind
Aerzte, welche den Beitritt unter Bezahlung des Congressbeitrages von
15 Frcs. an den Schatzmeister Mr. P. INI as son, Boulevard Saint-
Germain 120, Paris, melden. Die Frauen der Congressisten, sowie
Studirende der Medicin können gegen Bezahlung eines Beitrages von
10 Frcs. au den Veranstaltungen des Congresses tlieilnehmen und
geniessen auch die nachstehenden Fahrpreisermässigungeu : Jenen Mit¬
gliedern, welche den Beitrag vor dem 20. Juni bezahlen, gewähren
die französischen Eisenbahnen eine 50%ige, und die Compagnie Trans-
atlantique eine 30%ige Fahrpreisermässigung, giltig vom 20 Juli bis
20. August 1900. Was die Wohnungsfrage anbelangt, so hat sich das
Congresscomite mit folgenden Gesellschaften ins Einvernehmen gesetzt,
welche den Mitgliedern entsprechende Zimmer von 6-50 Frcs, mit
Pension von 15 Frcs., Schl ifstellen von 3 Frcs. pro Tag besorgen:
Voyages Pratiques, Rue de Rome 9; Voyages Modernes, Rue de
l’Echelle 1; Agence Desroches, Rue de Faubourg Montmartre 21;
Voyages Duchemin, Rue de Grammont 20, Paris. Congressprogramme,
Statuten etc. versendet über Anfrage Dr. J. Glover, Rue de Fau¬
bourg Poissoniere 37, Paris.
*
II o f f a’s „Atlas und Grundriss der Verbandlehr e“,
herausgegebt-n im Verlage Lehmann in München, ist in zweiter
Auflage erschienen (Preis M. 7. — ).
*
Von der 3. Auflage des bei Urban & Schwarzenberg
in Wien von Dr. A. Bum herausgegebenen „T herapeutischen
Lexikons“ sind die Lieferungen 7 — 14 (Dyspnoe — Kyphose) er¬
schienen.
*
Das bekannte „Lehrbuch der Arzneimittellehre“ von
Bernatzik und Vogl wurde von Hofrath v. Vogl umgearbeitet
und in dritter Auflage herausgegeben. Die erste Abtheilung des
Werkes ist bereits bei Urban & Schwarzenberg erschienen,
die beiden weiteren Abtheilungen sollen in kürzester Zeit folgen.
*
Die Arsen-Eisenquellen in L e v i c o (Tirol) sind in den Besitz
einer neuen Gesellschaft übergegangen.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien ira er-
weitertenGemeindegebiete. 8. Jahreswoche (vom 18.. Februar
bis 24. Februar 1900). Lebend geboren: ehelich 713, unehelich 359, zusammen
1072, Todt geboren: ehelich 47, unehelich 22, zusammen 69. Gesammtzahl
der Todesfälle 706 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
225 Todesfälle), darunter an Tuberculose 138, Blattern 0, Masern 18,
Scharlach 4, Diphtherie und Croup 11, Pertussis 10, Typhus abdominalis 1,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 1, Neu¬
bildungen 42. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
114 (-j- 5), Masern 309 (-)- 18), Scharlach 44 ( — 17), Typhus abdominalis
2 ( — 3), Typhus exanthematicus 0 (=), Erysipel 43 (-j- 11), Croup und
Diphtherie 50 ( — 5), Pertussis 63 (-(- 4), Dysenterie 0 (=), Cholera 0 (=),
Puerperalfieber 5 (-[- 2), Trachom 1 (-j- 1), Influenza 14 (-[- 11).
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 9. Jahreswoche (vom 25. Februar
bis 3, März 1900). Lebend geboren : ehelich 633, unehelich 322, zusammen
955. Todt geboren: ehelich 42, unehelich 19, zusammen 61. Gesammtzahl
der Todesfälle 667 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
21*1 Todesfälle), darunter an Tuberculose 128, Blattern 0, Masern 9,
Scharlach 4, Diphtherie und Croup 8, Pertussis 4, Typhus abdominalis 0,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 3, Neu¬
bildungen 40. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
106 ( — 8), Masern 297 ( — 12), Scharlach 54 (- {- 10), Typhus abdominalis
2 (=), Typbus exanthematicus 0 (=), Erysipel 16 ( — 27), Croup und
Diphtherie 52 (-{- 2), Pertussis 69 (-f- 6 ■ , Dysenterie 0 (=), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 3 ( — 2), Trachom 0 ( — 1), Influenza 18 (-j- 4).
Freie Stellen.
Districtsarztesstelle im Curorte Tschachwitz, Böhmen. Der
District umfasst fünf Gemeinden mit 16 Ortschaften und einer Bevölkerung
von 2415 Einwohnern. Gehalt 800 Kronen, Reisepauschale 160 Kronen;
freies Quartier mit Stallung und Garten. Bewerber wollen ihre Gesuche mit
den vorgeschriebenen Belegen (Diplomsabschrift, Heimatschein, Wohlver¬
haltungszeugnis, bezirksärztliches Gesundheitszeugniss) thunlichst bald,
längstens aber bis 31. März 1. J, an den Kaaden-Duppauer Bezirks¬
ausschuss in Kaaden richten.
Secundararztesstelle an der niederösterreichischen Landes-
Findelanstalt in Wien, Niederösterreich. Jährlicher Gehalt
600 Kronen, Kostrelutum monatlich 50 Kronen; Anspruch auf eine
Diensteswohnung sammt Beheizung und Beleuchtung. Die Stelle wird auf
die Dauer von zwei Jahren gegen beiderseitige dreimonatlicheKündigung für
den Fall der Auflösung dieses Dienstverhältnisses vor dieser Zeit verliehen.
Bewerber um dieselbe haben ihre mit einer Stempelmarke h 1 Krone
versehenen Gesuche, welchen der Nachweis des erlangten Doctorgrades der
gesammten Heilkunde, dann der Nachweis der österreichischen Staatsbürger¬
schaft, der deutschen Nationalität, sowie der bisherigen Verwendung im
ärztlichen Dienste, endlich ein Curriculum vitae beizuscbliessen ist, bis
längstens 31. März 1900 beim niederösterreichischen Landesausschusse in
Wien, I., Herrengasse 13, thunlichst im Wege persönlicher Vorstellung, zu
überreichen.
Gemeindearztesstelle in Reichenthal (politischer Bezirk Frei¬
stadt), Oberösterreich. Die Sanitätsgemeinde zählt 2440 Einwohner. Die
Entlohnung für die Besorgung des gemeindeärztlichen Dienstes beträgt
880 Kronen. Die Stelle ist sofort zu besetzen.
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
283
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
INHALT:
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 16. März 1900.
Wiener laryngologische Gesellschaft. Sitzung vom 1. März 1900.
Verhandlungen der Wiener dermatologischen Gesellschaft. Sitzung
vom 21. Februar 1900.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in München.
Vom 17.— 22. September 1899. (Fortsetzung.)
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
Sitzung vom 16. Marz 1900.
Vorsitzender: Prof. J. Mauthner.
Schriftführer: Dr. H. Ludwig.
Prof. Weinlechner stellt einen 34jährigen Kaufmann vor, bei
welchem er wegen Papillom der Harnblase den hohen Schnitt
mit gutem Erfolge ausgeführt hat. Der Kranke ist ein Gegenstück zu
dem vom Herrn Assistenten Dr. P e n d 1 in der letzten Sitzung voi-
gestellten, jedoch von älterer und schlimmerer Form. Wein¬
lech n e r’s Patient leidet seit sechs Jahren an Blasenblutungen, welche
in verschieden langen Pausen, namentlich im Monate August, aufgetieten
sind und in der letzten Zeit sich mehrten, so dass Patient sehr an¬
ämisch wurde.
Er wurde am 25. November 1899 an Weinlechner s Ab¬
theilung aufgenommen.
Die Blase war meist ausgedehnt, mit blutigem Harne gefüllt.
Patient litt an häufigem Harndrang, der Urin war innig mit Blut ge¬
mengt und zeigte auch die Erscheinungen heftigen Blasenkatarrhes.
Um den Harn zu entleeren und zu klären, wurde zeitweilig durch den
Katheterismus oder durch den Verweilkatheter mit Bor- oder Alaun¬
lösung die Blase ausgespült. Herr Prof. Lang hat den Kranken
wiederholt vergeblich cystoskopirt, und als endlich die Operation bereits e-
schlossene Sache war, nach plötzlicher Aufklärung des Harnes, ein
Papillom an der linken Blasenwand cystoskopisch gefunden.
Am 4. December 1899 wurde in Chloroformnarkose die Sectio
alta in typischer Weise gemacht. Mit dem Finger wurde das mandel¬
kerngrosse Papillom gefühlt, vorgezogen, und der dünne Stiel nach
Unterbindung abgetragen. Die ganze Blasenschleimhaut fühlte sich
mosaikähnlich, flachhöckerig an, und da Weinlechner diese Er¬
scheinung auf den Katarrh bezog, so hat er die Blasenwunde nur mit
der Haut vernäht, die Wunde offen gelasen, mit Tanninjodoformgaze
austapezirt und öfters Alaunpulver in die Blasenwunde gestreut. Der
Urin wurde durch den Verweilkatheter abgeleitet.
Am 23. December war die Wunde geschlossen und der Kranke
wurde bald darauf geheilt entlassen. Der Urin war völlig klar, und
der Kranke angewiesen, sich täglich zweimal den Katheter einzufiihien.
Weil der Urin wieder theilweise durch die fistulös gewordene Naibe
abging, wurde der Kranke am 12. Februar abermals aufgenommen
und nach Application eines Verweilkatheters am 10. März wiedei
geheilt entlassen.
Solche mit heftigen Blasenblutungen einhergehende Papillome
sind im Ganzen selten. Zu Anfang seiner chirurgischen Laufbahn hat
Weinlechner einen ganz jungen, kräftigen Geistlichen zu R. in
Oberösterreich kennen gelernt und die Diagnose richtig gestellt. Dei
behandelnde Arzt überschickte späterhin das kleine Papillom. Der
Kranke ist in Folge der Blutung zu Grunde gegangen.
Vor mehreren Jahren hat Weinlechner in der hiesigen
Gesellschaft einen Geistlichen als geheilt vorgestellt nach Entfernung
mehrerer Blasenpapillome. Der Blasenkatarrh bestand bei ihm noc i
fort und der Kranke soll später in Linz, ob an Recidiv ist unbekannt,
gestorben sein.
Was nun die Blasennaht nach der Sectio alta anbelangt, so
spielt hiebei die Beschaffenheit des Harnes eine grosse Rolle. Lei
vollkommen normalem Harn und gesunder Blase kann man eine 1 lima-
heilung erwarten.
So hat Weinlechner vor Jahren hier einen 70jährigen
Mann vorgestellt, bei welchem v. D u m r e i c h e r durch den seit¬
lichen Peritonealschnitt lithotomirt hatte. Wegen Recidive machte
Weinlechner den hohen Schnitt, entfernte drei grössere Urat¬
steine. Harn und Blase waren gesund und es trat vollständige Heilung
per primam durch die Naht ein.
Bei katarrhalischer Blase mässigen Grades mag die Blase voll¬
ständig genäht und die Bauchwunde am unteren Ende drainirt weiden,
um dem Harne, im Falle die Naht insufficient würde, freien Abfluss zu
verschaffen.
Hat man es mit heftig afficirter, katarrhalischer Blase zu thun,
und wären mehrere Papillome zu entfernen, so mag, wie in dem
obigen Falle, die Blase mit der Haut vernäht werden, die Bauch¬
wunde mag offen gelassen werden, selbst auf die Gefahr hin, dass, wie
in diesem Falle, eine zeitweise Narbenharnfistel entstehe.
Dr. Kreidl demonstrirt einen nach P a w 1 o w operirten Hund
mit einem sogenannten isolirten kleinen Magen und bespricht im An¬
schlüsse daran die wichtigsten von P a w lo w und seiner Schule an
so operirten Hunden gewonnenen Ergebnisse.
Dr. A. Pilcz hält seinen angekündigten Vortrag : U e ber¬
einige Ergebnisse von Blutdruckmessungen bei
Geisteskranken. (Siehe Originalien dieser Nummer.)
An der Discussion über diesen Vortrag betheiligen sich die
Herren: Dr. Federn, Prof. v. Wagner, Prof. v. Basch und
Dr. T e 1 e k y *)
Wiener laryngologische Gesellschaft.
Sitzung vom 1. März 1900.
Vorsitzender: Prof. O. Cliiari.
Schriftführer: Regimentsarzt Dr. Bielil.
Der Vorsitzende eröffnet die Sitzung, indem er die neugewählten
Mitglieder begrüsst.
Docent Dr. M i c h a e 1 Grossmann hält seinen angekündigten
Vortrag : Ueber den M, cricothyreoideus.
Vorerst demonstrirt er folgende Thierversuche: Bei einem Ka¬
ninchen wurde die Stimme nach Durchschneidung der beiden Nn. laryngei
äup. geprüft. Die Stimme des Thieres wurde nach der Durchschnei-
dung etwas heiser und tiefer. Es trat aber nicht jener Grad von
Stimmhandstörung ein, wie bei totaler Cricothyreoideuslähmung sonst
aufzutreten pflegt, weil hier der N. laryngeus medius noch er¬
halten war.
Bei dem nächstfolgenden Thiere, einem Hunde, war die Demon¬
stration der Stimmänderung nach Lähmung des N. laryng. sup. des-,
halb nicht möglich, weil das Thier zu stark morphinisirt war und aut
schmerzhafte Eingriffe keinen Laut von sich gab. Hingegen konnte
man bei diesem Thiere deutlich sehen, dass die Stimmbänder, welche
vorerst der ganzen Länge nach geschlossen wurden, nach Durch¬
schneidung der Nn. laryngei sup. in ihrem hinteren Abschnitte eine
dreieckige Spalte offen Hessen. _ .
Endlich wurde an einer kleinen Katze gezeigt, dass nach Duic i-
schneidung der Nn. recurrentes der M. cricothyreoideus die Stimm¬
bänder von vorne nach rückwärts extendirt und hochgradig adducirt.
In dem nun folgenden Vortrage wird daran erinnert, dass die
Demonstrationen, sowie die nun anknüpfenden Auseinandersetzungen
durch die vorausgegangene Discussion über Laryngo-Hysterie veran¬
lasst worden sind.
Der Vortragende bedauert, dass es ihm heute wegen der zu
tiefen Narkose des Thieres nicht möglich war, die Störungen der
Stimmbildung in Folge von Cricothyreoideuslähmung zu demonstnren
und gibt nun eine Schilderung seiner diesbezüglichen vieljähngen Be¬
obachtungen bei den verschiedensten Thiergattungen, bei einer giosbUi
Reihe von Hunden, von denen die Mehrzahl viele Monate, einige sogar
länger als ein Jahr am Leben erhalten wurden, glaubten ursprünglich
die Wärter, deren Obhut sie anvertraut waren, die Thiere seien stumm.
Erst im weiteren Verlaufe zeigte es sich, dass sie, wenn ihnen heftiger
Schmerz verursacht oder wenn sie gereizt wurden, denn doch gewisse
Töne hervorzubringen vermochten, die aber so rauh und hennaing
geklungen haben, dass sie kein Mensch als Hundegebell erkannt hatte.
Am 12. März 1893 hatte der Vortragende im k. k. thieraizt-
lichen Institute unter der freundlichen Assistenz des Directors, Herrn
Hofrath Bayer, und des Herrn Prof. Schindelk a einem Pferde
die beiden Cricothyreoidei abgetragen. Am 15. April, am &. um
6 Juni wurde das Thier durch Schmerz, Kitzel und durch Heibm-
führen eines Hengstes gereizt. Es vermochte aber keinen einzigen lauten,
an das Wiehern der Pferde erinnernden Ton hervorzubringon. Eswainui
eine Art Stöhnen und Grunzen, was man zu hören bekam. ie «>'•'-
einstimmende Ansicht aller Anwesenden ging dahin, dass man, sa .«
man nicht das Thier vor sich, kaum errathen würde, dass diese mein
*) Die auf die Discussion bezüglichen Referate sind ^m^heil^gar
nicht, zum Theile verspätet eingelangt.
284
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 12
einem Röcheln ähnlichen Töne oder Geräusche von einem Pferde her- |
rühren.
Man kann dasjenige, was die Thiere ohne M. cricothyreoideus an
Stimmbildung noch zu leisten vermögen, verschiedenartig beschreiben
und auch taxiren. Das Eine muss aber unbedingt zugegeben werden,
dass es sich hier um eine hochgradige Schädigung der Phonation
handelt.
Der Vortragende unterzieht dann einer eingehenden Erörterung,
dass die Spannung des Stimmbandes nur unter gleichzeitiger Adduc¬
tion vor sich gehen kann und betont, dass nach Wegfall dieser Span¬
nung die Stimmritze nicht mehr der ganzen Länge nach geschlossen
wird, dass im hinteren Glottisabschnitte, wie dies am Hunde demon-
strirt wurde, ein dreieckiger Raum offen bleibt.
Der Vortragende weist ferner daraufhin, dass jeder Schluck¬
act von einer Contraction des M. cricothyreoideus
begleitet wird, dass somit iu der Reihe jener Factoren, welche
die Bestimmung haben, für die anstandslose Abwicklung des Schluss¬
actes vorzusorgen und insbesondere zu verhüten, dass die Speisen oder
Flüssigkeiten während des Schluckens in den Kehlkopf gelangen,
diesem Muskel eine bestimmte Rolle zufällt.
Endlich behauptet der Vortragende, dass der M. cricothyreoi¬
deus sich bei jeder Exspiration contrahire und durch
sein Zusammenziehen die Glottis verengere.
Der M. cricothyreoideus ist demnach ein Ex¬
tensor und Adductor des Stimmbandes, in erster
Reihe also ein Phonationsmuskel, weiters ist er ein
Deglutitionsmuskel und endlich ein Exspirations¬
muskel. In seiner letzteren Eigenschaft ist er ein
Antagonist des M. cricoarytaenoideus posticus, mit
welchem er bei der Athmung continuirlich alter-
n i r e n d automatisch wirkt.
Nach der Besprechung der isolir ten Wirkung des M. crico¬
thyreoideus wird der Effect seines Zusammenwirkens
mit den anderen Kehlkopfmuskeln einer Analyse unter¬
zogen.
Zunächst kam der Stimmbandmuskel an die Reihe, und
es wurde vorerst erörtert, wie sich die Verhältnisse gestalten, wenn
dieser Muskel allein, ohne jedwedes antagonistisches Hindernies in
Action tritt. Durch die Contractionen des M. thyreo-arytaenoideus —
und zwar sowohl seines inneren, als auch seines äusseren Abschnittes
— kann sein vorderer Insertionspunkt im Winkel des Schildknorpels
eine Verschiebung nach rückwärts selbstverständlich nicht erleiden.
Durch die Verkürzung des Muskels kann demnach nur sein hinterer
Anheftungspunkt eine Ortsveränderung, und zwar von r ückwärts
nach vorne und von aussen nach innen erfahren. Der Zug, der
den Processus vocalis aus seiner winkeligen Stellung in die gerade
Linie zieht, muss naturgemäss auch eine Adduction zur Folge haben.
Nachdem aber der Stimmbandmuskel im Gegensätze zu allen anderen
Kehlkopfmuskeln seinen Einfluss auf Spannung und Stellung des
Stimmbandes nicht durch ausserhalb desselben gelegene Angriffspunkte
ausübt, sondern in demselben selbst, als sein wesentlichster Bestand¬
teil verlaufend, sich geltend macht, liegt es auf der Hand, dass
durch seine Contractionen nicht nur er selbst, sondern die gesammte
das Stimmband bildende Substanz und auch zum Theile die falschen
Stimmbänder, so weit sie mit Muskelfasern versehen sind, von rück¬
wärts nach vorne zusammengezogen werden. Durch
diese Verkürzung wird das wahre und auch das falsche Stimmband
nicht allein kürzer, sondern auch dicker und plumper,
und was besonders zu betonen ist, ganz erheblich entspannt.
Durch den Wegfall der Spannung wird ihre Motilität erhöht.
Während nun durch den M. cricothyreoideus, wenn er für sich
allein wirkt, das Stimmband von vorne nach rückwärts ge¬
zogen und seiner ganzen Länge nach gedehnt und gespannt
w i r d, sehen wir, dass durch die isolirte Function des Stimmband¬
muskels gerade das Gegentheil, ein Ziehen von rückwärts
nach vorne, eine Verkürzung und demzufolge eine
Entspannung des Stimmbandes erfolgt.
Dieser Antagonismus der beiden Muskeln bei ihrer isolirten
Function wird durch ihre gleichzeitige Wirksamkeit wesent¬
lich geändert.
Wird das Stimmbaud durch den M. cricothyreoideus in der ge¬
schilderten Weise extendirt und addu cirt, dann wird durch die
Contraction des Stimmbandmuskels ein Gegen zug ausgeübt
und durch dieses Zusammenwirken von Zug und
Gegen zug wird der Grad sowohl der Extension als
auch der Adduction wesentlich erhöht. Es werden dann
die beiden Muskel zwar noch immer in entgegengesetzter
Richtung wirken, aber nicht mehr eine antagonistische,
sondern die gleiche Function erfüllen — Extension
und Adduction. Da kann es nun allerdings geschehen, dass bei
ungenügenden Contractionen des Stimmbandmuskels im vorderen
Glottisabschnitte, wo keine anderweitigen Adductoren existiren, die zu
Hilfe eilen könnten, der Verschluss ein mangelhafter bleibt, aber Ex-
eavationen werden dadurch allein niemals auftreten.
Es ist ferner anzunehmen, dass der Stimmbandmuskel, vermöge
seiner innigen organischen Verbindung mit der Gesammtsubstanz des
Stimmbandes, in der Lage ist, einzelne Abschnitte des
S t i m m b a n d e s, je nach den Erfordernissen der Phona¬
tion in eine höhere oder niedrigere Spannung zu
versetzen.
Endlich soll durch diesen Muskel eine Hyper extension
und demzufolge eine Relaxation verhütet werden, was in
Folge der fortgesetzten Dehnung durch den M. cricothyreoideus
schliesslich denn doch eintreten müsste, wenn das Stimmband kein
Muskelstratum enthielte.
Es wird nun die Function des M. cricoarytaenoideus lateralis
analysirt.
Der Zug, der durch die Contractionen dieses Muskels auf den
Processus muscularis des Aryknorpels ausgeübt wird, dreht, wie das
ja allgemein bekannt ist, den Giessbeckenknorpel im Cricoarytaenoideal-
gelenke in der Weise, dass der Processus vocalis gegen die Mittel¬
linie verschoben wird. Dadurch erfährt die vom M. cricothyreoideus
und Stimmbandmuskel gemeinsam bewirkte Adduction eine erhebliche
Steigerung. Obgleich dieser Adductor erst etwa im hinteren Drittel
und auch hier nur auf eiuen bestimmten Punkt der Glottis seinen
Einfluss auszuüben vermag, ist doch fast das gesammte Stimmband,
insbesondere aber der unmittelbar vor und hinter dem Processus
vocalis gelegene Abschnitt gezwungen, seiner adducirenden Kraft zu
folgen, aber nur unter der Voraussetzung, dass es
sich im Zustande straffer Spannung befindet.
Ist das Stimmband durch Versagen des M. cricothyreoideus nicht
gespannt und überdies durch die unbehinderten Contractionen seines
eigenen Muskels sogar in hohem Grade entspannt, wird der M. late¬
ralis seinen adducirenden Einfluss zwar noch immer, ja noch viel
leichter, da das nicht gespannte Stimmband keinen Widerstand leistet,
ausüben; allein beim schlaffen Stimmbande wird nicht viel mehr als
der unmittelbar beeinflusste Punkt, der Processus vocalis, diesem
Muskelzuge folgen. Dieser Punkt wird in Folge des unbehinderten
Zuges des Stimmbandmuskels weit mehr nach vorne liegen als sonst,
und der hinter demselben nach rückwärts gelegene Abschnitt der Rima
glottidis verhältnissmässig grösser sein, als unter normalen Bedin¬
gungen. In dem vor dem Processus vocalis gelegenen Abschnitte der
Glottis wird sich die adducirende Kraft des Stimmbandmuskels, da sie
keinem Widerstande begegnet, mit Erfolg geltend machen und den
Abschluss der Vereinigung werden zwei Punkte bilden, welche durch
die Contractionen der beiden Mm. laterales genähert werden. Der
hinter dem Processus vocalis gelegene, hier etwas vergrösserte Ab¬
schnitt der Glottis aber wird in Form eines gleic h schenk e-
1 i g e n Dreieckes, dessen Spitze die beiden sich be¬
rühr enden Processus vocales und dessen Basis die
Inter a rytae noidealfalte bildet, offen bleiben. Dieses
Offenbleiben eines dreieckigen Raumes in dem h in¬
te ren Abschnitte der Stimmritze ist also ein charak¬
teristisches Zeichen für das Versagen der Function
des M. cricothyreoideus und keineswegs, wie bisher
allgemein angenommen wurde, für eine Lähmung
des M. cricoarytaenoideus lateralis.
Der Vortragende zieht nun den Vergleich zwischen den Folge¬
zuständen einer experimentellen Lähmung des M. cricothyreoideus und
jener Erscheinungen der Larynx-Hysterie, bei welcher er eine functio-
nelle Störung desselben Muskels augenommen hat, und wiederholt,
dass nach seinem Dafürhalten die Symptome hier wie dort analog sind,
und dass man auf Grund dieser Analogie auch für das erwähnte
klinische Bild keine andere Ursache, als eine functionelle Störung des
M. cricothyreoideus anführen kann.
Es wurde noch auf einzelne Unterschiede zwischen der hysteri¬
schen und organischen Lähmung der Phonationsstörung bei verschie¬
denen Thierarten nach Cricothyreoideuslähmung etc. hingewiesen.
Weiters wird auseinandergesetzt, weshalb der Vortragende die
von anderer Seite aufgestellte Behauptung, dass es sich in den in
Rede stehenden Fällen von Larynx-Hysterie um Krampf einzelner Ab¬
schnitte von Kehlkopfmuskeln handle, für unannehmbar halte.
Zum Schlüsse wird vom Vortragenden darauf hingewiesen, dass
mit der functionelleu Bedeutung des M. cricothyreoideus eine Reihe
der wichtigsten Fragen der Physiologie und Pathologie des Kehlkopfes
Zusammenhängen. Er will bei dieser Gelegenheit nur die Frage der
Cadaverstellung der Stimmbänder nach Recurrenslähmung zur Sprache
bringen, die er unter Würdigung des grossen Einflusses, den der er¬
wähnte Muskel auf die Stimmbandstelluug ausübt, bespricht.
Die Beziehung zwischen dem M. cricothyreoideus und der Lehre
von der Doppelinnervation des Kehlkopfes will er bei der nächsten
Gelegenheit erörtern (Autoreferat).
(Der Vortrag erscheint in der „Monatsschrift für Ohrenheilkunde
sowie für Kehlkopf-, Nasen-Rachenkrankheiten“.)
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
285
Verhandlungen der Wiener dermatologischen Gesellschaft
Sitzung vom 21. Februar 1900.
Vorsitzender : Kaposi.
Schriftführer: Kreibich.
Nobl demonstrirt aus Grün fei d’s Abtheilung:
1. Ein lBjähriges Mädchen mit einem eigentliümlichen
foliationsprocess der Zungenoberfläche, der vor 1
einem Jahre an der Zungenspitze begann, seither in fast ununter¬
brochenen Nachschüben die vordere Zungenhälfte ergriff und vielfach
angestellten Heilversuchen mit Mundwässern, wiederholten Aetzungen
mit Lapis, Chromsäure, sowie auch einer Abschabung mit dem scharfen
Löffel trotzte. Am Zungenrücken, an der Zungenspitze, zum Theil
auch an der unteren Fläche sieht man verschieden grosse, eiuzeln
stehende und confluirende, weisslichgelbe Ringe mit lebhaft rothem
Centrum und scharfem Rande. Aber auch in den zwischen den er¬
krankten Herden liegenden Stellen ist die Zungenoberfläche nicht in¬
tact, sondern durch Schwund der Epithelkuppen der filiformen Pa¬
pillen glänzend saturirt roth. Im abgeschabten Belage der Ringe sind
neben fettig degenerirten Epithelzelleu massenhaft verschiedenste Mikro¬
organismen, die keinen Anhaltspunkt für einen mykotischen Ursprung
der Läsion geben können. Es handelt sich vielmehr um die unter ver¬
schiedensten Namen beschriebene Glossitis superficialis exfoliativa, auch
Keratosis annularis und Lingua geographica und anders genannte
Affection.
Neumann weist auf die differentialdiagnostische Wichtigkeit
dieser Fälle hin.
Kaposi hebt die Wichtigkeit dieser viel erörterten Frage
hervor. Die von Nobl gezeigte Veränderung finde sich, deutlich ver¬
schieden von Syphilis, zunächst häufig bei fast allen Infectionskrank-
heiten, indem das Epithel durch acute Hyperämie und Exsudation ab¬
gehoben, getrübt und abgestossen wird. Anatomisch in gleicher Weise
ist der Process auch in allen chronischen Fällen auf das oberflächliche
Epithel beschränkt, weshalb der Ausdruck „Glossitis“ gemieden werden
soilte. Die chronisch recidivirende Form ist ätiologisch nicht genau
erkannt, doch kommen namentlich anämische, dyspeptische und bei
Frauen dysmennorrhoische Zustände als Prädisposition in Betracht.
Ihre Hauptsymptome bilden der Exfoliationsprocess und die namentlich
beim Genüsse warmer Speisen und beim Sprechen vorhandenen
grossen Schmerzen, die den Patienten oft zur Verzweiflung bringen.
Daher bezeichnete er die Erkrankung als Glossodynia exfolia¬
tiva und fand dieselbe gar nicht selten, zu zwei Dritteln bei Frauen.
Symptomatisch setzten Touchirungen mit concentrirter Lapislösung die
Schmerzhaftigkeit sehr herab; aus Causalindication kommen diätetische
Medication, Brunnencuren, Alkalien, Eisen- oder Bittermittel und andere
in Betracht.
Ehrmann stellt vor einen Fall von syphilitischem
Initial affect am rechten Nasenflügel. Die Diagnose
stützt sich auf die beiderseitigen, indolenten Drüsenschwellungen und
sind acut entzündliche Erscheinungen, wie Furunkel und Erysipel
leicht auszuschliessen. Die Haut der rechten Nasolabialfurche ist braun-
roth infiltrirt und schuppend als Ausdruck einer Lymphangoitis
capillaris. Der Infectionsmodus ist unbekannt.
Neumann führt vier Fälle von Sklerose au der Nase an, darunter
einen, wo sich die eine Sklerose an der Nasenspitze, eine zweite an
der Oberlippe, die dritte am Kinne befand.
Lang sah eine solche bei einem 10jährigen Mädchen.
E h r m a n n bei einer Frau, die sich im Lavoir eines Luetischen
gewaschen.
Schiff wirft die Frage auf, ob man nicht ähnlich wie bei
Lupus und Lepra auch hier an die Möglichkeit einer Infection durch
die verunreinigten Hände und Finger denken könne.
Kaposi betont dem gegenüber, dass man diesbezüglich ana¬
mnestische Angaben nur mit der grössten Vorsicht aufnehmen und
nicht, wie Beispiele in L e 1 o i r’s Buch über Lupus beweisen, passende
Angaben gekünstelt venverthen dürfe.
Neumann kennt keine sichere Beobachtung von director
Lupusinfection, während dies für Lepra nach den Ergebnissen der
Berliner Conferenz doch feststehe.
Lang schliesst sich bezüglich der Vorsicht bei Benützung
anamnestischer Beweise Kaposi an, weist aber auf die sicheren Be¬
obachtungen J a d a s s o h n’s und Doutrelepon t’s über die Infec-
tiosität von Lupus hin.
E h r m a n n demonstrirt ferner die Recidive eines L u p u s t u-
m i d u s nasi, der vor zwei Jahren mit 33%iger Resorcinpaste zur Heilung
gebracht worden, und erwähnt einen zweiten Fall, bei dem diese Ap¬
plication durch Auskratzung und nochmalige Anwendung der Paste
zur definitiven Heilung eines Lupus führte.
Neumann demonstrirt :
1. Den bereits früher vorgestellten Fall von Gumma cuta-
n e u m, das unter dem Bilde einer Sykosis verlief und nun unter einer
Inunctionscur und Localapplication mit Empl. cinereum vollständig
schwand.
2. Einen 40jährigen Kranken mit universell ausgebreitetem F i-
broma molluscum.
3. Einen 54jährigen Bauer mit einem ausgedehnten Lupus
der rechten Wange, der in seinem oberen Autheil in einen
flachen Epithelialkrebs übergegangen ist.
4. Eine 22jährige Kranke mit über dem ganzen Körper ausge¬
breiteten, grossen gummösen Geschwüren.
5. Eine 32jährige Magd mit aphthösen Geschwüren am
Genitale und einem toxischen Exanthem an der ganzen Körper¬
decke. An der Commissura posterior findet sich flachhandgrosses,
schmutziggrau belegtes Geschwür mit scharfen, nicht unterminirten
Rändern. Am Urethralwulst mehrere stecknadelkopfgross, weisslich-
belegte Substanzverluste. Urin klar. Ueber der Brust, den Schultern
und in der Lumbalgegend, spärlich an den Extremitäten finden sich
hanfkorn- bis erbsengrosse, von rothem Hof umgebene Knötchen, die
in der Mitte meist eine Pustel tragen.
Die Erkrankung trat einige Tage vor dem Spitalseintritte unter
heftigen Fiebererscheinungen auf.
Lang stellt einen 29jährigen Mann vor, bei dem er wegen
Lupus die rechte Ohrmuschel und die angrenzende Wangenhaut ent¬
fernte und den Defect durch einen entsprechend geformten Lappen
aus der seitlichen Halsgegend plastisch ersetzte, so dass der Wieder¬
ersatz der Ohrmuschel kosmetisch erreicht ist.
Lang demonstrirt ferner eine 23jährige Patientin, bei der nach
Exstirpation eines Lupus der linken Nasenhälfte der Defect durch
ideal eingeheilten, stiellosen Lappen gedeckt ist.
Spitzer demonstrirt:
1. Einen Mann mit clavusähnlichem Palmarsyphilid. Infection
November 1899.
2. Einen Patienten mit ausgebreitetem papulösem Exanthem am
Stamme und der Kopfhaut. Der Patient zeigt am Abdomen eine local
umschriebene, kopfgrosse, tumorartige Fettanhäufung.
3. Einen 18jährigen Burschen, bei dem, ausgehend von einer
exulcerirten Papelgruppe am Scrotum, im Penoscrotal winkel ein Ab¬
scess entstand, der im Verlaufe eines deutlich tastbaren, entzündeten
Lymphgefässes auftrat.
Nobl demonstrirt einen Fall von Impetigo contagiosa
circinnata im Gesichte; obwohl die klinischen Charaktere genügen,
um diese Affection dem in der Configuration ähnlichen Herpes ton¬
surans vesiculosus gegenüber zu differenziren, hat auch die vorge¬
nommene Untersuchung auf Pilze ein negatives Resultat ergeben.
Kreibich demonstrirt einen Patienten mit einem seit acht
Wochen bestehenden Substanzverlust der Oberlippe auf indurirter
Basis, ohne regionär vergrösserte Lymphdrüsen oder Exanthem. Daher
sieht es Kreibich trotz der Induration als traumatisches Ulcus an.
Kaposi und Neumann sahen ähnliche, jahrelang persistirende
Geschwüre ohne Drüsenschwellung, die oft jeder 1 herapie hartnäckig
trotzen.
Freund sah solche Geschwüre zugleich mit Menstruations¬
störungen bei einer Frau im Frühjahr und Herbst recidiviren; auch
die 13jährige Tochter dieser Frau leidet seit der Pubertät an einer
ähnlichen Affection.
Kaposi demonstrirt :
1 . Einen Fall von Erythema p a p u 1 a t u m in Form von
disseminirten, linsengrossen, lebhaft braunrothcn, im Centrum sich
conisch erhebenden, auf Druck vollständig abblassenden Efflorescenzen
um die Augen, die Nase und am Kinn.
2. Einen über das ganze Gesicht ausgebreiteten Lupus ery¬
thematodes bei einem 36jährigen Manne. Derselbe, anscheinend
diffus, zeigt bei näherem Zusehen schmale Zwischenstreifen normaler
Haut und so deutlich discoiden Charakter.
3. Einen 21jälirigen Gymnasiasten mit einem seit dem vierten
Lebensjahre bestehenden, bald an der einen, bald an der anderen
Stelle auftretenden, stark juckenden, vergeblich behandelten Ausschlag.
Jetzt finden sich an der Stirne, der Streckseite der Hände und 1 order¬
arme, vereinzelt auch an der behaarten Kopfhaut, dem Stamme und
den unteren Extremitäten linsen- bis hellergrosse Epitheldefecte ähn¬
lich den Residuen flacher Bläschen neben kleineren, lebhaft rotlien,
zumeist excoriirten Knötchen. Dazwischen auch frische und ältere
Kratzeffecte, leichte Pigmentffecke und kleine Narben.
Kaposi hält die Affection für die von Hutchinson 1888
beschriebene und 1892 in Wien am Dermatologen- Congresse besprochene
I Form von Prurigo aestivalis oder die ähnlichen auch als
Hydroa aestivalis vesiculosa und Acne urticata
necrotisans beschriebenen Erkrankungen, die von M a g n u s
Möller in seiner jüngst erschienenen Monographie über den „Ein¬
fluss des Lichtes auf die Haut in gesundem und krankem Zu-
I stände“, zusammenfassend behandelt werden.
286
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 1$
Auffallend an diesem Falle ist, dass die Eruptionen auch an
Körperstellen auftreten, die durch die Kleidung gedeckt sind, und
ebenso im Winter und bei Bettruhe und Aufenthalt im Zimmer.
4. Einen Lichen ruber planus, der bei einem kräftigen,
28jährigen Mann in vier Wochen fast den ganzen Körper ergriff und
nun das typische Aussehen eines ausgedehnten Lichen darbietet.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
in München.
Vom 17. bis 22. September 1899.
(Fortsetzung.)
Section für Chirurgie.
Referent : Wohlgemuth (Berlin).
II. Sitzungstag, Dienstag den 19. September, Vormittags.
Vorsitzender : Se. königl. Hoheit Prinz Dr. Ludwig Ferdinand von
Bayern.
IX. Kümmell (Hamburg) : U e b e r circulare Naht der
G e f ä s s e. (Fortsetzung.)
Vortragender demonstrirt an herumgereichten Präparaten
diese Naht.
Nach Abnahme der Klemmen verlor das Bein sofort seine livide
Verfärbung und zeigte sein normales Aussehen. Aus den Stichcanälen
der Nahtstelle fand eine leichte Blutung statt, die durch Anlegung
einiger oberflächlicher Nähte leicht beseitigt wurde. Durch Lappenver¬
schiebung gelang es, die Wunde vollständig durch Naht zu schliessen.
Nach 10 Tagen Entfernung der Nähte. Die Wunde war p. pr. geheilt,
eine Circulationsstörung war nicht eingetreten. Das bis dahin in der
Hüfte noch flectirte Bein wurde gestreckt, Patientin 24 Tage nach der
Operation geheilt entlassen.
Die Möglichkeit der circularen erfolgreichen Naht der Arterie
sowohl wie der Vene beim Menschen ist somit bewiesen. Sie gelang
im ersten Falle mit, im zweiten Falle ohne Invagination nach Re¬
section grösserer Stücke. (Selbstbericht.)
X. Rosenberger ( W ürzburg) : Ueber die Behandlung
von gleichzeitigen complicirten Fracturen des
Ober- und Unterschenkels derselben Seite.
Die Behandlung einer Fractur am Ober- und Unterschenkel der¬
selben Seite ist immer eine schwere Aufgabe für den Chirurgen, wenn
die Fracturen aber durch eine rohe directe Gewalt entstanden und
complicirt sind, so muss die Frage erwogen werden, ob überhaupt con-
servativ verfahren werden soll oder nicht. Einen solchen Fall hat
Rosenberger zu behandeln Gelegenheit gehabt. Es handelte sich
um einen gesunden kräftigen Landmann im Alter von 38 Jahren, der
im Begriffe war, einen mit Sand schwer beladenen Wagen einen hohen
Berg hinunterzufahren, als plötzlich die Hemmkette * riss und er zu
Boden fiel, so dass er vom linken Hinterrad am rechten Ober- und
Unterschenkel überfahren wurde. Der sofort herbeigerufene Arzt con-
statirte sowohl am Ober- als am Unterschenkel eine Durchstechungs-
fractur, vermochte jedoch nicht das vorstehende obere Bruchende der
Tibia zurückzubringen. Als Rosenberger den Patienten am näch¬
sten Morgen sah, war das ganze Bein bis auf den Unterleib sehr stark
angeschwollen und der Oberschenkel fühlte sich ganz kalt an. Aus
der 2cm langen Stichwunde über den Gefässen an der Grenze zwischen
oberem und mittlerem Drittel entleerte sich sehr viel flüssiges dunkles
Blut, das mit Luftblasen vermischt war. Mit Rücksicht auf die Schwere
der Gewalt und die Kälte des Oberschenkels, an dem die Wunde den
Eindruck einer Verletzung an der Leiche machte, glaubte Rosen¬
berger von einem conservativen Versuche absehen zu sollen; der
Umstand jedoch, dass sich der Unterschenkel, aus dem das obere
Bruchende 8 cm lang wie durch ein Knopfloch herausstand, warm
anfühlte, veranlasste ihn, conservativ zu verfahren, selbst auf die
Gefahr hin, dass am Oberschenkel grössere Hautpartien gangränös
würden.
Die Hauptfrage war nun die, wie die Fracturen durch einen Ver¬
band fixirt werden sollten. Derselbe sollte doch so liegen, dass die
Wunden, an denen wegen der Verunreinigung mit Strassenstaub und
wegen der zu befürchtenden Gangrän ein häufiger Verbandwechsel zu
erwarten war, verbunden werden konnten, ohne dass die Fixation un¬
terbrochen werden musste. Ein Streckverband konnte diese Bedingung
nicht erfüllen, ebensowenig schien ein Gypsverband, der bei dem star¬
ken Manne und der bedeutenden Schwellung, die sich bis auf den
Unterleib erstreckte, sehr schwer anzulegen gewesen wäre, geeignet.
Bei solchen Erwägungen wählte Rosenberger eine lange Aussen-
schiene, die von den falschen Rippen bis über den äusseren Fussrand
reichte.
Die Heilung erfolgte bei diesem Verbände mit 3 cm Verkürzung
innerhalb der gewöhnlichen Zeit und Rosenberger ist der An¬
schauung, dass er dieses gute Resultat zum grössten Theile der Art
der Fixation, das heisst der Aussenschiene, die 19 Tage liegen blieb
und das Verbinden der Fracturen gestattete, ohne dass die Fixation
unterbrochen werden musste, zuzuschreiben habe.
XL Reiner (Wien) : Ueber eine Methode zum Stu¬
dium des Knochens tructui.
Redner führt aus, dass die Röntgographie der Knochen das, was
man auf den Wolf f’schen Fournirschnitten sich erst aus vielen Schnitten
combiniren musste, auf einem Bilde zur Darstellung bringt, dem aller¬
dings ein wichtiger Factor,1 die Körperlichkeit fehlt. Um dies zu er¬
setzen, hat er versucht, die Röntgographie mit der Stereoskopie zu
verbinden und auf den (nun demonstrirten) Photogrammen könne man
neben den klaren Structurverhältnissen auch die Perspective schön er-,
kennen.
Discussion: Schulthes (Zürich) bemerkt sehr richtig,
dass die Röntgen-Bilder nicht auf dieselbe Weise entstehen wie die
Stereoskop-Bilder, die bekanntlich von zwei verschiedenen Gesichts¬
winkeln aus aufgenommen werden, und dass damit der Werth dieser
Perspective illusorisch ist.
XII. Reiner (Wien) : Ueber Beckenveränderungen
nach der blutigen Operation der congenitalenHüft-
Verrenkung.
Vortragender zeigt die Contourenzeichnungen von drei Becken,
deren Träger, Induviduen von L 4 ’/* — 16 Jahren, mit einseitiger Hüft¬
gelenksluxation behaftet waren. Diese Becken, deren genaue Zeichnung
nach Röntgen-Bildern angefertigt wurde, sind sämmtlich asymmetrisch
schräg verengte, und zwar zweimal auf der kranken Seite im Schräg-
und Querdurchmesser verändert, einmal umgekehrt auf der gesunden
Seite und viel hochgradiger als die beiden anderen. Diese beiden
waren nicht operirte, der eine ein blutig operirter Fall. Den Grund
hiefür glaubt Reiner in der Aushöhlung des Pfannenbodens, der
eine Verletzung der Epiphysenfurchen involvirt, suchen zu müssen,
wodurch dann auf dieser Seite eine Atrophie entsteht. Diese Anomalien
würden in späteren Jahren beim Partus sich unter Umständen schwer
rächen.
Discussion: Lorenz (Wien). Er glaubt, dass schon wegen
dieser unter Umständen sehr traurigen Nacbspielo die unblutige Methode
der Hüftgelenksreposition über die blutige siegen müsse. Der Pfannen¬
boden müsse unter allen Umständen als eine sacrosancte Gegend be¬
trachtet werden.
*
Nachmittagssitzung.
Vorsitzender: v. Esmarch (Kiel).
XIII. Schmidt (Heidelberg) : Ueber die operative Be¬
handlung der Myelocele spinalis.
Die bisher geübten Operationsmethoden bei Myelocele spinalis
(Punction, oder Punction mit folgender Injection von Jodtinctur, oder
die Exstirpation des Sackes nach Auslösuug der eingewachsenen Ner¬
venbahnen) sind in ihrem Erfolge unsicher und die Exstirpation be¬
sonders ergibt eine grosse Mortalität, da der kindliche Duralsack ausser¬
ordentlich leicht auf eine auch noch so geringe Infection mit einer
ascendirenden Meningitis antwortet oder leicht eine Fistelbildung zurück¬
bleibt, welche zu eiuer secundären Infection führen kann. Schmidt
macht deshalb den Vorschlag, den Sack zu entleeren, ihn aber als
solchen zu erhalten und zum Verschluss der Knochenlücke zu ver-
werthen. Das Verfahren ist folgendes: Bauchlage mit tief liegendem
Kopfe. Verticaler Längsschnitt durch die Haut über die ganze Länge
der Geschwulst; sorgfältige Ablösung der Haut von dem uneröffneten,
noch gefüllten Sack bis zur Bruchpforte. Punction des Sackes mit
dicker Pravaz-Nadel am unteren Pole. Während der Sack langsam zu¬
sammenfällt, wird auf seine Wölbung eine Sonde mit der Längsachse
flach eingedrückt und die sich berührenden Aussenflächen des Sackes
werden mit einer fortlaufenden Naht in mehreren über einander liegen¬
den Etagen vernäht. So werden die Nervenbündel gegen den Canal
geschoben, der Sack in sich eingerollt und sein Involut bildet einen
festen organischen Tampon in dem Defect des Wirbelbogens. Die
letzten Fadenenden wurden durch den meist scharf ausgebildeten Fa-
scienrand der Knochenlücke gezogen und verknüpft. In einem Falle
wurde versucht, den Proc. spinosus des nächst tieferen Wirbels an
seiner Basis zu infrangiren und nach aufwärts zu schlagen, um die
Deckung des Defectes zu verstärken.
Das Verfahren wurde in drei Fällen, deren Einzelheiten wieder¬
gegeben wurden, mit vollem Erfolge angewendet und geniesst vor den
bisher geübten Methoden den Vortheil der Einfachheit, relativen Unge¬
fährlichkeit und Dauerwirkung.
XIV. Dr. Rieding er (Würzburg): Die Varität im
Schulter gelenk.
Der Vortragende demonstrirt ein Präparat, welches einen Humerus
varus, die Analogie mit der Coxa vara an der Schulter darstellt. Die
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Deformität entstand in den Wachstbumsjahren und war combinirt mit
einer im Gefolge einer Condylenfractur aufgetretenen Ankylose des
Ellbogengelenkes. Der Vorderarm steht in rechtwinkeliger Beuge¬
stellung und in mittlerer Pronationsstellung. Die Deformität kam zu
Stande durch Abknickung in der Epiphysenliuie am oberen Abschnitte
des Humerus, und zwar ist es der Humerusschaft, welcher eine Ab¬
knickung erfahren hat. Die Varusstellung ist deutlich ausgeprägt durch
Strecksteilung, Einwärtsrotation und Adduction.
Weiterhin wird ein Präparat demonstrirt, an dem sich bei be¬
stehender Arthritis deformans die Gelenkfläche des Humeruskopfes mehr
horizontal gestellt hat. Dasselbe dient als Beispiel für die Valgus-
stellung.
Schliesslich erwähnt der Vortragende einen Fall von Wachstliums-
und Bewegungsstörungen im Schultergelenk während der Pubertätsjahre,
der die Vermuthung nahe legt, dass es sich um einen Humerus varus
gehandelt hat.
Discussion: Joachimsthal (Berlin) hält das demonstrirte
Präparat für noch nicht ganz spruchreif. Sollte die Durchsägung, re¬
spective Durchleuchtung des oberen Humerusendes keine Andeutung
einer frühren Fractur ergeben, so lässt sich vermuthen, dass es sich
um eine — jedenfalls von Wachsthumsvorgängen im Sinne des Vor¬
tragenden unabhängige — functioneile Störung im Anschluss an
die Veränderungen im Ellbogengelenk handelt. Es würde sich damit
am Humerus ein Analogon für die Veränderungen des Schenkelhals¬
winkels ergeben, wie sie Joachimsthal im Anschluss an fehler¬
haft geheilte Schenkelscbaftfracturen beschrieben hat, und wie sie von
Albert u. A. bei Knieverkrümmungen eonstatirt worden sind.
Rieding er (Würzburg) bemerkt, dass diese Einwendungen
dem Werth seines Präparates keinen Eintrag thun.
XV. Prof. R i e d i n g e r (Würzburg) : Z u r Darmchirurgi e.
Der Vortragende spricht über die Störungen, die in Folge In¬
carceration am Darm auftreten. In vielen Fällen wird der Daim be-
bereits bei der Operation als gangränös befunden; in anderen perforiit
derselbe nach der Reposition in die Bauchhöhle, und zwar manchmal
verhältnissmässig spät, nach acht oder mehr Tagen. Es ist nicht leicht,
zu bestimmen, ob sich der länger eingeklemmte Darm wieder vollkommen
erholen kann oder nicht. Das Schicksal der Patienten, bei denen die
Perforation in die freie Bauchhöhle erfolgt, ist in der Regel rasch be¬
siegelt. Der diffusen Peritonitis gegenüber sind wir ziemlich machtlos.
Doch kann sich der Vorgang auch günstiger gestalten. Es bildet sich
eine mehr oder weniger circumscripte Peritonitis. Einen solchen Fall
hat der Redner operirt. Die Oeffnung im Darm lag aber nicht an
der äusseren Wunde, sondern in einer Dünndarmschlinge, welche in
einen grossen Abscess im kleinen Becken mündete. Nach Resection
des mit seiner Umgebung allseitig intim verwachsenen Darmes in
grösserer Ausdehnung und nach Reinigung der Abscesshöhle durch
Austupfen mit Jodoformgaze wurde dieselbe ausgiebig drainirt. Es er¬
folgte glatte Heilung.
Nach einigen Bemerkungen über die Behandlung der eiterigen
Peritonitis demonstrirt der Vortragende eine Modification der circularen
Darmnaht. Zuerst wird eine oder auch mehrere Knopfnähte am
mesenterialen Umfang des Darmes von innen aus gelegt. Man durch¬
sticht alle Lagen, und zwar nicht zu nahe am Wundrand, damit die
Berührungfläche der Serosa ausgiebig genug wird, dann macht man
gegenüber dieser Stelle am zu- und abführenden Darmstück eine
Längsincision. Hierauf werden die dadurch entstehenden beiden obeien
Zipfel nach oben geschlagen und am äussersten Punkte mit einer
Sutur versehen.
Nun' näht man bis zur Mitte weiter. Ebenso verfährt man an
den beiden unteren Zipfeln und näht nach oben bis zur Mitte. Die
Längswunde, die nun restirt, wird nach dem Lembertschen Princip
genäht. Da, wo die Wunden im rechten Winkel aufeinanderstossen,
muss besonders exact genäht werden. Diese Modification ist leicht und
rasch auszuführen und schützt auch die Schleimhautwunde. Sind die
Darmlumina nicht gleich, so kann mit der Längincision eine Keilex-
cision verbunden werden.
XVI. Hofmeister (Tübingen): Ueber eine unge¬
wöhnliche Erscheinungsform der Blinddarmakti-
nomykose.
Bei zwei Männern im Alter von 47 und 28 Jahren hat Vor¬
tragender grosse Ileocöcaltumoren, beide Male mittelst Resection der
Ileocöcalpartie und eines mit dem Tumor fest verwachsenen Stückes
des Colon transversum entfernt. Die Geschwülste, welche sich unter
mässigen subjectiven Beschwerden und ohne wesentliche Störung der
Darmthätigkeit im Laufe einiger Monate entwickelt hatten, sassen dei
Vorderfläche des Cöcurn fest auf. In ihrem Inneren enthielten sie den
Appendix vermiformis, dessen Schleimhaut intact erschien. Consistenz
und Schnittfläche der Tumoren erinnerte an ein derbes Fibrosarkom,
dagegen ergab die mikroskopische Untersuchung eine rein entzündliche
Bindegewebshyperplasie, als deren Ursache bei wiederholter genauer
Untersuchung in Serienschnitten durch die ganze Dicke der 1 umoren,
spärliche Aktinomycesdrusen gefunden wurden. Das Ungewöhnliche
seiner Fälle sieht Vortragender in der Bildung circumscripter, mit der
Umgebung relativ wenig verwachsener (in einem der beiden 'Tumoren
sogar verschieblichen) Tumoren ohne Betheiligung der Bauchdecken im
Gegensatz zu der bei der Aktinomykose sonst regelmässig gefundenen
diffusen, schwer abgrenzbaren Infiltration, ein seltenes Vorkommniss,
das jedoch für die Diagnostik der Ileocöcaltumoren nicht ohne prak¬
tische Bedeutung ist.
XVII. Lauenstein (Hamburg) : Eine Complication
nach der operativen Behandlung der Appendicitis
retrocoecalis.
Lauenstein hat nach Exstirpation eines retrocöcalen Tumors
bedingt durch chronische Entzündung des Wurmfortsatzes nach 4, re¬
spective 20 Tagen umschiiebene Nekrose der Cöcalwand auftreten
sehen, ausserdem partielle Thrombose im rechten Saphenagebiet und
davon abhängig hämorrhagischen Lungeninfaret. Er glaubt, dass an
dieser circumscripten Gangrän nicht die Nähte schuld sind, sondern
er nimmt eine Schädigung der Ernährung der Cöcalwand durch Ab¬
lösung des Cöcurn, respective als Folge der Durchtrennung des Meso-
coecum laterale als Ursache an und räth, in ähnlichen Fällen den
Wurmfortsatz möglichst isolirt zu entfernen ohne Mitnahme von zu
viel Gewebe und, statt die Bauchwunde vollständig primär zu schliessen,
einen Gazestreifen auf das Cöcurn zu führen.
XVIII. v. Eiseisberg ((Königsberg): Zur Radicalopera-
tion des Volvulus und der Invagination durch die
Resection.
Während der Chirurg seit Jahren der Operation der incarcerirten
Hernie die Radicaloperation zur Vermeidung des Recidives folgen lässt,
ist dies bei der Operation des Volvulus und der Invagination noch
nicht allgemein gebräuchlich. Der Operateur ist zufrieden, wenn er
beim Volvulus detorquiren, bei der Invagination desinvaginiren und
dadurch dem Patienten helfen kann.
Dass es nach dieser Operation zur Recidive kommen kann, be¬
weisen zahlreiche Beobachtungen (H. Braun, Roux u. A.). Auch
die Anamnese des zweiten seiner Fälle spricht in dieser Richtung.
In der Königsberger chirurgischen Klinik wurden in den letzten
drei Jahren sechs Fälle von Volvulus der Flexura sigmoidea, neun
Fälle von Invagination operirt, von welchen die von Volvulus genauer
betrachtet werden sollen.
Viermal war keine Ernährungsstörung der Flexur vorhanden.
Es wurde detorquirt, alle vier Patienten konnten die Klinik geheilt
verlassen.
Zweimal war die Flexur noch weniger gangränös, das eine Mal
wurden die Sehnürfurchen übernäht, das andere Mal die Flexur in toto
resecirt. Beide Fälle endeten letal.
Besonderes Interesse verdient das Schicksal der vier Patienten
der ersten Gruppe. In drei dieser vier Fälle konnte eine hochgradige
Annäherung der beiden Fusspunkte der Flexur vorgefunden werden.
Obwohl alle vier Patienten nach der Detorsion die Klinik geheilt ver-
liessen, zeigte die weitere Beobachtung, dass dreimal die Heilung nicht
von Dauer war.
Einmal konnte über das weitere Schicksal nichts erfahren
werden.
Einmal traten im Laufe des folgenden Jahres häufige Antalle
von Kolik ein.
Einmal starb der Patient nach einem Jahre ausserhalb dei
Klinik an Ileus. # .
Einmal trat nach Jahresfrist ein Recidiv des Volvulus aut,
dessentwegen die Resection der ganzen Flexur vorgenommen werden
musste. (Das Präparat wird demonstrirt.)
Aus diesen Beobachtungen folgt wohl, dass die
Retorsion nicht genügt, sondern von einer Radical-
operation gefolgt sein muss. _
Als solche kommen in Betracht: 1. die Colopexie, 2. die Re¬
section. . . , , I .
Die Colopexie ist entschieden bei weitem der leichtere von
beiden Eingriffen, doch liegen nicht genug Erfahrungen vor, ob sie
wirklich Recidive verhütet, auch ist sie nicht nur bei gangränösem,
sondern auch bei stark geblähtem Darme conti aindiciit.
Die Resection ist wohl viel eingreifender, doch bei der Gan¬
grän das einzig zulässige Verfahren; nach erfolgter Detorsion kommt
T) AnftirArlni» antAi'f nriPl*
Mittel zur Vermeidung eines Recidives in Betracht.
Dass die früher mit Recht betonte Gefahr heutzutage nicht mein
so hoch anzuschlagen ist, beweisen wohl neue Resultate von Resection
wegen Invagination. Unter neun von ihm mittelst Totali eseetion R
handelten Fällen von Invagination sind nur zwei gestorben und diese,
weil das eine Mal er, das andere Mal der Patient sich zu spät zur
Operation entschloss. Gerade bei den geheilten Fällen handelte es sich
um Resection von ganz besonders ausgedehnten Darmpartien, was an
einigen Präparaten erläutert wird. Nur einmal gelang die Desinvagination.
288
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
es wurde jedoch in diesem Falle, da die Anamnese wiederholte Kolik¬
anfälle ergeben hatte, sofort die Radicaloperation durch Resection des
Cöcums ausgeführt.
Die einfache Desinvagination der Invagination ist der Detorsion
des Volvulus vergleichbar, beide Eingriffe sind dort, wo die Darm¬
wandung gut ernährt ist, ein vortrefflicher Behelf und das ungefähr¬
lichste und schnellste Verfahren — sichert jedoch durchaus nicht vor
dem liecidiv. Ein Ziel wird erst durch eine sofort oder in einem
zweiten Acte vorgenommene Resection erreicht.
Discussion: Rehn (Frankfurt a. M.) hat auch nach ein¬
facher Desinvagination einer grossen Darmpartie Heilung eintreten
sehen und glaubt daher, keine so grosse Operation nach der gelungenen
Desinvagination anschliessen zu sollen.
*
III. Sitzungstag.
Gemeinschaftliche Sitzung mit der Section für
Militär - Sanitätswesen und Unfallwesen.
Vorsitzender: Tiniann (Coblenz).
I . Graser (Erlangen) : Die Bruchanlage und -Er¬
krankung in ihrer Bedeutung für die Militärdienst¬
tauglichkeit und der Entscheid über Versorgungs-,
beziehungsweise Entschädigungsansprüche.
Seit der Unfallgesetzgebung hat man an den Bezeichnungen ge¬
rüttelt. Bruch an und für sich, das heisst sackartige Ausstülpung des
Bauchfells (Bruchsack) und ferner die Füllung des Bruches mit Ein¬
geweide. Dem gegenüber wollen wir festhalten, dass wir unter einem
Bruch den fertigen pathologischen Zustand verstehen, dass ein
Eingeweide unter Vorstülpung des parietalen Bauchfelles aus der
Bauchhöhle hervorgetreten ist. Ein ausgebildeter Bruch hat eine
Bruchpforte, einen aus parietalem Peritoneum bestehenden
B ruchsack und einen Bruchinhalt (Eingeweide).
Das Bauchfell ist eine ziemlich festgefügte Membran, welche in
der Regel den darauf ein wirkenden Gewalten gewachsen ist; von den
übrigen Schichten verleiht im Wesentlichen die Musculatur den
Bauchdecken ihre Festigkeit. An allen häufig zum Austritt benützten
sogenannten Bruchpforten finden wir einen verminderten musculären
Verschluss, die Bauchwand bedarf aber einer grossen Widerstands¬
fähigkeit gegenüber der Bauchpresse. Das einfachste Beispiel für einen
Bruch bleibt immer der Nabelbruch der kleinen Kinder. Die erhöhte
Bauehpresse drängt unter Vermittlung des Darmes das Bauchfell durch
die ungenügend verschlossene Nabellücke nach aussen. In der Nabel¬
gegend ist das Bauchfell nicht sehr verschieblich, und die mechanischen
Bedingungen für die Vortreibung sind nicht sehr günstig, deshalb
bleiben die Nabelbrüche meist klein. Wäre die Nabellücke an den
unteren Theilen der Bauchwand, dann wäre der Effect der Bauchpresse
sicher ein grösserer.
Für die äusseren Leistenbrüche ist der Weg durch
die Bauchwand bei den männlichen Individuen durch den Leistencanal
vorgezeichnet. Dieser Leistencanal ist bei jedem Manne ein schwacher
Theil der Bauchwand. Die Musculatur ist hier unterbrochen. Der
Canal wird zwar durch den Samenstrang ausgefüllt, aber diese Gebilde,
meist Gefässe, haben ein wechselndes Lumen und füllen den Raum
nicht immer gleich vollständig aus. In dem mehr weniger schrägen
Verlauf des Leistencanals ist jedoch ein relativer Schutz gegeben. Eine
Schwäche des Leistencanals ist dadurch bedingt, dass bei jedem Manne
diesen Weg der Ilode einmal zum Durchtritt durch die Bauchwand be¬
nützt hatte, und dass seit dieser Zeit eine trichterförmige Ausstülpung
der Fascia transversalis in Form der Tunica vaginalis communis fort¬
besteht. Da sich diese Verhältnisse in den ersten Lebensjahren am
meisten geltend machen, so ist die Häufigkeit der Leistenbrüche zu
dieser Zeit eine entsprechend grosse (’/7 aller Leistenbrüche trifft auf
das erste Lebensjahr). Vom dritten Jahre ab werden dieselben spär¬
licher, erst vom fünfzehnten Lebensjahre an treten sie wieder häufiger
auf, was zweifellos darauf zurückzuführen ist, dass nun an den
Körper grössere Anforderungen gestellt werden. Der Schwerpunkt liegt
jetzt in der Zunahme besonders schädlicher E i n w i r-
klingen, was durch statistische Erhebungen bestätigt wird; schweres
Schaffen und Tragen junger Leute, die Berufsart fällt in die Wag¬
schale. Besonders schädlich erscheint schw'ere körperliche Arbeit im
Stehen, vornehmlich in gebückter Stellung. Die während der Militär¬
zeit auftretenden Leistenbrüche sind offenbar in die gleiche Kategorie
zu stellen. Der ungeschulte Körper der Rekruten muss Muskelgruppen
in Tbätigkeit setzen, die bisher absolut geruht haben; er muss den
Wirbelstrecker anspannen, die Knie einziehen, die Füsse vorschleudern,
Kniebeugen mit Vorwärtsspringen, Beine schwingen, am Sprungkasten
üben und dergleichen mehr. In Betracht kommt dabei die oftmalige
hochgradige Anstrengung der Bauchmusculatur, womit jedes Mal
eine Steigerung des intraabdominalen Druckes verbunden ist.
Kann nun bei einem normalen Manne durch die Häufung
schädlicher Einflüsse in obigem Sinne ein Leistenbruch erzeugt werden?
Ich stelle diese Behauptung trotz entgegenstehender Ansichten nam¬
hafter Autoren (z. B. L i n h a r t) auf und halte sie für einen der
wesentlichsten Punkte der uns hier interessirenden Fragen. Eine höhere
Drucksteigerung entsteht jedenfalls unter normalen Verhältnissen nur
unter Contraction der umschliessenden Muskelplatten (Bauchpresse).
Die beweglichen Eingeweide werden bei der Verkleinerung des Raumes
im Bauchinnern ausweichen und nach jenen Gegenden hingetrieben,
an welchen eine active Betheiligung an der Verkleinerung des Raumes
nicht vorhanden ist. Dieses Ausweichen findet umso gewaltsamer statt,
je brüsker und plötzlicher die Bauchpresse angespannt wird, wie bei
plötzlichen Hustenstössen.
Der Effect ist in hohem Masse abhängig von der Körperhaltung .
Eine gewisse Geschicklichkeit bei dieser Haltung ist von
grosser Bedeutung, was oft instinctiv geschieht. Unvorhergesehene
Gewalteinwirkungen, noch dazu bei zufällig ungeschickter Stellung
spielen daher bei der Bruchentstehung eine grosse Rolle (Ausgleiten,
Hinfallen bei gespreizten Beinen etc.). Jedermann hat schon an sich
selbst erfahren, dass bestimmte Bewegungen eine lästige Spannung am
untersten Theile des Bauches verursachen. Das Heben schwerer Lasten
in tiefer Inspirationsstellung ist bis zu einem gewissen Grade physio¬
logische Nothwendigkeit. Das Zwerchfell muss ein festes Widerlager
bilden. Durch dieses Verhalten wird aber naturgemäss die Druck¬
wirkung auf die unteren Bauchtheile gesteigert, und zwar bei manchen
Hantirungen ruckweis e. Diese unangenehmen Empfindungen
werden viel wahrscheinlicher durch eine Zerrung des Bauchfelles be¬
dingt als durch starke Anspannung der Muskelansätze.
Kehren nun solche Anlässe immer und immer wieder, so können
sie recht wohl etwas zur Bruchentstehung beitragen. Es handelt sich
dabei nicht um grosse Effecte, sondern um eine ganz unscheinbare,
auf lange Zeit sich erstreckende, fast unmerkliche Minir-
a r b e i t. Deshalb hat die experimentelle Prüfung dieser Frage so
viel wie gar keine Ergebnisse. Hundert Mal wirkt eine an sich starke
Belastung auf die Baucheingeweide, ohne den mindesten Schaden an¬
zurichten; beim nächsten Mal wirkt ein Theil der Kraft gerade so,
dass das Bauchfell an einer nachgiebigen Stelle in einer für die Aus¬
stülpung besonders günstigen Richtung getroffen und etwas vor¬
getrieben wird. Es entsteht eine gewisse Lockerung des Bauchfelles,
ein locus minoris resistentiae. Kommt jetzt eine Zeit der Ruhe, dann
kann Alles wieder gut werden, macht sich aber eine neue Schädlichkeit
geltend, schreitet das Uebel weiter. Ich möchte glauben, dass es
immer wieder derselbe Darmtheil ist, der zu einer bestimmten Stelle
der Bauch wand bestimmte Beziehungen behält, gewissermassen in sie
hineinpasst. Das hauptsächlich in Betracht kommende Moment ist
wohl sicher die durch längere ZeitfortwirkendeHäufung
von Schädlichkeiten, besonders eine fortwährende Anspannung
der Bauehpresse. (Vergleich mit den erworbenen Darm-Divertikeln.)
Es wird gerne der Fehler gemacht, dass man nicht überlegt, wie lange
die Vorbereitungszeit gedauert hat; man hat immer den Endeffect, den
fertigen Bruch vor Augen.
Für die grosse Bedeutung dieser unmerklichen, ganz allmäligen
Bruchbildung spricht ganz entschieden die Thatsache, dass die aller¬
meisten Menschen die ersten Stadien der Bruchbildung
gar nicht an sich beobachten und erst durch Zunahme der
Geschwulst oder durch einen besonderen Anlass darauf aufmerksam
werden (Quetschung, Gesundheitsvisitationen etc.). Unter 1042 Per¬
sonen, welche sich wegen einfacher Leistenbrüche vorstellten, fanden
sich nur 12, welche einen beginnenden, und nur 48, welche einen
interstitiellen Leistenbruch hatten.
In einer Anzahl von Fällen werden aber besondere Gelegenheits¬
ursachen angeführt, bei denen der Bruch hervorgetreten sei, und man
hat diese Brüche als „Gewaltbrüche“, als „liernie de force“ bezeichnet.
Die Statistik schwankt in sehr weiten unsicheren Grenzen zwischen 3
und 40%, die absolute plötzliche Entstehung eines Bruches mit allen
Attributen ist jedenfalls so enorm selten, dass man sie praktisch voll¬
ständig unbeachtet lassen kann. Sie ist theoretisch unwahrscheinlich,
und kommt sie aber einmal vor, dann hätten wir es bestimmt mit
einer so schweren plötzlichen Erkrankung zu thun (Shock, heftigste
Schmerzen, Erbrechen etc.), dass sofort nach dem Arzte geschickt und
das Bett aufgesucht würde. Ganz anders steht es mit denjenigen sehr
häufig vorkommenden Fällen, in welchen der Patient aufs Bestimmteste
behauptet, dass er früher keinen Bruch hatte, und dass mit einem Male
bei einer besonderen Veranlassung ein solcher zum Vorschein gekommen
sei. Es ist die Vorstellung leicht, dass unter einem gewaltigen Ruck
die Baucheingeweide ein nachgiebig gewordenes, auf der Unterlage ge¬
lockertes Bauchfell ein Stück weit vorgetrieben und so ein seit längerer
Zeit vorbereiteter Bruch fertig wird. Wir begreifen es ohne Weiteres,
dass in einen kleinen Bruch bei starker Anstrengung der Bauchpresse
unter Dehnung des Bauchringes und Vergrösserung des Sackes ein
Nr. 12
WIENER KLINISCHE W0CHENSCHE1ET. 1900
289
grösseres Stück Darm und Netz herausgepresst wird, und so eine
elastische Einklemmung beim Nachlassen der Bauchpresse entsteht.
In 90 Fällen von 100 geht die Ausspülung ganz allmälig vor
sich, in 9 von 100 geht es ruckweise, und einmal ist es ein besonders
kräftiger Ruck, der vorwärts gemacht wird. Besondere Anzeichen der
gewaltsamen Vortreibung in Gestalt von Sugillationen, von Öedem,
von Druckschmerzen sucht mau vergebens, wenn nicht gleichzeitig
Einklemmung vorhanden. Die dabei auftretenden Schmerzen möchte
ich am liebsten als Zeichen einer Contusion des Darmrohres auffassen,
weil dieselben mehr in die Nabelgegend als in die Bruchpforte ver¬
legt werden.
Die enorm verschiedenen Anlässe, die Widerstandsfähigkeit der
Bauchwand, die Vorbereitung durch lange Minirarbeit, die Individualität
des Verletzten, all dies sind Dinge, welche einer Schematisirung ent¬
gegenstehen. Das ruckweise Vergrössern oder zum Vorscheinkommen
schliesst aber die Thatsache einer durch Unfall bedingten Schädigung
nicht aus.
Bei Unfallsbrüchen kommt man über eine Wahrscheinlichkeits¬
diagnose nicht hinaus. Die Möglichkeit eines solchen muss zugegeben
werden bei kleiuen bis hühnereigrossen Brüchen, wenu der Bruch nicht
sofort selbst zurückgeht, sondern reponirt werden muss, erst bei
Pressen oder Husten wieder austritt, bei engem Leistenring und -Canal
und einseitigem Auftreten.
Ein frisch traumatisch entstandener Bruch ist mit Wahr¬
scheinlichkeit zu leugnen bei über hühnereigrossen Brüchen, die bereits
in den Hodensack reichen, bei Brüchen, die leicht herein- und heraus¬
gehen (beim Niederlegen zurück, beim Aufstehen heraus), bei doppel¬
seitigen Brüchen oder ausgesprochener Bruchanlage auf der a n-
dern Seite.
Was die Erwerbsbeschränkuug anlangt, so muss man generell
einen ausgetretenen Bruch als ein die Leistungsfähigkeit schädigendes
Gebrechen anerkennen. Das Tragen eines Bruchbandes, der psychische
Einfluss, der Gedanke, dass man schadhaft sei und Anderes stellen
zweifellos eine Schädigung dar.
Complicirter wird die Sache, wenn wir genöthigt sind, uns noch
mit einer besonderen Bruchanlage (Prädisposition) zu beschäftigen.
Dieselbe kann angeboren oder ererbt sein. Verhältniss nach
Berg circa 1 : 3 6. Zur angeborenen Disposition gehört vor Allem
das Offenbleiben des Processus vaginalis peritonei ; er kann obliterirt
sein oftmals schliesst er sich gegen den Hoden ab, bleibt im Bereich
des Samenstranges bis zur Bauchhöhle oder auch nur bis zum äusseren
Leistenring offen. Unser Wissen in dieser Hinsicht ist noch lücken¬
haft. Erst seitdem viele Radicaloperationen ausgeführt werden, ge¬
winnen wir auch hier bessere Einsicht. Frank hat in 28 6" o,
B e r n e w s k y (Koche r’sche Klinik) in 35% der Fälle congenitale
Bruchsäcke gefunden. Ferner gehört unter die angeborenen Momente
ein besonders weiter Leistencanal, wie fast constant bei verspätetem
descensus testiculi, eine abnorm geringe Schrägheit im Verlauf des
Leistencanals.
Weitere dispouirende Verhältnisse werden gebildet durch allge¬
meine Körperschwäche, abnorme Länge und grössere Schlaffheit der
Mesenterien (die günstigen Erfolge der Radicaloperationen lassen diesen
Factor nicht hoch anschlagen), schwächende Krankheiten, rasche Ab¬
magerung und höheres Alter mit seinem physiologischen Gewebsschwund,
Brüche in Folge von Schwäche der Bauchwand (hernie de taiblesse).
Uns interessiren aber hier hauptsächlich die beim Musterungsgeschäft
festgestellten Bruchanlagen. Diese bestehen aus zwei Eigenthümlich-
keiten, welche auseinander zu halteu sind. Die eine ist die wohl am
häufigsten constatirte abnorme Weite des äusseren Leistenringes. Der¬
selbe kommt dann sehr in Betracht, wenn der Verlauf des Leisten-
canales ein sehr wenig schräger ist, so dass der hintere und vordere
Ring einander fast gegenüberliegen. Oftmals mag daneben eine be¬
sonders grosse Weite des ganzen Leistencanales einhergehen und damit
auch eine geringere Festigkeit der vorderen Bauchwand, ein stärkeres
Auseinandertreten der Pfeiler des Leistenringes.
Der Leistencanal wird dann auch abnorm weit sein, wenn eine
grössere Menge von Fett den Samenstrang umgibt (fehlt fast nie voll¬
ständig). Die Gewichts- oder Zugtheorie ist fallen gelassen. Durch
die Fettanhäufung bleibt der Canal weiter und kann sich nicht wie
normal zusammenziehen. Eine andere Anlage ist jene, welche man
mit dem Ausdruck „weiche Leiste“ belegt hat. Dabei zeigen die
Bauchdeckon schon in der Ruhe eine leichte Vorbuchtung parallel dem
P o u p a r t’schen Bande, beim Pressen sich wulstförmig vorwölbend,
häufig mit weiten Leistenringen verbunden, vielleicht ein Ueberrest des
vollen Bauches von rachitischen Kindern. Man könnte sagen, dass
eine solche Schlaffheit der unteren Bauchwand der Bruchbildung in
gewissem Sinne entgegenwirkt, indem Hervorstülpen der Bauchfelles
leichter bei gespannter Bauchwand vor sich geht, aber dabei hat man
wieder zu sehr den Moment, in welchem der Bruch fertig wird, im
Auge. Aber gerade bei abnormer Schlaffheit kommt die Vorstülpung
gewöhnlich ganz allmälig, ohne ruckweise Verstärkung zu Stande, wird
die Verschieblichkeit des Bauchfelles auf der Unterlage vermehrt. Be1
solchen Menschen ist wohl die Musculatur stellenweise dünner und
lückenhaft, ohne dass die gesammte Bauchpresse besonders an Kraft
eingebüsst hat. Die Ausdehnung fällt zum grossen Theil auch auf
Nachgiebigkeit der Fascien, Aponeurosen und den Mangel des Fettes.
Beim Stuhlgang, beim Husten, bei der Fixirung des Rumpfes wirkt
der Druck zweifellos auf die vorhandenen Lücken in der Musculatur,
so dass das Bauchfell in diese sich hinein begibt und an Elasticität
abnimmt.
Von grosser Bedeutung ist noch derjenige Zustand, welchen man
nach Malgaigne als Pointe de hernie bezeichnet, eine ovale oder
kugelige Hervorwölbung, Ausstülpung des Bauchfelles an den Leisten¬
grübchen bei Menschen, die niemals die geringsten Beschwerden hatten.
Solche Leute bekommen sicher mit der Zeit einen Leistenbruch, welcher
als Typus der allmäligen Bruchbildung aufgefasst werden muss.
Zum Schlüsse möchte ich folgende Thesen aufstellen:
1. Die Mehrzahl der Leistenbrüche bei Erwachsenen entsteht in
Folge einer ganz allmäligen Ausstülpung des Bauchfelles unter Mit¬
wirkung der Eingeweide.
2. Eine plötzliche gewaltsame Entstehung eines Leistenbruches
in allen seinen Bestandtheilen ist theoretisch sehr unwahrscheinlich,
durch die praktische Erfahrung nicht erwiesen.
3. Eine plötzliche Vergrösserung eines in der Entwicklung be¬
griffenen Leistenbruches ist sehr wohl möglich und muss unter be
sonderen Umständen als Unfall im Sinne des Gesetzes betrachtet und
entschädigt werden.
4. Die Diagnostik eines Unfallbruches kann sich nicht auf ein
bestimmtes Symptomenbild stützen und kann in den meisten Fällen
nur die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit feststellen.
5. Es gibt eine Reihe von Zuständen, welche man als Bruch¬
anlagen, d. h. als eine die Entstehung von Leistenbrüchen erleichternde
besondere Leibesbeschaffenheit bezeichnen muss.
II. S e y d e 1 (München) : Ueb er Deckung v o n Substanz¬
verlusten des Schädels in 16 F ä 1 1 e n von Trepanation
des Schädels.
In Nr. 9 und 10 der „Münchener medicinischen Wochenschrift“
dieses Jahres hat Vortragender 14 von ihm vorgenommene Trepana¬
tionen des Schädels veröffentlicht und dabei das Hauptaugenmerk auf
die Indicationen zur Trepanation und auf die Erfolge gelenkt. Da
in den letzten Monaten noch zwei weitere Trepanationen von demselben
ausgeführt wurden, so liegen dem heutigen Vortrage 16 Fälle zu
Grunde.
Bei der grossen Ausdehnung des Capitels der Trepanation will
S e y d e 1 heute nur über die plastische Deckung und den Verschluss
des durch die Operation gemachten Schädeldefectes sprechen.
ln drei Fällen wurde kein Versuch gemacht, die Lücke zu er¬
setzen und es trat dessenungeachtet knöcherner Verschluss ein, weil
nach Ansicht des Vortragenden zweimal die Gehirnhaut intact blieb.
Sie ist die innere Knochenhaut des Schädels und besorgt hauptsächlich
die Regeneration des Knochens.
Die osteoplastische Schädelresection nach Wagner hat S e y d e 1
zweimal ausgeführt. Einmal wegen Epilepsie, einmal wegen Gehirn¬
tumor. Der Knochen heilte anstandslos ein. Die Autoplastik nach
Müller -König hat Vortragender viermal, dreimal mit Erfolg vor-
genommen.
Ebenso wurde dreimal Knochen und Knochenhaut aus dem
Schienbein in die Schädellücke transplantirt. Diese Knochenstücke
werden zwar mit derZeit aufgesaugt, bilden jedoch die Unterlage und
das Nährmaterial für den neuen Knochen. In den zuletzt operirten
vier Fällen hat Vortragender die Duplicität der Lappen angewendet,
indem er sich neben dem Defecte einen gestielten, lediglich Knochen
und Knochenhaut umfassenden Lappen bildet und diesen in die Lücke
einheilt.
III. Seydel: Ueber Schrotschussverletzungen.
Vortragender führt aus, dass die Schrotschussverletzungen ein
doppeltes Interesse hätten, ein gerichtsärztliches und ein chirurgisches.
Die Veröffentlichungen seien aber auf beiden Gebieten nur ganz
spärlich. Der Grund liege wohl darin, dass in der That nur eine
geringe Zahl unter den fast alltäglichen derartigen Unglücksfällen
eine Bedeutung habe. Unter den vielen glücklich verlaufenen lällen
komme aber dann plötzlich ein sehr tragischer Fall vor. Die Kugel
eines Zimmerstutzens nimmt durch einen unglücklichen Zufall den
Weg durch die Augenhöhle in das Gehirn oder zwischen zwei Rippen
hindurch in die Aorta nnd das Herz. Zu den traurigsten 1 allen
zählen aber von jeher jene, in welchen auf der Jagd sich durch Zu¬
fall oder Unvorsichtigkeit eine mit einer Schrotpatrone geladene Hinte
entlädt, und der Inhalt direct in den Körper des Trägers oder Be¬
gleiters dringt.
Vortragender bespricht nun die Häufigkeit, Prognose und !>•'
handlung der Schrotschussverletzungen, theils aus eigener Erlalu ung,
theils aus Fällen aus der Literatur und demonstrirt eine Röntgen
200
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 12
Photographie, welche den Schädel eines Kindes darstellt. Mitten im
Gehirn liegt eine Zimmerstutzenkugel, welche jedoch dem kleinen Pa¬
tienten nicht die geringsten Beschwerden verursacht, ferner eine Ab
bildung, die Hand eines Gendarmen, welcher von einem Wilderer eine
Schrotladung in dieselbe erhielt.
Schrotladungen aus nächster Nähe sind zumeist absolut tödtlich,
theils wegen der ausgedehnten Zermalmung der Gewebe und der Blu¬
tung, theils wegen der grossen Infectionsgefahr. Zum Schlüsse stellt
Seydel noch einen von ihm behandelten Fall vor. Einem jungen
Manne war auf der Jagd eine mit Schrot geladene Flinte losgegangen.
Die ganze Schrotladung drang in den Oberschenkel und in das Knie¬
gelenk und zermalmte den Knochen in grosser Ausdehnung,. Die
herausgenommenen Knochenstücke und Schrotkörner, gegen 40 an der
Zahl, zeigte der Vortragende vor, sowie eine Röntgen-Photographie über
die erfolgte Heilung.
Hierauf stellt Seydel noch folgende operirte Fälle vor:
1. Einen geheilten Fall von Trepanation des Schädels wegen
Zertrümmerung des Gehirnes und Zerreissung des grossen Hirnblut-
lciters.
2. Einen geheilten Fall von Trepanation des Schädels wegen
Zerreissung der Gehirnarterie.
3. Einen geheilten Fall von perforirender Schuss Verletzung des
Unterleibes (7 9 mm Geschoss). Darm und Becken waren durch¬
schossen. Die sich bildende Kothfistel im Becken wurde dadurch zur
Heilung gebracht, dass ein Hartgummipfropf in das Becken eingeheilt
wurde.
*
Gemeinschaftliche Sitzung mit der Section für
innere M e d i c i n.
(Siehe dort.)
*
IV. Sitzungstag.
Gemeinschaftliche Sitzung mit der Section für
Gynäkologie.
Vorsitzender: Braun (Göttingen).
Sarwey (Tübingen), berichtet über Ha ndedesinfections-
versuche, welche von Prof. Th. Paul und ihm gemeinsam ange-
fctellt wurden ; zu diesem Zwecke wurde zunächst eine Methode aus¬
gearbeitet, welche unter möglichster Vermeidung aller Fehlerquellen,
und unter besonderer Berücksichtigung der in der chirurgischen Praxis
vorliegenden Verhältnisse eine zuverlässige Prüfung der bacteriologischen
Beschaffenheit der Hände nach Anwendung der verschiedensten Des-
infectionsverfahren gestattet.
Für eine derartige Methode erscheinen folgende Gesichtspunkte
massgebend:
1. Jede Möglichkeit irgend welcher nachträglichen Verunreini¬
gung der desinficirten Versuchshände wird während der ganzen Dauer
des Versuches durch die Verwendung eines sterilen Kastens ausge¬
schlossen, in welchem die Prüfung der Hände vorgenommen wird ;
derselbe wird demonstrirt.
2. Die mit jeder länger dauernden chirurgischen Operation ein¬
hergehende Aufweichung und mechanische Abnützung der Hände ist
im Versuche dadurch herbeizuführen, dass die gesammte Oberfläche
beider Hände (im sterilen Kasten) im heissen Wasserbade ge
waschen, mit Sand gescheuert, und mit dem scharfen Löffel abge¬
schabt wird.
3. Eine reichliche Abstreifung vorhandener Keime von den Hand¬
flächen, und die qualitative sowohl, als die quantitative Bestimmung des
Keimgehaltes wird dadurch ermöglicht, dass die Keimabnahme mit
harten Hölzchen und dem scharfen Löffel erfolgt; Hölzchen und Haut-
geschabsel werden sodann in 3 cm Wasser suspendirt, die Keime durch
längeres Schütteln von den Hölzchen losgesprengt und hiedurch gleich-
rnässig im Wasser vertheilt; endlich wird Wasser sammt Hölzchen und
Hautgeschabsel mit flüssigem Agar gut vermischt und in Petri’sche
Schalen übertragen.
Nach dieser, an der Hand eines Desinfectionsversuches eingehend
beschriebenen Versuchsanordnung wurden mit der Heisswasser-Alkohol-
Desinfection nach A hl fe Id’s Vorschriften 12 Versuche ausgeführt,
von welchen jeder 4 Stunden beanspruchte und das Ausgiessen von
über 100 Platten erforderte.
Die Versuchsergebnisse, welche einerseits in Tabellenform zu¬
sammengestellt sind, andererseits an den mitgebraeliten, mit Formalin
conservirten Agarplatten demonstiirt werden, sind folgende:
1. Von den trockenen, unvorbereiteten Tageshänden können bei
allen Versuchspersonen mittelst harter Hölzchen zahlreiche Keime’)
entnommen werden. Die Zahl dieser Keime wird durch Befeuchten der
Hände mit sterilem Wasser vermehrt.
2. Durch ein 5 Minuten langes intensives
Waschen der Hände mit sterilem Wasser, steriler
Seife und steriler Bürste wird die Zahl der mit den
Hölzchen entnommenen Keime nicht vermindert,
sondern eher vermehrt.
3. Nach 5 Minuten langer Bearbeitung der Hände in Alkohol
(96%) mit steriler Bürste und sterilem Flanelllappen konnten in 3
von 12 Versuchen (25%) mit den Hölzchen keine Keime von den
Händen abgenommen werden. Bei den übrigen 9 Versuchen gingen
durchschnittlich wenige2) Keime auf.
4. Nach 10 Minuten langem Verweilen der Hände unter Wasch¬
bewegungen in einem Handbade von circa 42° C. blieb das
Waschwasser in 2 von 12 Versuchen steril (16%%). Bei den übri¬
gen 10 Versuchen waren darin 7mal wenige und 3mal viele Keime
vorhanden.
5. Nach diesem Handbade konnten nur in 1 von 12 Ver¬
suchen keine Keime mit den Hölzchen entnommen werden (8’5%.
Bei 9 Versuchen wurden wenige und bei 2 Versuchen viele Keime
entnommen.
6. Nach 5 Minuten langem Reiben der Hände mit Sand und
Wasser von circa 22° blieb der Sand in 2 von 12 Versuchen (16%%)
steril (bei derselben Versuchsperson). In 6 Versuchen waren darin
wenige, in 2 Versuchen viele und in 2 Versuchen sehr viele Keime
vorhanden.
7. Nach diesem Sandbad konnten in allen 12 Versuchen mit
den Hölzchen Keime von den Händen entfernt werden. Bei
10 Versuchen wurden wenige und bei 2 Versuchen viele Keime
entnommen.
8. Von den durch die Bäder und mechanische Bearbeitung stark
macerirten Händen Hessen sich mit dem scharfen Löffel leicht reich¬
liche Epidermistheile abschaben. Diese Geschabsel blieben bei keinem
von 10 Versuchen steril. Bei 6 Versuchen waren wenige, bei 4 Ver¬
suchen viele Keime vorhanden.
’) Unter »Keimen« sind hier solche Mikroorganismen verstanden,
welche sich auf Agar-Agar-Nährboden bei 37-5° zu Colonien entwickelten.
Der Agar-Agar-Nährboden war nach der Vorschrift von Krönig und
P a u 1 bereitet. (Zeitschrift für Hygiene und Infectionskrankheiten. 1897,
Bd. XXV, pag. 17.) Die Culturen wurden acht Tage lang beobachtet.
2) Der Ausdruck »wenige« bedeutet 1 bis circa 20 Keime, »viele«
circa 20 bis 80 Keime und »sehr viele« die Zahlen darüber hinaus.
(Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag, den 23. März 1900, 7 Uhr Abends,
unter dem Vorsitze des Herrn Hofrathes Chl’obttk
stattfindenden
Haupt Versammlung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Wahl der Functionäre und neuer Mitglieder. ')
2. Bericht über das abgelaufene Vereinsjahr, erstattet vom ersten
Secretär.
3. Bibliotheksbericht, erstattet vom ersten Bibliothekar Dr. L. Unger.
4. Hofrath Prof. Zuckerkandl: Ueber die Epithelkörperchen des
Halses.
5. Verkündigung des Wahlresultates.
’) Die Stimmzettel für die Wahlen werden von der Wahlcommission
von 1 2 7 — 8 Uhr im Verwaltungsrathszimmer entgegengenommen.
(In dieser Sitzung linden nach § 12 der Geschäftsordnung keine De¬
monstrationen statt.)
Bergmeister, Pal tauf.
Oesterreichische otologische Gesellschaft.
Programm
für die
Montag, den 26. März 1900, 6 Uhr Abends,
im Hörsaale der k. k. Universitätsklinik für Ohrenkranke des Herrn
Prof. Politzer
atattfindende
Wissenschaftliche Sitzung :
Demonstrationen. (Angemeldet die Herren : Professoren Gmber,
Politzer, Urbantscliitsch, Doctoren Pollak. Gomperz, Kreidl. Ale¬
xander. Alt, Hammerschlag.)
Prof. Dr. A. Politzer, Dr. Josef Pollak, Dr. Hugo Frey,
Vorsitzender. Secretär. Schriftführer.
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumiiller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
Die „Wiener klinische
Wochenschrift“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von minde¬
stens zwei Bogen Gross¬
quart.
Zuschriften für die Redac¬
tion sind zu richten an
Dr. Alexander Fraenkel,
IX 3, Maximilianplatz,
Günthergasse 1 . Bestellun¬
gen und Geldsendungen an
die Verlagshandlung.
4>- ■ — @
Redaction:
Telephon Kr. 3373.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E Albert, G. Braun, O. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner,
Jos. Gruber, M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing,
I. Neumann, R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, G. Toldt,
A. v. Vogl, J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gussenbauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Sclirötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel.
Abonnementspreis
jährlich 2J K = 2 0 Mark.
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Telephon Nr. 60'Ji.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/1, Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang.
Wien, 29. März 1900.
Nr. 13.
INHALT:
(Alle Rechte Vorbehalten.)
| Originalartikel : 1. Ein Fall intraabdominaler Netztorsion. Von Prof.
Dr. J. Hochenegg.
2. Aus der II. Wiener medizinischen Klinik (Hofrath Neusser).
Ueber die Hämamöben L ö w i t’s im Blute Leukämischer. Voi-
läufige Mittheilung. Von Dr. Wilhelm Türk, klinischem
Assistenten.
3. Aus der internen Abtheilung des Stabsarztes Universitätsdocenten
Dr. A 1 o i s P i c k im k. u. k. Garnisonsspitale Nr. 1 in Wien.
Zur Semiotik des zweiten Pulmonaltones. (Klinische Studie mit
Bettelheim-Gärtner’s Sthetophonometer.) Von Dr. Adolf
II.
Hecht. . „
Referate: I. Ueber Naheisepsis. Von Karl Basch. II. Die Ke-
sorption aus der Nabelschnur. Von R. W. Eaudnit z. III Ueber
gehäuftes Auftreten und über die Aetiologie der Poliomyelitis
anterior acuta infantum. Von S. Auerbach. IV. fötales Myxödem
und Cliondrodystro phia foetalis liyperplastica. Von Wilhelm
Stöltzner. V. Ein Fall von postdiphtheritiseher Lähmung mit
eigenartigen Oedemen. Von Hugo Kraus. VI. Die Stellung
des Kalks in der Pathologie der Rachiiis. Von Wilhelm
Stöltzner. VII. Zur Serodiagnostik im Kindesalter.. Von A.
Pfaundler. VIII. Ueber Farbenreactionen der Caseinflocken.
Von Karl Feiner. IX. Untersuchungen über das Verhalten der
Fäeesgährung bei Säuglingen. Von Fritz Callomon. X. Zur
Kenntniss der Milchgerinnung im menschlichen Magen. Von Josef
Schnürer. XI. Ueber Behandlung der Rachitis mit Thymus¬
substanz. Von W. Stöltzner und W. Lissaue r. XII. Poly¬
posis intestinalis. Von A. V aj da. Referent \\ i 1 li. Knoepfel-
macher,
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Therapeutische Notizen.
V. Vermischte Nachrichten.
VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressbenchte.
Ein Fall intraabdomineller Netztorsion.
Von Prof. Dr. J. Hochenegg.
Auszugsweise vorgetragen in der Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aeizte
vom 23. Februar 1900.
Wegen der grossen Seltenheit, der imponirenden Schön¬
heit des Befundes bei der Operation und den Schwierigkeiten,
die sich bei der Diagnoäenstellung ergaben und die es be¬
greiflich erscheinen lassen, dass ich unter falscher Diagnose
operirte, erscheint mir folgender Fall mittheilensweith und dei
Veröffentlichung würdig.
Am 3. Januar d J. wurde ich über Veranlassung des
Hausarztes, des Herrn Dr. Kaspar, und des pro consilio
beigezogene Herrn Primarius Dr. Pal zu dem 41 Jahre alten
Herrn M. D. gerufen und es wurden mir folgende anamnesti¬
sche Daten mitgetheilt:
Patient ist seit dem Neujahrstage krank. Am Abend des
1. Januar setzte ziemlich plötzlich die Erkrankung mit den hef¬
tigsten Bauchschmerzen, Ueblichkeiten und Erbrechen ein. Patient
bekam einen Schüttelfrost, der erst im Bette nach ungefähr einei
halben Stunde schwand.
Da Patient das instinctive Gefühl hatte, dass er nach einer
Stuhlentleerung sich wohler fühlen werde, liess er sich ein Klysma
verabreichen, worauf zwar Stuhl eintrat, die Erleichterung abei
ausblieb. Unter qualvollen Schmerzen und grosser Unruhe ging die
Nacht vorüber, am nächsten Tage, also am 2. Januar, war das
Befinden etwas besser, namentlich die Schmerzen geringer. Er¬
brechen war keines mehr aufgetreten, Winde gingen spärlich ab,
höchste Temperatur 38‘4°.
Im Laufe des 3. Januar verschlechterte sich wieder der Zu¬
stand, Patient war wieder viel unruhiger, die Pulsfrequenz stieg
bis nahe an 100, der Bauch wurde grösser und lästig gespannt,
Singultus stellte sich ein, was eben die Veranlassung gab, dass ich
nun beigezogen wurde.
Nachzutragen hätte ich, dass Patient als rechtsseitiger Ki y p t < > i -
chist geboren war; erst als Knabe wurde der bis dorthin im Bauch-
raume verbliebene Hoden im Leistencanale fühlbar und wutde dann
allmälig durch eine nachrückende Hernie vor den äusseren Leisten¬
ring getrieben, gelangte aber niemals tiefer, vermuthlich auch des¬
halb, weil die rechtsseitige Scrolalhälfte klein und unentwickelt
geblieben war.
Trotz Tragens eines Bruchbandes, mit dem die doppelte Ab¬
sicht, sowohl den Hoden herunten, als den Bruch drinnen zu er¬
halten, zu erreichen versucht wurde, vergrösserte sich dei Biuch
stetig, wobei der Bruchsack wegen Raummangel im Sciotum sieh
nach aufwärts und aussen, also unter der Haut der Inguinalgegend,
bis über Ganseigrösse ausdehnte. Dabei blieb der Bruch irnnrei
reponibel, indem Patient selbst ängstlich darüber wachte, dass der
Bruchinhalt immer gleich reponirt werde, wenn er trotz des Bandes,
das Patient, wie gesagt, von Jugend aut trug, etwa \oi ge¬
treten war.
Patient hatte sich allmälig mit seinem Bruchbande abgefunden
und fand keine Veranlassung, wegen seiner Hernie ärztlichen Rath
einzuholen.
Abgesehen von diesem Leiden war Patient gesund und na !g
bis vor zwei Jahren. Damals stellten sich Magenstörungen ein,
wobei Patient das Gefühl hatte, als ob sein Magen durch ein
schweres Gewicht verzogen wäre und so nicht ordentlich functio-
niren könne. Es wurden verschiedene Curen in Anwendung gebracht,
die. Sorgfalt in Bezug auf die Hernie womöglich noch verschönt,
allein ohne wesentlichen Erfolg. Patient blieb im Magen < mp IIU
lieh und wurde hiedurch recht gedrückt und verstimmt, indem er
sich seither eigentlich niemals vollkommen wohl befand.
292
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 13
Am Sylvestertage war im Bade für kurze Zeit die Hernie
stärker vorgetreten und konnte nur mit Mühe reponirt werden.
Während früher die Reposition immer leicht mit oft bewährtem
Handgriffe gelang, musste Patient diesmal alle möglichen Manipu¬
lationen. wie Kneten und Verschieben des Bruchinhaltes etc. an¬
wenden, um endlich den Bruch ganz reponiren und das Band
wieder anlegen zu können.
Daraufhin schien Alles wieder in Ordnung zu sein, auch der
Neujahrstag verlief ohne wesentliche Beschwerden. Am Abend setzten
dann die eingangs geschilderten alarmirenden Erscheinungen ein.
Bei meiner ersten Untersuchung fiel mir vor Allem das
apathische, verfallene Wesen des Patienten auf, Puls war ziemlich
frequent und klein, Respiration oberflächlich und frequent, hie und
da trat namentlich während der nun folgenden Untersuchung Sin¬
gultus auf. Damals war als Abendtemperatur 38'5° verzeichnet.
Patient vermied ängstlich jede Lageveränderung, hielt seinen
rechten Schenkel angezogen und konnte nur langsam und vorsichtig
die Streckung vornehmen.
Das ganze Abdomen war aufgetrieben und gespannt, die In¬
guinalhernie wurde mit einem Bruchbande zurückgehalten, nach
dessen Entfernung der collabirte, gefaltete, in seinen Hautdecken
pigmentirte und schwielig verdickte Bruchsack sichtbar wurde. Natürlich
wurde die erste Untersuchung der Hernie zu Theil, diese erwies sich
aber als leer, nur der atrophische Inguinalhoden konnte in ihr getastet
werden. Auch die für zwei Finger bequem passirbare Bruchpforte
und der Inguinalcanal waren vollkommen leer, bei vorsichtigem
Husten verspürte man oben den Anprall der gefüllten Därme.
Auf Grund dieser Untersuchung schloss ich also vor Allem
von Seite der Hernie eine Incarceration und Massenreduction aus.
Die nun vorgenommene Palpation des Abdomens ergab be¬
trächtliche Spannung in ganzer Ausdehnung. In der rechten Unter¬
bauchgegend wurde handbreit ober dem Poupart’schen Bande, nach
aussen zu bis gegen die Flanke eine deutliche gespannte Resistenz
gefühlt, deren Betastung enorm empfindlich war und über welcher
die Percussion Dämpfung ergab.
Trotz längerer Beobachtung wurde keinerlei peristaltische
Arbeit der Därme wahrgenommen.
Auf Grund dieser Untersuchung glaubte ich entschieden
eine directe von der Hernie ausgehende Ursache für die Er¬
scheinungen ausschliessen zu können und bei den weiteren
diagnostischen Erhebungen von der Hernie absehen zu
dürfen.
Am meisten schien mir der Befund für Appendicitis mit
abgesacktem Exsudat zu sprechen, wobei ich mir allerdings
vorstellte, dass der Wurmfortsatz und das Cöcum ehemals im
Bruche Vorgelegen sein mochten, und dass durch die gewalt¬
samen Repositionsversuche am Sylvesterabend der erste Anstoss
zur Entzündung und Exsudatbildung gegeben sein mochte. Für
die Entzündung schien mir der rasche Anfang, der initiale
Schüttelfrost und das Fieber sicher zu sprechen.
Mehr aus äusseren Gründen und weil die Erscheinungen
ein Zuwarten erlaubten, verschoben wir den Eingriff auf den
nächsten Tag für den Fall, als sich der Zustand nicht gebessert
haben sollte.
Der Befund am nächsten Tage war nun folgender:
Wegen sehr heftiger Schmerzen musste in der Nacht
eine Injection gemacht werden, worauf die Schmerzen nacli-
liessen und Patient sich wohler fühlte. Die Temperatur war
unter die Norm (36‘9) gesunken. Puls 96, klein. Patient war
noch apathischer (Morphinwirkung), entschieden ikterisch, Bauch
mehr aufgetrieben, die druckempfindliche Resistenz hatte an
Grösse bedeutend zugenommen und entsprach jetzt einem fast
mannskopfgrossen Tumor, der die ganze rechte Bauchseite
einnahm.
Grösste Empfindlickeit wurde diesmal an einem Punkte
unter dem rechten Rippenbogen angegeben, der ungefähr der
Lage der Gallenblasse entsprach.
Erbrechen war keines mehr erfolgt, wohl aber bestand
häufiger Singultus.
Noch eines Umstandes muss ich Erwähnung tliun: die
Hernie (es war kein Bruchband mehr angelegt worden) war
diesmal prall gespannt, leer schallend, deutlich Huctuirend und
ungemein leicht compressibel, beim Nachlassen des Druckes
sich aber sofort wieder füllend. Wir schlossen aus dem Um¬
stande auf vorhandenes freies Exsudat, das wegen der intra¬
abdominalen Spannung gegen die Hernie vortrat.
Da mithin von einer entschiedenen Besserung nicht die
Rede sein konnte, schritt ich zur Operation (Sanatorium Doctor
L ö w), die mir ein nie gesehenes, imponirendes Bild lieferte.
Narkose. Schnitt von oben nach abwärts, ungefähr entsprechend
der rechten Mamillarlinie, über die höchste Convexität der Geschwulst.
Nach Durchtrennung der Bauchmusculatur wölbt sich blasenförmig
das Peritoneum vor, wobei eine blutige Flüssigkeit bläulich durch¬
schimmert. Nach Eröffnung des Peritoneums strömt intensiv blutig
gefärbtes Transsudat in grosser Menge ab (gewiss über 2 l) worauf
sich in der Incisionswunde ein blauschwarzer, von maximal
dilatirten Venen gebildeter Tumor einstellte, der sofort als dem
Netze angehörig erkannt wird.
Nach Erweiterung des Schnittes nach oben und unten gelingt
es leicht, den mannskopfgrossen, nirgends verwachsenen, ergo
vollkommen freien Netztumor als Ganzes vor diesen zu wälzen
und genau das imponirende Bild zu übersehen. An dem über
kindskopfgrossen Netztumor befanden sich an einzelnen Stellen
bereits eiterähnliche Auflagerungen und grauweisse Verfärbungen,
so namentlich an den peripheren Netzpartien. Um in dem ange¬
wiesenen Platze als so mächtig geschwelltes Organ Platz zu finden,
war das Netz als Ganzes gewissermassen doppelt zusammengelegt,
und nach oben zu eingeschlagen und das Ganze durch lockere Exsudat¬
membranen in dieser Stellung gegen einander fixirt; so finden wir
auch noch am Präparate die groben Netzklumpen, die wahrschein¬
lich den häufigsten Bruchinhalt darstellten, nach oben zu gelagert
und hier unter einander verklebt.
Als Grund für diese eigenthiimliche Veränderung des Netzes
vermuthete ich sogleich eine Torsion und konnte bei Betrachtung
der oberen Partie thatsächlich einen kaum zeigefingerdicken drei¬
mal von rechts nach links absteigend gewundenen Strang auf¬
finden, ober welchem das restliche Netz vollkommen normal be¬
funden wurde und der die einzige Verbindung des Tumors über¬
haupt darstellte.
Ich trug nun nach dreifacher Ligatur das Netz hier im Ge¬
sunden ab und entfernte so den ganzen Netztumor, dann Hess ich
das Transudat, so gut es ging, abfliessen.
Um den Patienten gleichzeitig von seiner Hernie zu befreien,
exstirpirte ich den Bruchsack sammt dem atrophischen Hoden und
vernähte mit exacter Etagennaht die Bruchpforte und die Bauch¬
wunde.
Der Verlauf war ein tadelloser, durch keinen Zwischenfall
getrübter, so dass nach 26 Tagen Patient vollkommen gehfähig
das Sanatorium verlassen konnte. Er befindet sich seither voll¬
kommen wohl und hat, worauf Patient besonderes Gewicht
legt, seine lästigen Magenbeschwerden gänzlich verloren.
Die Operation deckte also als Ursache der schweren Er¬
scheinungen eine dreimalige Torsion des an einer Stelle stiel¬
artig verdünnten Netzes auf, wobei, als meinen Fall besonders
auszeichnend, besonders hervorgehoben zu werden verdient,
dass die Stieltorsion bei leerem Bruchsacke, also vollkommen
intraperitoneal, entstand und dass das Netz nirgends Verwach¬
sungen mit Nachbarorganen zeigte.
Soviel mich die Durchsicht der mir zugänglichen Literatur
lehrt, halte ich meinen Fall für ein Unicum; ich konnte
wenigstens keinen einzigen halbwegs ähnlichen Fall publicirt
auffinden.
Von den zwei *) als Netztorsion beschriebenen Fällen
unterscheidet sich mein Fall wesentlich dadurch, dass, wie
schon mehi fach hervorgehoben, der Bruch leer war und die
Torsion sich rein intraabdominell abgespielt hatte, während bei den
beiden citirten Fällen es sich um incarcerirte Netzhernien
handelte, deren lang ausgezogener Stiel dann oberhalb des
Bruchringes gedreht gefunden wurde.
Natürlich drängt sich uns sofort die Frage auf, wieso es
zur Torsion kommen konnte und gekommen war.
Die Frage ist unschwer zu beantworten, denn man braucht
nur anzunehmen, dass als Bruchinhalt seit Jahren (die Hernie
war ja eine angeborene) Netz vorfiel; so wird es Einem vor
') Oberst M., Centralblatt für Chirurgie. 1882, Nr. 27. — Professor
Dr. Karl Bayer. Ibidem. 1898, pag. 462.
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
293
Allem verständlich, wieso es zu der strangförmigen Ausziehung
eines Theiles des Netzes kommen konnte, so wird Einem ferner
erklärlich, dass mit der Zeit die unteren Partien des Netzes,
also jene, welche namentlich vorzufallen pflegten, so klumpig
verdickt wurden. Kennen wir doch diese lappige und klumpige
Hypertrophie des Netzes als einen sehr gewöhnlichen Befund
bei alten Netzhernien.
Diese schweren Netzklumpen zogen und zerrten dann
weiter, so dass der Stiel immer zarter und dünner wurde und
endlich nur eine einem lang ausgezerrten Geschwulsstiel ähnliche
Verbindung zwischen der oberen Netzpartie und der den Bruch¬
inhalt bildenden bestand.
Zwei Hauptbedingungen für die Möglichkeit einer Torsion
waren somit gegeben, die Länge des Stiels und der freie, d. h.
mit der Umgebung nicht verwachsene höckerige Tumor, das
k lumpig- hypertrophirte Netz.
Den" nächsten Anstoss zum Eintritt der Drehung mussten
wir in Berücksichtigung der Anamnese mit dem Vorfall am
Sylvestertage in Zusammenhang bringen.
Dem Patienten war im Bade der Bruch stärker als sonst
vorgefallen und konnte nur mit grösster Anstrengung, die
Patient selbst als zerrend, drückend, schiebend und drehend
bezeichnet, reponirt werden. Patient mag mit seinem durch
den Bruchcanal zurückzupressenden Netze ungefähr so vor¬
gegangen sein, wie Jemand, der einen Lappen durch einen
etwa zu reinigenden Lampencylinder durchpressen will. Es ist
nur zu wahrscheinlich, dass gerade bei diesen Manipulationen
die erste Drehung zu Stande gekommen sein mag; die anderen
Drehungen geschahen dann so wie bei intraperitonealen freien
Tumoren überhaupt; der wechselnde Druck der Nachbar¬
organe, die allmälige Schwellung unter dem halbgedrehten
Stiel, die Erschütterungen beim Gehen und Pressen etc. sind ja
als die die Torsion einleitenden und perfect machenden Kräfte
schon seit Rokitansky’s lichtvoller Darstellung hinlänglich
bekannt.
Nachdem nun einmal die Stieldrehung eingetreten war,
stellten sich auch bei unserem Patienten als Folgeerscheinungen
dieselben Erscheinungen ein, wie sie Torsionen anderer Organe
einzuleiten und zu begleiten pflegen.
Für die Vorgänge bei Torsionen können wegen ihrer
Häufigkeit die Stieltorsionen bei Ovarialcysten gewissermassen als
Paradigma dienen. Der ganze Syraptomencomplex, den wir
bei diesen zu beobachten gewohnt sind, fanden wir bei unserem
Kranken durch die Netztorsion ausgelöst. Der initiale Schüttel¬
frost, das initiale, auf Reflexreizung des Peritoneums zu be¬
ziehende Erbrechen, die stetig zunehmende Spannung des
Bauches, der Collaps und die Störung des Allgemeinbefindens
wurden uns bei der Operation erklärlich.
Auch der durch die Operation aufgedeckte Befund ent¬
sprach den schweren Circulationsstörungen, die durch die
Torsion ausgelöst worden war, vollkommen.
Am imponirendsten in dieser Beziehung musste wohl
die Umwandlung des früheren Bruchinhaltes, des Netzes, zu
einem mannskopfgrossen Tumor erscheinen.
Auf maximale Füllung der Venen und ödematöse Durcn-
tränkung war diese rapide Volumzunahme zurückzuführen,
ebenso und aus demselben Grunde, wie in derselben kurzen Zeit,
aus einer im kleinen Becken bequem Platz findenden Ovarial-
cyste ein den Unterleib vollständig erfüllender Tumor
werden kann.
Als Folge der intensiven Circulationsstörung ist auch
das massige, blutige Transsudat aufzufassen, das ja als ge¬
wöhnliche Begleiterscheinung bei in ihren Stielen torquirten
Tumoren angetroffen wird.
Dass ich die Diagnose nicht richtig stellte und dass ich
mich auf falsche Voraussetzungen hin zur Operation ent¬
schloss, wird mir bei dem singulären Ereigniss einer intra¬
abdominalen Netztorsion Niemand verargen können.
Unser Befund aber bestätigt von Neuem die Richtigkeit
der alten Regel: bei bestehender Hernie sind abdominale
Störungen zunächst auf die Hernie zu beziehen und finden
meist durch diese ihre Erklärung.
Aus der II. Wiener medicinischen Klinik (Hofrath Neusser).
Ueber die Hämamöben Löwit’s im Blute Leuk¬
ämischer.
Vorläufige Mittheilung.
Von Dr. Wilhelm Türk, klinischem Assistenten.
Als Prof. Löwit auf dem letzten Congresse für innere
Medicin in Karlsbad seine Präparate der »Haemamoeba leu-
kaemiae magna« demonstrirte, erlaubte ich mir, die Ansicht
auszusprechen, dass diese vermeintlichen Protozoen keine
parasitären Gebilde, sondernMastzellengranulatiomn, beziehungs¬
weise Kunstproducte aus solchen darstellen.
Am selben Tage noch zeigte ich auch Prof. Lö wit selbst und
den anwesenden Congresstheilnehmern ein Leukämie-Blutpräparat
meiner Sammlung, welches den »Amöben« Löwit’s ähnliche Ge¬
bilde in Methylenblau-Eosinfärbung zeigte und mich zu der mitge-
theilten Auffassung veranlasst hatte. Prof. Löwit erklärte damals,
dass die fraglichen Gebilde meines Präparates zwar von seinen
»Amöben« nach dem mikroskopischen Bilde nicht sicher zu
unterscheiden seien; er glaube jedoch, dass meine Gebilde Mast-
zellenproducte darstellen und sich von den seinen, die er als
Protozoen deuten müsse, dadurch ohne Weiteres werden unter¬
scheiden lassen, dass meine Färbung nicht »säurelest« sei wie
die seine.
Eine Prüfung dieser Behauptung Prof. Löwit’s war
insolange, als er seine Methoden nicht mittheilte, unmöglich.
Als jedoch zu Beginn des heurigen Jahres seine ausführliche
Monographie über diesen Gegenstand die erwartete Aufklärung
bezüglich der Methodik brachte, war mir nichts leichter, als
die Irrthümlichkeit der oben geäusserten Meinung Löwit’s,
dass meine Mastzellenproducte nicht »säurefest« in seinem
Sinne seien, darzuthun. Wenn man zwei Schwesterpräparate
desselben Leukämiefalles zu gleicher Zeit miteinander in
wässeriger Methylenblaulösuug unter Erwärmen färbt (das war
meine Methode gewesen) und nun das eine derselben mit 0 3°/0
salzsaurcm Alkohol — der sauren Differenzirungsflüssigkeit
L ö w i t’s — behandelt, das andere aber undifferenzirt einbettet,
so sind die fraglichen Gebilde in beiden 1 räpa-
raten in vollständig gleicher Weise erhalten.
Aber schon bald nach dem vorjährigen Congresse, im
April und Mai 1899, war es mir weiters gelungen, festzustellen,
dass die Mastzellen granulationen verschiedenartigen Methylen¬
blaulösungen gegenüber ein äusserst verschiedenes \ei-
halten zeigen. Ich schicke voraus, dass ich ausschliesslich von
Präparaten spreche, welche, wie auch die Löwit s, durch Er¬
hitzen nach Ehrlich fixirt wurden.
Färbt man ein solches Präparat unter Erwärmen in con-
centrirtem alkoholischem Methylenblau (Dr. Grübler),
so sind die Mastzellengranulationen in etwas verschiedener
Grösse und Deutlichkeit, wie sie eben in den Mastzellen des
leukämischen Blutes Vorkommen, distinct und metachromatisch
violett gefärbt. ~~ Nimmt man concentrates wässeriges
Methylenblau, so zeigt die Mehrzahl der Granulationen
eine auffällige Deformirung, während nur wenige in annähernd
normaler Gestalt erhalten sind: cs zeigen sich nämlich in dem
Protoplasma der Mastzellen grössere oder kleinere, rundliche,
ovale, kantige, bandförmige oder gar verzweigte violett gefärbte
Massen, daneben sieht man vielleicht noch einige granulaartige
runde Körner, die grosse Mehrzahl der Granulationen aber ist
nicht mehr als solche gefärbt zu finden. Es liegt für den un¬
befangenen Beobachter auf der Hand, dass durch die wässeiige
Farbstofflösung der die Farbenreaction gebende Bestandteil
der Granulationen in Folge einer durch die Erhitzung nicht
genügend erfolgten Fixation ausgelaugt worden und zu den
verschiedenartigst gestalteten Conglomeraten zusammenge¬
sintert ist. Dass der Wassergehalt der Farblösung dabei eine
wesentliche, wenn auch nicht die einzige Rolle spieit, lässt sie i
dadurch erweisen, dass diese »Auslaugung« umso stärker here or*
tritt, dass die Conglomerate umso grösser und unregelmässigei
werden, je mehr man die Methylenblaulösungen vei dünnt, unc
dass so schliesslich die ganze gefärbte Masse in den sonst sc ir
schwach gefärbten Kern diffundirt oderauchzu einem grossen,
291
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 13
vielfach ausserhalb und am Rande der Zelle liegenden, manchmal
spinnenartig verzweigten Klumpen zusammengeflossen erscheint.
Dass es sich bei all’ dem wirklich um Producte von Mastzellen¬
granulationen, nicht um fremdartige Gebilde handelt, geht aus
der einfachen Beobachtung hervor, dass die solche enthaltenden
Zellen den in anders gefärbten Schwesterpräparaten vorhandenen
Mastzellen an Zahl entsprechen und thatsächlich an ihre Stelle
getreten sind; denn mit normal erhaltenen Granulationen ver¬
sehene Mastzellen fehlen in diesen Präparaten.
Ganz gleichartig dem wässerigen Methylenblau, nur etwas
weniger deformirend, verhält sich Löfflers alkalisches
Methylenblau.
War durch diese nun fast ein Jahr alten Beobachtungen
meine Anschauung über die Natur der vermeintlichen Häm¬
amöben L ö w i t ’s wesentlich gestützt worden, so wurde sie zur
vollen Gewissheit schon durch die bisherigen Resultate der
noch lange nicht abgeschlossenen Nachprüfung der Lö wit¬
schen Untersuchungen mit seiner eigenen »specifischen«
Methode.
Ich will über diese Befunde vorläufig nur in kurzen
Sätzen berichten; eine ausführlichere Darstellung dieses Gegen¬
standes behalte ich mir für den heurigen Wiesbadener Congress
für innere Medicin vor.
Erstens stellt sich heraus, dass die Zellen, welche die
durch Färbung mit Mühlheimer Thionin oder der »basischen
Farbmischung« Lü wit’s mit oder ohne »Jodirung« dar¬
gestellten »Amöben« enthalten, an Zahl annähernd den in
anders gefärbten Schwesterpräparaten enthaltenen Mastzellen
entsprechen; hiebei sind natürlich die immer, wenn auch spärlich,
vorhandenen Zellen mit noch als solchen erkennbaren Mast¬
zellengranulationen eingerechnet. Ich bemerke nur nebenbei, dass,
wie schon aus dem Gesagten hervorgeht, auch hier nicht alle Mast¬
zellen in gleicher Weise der »Auslaugung« unterliegen, und
dass auf der anderen Seite durch die »specifische« Färbungs¬
methode auch die Kerne mancher Leukocyten, zumeist Lympho-
cyten, theilweise »ausgelaugt« werden, welche Producte dann
den gleichen Farbenton aufweisen wie die »Amöben«. Doch
sind sie von diesen meist ohne jede Schwierigkeit zu trennen,
denn die »Amöben« liegen nicht, wie L ö wit behauptet, grössten-
theils in den Lymphocyten, sondern diese sind durchwegs frei
davon, und behaftet mit ihnen sind nur die allerdings einen
einfachen oder gelappten, an sich sehr schwach färbbaren Kern
aufweisenden Mastzellen.
Zweitens konnte ich mit Thionin (Mühlheim) und »ba¬
sischer Farbmischung« ebenso wie früher mit Methylenblau
darthun, dass bei Verdünnung des Farbstoffes mit destillirtem
Wasser die »Amöben« im Allgemeinen grösser, mannigfacher
gestaltet, eventuell verzweigt werden (»Geisselformen«), während
sie bei unverdünntem Farbstoffe, wie esLöwit angibt, in der
Mehrzahl eine mehr minder deutliche Ringform erkennen
lassen, und dabei in der einzelnen Zelle meist zahlreicher er¬
scheinen.
Drittens gelang es mir, bei einer Anzahl Menschen,
welche nicht an Leukämie litten, in ihrem Blute aber — ohne
Leukocytose — doch wenigstens einen geringen Procentsatz
von Mastzellen hatten, durch die Färbung mit Lö wit’s
specifischer Methode die classischen » Amöben «bilder zu er¬
zeugen. Doch sind die Mastzellen des normalen Menschen
gegenüber der Auslaugung mehr widerstandsfähig als die des
Leukämikers, und es gelingt immer nur bei einem Brucktheile
derselben, die typischen Amöbenbildungen hervorzubringen,
während andere Zellen noch grösstentheils erhaltene Granulations-
lürbung und die schönsten Uebergangsformen von Mastzellen¬
granulationen zu L ö w i t’schen Hämamöben darbieten. Wiederum
entspricht die Summe der Zellen, welche erhaltene oder theil¬
weise deformirte Mastzellengranulationen und typische »Amöben«
enthalten, der Verhältnisszahl der in anderen Präparaten der¬
selben Blutentnahme bei demselben Patienten gefundenen Mast¬
zellen. So konnte ich die »Haemamoeba leukaemiae magna«
nachweisen im Blute bei: Pertussis, Chlorose, Asthma bronchiale,
Concretio pericardii, paroxysmaler Hämoglobinurie undCarcinom
des Magens.
Und viertens endlich gelang es mir, »Hämamöben« auch,
wenngleich nur mit Mühe, im Blute normaler Kaninchen
nachzuweisen ; allerdings sind die Mastzellen des normalen
Kaninchens noch mehr widerstandsfähig gegen die Auslaugung
als die des normalen Menschen, und die Deformation gelingt
dementsprechend nur in sehr wenigen Exemplaren.
Auf die Thierversuche L ö w i t’s kann ich heute, da meine
diesbezüglichen Nachuntersuchungen noch kaum begonnen
haben, nicht eingehen.
Feststellen muss ich nur im Gegensätze zu Löwit,
dass schon das normale Kaninchen Mastzellen annähernd in
der zehnfachen Verhältnisszahl des Menschen im Blute hat
(meistens 2 — 5°/0!). Und im Weiteren möchte ich nur jetzt
schon hervorheben, dass es Löwit nicht gelang, bei seinen
»leukämisch inficirten« Kaninchen das anatomische und
histologische Bild einer Leukämie zu erzeugen, sondern dass
er seine Behauptung, er habe die Leukämie auf sie übertragen,
ausschliesslich auf das Vorhandensein einer chronisch-reci-
divirenden Leukocytose und den Nachweis seiner Hämamöben
zu stützen vermag. Mit der Erkenntniss, dass Löwit’s
»Amöben« keine Parasiten, sondern Kunstproducte aus Mast¬
zellengranulationen darstellen, stürzt in Folge dessen auch
seine Argumentation bezüglich der Uebertragungsversuche in
sich zusammen: — denn eine chronisch- recidivirende Leuko¬
cytose, auch mit Mastzellen, ist nicht gleichbedeutend mit
Leukämie.
Aus der internen Abtheilung des Stabsarztes Universitäts-
Docenten Dr. Alois Pick im k. u. k. Garnisons-Spitale
Nr. 1 in Wien.
Zur Semiotik des zweiten Pulmonaltones.
(Klinische Studie mit Bettelheim-Gärtner’s Sthetophono-
meter.)
Von Dr. Adolf Hecht.
Während Laennec die Extensität der Herztöne, den
Verbreitungsbezirk ihrer Wahrnehmbarkeit auf der Oberfläche
des Thorax für sehr wesentlich hielt, erkannten seine Nach¬
folger, dass dabei die Richtung des Blutstromes und die Schall¬
leitungsverhältnisse der Medien eine massgebende Rolle spielen,
so dass zwischen Extensität und Intensität der Auscultations-
phänomene von Proportionalität nicht die Rede sein könne.
Scoda lehrte dann die wichtige Accentuation des zweiten
Pulmonaltones kennen ; und da diese der unmittelbarste Aus¬
druck für die Drucksteigerung im kleinen Kreislauf ist, spielt
heute der zweite Pulmonalton eine grosse differentialdiagnosti¬
sche und prognostische Rolle, die Smith36) dem ersten Pul¬
monalton zu übertragen sich vergeblich bemühte.
Nach der Anschauung der meisten Kliniker soll der
zweite Pulmonalton bei Myocarditis nicht so laut sein wie bei
Endocarditis, bei relativer Insufflcienz der Mitralis schwächer
als bei organischer. Besteht bei letzterer eine mächtige Ac¬
centuation, so ist daneben wohl auch eine Stenose des linken
venösen Ostiums vorhanden. Erlahmt der rechte Ventrikel und
kommt es gar zur relativen Tricuspidalinsufticienz, so ver¬
schwindet die Accentuation wieder. Bei Aortenfehlern kenn¬
zeichnet beginnende Accentuation den Eintritt einer relativen
Mitralinsufficienz ; hingegen warnen die Autoren vor allzu
rascher Annahme einer Accentuation bei der Aortenstenose,
bei der der zweite Aortenton so schwach ist.
Bei der Aorteninsufficienz ist die Beurtheilung durch
Wegfall des zweiten Aortentons als Vergleichsphänomen sehr
erschwert. Auch bei Nephritis kann die Accentuation des
zweiten Pulmonaltones leicht übersehen werden, wenn der
zweite Aortenton klingt. Die mit Persistenz des Ductus Botalli
einhergehende angeborene Pulmonalstenose ist im Gegensätze
zum Verhalten bei der Aortenstenose durch einen paukenden
zweiten Ton charakterisirt.
Pulmonalstenosen, gleichsam in der Continuität der Ar¬
terie, werden durch intrathoracische Tumoren und Lungen-
cirrhosen gebildet, auch sie führen zur Accentuirung des
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
295
zweiten Pulmonaltones. Beim Cor adiposum spricht die Ac¬
centuation für Verfettung vorwiegend de3 linken Ventrikels
mit consecutiver Hypertrophie rechts. Das Asthma cardiale5),
das nach dem Verhalten des linken Ventrikels ein Spasticum
und ein Pareticum sein kann, beruht auf einer Drucksteigerung
im kleinen Kreislauf, die zur Lungenschwellung und Lungen¬
starrheit führt, ja bei der spastischen Form sogar zum
Lungenödem.
Auch die Lehre vom Lungenödem ist mit den Studien
über die Druckverhältnisse des Lungenkreislaufes innig ver¬
knüpft. Welch40) führt es auf Erlahmen des linken Ven¬
trikels zurück, während Jürgen sen 15) die Möglichkeit eines
isolirten Erlahmens des linken Ventrikels mit Hinweis auf die
gemeinsamen Muskelfasern und die von Küttner18) be¬
schriebenen Gefässanastomosen zwischen dem grossen und
kleinen Kreislauf leugnet und eine allgemeine Herzschwäche
annimmt.
Sahli35) deducirt aus der mangelhaften Füllung der
Coronararterien die Unmöglichkeit einer isolirten Herz¬
schwäche des linken Ventrikels. Gegen Herzschwäche über¬
haupt spreche das Fehlen von Hirnerscheinungen, durch
Anämie bedingt. Bei der Lungenstauung %ax s^oyjjv, bei reiner
Mitralinsufficienz komme nie Lungenödem zur Beobachtung.
Er stellt überhaupt die mechanische Natur des Lungenödems
in Abrede, es soll nach ihm in Folge erhöhter Durchlässigkeit
der Gefässe in der Agone auftreten und dem entzündlichen
Oedem näher stehen, als dem Stauungstranssudat.
Gegen das Argument von den Coronararterien lässt sich
die jedem Experimentator bekannte Thatsache ins Feld führen,
dass beim Athmungsaussetzungsversuch am curarisirten Thiere
der linke Ventrikel zuerst erlahmt, während der rechte mit
verstärkter Function noch durch Minuten arbeitet.
Die Frage nach der Natur des Lungenödems beim
Menschen hat auch einen wichtigen therapeutischen Gesichts¬
punkt. Excitantia sind nämlich bei allgemeiner Herzschwäche
gewiss indicirt ; ob diese aber bei isolirter Herzschwäche links
nicht den intact arbeitenden rechten Ventrikel zu sehr stimu-
liren, ist eine schon aufgeworfene Frage. Ueber die Verhält¬
nisse beim Menschen können vielleicht systematische Beob¬
achtungen über das Verhalten der zweiten Töne über den
grossen Gefässen Klarheit schaffen.
Von den Respirationskrankheiten führen vor Allem die
mit Verödung von Capillaren einhergehenden ausgedehnten
Destructionsprocesse und das chronische (substantielle) Emphysem
zur Drucksteigerung im kleinen Kreislauf. Doch kann die
Verstärkung der Töne auch durch Resonanzverhältnisse, wie
sie eine benachbarte, infiltrirte Lungenpartie, eine Caverne,
ein Pneumothorax, dergeblähteMagen schaffen, zuStandekommen,
manchmal mit metallischem Beiklang. So hat Fischer 13) einen
Fall von auf sechs Schritte hörbarem Schreien des Herzens
beschrieben, bedingt durch totale Synechie des Pericards und
der Pleuren. L. Riess31) berichtet über mehrere wenn auch
nicht so ausgeprägte ähnliche Fälle und erklärt sich durch
Annäherung des Magens diese Schallerscheinungen. Eine an¬
dere Art der »falschen« Accentuation kommt durch Retraction
der Lungenränder und durch Entblössung des Anfangstheiles
der Pulmonalis zu Stande. Pleuritiden mit mächtigem Exsudat,
Ascites höheren Grades, Meteorismus peritonei und intestinalis
sollen durch die Athmungsbehinderung zur compensatorischen
Mehrleistung des rechten Ventrikels führen und daher mit
Accentuation des zweiten Pulmonaltones einhergehen. Doch
das ist Teleologie, keine Erklärung. Dazu kommt noch, dass
Li eilt heim22) gezeigt hat, dass bei Verlegung von selbst
drei Viertel der Strombahn in den Lungen der arterielle
Druck nicht sinke, eine Thatsache, die sich wohl aus dem fast
vollständigen Mangel eines Tonus der Lungengefässe erklärt.
Licht heim führt das Absinken des arteriellen Druckes im
Körperkreisläufe und die Drucksteigerung im Lungenkreis¬
läufe auf eine Druckwirkung des Exsudates auf das Herz und
eine Knickung der grossen Gefässstämme zurück; gegen
letzteres Moment macht Rosenbach32) geltend, dass die
Knickung der Aorta zur Accentuation des zweiten Äortentones
führen müsste, diese aber bei Pleuritis fehle. Ferner sind alle
Experimentatoren, so Poiseuille, Quinke, Pfeiffer,
Funke, Latschenberger, Kowalewsky darüber einig,
dass die relaxirte Lunge der Durchblutung einen geringeren
Widerstand entgegensetzt, als die aufgeblasene. Eine Erklärung
liegt vielleicht in der grösseren Vulnerabilität des linken \ en-
trikels gegen die Verdrängung des Herzens, und besonders
gegen die Kohlensäureintoxication. Auf diese Art würden alle
mit Lufthunger einhergehenden Affectionen zur Minder-
werthigkeit der Leistung des linken Ventrikels und in weiterer
Folge zur Stauung im Lungenkreisläufe führen.
Diese Annahme werde ich noch gelegentlich der Bäder¬
behandlung zu stützen suchen. Uebrigens lassen sich diese
Vorgänge durch Beobachtung des blossgelegten Herzens am
curarisirten Thiere während der Athmungsaussetzung ad oeulos
demonstriren.
Nicht anwendbar ist diese Erklärung auf jene Fälle von
Accentuation des zweiten Pulmonaltones, auf die Mann ab erg23)
aufmerksam gemacht hat. Es sind nämlich Perityphlitiden ohne
Meteorismus, ohne Zwerchfellhochstand. Meine Ansicht hier¬
über lege ich in einem besonderen Abschnitte klar.
Zur Drucksteigerung im Lungenkreisläufe stehen auch
gewisse Fälle von Galoppi'hythmus in genetischem Zusammen¬
hänge. In den »Archives generales de medecine« geben
Cuffer und Bar billon10) eine Eintheilung des Galopp-
rhytbmus nach P o t a i n 28) in einen mesosystolischen und diastoli¬
schen. Dieser kann imrecktenoderim linken Herzen durch Vorhof-
hyperkinese, später auch durch Vorhofbypertrophie zu Stande
kommen. Ueber die Hypertrophie des linken Vorhofes hat Dr. Ex-
chaquet gearbeitet, während die des rechten von Barie12)
ausführlich behandelt wurde. Nach letzterem Autor kommen,
wie schon Po tain29) hervorhebt, bei geringen Affectionen
des Digestionstractes vorübergehende Dilatationen der rechten
Herzhöhle vor, mit rechts localisirtem Galopprhythmus, wofür
Potain den Terminus »bruit de galop retrosternal« vorge¬
schlagen hat. Gastro- und Enterokatarrhe, Leber-, Uterus-,
0 varialaffectionen sollen durch Gefässkrämpfe zur Druck¬
steigerung im Lungenkreisläufe, daher auch zur Accentuation
des zweiten Pulmonaltones führen.
Gegenüber der Wichtigkeit des zweiten Pulmonaltones
spielt der zweite Aortenton eine untergeordnete Rolle, da für
die Druckmessung im grossen Kreislauf exactere Methode
existirten. Aber gerade bei Erkrankungen des Herzens ist
Gärtner’s Tonometer, wie neulich erst Weiss39) betont
hat, nicht so gut zu verwenden, als bei jenen Affectionen, die
zur Drucksteigerung durch Veränderung an der Peripherie
führen, wie Granularatrophie der Niere, Arteriosklerose,
Saturnismus chronicus. Man hat eben keinen Anhaltspunkt
dafür, welchen Antheil am Tonus in einem gegebenen Moment
die Herzkraft und welchen die Widerstände in der Peripherie
haben.
In diesen Fällen, sowie in anderen, die Gegenstand
späterer Eröterung sein mögen, entscheidet das Verhalten des
zweiten Aortentones.
Auffallend laut sind die zweiten Töne bei nervösen Herz-
affectionen, Morbus Basedowii, fieberhaften Zuständen, Anämie
und Chlorose. Bei letzterer Affection macht Sahli die Zart¬
heit und Schwingungsfähigkeit der Klappen, Andere’0), 3V) die
Retraction der Lungenränder für diese Erscheinung verant¬
wortlich.
Alle Herztöne werden jedes Mal leiser, wenn die Herz¬
kraft nachlässt, sei es durch acute Ueberanstrengung, Ver¬
blutung, Kohlensäureüberladung des Blutes, Herzgifte, depas-
cirende Krankheiten; ferner beim Erguss von Flüssigkeit ins
Pericard, so dass insbesondere die Stärke des ersten Mitral¬
tones für den Verlauf einer Pericarditis nach H. V i e r o r d t 1 ' )
einen brauchbaren Index abgibt. Die Abdrängung des Herzens
von der Thoraxwand und die Behinderung der diastolischen
Ventrikelfüllung bedingen eine »wahre« und »falsche« Ab¬
schwächung der Herztöne nebeneinander.
Die Angabe, dass bei Mitralstenosen der erste Mitral¬
ton durch Anspannung der Klappensegel aus gänzlicher Er¬
schlaffung laut und klingend ist, soll man nach Leu be-1)
fast nie bestätigt finden.
296
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 13
Diese Beschaffenheit des ersten Mitraltones und zugleich
auch des zweiten Aortentones soll nach Laiinnec das Cli-
quetis metallique ausmachen und Hypertrophie des linken
Ventrikels anzeigen.
Noch unwichtiger ist die Intensitätsbestimmung von
Schallphänomenen an peripheren Gefässen. Cruraltöne findet
man auch bei Anämischen und Fiebernden, aber nie so laut
als bei der Aorteninsufficienz. Auch bei der Tricuspidal-
insufficienz spielen Cruraltöne in den Cruralvenen eine Rolle.
Die Intensitätsmessung.
Die Lautheit der Herztöne wird bei verschiedenen nor¬
malen Menschen von der Schwingungsfähigkeit des Thorax,
sowie von dem Verhalten der aus Musculatur und Unterhaut¬
fettgewebe bestehenden Decken verschiedentlich beeinflusst,
weshalb exacte Messungen der absoluten Intensität eines Tones
kaum viel an verwerthbaren Resultaten liefern dürften; zum
Beispiel:
A. J. W., 22 Jahre alt, kräftig, reichlicher Panniculus
und gut entwickelte Musculatur, Cor gesund. Zweiter Aorten¬
ton 15 mm nach Gärtner’s Sthetophonometer (siehe unten).
Tonus 135 mm Hg (Gärtner’s Tonometer).
B. Wachmann P., 33 Jahre alt, klein, gradier Knochen¬
bau, schwächliche Musculatur, mager, Cor gesund. Zweiter
Aortenton 19 mm (Sthetophonometer). Tonus 105 mm Hg (Tono¬
meter).
Interessanter ist es schon, die Intensität eines Tones bei
demselben Individuum zu verschiedenen Zeiten unter ver¬
schiedenen Verhältnissen zu verfolgen. Eine Hauptfehlerquelle
liegt hiebei in der verschiedenen Perceptionsfähigkeit. So höre
ich nach dem Mittagmahle entschieden viel schlechter als vor
demselben, zum Beispiel:
J. W., 22 Jahre alt, Struma, Cor normal.
10 Uhr Vormittags: Tonus 125mm, fast unauslösch¬
licher zweiter Aortenton.
3 Uhr Nachmittags: Tonus 135mm, zweiter Aortenton
= 15 mm.
Auch diese Messungen büssen dadurch fast ihren
Werth ein.
Ganz anders steht es mit dem Verhältnisse zweier Herz¬
töne zu einander, so des zweiten Pulmonaltones zum zweiten
Aortenton. Auch hier können Fehler unterlaufen. W aldemar
Henriques11) hat auf Tonusschwankungen im Lungen¬
kreislauf aufmerksam gemacht. Durch gleichzeitige Druck¬
messung in der Pulmonalarterie und im linken Vorhof zeigte
er, dass rhythmische Schwankungen, ähnlich denen von
Traube-Heri n g im grossen Kreisläufe, auch in der Pul¬
monalarterie und im linken Vorhof vorhanden sind; daraus
zog er den Schluss, dass nicht Tonusschwankungen der
Lungengefässe, sondern rhythmische Schwankungen der Herz¬
arbeit die Ursache dafür abgeben.
Auscultatorisch konnte ich davon nichts wahrnehmen,
wohl aber ein nach Minuten wechselndes Lauter- und Leiser¬
werden beobachten, was vielleicht gar nicht am Patienten,
sondern am Untersucher liegt. Die Aufmerksamkeit schwank t ja mit
der Blutversorgung der Grosshirnrinde. Wenn man unmittelbar
hintereinander Aorta und Pulmonalis auscultirt und die
Messung wiederholt, vermeidet man wohl falsche Resultate.
Eine andere Fehlerquelle flnden wir schon bei Da Costa11)
genannt. Beim Vortreten der Lungenränder im tiefen In-
spirium verschwinden nämlich die Herztöne links ganz, rechts
aber nur theilweise; offenbar ist dafür die Excursion der
Lungenränder massgebend. Ich betrachte einen Ton immer
dann als erloschen, wenn er auch am Ende des Exspiriums
erloschen ist.
Die Messung der Lautheit kann, wie Bettelheim
und Gärtner6) hervorheben, nach zweierlei Principien vor¬
genommen werden.
Physikalisch einwandfrei ist die Messung durch solide
Leiter, wie sie mit grosser Mühe und Geduld II. V i e r o r d t 4 ')
durchgetührt hat. Benützt man aber die Luftleitung, so muss
man sie ausschliesslich benützen, wie es beim Sthetometer
nach Bettelheim und Gärtner geschehen ist.
Es ist ein Sthetoskop, bestehend aus einem Ebonittrichter
als Aufsatz und einen Neusilberrohr, welches einen nach der
Originalangabe O b mm weiten, 40 mm langen, der Längsachse
parallelen, linearen Spalt trägt, der aber nur die obere Hälfte
des Rohres einnimmt. Ebenso lang ist die darüber verschieb¬
liche Hartgummihülse. Dieser Apparat basirt auf dem Princip,
dass durch den seitlichen Spalt im Rohre Schallwellen ent¬
weichen, so dass der Ton, je weiter offen der Spalt ist, desto
schwächer wird, bis er endlich ganz verschwindet. Dadurch,
dass dieses Sthetoskop statt der Ohrplatte einen beiläufig
8 cm langen Kautschukschlauch mit einer Olive trägt, ist die
solide Schallleitung vollkommen eliminirt.
Je lauter ein Ton ist, in desto weiterer Ausdehnung
muss der Spalt offen sein, damit der Ton ausgelöscht werde.
Auch Höhe und Dauer sollen nach H. Vier or dt41) und
Gärtner6) dabei eine Rolle spielen. Man auscultirt zunächst
bei geschlossenem Spalt und schiebt dann die Hülse so lange
abwärts, bis man eben nichts mehr hört; dann liest man ab,
wie viele Millimeter der Spalt geöffnet war. Für sehr laute
Töne liess ich mir ein Instrument mit längerem Schlauch und
einer Spalte von 100 mm anfertigen ; und trotzdem sind manche
Töne für mich unauslöschbar geblieben.
Vierordt41) hat für sämmtliche acht Herztöne Mittel-
werthe ermittelt.
Uns interessiren für vorliegende Arbeit zunächst die
folgenden :
Zweiter Aortenton : 513 | respective für die Alters- ( 481.
Zweiter Pulmonalton : 624 J classe 21 — 38 Jahre ( 568.
Die Mittel werthe sind von geringer Bedeutung, wenn
wir die Maxima und Minima in Betracht ziehen.
Maximum Minimum
Zweiter Aortenton . . 744 288
Zweiter Pulmonalton . 885 384
Auch das Verhältnis des zweiten Pulmonaltones zum
zweiten Aortenton variirt sehr beim gesunden Menschen.
Es war einmal P:A = 432:288,
ein andermal =456:480.
Doch das sind extreme Fälle; meist ist nach II. Vier¬
ordt der Pulmonalton um ein Fünftel lauter als der
Aortenton.
Ich beziehe den P immer auf A = 100; so wäre nach
H. Vierordt P:A = 120:100, oder wie ich kurz schreibe,
P = 120 der Mittelwerth.
Gerhardt hält beide Töne für gleich laut, Guttmann
sogar den Aortenton für den lauteren Ton.
Ganz anders steht es mit den Druckverhältnissen in den
grossen Gefässen.
P : A = 1 : 3 schätzen Beutner und M a r e y.
P : A = 2 : 5 schätzen Goltz und Gaule.
P: A = 60: 111 nach Messungen von Fick und B a-
d o u d am Hunde.
P : A = 1 : 6'8 nach Knoll am Kaninchen.
Aus dem Verhältnisse der Gefässlumina zu schliessen,
ist der Pulmonaldruck beim Kinde relativ höher als beim Er¬
wachsenen.
Die Töne können sich übrigens auch nicht den Druckhöhen
proportional verhalten; denn die Pulmonalarterie auscultiren
wir an der Klappe, die Aorta aber nicht. Das Ostium arter.
sinistrum liegt um 1'5 cm tiefer als das dextrum, etwas rechts
und hinter dem letzteren (Ry d i n g e r 31), und wir auscultiren
den diastolischen Ton, von der rückläufigen Welle erzeugt,
peripheriewärts, also sogar gegen die Stromrichtung. So kommt
es, dass wir im Falle der Druckgleichheit zwischen Aorta und
Pulmonalarterie, nämlich bei Persistenz des Ductus Botalli
einen mächtig accentuiiten Pulmonalton haben.
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
297
Nehmen wir die zweiten Töne über den venösen Ostien
als Massstab, so verhält sich nach H. Vier or dt der zweite
Mitral- zum zweiten Tricuspidalton wie 479:422.
Da prägt sich schon, zwar nur unvollkommen, der
höhere Druck der Aorta aus. Die Stromrichtung ist eben
gleichsinnig, aber der linke Ventrikel liegt mehr nach hinten,
als der rechte, und bei Hypertrophie des rechten Ventrikels
ist er vollends nach hinten gedrängt.
Wollen wir aus der Schallintensität auf den Druck
schliessen, so müssen wir uns auch den Satz von Overbeck
und Karl v. Vierordt vergegenwärtigen, dass die Schall¬
intensitäten beim Auffallen gleich grosser Kugeln aus ver¬
schiedener Höhe nicht mit den Fallhöhen selbst, sondern nur
mit deren Quadratwurzeln wachsen. Es müsste in unserem
Falle der doppelten Schallstärke der vierfache Druck, der
dreifachen Schallstärke bereits der neunfache Druck ent¬
sprechen.
Der Pulmonaldruck während der Verdauung und bei
abdominalen Affectionen.
Meine Untersuchungen an Gesunden ergaben als untere
Grenze des zweiten Pulmonaltones 100. Nach oben konnte ich
nicht gut eine solche festsetzen, da mir gar bald die That-
sache auffiel, dass die Nahrungsaufnahme den zweiten Pul¬
monalton stark in die Höhe treibt.
Nachstehende Tabellen mögen zur Illustration des Ge¬
sagten dienen.
I.
Nr.
Diagnose
Pulmonalton
2 Uhi-
Nachmittags
Pulmonalton
10 Uhr
Vormittags
1
N. S., Epilepsie .
125
100
2
L. O., Epilepsie, Fettsucht . . .
unauslöschlich
500
3
B. S., Epilepsie .
170
142
4
S. L., Schädelimpression, Cepha¬
laea .
200
125
5
G. S., Bettnässer .
291
166
6
D. O., Psychose? .
600
375
7
J. R., Epilepsie .
manchmal
gespalten
360
144
8
J. L., Observat. forens .
187
117
9
F. B , Epilepsie .
171
166
10
F. D., Hysterie .
264
100
n
A. P., Mitralinsufficienz ....
200
150
12
II. M., Reconvalescenz nach
Malaria .
600
266
13
M. S., Bronchitis diffusa ....
171
120
14
R. S., Trachom .
250!
400 !
15
J. II., Trachom .
116
100
.16
J. M., Trachom .
150
100
17
W. P., Trachom .
170
113
18 •
F. J., Trachom .
215
157
19
W. J., Trachom .
275
200
20
S. J., Trachom .
143
120
21
A. S., Trachom .
120
100
22
D. S., Trachom .
200
143
23
T. K., Trachom ... . •
145
125
24
W. K., Trachom .
200
140
25
M. S., Bronch. cat .
171
120
Anmerkung1: Eine »falsche Accentuation« durch Aufge-
triehensein des Magens oder eines Darmtheiles war in keinem lalle
anzunehmen.
Die Untersuchten waren durchwegs Soldaten während der activen
Dienstzeit.
Die Tabelle I enthält mit Ausnahme des Falles Nr. 14
durchwegs beträchtliche Verstärkung des zweiten Pulmonal¬
tones in der Phase der Resorption. Da Dr. Hugo Weiss 3'J)
jüngst erst durch Untersuchungen mit dem Ionometer
Gartner’s einen Druckabfall in der \ erdauungsperiode
nachgewiesen hat, der uns durch die Resorptionshyperämie
des Digestionstractes sehr begreiflich erscheint, so könnten
wir die Aenderung des Pulmonaltonwerthes auf Verkleinerung
des Nenners schieben, auf Leiserwerden des zweiten
Aortentones, zum Beispiel:
M. S: Tonus = 125 mm ; P = 173, 10 Uhr a. m.
Tonus = 105 mm\ P = 300, 2 Uhr p. m.
II.
(Nr. 4.) S. L. Schädelimpression und Cephalaea.
p 6h 8 10 12 2 4 6 8 10
III.
(Nr. 9.) F. B. Epilepsie.
P 6h 8 10 12 2 4 G 8 10
A nmerkungl Das Frühstück bestand aus einer Zwiebelsuppe,
das Mittagmahl aus Rindsuppe, Rindfleisch, Kraut und einem Brot, das
Nachtmahl aus Suppe und etwas Reisfleisch nebst einem Brot.
Diese Erklärung wird aber durch jene Fälle illusorisch,
in denen nach der Mahlzeit eine deutliche Drucksteigerung
im grossen Kreislauf eintrat.
1. M. R. Bronchit. diffusa; Cor normal, anämisches Ge¬
räusch an der Pulmonalis.
2 Uhr p. m. P > A, beide unauslöschlich. Tonus = 145 um.
10 Uhr a. m. P = 85, Tonus = 130 mm.
2. J. C. Vor drei Jahren Polyarthritis. Jetzt hebender
Spitzenstoss im fünften Intercostalraume in der Mamillarlinie.
Verbreiterte sichtbare Herzaction. Leichte Verbreiterung der
Herzdämpfung über den linken Sternalrand. Zeitweilig systo¬
lisches Geräusch über allen Ostien (Mitralinsufficienz ?).
2 Uhr p. m. P )> A ; beide unauslöschlich. Tonus = 150.
10 Uhr a. m. P<A; » » Tonus = 130.
Wir sehen in beiden Fällen trotz dieser (vielleicht
psychisch bedingten) Drucksteigerung im Körperkreislauf den
Pulmonalton lauter werden. _ .
Die während der Verdauung im Lungenkreislaute ein¬
tretende Drucksteigerung hat ihr pathologisches Paradigma in
derjenigen, welche bei abdominalen Affectionen aultritt und
zum »bruit de Galop retrosternal« Po tain’s, sowie zur Ac¬
centuation des zweiten Pulmonaltones bei Paratyphlitis nac i
Mannaberg führt.
298
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 13
Mit Hilfe oben erwähnter Thatsachen sei eine Erklärung
dieses Phänomens versucht.
Mannaberg23) hebt ausdrücklich hervor, er habe die
Accentuirung auch ohne Auftreibung des Abdomens, ohne
Hinaufdrängung des Zwerchfelles, ohne jedes Zeichen von
Dyspnoe beobachtet. Dass Fieber oder Schmerz nicht an der
Drucksteigerung schuld sein können, geht aus der Fortdauer
derselben in die Reconvalescenz hinein hervor.
Po t a in 23) hält, was Mannaberg bereits zurückweist,
einen reflectorischen Gefässkrampf in der Lunge für die Ursache
all jener Drucksteigerungen im Lungenkreislauf. Er sagt :
»C'est aussi la circulation capillaire de poumons qui est atteinte
dans les troubles dyspeptiques et intestinaux«. . . .
»Les capillaires se eontractent spasmodiquement au
moment de la digestion.«
Offenbar schwebte ihm zwischen den Circulationsver-
hältnissen in der Lunge während der Verdauung und denen
bei abdominalen Affectionen eine gewisse Analogie vor. Aber
man bedenke: Ein Gefässkrampf soll durch zwei Wochen
anhalten!
Wir wissen, dass die Vasoconstrictoren überaus leicht
ermüden, dass der Reizungsanämie gar bald die Lähmungs¬
hyperämie folgt. An dieser Stelle seien auch die vasomotorischen
Verhältnisse der Lunge erörtert.
Brown-Sequard, Fick und B a d o u d, sowie Licht¬
heim bezeichnen den Vagus, sowie spinale Fasern aus dem
Halsmark, die den Weg durch das erste Ganglion des Brust¬
grenzstranges nehmen, als Vasomotoren der Lunge (citirt nach
Landois13). Nach Bradford und Dean8) sollen sie aus
dem dritten bis fünften Brustnerven hervorgehen.
Bad ou d erhielt im Laboratorium Fick bei Reizung
des Halsmarkes wie im grossen so auch im kleinen Kreis¬
läufe eine mächtige Drucksteigerung und schloss daraus auf
Contraction der Lungengefässe. Eine secundäre Drucksteigerung
vom Körperkreisläufe her hält er für ausgeschlossen, weil er
durch Splanchnicusreizuug einen enormen Anstieg im grossen,
einen kaum nennenswerthen hingegen im kleinen Kreisläufe
erhielt. Nach Durchschneidung des Halsmarkes sank auch der
Druck in der Pulmonalis.
Er hatte zu seinen Messungen von der Vena jugularis
externa aus eine Canule ins rechte Herz eingeschoben, während
L i c h t h e i m und 0 p e n c h o w s k y in der Pulmonalis selbst
massen, um die Schleuderung des Schreibhebels zu verringern.
Openchowsky 25) bekam auf Halsmarkreizung bei
durchschnittenen Splanclmici keine Pulmonaldrucksteigerung,
da auch der Aortendruck nicht anstieg. Er erhielt überhaupt
nie Pulmonaldrucksteigerung allein und stellte darauf fussend
die Lehre auf, dass die Vasoconstrictoren der Lunge sehr
wenig reizbar sind, eine Thatsache, auf die auch Ph. Knoll
aufmerksam gemacht hat.
Hingegen erzielte Openchowsky durch Druck auf
den Unterleib der Thiere und so mechanisch beförderte
Entleerung der Venen einen Druckanstieg in der Pulmonalis.
Slaviansky und Basch erhielten dasselbe Resultat durch
Reizung der durchschnittenen Splanchnici. Offenbar pressten
dabei die Abdominalorgane ihr Blut in die Venen aus. Und
wenn Morel das Gleiche von der elektrischen und mechani¬
schen Reizung der Baucheingeweide berichtet, so muss ich
nach alledem diese Erscheinung so verstehen, dass er dadurch
eine Hyperämie des Abdomens setzt, wodurch der rechte Ven¬
trikel reichlicher mit Blut gespeist wird, der hinwiederum
mit gesteigerter Arbeitsleistung darauf antwortet.
So halte ich die Verdauungshyperämie für die Ursache
der physiologischen Pulmonaldrucksteigerung nach der Mahl¬
zeit, und die fluxionäre Hyperämie, die die Entztindungsprocesse
begleitet, für die Ursache der Accentuation bei Peritonitiden, Peri-
typhlitiden u. s. w. Auch die Dauer dieses Phänomens bis in
die Reconvalescenz hinein wird verständlich*, denn Hyperämie
ist die erste und meist auch die letzte Erscheinung bei ent¬
zündlichen Processen, zum Beispiel bei Angina catarrhalis
können Fieber und Schmerz schon geschwunden sein, trotz¬
dem die Schleimhaut noch immer geröthet ist.
Beispiele:
1. R. P. acuter Gastroenterokatarrh, sechs flüssige Stühle,
kein Fieber, Cor normal. P — 200.
2. Wachmann P., 33 Jahre alt, Catarrhus ventriculi chron.
Cor normal. P = 120.
Bei diesem bereits seit Jahren bestehenden Katarrh war die
Hyperämie längst in den Hintergrund getreten.
3. Wachmann G., 40 Jahre alt; Paratyphlitis mit Durchbruch
in die freie Bauchhöhle. Exitus.
Bis in die Agonie war der zweite Pulmonalton unauslöschbar
gewesen. Die Section bestätigte die Diagnose.
4. Wachmann L. H., 32 Jahre alt; Reizung des als Strang
palpablen Processus vermiformis. Druckempfindlichkeit. Seit zwei
Tagen kein Stuhl. Kein Fieber. P = 100.
5. J. M. ; bietet ein ähnliches Bild schon das dritte Mal.
P = 93. Auf Irrigationen nach zwei Tagen Heilung.
6. H. H., 12. Februar. Patient ist seit fünf Tagen ohne Stuhl.
Kein Erbrechen, kein Meteorismus. Nirgends im Abdomen eine
Resistenz oder Dämpfung nachweisbar. Grosse Druckempfmdliehkeit
und Schmerzhaftigkeit im ganzen Hypogastrium.
Temperatur 38T°. Augen halonirt.
Ueber den Lungen überall Giemen und Schnurren.
Influenzaperitonitis (?). P = 250.
13. Februar. Status idem. Auf Irrigation erfolgt Stuhl. Puls
= 120. Tonus (G är t n e r) = 90 mm. P = 360.
14. und 15. Februar etwas Meteorismus. P = 300.
16. Februar. Entfieberung, Nachlass der Schmerzen.
P = 177.
17. Februar. Subjectiv wohl, Appetit, Tonus = 100 mm.
P = 128.
18. Februar. Neuerdings Schmerzen, die auf eine Irrigation
nachlassen. P = 128.
Bis 22. Februar wohl. Auf Irrigation kein Stuhl, mehrmaliges
galliges Erbrechen, fortwährendes Aufstossen. Puls = 150, Tonus
= 100 mm, Temperatur = 38'6°. Schmerzen, Meteorismus, tympa-
nitische Dämpfung in der rechten Flanke. Das Diaphragma steht
rechts an der fünften Rippe. P = 500.
23. Februar. Laparotomie. Diffuse fibrinös-eiterige Peritonitis
mit Verklebungen. Nach der Operation Nachlass der Schmerzen.
Temperatur = 371°. Puls = 124. P=300.
24. Februar. Patient erbricht alles, heftigste Schmerzen.
Temperatur = 37*6°. Puls =136. Tonus = 90 m?». Der zweite
Pulmonalton wird tastbar. P = 600.
25. Februar vier diarrhoische Stühle, Puls = 136, Tempe¬
ratur 37-9°. P = 700.
26. Februar. Unstillbares Erbrechen hält an ; sechs diarrhoi¬
sche Stühle. Puls =126. P=1000. Der zweite Pulmonalton ist
sehr deutlich tastbar.
27. Februar. Exitus letalis.
Dieser Fall zeigt besonders schön, wie parallel mit den peri¬
tonealen Reizerscheinungen der zweite Pulmonalton lauter und
leiser wird. Er ist auch ätiologisch interessant.
Da Patient die Symptome einer respiratorischen Influenza
zeigte, wurde das Krankheitsbild als Influenzaperitonitis gedeutet.
Teissier37) berichtet ja, dass nicht nur Enteritiden, sondern
auch Symptome von Darmlähmung eine Influenza begleiten können.
»Nous l’avons vu simuler une perityphlite classique.« Diese soll
aber nicht wie sonst vom Appendix, sondern vom Cöcum aus¬
gehen (Leichtenstern 20).
Schon im Fall 2 konnten wir sehen, dass nur acute, mit
lebhafter Hyperämie einhergehende Processe zur Accentuation des
zweiten Pulmonaltones führen. Das zeigt auch folgender Fall.
7. R. V. Tuberculosis serosarum. Wenige Tage nach einer
Ö ö
Punctio abdominis, bei der 9/ Exsudat entleert worden waren,
hatte der Patient P = 118 höchstens bis P = 126 trotz gleich¬
zeitig bestehender beiderseitiger tuberculöser Pleuritis. Erst als das
Abdomen wieder sehr vergrössert war und man mit Rücksicht auf
den rapiden Kräfteverfall von einer neuerlichen Punction Abstand
nehmen musste, stieg in Folge der Herzverdrängung nach oben und
des Lufthungers der P auf 500. Das war gewiss nicht durch
bessere Speisung des rechten Ventrikels mit Blut, sondern durch
Stauung vom geschwächten linken Herzen her bedingt. Vielleicht
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
299
spielte auch das Leiserwerden des zweiten Aortentones mit, um
das Verhältniss der beiden zweiten Töne im gleichen Sinne zu
verändern. Die eben angeführten Momente können auch im Falle G
von einigem Belang gewesen sein. Die Obduction bestätigte die
Diagnose. Das Herz wurde braun, atrophisch gefunden, und so war
durch die Schwäche des linken Ventrikels der letzte Rest der
Reservekraft des rechten ausgelöst worden.
Bronchialkatarrh und Influenza.
Seit Anfang Januar kam eine Reihe von Influenzen zur
Beobachtung, während im Herbst der fieberlose, descendirende
Tracheal- und Bronchialkatarrh sehr häufig war. Die Diagnose
»Influenza« war durch das epidemische Auftreten, den gleichen
Verlauf, das hohe remittirende Fieber, die Neuralgien, Muskel¬
schmerzen und schweren Allgemeinsymptome überhaupt ge¬
nügend sichergestellt.
1. D. M. Angina catarrhalis ; afebril, über der ganzen Lunge
Rhonchi sonori et sybillantes. Bronchitis diffusa. P =74.
2. J. F., Wachmann, 30 Jahre alt, Reconvalescent nach
Rheumatismus musculorum. Bronchitis diffusa. P = 20.
3. N. P. Bronchitis diffusa ohne Fieber. P = 74.
4. J. C. Bronchitis diffusa ohne Fieber. P — 30.
5. M. G. Bronchitis diffusa ohne Fieber. P = 55.
6. M. R. Bronchitis diffusa ohne Fieber. P = 85.
7. J. B. Bronchitis diffusa ohne Fieber. P = 40. Zwei
Wochen nach der Heilung P = 100.
8. T. S. Bronchitis diffusa. Temperatur = 37 4. Die Milz ist
palpabel. P = 30.
Hingegen :
9. B. G. Influenza. Temperatur = 38'2°. P = 343.
10. J. N. Influenza. Temperatur = 37‘6°. P = 350.
11. G. D. Influenza. Temperatur = 38‘2°. P = 225. Nach
vier Tagen kein Fieber ; es besteht diffuser Bronchialkatarrh.
P = 71.
12. J. R. Influenza. Temperatur =39 T°. Es bestehen in
den Unterlappen kleine pneumonische Herde. P = 200.
13. M. R. Influenza. Temperatur = 38-5°. Trigeminusneur¬
algie. P = 300.
14. J. R. Influenza mit pneumonischen Herden. P = 150.
Herzschwäche, Lungenödem.
15. M. S. Influenza? Temperatur = 37-8°. Die Allgemein¬
symptome sind nur angedeutet. P = 120.
16. H. R. Influenza? Temperatur = 37'6°. Die Allgemein¬
symptome sind kaum vorhanden. P = 118.
17. T. A. Schwere diffuse Bronchitis. Kein Fieber; aber
Cyanose und Dyspnoe. Das Exspirium ist sehr verlängert.
P über 200.
18. R. P. Derselbe Befund, daneben etwas Tiefstand der
unteren Lungengrenzen. (Beginnendes Volumen pulmonum auctum.)
P über 200.
Alle Messungen wurden um 10 Uhr Morgens ausgeführt. Wo
nichts bemerkt ist, handelt es sich um Soldaten zwischen 20 und
24 Jahren.
Wir sehen, dass bei der einfachen afebrilen Bronchitis
ohne wesentliche Dyspnoe der Pulmonaldruck sehr bedeutend
herabgesetzt ist. Diese Thatsache erklärt sich ungezwungen
aus der Hyperämie der Gefässnetze der Lungenarterie und
der Bronchialarterien, die mit dieser in reichem Masse ana-
stomosiren. Ebenso sinkt der Aortendruck bei Hyperämie im
Abdomen. Uebrigens konnte ich das Absinken des Druckes
in einem hyperämisirten Gefässgebiet jüngst sehr gut mit dem
G ä r t n e Eschen Tonometer nachweisen.
Der Wachmann R. S., 35 Jahre alt, unterzieht sich der
localen Heissluftbehandlung nach Bier wegen chronischer
Arthritis in der Hand.
An der zweiten Phalanx des rechten vierten Fingers ist
der Druck vorher 145 mm, nachher 128 mm. Natürlich war
die Hand stark hyperämisch.
Die Fälle 17 und 18 gehen mit starker Dyspnoe und
Cyanose einher und aus der Kohlensäureüberladung des Blutes
erklärt sich auch die Accentuation.
Aus demselben Grunde steigert ein Bronchialkatarrh
auch die Accentuirung des zweiten Pulmonaltones beim Em¬
physem.
Armeediener A. L., 47 Jahre alt, Emphysem. Lungen¬
grenzen rechts vorn siebente Rippe, links vorn fünfte Rippe,
hinten zwölfte Rippe. Geringe Verschiebbarkeit. Schachtelton.
P = 150. Während eines afebrilen Bronchialkatarrhs P=180,
nach Ablauf desselben P = 133, neuerlich Katarrh P = 166,
nach Ablauf P = 130.
In den ausgesprochenen Fällen von Influenza war der
zweite Pulmonalton jedes Mal sehr laut, während in jenen
Fällen (15 und 16), die wegen der unbedeutenden Allgemein¬
symptome höchstens eine sehr leichte Influenza annehmen
Hessen, die Accentuation vollkommen fehlte.
Im Falle 11 überdauerten die bronchitischen Erschei¬
nungen die Allgemeinerkrankung um eine Woche. Nach der
Entfieberung nahm der accentuirte Pulmonalton jene niederen
Werthe an, die ich bei einfachen Bronchialkatarrhen ge¬
funden hatte.
Durch diese Beobachtungen fand ich mich zu der An¬
nahme veranlasst, dass es sich um eine Wirkung der In¬
fluenzatoxine handle, die, wie bekannt, den Herzmuskel und
dessen nervöse Apparate so schwer schädigen, dass von fran¬
zösischer Seite eine »forme cardiaque« der Influenza beschrieben
wurde; ja es kann sogar, ganz wie nach Diphtherie, zum
Herztod kommen (Leichtenste rn 20).
Ebenso hat P i g n o 1 27) eine acute Dilatation des linken
Ventrikels bei der Influenza beschrieben, und auch Dräsche l2)
und Teissier27) haben die schädliche Wirkung der Influenza¬
toxine auf das Herz betont.
Die Pleuritis.
Bei der Pleuritis wird der Pulmonaldruck durch ver¬
schiedene Momente beeinflusst; daher gehen die ermittelten
Werthe weit auseinander.
1. L. F. D. Nach croupöser Pneumonie Pleuritis exsudativa
sin.: die ganze Seite ist gedämpft. Die Herzdämpfung reicht nach
rechts bis zur Mittellinie. Keine wesentliche Dyspnoe oder Cyanose.
P = 100.
Wie schon oben betont wurde, wirkt die Relaxation der
Lunge druckerniedrigend, und dieses Moment kommt hier in Be¬
tracht, da die Herzkraft intact ist. Aehnlich ist
2. L. N. Pleuritis sinistra; die ganze Seite ist gedämpft.
Der wiederkehrende Fremitus zeigt die Schwartenbildung an.
P = 87.
Hingegen:
3. J. C. Pleuritis exsudativa sin. bis zum Angulus scapu¬
lae infer.
12. Februar. Herzverdrängung, so dass die Dämpfung bis an
den rechten Sternalrand reicht. Der zweite Aortenton ist laut,
klingend, dabei der Tonus nur 90 mm nach Gärtner, also viel¬
leicht Aortenknickung. P = 60 (durch Accentuirung des zweiten
Aortentones !).
17. Februar. Die Herzdämpfung reicht nur bis zur Mittel¬
linie. Zweiter Pulmonal- und Aortenton sind annähernd gleich laut,
beide unauslöschlich.
20. Februar. Die Herzdämpfung überragt kaum etwas den
linken Sternalrand. P = 166.
Jetzt kommt also erst die durch den Lufthunger hervorge¬
rufene Drucksteigerung im kleinen Kreislauf zum Ausdruck, da der
Aortenton von normaler Lautheit ist.
4. P. S. Pleuritis exsudativa sin. bis zum Angulus.
12. Januar. Keine Herzverdrängung, keine Cyanose. P=73
(durch Lungenrelaxation).
17. Januar. P = 35. Hier ist aber auch eine »falsche« Ab¬
schwächung des zweiten Pulmonaltones dabei, da das anwachsende
Exsudat das Herz von der Thoraxwand links abgedrängt hat. Im
zweiten linken Intercostalraum besteht absolute Dämpfung.
. 5. S. II. Recidivirende Pleuritis. Links vorne unten Reiben,
rechts hinten unten drei Querfinger hohe Schwarte.
Die Herzdämpfung beginnt am oberen Rand der dritten Rippe.
P über 300 (unauslöschlich).
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 13
300
Man wäre versucht, eine falsche Accentuirung durch Ent-
blössung des Anfangstheils der Pulmonalarterie anzunehmen, aber
auch im Interscapularraum ist der zweite Ton hörbar; daher muss
es sich um eine wirkliche Drucksteigerung handeln, sei es durch
Schrumpfung am Lungenhilus, oder durch Druckwirkung geschwollener
Lymphdrüsen daselbst auf die Lungenvenen.
6. J. M. Nach beiderseitiger croupöser Pneumonie finden wir
zwei Wochen nach der Krise, am 19. Januar, links hinten noch
eine exsudative Pleuritis bis an den Angulus; kein Fremitus.
P = 157.
17. Februar. Schwacher Fremitus, Uebergang in Schwarte.
P = 270.
Durch Organisation des Exsudates kann doch keine Druck¬
steigerung zu Stande kommen, daher muss diese Accentuirung
durch die veränderten Resonanzverhältnisse vorgetäuscht sein.
7. J. L. Ist seit zehn Tagen an Influenza erkrankt. Jetzt
heftige diffuse Bronchitis mit Dyspnoe und Cyanose. Das Exspirium
ist stark verlängert. Respiration 36. Temperatur B8'4°. Rechts
hinten unten drei Querfinger hohe Pleuritis exsudativa. P = 400,
also Accentuirung trotz der Relaxation in Folge der Cyanose und
vor Allem der Influenzainfection, die wahrscheinlich mit der Pleuritis
in causalem Zusammenhang steht.
8. L. V. Pleuritis dextra tuberculosa. Rechts hinten unten
Dämpfung mit aufgehobenem Fremitus bis zum Angulus. Dämpfung
über der rechten Lungenspitze, Cavernen im rechten Oberlappen.
P = 466.
Drei Wochen später ist ein Stillstand des Processes einge¬
treten. Kein Fieber. Der Pulmonalton ist stationär.
Auch in diesem Falle halte ich die Schwäche des linken
Ventrikels für die Ursache der Drucksteigerung im Lungenkreislauf.
Das Emphysem.
Die Accentuirung des zweiten Pulmonaltones beim Em¬
physema pulmonum ist sehr leicht durch Verengerung des
Strombettes der Pulmonalis erklärlich; doch die Arbeit von
Li cht he im'22) macht es wahrscheinlicher, dass die Cyanose
bei dieser Krankheit die Drucksteigerung in der Pulmonal¬
arterie bedingt. Dafür sprechen auch die Schwankungen des
Pulmonaltones je nach dem Verhalten des concomitirenden
Bronchialkatarrhs (siehe oben). Es sei eines Falles gedacht, in
dem diese Accentuirung, die doch sonst constant ist, fehlte.
Invalid F. T., 49 Jahre alt, Lungengrenzen : Rechts vorn
achte Rippe, links keine Herzdämpfung, hinten zwölfte Rippe.
Die Radialarterie ist rigid, geschlängelt. Der Tonus = 150 mm
nach Gärt n e r. Der zweite Aortenton ist klingend, daher Pul¬
monalton nur =60.
Arteriosklerose und Emphysem, die Abnützungskrank¬
heiten, kommen im höheren Alter gewiss oft nebeneinander
vor; die Verdeckung der Accentuation des zweiten Pulmonal¬
tones durch den klingenden zweiten Aortenton muss recht
häufig sein.
Die Pneumonie
(und die Wirkung kühler Bäder).
Die Bäder zur Behandlung der Pneumoniker kommen
an unserer Abtheilung in Form von Halbbädern von 24° R.,
abgekühlt auf 22°, zur Verwendung.
Der Patient verbleibt im Bad acht Minuten, wird von
zwei Wärtern frottirt und bekommt zeitweilig eine kalte
Douche auf den Nacken. Zur Verhütung von Collaps erhält
er mehrmals einen Schluck Eiercognac nach der Vorschrift
von Stoke.
Die physiologische Wirkung der Bäder wurde von
A. Breitenstei n !l) eingehend studirt. Nach ihm geben alle
Autoren bei Gesunden eine vorübergehende Drucksteigerung
an, während bei Fiebernden nach der gewöhnlichen Angabe
der Tonus conform mit der Puls- und Respirationsfrequenz
absinkt.
Br ei ten st ein fand bei Typhuskranken oft einen be¬
trächtlichen Tonusanstieg, in anderen Fällen wieder einen
Abfall und bringt mit der Vasoconstriction, respective Vaso¬
dilatation diese differenten Resultate in Zusammenhang. Er
betont auch, dass die Kreislaufgeschwindigkeit gar nicht vom
absoluten Druck in der Arterie abhängt, sondern nur von der
Druckdifferenz zwischen dem arteriellen und venösen System.
Werden Herzkraft und Athmung ungenügend, so kommt es
in jenen Kreislaufgebieten zu Stauungen, in denen der arte¬
rielle Druck besonders niedrig ist, das sind Lunge und
Leber.
Ueber die Wirkung hydrotherapeutischer Massnahmen
bei der Pneumonie haben Kaufmann und De B a r y 16)
gearbeitet. Sie bedienten sich bei ihren Blutdruckmessungen
des Sphygmomanometers von v. Basch.
In Betreff der Pneumonie kommen sie zu Schlüssen, die
sich in folgende Sätze kleiden lassen.
1. Der Blutdruck ist meist tief unter der Norm. 2. In
der Krise sinkt er noch tiefer. 3. P r i e-s s n i t z’sche Ein¬
wickelungen setzen den Blutdruck herab. 4. Halbbäder von
24° auf 22° R. haben die gleiche Wirkung in noch höherem
Masse, was die Untersucher auf den gesteigerten Abfluss nach
der hyperämischen Haut zurückführen.
Meine Beobachtungen ergaben:
1. J. K., croupöse Pneumonie des linken Unterlappens.
9. Januar. 10 Minuten nach dem Bad
Puls : 104 . 90
Respiration : 48 . 36
Temperatur : 39° . 38’8°
ZweiterPulmonalton:125(15mm: 12 mm) . 46(12 mm :2 6 row).
10. Januar. Post crisim: zweiter Pulmonal ton = 135. Das
Infiltrat ist unverändert.
13. Januar. Zweiter Pulmonalton = 113. Aufhellung der
Dämpfung.
17. Januar. P = 131, vielleicht durch Schrumpfung der
pleuritischen Schwarte.
23. Januar. P = 129, fortan constant so.
2. G. W. Struma, Herzspitzenstoss im fünften Intereostal-
raum in der Mamillarlinie, hebend.
13. Januar. Bronchitis diffusa febrilis.
26. Januar. Beiderseitige katarrhalische Pneumonie.
Temperatur : 39-9°
Puls : 106 . . .
Respiration : 36
Tonus : 105 mm
P : 188 (17:9)
20 Minuten nach dem Bad
. . . . 39 2°
. ... 98
. ... 32
. . . . 110 mm
. ... 120 (12 : 10)
3. J. S. B. Links hinten unten Pneumonie, durch Dämpfung
Bronchialathmen. Knisterrasseln und verstärkten Fremitus Charak¬
ter isirt.
Der allmälige Beginn spricht für Influenza.
15 Minuten nach dem Bad
Temperatur : 40‘5° . 39'5°
Puls: 92 . 80
Respiration : 36 . 32
Tonus : lBOvmu . 135 mm
P : 143 . 130
4. G. P. Pneumonia crouposa lobi infer, sin. 17. Februar
P = 200.
10 Minuten nach dem Bad
Temperatur : 40'8° . 405°
Puls: 112 104
Respiration : 28 28
Tonus: 75 mm . 80 mm
P : 250 . 111
17. Februar. P = 350. Exitus. Die Obduction erhärtete die
Diagnose.
5. L. F. I). Pneumonia crouposa lobi infer, dextri.
17. Januar. Hebender Spitzenstoss, knapp einwärts der Ma¬
millarlinie im fünften Intercostalraum ; Hysterie. Der erste Ton an
der Spitze ist gespalten. Alle Herztöne sind auslöschbar. Tempe¬
ratur 39°. Der Pulmonalton ist lauter als der Aortenton; und zwar
ist die Differenz nach dem Bad kleiner als vor demselben.
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
301
18. .lanuar. Post crisirn. Temperatur : 37-5° ; Crepitus redux.
Während die Pneumonie sich löst, tritt die Pleuritis in den Vor¬
dergrund. Pulmonalton viel lauter als Aortenton.
21. Januar. Abends 40°, Morgens 87°. Das Exsudat reicht
bis zum Angulus. P > A.
15. Februar. Das Exsudat ist grössten theils resorbirt. Noch
leichte Schallverkürzung. P = 100.
6. H. R. Beiderseitige lobuläre Influenzapneumonie. P etwas
grösser als A ; nach dem Bad : P etwas kleiner als A.
7. F. L. 47 Jahre alt, Mitralinsufficienz, hochgradiges Lungen¬
emphysem, Pneumonia crouposa lobi infer, sin.
10. Januar. P — 200.
18. Januar. P = 250 (post crisim).
Wir haben also im Allgemeinen mit dem Gärtner-
schen Tonometer einen subnormalen Blutdruck gefunden. Zu¬
gleich haben wir sehr hohe Pulmonaltonzahlen erhalten. Dass
im Anschluss an die Krise und die beginnende Resolution im
Fall 1. der Pulmonalton noch lauter wird, als zuvor, beweist,
dass nicht etwa Compression der Alveolargefässe durch das
Exsudat die Ursache der Drucksteigerung ist, sondern die
durch den Lufthunger und die Toxine geschädigte Leistungs¬
fähigkeit des linken Ventrikels.
Gerade wenn der Stimulus des fieberwarmen Blutes für
das Herz nicht mehr in Betracht kommt, tritt oft in umso
bedenklicherer Weise die Insufficienz des linken Ventrikels
zu Tage, so dass beim Aufrichten des kaum erst entfieberten
Patienten Hirnanämie eintreten kann.
Dass nicht das Exsudat mechanisch den Pulmonaldruck
erhöht, beweist auch das Absinken desselben im Bad. Der
Pulmonalton wird leiser, zugleich auch der zweite Aortenton
lauter, weil besonders die Nackendouche die nebeneinander¬
liegenden Centren der Respiration und Circulation günstig
beeinflusst.
Die Tonussteigerung möchte ich, wiewohl ich sie constant
vorgefunden habe, nicht allzusehr betonen; denn die vaso¬
motorischen Verhältnisse ein der Peripherie modificiren in
diesem Falle die Aeusserung der Herzkraft. Offenbar haben
die Einen Tonussteigerung und die Anderen Tonusabfall be¬
obachtet, weil durch den Hautreiz die Vasoconstrictoren erst
gereizt, dann gelähmt werden (C. Müller-4).
Die Aenderung des Verhältnisses der Töne über den
grossen Gefässen beweist aber in eindeutiger Weise die Hebung
der Herzkraft.
Die Circulationskrankheiten.
Smith :i0) machte darauf aufmerksam, dass Abnahme des
zweiten Pulmonaltones im Verlaufe von Kreislaufstörungen
zweierlei bedeuten könne, nämlich entweder Besserung der
Kreislaufstörung oder Herzschwäche.
Im ersteren Falle nimmt die Dyspnoe ab, im letzteren zu.
Ueber Herzschwäche habe ich folgende Beobachtungen
gemacht:
1. H. N. Nach Polyarthritis rheumatica und Endocarditis
systolisches Geräusch über allen Ostien, am lautesten an der
Pulmonalis.
Leichte Verbreiterung des Herzens nach rechts; kaum fühl¬
barer Spitzenstoss.
Pulsus bigeminus, bisweilen auch trigeminus. P = 32 (Herz¬
schwäche durch Myocarditis?).
2. J. W. Im Jahre 1897 schwerer Rheumatismus. Jetzt
Gyanose an Nase, Ohren und Lippen, Dyspnoe. Gor: Der Spitzen¬
stoss ist hebend, im fünften Intercostalraum, zwei Querlinger ausser¬
halb der Mamillarlinie, daselbst ist auch ein präsystolisches Fre-
missement zu tasten.
Die Herzdämpfung reicht nach rechts bis an den rechten
Sternalrand. An der Spitze ist neben einem dumpfen ersten Ton
ein pfeifendes Geräusch, dann ein reiner zweiter Ton und an diesen
anschliessend bis zur nächsten Systole ein rieselndes Geräusch
zu hören. Ueber den anderen Ostien dumpfe Töne.
Undeutlicher Leberpuls, an den Halsvenen keine Eigenpul¬
sation. Der Radialpuls ist annähernd von normaler Qualität.
Incompensirte Mitralinsufficienz mit Stenose (eventuell auch
Tricuspidalinsufficienz). P = 80.
3. Armeediener F. H., 50 Jahre all. Deutlicher Herzbuckel,
diffuse Erschütterung der ganzen Herzgegend, kein distincter Spitzen¬
stoss; die Herzdämpfung reicht bis an den rechten Sternalrand;
die Herztöne sind rein, dumpf, leise, arhythmisch. Ascites, mächtige
Oedeme an den Beinen, Herzklopfen, Athemnoth bis zur Orthopnoe,
Cyanose; Leberschmerzen, die Leber überragt um drei Querfinger
den Rippenbogen.
Der Harn enthält kein Eivveiss, reichlich Urate, specifisches
Gewicht 1029. Myocarditis chronica.
1. Januar. P = 80. 4,9 Diuretin pro die.
5. Januar. P = 100. Die Diurese beträgt G l.
12. Januar. P = 108. Die Oedeme sind sehr gering.
18. Januar. P = 144. Subjectives Wohlbefinden.
20. Januar. P = A, unauslöschlich; kein Oedem, Herzklopfen.
Statt Diuretin pro die Infusum fol. Digitalis 10 : 2000.
23. Januar. Starke Arhythmie, Asthma cardiacum, Orthopnoe.
P — 66, später nur 60. Strophanthus, wieder Diuretin.
26. Januar. Die Beschwerden sind behoben. P = 128. Wieder
Digitalis.
27. Januar. P = 53 ! Leberschmerzen, cardiales Asthma, Kühl¬
apparat, Strophanthus und Diuretin. Fortab erhält Patient keine
Digitalis mehr und verlässt auf eigenes Verlangen am 9. Februar
bedeutend gebessert das Spital.
Am 26. Februar fand ich den Patienten wieder schlechter.
Massige Oedeme an den Beinen, Athemnoth, Kopfschmerzen,
Schmerzen in der Leber, die den Rippenbogen um fast Handbreite
überragt. P = 66.
Dieser Fall zeigt deutlich die ominöse Bedeutung, die
der Nachlass der Accentuirung bisweilen haben kann.
Am 23. Januar, 27. Januar und 26. Februar markirt
die niedrige Zahl für den Pulmonalton den Eintritt von Cir-
culationsstörungen in der Lunge und Leber.
Weiters ist der Fall durch die schlechte Reaction auf
Digitalis instructiv. Th. v. Openchowsky26) erklärt die
günstige Wirkung der Digitalis aus dem verschiedenen Ver¬
halten beider Ventrikel gegen dieses Mittel.
Der rechte Ventrikel soll von der Digitalis nicht stimulirt
werden, weil die Contraction der rechten Coronararterie der
Wirkung auf die Musculatur des Herzens selbst entgegen¬
wirken soll.
v. Basch und Andere haben bei der Digitaliswirkung
einen Anstieg des arteriellen Druckes und zugleich ein Ab¬
sinken des Druckes im linken Vorhof beobachtet. Open¬
chowsky glaubt nun weiterhin, dass bei Sklerose der Ar-
teria coronaria dextra Digitalis contraindicirt sei, weil sich die
so veränderte Arterie nicht verengern könne und daher auch
der rechte Ventrikel stimulirt werde. Die Beobachtung dieses
Falles beweist wohl zumindest, dass nicht nur bei der Hyper-
kinese des rechten Ventrikels, sondern sogar bei dem nach
Openchowsky so wünschenswerthen Druckabfall im
Lungenkreisläufe die Digitalis schädlich wirken kann. In
unserem Falle bedeutet eben das Sinken des Pulmonaltones
nicht Beseitigung der Circulationsstörung, sondern Insufficienz
des rechten Ventrikels.
Das Verhalten des Pulmonaltones beim Eintritt einer
Mitralinsufficienz konnte ich sehr schön im folgenden Falle
beobachten.
J. T., seit drei Wochen Gonorrhoe der Urethra, seit gestern
Gonitis sinistra. Spitzenstoss im vierten Intercostalraume, in der
Mamillarlinie, hebend.
Die Herzaction ist verbreitet sichtbar. Nach rechts überragt
die Dämpfung kaum den linken Sternalrand. Blasendes systolisches
Geräusch, am lautesten an der Pulmonalis.
19. Januar. P = 116, 20. Januar P=100, 23. Januar
P = 106, 25. Januar P = 80.
• Wir sehen also unter dem Einflüsse der Entstehung
eines Klappenfehlers zunächst keine wesentliche Pulmonaldruck¬
änderung. Früher hatte man deducirt, dass die plötzlich not¬
wendige stärkere Arbeitsleistung ohne Hypertrophie nicht aut
302
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 13
gebracht werden könne und bis zum Zustandekommen der¬
selben der Druck, z. B. nach arteficieller Durchstossung der
Aortaklappen, sehr niedrig sein müsse, was aber nach
Rosenbach33) unrichtig ist. Der Druck bleibt so hoch wie
zuvor. Nur die Dauer der Mehrleistung führt zur Hyper¬
trophie; eine momentane Mehrleistung stellt die Reservekraft
bei, die zugleich mit der Dilatation ausgelöst wird.
Wir sehen in diesem Falle ein Absinken des Pulmonal¬
druckes unter Besserung der Kreislaufstörung bei ruhiger
Bettlaere. Dasselbe konnte ich in noch einem Falle beob-
achten.
K. P. Vor drei Jahren Polyarthritis rheumat. ; gegenwärtig
bestell I eine recurrirrende Endocarditis, Herzspitzenstoss im fünften
I ntercostalraume, in der Mamillarlinie, hebend. Die Dämpfung
überragt kaum den linken Sternalrand. An der Spitze hört man
nach dem ersten Tone ein blasendes Geräusch; dasselbe ist am
lautestesten über der Pulmonalarterie.
8. Januar P = 180 18:10 ]
12. Januar P = 162 26: 16
28. Januar P = 140 56:40 I
Die Aortazahl stieg also auf das
Vierfache.
Eine Veränderung im Sinne der Verringerung einer seit
drei Jahren bestehenden Mitralinsufficienz ist wohl kaum anzu¬
nehmen. Doch legen im Institute des Prof. v. Basch ausge¬
führte Experimente 7) die Erscheinung unserem Verständnis
nahe. Bettel heim und Kau der s fanden, dass bei Mitral¬
stenose
A
P
von 8'2 auf 43 sinkt; wenn auch eine Insufficienz
dabei ist, auf 3'3. Bei der Compensation wird wieder der
Zähler des Bruches grösser. Die Bedingung für die Compen¬
sation liegt ergo im linken Ventrikel ; dabei kann, wie auch
in unserem Falle, der Pulmonaldruck steigen, fällt aber zu¬
meist. In unserem Falle erreichte der Pulmonalton seine drei¬
fache, der Aortenton seine vierfache Stärke, und dabei trat
subjectives Wohlbefinden ein. Die Compensation hatte
vorwiegend der linke Ventrikel geleistet.
Auch beim Absinken der Druckhöhen kann, wenn auch
nur selten, Compensation eintreten, indem der Pulmonaldruck
noch tiefer sinkt als der Aortendruck. Für diese im Labora¬
torium v. Basch gefundene Thatsache konnte ich keinen
klinischen Beleg finden.
Stationäre Mitralinsufficienzen im Zustand der Compensation.
1. M. K. Nach rheumatischer Endocarditis zurückgebliebene
Mitralinsufficienz. P stets = 112, nur einmal = 137.
2. M. F. Dasselbe. P = 333 (constant).
3. H. K. Seit zwei Jahren Mitralinsufficienz, Malaria. P über
200, am 24. Januar P — 315.
4. J. K. Mitralinsufficienz. P = 133.
5. V. J. Mitralinsufficienz. P = 400 (constant).
6. J. K. Mitralinsufficienz. P = 250.
7. J. M., Wachmann, 30 Jahre alt. Mitralinsufficienz.
P = 150.
Wir sehen also, besonders in den Fällen 2, 3, 5 und 6,
trotz guter Compensation sehr hohe Pulmonaltonzahlen; dabei ist
überall auch der Spitzenstoss hebend als Zeichen der Hypertrophie
dos linken Ventrikels. Trotzdem ist das Vcrhältniss nicht dasselbe
wie bei normalem Herzen.
Die Aorteninsufficienz.
K. S., Invalide, 60 Jahre alt, hat eine typische Aorten¬
insufficienz auf arteriosklerotischer Grundlage.
Pulmonal- und Aorlenton sind beiläufig gleichlaut und un¬
auslöschlich. Das Geräusch in der Diastole am Erb’schen Punkt
war sehr laut und trotzdem schon bei 16 wm erloschen. Die Er¬
finder des Instrumentes machen auch auf die unvergleichlich
schnellere Extinction der Geräusche gegenüber den Tönen auf¬
merksam.
Die Auscultation der Arterien ergab (links): Carotis, (in der
Höhe des Zungonbeinhorns), Systole: 15 mm, Diastole: 8 mm, Tem¬
poralis: 1 mm (Systole). Subclavia (über der Glavicula): Systole:
9 mm, Diastole: 15 mm, Brachialis (in der Mitte des Oberarmes)
5 mm (Systole), Radialis: 2 mm (Systole). Im ersten Tntercostalraum :
1 mm. Cruralarterie (am Schambeine) 2 mm (Systole); weiter unten
sind keine Töne wahrnehmbar.
E. W., 56 Jahre alt, hat gleichfalls eine arteriosklerotische
Aorleninsufficienz. Zugleich ist die Herzdämpfnng nach rechts bis
zur Mittellinie verbreitet. Neben dem diastolischen Geräusche ist
der zweite Aortenton etwas klingend. P = 80.
Dadurch erscheint die relative Mitralinsufficienz wohl aus¬
geschlossen, die durch die Verbreitung nach rechts, sowie durch
ein systolisches Geräusch an der Spitze wahrscheinlich gemacht
würde.
Carotis: Systole = 8 mm, Diastole = 14 mm, Temporalis
= 0 mm.
Subclavia: Systole = 2 mm, Diastole == 6 mm , Axillaris
Systole = 2 mm.
Brachialis: Systole = 1 mm, Radialis: Systole — 1 mm.
Cruralis (in inguine): Systole = 10 mm, Poplitaea: Systole
= 1 mm.
Andere 1 lerzaffectionen.
Es gelangten viele Fälle von functioneller Untüchtigkeit des
Herzens zur Beobachtung; bei körperlichen Anstrengungen tritt
Athemnoth und Herzklopfen ein. Objectiv constatiren wir meist ein
rasches Hinaufgehen der Pulsfrequenz bei Lagewechsel, in Hock¬
stellung und bei forcirten Bewegungen. Einige von diesen Fällen
scheinen mit dem Kropfherzen in Beziehung zu stehen.
1. E. S. Nie vorher Gelenksrheumatismus. Unfähigkeit zu
schwerer Arbeit. Etwras Struma parenchymatosa. Spitzenstoss im
fünften Intercostalraum, ein Querfinger ausserhalb der Mamillar¬
linie, hebend. Pulmonalton im Liegen = 84, im Sitzen = 250.
P )> A beide unauslöschlich nach wenigen Schritten Laufschritt.
2. F. B. Dieselben Beschwerden, etwas Struma. Die Puls¬
frequenz ist nicht sehr labil. P = 143. ziemlich constant.
3. B. F. Spitzenstoss im fünften Intercostalraum, hebend,
ein Querfinger ausserhalb der Mamillarlinie. P A, beide un¬
auslöschlich. Patient hat auch in der Ruhe oft Herzklopfen.
4. Wachmann T., 28 Jahre alt, Reconvalescent nach Rheu¬
matismus musculorum. Keine Beschwerden von Seite des Herzens.
Struma geringen Grades, Herzspitzenstoss hebend, im fünften Inter¬
costal raum, etwas ausserhalb der Mamillarlinie P = 35, da der
zweite Aortenton laut und klappend ist.
5. Wachmann F. S., 30 Jahre alt. Reconvalescent nach
Rheumatismus musculorum, keine Beschwerden von Seite des
Herzens. Herzspitzenstoss an normaler Stelle, hebend. P — 20.
6. F. S. Enteritis acuta, dabei leichte Struma parenchymatosa.
Der Spitzenstoss liegt im fünften Intercostalraum, in der Mamillar¬
linie, ist deutlich hebend. P = 75 (durch Accentuirung des zweiten
Aortentones).
Dabei ist zu berücksichtigen, dass durch den Darmkatarrh
im Lungenkreislauf Drucksteigerung hervorgerufen wird.
Im Gegensatz zu jenen Fällen, in denen das Herz nur bei
körperlichen Anstrengungen versagt, war im folgenden Falle auch
bei körperlicher Ruhe meist hohe Tachycardie vorhanden.
J. P. Spitzenstoss an normaler Stelle, hebend. 108 Pulse.
P )> A, beide unauslöschlich. Auch war in diesem Falle der erste
Pulmonalton deutlich, lauter als der zweite.
Patient erhält ein Bad von 26° auf 24° R. durch zehn
Minuten.
Eine Viertelstunde später P = 66 (10 : 15 mm) 72 Pulse.
Sehr interessant war noch folgender Fall :
K. W. Massige Struma parenchym. Der Spitzenstoss im
fünften Intercostalraum in der Mamillarlinie, hebend. Die Dämpfung
reicht nach rechts bis zur Mitte. Sternal- und epigastrische Pul¬
sation. Reine Töne. P = 500.
Aus diesem Befund muss man wohl die Diagnose einer
Hvpertrophia carotis praecipue ventriculi dextri stellen, während
in den anderen Fällen mit Struma der linke Ventrikel hauptsäch¬
lich hypertrophisch angenommen wrerden muss.
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1!«M).
303
In anderen Fällen mit einem sogenannten nervösen Herzen
fand ich während einer länger dauernden Untersuchung ein stetiges
Lauterwerden der zweiten Töne über den grossen Gefässen bis zur
Unauslöschharkeit.
V. S., 26 Jahre alt, nach Polyarthritis rheumatica ; bis auf
ein nur zeitweilig auftretendes systolisches Geräusch, am lautesten
an der Pulmonalis, normaler Corbefund. P = 110. Bald darauf
wird der Pulmonalton und wenige Minuten später auch der Aortenton
unauslöschlich.
Solche Fälle dürften Barthelemy3) zur Behauptung be¬
stimmt haben, dass im Gefolge einer Polyarthritis »Reizungen des
Herzens« ohne organische Grundlage Vorkommen.
Tn den nächsten zwei Fällen stiegen die Töne so rasch an,
dass die Messung nicht vollendet werden konnte.
1. R. W., Neurastheniker, klagt beim Laufen über Herz¬
klopfen. Cor normal.
2. J. D., Reconvalescenf nach Rheumat. muscul.; Cor normal.
Zeitweise leidet Patient an Herzklopfen. Der zweite Pulmonal ton
ist mehr als doppelt so laut als der zweite Aortenton.
Oft fand ich, ohne es gerade mit ausgesprochenen Herz¬
neurasthenikern zu thun zu haben, die Unauslöschharkeit bei
erethischen Naturen vor, besonders auch bei Epileptikern.
Der Versuch, die Herztöne im Schlate zu messen, misslang
stets; auch sonst war die Unauslöschharkeit der Herztöne oft
die Folge der psychischen Erregung bei der Untersuchung
und verschwand dann meist auf beruhigenden Zuspruch und
bei Wiederholung der Untersuchung.
Aus vorliegender Arbeit glaube ich folgende Schlüsse
ziehen zu können: 1. Das Sthetophonometer nach Bettel¬
heim und Gärtner eignet sich vorzüglich zur Bestimmung
des Verhältnisses, in dem die Stärken zweier Herztöne zu ein¬
ander stehen. Am werthvollsten ist wohl das Verhältniss des
zweiten Pulmonaltones zum zweiten Aortentone. 2. Einmalige
Untersuchungen sind wegen grosser individueller Unterschiede
wenig verwerthbar. 3. Fortlaufende Beobachtungen erlauben
wichtige Schlüsse auf den Verlauf von Circulations-, Respira¬
tions- und Abdominalerkrankungen. 4. Auch physiologische
Studien über Veränderungen im kleinen Kreislauf sind in
exacter Weise möglich, und viele Ergebnisse der experi¬
mentellen Forschung können so am Menschen ihre Bestätigung
finden.
An dieser Stelle sei es mir gestattet, meinem verehrten
Chef, dem Herrn Stabsarzt und Universitätsdocenten Dr. Alois
Pick, für die warme Förderung meiner Arbeit nochmals
meinen herzlichsten Dank auszusprechen.
Literaturverzeichnis s.
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pulmonaires. Revue mensuelle de medecine. 1893. — ') Barthelemy,
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mentelle Studien aus dem Laboratorium des Prof. v. Basch. 1S9L
5) Basch, S. v., Die Lehre von der cardialen Dyspnoe und ihre historische
Entwicklung. Wiener medicinische Wochenschrift. 1897, Nr. 27, 28.
6) B e 1 1 e 1 h e i m und Gärtner, Ueber ein neues Instrument zur Inten¬
sitätsmessung der Auscultationsphänomene. Wiener klinische Wocheuschritt.
1892, Nr. 44. — 7) Bettelheim und Kauders, Experimentelle Unter¬
suchungen über die künstlich erzeugte Mitralinsufficienz und ihren Einfluss
auf den Kreislauf in der Lunge. Aus dem Laboratorium des Prof. v. Basch.
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Kenntniss der Wirkung kühler Bäder auf den Kreislauf Gesunder und
Fieberkranker. Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie.
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Die Insufficienz des Herzens in H. No thnagel’s Specieller Pathologie und
Therapie. — 16) Kaufmann und De Bary, Ueber die Einwirkung
Priessnit z’scher Einwicklungen auf den Blutdruck bei croupöser Pneu¬
monie und diffuser Nephritis. Berliner klinische Wochenschrift. 1888,
Nr. 28. — i7) Kriege und Schmall, Ueber den Galopprhythmus des
Herzens. Zeitschrift für klinische Medicin. 1891, Bd. XVIII. ,s) Kütt-
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Physiologie des Menschen. 8. Auflage. — :0) Leichtenstern, Die In¬
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— 23) Mannaberg J., Ueber Accentuirung des zweiten Pulmonaltones
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Brustfelles in H. Nothnagel’s Specieller Pathologie und Therapie. —
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schen Anatomie. — 35) S a h 1 i, Zur Pathologie des Lungenödems. Bern
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Zur Pathologie des Lungenödems. Virchow’s Archiv. 1878, Bd. LXXII.
_ 4i) Vierordt H., Messuug der Intensität der Herztöne. Tübin¬
gen 1885.
REFERATE.
I. Ueber Nabelsepsis.
Von Karl Rasch.
II. Die Resorption aus der Nabelschnur.
Von R. W. Raudnitz.
III. Ueber gehäuftes Auftreten und über die Aetiologie
der Poliomyelitis anterior acuta infantum.
Von S. Auerbach.
IV. Fötales Myxödem und Chondrodystrophia foetalis
hyperplastica.
Von Wilhelm Stöltzner.
V. Ein Fall von postdiphtheritischer Lähmung mit
eigenartigen Oedemen.
Von Hugo Kraus.
VI. Die Stellung des Kalks in der Pathologie der
Rachitis.
Von Wilhelm Stöltzner.
VII. Zur Serodiagnostik im Kindesalter.
Von A. Pfaundler.
VIII. Ueber Farbenreactionen der Caseinflocken.
Von Karl Leiner.
IX. Untersuchungen über das Verhalten der Fäces-
gährung bei Säuglingen.
Von Fritz Callomon.
X. Zur Kenntniss der Milchgerinnung im menschlichen
Magen.
Von Josef Schnürer.
XI. Ueber Behandlung der Rachitis mit Thymussub¬
stanz.
Von W. Stöltzner und W. Lissauer.
XII. Polyposis intestinalis.
Von A. Vajda.
Jahrbuch für Kinderheilkunde. 1899, Bd. L.
I. Der Umstand, dass durch Runge und Andere die Ar¬
teriitis umbilicalis als häufiger Ausgangspunkt einer Sepsis beim
Neugeborenen beschuldigt worden ist, bat Rasch veranlasst,
in einer überaus interessanten Arbeit die Grundlagen dieser Lehre
von der Nabelsepsis zu prüfen. Das Resultat seiner Untersuchungen
sei gleich verzeichnet: Die Arteriitis umbilicalis kann nicht als eine
Ursache der Säuglingsseptikämie bezeichnet werden. Der Weg, den
Rasch eingeschlagen hat, um zur Klärung der Frage zu kommen,
war ein recht mühsamer. Vor Allem hat Verfasser die Nabelgefässe
an Leichen von Neugeborenen makro- und mikroskopisch unlei-
sucht. Dabei hat sich gezeigt, dass die am Anlangstheile der Nabel¬
arterien im Nabel öfters gefundene Entzündung sich niemals das
ganze Gefäss entlang bis zur Einmündung in die Hypogasti icae
erstreckt. Von einer per contiguitatem in die Rlutbahn fortgeleiteten
Entzündung, wie dies bei der Sepsis in böige von Phlebitis umbi¬
licalis gefordert wird, kann daher keine Rede sein. Auch das
I Gewebe in der Umgebung der im centralen Abschnitt stets in un
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
Nr. 13
304
gestörter Obliteration sich befindlichen Nabelarterien wies keine
Störung auf.
Ob aber, wie dies Runge lehrt, die im Anfangsstück der
Nabelarterien öfters angetroffene Eiterung nicht auf anderen Wegen
zur Allgemeininfection führt, oder ob es sich hier etwa um
Metastasen einer vom Darme ausgelösten Sepsis handelt, darüber
hat Verfasser Thierversuche angestellt, welche die Frage sehr gut
beleuchten. Vor Allem hat Verfasser neugeborenen Hunden,
Kaninchen und Meerschweinchen bald nach der Geburt an der
Stelle der sich vorbereitenden Abstossung des Nabelschnurrestes
stark pathogene Staphylococcen eingerieben; es kam dabei niemals
zu Sepsis, obwohl geringe Mengen derselben Culturen, in die Blut¬
bahn injicirt, in weniger als 24 Stunden die Thiere tödteten. Auch
der Versuch vom zerquetschten und mit Staphylococcen inficirten
Nabelschnurstumpf eine Septikämie hervorrufen, misslang. Doch kam
es dabei zu umschriebenen Nekrosen am Nabel. Verfasser hat
ferner versucht von angelegten Maultaschen am Nabel aus, ferner durch
Bacterieninjectionen entlang den Nabelarterien, Septikämie hervor¬
zurufen, auch das ohne Erfolg. Doch gelang es auf diese Weise,
die beim Menschen beschriebenen Nabelkrankheiten: Ulcus, Abscess,
Phlegmone und Gangrän hervorzurufen. Der Versuch, die Nabel-
gefässe von ihrem Lumen aus zu inficiren, scheiterte an der
Kleinheit und Enge dieser Lumina bei den neugeborenen Thieren,
welche Verfasser zu Gebote standen. Doch hat Verfasser an Stelle
solcher Versuche das Experiment gemacht, die zweifach ligirte und
dann angeschnittene Carotis vom Lumen aus zu inficiren, um all¬
gemeine Sepsis zu erzeugen. Auch hier kam es nur zu örtlicher
Eiterung, nicht aber zu Allgemeininfection.
Aus diesen Arbeiten schliesst Verfasser, dass den Nabel-
gefässen nicht ein die septische Infection fördernder Einfluss zu¬
komme, sondern im Gegentheile eine die Propagation einer Infection
hemmende Fähigkeit innewohne.
Und Verfasser erwägt die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit,
dass die in den Anfangstheilen der Nabelarterien sich abspielenden
Entzündungsprocesse als Ausdruck von Metastasen einer vom Darm-
tractus ausgelösten pyämischen Infection anzusehen sind.
Verfasser zieht aus seinen Untersuchungen auch für die
Praxis wichtige Schlüsse. Es ist demnach die Angst vor der Nabel¬
sepsis eine recht unbegründete; die Behandlung des Nabelschnur¬
restes sei eine einfache, die physiologische Rückbildung am Nabel
fördernde, der Verband des Nabelschnurrestes ein leichter, um die
Mumification zu befördern. Die viel discutirle Frage, ob der Neu¬
geborene baden solle oder nicht, hält Verfasser für bedeutungslos.
*
II. Im Anschlüsse an Base h’s Arbeit berichtet R a u d ni t z
kurz über Versuche, welche er vor 17 Jahren angestellt hat, um
zu sehen, ob aus der Nabelschnur Substanzen resorbirt werden
können. Verfasser hat diese Untersuchungen seinerzeit nach der
Richtung unternommen, ob nicht die Säuglingssepsis in der Re¬
sorption fauliger Substanzen aus der Nabelschnur ihren Ursprung
hat, wie das den seinerzeitigen Anschauungen entsprochen hätte.
Hiebei ergab sich, dass Ferrocyankalium- und Jodkaliumlösungen,
in den Nabelstrang des Neugeborenen injicirt, nicht resorbirt
werden.
*
III. Auerbach berichtet über eine grössere Zahl von
Poliomyelitisfällen, welche er in Frankfurt innerhalb kurzer Zeit
beobachtet hat. Während in der dortigen Poliklinik für Nerven¬
kranke früher jährlich nur zwei bis drei Fälle von Poliomyelitis
anterior acuta beobachtet wurden, kamen in sieben Monaten
(1898) 15 Fälle zur Beobachtung, von welchen neun Fälle in den
Monaten Mai bis September ihren Ursprung nahmen; vier der Pa-
tienten wohnten im selben Stadttheile, zwei sogar in derselben
Strasse.
Dieses gehäufte Auftreten von Poliomyelitis spricht sehr für
die infectiöse Natur der Krankheit. Dabei betont Verfasser den
ätiologischen Zusammenhang zwischen Poliomyelitis, Encephalitis und
Meningitis cerebrospinalis. Dafür spricht vor Allem das wiederholt
beobachtete Auftreten cerebraler Herde bei Poliomyelitis. Den bisher
bekannten Fällen fügt Auerbach einen neuen, von ihm beob¬
achteten Fall hinzu, in welchem neben Lähmung der oberen und
unteren Extremität auch Faeialislähmung mit Ergriffensein des
Stirnastes und Entartungsreaction vorhanden war.
Ganz besonders deutlich wird aber die ätiologische Einheit
der genannten drei Krankheiten durch einen Fund von Schnitze,
den Verfasser citirt, illustrirt. Dieser Autor fand in der Lumbal¬
flüssigkeit bei einem Falle von Poliomyelitis den Jaeger-
Weichselbau m’schen Meningococcus; bei diesem Falle be¬
standen übrigens auch meningeale Reizsymptome.
*
TV. W. Stöltzner berichtet über zwei Fälle von
Chondrodystrophia f o e t a 1 i s hyperplastic a, bei
welchen er einen genauen histologischen Befund erhoben hat. Der
erste Fall zeichnete sich bei makroskopischer Untersuchung durch
eine auffallende Kürze der Extremitäten bei normal langem Ober¬
körper, durch abnorm starke Entwicklung des Unterhautfettgewebes,
eine auffallend dicke Zunge, eine (parenchymatöse) Struma, Ein¬
ziehung der Nasenwurzel, stupiden Gesichtsausdruck aus. Am Skelet
waren frühzeitige Synostosen einzelner Schädelnähte, Rosenkranz
und schräg verlaufende Knochenknorpelgrenzen an den Rippen,
geringe Dicke der Diaphysen der langen Röhrenknochen im Ver-
hältniss zu den Epiphysen auffällig. Der mikroskopische Befund,
den Verfasser ausführlich wiedergibt, ergab in der Hauptsache
Folgendes: Das Gewebe der Struma normal, die Knorpelwucherungs¬
schichte fehlte an manchen Epiphysen vollkommen, an anderen war
das Knorpelgewebe in Schleim- oder Bindegewebe umgewandelt,
stellenweise in diesem Gewebe cystenartige Hohlräume. An einzelnen
Stellen bildeten compacte, unterbrochene Knochenplatten die Grenze
zwischen Diaphvse und Epiphyse. Manchmal ragte das Knochen¬
mark direct bis an die Epiphyse, an vielen Stellen ragten zwischen
Dia- und Epiphyse bindegewebige Fortsätze, die vom Perichondrium
ihren Ausgang nahmen. Die Spongiosa fehlte an einzelnen Knochen
völlig, an anderen waren nur spärliche, abnorm dicke Balken an
den epiphysären Enden der Markhöhlen.
Während das Kind, das das Substrat dieser Untersuchung
bildete, nur eine Stunde die Geburt überlebt hatte, war das zweite
beobachtete Kind zwei Monate alt geworden. Dieser zweite Fall
ist bereits von Job anessen veröffentlicht worden. Es hatte
während des Lebens Tetaniesymptome (mit Laryngospasmus), Rigi¬
dität der Beine, kurze Extremitäten; bei der Section zeigte sich die
Schilddrüse klein, die Wirbelsäule lang (in Folge auffallender Höhe
einzelner Wirbelkörper), die Epiphysen waren verdickt.
Die Schilddrüse war auch mikroskopisch normal, enthielt
aber trotz einer Thyreoideacur kein Jod. Die mikroskopische Unter¬
suchung, die Verfasser an einigen Knochen ausführen konnte, ergab:
Die Grenze zwischen ruhendem und wucherndem Knorpel unregel¬
mässig. Die Knorpelwucherungsschichte schlecht ausgebildet, nur
selten Zellsäulen vorhanden, meist die Knorpelzellen durch reiche
Entwicklung von Grundsubstanz auseinandergedrängt. Der Knorpel
an allen Epiphysen in beträchtlicher Ausdehnung provisorisch ver¬
kalkt, doch die Knochenknorpelgrenze unregelmässig, an einzelnen
Stellen unterbrochen, so dass die Markräume dort an unverkalkten
Knorpel stiessen. An Stelle der Spongiosa spärliche, dicke
Balken.
Während der erste beschriebene Fall das früher von den
Autoren als »fötale Rachitis* bezeichnete anatomische Bild zeigt,
ist in dem zweiten Falle eine einfache Dystrophie des Knorpels
vorhanden gewesen. Aetiologisch gehören diese beiden Fälle, ebenso
wie die einschlägigen, von anderer Seite beschriebenen, in jene
Gruppe von Allgemeinerkrankungen, welche mit dem Ausfälle der
Schilddrüsenfunction Zusammenhängen, schon von Virchow für
identisch mit Cretinismus erklärt und von Kaufmann als
Chondrodystrophia foetalis bezeichnet worden sind.
Dafür spricht sich auch Verfasser aus, schlägt jedoch vor, diese
Fälle als »fötales Myxödem« zu bezeichnen. Streng ge¬
nommen gehört der hier beschriebene zweite Fall .1 oh a ne s sen's
nicht mehr in diese Gruppe, da weder cretinistisches Aussehen,
noch Veränderungen des Unterbautzellgewebes, der Zunge und
der Schilddrüse nachweisbar waren.
*
V. H. K raus hat an Ganghofne r's Klinik einen Fall
von ausgebreiteter postdiphtheritischer Lähmung beobachtet, der
durch das Auftreten von ziemlich starken Oedemen mit unge¬
wöhnlicher Localisation eomplicirt war. An der Lähmung waren
Augenmuskeln, Schlingmuskeln, Gaumensegel, Muskeln der oberen
und unteren Extremitäten sowie des Stammes betheiligt.
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
305
Die tiefen Reflexe fehlten, die elektrische Erregbarkeit der
Muskeln und Nerven war tief gestört, die Schmerzempfindung
herabgesetzt. Ausser diesem bekannten Bilde der postdiphtheritischen
Lähmung bestanden Oedeme der Haut, die am stärksten an den
oberen Extremitäten in der Gegend der Ellbogen waren, sich an
diesen Extremitäten nach auf- und abwärts verbreiteten; auch an
den Unterschenkeln waren leichte Oedeme nachweisbar, die Fuss-
rücken waren beiderseits frei. Im Verlaufe der mehrmonatlichen
Beobachtungen schwanden diese Oedeme, kehrten jedoch an ein¬
zelnen Stellen, darunter auch im Gesichte, wieder. Am Herzen
bestand ein blasendes systolisches Geräusch, Spaltung des zweiten
Pulmonaltons, keine Verbreiterung. Im Harne war kein Eiweiss.
Für das Auftreten der Oedeme bietet weder die Blut¬
beschaffenheit, noch der Herz- oder Nierenbefund eine Erklärung.
Ueberdies würde auch der Sitz der Oedeme nicht damit überein¬
stimmen, ihre Entstehung auf eines dieser Organe zurückzuführen.
Verfasser meint, dass es sich um eine postdiphtheritische Poly¬
neuritis handeln dürfte, mit Läsion der vasomotorischen Bahnen.
Möglicher Weise könnte es sich im beschriebenen Falle um eine
Uebergangsform zwischen Polyneuritis und den als Dermatomyositis
und Neuromyositis beschriebenen Krankheitsbildern handeln.
*
VI. Stöltzner führt in seiner Arbeit aus, dass die
bisher aufgestellten Theorien über die Aetiologie der Rachitis nicht
haltbar sind. Nach den bisher vorliegenden Untersuchungen kann
es sich, was übrigens schon anerkannt ist, weder um ungenügende
Kalkzufuhr in der Nahrung, noch um mangelhafte Resorption des
Kalkes, noch um pathologisch schnelle Wiederausscheidung handeln.
Auch der Kalkgehalt der Organe ist, wie Brubacher nachge¬
wiesen hat und Stöltzner nach eigenen, hier kurz wieder¬
gegebenen Versuchen bestätigt, ein normaler.
Da auch die Alkalescenz des Blutes normal ist,' sind alle
Hypothesen, welche sich auf Aenderung der Gewebsflüssigkeit und
Auslaugen des Kalkes stützen, hinfällig. Verfasser sagt: »Es bleibt
also nichts übrig, als das Ausbleiben der Verkalkung bei der Ra¬
chitis auf einen pathologischen Zustand des Knochengewebes selbst
zurückzuführen«. Referent glaubt jedoch, dass auch diese weit¬
gefasste Annahme als nicht haltbar sich erweisen dürfte; denn es
ist doch viel naheliegender, anzunehmen, dass es sich nicht um
Erkrankung des Knochengewebes, sondern eine Allgemeinerkrankung
des Organismus handeln dürfte.
*
VII. M. Pfaundler berichtet in eingehender Weise über
die Erfahrungen, welche an Escherich’s Klinik in Graz über
die klinische Verwerthung des Agglutinationsphänomens
gesammelt wurden. Diese Arbeit bildet zugleich eine werthvolle
Zusammenfassung der einzelnen Mittheilungen, welche über Agglu¬
tination aus E s c h e r i c h’s Klinik bisher erschienen sind, an welchen
der Verfasser in erster Reihe betheiligt war. Die Serumreactionen
bezogen sich auf den Typhusbacillus, den Colibacillus, Stämme aus
der Gruppe des Mesentericus und des Proteus, Bac. lactis aero-
genes, Pyocyaneus, Streptococcen und Staphylococcen.
•Am wichtigsten sind die Untersuchungen über die Co li-
a g g 1 u t i n a t i o n. Die grosse Zahl von Reactionen (550) wurde
nach der von Pfaundler schon früher angegebenen Methodik
ausgeführt. Die erhaltenen Resultate sind sehr bemerkenswert!! :
Bei Säuglingen und jüngeren Kindern gibt das Serum mit Coli aus
gesundem Darm keine Agglutination bei einer Verdünnung von
1 : 10. Bei älteren Kindern ist eine solche Reaction selten (ein
Fall, 1 : 30). Bei allen Säuglingen und allen älteren Kindern, deren
Stuhlcoli durch ihr auf 10% oder stärker verdünntes Serum agglu-
tinirt wurde, bestand eine Darmerkrankung. Dabei ist zu bemerken,
dass auch in positiven Fällen nicht alle Stämme aus dem Stuhle
eines Darmkranken agglutiniren, dass daher der negative Ausfall
der Reaction noch nichts beweist. Die Art der Darmerkrankung
war verschieden. Verfasser theilt diese in drei Gruppen: a) Primäre
Darmerkrankungen mit secundärer Betheiligung der Blase und des
Peritoneums; b) Typhus abdominalis; c ) localisirte Darmerkran¬
kungen.
Bezüglich der Gruppe a ist nur bemerkenswert!!, dass durch
den Uebertritt des Coli in die Peritonealhöhle das Agglutinations-
phänommen ebenso zu Stande kommt, wie bei der Colicystitis.
Verfasser gibt hiefür folgende Erklärung: Der im Darm blos sapro-
phytische Colibacillus nimmt in der Bauchhöhle und Blase parasi¬
tären Charakter an, tritt hier zu den Gewebszellen in jene sym¬
biotischen Beziehungen, welche die Entstehung der Agglutinine be¬
wirken. Das Agglutinationsphänomen für Coli in typischen Typhus¬
fällen hat Verfasser schon andernorts auf die nahe Verwandtschaft
von Coli und Bacillus E berth zurückgeführt.
Eine besondere Besprechung widmet Verfasser dem Aggluti-
nationsphänomen in den Fällen der dritten Gruppe. Hier handelte
es sich ausschliesslich um eine wohlcharakterisirte Krankheilsform,
deren klinisches Bild von Es che rieh aufgestellt und von der
grossen Masse noch nicht streng abgrenzbarer Darmerkrankungen
losgelöst worden ist. Escherich hat hiefür den Namen »Coli¬
tis infectiosa« eingeführt.
Verfasser entwickelt kurz die Symptomatologie und den
charakteristischen anatomischen Befund dieser Krankheitsform und
meint, dass die infectiöse Colitis Escherich verwandt,
vielleicht sogar identisch sein dürfte mit jener infectiösen Darm¬
erkrankung, die von Finkeistein beschrieben worden ist. Der
positive Ausfall des Agglutinationsphänomens in den Fällen von
Colitis infectiosa ist nun neuerdings eine wichtige Stütze dafür,
den Colibacillus in diesen Fällen als Erreger zu betrachten.
Von Interesse ist es, dass in diesen Fällen von Colitis in¬
fectiosa das Serum der erkrankten Kinder nicht nur aus seinem
Darme herrührende Colistämme agglutinirte (homologe Reaction),
sondern in der Mehrzahl der Fälle auch von anderen Individuen
herstammende Coliculturen (heterologe Reaction).
*
VIII. C. Leine r hat im Caroline n-Kinderspitale
in Wien Versuche angestellt, welche die Kenntniss der als »Casein¬
flocken« bezeichneten Bröckelchen in den Fäces der Kinder fördern
und hat so einen interessanten Beitrag zum Studium der unvoll¬
kommen abgelaufenen Milchverdauung geliefert.
Keiner hat an den »Caseinflocken« Farbenreactionen ange¬
stellt, um über die Beschaffenheit der Grundsubstanz Klarheit zu
bekommen. Diese Flöckchen wurden von vielen Seiten als Casein
angesprochen und es gelang Le in er, zu zeigen, dass hievon nicht
die Rede sein könne.
Färbt man nämlich Eiweisskörper mit basischen und sauren
Farbstoffen, so gelingt es, mit einzelnen Säuregemischen charakte¬
ristische Färbungen zu erzielen. Wenngleich solche Färbungen des¬
halb nur mit Vorsicht verwerthet werden können, weil anorganische
Beimengungen und andere Umstände die Farbentöne sehr beein¬
flussen, so gelang es dem Verfasser doch, zu zeigen, dass Casein
und Paracasein sich gegenüber einzelnen Farbstoffgemischen anders
verhalten, als die Caseinflocken, welche aus diesem Eiweisskörper
bestehen sollten. Entscheidend war da der Versuch mit Methylgrün-
Fuchsin. Da färben sich Casein und Paracasein blau bis violett,
die Caseinflocken aber grün; und das ist auch jene Farbe, welche
das Pseudonuclein (aus Paracasein durch künstliche Verdauung
dargestellt) aus dem Gemenge annimmt.
Für die Frage wichtig ist auch der Nachweis, den Verfasser
geführt hat, dass die Caseinflocken in ihrer Hauptmasse nicht aus
Mucin bestehen können. Zu diesen Versuchen hat Lein er die
von Lilienfeld angegebene Safranin-Lichtgrünfärbung
benützt, bei welcher sich Eiweisskörper röthlich, Mucine aber grün
färben. Die Caseinflocken wiesen keine Spur von Grünfärbung auf;
hiedurch war es entschieden, dass die Caseinflocken in ihrer Haupt¬
masse nicht aus Mucin bestehen können.
*
IX. Fr. Callomon berichtet aus der Breslauer
Kinderklinik über eine Untersuchungsreihe, welche die Ver-
werthbarkeit der Gährungsprobe für den Säugling prüfte. Be¬
kanntlich hat Ad. Schmidt in einer Reihe von Arbeiten gezeigt,
dass die Fäces der Erwachsenen nach der Entleerung einer Kohle-
hydratgährung unterliegen, welche aus den in ihnen enthaltenen
Resten einer Kohlehydratnahrung hervorgeht. Dabei konnte durch
Strassburger eine Diät ausfindig gemacht werden, bei welcher
an Fäces Gesunder niemals eine »Frühgährung«, d. h. eine in den
ersten 24 Stunden ablaufende Gährung auftritt, während in manchen
Fällen von Darmerkrankung eine solche entsteht, wodurch der
Nachweis erbracht wird, dass der Darmcanal die zugeführlen, von
einem Gesunden stets bewältigten Kohlehydrate nicht auszunülzeii
vermochte, also nach dieser Richtung insufficient ist. Diese
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 13
3 OH
Schniidt’sch e Gährungsprobe hat Verfasser benützt, um
auch an Säuglingen die Functionstüehtigkeit des Darmes für Kohle¬
hydratnahrung zu prüfen. Die erhaltenen Resultate sind aber ganz
unerklärbar und für die Lösung der gestellten Frage, vorläufig
wenigstens, unvervverthbar. Denn es hat sich bei ein und dem¬
selben Kinde und bei gleicher Nahrung bald Frühgährung in be¬
trächtlicherem, bald nur in sehr geringem Masse eingestellt; auch
in Bezug auf Ausnützbarkeit der verschiedenen Kohlehydrate lässt
sich aus den gewonnenen Zahlen kein Schluss ziehen. Die Werthe
sind für Stärke- und z. B. Malzsuppennahrung nicht deutlich diffe¬
rent. Nur bei Obstipation hat sich stets ein auffallend geringes
Mass von Frühgährung gezeigt; das führt Verfasser im Sinne
Schmid t's darauf zurück, dass die Obstipation doch auf dar-
niederliegender Peristaltik in Folge von geringer Darmgährung beruht.
*
X. Obzwar in vielen Lehrbüchern ausdrücklich zu lesen ist,
dass die Kuhmilch im Säuglingsmagen durch Lab zur Gerinnung
gebracht wird, ist es doch noch immer nicht entschieden gewesen,
ob nicht doch ein Theil der Kuhmilch der Säuregerinnung anheim¬
fällt im Säuglingsmagen. Denn der einzige direete Versuch von
Arth us und Paget hat gezeigt, dass die Lactoserumproteose,
jener albumosenartige Körper, welcher bei der Labgerinnung ent¬
steht, im Magen vorhanden ist. Daraus konnte mit Sicherheit auf
den Ablauf einer Labgerinnung geschlossen werden, nicht aber zu¬
gleich ausgeschlossen worden, ob nicht ein Theil der Kuhmilch
daneben noch durch Säure geronnen ist.
Auf die Entscheidung dieser Frage beziehen sich Versuche,
welche J. Schnüre r am Garolinen-Kinderspitale in
Wien ausgeführt hat. Die Versuche beruhen auf der durch Ham-
m a r s t e n festgelegten Erfahrung, dass Casein, das einmal der
Labgerinnung unterworfen war, wenn es wieder gelüst wird, durch
Lab nicht mehr niedergeschlagen wird, während das durch. Säure
gefällte Casein aus seiner entsprechend bereiteten Lösung — bei
Gegenwart von Kalksalzen - — durch Lab fällbar ist. Schnürer
hat nun die Milchgerinnsel aus dem Säuglingsmagen in Ammoniak
gelöst, die Lösung vorsichtig abgestumpft, mit Chlorcalciumlösung,
dann mit kräftig wirksamen Labferment versetzt; es ist dabei
in keinem der Versuche Gerinnung eingetreten.
Schnürer bemerkt übrigens, dass hiedurch nur gezeigt wird,
dass die Hauptmasse des Caseins im Magen der Labgerinnung
unterworfen ist, weil geringe Mengen von Säurecasein in Folge
einer nicht genügenden Concentration der Lösung der Labfällung
hatten entgehen können. Ueberdies hat Schn ii rer auch gezeigt,
dass jedes Mal eine halbe Stuude nach der Nahrungsaufnahme
wirksames Labferment im Mageninhalt vorhanden war.
*
XI. StÖltzner und L is sauer haben an Heubner’s
Poliklinik die Wirksamkeit der Thym ussubstanz bei Rachitis
geprüft. Die Versuche sind im Gegensätze zu v. Mettenheime r’s
Angaben dahin ausgefallen, dass weder die nervösen Symptome
noch die Knochenerkrankung bei dieser Behandlungsmethode beein¬
flusst worden sind.
*
XII. Vajda berichtet über folgenden Fall; Neunjähriger
Knabe, seit drei Jahren flüssige, oft blutige Stühle, die auch
während des Spitalsaufenthalles bestanden. Dabei hochgradige
Anämie, Oedeme an den Beinen, seröse Ergüsse in die Brust- und
Bauchhöhle; bei der Untersuchung des Rectums fand sich die
Rectumschleimhaut besäet mit kleinen dichtgedrängten Geschwülstchen.
Bei der Autopsie fand man den Dickdarm mit hirsekorn- bis
bohnengrossen, glatten, weichen, schleimhautartigen Excrescenzen
bestreut, die mehr oder weniger erhaben waren ; sie reichen bis
ins Cöcum, sind im Colon ascendens und im Rectum besonders
dicht, im S romanum sehr spärlich. Bei der histologischen Unter¬
suchung wird die gleich gestellte anatomische Diagnose einer Colitis
polyposa bestätigt, ln diesem wie in anderen Fällen gleicher Art
fehlt aber jede Spur einer Entzündung der Darmschleimhaut; hie¬
durch unterscheidet sich diese Krankheit von jener von Roki¬
tansky u. A. beschriebenen Polypose, welche auf dem Boden
eines dysenterischen Processes sich entwickelt. Verfasser schlägt
für die Fälle nicht entzündlichen Ursprunges den Namen Poly¬
posis intestinalis (nach Ziegler) vor.
W i 1 h. Kn o e p f e i m a c h e r.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
86. Zur Wirkung der Impfungen gegen den
Typhus. Von S. D. Duckworth. Wie bekannt, wurden die
nach Südafrika gesandten Truppen bis zu 70°/o gegen Typhus,
und zwar mit einem von Prof. Wright hergestellten Serum
immunisirt. Den Injectionen waren nur geringe äussere Reactionen,
etwas Kopfschmerz, Röthung um die Injectionsstelle gefolgt. Eine
Woche später gab das Blutserum bei 200facher Verdünnung noch
deutliche WidaTsclie Reaction. — (Brit. med. Journ. 17. No¬
vember 1899.)
*
87. Wright und Lei sh mann berichten über Im¬
pfungen, welche 1898 und Anfang 1899 bei den englischen
Truppen in Indien gegen Typhus ausgeführt worden waren.
Das Impfmaterial wurde aus abgelödteten Typhusbacterienculturen
gewonnen. Von 2835 Geimpften waren 27 (G’95%) an Typhus
erkrankt und 5 (0-2%) gestorben, von 8460 nicht Geimpften
213 (2-5%) erkrankt und 23 (0'34°/0) gestorben. — (Brit. med.
Journal. 20. Januar 1900.)
*
88. Ekzembehandlung und der faradische
Strom. Von Dr. Vollmer (Bad Kreuznach). Verfasser macht auf
die Verwendung des faradischen Stromes bei der Behandlung hart¬
näckiger Ekzemfälle aufmerksam. Er führt acht Ekzemfälle an, bei
welchen jede andere Behandlung vergeblich gewesen und die auf täg¬
liche, zehn Minuten dauernde Faradisation mit immer stärker
werdenden Strömen in etwa drei Wochen vollkommen ausheilten.
— (Therapeutische Monatshefte. 1899, Nr. 10.)
*
89. Zur Behandlung des cardialen Asthma. Von
Dr. A b e e (Nauheim). Verfasser theilt mit, dass die Anbringung
einer Pelotte in der Gegend der Herzspitze, welche durch einen
Gurt um die Brust herum festgehalten wird, oft als sehr wohl-
thuend bei den durch Herzerkrankungen bedingten asthmatischen
Beschwerden empfunden werde. — (Münchener medicinische Wochen¬
schrift. 1899, Nr. 37.)
*
90. Die Bedeutung des Milch ei weisses für die
Fleischbildung. Von Dr. W. C a s p a r i. Es ist immer noch
eine offene Frage, ob die einzelnen Eiweissstoffe, d. i. die vegeta¬
bilischen und animalischen, beziehungsweise jene, welche phosphor-
hältig sind, für die Ernährung einander gleichwerthig seien. Unter
die phosphorhältigen Albumine gehört auch das Casein der Milch,
welches auch in Form von Salzen (Casein-Ammonium=:Eucasin
und Caseinnatriumnutrose) zur Herstellung von Nährpräparaten ver¬
wendet wird. Zur Beurtheilung der Frage, ob das Milcheiweiss dem¬
jenigen anderer Nahrungsmittel für die Vermehrung des Eiweiss¬
bestandes des Körpers überlegen sei, hat C a s p a r i mit dem
»Milcheiweiss Plasmon« Stoffwechselversuche angestellt.
Letzteres, aus frischer Magermilch bereitet, ist ein gelbliches,
geschmack- und geruchloses und zum Theil in Wasser lösliches
Pulver, das etwa 73% Eiweiss enthält. Die Versuche sollen sehr
gute Resultate geliefert haben, so dass nach Verfasser dieses Prä¬
parat in Anbetracht seiner gleichzeitigen Billigkeit einen wirklichen
Fortschritt für die Diätetik bedeutet. — (Zeitschrift für diätetische
und physikalische Therapie. Bd. III, Heft 5.)
*
91. Mors praecox ex haemorrhagia cerebri
post co i tum. Von Prof. Gum p recht (Jena). Es handelt sich
um eine tödliche Ponsblutung im unmittelbaren Anschlüsse an eine
Cohabition. Die Trägerin derselben, eine 32jährige Frau von ziem¬
licher Excitabilität, war nicht erheblich arteriosklerotisch, hatte sich
weder gewohnheitsmässig noch vor dem Coitus dem Alkoholgenuss
ergeben gehabt und war, von einer für den Tod gleichgiltigen
Tubeneiterung abgesehen, gesund und kräftig gewesen. — (Deutsche
medicinische Wochenschrift. 1899, Nr. 45.)
*
92. Untersuchungen über das Wesen des Dia¬
betes mellitus. Vorläufige Mittheilung von Prof. Leo (Bonn).
Verfasser hat schon früher die Ansicht ausgesprochen,- dass die In-
sufficienz der Zuckerverbrennung in den Geweben des Diabetikers,
für den Fall, als das Pankreas nicht afficirt ist, dadurch veranlasst
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
307
wird, dass im Körper ein toxisches Agens circulirt, welches auf
die zum Verbrauche des Zuckers nothwendige Function hemmend
wirkt. Eine Bestätigung dieser Ansicht findet Leo darin, dass er
bei subcutaner oder intraperitonealer Injection von Urin, der von
mittel schweren oder schweren Diabetesfällen stammte, bei Hunden
eine Ausscheidung von Zucker im Harn in einer Menge von
2 — 3°/oi sogar einmal von 8'3% erzeugen konnte. — (Deutsche
medicinische Wochenschrift. 1899, Nr. 43.)
*
93. Ueber »krankheitskeimfreie Milch« zur
Ernährung der Säuglinge wie zum allgemeinen
Gebrauche. Von Dr. S i e g e r t (Slrassburg). Nach den be¬
kannten Untersuchungen F o r s t e r’s bleibt eine durch mindestens
15 Minuten auf 65° C. erwärmte Milch an Geschmack und Aus¬
sehen unverändert, während vorhandene Tuberkelbacillen ver¬
nichtet werden. Ein Aufkochen der Milch vor ihrer Verabreichung
an den Säugling unterbleibt. Hervorzuheben ist, dass diese Milch,
welche vielfach durch den Grossbetrieb hergestellt wird, in Strass¬
burg den ärmeren Müttern von Säuglingen um einen billigeren
Preis zugänglich gemacht wird, als sie ihn sonst für ihre ver¬
dünnte Milch bezahlen müssen, indem die Stadt die Preisdifferenz
trägt, da sie nach Verordnung des Arztes ohne weitere Umstände
den Betreffenden Controlbücher zum Bezüge der krankheitskeim¬
freien Milch, zum Beispiel zu 15 statt 20 Pfennige zur Ver¬
fügung stellt. — (Münchener medicinische Wochenschrift. 1899,
Nr. 46.) Pi.
*
94. Histolgie des Pemphigus der Haut und der
Schleimhaut. Von Dr. Karl K r e i b i c h. (Archiv für Derma¬
tologie und Syphilis. Bd. L, Heft 2 und 3.) Kreibich unter¬
suchte bei 14 Fällen circa 70 Pemphigusbläschen und fand, dass
der Blasenbildung nicht nur in den meisten Fällen eine klinisch
nachweisbare ervthematöse Entzündung vorausgeht, sondern er fand
auch mikroskopisch bei allen Formen, auch jenen, wo sich die
Blasen über scheinbar vollkommen normaler Haut finden, in der
Umgebung und Basis der Blasen die Zeichen der Entzündung :
Hyperämie, Oedem und kleinzelliges Infiltrat, das zum grossen
Theile aus eosinophilen Zellen bestand. Die Blasen entstehen
zwischen Cutis und Epidermis oder in der Epidermis selbst; in
beiden Fällen erfolgt rasch Ueberhäutung der Basis von der
Peripherie, von Follikelresten und zurückgebliebenen Epithelzellen
aus, welch letzterer Vorgang im zweiten Falle namentlich häufig ist.
Bei Pemphigus foliaceus fand sich eine bedeutende Ausdehnung
der Blut- und Lymphgefässe in den oberen und tieferen Cutis¬
schichten mit consecutivem Oedem, eine vollständige Abhebung
der Epidermis, die sich nach der Regeneration durch Verlängerung
der .Leisten und Verbreiterung der Intercellularspalten auszeichnet.
Beim Schleimhautpemphigus ist das ganze Epithel abgehoben, die
Gefässe stark ausgedehnt, die freiliegende Mucosa ist ödematös
durchtränkt, die Keime ihrer Elemente zeigen geringere Tingibilität.
Frd.
*
95. Ein Fall von spontanem Exophthalmus
pulsans. Heilung durch Ligatur der Carotis com¬
munis. Von Anton Gabs ze wie z, Warschau. (Gazete lekarska.
1900, Nr. 1.) Eine 30jährige Frau gibt an, dass sie während eines
Hustenanfalles plötzlich ein heftiges Knacken im linken Auge ver¬
spürte, wonach sich ein unerträglich summendes Geräusch in der
linken Kopfhälfte einstellte, welches nicht mehr schwinden wollte.
Als bald darauf auch bedeutende Sehstörungen linkerseits auf¬
traten, begab sich Patientin ins St. Rochusspital, wo am linken
Auge folgender Befund gemacht wurde: Starker Exophthalmus,
Ptosis und Oedem des oberen, Ektropion des unteren Augenlides,
Bulbus etwas hart und schmerzhaft, seine Bewegung nach aus¬
wärts fast unmöglich, etwaige Pulsation objectiv nicht nachweisbar.
Pupille breit und starr, reagirt nicht auf Licht, Augengrundarterien
fast blutleer, die Venen dagegen strotzend gefüllt; auf der Netz¬
haut zahlreiche hämorrhagische Flecke, Sehnervpapille nicht wahr¬
nehmbar. Sowohl mit wie ohne Hörrohr (auch in Entfernung) lässt
sich am linken Auge und an der ganzen entsprechenden Kopf¬
hälfte rhythmisches, den Herztönen analoges Geräusch vernehmen
Visus links = 0. Auf Grund dessen wurde ein Aneurysma (wahr¬
scheinlich der Art. carotis int. im Sinus cavern.) diagnosticirt,
welches in Folge des Hustenanfalles platzte und die oben ge¬
schilderten Veränderungen nach sich zog. In der Chloroformnarkose
wurde demnach die Carotis commun. ligirt, wodurch wie mit einem
Schlage das summende Geräusch schwand, und nach drei darauf
folgenden Wochen war keine Spur von Exophthalmus und den
sonstigen Krankheitssymptomen mehr vorhanden. Visus links hat
sich derart gebessert, dass Patientin die Umrisse der Gegenstände
wahrnehmen kann. H. P.
*
96. Del’Eczemahyperkeratosique interdigital.
Par W. Dubreuilh. (Ann. d. Dermatolog. et de Syphiligr. T. X,
Nr. 12.) Dubreuilh beobachtete einige Male bei Arthritikern
eine hartnäckige, in den Interdigitalräumen der Zehen localisirte
Dermatose, welche am auffälligsten den Charakter einer Hyperkera-
tose aufwies. Die betreffenden Hautstellen waren von dicken,
breiten opaken, hornigen Fetzen bedeckt, die, macerirter Epidermis
ähnlich, meist an einer Seite fest hafteten und sich nur mit
Fissurenbildung loslösen Hessen. Darunter erschien die Haut ge-
rötbet, mit dünner transparenter Epidermis überdeckt. Wo sich die
Affection auf die Nachbarschaft erstreckte, nahm sie das Aussehen
eines vesiculösen Ekzems an. Hyperhidrosis pedum bestand
in keinem dieser Fälle. Therapeutisch bewährten sich Ichtholalkohol,
Bleiwasserumschläge, Chrysarobinsalben und Lapispinselungen.
Frd.
*
97. Lähmung bei Diphtheriefällen, die mit
Antitoxin behandelt worden sind. Von Dr. W o 1 1 a c o 1 1
(London). Wie Verfasser mittheilt ist in den in Betracht kommen¬
den Spitälern Londons die Sterblichkeit an Diphtherie von 29 auf
15'3% herabgegangen, die Lähmungen jedoch im Jahre 1896 von
13 auf 21% gestiegen, was nach der Meinung des Autors darin
begründet ist, dass die eigentliche Krankheit jetzt von mehr
Kindern überstanden wird, dafür aber auch mehr den Folgen der¬
selben ausgesetzt sind. Unter 472 untersuchten Fällen hatte unter
Anderem die Lähmung 413mal den weichen Gaumen, 91mal den
Pharynx, 104mal die Augenmuskeln, 125mal die Beine und 51 mal
die Arme betroffen. — (Lancet. 1899, Vol. R, Nr. 9.) Pi.
THERAPEUTISCHE NOTIZEN.
Dr. Dworetzky berichtet über einige Fälle von entzündlich¬
eiterigen und septischen Processen, welche mit wiederholten Einrei¬
bungen von löslichem Silber = Unguentum Crede behandelt
worden waren und in denen die gleichen guten Erfahrungen gemacht
wurden, wie sie schon von mehreren Seiten berichtet worden sind. —
(Therapeutische Monatshefte. 1900, Nr. 3.)
*
Prof. Galli-Valerio in Lausanne theilt einen Fall mit, in
welchem durch Verabreichung von DO Salol beschwerdelos ein
Bandwurm (Bothriocephalus latus) abgetrieben wurde. — (Therapeuti¬
sche Monatshefte. 1900, Nr. 3.)
*
Epicar in ist ein Derivat der Creosotinsäure und des ß Naph-
thol und stellt ein in Alkohol, Aether etc. leicht lösliches Pulver dar.
Sein Hauptanwendungsgebiet sind nach Kaposi alle Hauterkrankun¬
gen (Scabies und Dermatomykosen), die bisher mit Naphthol behandelt
worden sind, dessen unerwünschte Nebenerscheinungen jenem nicht an¬
haften sollen. — (Wiener medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 6.)
*
Ueber einige neuere Caseinpräparate. Von Doctor
Aufrecht (Berlin). Nutrose, Sanatogen, Eucasin sind in
diesen Blättern wiederholt besprochen worden. Seit etwa zwei Jahren
ist das Plasmon in den Handel gebracht worden. Zu diesen Präpa¬
raten zählt weiters das Eulactol, ein Präparat, das aus Vollmilch,
Pflanzeneiweiss und Nährsalzen bereitet wird und in Pulverform in den
Handel kommt. — (Pharmaceutische Zeitung. 1900, Nr. 17.)
*
Ueber Europhen. Von Dr. Saalfeld (Berlin). Das
Mittel, der Zusammensetzung nach Isobutylorthokresoljodid, wird als
Ersatzmittel für Jodoform empfohlen und letzterem namentlich bei der
Behandlung des Primäratfectes und Ulcus molle vorgezogen. — ( Thera¬
peutische Monatshefte. 1900, Nr. 3.)
308
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 13
VERMISCHTE NACHRICHTEN
Am 25. d. M. starb hier Hofrath Professor Dr. Johann
Hofmokl, geboren 1840 in Brzezau in Galizien. Seine chirurgische
Laufbahn begann er unter v. Dumreicher, dessen mehrjähriger
Assistent er war. Bald nach seiner Habilitirung wurde er Abtheilungs¬
vorstand an der Allgemeinen Poliklinik und Leiter der chirurgischen
Abtheilung des Leopoldstädter Kinderspitales. Seit 1881 war er als
k. k. Primararzt thätig und wurde 1885 zum Professor e. o. ernannt.
Seine zahlreichen fachwissenschafdichen Publicationen wurden gelegent¬
lich seines 25jährigen Doctorjubiläums von dessen Schülern in einer
zweibändigen Gesammtausgabe vereinigt. Unter seinen Arbeiten fanden
die meiste Beachtung: „Experimentelles über das mechanische Moment
bei der Brucheinklemmung“, eine Nachprüfung der bekannten Ver¬
suche von Busch und Lossen, seine unter Stricker aus¬
geführten Untersuchungen über Callusbildung, ferner seine Arbeit
über den intracapsulären Bruch des Radiusköpfchens. Auch was er
sonst veröffentlichte, gibt Zeugniss von seinem steten Bestreben, seine
ausgedehnte praktische Thätigkeit immer auf der wissenschaftlichen
Höhe seiner Zeit zu erhalten. Schon zu einer Zeit, in der nicht, wie
im gegenwärtigen Augenblicke, die Darmoperationen zu den sozusagen
alltäglichen Eingriffen zählten, konnte er sich gerade auf diesem Ge¬
biete mit einer besonders günstigen Statistik seiner zahlreichen ein¬
schlägigen Operationen ausweisen. — Inmitten arbeitsfroher Thätigkeit
erkrankte Hofmokl vor zwei Jahren unter Hämoptoe. Damals
wurde an ihm der Herzklappenfehler entdeckt, der ihn seither mit
nur verhältnissmässig kurzen Zwischenzeiten anscheinenden Wohl¬
befindens ans Krankenzimmer fesselte. Von einer vor etwa Jahresfrist
erlittenen Hirnembolie zwar bis auf Reste von Sprachstörungen leidlich
erholt, fühlte er doch nicht mehr die Kraft in sich, in seinem ver¬
antwortungsvollen Wirkungskreise zu verbleiben und kam um seinen
Abschied ein. Er wurde ihm unter allen Zeichen allerhöchster An¬
erkennung gewährt. Wenige Wochen nachher ist er eines raschen,
sanften Todes gestorben. Als Fachmann geschätzt, als biederer Cha¬
rakter und allseitig wohlwollender Mensch beliebt, hinterlässt er ein
hochgeachtetes Andenken. A. F.
*
Ernannt: Hofrath Albert in Wien und Professor
Metschnikoff in Paris zu auswärtigen Mitgliedern der Aca-
demie de medecine zu Paris. — Dr. H. Oltramare zum o. Pro¬
fessor für Haut- und Geschlechtskrankheiten in Genf. ■ — Dr. C.
Gram zum Professor der Medicin in Kopenhagen.
*
Verliehen: Dem a. o. Professor der Pharmakologie zu
Heidelberg, Oppenheimer, der Hofrathstitel.
*
H a b i 1 i t i r t : Dr. Friedrich Best für Augenheilkunde
in Giessen. — Dr. K. Franz für Geburtshilfe und Gynäkologie in
Halle. — Dr. M o d i c a für gerichtliche Medicin in Catania.
*
Gestorben: Der Laryngologe Whistler in London.
*
In der am 17. März 1900 abgehaltenen Sitzung des Obersten
Sanitätsrathes gelangten nach Mittheilungen über Erledigungen
früherer Berathungsgegenstände und über sanitäre Vorkommnisse
nachstehende Referate zur Berathung und Beschlussfassung: 1. Gut¬
achten über die Zulässigkeit der Errichtung einer Oelgasanstalt für
Waggonbeleuchtung. (Referent : Prof. Ludwig.) 2. Gutachten über
Verbesserungen an der Filteranlage der Wienthal-Wasserleitung.
(Referent: Prof. M. Gruber.) 3. Gutachten betreffend die Regelung
des Handels mit Eis in sanitärer Beziehung. (Referent : Derselbe.)
4. Gutachtliche Aeusserung über die Vervollkommnung der statistischen
Nachweisungen über Irrenanstalten. (Referent Prof. v. Wagner.)
*
Preisfragen für die k. und k. Militärärzte zur
Erlangung der Stiftungen des k. k. Stabsfeldarztes
Brendel v. Sternberg, des Josef Preissinger, des
Regimentsarztes Dr. Johann Wildgans, des Josef
Malliard und des Johann Zauner. 1. Die Unterbringung
von A erwuudeten und Kranken am Kriegsschauplätze, insbesondere
nach grossen Gefechten und Schlachten. 2. Ueber den Einfluss der
Krankheiten der Haut und des Bindegewebes (mit Ausschluss der
acuten fieberhaften Exantheme, des Rothlaufes, dann der tuberculösen
und syphilitischen Formen) auf die militärische Eignung der Wehr¬
pflichtigen und die Dienstbarkeit der Soldaten; Prophylaxe und Therapie
der bei Soldaten am häufigsten vorkommenden derartigen Krankheits¬
formen. 3. Welche Aenderungen erscheinen angesichts der modernen
Kriegführung in dem Sanitäts Feldausrüstungsmaterial des k. und k.
Heeres, insbesondere der Truppen, Divisions Sanitätsanstalten und Feld¬
spitäler geboten, unter der Annahme, dass in Hinkunft die Hilfsplätze
von den Truppenkörpern selbst, speciell von den Infanterieregimentern
aufgestellt werdrn. Welche von den für das Feld normirten Sanitäts-
Ausrüstungsgegenständen — Arzneien, Arzneigefässen und Apotheker-
geräthen, ärztlichen und Spitalsrequisiten, Küchengeräthen, Wäsche-
und Bettsorten, Victualien und Labemittelu — wären auszuscheiden
oder durch neue Muster zu ersetzen und welche Ausrüstungsgegen¬
stände wären überhaupt neu einzuführen? 4. Wie gestaltet sieh auf
Grund praktischer Erfahrung der Einfluss der verschiedenen Krank¬
heiten und Gebrechen des Gehörorganes auf die Kriegsdiensttauglich¬
keit der Wehrpflichtigen und Assentirten, sowie auf die Eignung zur
Militärerziehung? Welche Abänderungen wären sonach in den bezüg¬
lichen Vorschriften (Dienstbuch N — 1, Post Nr. 8 — 13, und Dienst¬
buch N — 26, Post Nr. 8 — 13) angezeigt? Der Preis für sämmtliche
Fragen besteht aus je zwei goldenen Medaillen im Werthe von je
80 K. Die Arbeiten sind entweder von den Preiswerbern zu unter¬
zeichnen, oder mit einem Motto zu versehen, welches gleichlautend und
mit Beifügung des Namens und der Charge des Verfassers in einem ver¬
schlossenen Zettel der Arbeit beigelegt ist, und haben bis zum 1. Ja¬
nuar 1901 beim k. und k. Militär-Sanitätscomite in Wien (IX.,
Währingerstrasse Nr. 25) portofrei einzulangen. Jene Bewerber, welche
ihren Namen nur in dem Falle genannt wissen wollen, wenn ihre Arbeit
den Preis erhält, mögen bestimmen, was mit derselben im entgegen¬
gesetzten Falle zu gesshehen bat. Die Namen derjenigen Bewerber,
welche einen Preis erhalten, werden jedes Mal bei der nächsten an die
k. u. k. Militärärzte auszugebenden Ankündigung neuer Preisfragen
bekanntgegeben. Wien, im Februar 1900.
*
Unterstützungsverein für Witwen und Waisen
der k. und k. Militärärzte in Wien. Montag den 30. April
l. J. um 5 Uhr Nachmittags findet im Lehrsaale Nr. 1 der ehe¬
maligen Josefs-Akademie (IX., Währingerstrasse 25) die diesjährige
ordentliche Generalversammlung statt. Tagesordnung: 1. Veri-
ficirung des Protokolls der vorjährigen Generalversammlung. 2. Vor¬
lage des Rechenschafts Berichtes für das Jahr 1899. 3. Bericht der
Revisoren. 4. Mittheilungen de3 Verwaltungs-Comites. 5. Eventuelle
Anträge von Vereinsmitgliedern. (Selbe müssen 14 Tage früher dem
Verwaltungs-Coniite angezeigt werden.) 6. Wahl von Functionären in
das Verwaltungs Comite nach § 22, dann für das Schiedsgericht nach
§ 30 der Statuten und als Revisoren für das Jahr 1900 nach § 9 der
Geschäftsordnung. Damit die Generalversammlung nach § 27 der
Statuten beschlussfähig sei, werden die P. T. Herren Vereinsmitglieder
ersucht, hiebei zuverlässlich erscheinen zu wollen. Wien, den
17. März 1900. Für das VerwaltuDgs-Comite : Der Präsident: Doctor
Moriz R. Nagy v. Rothkreuz m. p., k. und k. General-
Stabsarzt.
*
Im Verlage von O. ß ö h m e r t in Dresden erscheint unter dem
Titel: „Der Alkoholismus“ eine Vierteljahrsschrift zur wissen¬
schaftlichen Erörterung der Alkoholfrage. Die vier Herausgeber :
Sanitätsrath Dr. Baer in Berlin, Geheimer Regierungsrath Professor
Böhmert in Dresden, Dr. jur. v. Strauss und Torney und
Dr. M. W a 1 d s c h m i d t in Berlin gehören zum Ausschüsse des
Deutschen Vereines gegen den Missbrauch geistiger Getränke. Das eis'e
Heft der neuen Zeitschrift (Preis M. 2. — ) ist bereits erschienen.
*
Berichtigung. Durch ein Versehen des Verfassers ist der
für eine andere Arbeit bestimmte Kopf: „Aus der IILmedicini-
schon Klinik etc.“ fälschlich auch auf der in der vorletzten Nummer
der Wiener klinischen Wochenschrift erschienenen Arbeit Dr. Eisen-
menger's: „Ueber die sogenannte pericarditische Pseudolebercirrhose
(Dr. P i c k)“ gedruckt.
Freie Stellen.
Bei der k. k. schlesischen Landesregierung in Troppau gelangt
die Stelle eines Sanitätsassistenten mit dem Adjutum jährlicherl200 K
zur Besetzung. Bewerber um diese Stelle haben ihie gehörig documentirten,
mit den Nachweisen über Alter, Zuständigkeit, zurückgelegte Studien,
körperliche Eignung, sowie über die mit günstigem Erfolge abgelegte ärzt¬
liche Prüfung zur Erlangung einer bleibenden Anstellung im öffentlichen
Sanitätsdienste bei den politischen Behörden belegten Gesuche bis längstens
15. April 1900 entweder unmittelbar oder, soferne sie bereits im
öffentlichen Dienste stehen, im Wege ihrer Vorgesetzten Behörde bei dem
k. k. schlesischen Landespräsidium in Troppau einzubriugen. Unter Um¬
ständen können auch Bewerber ohne Physicatsprüfung Berücksichtigung
finden, soferne sie den Nachweis über eine nach Erlangung des Doctor-
diplomes in einem öffentlichen Krankenhause vollstreckte angemessene
Dienstleistung oder über eine mehrjährige ärztliche Privatpraxis zu
erbringen vermögen. Vom k. k. schlesischen Landespräsidium. Troppau, am
13. März 1900.
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
309
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Gongressberichte.
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Föstversammlung vom 2 3. März 1900.
Zum Protokoll der Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte vom
16. März 1900.
Verein der Aerzte in Steiermark. Sitzung- vom 20. Januar und 12. Fe¬
bruar 1900.
Oesterreichisclie otologische Gesellschaft. Sitzung vom 29. Januar 1900.
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
Festversammlung vom 23. März 1900.
Vorsitzender: Präsident Hofratli R. Chrobak.
Schriftführer : Prof. R. Paltauf.
Prof. Bergmeister:
Hochansehnliche Versammlung,
Sehr geehrte Herren!
Gestatten Sie mir, in kurzem Rückblicke Bericht zu erstatten
über die Leistungen und Erlebnisse unserer Gesellschaft in dem zu
Ende gehenden 63. Vereinsjahre.
Zunächst der Stand der Gesellschaft:
Am Schlüsse des vorigen Vereinsjahres verblieben 532 ordent
liehe Mitglieder. Hiezu kamen durch Neuwahl 42; 11 Mitglieder
starben im Laufe des Jahres und 8 Mitglieder haben ihren Austritt
aus der Gesellschaft angemeldet. Es verbleibt somit derzeit ein Stand
von 555 ordentlichen Mitgliedern.
Durch den Tod wurden der Gesellschaft entrissen am 22. April
1899 Dr. Franz Kar is, gewesener klinischer Assistent; am
26. Juni 1899 Dr. Leopold Heinemann, emeritirter Primararzt;
am 16. Juli 1899 Dr. Franz Cehak, emeritirter klinischer Assi¬
stent; am 23. Juli 1899 Dr. Maximilian Wilhelm Löwen¬
feld, Stadt-Armenarzt; am 13. September 1899 Prof. Dr. Karl
Stoerk, Vorstand der Klinik für Laryngologie ; am 28. September
1899 Hofrath Theodor Puschmann, Professor der Geschichte
der Medicin an der Wiener Universität; am 11. November 1899 der
königlich ungarische Rath Dr. Albert Györy de Nadudvar,
gewesener Docent und Primararzt; am 4. December 1899 Dr. Michael
Witzinger; am 31. Januar 1900 Hofrath Dr. Philipp Knoll,
Professor für allgemeine und experimentelle Pathologie an der Wiener
Universität; am 4. Februar 1900 Dr. S. Plohn und am 11. Februar
1900 Dr. Leo Steindler.
Unter den Dahingeschiedenen sind Namen, welche als Zierden
der medicinischen Wissenschaft noch in späteren Zeiten genannt sein
werden. Die Gesellschaft aber betrauert Alle als treue wackere Collegen,
die, Jeder in seinem Kreise, mit aufopferungsvoller Hingabe in echt
humanem Geiste wirkten und durch die sittliche Höhe ihrer Lebens¬
führung da3 Ansehen des ärztlichen Standes zu mehren bestrebt
waren .
*
Die wissenschaftliche Thätigkeit, welche die Gesellschaft in
diesem Jahre entfaltete, muss als eine reiche und fruchtbare bezeichnet
werden. -
In 29 Sitzungen fanden 21 Vorträge und 90 Demonstrationen
statt und wurden 6 vorläufige Mittheilungen gemacht.
Von den Vorträgen bezogen sich je 4 auf Fragen der internen
Medicin und der Gynäkologie, je 2 auf Chirurgie, experimentelle Patho¬
logie, Biologie, Neuropathologie und Mechanotherapie; ferner je 1 auf
den medicinischen Unterricht, auf Radiographie und pathologische
Anatomie.
Vorträge hielten Benedict und Max Herz je 2, P o 1 la¬
tsch e k , Kaiser, Goldman, Wertheim, Chrobak, W e in¬
lech n e r, Dräsche, Albert, Grebner, Pauli, H a b a r t,
Knauer, Einer, Schauta, Herzfeld, Kretz und
P i 1 c z je 1.
Von den Demonstrationen betrafen Chirurgie 28, Dermatologie
und Syphilidologie 12, Pathologie und pathologische Anatomie 8,
Radioskopie und Radiotherapie 7, Neuropathologie 6, Instrumente und
Apparate 6, Ophthalmologie 5, interne Medicin, Gynäkologie, Laryngo¬
logie inclusive Bronchoskopie je 3, Bacteriologie 2, experimentelle
Pathologie, Parasitologie, forensische Medicin, Otiatrie, Urologie, Em¬
bryologie und Pädiatrie je 1.
*
Demonstrationen hielten ab:
Weinlechner 10, Paltauf 5, II o c h e n e g g 4, I. N e u-
mann, E. Lang, B ü d i n g e r, H. Schlesinger, II. v. Schrötter
je 3, P e n d 1, R. Kraus, E. S c h i f f und Freund, E. Schiff
allein, Schopf, Holzknecht, C z o k o r, Kaposi, Schnitzler
und S. K 1 e i n je 2, M i r 1 1, Wertheim, Ehrmann, Matze-
nauer, B e r d a c h, Grünfeld, R. Frank, H. Benedikt,
Sachs, Henning, A. J o 1 1 e s, Harme r, Gärtner, P h e 1 1 a n ,
Preindelsberger, A. Schiff, J. Schnabel, Thur nw aid,
B e r a 1 1, Politzer, M. Sternberg, A. Langer, E. Ullmann,
O. Zucke rkandl, E 1 s c h n i g g, Dörr, J e h 1 e, II i t s c li¬
ra a n n, B i e h 1, Tandler, Neurath, S p i e g 1 e r, Hansy,
E. Schwarz, Herzfeld und K r ei d 1 je 1.
Mittheilungen machten:
Fabricius, E. Ullmann, Pal, Töpfer, Offer und
H e i 1 1 e r über diverse chirurgische, experimentelle, physiologische und
pathologische Themata.
Lebhafte Discussionen knüpften sich des Oefteren an Vorträge
und Demonstrationen ; ich hebe hervor die Debatte über die mechani¬
sche Behandlung von Herzkrankheiten, über Blutdruckmessungen, über
Radiotherapie, über Ovarientransplantation, über die neue medicinischo
Rigorosenordnung und über Enteroptose.
*
Nebst den wissenschaftlichen Sitzungen hielt die Gesellschaft
3 administrative Sitzungen ab. Von besonderen Fragen, welche hiebei
zur Verhandlung kamen, sind zu erwähnen die Frage wegen des Um¬
baues des Allgemeinen Krankenhauses und die Frage über die Gestal¬
tung des österreichischen internationalen Urheberrechtes.
Zur Berichterstattung über beide Fragen wurden Comite’s ein¬
gesetzt und über erstere in der administrativen Sitzung vom 16. Juni
1899 und über die zweite in der Sitzung vom 2. März 1900 Bericht
erstattet.
Die Denkschrift bezüglich des Umbaues des Allgemeinen Kranken¬
hauses wurde vom Präsidium den betreffenden Ressortministern, sowde
dem Statthalter überreicht und das Referat mit der Resolution der
Gesellschaft bezüglich der Gestaltung des österreichischen internatio¬
nalen Urheberrechtes an das Justizministerium geleitet.
Erwähnt sei ferner, dass Hofrath Gustav Braun seitens des
Präsidiums zur Feier seines 70. Geburtstages beglückwünscht wurde,
sowie die Theilnahme der Gesellschaft an der Feier des Wiener medi¬
cinischen Doctorencollegiums anlässlich des 500jährigen Bestandes der
Acta Facultatis medicae Vindobonensis.
*
Dank der Initiative unseres verehrten Präsidenten ist es möglich
geworden, im verflossenen Sommer dringende Adaptirungen zur Ver-
grösserung der Bibliotheksräume durchzuführen, wodurch voraussicht¬
lich für einen längeren Zeitraum der geordnete Bestand unserer stetig
anwachsenden Bücherei sichergestellt wurde.
Nicht unerwähnt bleibe, dass Herr Karl Reichert in Wien
am 17. November 1899 aus Anlass der Vollendung seines 20.000sten
Mikroskopes dieses Instrument unserer Gesellschaft widmete.
*
Ich bin mit meinem Berichte zu Ende.
Die Gesellschaft hat ein Jahr, reich an wissenschaftlicher Arbeit,
hinter sich. Nach ihrer ganzen Vergangenheit darf sie mit Vertrauen
der Zukunft entgegensehen. Ihre Stärke liegt in ihren Zwecken. Diese
sind die Förderung und Vervollkommnung der gesammten Heilkunde
und die Befestigung und Erweiterung des freundschaftlichen, colle-
gialen Verhältnisses unter den Aerzten im Interesse des wissenschaft¬
lichen Fortschrittes. Die Verfolgung dieser Zwecke hat der Gesellschaft
Ansehen und Ehre gebracht — ihnen wird sie auch in Hinkunft un¬
entwegt treu bleiben. (Beifall.)
*
Hierauf gibt Dr. Unger folgenden Bibliotheksbericht :
Hochgeehrte Herren !
Im abgelaufenen Vereinsjahre hat sich der Bestand unserer
Bibliothek abermals erheblich vermehrt und erweitert, theils duich
zahlreiche Geschenke und Widmungen, theils durch Anschaffung neuer
3L0
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 13
Werke und Zeitschriften und durch Ergänzung der vorhandenen
Lücken. Wie alljährlich, haben uns die hohen staatlichen, landes¬
fürstlichen und communalen Behörden auch diesmal ihre amtlichen
Publicationen zugewendet und ebenso sind uns von den wissenschaft¬
lichen Instituten, Corporationen und Vereinen des In- und Auslandes
deren regelmässige Mittheilungen und Berichte, von einer grossen
Anzahl unserer Gesellschaftsmitglieder ihre eigenen Werke und Ar¬
beiten nebst mancherlei anderen werthvollen Geschenken zugegangen.
An grösseren Spenden hat die Bibliothek erhalten :
Von unserem Herrn Präsidenten Hofrath C h r o b a k die im
abgelaufenen Jahre erschienenen Bände des von Nothnagel heraus¬
gegebenen Handbuches der speciellen Pathologie und Therapie; die
Verhandlungsberichte der deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und
den kürzlich erschienenen Suplementband des M e y e r’schen Conver-
sationslexikons.
Von unserem ordentlichen Mitgliede Herrn Hofrath Albert
eine Anzahl werthvoller medicinischer Werke aus dem XVI. und
XVII. Jahrhunderte.
Von unserem Ehrenmitgliede Excellenz v. Scherzer eine Reihe
interessanter Publicationen aus dem Gebiete der Anthropologie und
prähistorischen Chirurgie.
Von unseren correspondirenden Mitgliedern hat Herr Prof. Orth
in Göttingen eine Anzahl von Dissertationen aus seinem Institute,
Herr Prof, v, Baumgarten in Tübingen wie alljährlich seinen
Jahresbericht über die pathogenen Mikroorganismen und Herr Professor
La ehr in Berlin seinen Jahresbericht der Psychiatrie gespendet.
Ihre eigenen Werke und Zeitschriften haben wir erhalten von
den Herren :
Ilofrath Kaposi, Czokor, Obersteiner, Breus und
Kol is ko, Wölfl er, v. Frisch, Lang, Ortner, v. Hacker,
H a j e k, Kolisch, K e r s c h b a u m e r, G 1 a x, Proksch,
Kann, Pauli, Winternitz, Katz und Winkle r. Eine Reihe
anderer Werke und Zeitschriften haben uns gespendet die Herren:
Pas chkis, R e t h i, Lang, G a 1 a 1 1 i, P a 1 1 a u f , P e t r i n i de
G a 1 a t z, Adler, K u n d r a t, Pollatsche k, Mannaberg,
Kraus, Weiss, Unger und zahlreiche Einzelwerke und fort¬
laufende Journale haben wir erhalten von der Redaction der Wiener
klinischen Wochenschrift und den Verlagshandlungen Braumüller
6 Sohn in Wien, Gerold & Sohn in Wien, Felix Alcan in
Paris, Bailliere in Paris, Carre & N a u d in Paris, Clausen
in Turin und Anderen.
Es ist mir eine angenehme Pfl cht, allen den genannten Be¬
hörden, Instituten, Corporationen und Vereinen, den Ehrenmitgliedern,
correspondirenden und ordentlichen Mitgliedern unserer Gesellschaft,
sowie den Redactionen und Verlegern für die wohlwollende Förderung
der Interessen unserer Bibliothek auch an dieser Stelle den ergebensten
Dank auszusprechen.
Uebergehend zur Besprechung der Geschehnisse innerhalb der
Bibliothek im abgelaufenen Jahre, will ich zunächst bezüglich der
neuen Anschaffungen bemerken, dass die Bibliotheksverwaltung
auch diesmal bemüht gewesen ist, den vielfachen Wünschen der
Herren Mitglieder entgegenzukommen und dieselben mit den Bedürf¬
nissen der Bibliothek und deren Mitteln in Einklang zu bringen.
An Zeitschriften wurden 21 Nummern, darunter 4 in deutscher,
7 in englischer und 10 in französischer Sprache, an Werken 38 Num¬
mern angekauft; unter den letzteren befinden sich mehrere grössere
Sammelwerke, Encyklopädien, Festschriften und eine Anzahl werth¬
voller Monographien und Abhandlungen fast aus allen Gebieten der
praktischen und theoretischen Medicin. Die Ankäufe betrafen folgende
Zeitschriften und Werke:
a ) Zeitschriften :
1. Archiv der Balneotherapie und Hydrotherapie. Heraus¬
gegeben von C. F. Müller. Halle a. S. 1899 ff. — 2. Archiv für
Schiff- und Tropenhygiene. Herausgegeben von C. M e n s e in Kassel.
Leipzig 1897 ft’. — 3. Aerztliche Saehverständigen-Zeitung. Heraus¬
gegeben von L. Becker und A. Leppmann. Berlin 1900 ff. —
4. Beiträge zur experimentellen Therapie. Herausgegeben von
E. Behring. Berlin und Wien 1899 ff. — 5. Annales d’Hygiene
publique et de medecine legale. Par Adelon, Andral etc. Paris 1900 ff.
G. Annales d’Oculistique. Fondee par Cun i er en 1838. Paris
1898 ff. — 7. Annales de medecine et Chirurgie infantiles. Par
E. P e r i e r. Paris 1899 ff. — 8. Archives provinciale de Medecine.
Par M. Baudouin. Paris 1899 ff. — 9. Archives provinciale de
Chirurgie. Par M. Baudouin. Paris 1899 ff. — 10. Bulletins de la
Societe de Pediatrie de Paris. Paris 1899 ff. — 11. Congres de Chi¬
rurgie. Treizieme Congres. Paris 1899 ff. — 12. Nouvelle Iconographie
de la Salpetriere. Fondee par J. M. Charcot. Paris 1899 ff. —
13. Revue Neurologique. Par E. Brissaud et P. Marie. Paris
1899 ff. — 14. Bibliographia medica (Index Medicus). Directeur-
fondateur Marcel Baudouin. Paris 1900 ff. — 15. Journal of
Anatomy and Physiology. By W. Turner etc. London 1898 ft. —
16. The Journal of Pathology and Bacteriology. By G. S. Wood-
head. Edinburgh and London 1899 ff. — 17. The Journal of mental
Science. By H. Ray er, C. Norman etc. London 1899 ff. 18. The
american Journal of Insanity. By G. AlderBlumer. Utica (N. Y.)
1899 ff. — 19. The american gynaecological aud obstetrical Journal.
By J. D. E m e r t. New York 1899 ff. — 20. Transactions of the
obstetrical Society of London. London 1898 ff. — 21. Transactions of
the oplithalmological Society of the united Kingdom. London 1899.
b) Werke und Handbücher:
1. Handbuch der Gynäkologie. Herausgegeben von J. Veit.
Wiesbaden 1897/99. 5 Bände. — 2. Handbuch der Geburtshilfe. Heraus¬
gegeben von P. Müller. Stuttgart 1888/89. 3 Bände. — 3. Hand¬
buch der praktischen Chirurgie. Herausgegeben von E. v. Be r g-
m a n n n, P. v. Bruns und J. v. Mikulicz. Stuttgart 1899 ff. —
4. Handbuch der Ohrenheilkunde. Herausgegeben von H. Schwarz e.
Leipzig 1892/93. 2 Bände. — 5. Handbuch der anorganischen Chemie.
Herausgegeben von O. Damme r. Stuttgart 1899. 4 Bände. — 6. Lehr¬
buch der allgemeinen Therapie und der therapeutischen Methodik.
Herausgegeben von A. Eulenburg und S. Samuel. Berlin und
Wien 1897/99. 3 Bände. — 7. Encyklopädie der Ohrenheilkunde.
Herausgegeben von L. Blau. Berlin 1899. — 8. Kölliker A.,
Handbuch der Gewebelehre. Sechste Auflage. 1889/96. 2 Bände. —
9. Kirmisson E., Lehrbuch der chirurgischen Krankheiten ange¬
borenen Ursprungs. Autorisirte Uebersetzung von C. Deutschländer.
Stuttgart 1899. — 10. Hermann L., Lehrbuch der Physiologie.
Zwölfte Auflage. Berlin 1900. - — 11. Bendix B., Lehrbuch der
Kinderheilkunde. Berlin und Wien 1899. — 12. Sahli H., Lehrbuch
der klinischen Untersuchungsmethoden. Zweite Auflage. Leipzig und
Wien 1899. — 13. Bechterew W. v., Die Leitungsbahnen im Ge¬
hirn und Rückenmark. Deutsch von R. Weinberg. Zweite Auflage.
Leipzig 1899. - — 14. Beiträge zur pathologischen Anatomie und klini¬
schen Medicin. Ernst Lebe recht Wagner gewidmet. Leipzig
1887. — 15. Beiträge zur Physiologie. Festschrift für A d o 1 f F i c k.
Braunschweig 1899. — 16. Klinisch experimentelle Beiträge zur inneren
Medicin. Festschrift für Julius Lazarus. Berlin 1899. — 17. Bern¬
heim B., Die Suggestion und ihre Heilwirkung. Deutsche Ausgabe
von S. Freud. Zweite Auflage. Leipzig und Wien 1896. — 18. B i e-
dert Ph., Die Kinderernährung im Säuglingsalter. Dritte Auflage.
Stuttgart 1897. — 19. Edinger L, Vorlesungen über den Bau der
nervösen Centralorgane. Sechste Auflage. Berlin 1900. — 20. F in sen
Niels, Ueber die Bedeutung der chemischen Strahlen des Lichtes
für die Medicin und Biologie. Leipzig 1899. — 21. Güter bock P.,
Die Krankheiten der Harnorgane. Leipzig und Wien 1890/98. 2 Bände.
— 22. Hofmeier M., Die menschliche Placenta. Wiesbaden 1890. —
23. Körner O., Die eiterigen Erkrankungen des Schläfenbeines. Wies¬
baden 1899. — 24. Kühne Fr., Beiträge zur Anatomie der Tuben¬
schwangerschaft. Marburg 1899. — 25. Külz E., Kumpf Th.,
Aldehoff G. uud Sandmeyer W., Klinische Erfahrungen über
Diabetes mellitus. Jena 1899. — 26. Mac e wen W., Dio infectiös-
eiterigen Erkrankungen des Gehirnes und Rückenmarkes. Autorisirte
Uebersetzung von P. Rudolf. Wiesbaden 1898. — 27. Meyer R.,
Ueber epitheliale Gebilde im Myometrium des fötalen und kindlichen
Uterus. Berlin 1899. — 28. Oppenheimer Z., Physiologie des
Gefühles. Heidelberg 1899. — 29. Pawlow J. P., Die Arbeit der
Verdauungsdrüsen. Autorisirte Uebersetzung von A. Walther. Wies¬
baden 1899. — 30. Pfaundler M., Ueber Magencapacität und
Gastrektasie im Kindesalter. Stuttgart 1898. — 31. Rubner M.,
Ueber Volksgesundheitspflege und medicinische Heilkunde. Berlin 1899.
— 32. Sachs II. und Freud C. S., Die Erkrankungen des Nerven¬
systems nach Unfällen. Berlin 1899. — 33. Schrotte r H. v., Zur
Ivenntniss der Bergkrankheit. Wien 1899. — 34. Win ekel F., Die
Pathologie und Therapie des Wochenbettes. Berlin 1878. — 35. Dra¬
ge n d o r f G., Die Heilpflanzen der verschiedenen Völker und Zeiten.
Stuttgart 1898. — 36. Loeb J., Einleitung in die vergleichende
Gehirnphysiologie und vergleichende Psychologie. Leipzig 1899. —
37. Mittheilungen und Verhandlungen der internationalen wissenschaft¬
lichen Lepraconferenz zu Berlin. Berlin 1897. — 38. Samm¬
lung klinischer Abhandlungen über Pathologie und Therapie der Stoff¬
wechsel- und Ernährungsstörungen. Herausgegeben von Prof. C. v.
N o o r d e n. Berlin 1900.
Was den gegenwärtigen Stand der Bibliothek anbelangt, so
verhält sich derselbe folgendermassen :
Der vorjährige Stand an Einzel werken betrug 12.900 Num¬
mern; der gegenwärtige Stand beträgt 13.980 Nummern. Vermehrung
180 Nummern.
Der vorjährige Stand an Zeitschriften betrug 570 Nummern ;
der gegenwärtige Stand beträgt 596 Nummern. Vermehrung 26 Nummern.
Unter den Zeitschriften befinden sich 275 abgeschlossene Nummern
und 321 fortlaufende Nummern, zusammen 596 Nummern.
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
311
Unter den fortlaufenden Nummern befinden sich 160 abonnirte,
99 geschenkte Zeitschriften und 62 Tauschexemplare. Diese 321 Nummern
bilden zugleich unseren diesjährigen Einlauf.
Von den geschenkten Zeitschriften spendeten die Redaction der
„Wiener klinischen Wochenschrift“ 39 Nummern, Institute, Verleger
und Gönner 60 Nummern, zusammen 99 Nummern.
Gebunden wurden im abgelaufenen Jahre 589 Einzelbände.
Was die Completirung unserer Zeitschriftensammlung an¬
belangt, so ist im abgelaufenen Jahre namentlich eine grosse Lücke
ausgefüllt worden, betreffend das englischeWochenjournal „TheLancet“,
welche Zeitschrift nunmehr vollständig in unserer Bibliothek vor¬
handen ist.
Was endlich unsere Duplicatensammlung anbelangt, so
wurden auch im abgelaufenen Vereinsjahre zahlreiche Separata, Bro-
churen und Einzelwerke an eine Anzahl von Mitgliedern veräussert
und die eingegangenen Beträge zum Ankäufe neuer Werke verausgabt.
Schliesslich will ich noch bemerken, dass die Fertigstellung des
geschriebenen Bandkataloges rüstig vorwärtsschreitet und derselbe
nunmehr bis zum Buchstaben H inclusive gediehen ist.
Ich schliesse hiemit meinen diesjährigen Bericht unter Wieder¬
holung des wärmsten Dankes an alle Gönner und Freunde unserer
Bibliothek und der Bitte, diesen Bericht zur Kenntniss nehmen zu
wollen.
Der Präsident spricht beiden Bibliothekaren für ihre Mühewaltung
und Eifer im Namen der Gesellschaft den Dank aus.
Hierauf hält Hofrath Zuckerkandl seinen Vortrag.
Zum Protokoll der Sitzung der k. k. Gesellschaft der
Aerzte vom 16. März 1900.
Aus äusseren Gründen verhindert, zu den Demonstrationen eines
Falles von Blasenpapillom in der letzten Sitzung der k. k. Gesellschaft
der Aerzte das Wort zu ergreifen, stellen die Gefertigten das Er¬
suchen, folgende Bemerkungen dem Protokolle beifügen zu wollen.
Die unwidersprochene Hervorhebung des erwähnten Falles durch
die Demonstration ist geeignet, den Eindruck hervorzurufen, als ob
Papillome der Blase, wie die Operation derartiger Geschwülste als
seltenes Vorkommnis anzusehen wären. In Wirklichkeit verhält sich dies
anders. Seit Einführung der Cystoskopie machen wir hier wie ander¬
wärts, wo man sich dieses Hilfsmittels zu bedienen versteht, die Be¬
obachtung, dass die gestielten Tumoren zu den häufig vorkommenden
gewöhnlichen Erkrankungen der Blase gehören.
Die Exstirpation von derartigen Tumoren aus der Blase durch
die Sectio alta wird entsprechend häufig geübt und ist in allen ihren
Einzelheiten so ausgebildet, dass man den Eingriff füglich den typi¬
schen Operationen zuzählen kann.
Wien, 23. März 1900.
Dr. O. Zuckerkandl. Prof. A. v. Frisch.
*
Der Gefertigte erlaubt sich, zu dem in der Sitzung vom
16. März abgegebenen Referate zu bemerken, dass der Patient mit dem
Papillom der Blase von Herrn Prof. Lang blos einmal cystoskopirt
wurde, bei welcher Gelegenheit die Geschwulst ganz deutlich zu de-
monstriren war.
Prof. W einlechner.
Verein der Aerzte in Steiermark.
Sitzung vom 20. Januar 1900.
Vorsitzender: Prof. Eschericli.
Prof. Holl: Ueber die Lage des Dünndarmes.
Die Beziehung der Abhängigkeit der Topik des Dünndarmes
von der Topik der ihn versorgenden Gefässe kann an einem passend
hergestellten Injectionspräparat dargethan werden. Der Rumpf einer
Leiche wurde eonserrirend behandelt. Nach genügender Härtung wurde
die Aorta abdominalis injicirt und später die Bauchhöhle eröffnet. Der
ganze Dünndarm war im linken Seitenraume und im Mittelraume
(zwischen beiden Musculi psoas und kleines Becken) Henk e’s ge¬
lagert, die Radix mesenterii, wie gewöhnlich entspringend, lag der
hinteren (linken) Bauchwand an. Der Dünndarm war, wie folgt, ge¬
ordnet: Die ersten an die Flexura duodeno jejunalis sich anschliessen¬
den Schlingen bilden eine Gruppe (a), welche zu hinterst und oberst
gelagert war; dann überging der Dai m in einen Complex von Schlingen
(b), welche vor a und gering tiefer lagen ; dann folgte wieder ein
Complex von oberflächlichen Schlingen (c), aber tiefer gelagert wie i;
nun bildete der Darm eine Gruppe von Schlingen (d), welche tiefer
und hinter c angeordnet waren ; diesen folgte eine Gruppe von
Schlingen (e), welche wie d, nur tiefer Platz nahmen; die Gruppe von
Schlingen (f), welche in der Fossa iliaca lagen, vermittelte den Ueber
gang in den Darm, der in den Mittelraum des Bauches gelagert war
In diesem, also zwischen den beiden Musculi psoas und kleinem
Becken, lagen Gruppen von Schlingen, fast möchte man sagen staffel¬
weise, übereinander, beziehungsweise untereinander. Nach Aufnahme
des Befundes der Topik der Schlingen wurde der Dünndarm vorsichtig
vom Mesenterium abgetrennt und die Mesenterialgefässe in situ präpa-
rirt. Die Betrachtung der Abgabe der Zweige der Arteria mesenterica
superior erfolgte in einer der Topik der Darmschlingen ganz genau
angepassten Weise, d. h., je nachdem eine Gruppe von Darmschlingen
höher oder tiefer lagerte, entsprang das sie versorgende Gefäss auch
höher oder tiefer von dem Stamme der Arteria mesenterica superior;
jenes Gefäss, welches einer Gruppe von der hinteren Bauchwand näher¬
liegenden Schlingen Blut zuführte, entsprang mehr vom hinteren seit¬
lichen Umfange der Arteria mesenterica superior, als jenes, welches
eine oberflächliche Gruppe von Schlingen zu versorgen hatte; dieses
entsprang direct vom seitlichen oder vom vorderen seitlichen Umfange
des Hauptgefässstammes.
Der Befund des Injectionspräparates ergab sohin, dass die Ast¬
folge der Arteria mesenterica superior eine gleiche Topik aufweist,
wie sie die einzelnen Gruppen der Dünndarmschlingen besitzen.
Prof. Kraus: Meine Herren! Sehr dankbar müssen wir dem
Collegen Holl dafür sein, dass er uns die Anschauungen und Unter¬
suchungen von W. Henke, Weinberg, F. P. Mall und
D. Sern off mitgetheilt und insbesondere durch eigene reiche Er¬
fahrung und Kritik, sowie durch mit gewohnter Meisterschaft herge¬
stellte Präparate so anschaulich gemacht hat. Alles, was auf die Ini¬
tiative der französischen medicinischen Schule seit Ende der Aehtziger-
J ahre über pathologisch bewegliche Organe d e r B auch¬
höhle klinisch beobachtet und beschrieben worden ist und eine so
grosse praktische Bedeutung erlangt hat, kann ja nur dann erklärt
und richtig behandelt werden, wenn die mechanischen Verhältnisse,
welche die abdominalen Eingeweide in ihrer Lage unbeweglich er¬
halten, aufgeklärt sind. Es lässt sich nicht leugnen, dass die Frage
über die Erhaltung der Baucheingeweide in ihrer Lage bisher von
Seite der Anatomen verhältnissmässig wenig Bearbeitung gefunden hatte.
Die vorgetragenen Untersuchungen betreffend den Typus des Verlaufes
der Darmwindungen und deren gesetzmässige Beziehungen
zur Bauchwand sind gegenüber der früher angenommenen Regel¬
losigkeit der Intestina im unteren Bauchhöhlenraum ein ebenso über¬
raschender wie vielverheissender Anfang, trotz der zugestandenen indi¬
viduellen Schwankungen und trotz des Umstandes, dass vorläufig
wenigstens für die Bedürfnisse des Internisten sofort praktisch verwerth-
bare Ergebnisse kaum vorliegen.
Während des Lebens ist die Masse des Dünndarmes jedenfalls
stark verschieblich; der feste Punkt, von welchem aus dieselbe leicht
nach oben und unten ausweicht, ist die Wurzel des Mesenteriums.
Schon die Gestalt der Bauchhöhle ist ja recht veränderlich, und bei
vielen Individuen mit einem bestimmten Habitus genügen bereits
gewisse Lagen des Körpers, den Dünndarm nach der einen oder
anderen Seite sinken zu machen. Der schwangere Uterus und abdo¬
minelle Tumoren finden leicht Platz, ohne dass die Circulation
des Darmes Schaden leidet. Das Interessanteste, was wir heute kennen
gelernt haben, ist der eine der Factoren, welche den in Unordnung
gerathenen Darmwindungen die Fähigkeit und das Bestreben er-
theilen, jeweils wieder in die ursprüngliche und günstigste Lage zu¬
rückzukehren.
Ausdrücklich aber betone ich einen dieser Factoren. Denn es
gibt deren mehrere. Auch bei den pathologischen Unregelmässigen
in der Lagerung der Baucheingeweide ist naturgemäss zunächst den
Bändern des Bauchfelles die Hauptrolle zugeschrieben worden. Es ist
jedoch wahrscheinlich geworden, dass bei jenen „Ptosen“ stets
mehrere Factoren nicht in gehöriger Weise fungiren. Gerade die
eigentlichen Fixationsapparate reichen bei voller Unversehrtheit sogar
gegenüber der Schwere der Baucheingeweide selbst nicht aus, um Ver¬
schiebungen der letzteren innerhalb von Grenzen zu verhindern,
welche den ausgesprochensten Graden der pathologischen Mobilität nahe
kommen! Man ist deshalb darauf geführt worden, den massgebenden
physiologischen Factor, welcher die abdominalen Eingeweide an die
normalen Orte fixirt, weniger in den peritonealen Ligamenten oder den
Gefässen, als in den allgemeinen Bedingungen des nor¬
malen intraabdominellen Gleichgewichtes zu suchen.
Diese Bedingungen sind bisher vorwiegend von Aerzten discutirt worden,
und die Kritik der Anatomen scheint gegenüber vielen vorgebrachten
Behauptungen dringend erwünscht. Nothwendig erscheint eine solche
Kritik sowohl hinsichtlich der Merkmale der supponirten Insufficienz
des allgemeinen Körperbaues, als hinsichtlich der speciellen vermeint¬
lichen Störungen des intraabdominellen Gleichgewichtes. Ich schlage
also vor, in die Discussion über den Vortrag des Prof. Holl die
Splanchnoptose einzubeziehen und bin bereit, ein einschlägiges
kurzes Referat zu erstatten.
312
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 13
Docent Dr. E. Payr betont, dass auch den Chirurgen eine
Anzahl von Erscheinungen bekannt ist, die einen Zusammenhang mit
den von anatomischer Seite gefundenen Thatsachen erkennen lassen.
Die von anatomischer Seite hervorgehobene Gesetzmässigkeit der
Lage einzelner Darmabschnitte hat einen praktischen Hintergrund inso-
ferne, als May dl, den Angaben Henke’s folgend, bereits angibt,
dass die oberen Schlingen des Jejunums mehr linkerseits quergelagert
sind, während die unteren des Ileums mehr rechts vertical angeordnet
sind, was bei Hindernissen im Inneren des Darmes zur Bildung von
durch Gase hochgradig gespannten, wurstförmigen, durch die Bauch¬
decken sichtbaren Gebilden führen kann, die in der angegebenen
Weise angeordnet sind. Dies kann auch diagnostisch erheblichen Werth
zur Erkennung des Hindernisses haben.
Was endlich das flache Anliegen der Mesenterialwurzel an der
Wirbelsäule aulangt, so ist dies ein Verhalten, das an der Leiche
trotz Injection der Gefässe und Härtung der Theile (vor der Präpara¬
tion) zweifellos zu beobachten ist; am Lebenden aber, wo man doch
bei einer grossen Zahl von Laparotomien Gelegenheit hat, Eindrücke
über die Lage der einzelnen Theile in der Bauchhöhle zu gewinnen,
kann dieses Verhalten nicht als das normale gelten. Gerade bei einer
häufig zur Ausführung gelangenden Operation in der Bauchhöhle, der
Gastroenterostomie, muss man beim Suchen und Vorziehen der obersten
Jejunumschlingen in die unmittelbare Nachbarschaft der Mesenterial¬
wurzel gehen und fühlt man daselbst häufig eine an der hinteren
Bauchwand angeheftete mehr oder weniger nach vorne zu prominente
Platte, an der wir in Folge ihrer arteriellen Blutgefässe eine sehr
mächtige Pulsation bemerken, so dass der reichliche Blutgehalt viel¬
leicht verantwortlich für die Differenz des Befundts am Lebenden und
an der Leiche gemacht werden kann.
*
Sitzung vom 12. Februar 1900.
Vorsitzender: Prof. Esclierich.
Prof. Esclierich begrüsst die Versammlung in den neuen
Räumen der pädiatritischen Klinik.
Er bespricht kurz die baulichen Veränderungen durch die An¬
fügung des Kaiserin Elisabeth-Tractes und macht auf die Neuerungen,
Xylolithböden, Waschtische nach Eppendorfer Muster, transportable
Bäder etc. aufmerksam. Seit Januar 1899 ist auch die Kranken¬
abtheilung der Landes-Findelanstalt in den Räumen des Kinderspitales
untergebracht und der Vortragende bespricht die Vorkehrungen,
welche aus diesem Anlasse für die Unterbringung einer grösseren Zahl
von künstlich ernährten Säuglingen im Spitale getroffen wurden. Zum
Zwecke der Vermeidung der in Säuglingsspitälern so gefürchteten Contact-
infectionen wurde die strengste Trennung der gesunden von den
kranken und verdächtigen Kindern, eine ausgiebige Vermehrung des
Pflegepersonals durch die Errichtung eines Kinderpflegerinnencurses,
die Aufstellung besonderer Kästchen am Kopfende eines jeden Bettes,
in welchem die Gebrauchsgegenstände, wie Saugflasche, Schnuller,
Thermometer etc., für jedes Kind gesondert aufbewahrt werden, und
ähnliche Massnahmen durchgeführt.
Da unter dem Säuglingsmaterial einer Findelanstalt eine relativ
grosse Zahl von frühgeborenen und lebensschwachen Kindern zu er¬
warten ist, musste auch die Beschaffung von Wärmeapparaten vorge¬
sehen werden. Neben den einfacheren Couveusen von Tarnier und
einer L i o n’schen Couveuse steht auch eine neu construirte Brut¬
kammer zur Verfügung, welche mehrere, bis zu sechs Säuglingen auf¬
nehmen kann und geräumig genug ist, um auch der Pflegerin und
den Ammen Zutritt und Aufenthalt zu gestatten, so dass das Kind
auch während des Trinkens, Badens, Wickelns etc. im Wärmeräume
verbleiben kann. Die Temperatur desselben beträgt circa 30° und
wird durch ein an die allgemeine Leitung des Hauses angeschlossenes
System eiserner, mit warmem Wasser gefüllter Röhren erhalten. Dieser
Betrieb verursacht dadurch im Gegensätze zu den mit Gas geheizten
Couveusen fast keine Kosten. Elektrische Contacttbermometer signali-
siren, wenn die Temperatur auf 28° sinkt oder über 33° C. ansteigt.
Die Luft wird von der Aussenseite des Gebäudes durch einen Canal
zugeführt, der am Boden der Kammer einmündet; sie passirt einen
A\ asserfilter und streicht dann über die Heizung und eine von Pro¬
fessor Pfaundler angegebene Anfeuchtungsvorrichtung, welche
derselben einen Gehalt von circa G0°/0 relativer Feuchtigkeit
verleiht.
In die Brutkammer werden nicht nur Frühgeborene mit sub¬
normaler Temperatur gegeben, sondern überhaupt zu früh geborene
und lebensschwache Kinder mit geringem Geburtsgewicht (unter 2000^).
Dadurch, dass die Wärmeabgabe an die Umgebung und an die Ath-
mungsluft wegfällt, bleibt denselben ein wesentlicher, für die Körper¬
ökonomie vielleicht entscheidender Energieverlust erspart. Es kommt
dies in einer raschen Gewichtszunahme, in grösserer Widerstands¬
fähigkeit der in der Kammer gehaltenen Kinder gegen Infectionen zum
Ausdruck. Die Brutkammer ist seit November 1899 dauernd in Ver¬
wendung und die damit erzielten Erfolge entsprechen den Erwartungen.
Es wurden darin bereits zwei Kinder mit einem Anfangsgewicht von
weniger als llOOy aufgezogen.
Prof. Pfaundler als Gast erläutert die von ihm angegebene
Anfeuchtungsvorrichtung für die Luft der Brutkammer.
Dr. Schmid stellt einen zweijährigen Knaben vor, der an
„Creeping disease“ leidet. Die Krankheit besteht schon seit mehr als
zehn Wochen und nimmt den von den Fällen Neumann’s und
Kaposi’s her bekannten Verlauf. Bemerkensweith ist der Fall
S c h m i d’s, weil der Patient von mehreren (sicher von zwei) Larven
derselben Dipterenart heimgesucht ist, von denen ein Individuum erst
in den letzten Tagen seine Gänge zu graben begann. Wie in den
meisten solchen Fällen nahm auch hier der Hautprocess an unbe¬
deckten oder mangelhaft bedeckten Körperstellen (Oberschenkel und
Gegend der Nates) seinen Anfang und verlief bis nun ohne Compli-
cationen, wie Pustelbildungen etc. Der kleine Patient hat nur wenig
unter Juckreiz zu leiden, worauf einzelne kleine Kratzaffecte hin¬
deuten. Da sich die Larvengänge bis in die Analfältelung verfolgen
Hessen, so wurde nicht nur in der Haut des Kranken, sondern auch
in seinen Excrementen nach dem Erreger dieser Myiasis gesucht —
bisher aber ohne Erfolg. Der Patient bleibt behufs weiterer Beob¬
achtung noch im Kinderspitale.
Dr. Merk berichtet anschliessend über die Parasiten, welche
frühere Beobachter als Ursache dieser Erkrankung gefunden zu haben
glaubten. Im Unterhautzellgewebe sind schon gefunden worden: Hypo-
derma, Oestromyia, Dermatobia und Cuterebra. Brauer beobachtete
z. B., dass eine Larve von Oestromyia satyrus, auf seinen Arm gesetzt,
in der Haut verschwand, bevor er die Loupe ergriffen batte. Einer von
diesen vier Gattungen könnte somit der Hautparasit angehören. Doch
müssten noch mehr Beobachtungen vorliegen, um ein abschliessendes
Urtheil fällen zu können. Um das Thier zu finden, haben einige
Forscher mit negativem Erfolge Hautstücke excidirt und in Schnitte
zerlegt.
Dr. Luzzatto (Triest) demonstrirt Originalpräparate der soge¬
nannten Keuchhustenbacillen, welche dem Prof. Esclierich von
Dr. Koplik (New York) sowie von Dr. Czaplewsky zugesandt
worden waren. Die Resultate seiner in der Klinik durebgeführten
eigenen Untersuchungen, die sich auf über 40 Fälle erstrecken, sind
folgende :
Er fand in fast alleu Fällen zwei Arten von Bacterien, von
welchen die eine dem C z a p 1 e v s k y’schen, die andere dem Koplik-
scheu Bacillus entsprechen dürfte. Um sich zu überzeugen, welche von
beiden Arten die specifische wäre, hat Luzzatto auch andere Sputa
bei verschiedensten Krankheiten der Respirationsorgane untersucht.
Beide Arten wurden mehrmals gefunden.
Die e’-ste Art, ein kurzes, dickes, nach Gram färbbares Stäb¬
chen, ist morphologisch, culturell und bezüglich der Virulenz kaum
von dem Pneumococcus zu differenziren und gehört wahrscheinlich in
die grosse Gruppe derselben.
Die zweite Art besteht aus einem dünnen, schlanken Bacillus,
welcher nach Gram sich nicht färbt und dem Influenzabacillus sehr
ähnlich ist. Er differenzirt sich von dem letzten durch sein Wachsthum
auf menschlichen serösen Flüssigkeiten. Die intratracheale Einspritzung
der Bacterien auf einen Affen und Hunde verlief negativ.
Er schliesst nicht aus, dass der dünne Bacillus, welchen er Ba¬
cillus minutissimus sputi nennt, der specifische Erreger sein könnte,
nachdem er ihn bei reinen, uncomplicirten Fällen in grosser Menge
gefunden hat. Da er ihn aber auch bei anderen Erkrankungen fand,
so glaubt er kein Recht zu haben, ihn als den specifbchen Erreger
zu erklären.
Der Bacillus sei jedenfalls unserer Aufmerksamkeit würdig,
nachdem er sehr leicht mit dem Influenzabacillus, in dessen Gruppe
Verfasser ihn einreiht, verwechselt werden könnte.
Oesterreichische otologische Gesellschaft.
Officielles Protokoll der Sitzung vom 29. Januar 1900.
Vorsitzender: Prof. Politzer.
Schriftführer: Dr. Hugo Frey.
Der Vorsitzende eröffnet die Sitzung mit folgendem Nachruf:
„Verehrte Versammlung! Es obliegt mii die traurige Pflicht, die
erste Sitzung unseres fünften Vereinsjahres mit einer Trauerbotschaft
zu eröffnen. Einer der hervorragendsten Vertreter unseres Faches, eine
Zierde der otologischen Wissenschaft, Dr. Charles Delstanchein
Brüssel, ist vorgestern aus dem Leben geschieden. In ihm verliert
unsere Special Wissenschaft einen begeisterten, nimmer müden Mitarbeiter,
seine Familie den treuesten liebevollsten Beschützer, seine ihm näher
stehenden Collegen den edelsten, verlässlichsten Freund. Einer hoch¬
achtbaren, angesehenen Patric ierfamilie Brüssels entsprossen, hatte er
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
313
sich frühzeitig unter Leitung seines Vaters, eines geschätzten Ohren¬
arztes, der Ohrenheilkunde gewidmet. Anfangs unter dem Einfluss der
von seinem Vater verehrten Krame r’schen Anschauung stehend,
wendete er sich sehr bald der modernen, pathologisch-anatomischen
Richtung zu, deren Ergebnisse er praktisch zu verwerthen bemüht war.
Demgemäss verfolgen die Arbeiten Delstanche’s mehr praktische als
theoretische Ziele. Es würde uns zu weit führen, hier auf die Leistungen
Charles Delstanche’s ausführlich einzugehen, und wir beschränken
uns hier, darauf hinzuweisen, dass er in der Erfindung nützlicher Appa¬
rate, Instrumente und Heilmethoden geradezu unerreichbar war. Schon
die Einführung der Massage des Trommelfells und der Gehörknöchelchen
allein genügt, ihm einen bleibenden Namen in der otologischen Wissen¬
schaft für immer zu sichern. Welch hoher Werth seinen Leistungen
beigemessen wurde, zeigt die Thatsache, dass Delstanche am letzten
otologischen Congress in Brüssel der Baron de Lenval-Preis einstimmig
zuerkannt wurde.
In Charles Delstanche müssen wir aber nicht nur den Mann
der Wissenschaft, sondern auch das Andenken eines Menschen ehren,
in dem sich alle nur den edelsten Charakteren eigentliümlichen Tugenden
vereinigten. In hohem Grade liebenswürdig, bescheiden, wohlwollend
und opferwillig, nahm er Jeden, der das Glück hatte, mit ihm zu ver¬
kehren, durch den Zauber seiner Persönlichkeit gefangen. Durch die
Anerkennung seiner Leistungen befriedigt, begrüsste er stets mit Freude
die Arbeiten Anderer und förderte unablässig die wissenschaftlichen
Bestrebungen seiner Assistenzärzte, unter denen sein tüchtiger und
talentirter Sohn Ernest berufen ist, in die Fusstapfen seines Vaters
zu treten. Unermüdlich in dem Bestreben, den armen Ohrenkranken
zu helfen, wird sein Andenken in der Bevölkerung Brüssels unver¬
gesslich sein.
Mit dem Tode solcher Männer erlischt aber nicht auch ihr Wirken,
denn das schöne Beispiel, das sie uns durch ihre unermüdliche Arbeit
auf dem Felde der Wissenschaft gegeben, wirkt noch lange befruchtend
auf die wissenschaftliche Forschung, und so bin ich überzeugt, dass
auch das Leben und Wirken Delstanche’s noch lange anregend
auf die jüngere Generation wirken wird.“
Die Anwesenden geben ihrer Trauer durch Erheben von den
Sitzen Ausdruck und ermächtigen den Vorsitzenden, im Namen der
Gesellschaft ein Beileidstelegramm an die Hinterbliebenen D e 1 s t a n-
c h e’s abzusenden.
Der Vorsitzende bringt weiterhin der Versammlung Fol¬
gendes als Einlauf zur Ivenntniss :
Eine vom französischen Handels- und Verkehrsminister an die
Gesellschaft ergangene officielle Einladung zum Besuche des im
August d. J. in Paris stattfindenden internationalen medicinischen
Congresses.
Ferner Gesuche um Aufnahme als Mitglieder von den Herren
Dr. David Hecht (Pressburg) und Dr. Rudolf Steiner (Wien).
Beide Herren werden in geheimer Abstimmung einstimmig zu Mit¬
gliedern gewählt.
Wissenschaftlicher Theil der Sitzung.
1 . Prof. Gruber: Ein Fall von Fistula auris con¬
genita mit Abscessbildung an der linken Wange.
Gruber stellt eine 17jährige Patientin vor, bei welcher sich
ohne jedwelche bekannte Ursache zu einer angeborenen Fistel (theil-
weises Offenbleiben der Kiemenspalte) ein walnussgrosser Abscess
gesellte. Die Seltenheit dieser Combination sowie der Erfolg der da¬
gegen eingeleiteten Therapie bestimmte den Vortragenden, die Kranke
vorzustellen. Trotzdom sich bei starkem Druck auf die Geschwulst
schon bei der ersten Untersuchung ein Tröpfchen Eiter bei der Fistel-
Öffnung entleerte, versuchte es der Vortragende dennoch, um einer miss-
staltenden Narbe an der Wange des Mädchens auszuweichen, durch
Bepinselung mit Jod-Opium-Tinctur mit gleichzeitiger Application
von Umschlägen, welche auf die mit Guttapercha belegte Stelle
applicirt und nach je drei Stunden erneuert wurden, Resorption zu er¬
zielen, was nach einer achttägigen Behandlung soweit zuStaude kam,
dass nur mehr eine erbsengrosse, härtliche Stelle von dem Abscesse
zurückblieb, welche gewiss in kurzer Zeit bei fortgesetzter Behandlung
vollkommen geschwunden sein wird. *)
2. Regimentsarzt Dr. Biehl: Ein Fall von nach Punc-
tion des Sinus sigmoideus zurückgegangenen pyämi¬
schen Erscheinungen.
Patient (Infanterist V. des bosnisch-hercegovinischen Regimentes
Nr. 1) hatte be reits in der Kindheit Ohrenfluss, der aber vollständig
aufgehört hatte; anfangs November vorigen Jahres trat derselbe nach
') Nach Vorstellung der Kranken betrachtete sich diese als voll¬
kommen gefeilt und blieb aus dem Ambulatorium weg. Zur Zeit, als
dieser Bericht sich unter der Presse befindet, kam sie wieder, nachdem
sich eine bedeutende Verschlimmerung einstellte. Nunmehr musste der
Abscess eröffnet und der weiteren chirurgischen Behandlung unterzogen
werden.
einer Verkühlung wiederum auf; dabei bestand auch halbseitiger Kopf¬
schmerz und Schwindelgefühl. Als nun trotz oftmals am Tage ge¬
wechselten feuchten Verbandes während seines bereits dreiwöchentlichen
Spitalaufenthaltes kein Nachlassen des profusen schleimig-eiterigen
Ausflusses und der halbseitigen Kopfschmerzen zu bemerken war, so
entschloss ich mich am 22. Nevember, trotzdem keine Druckempfind¬
lichkeit am Warzenfortsatze zu constatiren, keine Temperatursteigerung
zu beobachten war (am 16. und 21. November sind 37 6 und 37'8
notirt, sonst immer 37' 1, 3 7 *3), zur Eröffnung dos Warzenfortsatzes.
Allerdings ergab die Percussion des Warzenfortsatzes dieser Seite ge¬
dämpften Schall, ebenso erschien auch die auf den Scheitel aufgesetzte
angeschlagene Stimmgabel, auf dieser Seite auscultirt, schwächer zu
klingen, worauf ja Okuneff aufmerksam macht; doch erwiesen sich
mir diese beiden Symptome, trotzdem ich sie immer und immer
wieder auf ihre Brauchbarkeit prüfe, noch recht zweideutig in Bezug
auf ihre Sicherheit. Dass es aber in der That höchste Zeit war, dem
Eiter Abfluss zu verschaffen, konnte man schon nach den ersten
Meisseischlägen sehen, als derselbe, sicherlich unter hohem Drucke
stehend, aus den eröffneten obeiflächlichen Zellen in grosser Menge
abfloss. Die erkrankten Zellen Hessen sich weit nach rückwärts ver¬
folgen; ebenso musste auch die ganze Spitze, da sie erkrankt war,
entfernt werden. Nachdem, so weit mit freiem Auge zu sehen, alles
Krankhafte entfernt, für Abfluss des Eiters aus dem Mittelohr durch
den Attic gesorgt war, wurde, wie ich es immer in diesen Fällen
thue, ein feuchter Verband angelegt. Wiewohl die Temperatur in den
ersten Tagen nicht über 37'4 stieg, fühlte sich doch der Kranke
nicht wohler und klagte namentlich noch immer über heftige Kopf¬
schmerzen. Am 25. d. M., also drei Tage nach Eröffnung des Warzen¬
fortsatzes, stieg beim Kranken die Temperatur plötzlich auf 40'9. Ob
er einen Schüttelfrost gehabt, Hess sich nicht eruiren, da die Bosniaken
alle, wenn sie bettlägerig sind und besonders nach einem operativen
Eingriff, zwei, manchmal drei von den schweren Winterkotzen auf sich
nehmen, in denselben sich vergraben und oft den ganzen Tag nicht
daraus zum Vorschein kommen. Gegen diese scheinbar landesübliche
Gewohnheit ist weder durch Strenge noch Güte etwas auszurichten.
Da die Temperatursteigerung nur nachliess, um sofort wieder die
frühere Höhe zu erreichen, zudtm auch am nächsten Tage ein
Schüttelfrost beobachtet werden konnte, die Wunde selbst in keiner
Weise verdächtig erschien, so entschloss ich mich, gegen den Sinus
vorzugehen. Der Puls war 78 — 80 in der Minute, immerhin in An¬
betracht der hohen Temperatur etwas verlangsamt. Beim Aufsuchen
des Sinus zeigte es sich, dass derselbe sehr weit nach vorne gelagert
war. Die knöcherne Sinuswand bildete zugleich die hintere Wand des
Attic. Der Sinus wurde weit freigelegt, zeigte, soweit er sichtbar war,
deutliche Pulsation, nirgends eine Verfärbung seiner häutigen Wand.
Von der Erwägung ausgehend, dass allerdings, so weit mit freiem
Auge zu beurtheilen war, nirgends ein Krankheitsherd gefunden
werden konnte, trotzdem aber von irgend einem Orte aus, nach dem
plötzlichen Ansteigen der Temperatur und dem beobachteten Schüttel¬
frost zu schliessen, eine Allgemeinverschleppung von septischem
Material stattgefunden haben musste und mir als solcher weniger die
feineren Gefässe des Knochens als der Sinus selbst, wenn er auch
makroskopisch äusserlich gesund erschien, verdächtig war, so ent¬
schloss ich mich, denselben, so weit er frei lag, also vom Sinus trans-
versus bis zur Warzenfortsatzspitze, zu eröffnen. Der Kopf wurde zu
diesem Zwecke etwas tiefer gelagert, um die Luftaspiration möglichst
zu verhindern. Aus der Sinuswunde quoll reichlich dunkles Blut; so¬
dann wurde tamponirt und wiederum der Verband angelegt. Der Er¬
folg war ein sehr günstiger. Wenngleich auch die Temperatur noch in
den ersten Tagen immer Fieber verrieth (37'8, 38-2), so stieg sie
doch nicht mehr zu ihrer früheren Höhe, erreichte überhaupt sehr bald
ihre normalen Grade; ebenso stieg auch die Pulsfrequenz. Mit
Freuden theilte jedoch der Kranke selbst, und zwar unaufgefordert,
mit, dass er nun nicht mehr die drückenden Kopfschmerzen
verspüre. Die Reconvalescenz ging langsam, aber ungestört vor sich.
Was nun die Eröffnung des scheinbar gesunden Sinus anbelangt,
so hat bereits Hoeftmann in einem Vortrage auf dem 18. Chi-
rurgencongress zu Berlin im Jahre 1889 dieselbe empfohlen, und zwar
bei Symptomen, welche auf vermehrten Hirndruck hindeuten. Er Hess
es am Schlüsse seines Vortrages offen, ob die BlutentziehuDg oder die
Trepanation an sich den günstigen Erfolg, über den er in seinen
drei Fällen berichten konnte, hervorgebracht hatte. L e u t e r t be¬
richtete am letzten Otologentage in Hamburg über drei Kranke, bei
welchen er durch Eröffnen des Sinus sigm. theils diagnostischen, theils
therapeutischen Erfolg verzeichnen konnte. „In Anbetracht, dass wo¬
bei den in Frage kommenden Fällen — so sagt er bei dieser Ge¬
legenheit — die Eröffnung des Warzenfortsatzes bereits gemacht
haben oder jedenfalls vornehmen müssen und es daher eine Kleinig¬
keit ist, den Sinus freizulegen und zu incidiren, darf ich Ihnen doch
vielleicht empfehlen, die Blutentziehung in der Nähe des Gehirnes bei
zweifelhaften Fällen von Hirnabscessen in Anwendung zu bringen.“
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 13
Boi dem heute demonstrirten Kranken war ja sicherlich kein
Ilirnabscess anzunehmen, sondern ich würde mich eher zu der An¬
sicht entschlossen, dass erhöhter Druck in Folge Flüssigkeits¬
ansammlung innerhalb der Meningen den Kopfschmerz verursachte.
Auch glaube ich, dass diese Vermehrung der Flüssigkeit nicht auf
eine Entzündung der Hirnhäute, sondern eher auf eine Stauung in
Folge beginnender Entzüudung zurückzuführen ist, worauf ja das
plötzliche Ansteigen der Temperatur und die Schüttelfröste hindeuten.
Mit der Eröffnung des Sinus, der dadurch bedingten Druckentlastung
des Gehirnes und dem Ausschalten des Entzündungsherdes Hessen
nicht nur die objectiven Krankheitserscheinungen eine bedeutende
Besserung erkennen, sondern hörten auch die subjectiven Beschwerden
vollkommen auf. Der Kranke zeigt heute nur mehr eine kleine, frisch
granulirende Wunde am Warzenfortsatze. Der Gehörgang ist trocken,
die Trommelfellmembran vollständig vernarbt. Wegen seiner schwäch¬
lichen Constitution beantragte ich ihn zur Vorstellung vor die
Superarbitrirungs Commission, und lautet der Beschluss derselben:
„Invalid zu entlassen“.
Discussion: Urbantschitsch fragt, ob nicht vielleicht
die Eröffnung einiger eitergefüllter, bei der ersten Operation über¬
sehener Warzenfortsatzzellen die Ursache der Besserung gewesen
sein könne.
Gomperz theilt diese Vermuthung.
Politzer glaubt dem gegenüber, dass die Auffassung des
Vortragenden nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen sei.
Gruber bemerkt, dass es wohl erklärlich ist, wie durch Blut¬
entleerung aus dem Sinus sigmoideus die Schmerzen vollkommen ge¬
schwunden sein können, da man ja durch locale Blutentziehungen
unter dem Proc. mastoid, in sehr vielen Fällen die Schmerzen des
Kranken lindern könne. Ueberhaupt ist Gruber der Ansicht, dass
man von den localen Blutentleerungen bei entzündlichen Processen,
wo es nur immer angeht, namentlich um die Schmerzen des Kranken
zu lindern, häufiger Gebrauch machen sollte, als es jetzt geschieht.
Pollak kann den Zusammenhang der Kopfschmerzen mit der
Fieberbewegung nicht einsehen; er vermuthet, dass die bestandenen
Kopfschmerzen nur eine Folge des mechanischen Insultes der ersten
Operation gewesen seien.
Gomperz beantragt Schluss der Debatte.
Gruber meint, dass der mechanische Insult des Meisseins nur
bei Hirnabscessen in Frage komme.
B i e h 1 antwortet, es sei bei der zweiten Operation gewiss kein
Eiter mehr entleert worden; was den mechanischen Insult betrifft, so
glaubt er, dass er in diesem Fall ausserordentlich gering war, da der
Patient, wie alle bosnischen Soldaten, die er bisher operirte, einen so
pneumatischen Warzenfortsatz besass, dass er dem Meissei einen sehr
unbeträchtlichen Widerstand entgegensetzte.
3. Dr. Singer: Ein Fall von hysterischem Schwindel
nach Radicalope ration.
E. F., 17 Jahre alt, bekam im neunten Lebensjahre plötzlich,
angeblich ohne bekannte Ursache, im linken Ohr Stechen, und einige
Tage später trat Ohrenfluss auf. Nach ärztlicher Behandlung soll der¬
selbe bald sistirt haben. Seit dieser Zeit klagte sie zeitweise über
Ohrenstechen. Vor zwei Jahren suchte sie die Abtheilung des Prof.
C h i a r i auf, da sie durch die Nase sprach, wie sie sich ausdrückte
„schnofelte“, und furchtbare linksseitige Kopfschmerzen hatte. Im
April 1899 wurde ihr an derselben Abtheilung ein Theil der links¬
seitigen unteren Muschel entfernt, da durch Pinseln mit Jodglycerin
und Lapislösungen die freie Nasenathmung nicht hergestellt worden
war. Nach dieser Operation trat angeblich eine Abscedirung im Innern
der Nase auf, in deren Verlauf wahrscheinlich eine Zerstörung des
vorderen Theiles der knorpeligen Nasenscheidewand mit narbiger Ein¬
ziehung erfolgte, so dass eine noch heute sichtbare Einsenkung am
unteren Drittel dos Nasenrückens entstand. Auch beim Docenten
Dr. Hajek wurde Patientin wregen engen Nasenraumes an der linken
unteren Muschel des Oefteren operirt. Assistent Dr. Oster setzer
sah in der Tiefe desselben immer und immer wieder Eiter, der, ab¬
getupft, wieder nachfloss, so dass er an ein Nebenhöhlenempyem
dachte, doch die Art des Auftretens des Eiters sprach gegen eine Er¬
krankung der Nebenhöhlen der Nase, weshalb er zur Untersuchung
des Ohres Patientin an einen Specialisten verwies, der zu dieser Zeit
im Ohr nichts fand. Erst später, im Monat Juni 1899, traten bohrende
Schmerzen im Proc. mastoid, auf, worauf sich wieder Ohrenfluss ein¬
stellte, weshalb sie unsere Abtheilung aufsuchte. Wir fanden den
Gehörgang leicht verengt, in demselben nur spärliches Secret; nach
Entfernung desselben konnte man in dem stark geschwellten und leicht
gerötheten Trommelfell eine Lücke im vorderen unteren Quadranten
wahrnehmen. Patientin gab an, dass sie seit zwei Monaten ununter¬
brochen Kopfschmerzen und Schwindel habe. Es wurde nun Monate
hindurch conservativ behandelt, ohne dass die missfarbige Eiterung
sistirte. Die Trommelfellperforation vergiösserte sich zusehends und
zeigte am Rande der Membrana tympani, sowie auch an der sichtbaren
Paukenschleimhaut kleine, röthliche Granulationen. Da die linksseitigen
Kopfschmerzen anhielten und die Klagen daiüber besonders heftig
w'urden, der Schwindel fortdauerte, wurde der Patientin die Radical-
operation vorgeschlagen, die auch am 17. November 1899 ausgeführt
wurde. Bei derselben ergab sich das Antrum, die Paukenhöhle und
der Atticraum mit kleinen Granulationen erfüllt. Die Gehörknöchelchen
bis auf den Hammergriff, der an der Spitze eariös wTar, wurden intact
befunden. Nach der Operation hatte Patientin durch etwa vier Wochen
vom Schwindel Ruhe und auch die Kopfschmerzen waren gewichen.
Sie hatte keinerlei Fieber. Schlaf und Appetit waren ungestört. Da
aber während der Nachbehandlung reichliche Granulationsbildung im
Gehörgang auftrat, wurden ihr von einem der Herren unserer Ab¬
theilung die Granulationen mit dem scharfen Löffel entfernt und die
Reste mit Chromsäure geätzt. Gleich nachher stellten sich heftige
Schmerzen im Ohr, rasende linksseitige Kopfschmerzen, grosser Schwindel
und Schlaflosigkeit ein. Der Schwindel hält nun an und tritt ganz be¬
sonders während der Nachbehandlung auf. Da der Gehörgang leider
durch Granulationen die Tendenz zur Verengerung zeigt, muss derselbe
immer tamponirt werden. Während dieser Tamponade, doch auch beim
Herausnehmen des Jodoformgazestreifens oder bei der Berührung des
Gehörganges mit der Sonde oder Pincette tritt dieses Schwindelgefühl
in besonders verstärktem Masse auf. Dasselbe ist verschiedenster Art.
Manchmal dreht sich Alles um die Patientin, dann fühlt sie sich wie
auf einem Schiff befindlich, immer in schaukelnder Bewegung, dann
wieder beschreibt sie das Gefühl, als ob sich der Fussboden öffnete und
sie in die entstandene Vertiefung einsänke. Patientin kann sich nicht
vom Sitz erheben, ihre Fiisse zeigen ein hochgradiges Schwächegefühl,
sie kann auch unterstützt kaum wenige Schritte sich fortbewegen, ja
manchmal wisse sie gar nicht, was mit ihr geschähe. Auch zu Hause
kann sie sich mitunter nicht vom Sitz erheben, und beim Niederlegen
ins Bett tritt spontan ebenfalls Schwindel auf. Aehnliche Erscheinungen
soll sie aber auch während der verschiedenen Nasenoperationen dar¬
geboten haben. Während der ganzen Zeit der Behandlung hatte sie
keine subjectiven Geräusche, keine besondere Gehörsabnahme, keinerlei
Uebelkeiten oder Erbrechen. Es fehlte jederlei psychische Verstimmung,
im Gegentheil, die gute Laune ist immer erhalten, Gedächtnisschwäche
oder behindertes Denkvermögen fehlt vollständig. Chinin hatte keinerlei
Einfluss auf den Schwindel. An eine operative Verletzung des Laby¬
rinths, sei es bei der Radicaloperation oder beim Auskratzen der
Granulationen, kann nicht gedacht werden, da ja Uebelkeit, Erbrechen
und Nystagmus fehlte, wie sie Jansen als regelmässiges Symptom der
Verletzung des gesunden Labyrinths beschreibt. Ebenso auszuschliessen
ist jede meningeale, cerebellare, tabische, epileptische oder Meniere’sche
Erkrankung, die den Schwindel aufklären würde. Es handelt sich in
diesem Fall wahrscheinlich um eine hysterische Ueberempfindlichkeit,
obwohl man auch an die von Prof. Urbantschitsch in seinem
Lehrbuch besonders betonten refleetorischen, von sensitiven Aesten
des äusseren und mittleren Ohres ausgehenden Erregungen denken
könnte.
(Schluss folgt.)
Programm
der am
Freitag, den 30. März 1900, 7 Uhr Abends,
unter dem Vorsitze des Herrn Prof. Weilllechner
stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Verkündigung: des Wahlresultates.
2. Prof. Benedikt : Therapie der Tabes.
Vorträge haben angemeldet die Herren: Prof. A. Politzer, Professor
Weinleclmer, Dr. J. Tlienen, Ilofrath Prof. Schnabel, Oberstabsarzt
Docent Dr. Habart, Dr. A. Julies, Docent Dr. Re tili, Regimentsarzt
Dr. J. Fein und Prof. Englisch.
Bergmeister, Paltauf.
Wiener laryngologische Gesellschaft.
Programm
der am
Donnerstag, den 5. April 1900, 7 Uhr Abends,
im Ilörsaale der laryngologiscben Klinik unter dem Vorsitze des Herrn
Prof. Cliiari
stattfindenden Sitzung.
1. Demonstrationen.
2. Discussion über den Vortrag des Herrn Docenten Dr. Grossinann :
Die Functionen des M. cricothyreoideus.
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
Wiener klinische Wochenschrift
Die „Wiener klinische
Wochenschrift“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von minde¬
stens zwei Bogen Gross-
quart.
Zuschriften für die Redac¬
tion sind zu richten an
Dr. Alexander Fraenkel,
IX 3, Maximilianplatz,
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gen und Geldsendungen an
die Verlagshaadlung.
Redaction:
Telephon Nr. 3373.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, O. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner,
M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann,
R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt, A. v. Vogl,
J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkand!.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Grussenbauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigirt von I)r. Alexander Fraenkel.
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Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VI 1 1/1, Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang.
Wien, 5. April 1900.
Hr. 14.
I UNTIED .A. ILT:
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel: 1. Aus der Innsbrucker Universitäts-Frauenklinik. Zu
Alexander’s inguinaler Verkürzung und Befestigung der
runden Mutterbänder bei Rückwärtslagerung des Uterus. Von E.
Ehrendorfer.
2. Aus dem bacteriologischen Laboratorium der deutschen Universitäts-
Frauenklinik (Vorstand Prof. Sänger) zu Prag. Weitere Unter¬
suchungen über den Keimgehalt der weiblichen Urethra. Von Dr.
Ferdinand Schenk und Dr. Lothar Austerlitz,
Assistenten der Klinik.
3. Erwiderung auf Dr. Eisenmenger’s Aufsatz: »Ueber die
sogenannte Pseudolebercirrhose (Fr. Pick)« in Nr. 11 dieser
Wochenschrift. Von Dr. FriecLa! Pick, Privatdocent für innere
Medicin in Prag.
4. Ueber die Hämamöben im Blute Leukämischer. Von Prof. Dr. M-
L ö w i t, Innsbruck.
5. Bemerkungen zu obiger Erwiderung. Von Dr. W. Türk.
II. Feuilleton : Jos. Gruber. Nekrolog von Josef Pollak.
III. Referate: I. Atlas und Grundriss der Gynäkolögie. Von Dr. Oskar
Schaeffer. II. Anatomischer Atlas der geburtshilflichen
Diagnostik und Therapie. Von Dr. Oskar Schaeffer.
III. 100 illustrirte Fälle aus der Frauenpraxis. Von Dr. A.
Auvard. IV. Handbuch der Gynäkologie. Von J. Veit.
V. Ueber den Abortus. Von Dr. Oskar Pierin g. Referent
Savor.
IV. Aus verschiedenen Zeitschriften.
V. Vermischte Nachrichten.
VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressbericlite.
Aus der Innsbrucker Universitäts-Frauenklinik.
Zu Alexander’s inguinaler Verkürzung und Be¬
festigung der runden IVIutterbänder bei RLick-
wärtsiagerung des Uterus.
Von E. Ehrendorfer.
Nach einem mit Demonstration von Fällen verbundenen Vortrage in der
wissenschaftlichen Aerztegesellschaft zu Innsbruck am 10. Februar 1900.
Wenn auch die Folgen nach den häufigen Rückwärts¬
lagerungen der Gebärmutter theilweise überschätzt worden
sind, so halten doch erfahrene Frauenärzte mit wenigen Aus¬
nahmen mit Berechtigung daran fest, dass den Retroversio-
flexionen, selbst wenn sie nicht complicirt sind, in pathologischer
Richtung eine wesentliche Bedeutung zukomme, indem viel¬
fach sehr lästige Beschwerden auch bei beweglichen Verlage¬
rungen, nur durch diese allein hervorgerufen, sehr häufig bis
zur Behebung der fehlerhaften Lage andauern. Eben diese durch
die Falschlagen des Uterus verursachten Beschwerden führten
für jene Fälle, in welchen zunächst die conservative allge¬
meine, sowie locale Behandlung vergeblich angewendet oder
aus bestimmten Gründen ungeeignet war, die Noth wendigkeit
herbei, die vorhandenen Störungen durch Herstellung der
Normallage des Uterus auf operativem Wege dauernd zu
beseitigen. Einen sehr geeigneten Angriffspunkt schienen hiefür
die runden Mutterbänder zu bieten, deren Kürzung im Allge¬
meinen principiell richtig, auch vielfach versucht worden ist
und zwar entweder für sich allein oder in Combination mit
anderen Verfahren. Aufgesucht wurden die Bänder entweder
nach Eröffnung der Bauchhöhle von der Bauehwand, oder
von der Scheide her, oder ohne Eröffnung der ersteren von
den Leistencanälen aus.
Indem ich nur das letztere Verfahren, die älteste und
nach vielfacher Anfeindung immer wieder an die Tagesordnung
gesetzte Methode — die A 1 e x ander’sche Operation im Allge¬
meinen — in den Kreis unserer Betrachtungen ziehen will,
hebe ich hervor, dass ich jedem der bekannten operativen
Hauptverfahren zur dauernden Beseitigung der Rückwärts¬
lagerungen des Uterus, sei es dass letzterer unmittelbar an
benachbarte Stellen, oder mittelbar durch Bänderverkürzung
in der neuen Lage befestigt wird, je nach bestimmten Ver¬
hältnissen ihre völlige Berechtigung zuerkenne. Keine dieser
ungleichwerthigen Methoden passt für alle Fälle, keine einzige
von ihnen stellt sowohl in anatomischer Richtung, als in
Leistungsfähigkeit absolut normale Verhältnisse her und wirkt
vollkommen verlässlich ohne Recidive und Störungen. Ich er¬
achte es daher für unzweckmässig, zu Gunsten der einen Ope¬
ration andere in bestimmten Fällen sehr bewährte Methoden
in ihrem Werthe herabzusetzen.
Wählt man individualisirend die richtigen Fälle aus, so
ist es nach den bisherigen Erfahrungen unzweifelhaft, dass für
die operative Geraderichtung des retroflectirten Uterus die
A 1 ex a n d e r’sche Operation in erster Linie passt. Diese Me¬
thode, welche die Kürzung der Ligamenta rotunda vom Leisten¬
canal erstrebt, schafft für die Lage und Function des Uterus
nicht nur nahezu normale Verhältnisse, sondern ist beinahe so
ungefährlich als die Pessarbehandlung, wobei sie vielfach con-
statirte dauernde Erfolge bietet. Sie hat sieh allmälig trotz
getheilter Beurtheilung als werthvolles operatives Hilfsmittel,
als leistungsfähiges Lagecorrigens, eine gesicherte Stelle in der
Gynäkologie erstritten.
Obwohl durch verschiedene in neuerer Zeit zweckmässig
angebrachte Abänderungen verschiedene Mängel der A 1 e-
x a n d e r’schen Operation beseitigt wurden, und dieselbe unter
gleichzeitig strenger Festhaltung an bestimmten Vorbedingun-
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 14
gen und Anzeigen ein grösseres Vertrauen sich erworben hat,
so sind doch zur abschliessenden Beurtheilung eine grosse Zahl
von erwiesenen Dauerheilungen nöthig. Massgebend für die
Dauererfolge können aber wiederum nur jene Fälle sein,
welche nach möglichst genau durchgeführtem erprobtem Vor¬
gehen operirt worden sind. Es müssen deshalb auch bei diesem
Verfahren in der Zukunft technische Fehler vermieden und
muss insbesondere als eine wichtige Grundbedingung das nach¬
trägliche Zustandekommen von Hernien verhütet werden. Die
mangelhafte Beherrschung der Technik der Alexander-
schen Operation hatte Schwierigkeiten in der Auffindung der
runden Mutterbänder und manche davon abhängige Misserfolge
zur Folge gehabt. Noch ein weiterer Umstand gibt zu einer
eingehenderen Besprechung Anlass.
Aus Oesterreichs Schulen, beziehungsweise Anstalten
liegen nur sehr wenig Berichte über das besagte operative Ver¬
fahren vor und scheint demnach dasselbe hier noch keinen
festen Boden gefasst zu haben. Auch sind in den meisten
neuen Lehrbüchern der Gynäkologie so unzulängliche Beschrei¬
bungen von der Operation gegeben, dass Jemand, der seine
ersten Versuche in dieser Richtung anstellt, mitunter mit be¬
trächtlichen technischen Schwierigkeiten zu kämpfen haben
und leicht zum Aufgeben weiterer Versuche veranlasst werden
kann. Ueber die Wichtigkeit und Art der freien Prä¬
paration des Bandes und dessen ausreichende Verkürzung, über
die Bedeutung und Art des festen Verschlusses des Leisten -
canales wird vielfach nichts oder Unvollständiges erwähnt.
Dabei findet man stellenweise leicht zu Missverständnissen
führende Bezeichnungen der oberen Bauchwandfascien.
Indem ich auf Grund eigener Erfahrung an einer Reihe
von Fällen, über die später in grösserer Zahl und nach längerer
Beobachtungsdauer berichtet werden soll, hauptsächlich über
diesen technischen Theil der moditicirten A 1 ex a nd e r’schen
Operation ausführlicher sprechen möchte, soll gleichzeitig ein
zusammenfassendes Uebersichtsbild dieser Operation und ihrer
Leistungen mit entworfen werden.
Ueberblicken wir zuvor den geschichtlichen Entwicklungs¬
gang der inguinalen Ausschaltung von Theilen der Ligamenta
rotunda, die zum Zwecke einer Lageverbesserung der Gebär¬
mutter unternommen wurden, so wurde dieselbe bekanntlich
zuerst von französischer Seite vorgeschlagen [Alquie1) bei
Gebärmuttervorfall 1840, bei Retroflexio uteri Aran], durch
englische Aerzte jedoch erst in die Praxis eingeführt (W. Ale¬
xander 1881, etwas später Adams). Nach einem kurzen
Hautschnitte über der äusseren Leistenöffnung wurde das runde
Mutterband an dieser Stelle peripher isolirt, mehr minder in
der Richtung des natürlichen Verlaufes aus dem äusseren
Ringe hervorgezogen, gekürzt, die Stümpfe desselben an die
Leistenringschenkel und diese wieder untereinander vernäht.2)
Gegen Ende der Achtziger-Jahre war die endgiltige Methode
Alexander’s (auch Alqui6-AIexander oder A 1 e-
xander-Adams) im Auslande viel geübt und trat eine Reihe
von tüchtigen Operateuren für dieselbe warm ein (P o 1 k,
Munde, Edebohls, Cleveland, Johnson, Lusk,
D o 1 e r i s, Beurnier, T r e 1 a t, S e g o n d, Schwartz,
Riviere, Pozzi, Petit, Slavjansky, Grussdew).
In Deutschland lehnte man diese Operation nach ab¬
fälliger Beurtheilung grundsätzlich ab (Gynäkologischer Con¬
gress München 1886). Mehrfache Schwierigkeiten in der Auf¬
findung des runden Bandes im äusseren Leistenringe führten
zu der nothwendigen Forderung, dass neben Verlängerung des
Hautschnittes der Leistencanal gespalten, das runde Mutter¬
band in demselben, und zwar möglichst central, aufgesucht
und sorgfältig präparirt werde (Edebohls, C h a 1 o t,
Kocher, Werth, Küstne r). Ein erhöhtes Interesse gewann
die Operation in Deutschland, als Kocher (Lanz 1893) die
’) Die ausführlichen Literaturangaben finden sich im Centralblatt für
Gynäkologie, in FrommeFs Jahresberichten, in He gar und Kalten-
bacli’s Lehrbuch der Gynäkologie, in der Monatsschrift für Geburtshilfe
und Gynäkologie, in P o z z i’s Lehrbuch u. s. w.
~) Zusammenbinden der Lig. rot. unter der Haut — Gardener;
Kreuzung derselben unter der Haut, Vernähung mit der Umgebung und
untereinander — Casati, Dole r is; Verknüpfung der Ligamenta um die
seitlich durchlochten Leistenpfeiler und Naht — S e g o n d.
Kürzung der Ligamenta rotunda, behufs Geradrichtung und
Elevation der vorgefallenen Gebärmutter vornahm: Grosser
Schnitt jederseits zwischen der Spina a. s. und dem Tuberc.
pubic., centrales Aufsuchen des Lig. rot. nach ausgiebiger
Spaltung des Leistencanales, kräftiges Vorziehen der Bänder
seitlich nach aussen gegen die Spinae a. s. Festnähen der¬
selben an dieser Stelle, daher ausserhalb des Leistencanales
aussen auf der Apon. des M. obl. ext., Verschluss des Leisten¬
canales und der Hautwunde. Aufgemuntert durch die viel¬
fachen auswärtigen Erfolge gewann die modificirte Alexan-
d e r’sche Operation nach Beseitigung einzelner Fehler und auf
Grund weiterer Versuche, sowie voller Anerkennung mass¬
gebender Fachmänner (Werth, Küstner) eine Reihe neuer
Anhänger und eifriger Verfechter seit Mitte der Neunziger-
Jahre. In Wien wurde nach sonstigen aufgegebenen Versuchen
Einzelner eine wichtige Modification der A 1 e x a n d e r’schen
Operation durch Fabricius-v. Erlach (Anfangs 1895,
publicirt im gleichen Jahre im Centralblatt für Gynäkologie)
insoferne angegeben, als diese Operation mit dem vollständigen
Verschlüsse des Leistencanales, entsprechend Bass ini’s Vor¬
gang bei Radicaloperation der Leistenhernien, combinirt worden
ist. Etwa zu gleicher Zeit operirte F. Rumpf (Berlin) in
derselben Weise (vom Mai 1895 an, publicirt 1898 im Archiv
für Gynäkologie), welcher die vorgenannten Wiener Autoren
nicht citirt.
Indessen mehrte sich auf verschiedenen Congressen und
in Gynäkologen-Gesellschaften das Interesse für Alexan¬
der’s Operation, beziehungsweise deren Modificationen, und
traten eine Reihe von Autoren auf Grund ihrer Erfahrungen
für die Richtigkeit und Ungefährlichkeit der Methode ein
(Gelpke-Städler, Kummer, Stocker, Pernice mit
eigener Nahtversorgung), ebenso traten am Leipziger Congresse
1897 Olshausen, J. Veit und Fritsch auf Grund der
Vorzüge für die weitere Verbreitung des Verfahrens ein.
Seitdem sind wieder günstige Berichte von verschiedenen
Seiten her bekannt geworden (Calmann - Asch, Fraser-
J. Veit, Pfannenstiel, Füth-Rotter, Wahl, Flais ch-
len, Bröse, Kötschau, Krönig -Zweifel und Andere).
Nähere anatomische Untersuchungen des Lig. rot.
lieferten Doleris-Ricard, Kummer, Beuttner,
Eisler — über die Tragkraft der Bänder berichteten Polk,
Beurnier, Lanz.
Anatomische Schwierigkeiten und Misserfolge bei dieser
Operation begegneten Ungeübten zumal wenn das Band, wie
früher zumeist, peripher daher in der Gegend des äusseren
Leistenringes aufgesucht und ohne Spaltung des Canales frei¬
gemacht schliesslich hervorgezogen wurde. Da misslang zu¬
weilen die Operation wegen Dünnheit, leichter Zerreisslichkeit
und starker Auffaserung des Bandes an dieser Stelle, nicht
zum mindesten in Folge Ungeduld des Operateurs. Bei vor¬
sichtigem geschickten Präpariren, wenn das Band central
gegen den inneren Ring zu, wo es immer kräftiger entwickelt
ist, aufgesucht wurde, schwanden die Schwierigkeiten in der
Auffindung, welche gewiss einen wesentlichen Grund gegen
die allgemeine Aufnahme der Operation bildeten. Obwohl im
peripheren Antheile thatsächlieh eine gewisse Verschiedenheit
im Verhalten des Bandes besteht, gaben doch die meisten
Operateure nach einiger Uebung an, dass sie das Band stets
leicht und sicher gefunden hätten. Wenn auch bei sehr jungen,
bleichsüchtigen oder schlecht genährten, sowie bei sehr fett¬
reichen Personen das runde Band mitunter schwach entwickelt
und brüchig sein kann, so lässt es sich auch da bei möglichst
centralem Äufsuchen noch isoliren bis zu einer Stelle, an
welcher es den nöthigen Zug verträgt. Für die ersten Ver¬
suche wird man immerhin der geringeren Schwierigkeiten und
des Zeitverlustes halber gut thun, Frauen auszusuchen, welche
schon geboren haben, da bei solchen die Bänder gewöhnlich
kräftiger entwickelt sind. Anderweitige Missstände ergab ferner
ein zum Theile ganz unzweckmässiges Material (alte Indivi¬
duen jenseits des Klimax, die übrigens für die Operation nicht
in Betracht kommen, Personen mit angewachsenem oder mit
Tumoren versehenem Uterus etc.). Ausser den fehlerhaften
I oder Scheinoperationen führten falsche Indicationsstellung, sowie
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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unzulängliche Nahtmethoden behufs Befestigung des Bandes
und Verschlusses des Leisten canales zu Misserfolgen.
Die vielfach besprochenen Schwierigkeiten bei der Aus¬
führung der A 1 e x an d e r’schen Operation bewirkten es, wes¬
halb auch ich mich auf Grund der geltend gemachten Ab¬
lehnungsgründe mit der Operation nicht recht befreunden
konnte. Erst die vor einiger Zeit erschienene Arbeit von
Rumpf, in welcher für den sicheren und dauernden Ver¬
schluss des Leistencanales nach B a s s i n i auf Grund zahl¬
reicher günstiger Erfolge warm eingetreten wird, war es,
welche mein Interesse für diese Operation wieder besonders
weckte.
Der meist geübte Vorgang bei der modificirten A 1 e-
xander’scheu Operation, auf dessen technische Einzelheiten
hier näher einzugehen gestattet sein möge, ist unter specieller
Berücksichtigung des von uns geübten Verfahrens folgender.
Bad, Rasiren der Pubes, äussere Hautdesinfection, Entleerung
der Blase. Vor der Operation wird von Manchen die Auf¬
richtung des Uterus geübt (Pessar), ist jedoch nicht nöthig.
Narkose, mässige Beckenhochlagerung. Spaltung der äusseren
Haut, grösstentheils innerhalb der Schamhaargegend, mittelst
eines etwa 15 cm langen flach bogenförmigen Schnittes
(Casati, Rom 1887, Rumpf), welcher knapp über den
Tubercula pubica, beziehungsweise den P o u p a r t’schen
Bändern, bis etwa über die Mitte derselben hin verläuft. Die
in den seitlichen Wundwinkeln meist sichtbaren Vasa epigast.
superf. können, müssen aber nicht geschont werden. In dieser
bogenförmigen Wunde, deren Schenkel in der Verbindungs¬
linie zwischen den Tub. pub. und der Sp. ant. sup. ilei liegen,
werden beide äusseren Leistenringe aufgesucht und bestimmt
gefunden.3) Man durchtrennt das subcutane Fett, die ver¬
schieden dicke (nach wiederholten Geburten zuweilen recht
derbe) matt glänzende und verschiebliche Fascia superficialis
s. subcutanea, sowie das darunter befindliche meist fetthaltige
Bindegewebe, und zwar zunächst im oberen Wundwinkel, bis
man auf die schräg gefaserte sehnig - hellglänzende und nicht
verschiebliche Aponeurose des M. obliq. ext. gelangt und die¬
selbe völlig freilegt. In derselben liegen die beiden cutanen
Mündungen der Leistencanäle (dicht seitlich und etwas ober¬
halb der gut durchtastbaren Tubercula pubis, mit ihren Mittel¬
punkten 3'/2 — 4 cm von der Linea alba entfernt) beide als
mehr minder steile, auch ungleich gebildete Schlitzöffnungen
zu sehen. Spritzende Gefässe werden gefasst und ligirt, andere
torquirt. Da ein klares Freilegen der äusseren Leisten¬
öffnungen ebenso wichtig ist, als dass das pinselförmig zer¬
faserte Ende der Bänder so wie die übrigen Gebilde daselbst,
nicht unvorsichtig mit dem Messer durchtrennt werden, so
schiebt man anfangs am besten von einem der seitlichen Wund¬
winkel beginnend, stumpf und schräg (mittelst trockenen
Tupfers) in der Richtung der Faserung der äusseren
Aponeurose gegen die Tub. pub. nach innen hin, alles ver¬
schiebliche Gewebe ab. Dabei sieht man häufig, dass die aus
dem Leistencanale hervortretenden von einer dünnen Fascie be¬
deckten Gebilde (Fettträubchen, ein Zweig des Nervus spermati-
cus ext., Venae sperm, ext., Ligamentfasern), welche während des
kräftigen Abschiebens, ebenso wie auch durch einen an den Scham-
lippen-Weichtheilen nach innen und unten ausgeübten Zug,
stärker hervorgezogen werden. Oberflächlich werden diese
Gebilde von Aesten der Vena pudenda externa, die von
unten, und von Hautzweigen des Nerv, ileo-inguinalis, die von
oben kommen, gekreuzt.
Man hält sich mit dem Aufsuchen des Bandendes hier
nicht auf, sondern spaltet auf der eingeführten Hohlsonde mittelst
Scalpell oder Kniescheere die ganze vordere Wand des
Leistencanales, und zwar parallel dem P o u p ar t’schen Bande,
daher nicht paralell auf die Faserrichtung der Apon. des
M. obl. ext. Freilegung des Operationsgebietes mit stumpfen
Haken, exacte Blutstillung. Etwa in der Mitte des Leisten¬
canales, wenn nöthig noch näher dem inneren Leistenringe?
3) An den Enden des Bogenschnittes, dicht hinter den aufsteigenden
Vasa epif. sup. liegt die Gegend des inneren Leistencanales. Andere führen
jederseits je einen Schnitt von 8 — 9 cm Länge. Einen grossen Schnitt führte
wie schon erwähnt, Kocher aus.
wird der ganze Inhalt des ersteren am besten auf den Finger
aufgeladen und etwas medialwärts emporgehoben, wobei man zu¬
meist schon zwischen dem Zeigefinger und Daumen den zu unterst
(an der hinteren Leistencanalwand) gelegenen, platt rundlichen
Strang des Ligamentum rotundum (Pars inguinalis, extrapel-
vina) fühlt, jedoch zum deutlichen Sichtbarwerden sorgfältig
isoliren muss. Mittelst anatomischer Pincette oder Hohlsonde
schiebt man den seitlich begleitenden Nervus spermat. ext. bei
Seite, entfernt etwa vorhandene Fettklümpchen und schiebt
stumpf die oberflächlich deckenden, dunkelrothen und querge¬
streiften Randfaserzüge des M. obl. int., sowie Transv. abd. nach
aussen und oben. Dann fühlt man den rundlichen Strang deutlicher
durch, der auch meist schon blassrosaroth durchschimmert.
Man vermeide die Eröffnung der das Band begleitenden ge¬
schlängelten Venen, die man stumpf bei Seite schiebt. Blutet
es jedoch, dann werden die Gefässchen gleich gefasst und mit
dünnen Fäden ligirt. Das Ligament muss schliesslich von seiner
zarten, nach Geburten etwas derberen Bindegewebsscheide
(Fortsatz der Fascia transversalis) ordentlich befreit werden,
ebenso wie von den verschieden zahlreichen sehnigen Fasern
(Ansätze des M. cremaster ext.), welche beim Anziehen des
Bandes an seiner unteren Fläche wie gespannte Zwirnsfäden
zu fühlen und mittelst Pincette oder Scheere durchzu¬
trennen sind.
Wer anfangs ohne Gefässe aufzureissen und Muskel¬
fasern zu zerzupfen präparirt und immer wieder nachfühlt,
der lernt bald den blassrothen, hier etwa J/3 — V2 cm breiten,
nur vereinzelt dünnen Strang von glatten Muskelfasern zum
Vorscheine zu bringen. Das Ablösen der Ligamentscheide und
der besagten Sehnenfäden ist entschieden wichtig, da sie sonst
das Vorziehen des Bandes hindern. Der Zug pflanzt sich dann
auf die Bauchwand aber nicht auf den Uterus fort, und
wird energisch gezogen, dann kommen Bandzerreissungen
leicht vor.
Das völlig isolirte nun frei bewegliche Band lässt sich
dann schon bei mässig kräftigem Zuge ohne Gefahr
der Zerreissung vorziehen. Dies geschieht am besten mit den
Fingern in der Richtung des Leistencanales immer wieder
centralwärts nachfassend, bis schliesslich zum inneren Leisten¬
ring der Peritonealüberzug des hier conisch verbreiterten Liga-
rnentes als weissliche, nach vorne spitz zulaufende Umschlags¬
falte des Bauchfelles hervorkommt. Es ist der durch künst¬
liche Einstülpung herausgezerrte Processus vaginalis peritonei
(Peritonealkegel nach Kocher), welcher von oben und
vorne her das Anfangsstück der Pars pelvina des runden
Bandes bedeckt. Klemmen dürfen nur an den freigelegten
peripheren Bandantheil angelegt werden. Jener Theil, welcher
im Canale festgenäht werden soll, darf nicht damit unnützer
Weise zerquetscht werden.
Der häufig nicht fest angeheftete Bauchfelltrichter wird
entweder stumpf durch Wischen mittelst eines Gazetupfers oder
vorsichtig mittelst Pincette oder Scheere vor dessen Umschlags¬
rand abgelöst und auf einige Centimeter zurückgestreift. Wird
das Peritonealsäckchen eröffnet, was nicht immer zu vermeiden,
bei aseptischem Vorgehen jedoch belanglos ist, so wird dasselbe
durch feine Naht gleich geschlossen. Man zieht den Becken-
antheil des Bandes so weit vor, bis man den Widerstand des
indessen sich aufrichtenden und der Symphyse ganz nahe ge¬
rückten Uteruskörpers fühlt (ein Assistent kann sich eventuell
durch die Scheide von der richtigen Lage der Gebärmutter
überzeugen), ohne dass jedoch das Organ allzufest au den
vorderen Beckenring angepresst wird; die entsprechende An¬
näherung fühlt der Geübte ganz deutlich. Etwa 10 cm vor der
peripheren Ansatzstelle des Bandes, daher etwas vor der ins
Auge gefassten Kürzungsstelle, wird eine kleine Klemmzange
angelegt und mässig angezogen gehalten, während das Wund¬
gebiet trocken gelegt und sodann mit einem Gazetupfer vor¬
läufig bedeckt wird.
Der gleiche Vorgang wiederholt sich aui der anderen
Seite und sei vorweg gleich bemerkt, dass, wenn die Auffin¬
dung des Ligamentes auf einer Seite zutällig doch nicht ge¬
lingen sollte, dasselbe vorerst auf der anderen Seite autge-
sucht werden kann.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 14
Die beiden in gleicher Entfernung mittelst Klammern
gefassten Bänder werden nach der Symphyse zu massig kräftig
angezogen gehalten. Hierauf folgt jederseits die sorgfältige
Verschlussnaht des Leistencanales nach Bassi n i, unter Mit¬
fassen des Lig. teres. Mit stark gekrümmten Nadeln und nicht
dicker Seide wird eine nicht zu schmale Partie des M. obl.
int. und transv. gefasst und gleich mit der ersten oder nächsten
Naht, das in seinem obersten Antheile vom Bauchfell befreite
Mutterband mitten durchgestochen, hierauf der metallisch
glänzende dichte Rand des Lig. Pouparti, von oben anfangend,
mitgefasst. Solche Knopfnähte werden etwa vier bis fünf an¬
gelegt und unter stetem Trockentupfen des Leistencanales der
Reihe nach von oben her geschlossen, während ein Assistent
die Bänder stets gleichmässig angezogen hält. Ein etwa 10 cm
langes Stück des runden Bandes wird an der äusseren Leisten¬
öffnung und an seiner Ansatzstelle abgeschnitten und der
Stumpf noch mit einer Sutur festgenäht. Verschluss der Apo-
neurose des M. obl. ext. von oben herab durch fortlaufende
dünne Seidennaht. Trockener Tupfer auf die Wunde, gleicher
Vorgang auf der anderen Seite. Schluss der trockengewischten
äusseren Weichtheilwunde von den zwei oberen Wundwinkeln
aus, durch tiefe und oberflächliche, oder eine fortlaufende Naht,
stets unter breitem Mitfassen der ganzen von der äusseren
Aponeurose abgelösten Fettschichte und der in ihr befindlichen
Fascia abdom. superf. Keine Drainage. Verband wie nach
radicaler Operation von Hernien üblich. Art desselben Neben¬
sache, doch guter Abschluss, besonders gegen das äussere
Genitale bei mässiger Compression nöthig. Wir verwenden einen
trockenen sterilen Gazewatteverband, der über die Hüften
reicht, darüber einige Touren von Organtinbinden. Erster Ver¬
bandwechsel um den fünften Tag, Nahtentfernung am neunten
oder zehnten Tage. Aufstehen Ende der zweiten oder Anfangs
der dritten Woche. Anfängliche unangenehme Spannung in
der Wundgegend vergeht bald nach dem Verlassen des
Bettes.
Nach der Operation wurde früher zur mehrwöchentlichen
Unterstützung des Uterus Einlegen von Gazetampons oder
Pessarien empfohlen. Nach richtiger Ausführung der Operation
ist eine solche Stütze, ausser vielleicht einmal bei etwas
schwererem Uterus, nicht nöthig.
Die wichtigsten Hauptmomente der Operation sind daher:
Stumpfes vorsichtiges Freilegen der äusseren Leistenringe.
Centrales Aufsuchen der runden Mutterbänder nach Spaltung
des Leistencanales, möglichst weites Vorziehen der vollständig
freipräparirten Bänder, da der Zug erst am uterinen Drittel
des Bandes eigentlich wirksam wird. Bruchsicherer Verschluss
des Leistencanales unter Vorlagerung einer breiten Muskel¬
schicht nach Bassi ni und Mitfassen der Ligamente in ihrem
natürlichen Verlaufe, ausgiebige Kürzung der bei Erwachsenen
durchschnittlich 12 — 15 cm langen Bänder, bis der Uterus
sicher nach vorne gestellt ist.
Man achte weiters auf völlige Asepsis und sichere Blut¬
stillung zur Vermeidung von Hämatomen, vermeide im Leisten¬
canal ebenso wie zwischen den äusseren Weichtheilen todte
und mit Wundsecret gefüllte Räume. Zur Naht verwende man
am besten dünne Seide (dickere eitert eher heraus, Catgut allein
führt weniger sicher zu den nöthigen festen Verklebungen)
und vermeide jedes übermässige Schnüren der Nähte. Zur
Umgehung von Narbenneuralgien fasse man die Nerven, die
bei Seite zu schieben oder durchzuschneiden sind, nicht mit.
Um eventuelle Beschwerden der Blase durch Druck auf die¬
selbe zu verhüten, werde der Uterus nicht allzu straff an die
Symphyse herangedrängt.
Die Quernaht am gefässreichen Ligamentum, das sie nur
zum Theile zu fassen hat, scheint keine, von Einzelnen jedoch
(Asch, der deshalb das Band in seiner Längsrichtung mittelst
Steppnaht an den Leistenpfeilern befestigt. Ko ss mann) be¬
fürchtete Ernährungsstörung oder Nekrose zur Folge zu
haben. Ob das Band einfach gekürzt wird (Amputation), oder
die Stumpfenden wieder zusammengenäht werden (Resection),
erscheint ohne Belang. Kleine Wundreizungen, offenbar durch
Anwesenheit der schwer zu reinigenden Haarbälge bedingt,
kommen vor, jedoch ohne zu Eiterungen zu führen.
Hinsichtlich der Combination von Methoden
kommen je nach Bedarf in Betracht die Uterusausschabung
(stets nach P o z z i) und plastische Operationen bei Senkung
oder beginnendem Vorfall der Scheide. Wiederholt haben
wir in solchen Fällen mit Vortheil die Operation nach Law-
son Tait als Unterstützungsmittel unmittelbar angeschlossen.
Hinsichtlich der Indicationen ist daran festzuhalten,
dass die entsprechend modificirte Alexande r’sche Operation
zur radicalen Beseitigung von nur ganz beweglichen oder
völlig beweglich gemachten und einige Zeit darnach
beobachteten, einfachen Rückwärtslagerungen der Gebär¬
mutter angezeigt ist, die höchstens mit einem mässigen
Scheidenvorfall verbunden sind. Ohne dass durch sie eine
Einschränkung oder Verdrängung der wichtigen conservativen
(orthopädischen) Behandlung, die sie doch nur ergänzen soll,
Platz zu greifen hat, setzt sie auf Grund genauer Unter¬
suchungen präcise Indicationen voraus. Ist bei einer im
zeugungsfähigen Alter befindlichen Kranken die Verlagerung
einer beweglichen Gebärmutter nach hinten bei Abwesenheit
von Adnexerkrankungen wirklich die Hauptschuld an den
Beschwerden und ist die Pessarbehandlung entweder erfolglos,
oder wird sie nicht vertragen oder nicht gewünscht, so ist die
A 1 e x an d e i-’sche Operation in Betracht zu ziehen. Es ist
allseitig bekannt, dass selbst entsprechend gewählte Ringe
nicht jeden beweglichen Uterus auf die Dauer in richtiger
Lage zu halten vermögen (schlaffe ungeeignete Scheide, Damm¬
risse, grosse Beweglichkeit des Uterus), dass weiters Pessarien
nach Monaten, selbst nach Jahren nicht zum Ziele führen,
dass mitunter Schwierigkeiten wegen der öfter nöthigen Ring¬
reinigung durch den Arzt, ferner solche hinsichtlich des Bei¬
schlafes eintreten. Ebenso kann der begreifliche Wunsch, des
Ringes vor einer Verehelichung auf die Dauer loszuwerden,
hier ebenso in Betracht kommen als wenn die Kranke einen
directen beharrlichen Widerwillen gegen das Ringtragen über¬
haupt hegt. Dazu kommt noch der Umstand, dass eine empfind¬
liche enge Scheide bei jungfräulichen Personen für eine Pessar¬
behandlung mitunter ganz ungeeignet ist. Verschiedene Autoren
melden erfreuliche operative Erfolge in diesem letzteren Falle
(K ü s t n e r, B r o e s e, Flaischlen u. A.), während Andere
die Ventrifixation hier bevorzugen (Olshausen, Löhlein).
Bei zufällig mit vorhandenen Leistenhernien ist natürlich der
Eingriff umso angezeigter.
Jede irgendwie fixirte Retroflexio uteri oder deutlich nach¬
weisbare Erkrankungen der Adnexe, eine auffällige Vergrösserung
der Gebärmutter, sowie eine ungewöhnliche Schlaffheit der Bauch¬
decken und der Beckengebilde contraindiciren die Operation.
Eine Erweiterung der Indication für diese Operation in der
Weise zu schaffen, dass man fixirte Retroflexionen zuerst
mittelst des hinteren Scheidenbauchschnittes löst (Burr age,
F uclis - Asch), oder vom inneren Leistencanal aus das Bauch¬
fell eröffnet, Verwachsungen löst und kranke Adnexe beseitigt
(methodisch Goldspohn [Chicago], Edebohls und Fritsch
nur in vereinzelten Fällen) halte ich als Methode für durchaus
nicht zweckmässig, ebenso wie eine Ablösung von Fixationen
nach Laparotomie, welche der A 1 e x a n d e r’schen Operation
unmittelbar vorangeht (Rumpfs Vorschlag mit Benützung
K ü s t n e r’s Bauchschnittführung).
Wie schon von verschiedenen Seiten hervorgehoben
wurde liegt der Werth des Verfahrens in topographi¬
scher Hinsicht darin, dass der Uterus schonend und auf
natürlichste Art in fast normale Lagerung, wie besser bei keiner
operativen Retroflexionsmethode, gebracht wird, und dass damit
die Heilung gegenüber der Pessarbehandlung dauernd und
rasch erzielt wird. Ausserdem sind, da eine directe künstliche
Fixation des Uterus vermieden wird, die Bewegungen des
Uterus sehr wenig, seine Functionen gar nicht beeinträchtigt.
Abgesehen von der Vermeidung des ßauchschnittes und
dessen eventuellen Folgen, hinterlässt besonders die Bogen-
schnittführung keine entstellenden äusseren und, was noch
wichtiger ist, keine geburtsstörenden Scheidennarben. Diese
Methode, mit der man den Uterus geradezu beliebig stark
nach vorne stellen kann, ist nach allseitiger Anerkennung die
ungefährlichste aller hierher gehörigen Methoden. Bei richtiger
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900
319
Auswahl der Fälle und richtiger Ausführung des Verfahrens
sind hier die Recidiven, die keiner Methode erspart bleiben,
gering an Zahl. Selbst von den Gegnern der Operation wird
weiters allseitig eine förmliche Sicherheit für einen unge¬
störten Schwangerschafts-, sowie Geburtsverlauf zugegeben.
Jedenfalls kann der Operation keine ernste Geburtsstörung
zur Last gelegt werden. Die vielfachen und erheblichen Stö¬
rungen, sowie Gefahren in dieser Richtung bei anderen Me¬
thoden, die bei mehr pathologischer Befestigung eine Dauer¬
stellung erzwingen, sind bekannt und haben in neuester Zeit
dem älteren Verfahren im Principe wieder einen neuen An¬
hang zugeführt. Uebrigens hat man die operative Verkürzung
der Ligamenta teretia als die einzige Möglichkeit um Geburts¬
störungen zu vermeiden auch für andere Methoden gerühmt
(Wertheim). Der Uterus bleibt aber auch nach Geburten
meist in sehr guter Stellung (W e r t b, K ü s t n e r, Stocker,
Fraser, Johnson) und wurde vielfach danach eine recht
erwünschte Hypertrophie der runden Bänder beobachtet. Auch
bei Retroflexio ut. gravidi wurde diese Operation behufs dau¬
ernder Reposition mit günstigem Erfolge angewendet (Jo r da n,
Krakau).
Der Leistencanalverschluss nach Bassini, welcher
gleichzeitig an sich ein sicheres Vorbeugungsmittel gegen
Leistenhernien bildet, erscheint mir als eine sehr werthvolle
Bereicherung der inguinalen Methode. Das früher mehrfach
geübte Verfahren, die hintere Wand des Leistencanales bei der
Verschlussnaht des letzteren mitzufassen, ergab neben der
Gefahr der Anstechung der Art. epig. prof, ein weniger ver¬
lässliches Resultat. Andererseits erscheinen mir neuere For¬
derungen Einzelner, den Leistencanal behufs Hernienvermeidung
doch wieder unbedingt unversehrt zu erhalten (C a 11 man n-
Asch, Stocker und Andere) nicht gerechtfertigt, sie be¬
deuten eher einen Rückschritt, wenn auch für den Geübten
das Auffinden der runden Ränder schon am äusseren Leisten¬
ring zumeist möglich ist. Dass dabei das Hereinziehen des
Peritonealkegels in den Leistencanal unter Umständen den
Schaden herbeiführen kann, den man gerade unbedingt ver¬
meiden soll, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Die
mehrfach der Operation zur Last gelegten Nachtheile, dass
sie angeblich eine starre pathologische Antefixatio, beziehungs¬
weise Antepositio uteri, dass sie Hindernisse in der Ausdehnung
der Blase, Gefahren eventueller Divertikelbildung derselben
oder eine Darmeinklemmung verschulden könne, gelten bisher
nur als theoretische Bedenken. Ebenso fallen das Abreissen
von Bändern, Hämatombildungen, Wundsecretverhaltung, Fäden-
auseiterungen, Narbenneuralgien, nicht der Operation, sondern
dem Operateur zur Last und können bei nötbiger Vorsicht
vermieden werden. Nur in wenigen Fällen trat ferner nach ^
diesen Operationen Abortus ein (unter 112 schwanger ge¬
wordenen Operirten elfmal in Kleinwächte Fs gesammelten
Fällen). Weiters kann nach obigen Darlegungen die vielfach
betonte Herniengefahr sicher und dauernd beseitigt werden
und wenn in neuester Zeit Klagen erhoben wurden (Nil son,
New York), dass die Zahl der Hernien seit Alexander’s
Operation bedeutend zugenommen habe, so soll dies im Be¬
rechtigungsfalle die betonte Nothwendigkeit des sicheren
Leistencanalverschlusses nach Bassini nur noch mehr
hervorheben.
Der im Allgemeinen richtige Vorwurf, dass dieser Ein¬
griff nicht allen Tndicationen und Complicationen gerecht
werden könne, wie eine Bauchhöhlenöffnung, bei welcher Ver¬
wachsungen direct gelöst und erkrankte Anhänge unter Einem
beseitigt werden können, wird bei der enger umgrenzten In¬
dication der Operation hinfällig.
Werden die angegebenen Regeln beachtet, so erfolgt
reactionslose Heilung und in Folge dauernder Lagecorrectur
auch die Beseitigung der früher bestandenen Beschwerden.
Die Erfolge sind sowohl in subjectiver (functioneller) als auch
in objectiver, d. h. sowohl in anatomischer als orthopädischer
Richtung günstig. Wiederholt wurde selbst bei einseitiger Be¬
festigung des Bandes, wenn das andere abgerissen oder zu¬
fällig nicht aufgefunden worden ist, ein tadelloses Resultat
hinsichtlich der Läge und Function des Organes erzielt |
(Küstner, F laischien, Fuchs und Andere). Ferner
konnte in mehreren Fällen bei späteren Sectionen oder Lapa¬
rotomien sichergestellt werden, dass das runde Band im
Canale fest verwachsen, und dass die Gebärmutter in rich¬
tiger Lage sei. Aus der bisherigen Statistik wollen wir, nur
grössere Zahlen herausgreifend, erwähnen, dass P o 1 k, E d e-
bohls, Goldspohn in mehr als je 100 Fällen nach
Alexander’s Methode operirten und keine Kranke verloren
haben. Johnson verzeichnet unter 250 Fällen einen Todes¬
fall an Sepsis in Folge der Operation, unter 320 weiteren
von ihm in Boston (U. S.) gesammelten Fällen hat sich kein
Todesfall zugetragen.
Die für eine jede Operation entscheidenden Dauer¬
resultate haben wegen der dieser Operation früher anhaftenden
Mängel und zum Theile falscher Indicationsstellung etwas
weniger günstig gelautet als jene der verbesserten Methode.
Die späteren Resultate müssen als meist sehr gute bezeichnet
werden (Küstner, R ü h 1, Stocker, G e 1 p k e - S t ä d 1 e r,
Simoes-Doleris, Rumpf, Zweifel - Krönig4) und
Andere). Ja es heben verschiedene Autoren besonders hervor,
dass bei späteren Nachuntersuchungen der Uterus vielfach
besser stand, als bei dem vorherigen Nachsehen.
Ueber die von unserer Anstalt erzielten Dauererfolge
der durch B a s s i n i’s Nahtverfahren ergänzten Alexander-
schen Operation, für die ich mich jetzt schon in sehr günsti¬
gem Sinne aussprechen muss, soll in einem späteren Zeit¬
punkte berichtet werden.
In erster Linie lag der Zweck dieser Mittheilung haupt¬
sächlich darin, für die modificirte A 1 e x a n d e r - Operation in
bestimmten Fällen ein erhöhtes Interesse auch in unseren
Ländern anzuregen, von wo eigentlich wie bereits erwähnt,
zuerst auf die Wichtigkeit der Combination der Alexander-
schen Operation mit Bas sin i’s dauerndem Leistencanalver-
schlusse hingewiesen worden ist. Eine entscheidende Beurthei-
lung von Dauerresultaten bei der inguinalen Verkürzung der
Ligamenta rotunda, wird meiner Ueberzeugung nach erst aus
einer grösseren Reihe von exact und mit sicherem Verschlüsse
des Leistencanales ausgeführten Fällen erfolgen können.
Aus dem bacteriologischen Laboratorium der deutschen
Universitäts - Frauenklinik (Vorstand Prof. Sänger) zu
Prag.
Weitere Untersuchungen über den Keimgehalt
der weiblichen Urethra.
Von Dr. Ferdinand Schenk und Dr. Lothar Austerlitz. Assistenten der
Klinik.
Auf Grund unserer ’) an 60 Fällen vorgenommenen Unter¬
suchungen über den Keimgehalt der normalen weiblichen
Urethra gelangten wir zu dem Schlüsse, dass die normale weib¬
liche Urethra in mehr als der Hälfte der Fälle überhaupt
keimfrei ist- die in den übrigen Fällen vorkommenden Keime
sind Saprophyten verschiedener Art, die aus dem Vestibulum
dorthin gelangt sind. Pathogene Mikroorganismen haben wir
in der normalen weiblichen Urethra unter 59 Fällen nur zwei¬
mal nachweisen können.
Zu gleicher Zeit erschien eine Abhandlung von Savor* 2),
welche sich mit demselben Thema befasste, und in welcher der
Autor zu wesentlich anderen Resultaten gelangte.
Zunächst untersuchte er 142 gynäkologisch erkrankte
Fälle; sehen wir hiebei von 26 Fällen mit alter und 23 Fällen
mit frischer Gonorrhoe ab, so bleiben 93 an ähnlichem Mate¬
rial erhobene Befunde, wie es das unsere war. Hiebei fand er
die Urethra 59mal keimhaltig, 34mal steril. Die gefundenen
Keime waren unter Anderen in 16 Fällen Staphylococcus pyo-
4) Die soeben im 3. Hefte der Monatsschrift für Geburtshilfe und
Gynäkologie, Bd. XI, erschienene Arbeit von Krönig- F eucht-
w a n g e r über die Resultate der A 1 e x a n d e r’schen Operation, beziehungs¬
weise deren Modification nach Kocher konnte hier nicht mehr berück¬
sichtigt werden.
') Prager medicinische Wochenschrift. 1899, XXIV, Nr. 17.
2) Beiträge zur Geburtshilfe und Gynäkologie. 1899, Bd. II, Heft 1.
320
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 14
genes albus, in G Fällen Staphylococcus pyogenes aureus, in
14 Fällen Bact. coli com. und in 4 Fällen Streptococcus
pyogenes.
Ferner untersuchte er die Urethra bei 120 Schwangeren
auf ihren Keimgehalt. 290 hiebei angestellte Versuche ergaben
nur 72mal ein negatives Resultat; unter den 118 positiven
Fällen wurde neben anderen Mikroorganismen 95mal Staphylo¬
coccus pyogenes albus, 18mal Bact. coli com. und 9mal Strepto¬
coccus pyogenes gefunden.
Noch häufiger sind die positiven Befunde bei Wöchnerinnen ;
Unter 173 an 88 Wöchnerinnen vorgenommenen Untersuchun¬
gen findet Savor nur in 10 Fällen die Urethra steril; in den
übrigen Fällen immer keimhältig und auch hier wiederum in
vielen Fällen die gewöhnlichen Eitererreger.
Bevor wir auf die Schlüsse, die Savor in praktischer
Hinsicht aus den Resultaten seiner Untersuchungen zieht,
eiugehen, wollen wir zunächst seine Methode der Secretabnahme
mit der unseren vergleichen und über neue Untersuchungs¬
ergebnisse, die wir theils nach seiner, theils nach unserer
Methode gewonnen, berichten. Diesmal erstrecken sich unsere
Untersuchungen sowohl über eine Reihe von gynäkologisch er
krankten Frauen, ein Material, das auch unseren früheren
Untersuchungen zu Grunde lag, als auch von Schwangeren
und Wöchnerinnen.
Savor beschreibt die Entnahme des Untersuchungsmate¬
riales aus der Urethra folgendermassen: »Zuerst wurde durch
entsprechendes Auseinanderziehen der Labien das Orificium
externum urethrae und seine Umgebung freigelegt, wobei es
fast immer zu einem leichten Klaffen der Harnröhrenmündung
kommt; sodann wurde diese sammt ihrer Umgebung mit einem
in l°/ü0ige Sublimatlösung getauchten Wattebäuschchen und
darauf mit sterilem Wasser energisch gereinigt; nun wurde
unter thunlichster Vermeidung des Orificium externum urethrae
mit einer Platinöse eingegangen bis in die Tiefe von 2 — 21/ 2cm,
die Wände der Urethra abgeschabt und sofort überimpft«.
Wir gingen bei unseren Untersuchungen in der Weise
vor, dass wir zunächst mit einem nicht zu feuchten Watte¬
bäuschchen, das in Sublimatlösung (1 : 1000) getaucht war, die
Umgebung der Urethralmündung reinigten und hierauf ein am
unteren Ende mit Watte .umwickeltes Holzstäbchen, wie man
solche zur Auswischung des Cervicalcanales verwendet, mit
diesem Ende in eine Sublimatlösung (ebenfalls 1 : 1000) ein¬
tauchten, sorgfältig ausdrückten und hierauf y2 cm weit in die
Urethra einführten und damit den Anfangstheil derselben
gründlich abrieben. Hierauf gingen wir mit einer Impfnadel
iy2 — 2 cm tief ein und entnahmen von da das auszusäende
Material.
Der ganze Unterschied zwischen Savor’s und unserer
Methode besteht demnach hauptsächlich darin, dass wir den
Anfangstheil der Urethra gründlicher auswischten, da es doch
nicht darauf ankommt, die Keime, die sich unmittelbar am
Orificium externum befinden, und die zweifelsohne mit den
Keimen des Vestibulums identisch sind, sondern die jenseits
des Orificium befindlichen Mikroorganismen zu bestimmen, und
dass wir statt einer Oese eine einfache Impfnadel verwendeten.
Wir haben schon in unserer früheren Arbeit die Ansicht
geäussert, dass die Methoden keineswegs so verschieden sind,
dass dadurch so divergente Resultate bedingt sein könnten.
Bevor wir daran gingen, die Methode Savor’s zu ver¬
suchen, war es uns darum zu thun, nachweisen zu können,
dass unsere Art der Secretabnahme in bacteriologischer Hin¬
sicht möglichst einwandfrei sei. Zu diesem Behufe untersuchten
wir den Keimgehalt der Urethra bei zehn Fällen von Cystitis.
Da mit Sicherheit anzunehmen war, dass die Mikroorganismen,
welche sich in der Blase befanden, durch den Harn auch in
die Urethra gelangten, so mussten wir sie daselbst, wenn
unsere Methode der Secretabnahme richtig war, nachzuweisen
in der Lage sein. In der That gelang es uns, wie aus der
nachstehenden Tabelle ersichtlich ist, in allen zehn Fällen, und
zwar waren in acht Fällen die Mikroorganismen der Blase
und Urethra vollständig identisch, in zwei Fällen war der
Befuud nahezu derselbe.
Tabelle I.
Cystitis.
Name und
Diagnose
Urethra
Bouillon
Agar-Agar
Hochgeschich¬
tetes Trauben¬
zucker-Agar
Harn
Bemer¬
kungen
1. Z.
Myoma
ut.
2. J.
Myoma
ut.
3. P.
Gravid.
tub.
4. K.
Ivystoma
ov.
5. H.
Care, ut
6. T.
Myoma
ut.
7. H.
Prolap¬
sus vag:.
8. E.
Endome¬
tritis
9. L.
Ektro-
pium
10. Z.
Myoma
uteri
nicht
pathogene
Doppel-
coccen
plumpe kurze
Stäbchen und
Doppelcoccen
lange Schein¬
fäden und
Doppelcoccen
coliähnliche Stäbchen, keine
Indolreaction
Doppel¬
coccen
steril
Doppelcoccen
zweierlei echte Fäden bildende
Stäbchen
steril
steril
Doppelcoccen
Staphylococcus pyogenes aureus und
nicht pathogene Doppelcoccen
Bacterium coli commune und nicht
pathogene Doppelcoccen
kurze plumpe Stäbchen und Coccen j
in Haufen
lange Schein¬
fäden und
plumpe
Stäbchen
coliähnliche
Stäbchen
ohne
Indolreaction
dieselben
Doppelcoccen
dieselben
Stäbchen
Stäbchen
und
Doppelcoccen
Staphylo¬
coccus
pyogenes
aureus und
nicht patho¬
gene Doppel¬
coccen
Bact. coli,
Doppelcoccen
dieselben
Stäbchen
I
Keine
pathogene
Keime.
Nicht
pathogen.
Nicht
pathogen.
Nicht
pathogen.
Nicht
pathogen.
Ersterer
pathogen.
Staphylococcus pyogenes aureus
grosse plumpe Stäbchen, nicht gas¬
bildend
Staphylo¬
coccus pyog.
aureus
dieselben
Stäbchen
Pathogen
(weisse
Maus und
Kaninchen
Nicht
pathogen.
Pathogen.
Nicht
pathogen.
Zunächst untersuchten wir nun 25 Fälle nach der Me¬
thode von Savor (Tabelle II); zugleich wurde in allen diesen
Fällen das Vestibulumsecret und der Harn auf den Bacterien-
gehalt hin untersucht.
Menge ') fand nur selten infectiöse Bacterien im Vestibulum-
secrete und meint, dass dieselben doch ungefähr in gleicher
Häufigkeit in dem Urethral- und in dem Vestibulumeecrete
Vorkommen sollten.
Was speciell das Bacterium coli anbelangt, so liesse die
nahe Nachbarschaft des Rectums den häufigeren, positiven
Nachweis derselben in der normalen Urethra leicht erklärlich
erscheinen; es müsste dann aber häufiger im Vestibulumsecret
nachweisbar sein, in welches es vom Urin eingespült wurde.
Wie aus der Tabelle II ersichtlich ist, fanden wir in
2 von 25 Fällen pathogene Keime im Vestibulum, das eine Mal
(Fall 4) ein, dem Pneumobacillus Friedländer ähnliches
Stäbchen, das andere Mal (Fall 10) pathogene Haufencoccen,
die aber dem Staphylococcus pyogenes aureus nicht entsprachen.
In den übrigen 23 Fällen waren sowohl die Agarplatten als
auch das hochgeschichtete Trauben zucker- Agar meist dicht be¬
wachsen; pathogene Keime konnten wir weiter nicht nach¬
weisen. In 5 von diesen Fällen war lebhafte Gasbildung im
’) Bacteriologie des weiblichen Genitalcanales, I. Theil.
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
321
Tabelle II.
Fort¬
laufende
V e s t i b
u 1 u m
Urethra
Harn
Bemerkungen
Zahl,
Name,
Diagnose
Agar-Agar
ochgeschichtetes
’raubenzucker- A.
Bouillon
Agar-Agar ^
lochgeschichtetes
’raubenzucker-A.
1. M.
Retro fl.
ut. mob.
zahlreiche
weisse Colonien
dicht bewachsen,
nicht vergasend
steril
steril
steril
steril
Nicht pathogen.
2. W.
Rupt.
perin.
zahlreiche kleinste
und grössere
weisse Colonien
wie bei Nr. 1
steril
steril
steril
steril
Nicht pathogen.
3. S.
Retrofl. ut.
mob.
steril
wenige Colonien,
nicht vergasend
steril
steril
steril
steril
Nicht pathogen.
4. R.
Hernia
ventralis
Schimmelpilz
dicht bewachsen,
nicht vergasend
nicht pathogene
Stäbchen
steril
zehn Colonien
einer nichtpatho¬
genen streng
anaeroben
Stäbchenait
steril
Von der Zucker-Agarcultur aus
dem Vestibulumsecret weisse
Maus subcutan geimpft,
f 18 Stunden Friedländer Art.
5. Sch.
Myoma ut.
dicht bewachsen
sieben Colonien
nicht pathogene
Coccen
nicht pathogene
Coccen
nicht pathogene
Coccen
steril
Nicht pathogen.
6. K.
Prolaps,
vaginae
Schimmelpilz
dicht bewachsen,
vergasend
steril
steril
mehrere kleine
Colonien, nicht
vergasend
steril
Nicht pathogen.
7. T.
Endom.
cervic.
Schimmelpilz
wolkenförmiges
Wachstlium,
nicht vergast
steril
steril
steril
steril
Nicht pathogen.
8. T.
Retrofl. ut.
dicht bewachsen
dicht bewachsen,
nicht vergasend
steril
steril
steril
steril
Nicht pathogen.
9. 0.
Haemato-
cele peri-
tubaria
dicht bewachsen
dicht bewachsen,
nicht vergasend
steril
steril
drei Colonien,
kleine Doppel¬
coccen und
plumpe Stäbchen,
nicht vergasend
steril
Nicht pathogen.
10. K.
Prolapsus
uteri
zahlreiche
Colonien
dicht bewachsen,
nicht vergasend
nicht pathogene
Doppelcoccen
nicht pathogene
Doppelcoccen
dicht bewachsen,
nicht pathogene
Haufencoccen
steril
Von der Agarcultur aus dem
Vestibulumsecret, weisse Maus
subcutan geimpft, f 36 Stunden.
Im Blute und Peritoneum Haufen¬
coccen, kein Staphylococcus
pyog. aur.
11. Sch.
Ruptura
perinei
dicht bewachsen
dicht bewachsen,
gasbildend
nicht pathogene
Stäbchen und
Doppelcoccen
eine Colonie
Doppelcoccen,
nicht pathogen
dicht bewachsen,
Stäbchen und
Coccen, nicht
pathogen
steril
Nichts Pathogenes.
12. H.
Kyst. ov. d
dicht bewachsen
dicht bewachsen,
vergast
steril
steril
dicht bewachsen,
Doppelcoccen
steril
Nicht pathogen.
13. L.
Kyst. ov. d
dicht bewachsen
dicht bewachsen,
vergast
steril
steril
dicht bewachsen,
Stäbchen und
Coccen
steril
Nicht pathogen.
14 '.K.
Care, corp
ut.
dichtes
Wachsthum
dicht bewachsen,
vergast
steril
steril
dicht bewachsen,
Haufencoccen
I
steril
Von der Agarcultur aus dem
Vestibulumsecret weisse Maus
subcutan geimpft, f 24 Stunden.
Im Blute und Peritoneum coli-
ähnliche Stäbchen ohne Indol-
reaction, sonst nirgends patho¬
gene Keime.
15. T.
Retrofl. ut
dicht bewachsen
dicht bewachsen,
nicht yergast
kleine
Ilaufencoccen
kleine
Haufencoccen
Doppelcoccen
steril
Nicht pathogen.
16. H.
Salpingo-
oophoritis
bilat.
dichtes
Wachsthum
dicht bewachsen,
keine Gasbildung
Haufencoccen
steril
dicht bewachsen,
keineGasbildung
steril
Nicht pathogen.
17. B.
Prolaps,
vagin.
dicht bewachsen
dicht bewachsen,
keiueGasbildung
steril
steril
steril
steril
Nicht pathogen.
18. M.
Kystom,
ov. sin.
dicht bewachsen
dicht bewachsen,
nicht gasbildend
kleine
Haufencoccen
kleine
Haufencoccen-
kleine
Haufencoceen
steril
Nicht pathogen.
1 1
322
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 14
Fort¬
laufende
Zahl,
Name,
Diag-nose
V e s t i
b u 1 u m
Urethra
Harn
Bemerkungen
Agar-Agar
hoch geschichtetes
Traubenzucker-A
Bouillon
Agar-Agar
fc> ©
hochgeschichtetes
Traubenzucker-A.
19. T.
Endome¬
tritis
dicht bewachsen
dichtes
Wachsthum,
Gasbildung
Haufen- und
Doppelcoccen
Haufen- und
Doppelcoccen
Haufen- und
Doppelcoccen
steril
Nicht pathogen.
20. L.
Trolapsus
vag.
dichtes
Wachsthum
dichtes
Wachsthum,
keine Gasbildung
steril
steril
steril
steril
Nicht pathogen.
21. H.
Endo¬
metritis
bewachsen,
einerlei Colonien,
grosse Ketten-
coccen
dichtes
Wachsthum,
keine Gasbildung
steril
steril
steril
steril
Nicht pathogen.
22. P.
Hernia
ventralis
dichtes
Wachsthum
dichtes
Wachsthum,
keine Gasbildung
kleine
Doppelcoccen
steril
steril
steril
Nicht pathogen.
23. B.
Myoma
uteri
verunreinigt
dicht bewachsen,
keine Gasbildung
diffuse, dichte
Trübung,
schwerer, wolki¬
ger Bodensatz
steril
dichtes
Wachsthum,
nicht vergasend
steril
Die Untersuchung der Bouillon-
cultur aus der Urethra ergibt:
Grosse und kleine Doppelcoccen
und kleine schlanke Stäbchen mit
abgerundeten Enden, Gram neg.,
auf Agar diffuses, zartes, weissliclies
trockenes Wachsthum. Gelatine
schnell verflüssigend. Zucker-Agar
nicht vergasend ; weisse Maus
intrap. f 24 Stunden. Die anderen
Keime nicht pathogen.
24. K.
Rupt.
perin.
zahlreiche
Colonien, beson¬
ders Kettencoceen
dichtes
Wachsthum,
keine Gasbildung
steril
steril
steril
steril
Nicht pathogen.
25. G.
Kolpit.
senilis
Colonien von
Doppelcoccen
dichtes
Wachsthum,
keine Gasbildung
steril
steril
steril
steril
Nicht pathogen.
Traubenzucker-Agar aufgetreten. Den Harn fanden wir in allen
25 Fällen steril.
Die Untersuchung des Keimgehaltes der Urethra, genau
nach Savor vorgenommen, ergab in 10 Fällen einen negati¬
ven Befund; in den übrigen 15 Fällen fand sich ein einziges
Mal (Fall 23) ein pathogenes Stäbchen. Von den verwendeten
Nährböden blieb auch unter diesen Fällen das schrägerstarrte
Agar am häufigsten steril, und zwar in 76% der Fälle (gegen
86% der von uns seinerzeit untersuchten 60 Fälle), die
Bouillon blieb in 60% der Fälle, derselbe Procentsatz wie
unter dem früheren Falle, und das hochgeschichtete Trauben¬
zucker-Agar blieb in 44% der Fälle steril.
Im Ganzen sind demnach 40% sterile Befunde gegen
52% unserer früheren Fälle zu verzeichnen.
Vergleichen wir diese Befunde mit denen Meng e’s, der
in 70 Fällen Vestibulumsecret untersuchte und darunter drei¬
mal den Streptococcus pyogenes, zweimal den Staphylococcus
pyogens aureus und zweimal ein Bacterium, welches dem Coli¬
bacillus glich, in den übrigen Fällen aber Saprophyten ver¬
schiedener Art fand, so ersehen wir daraus, dass unsere Be¬
funde sich insoferne mit denen Menge's decken, als auch er
nur in einer geringen Anzahl von Fällen infectiöse Mikro¬
organismen im Vestibulumsecret nachgewiesen hat.
Diese verhältnissmässig geringe Differenz lässt sich durch
den Umstand erklären, dass durch unsere Methode das Orifi-
cium urethrae doch gründlicher gereinigt wird, und dass
es mittelst der Impfnadel besser möglich ist, das Untersuchungs¬
material nur der Urethra zu entnehmen, als mit der Oese.
Savor findet, wie erwähnt, unter 93 Fällen 34mal die
Urethra keimfrei; dies entspricht einem Procentsatz von
circa 36.
In dieser Hinsicht wären unsere Befunde also keineswegs
sehr verschieden ; die Art der gefundenen Keime ist es.
welche unsere Resultate so divergent erscheinen lässt.
Wie nicht anders zu erwarten ist, stimmen auch unsere
Befunde an Schwangeren mit denen Savor’s ganz und gar
nicht überein. Wie aus der nachstehenden Tabelle III zu er¬
sehen ist, fanden wir die Urethra in 13 von 25 Fällen steril
(gegen 72 sterile Befunde unter 290 Untersuchungen von
Savor).
Noch mehr contrastiren die Befunde, wenn wir die Art
der von uns nachgewiesenen Keime mit denen von Savor
vergleichen. Wir fanden in keinem einzigen der Fälle einen
pathogenen Keim,- während Savor unter seinen Fällen
95 m al den Staphylococcus pyogenes albus nach-
weisen konnte und in relativ vielen Fällen auch noch andere
pyogene Mikroorganismen.
Wenn wir auch bedenken, dass Savor’s Befunde von
einem viel grösseren Materiale stammen — er hat zwölfmal
so viel Fälle untersucht wie wir — so kann uns dieser Um¬
stand allein die Verschiedenheit der Resultate nicht erklären,
ebensowenig wie dies bei den aus Tabelle IV ersichtlichen
differenten Resultaten, welche unsere Untersuchungen über
den Keimgehalt der Urethra von Wöchnerinnen betreffen, der
Fall ist.
Wir konnten hier wohl unter 12 positiven Befunden
zweimal pathogene Keime, einmal (in Fall 7) kleine, runde
Coccen zu zweien, und in kleinen Haufen, doch Gelatine
nicht verflüssigend, das andere Mal (Fall 24) grosse, ovale
Doppclcoccen, Gelatine ebenfalls nicht verflüssigend, nach-
weisen, doch haben wir 52% steriler Befunde gegenüber 5%
von Savor.
Und auch der Procentsatz unserer pathogenen Keime
kann sich mit dem Savor’s nicht messen, auch hier fand
derselbe unter Anderem 51 mal den Staphylococcus pyogenes
albus und 15mal Bacterium coli commune.
Bei solchen überaus bedrohlichen Befunden kann es nicht
Wunder nehmen, dass Savor in praktischer Hinsicht den
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
323
Schluss zieht, dass, »nachdem die Katheterisationscystitis bei
bestehendem Keimgehalt der Urethra nicht sicher zu vermeiden
ist, und eine schwer vollkommen zur Heilung zu bringende
Affection darstellt, nachdem ferner eine exacte Desinfection
der Urethra vor dem Katheterismus undurchführbar erscheint,
die Prophylaxe der Katheterisationscystitis in einer desinfi-
cirenden Ausspülung der Blase nach jedem Katheterismus be¬
stehen muss«.
Trotzdem glauben wir, dass es, selbst wenn die Behaup¬
tungen Savor’s unwidersprochen blieben, wenige Aerzte geben
wird, welche den Vorschlag Savor’s befolgen werden. Es
wird ein jeder Arzt, der über ein grösseres diesbezügliches
Material verfügt, Menge (1. c.) darin vollständig Recht geben,
Tabelle III.
Schwangere.
Fortlaufende j
Zahl, Name S
----- ;
Bouillon
hochgeschiclitetes
Traubenzucker- Agar
Bemerkungen
1. c.
steril
I
steril
—
2. V.
steril
steril
—
3. E.
grosse Cocceu in Haufen
grosse Coccen in Haufen
Nicht pathogen.
4. B.
grosse Coecen zu zwei
und in Haufen
1
lange, schlanke, streng
anaerobe Stäbrhen
''licht pathogen.
6. B.
steril
steril
-
G. S.
grosse und kleine
Doppelcoccen
grosse und kleine
Doppelcoccen
Nicht pathogen.
7. P.
steril
steril
—
8. R.
steril
steril
—
9. N.
steril
kurze, plumpe, coli-
ähnliclie Stabeben,
Gram beständig unbe¬
weglich, nicht ver¬
gasend
Nicht pathogen.
10. W.
steril
steril
—
11. N.
kleine Doppelcoccen
kleine Doppelcoccen
Nicht pathogen.
12. St
steril
steril
—
13. C.
grosse Doppelcoccen
grosse Doppelcoccen
Nicht pathogen.
14. H.
steril
steril
15. L.
grosse Doppelcoccen
grosse Doppelcoccen
IG. E.
steril
kleine, schlanke Stäbchen
Nicht pathogen.
17. St.
steril
stet il
—
18. W.
steril
steril
—
19. Z.
grosse Doppelcoccen
grosse Doppelcoccen und
grosse plumpe Stäbchen
Nicht pathogen.
20. S.
steril
steril
—
21. K.
steril
steril
—
22. H
steril
steril
—
23. D.
grosse Coccen zu zwei
und in Haufen
grosse Coccen zu zwei
und in Haufen
Nicht pathogen.
24. L.
grosse Coccen zu zwei
und kurze Ketten
grosse Doppelcoccen
Nicht pathogen.
•ri
<M
grosse Doppelcoccen
und kleine, zarte Stäb¬
chen, ohne Gasbildung
giosse Doppelcoccen
und kleine, zarte Stäb¬
chen, ohne Gasbildung
Nicht pathogen.
T a
belle IV.
Wöchnerinnen.
; T
§ «j't;
l s «
I
-4
1
-* •
U £L,
- ~ <D
Bouillon
hochgeschichtetes
rraubenzucker-Agar
Bemerkungen
lE
M N cv.
1
r
1. v.
Tage
steril
steril
—
1 r
2. F.
Tage
steril
steril
1
—
3. B.
7 Tage
steril
steril
4. K.
1 Tag
steril
lange, schlanke
Scheinfäden und
Nicht pathogen.
grosse, plumpe
Stäbchen
1
5. B.
3 Tage
grosse Doppelcoccen
grosse Doppelcoccen
Nicht pathogen.
G. A.
steril
steril
—
7 Tage
7. R.
kleine, runde Coccen,
lange, schlanke,
Nähere Bestimmung
3 Tage
vorwiegend zu zwei,
streng anaerobe,
der Bouilloncultur
doch auch in kleinen
nicht pathogene
ergibt. Gram positiv.
Haufen. Reichlicher,
schwerer, bröckliger
Bodensatz, die übrige
Flüssigkeit klar.
Stäbchen
Auf Agar: Runde, er¬
habene, glatt trandige,
feuchtglänzende Co-
lonien. Gelatine nicht
verflüssigend, weisse
Maus intraperiton.
geimpft, -j- 24 Stunden.
8. C.
7 Tage
steril
steril
—
9. R.
7 Tage
steril
steril
10. M.
3 Tage
steril
steril
11. K.
3 Tage
grosse Doppelcoccen
grosse Doppelcoccen
Nicht pathogen.
12. L.
steril
steril
—
1 Tag
13. L.
6 Tage
steril
steril
14. W.
grosse Doppelcoccen
grosse Doppelcoccen
Nicht pathogen.
3 Tage
15. P.
grosse Coccen in
gr'osse Coccen in
Nicht pathogen.
4 Tage
Ketten
Ketten
16. S.
6 Tage
steril
steril
‘
17. F.
G Tage
steril
steril
18. B.
9 Tage
steril
steril
19. C.
kleine Doppelcoccen
grosse Doppelcoccen
Nicht pathogen.
1 Tag
20. V.
grosse Coccen in
I
grosse Coccen in
Nicht pathogen.
1 Tag
Haufen
Haufen
21. C.
2 Tagt
kleine Doppelcoccen
! kleine Doppelcoccen
Nicht pathogen.
22. J.
grosse Coccen in
I grosse Coccen in
Nicht pathogen.
2 Tagt
s Haufen
Haufen
23. M
2 Tagt
grosse Doppelcoccen
i grosse Doppelcoccen
Nicht pathogen.
Nähere Bestimmung der
Trauben zucker- A garcultur
24. P.
grosse Doppelcoccen
grosse, ovale Doppel-
1 Tag
und lange, schlanke,
coccen
Gram positiv. Bouillon
nicht pathogene
Stäbchen
diffus, zart getrübt, mit ge¬
ringem, wolkigem Boden¬
satz. Agar: Grosse flächen-
hafte, grauweissliche,
speckig glänzende Colo-
nien mit gezacktem Hand.
Gelatine nicht verflüssi¬
gend. Weisse Maus intrap.
geimpft, f 24 Stunden.
1
25. S.
1 Tag
steril
steril
324
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 14
dass die klinischen Erfahrungen, welche man bei dem Kathe¬
terismus der Blase sammeln kann, den Bacterienbefunden von
Gawronsky1) und Rovsing2), welche häutig pathogene
Keime in der Urethra fanden, nicht entsprechen.
Und wenn Savor berichtet, dass es (bis zum Abschluss
seiner Arbeit) hei 51 Fällen, welche nach Operationen kathe-
terisirt und mit prophylaktischen Blasenspülungen behandelt
wurden, kein einziges Mal zur Entwicklung einer Katheteri-
sationscystitis kam, so kann man dem entgegenhalten, dass die
meisten Operateure auch ohne prophylaktische Blasenspülungen
gewiss über so grosse und auch grössere Serien von Kathete-
risirten ohne Cystitis berichten können. Ist die Urethralmündung
gut zugänglich und gut zu reinigen, dann kann man mit der
grössten Ruhe den Katheter so häutig als man will einführen,
ohne eine Katheterisationscystitis zu erzeugen. Wir haben ausser
bei jauchigen Processen am Uterus oder in der Scheide (Zer¬
fall von Carcinommassen oder bei Totalexstirpation des Uterus,
nach welchem die nekrotischen Stümpfe eine längere faulige
Secretausscheidung aus der Vagina veranlassen — Menge
1. c.) eine Katheterisationscystitis am häufigsten dann auftreten
sehen, wenn nach zu hoch angelegten Dammplastiken der
Introitus so eng wurde, dass die Urethralmündung nur schwer
zugänglich geworden war.
Was die Behauptung Savor’s anbelangt, dass die Kathe¬
terisationscystitis eine schwer vollkommen zur Heilung zu
bringende Affection darstellt, so können wir derselben nicht
beipflichten. Es wird gewiss darunter schwere Fälle geben,
das muss ohne weiters zugegeben werden, doch ist sicher, dass
die meisten Katheterisationscystitiden keinen schweren Verlauf
nehmen und nach Aufhören des Katheterisirens ohne jede
locale Behandlung meist in kurzer Zeit ausheilen.
Was die Prüfung der Pathogenität der von Savor ge¬
fundenen Mikroorganismen anbelangt, so ist nur bei den Strepto¬
coccen ausdrücklich erwähnt, dass in jedem Falle die Prüfung
durch das Thierexperiment vorgenommen wurde. In einem
Falle führte das Bact. coli im Wochenbett zur Infection und
zum Tode der Wöchnerin und erwies sich demnach als
pathogen; über die Prüfung der Pathogenität der übrigen Coli-
bacillen und der Staphvlococcen ist weder in den Tabellen
noch im Text Näheres erwähnt; es heisst nur, dass die
Pathogenität des Staphylococcus pyog. albus im Grossen und
Ganzen der des Staphylococcus pyogenes aureus entspricht.
Von den als »Bacillen schlechtweg bezeichneten Mikro¬
organismen wird berichtet, dass sie weder für Mäuse, noch für
Meerschweinchen und Kaninchen pathogen sind.
Jedenfalls ist nicht zu ersehen, ob gerade die Staphylo-
coccen jedes Mal einer Prüfung auf ihre Pathogenität unter¬
zogen wurden, was gewiss von der grössten Wichtigkeit wäre.
Wenn sich thatsächlich alle als Staphylococcus pyogenes albus
und aureus und als Bact. coli geführte Mikroorganismen als
wirklich pathogen erwiesen haben — ausdrücklich behauptet
dies Savor, wie gesagt, nur von den Streptococcen mit Aus¬
nahme eines Falles — dann sind die Befunde entschieden ernst
zu nehmen, ebenso ernst wie der Befund von Streptococcen,
da die genannten Mikroorganismen ebenso wie diese, zu den
schwersten puerperalen Infectionen führen können.
Wir müssen ausdrücklich betonen, dass wir ausnahmslos
alle vorkommenden Mikroorganismen auf Pathogenität prüften
und zwar verwendeten wir in den meisten Fällen weisse Mäuse,
denen wir frische Bouillonculturen (y2 — 1 cm3) intraperitoneal
injicirten.
Wenn wir auch unsere Methode der Secretabnahme für
ziemlich einwandfrei erachten, so betrachten wir selbst die
Untersuchungen des Keimgehaltes der Urethra nicht für ab¬
geschlossen und sehen speciell den Resultaten M e n g e’s (I. c.),
der das Material zu seinen Untersuchungen unmittelbar post
mortem von der Blase her mit völliger Vermeidung der Urethral¬
mündung entnimmt und zugleich Controluntersuchungen des
Harns anstellt, mit Spannung entgegen.
Auch Savor (1. c.) hat viermal nach dieser Methode
den Keimgehalt der Urethra untersucht und zweimal Bact.
*) Münchener medicinische Wochenschrift. 1894, Nr. 11.
-) Berlin. 1890.
coli gefunden; doch hält er es selbst für ungerechtfertigt, aus
einer so minimalen Zahl von Untersuchungen Schlüsse zu
ziehen.
Die Untersuchung war in dem einen positiven Falle wohl
schon drei Stunden post mortem geschehen, in dem zweiten
jedoch erst 24 Stunden nach dem Tode.
Wenn wir die Resultate unserer Untersuchungen kurz
zusammenfassen, so können wir im Allgemeinen sagen, dass
dieselben im Ganzen und Grossen den von uns seinerzeit be¬
richteten Ergebnissen entsprechen, dass weiter das Vestibulum
ebenso wie die Urethra nur selten pathogene Keime enthalten;
in ungefähr der Hälfte der Fälle findet sich die Harnröhre
bei Schwangeren und Wöchnerinnen frei von Keimen; die
nachgewiesenen Keime sind meist Saprophyten verschiedener
Art, wie sie auch öfters im Vestibulum Vorkommen.
Erwiderung auf Dr. Eisenmenger’s Aufsatz:
»lieber die sogenannte Pseudolebercirrhose
(Fr. Pick)« in Nr. II dieser Wochenschrift.
Von Dr. Priedel Pick, Privatdocent für innere Medicin in Prag.
Der Umstand, dass an meine 1896 erschienene Arbeit, in welcher
ich unter dem Namen der „pericarditischen Pseudolebercirrhose“ einen
häutig zu diagnostischen Irrthümern führenden Symptomencomplex be¬
schrieb uud zeigte, wie man unter Beachtung von mir hervorgehobener
differentialdiagnostischer Momente ganz wohl die r i c h t i g e Diagnose
stellen kann, „eine ganze Reihe von Publicationen anschloss, welche
einschlägige Beobachtungen bringen und der Mehrzahl nach meinen
Vorschlag vollinhaltlich aeceptiren, ja dass sogar der Name in einzelne
Lehrbücher aufgenommen wurde“, hat Herrn Dr. Eisenmenger
zu einem vehementen Angriffe auf meine Arbeit veranlasst. Er con-
statirt zunächst den „E r f o 1 g“, den diese gehabt und fährt dann fort:
„Angesichts dieses Erfolges scheint es berechtigt und nothwendig, die
Arbeit Pick’s einer eingehenden Kritik zu unterziehen“, und diese
ist, wie die Folge lehrt, eine vollständig ablehnende.
Auch in den verschiedenen an meine Publication anschliessenden
Arbeiten haben gelegentlich Fachgenossen auf Grund ihrer Be¬
obachtungen von dem oder jenem Punkt meiner Arbeit ab¬
weichende Ansicht en mit mehr oder weniger Energie geäussert,
ich habe es aber bisher als Feind jeglicher Polemik vermieden, zu irgend
einer dieser Arbeiten speeiell Stellung zu nehmen. Anders steht die
Sache bei Herrn Dr. Eisenmenger; dieser bringt keine ein¬
zige eigene Beobachtung, und wir lernen da also ein etwas un¬
gewöhnliches ätiologisches Moment für eine Kritik kennen, nämlich den
„Erfolg“ einer Arbeit.
Ob dieses Motiv mangels eigener Beobachtungen eine genügende
Berechtigung für eine so ablehnende Kritik bildet, will ich nicht
untersuchen, jedenfalls scheint es mir aber nicht das so vollstän¬
dige Verkennen des eigentlichen Tenors meiner Arbeit, nämlich
der diagnostischen Seite derselben, zu entschuldigen, das sich in
den folgenden Ausführungen Herrn Dr. Eisenmenge r’s kund gibt.
Er fragt : „Wer soll denn die Diagnose pericarditische Pseudoleber¬
cirrhose machen? Der Kliniker kann sie nicht machen, denn er
weiss nichts von der Pericarditis.“ Ja, er soll sie eben
suchen, er soll daran denken, dass eine solche vorliegen kann
und sie durch anamnestische Erhebungen und möglichst häufige Unter¬
suchungen, wie ich das ausdrücklich betont habe, feststellen. Das
ist ja der Tenor meiner ganzen Arbeit, das zeigt die
ganze Anordnung derselben, indem ich nach Erörterung der Pathogenese
des isolirten Ascites in den beiden ersten Fällen sage, dass dies¬
bezüglich noch keine Klarheit zu erzielen, und fortfahre : „Vorderhand
scheint es mir am wichtigsten, das diagnostische Moment
hervorzukehren und zu zeigen, wie man gegebenenfalls den, wie wir
oben gesehen haben, von verschiedenen Autoren begangenen Irrthum
vermeiden kann.“ Dann folgt die Erörterung der verschiedenen
differentialdiagnostischen Momente und die Mittheilung eines
Falles, in welchem ich auf Grund derselben die rich¬
tige Diagnose zu stellen in der Lage war. Und auch in meinem
Resum6 sind die Anhaltspunkte für die Stellung der richtigen Diagnose
entsprechend hervorgehoben (Punkt 3). Andererseits ist es auch vor¬
gekommen, dass der Kliniker in Fällen anscheinender Lebercirrhose
von der Pericarditis wusste und doch nicht an eine eventuelle
Beziehung zwischen ihr und der Lebererkrankung dachte, und
auch deswegen war es nicht überflüssig, auf die Möglichkeit eines
solchen Zusammenhanges hinzuweisen. Herr Dr. Eisenmenger,
braucht gar nicht weit zu gehen, um einen solchen Fall zu finden. Er
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
325
möge mir die Monographie „Erkrankungen des Herzbeutels“ von Hof¬
rath v. Sehr öfter hernehmen. Doi t spricht v. Sehr öfter, wie
ich in meiner Arbeit bereits citirte, von einem jungen Mädchen, das
mit Lebe rcirr hose aus der Fremde zugereist ist, bei welchem
absolut kein Herzstoss aufgefunden werden konnte, der behandelnde
Arzt aber auf eine briefliche Anfrage hin mit aller Bestimmtheit er¬
klärte, aus den lauten Reibegeräuschen am HerzeD seinerzeit eine
Pericarditis diagnosticirt zu haben, v. Sehr öfter erwähnt
mit keinem Worte die Möglichkeit eines Zusammen¬
hanges zwischen der früher constatirten Pericarditis und der Leber¬
erkrankung, obwohl man bei einem jungen Mädchen die Diagnose
Lebercirrhose doch erst nach reiflicher Erwägung aller anderen Mög¬
lichkeiten stellen wird.
Hier w e i s s also der Kliniker von der Peri¬
carditis, weist aber gar nicht auf einen eventuellen
Zusammenhang hin und so war es doch nicht so übe r-
flüssi g, dass ich auf einen solchen aufmerksam machte, wie dies ja
auch gelegentlich von manchen Autoren hervorgehoben wird (W e r-
batus, Dissertation. Erlangen 1899): „Pick weist zum ersten Male
auf diesen Zusammenhang hin.“
Es gibt also doch Kliniker, die in solchen Fällen
die chronische Pericarditis diagn osticiren können,
wie dies mein dritter Fall, ferner die seither mitgetheilten Fälle von
Patella, G a 1 v a g n i, Strümpell (Werbatus) und Andere
lehren, und diese zeigen wohl zur Genüge, wie unberechtigt die
kurz angebundene Art ist, mit welcher Herr Dr. Eisenmenger
diese Möglichkeit verneint. Wenn Herr Dr. Eisenmenger nun
fortfährt: „der pathologische Ana torn- wird gar nicht in Ver¬
suchung kommen, an eine Lebercirrhose zu denken“, so ist es eigent¬
lich schwer, eine solche Naivotät zu verstehen. \\ er hat denn je so
etwas behauptet? Für den pathologischen Anatomen gibt
es doch keine latente Pericarditis, für ihn existirt dieser
Symptomencomplex gar nicht, und er kann auch gar kein Urtheil
über seine klinische Berechtigung oder Nichtberechtigung abgeben. Es
wird vielleicht gut sein, um diesen Unterschied dem Verständnisse des
Herrn Dr. Eisenmenger näher zu rücken, ein analoges
Beispiel heranzuziehen. Die Sache liegt ganz ähnlich, wie bei der
apoplektiformen Pseudobulbärparalyse; auch hier hat der
Kliniker ein einer andereu Affection mit ganz anderem anatomischem
Substrat sehr ähnliches Krankheitsbild, für den p a t h,o 1 o g i sehen
Anatomen aber existirt dasselbe nicht, für ihn sind
das Blutungen oder Erweichungen im Gehirn, ganz ebenso wie bei
einer gewöhnlichen Hemiplegie. Dieser Vergleich widerlegt auch
zur Genüge den von Herrn Eisenmenger geäusserten Tadel, dass
„eines der wesentlichen Merkmale des Begriffes pericard. Pseudol. ein
„diagnostischer Schnitzer“ sei und mit den Fortschritten
in der Diagnostik der Pericarditis diese Krankheitsgruppe ver¬
schwinden müsse.
Das ist nicht richtig ; bei der Pseudobulbärparalyse
kann der Kliniker aus der Anamnese und dem Status sehr
wohl die Diagnose cerebraler Erweichung oder Blutungsherde
machen und doch behält er den Namen bei, weil der¬
selbe den Symptomencomplex prägnant Charakter i-
s i r t. Ebenso ist es bei der Pseudoleber cirrhose; nicht „den
diagnostischen Schnitzer“ zeigt der Name an, den kann man ja, wie ich
bewiesen habe, vermeiden, sondern die Aehulichkeit mit
einem andersartigen Krankheitsprocesse. Schön ist der Name ja nicht,
mir gefällt diese vox hybrida auch nicht — ich habe nur keinen
besseren gefunden — , aber er ist doch kürzer und so ein mnemo¬
technisches Hilfsmittel warnender Art bei der Diagnose,
die ja doch häufig auch Erinnerungssache ist.
Diese Auseinandersetzungen zeigen zur Genüge, wie sehr Herr
Dr. Eisenmenger die wesentliche, die klinische Seite der Frage
verkennt, die er in 20 Zeilen erledigt. Er wendet sich in den folgenden
acht Spalten mit umso grösserer Ausführlichkeit gegen die pathologisch¬
anatomische Seite derselben.
Ich bin in meiner Arbeit nach Erwägung der spärlichen bis
dahin bekannten Sectionsbefunde zu der Ansicht gelangt, dass die Ur¬
sa c h e des Ueber wiege ns des Ascites in solchen Fällen in
der Leber zu suchen sei, in welcher durch die lang dauernde Circu-
lationsstörung sich Bindegewebswucherungen itabliren, welche, jetzt
dauernd geworden, auch beim Zurückgehen der allgemeinen Circu-
lationsstörungen Stauung im Pfortadergebiete zur Folge haben. Gegen
diese Anschauung wendet sich nun Herr Dr. Eisenmenger in sehr
ausführlicher Weise, indem er sie als veraltet bezeichnet und ihr
eine angeblich neuere Darstellung entgegensetzt, welche der Bind e-
ge webswucherung nur eine ganz geringfügige Rolle
zuschreibt und auf Grund von Präparaten und Aeusserungen Professor
Paltau f’s bestreitet er überhaupt das Vorkommen einer
stärkeren Wucherung und S hrumpfung des Bindegewebes.
Dies ist das Wesentliche seiner Ausführungen, denn ob die
Leberzellen nur durch die Gefässdilatation oder auch durch Ernährungs¬
störungen oder die Bindegewebswucherung leiden, ist für die Entstehung
der Pfortaderstauung, auf die es hier allein ankommt, ganz gleich-
giltig. Es ist zu bedauern, dass Herr Dr. Eisenmenger die Autoren
nicht angibt, welche sonst noch diese neuere Anschauung vertreten.
Denn wie ein kurzer Ueber blick über die modernen
Lehr- und Handbücher zeigt, findet sich in den¬
selben immer noch die von mir herausgegebene,
nach Herrn D r . Eisenmenger veraltete Lehre ver¬
treten.
Es ist also denn doch diese Anschauung entgegen der
Darstellung Dr. Eisenmenge r’s, die bislang allgemein accep-
t i r t e und ich war daher wohl berechtigt, dieselbe zur Erklärung
dieser Fälle heranzuziehen. Wenn Herr Dr. Eisenmenger dieselbe
verwerfen will, dann müsste er erst durch eigene, auf breiterer Basis
angestellte histologische Untersuchungen die Geringfügigkeit der peri¬
portalen BindegewebswucheruDg erweisen. Das ist dann aber eine
Frage, die für die G e s a m m t h e i t der Fälle von Blutstauungs-
eirrhose zu entscheiden sein wird, und es erscheint doch voreilig, die¬
selbe, so lange sie noch mehr oder weniger Privatansicht ist,
als Haupteinwand gegen einen Symptomencomplex zu benützen, der
nur einen Einzelfall dieser Veränderung darstellt und für dessen auf
vorwiegend klinischem Gebiete liegende Berechtigung diese Erklärung
überhaupt nur von secundärer Bedeutung ist.
Was die weiteren Bemerkungen des Herrn Dr. Eisenmenger
betrifft, so kann ich hier mit Rücksicht auf den geringen mir zuge¬
wiesenen Raum nur die wichtigsten in Kürze streifen. Ein so häufiges
Krankheitsbild sind die Fälle von isolirtem Ascites bei Pericarditis oder
anderen Herzaflfectionen doch nicht, wie Herr Dr. Eisenmenger
meint, der selbst keinen einzigen derartigen Fall anführt, es aber nicht
zulässig findet, ein häufiges Krankheitsbild auf eine seltene Ursache
zurückzuführen. Von ersterer Art sind seit meiner Publication etwa
15 Fälle aus den verschiedensten Ländern, die Mehrzahl aus Italien,
mitgetheilt worden, meist selbst von Klinikern mit langjähriger Erfahrung,
wie B o z z o 1 o, Patella u. A. immer nur e i n Fall.
Bezüglich der verschiedenen anderen Erklärungsversuche,
die Herr Dr. Eisenmenger an Stelle der von mir gegebenen
setzen will, wie Compression oder Knickung der unteren Hohlvene oder
Peritonitis an der Leberpforte, so habe ich dieselben ja alle schon i n
meiner Arbeit genügend besprochen und motivirt, warum ich sie
nicht stichhaltig finde. Die Knickung der H o h 1 v e n e hat noch
niemand bewiesen, sie würde auch das Fehlen der Extremitätenödeme
nicht erklären, auch die Peritonitis ist nicht regelmässig genug
gefunden worden, um zur Erklärung zu genügen, wie dies im An¬
schluss an meine Ausführungen auch Galvagni und Patella
hervorgehoben haben. Ferner fehlt jeder Anhaltspunkt für diese beiden
Momente in den Fällen von isolirtem Ascites bei Klappenfehlern.
Auch die verschiedenen Versuche des Herrn Dr. Eisenmenger,
das Fehlen der Extremitätenödeme aus physiologischen, für den
Abfluss aus den unteren Extremitäten günstigeren Bedingungen zu er¬
klären, wird durch das sonstige regelmässig umgekehrte Verhalten bei
Herzkrankheiten widerlegt. Gegen seine Annahme, dass das häufige
Vorkommen dieses Symptomencomplexes im jugendlichen Alter
gegenüber den Erwachsenen eine Folge der bei letzteien an den peii-
pheren Gefässen früher auftretenden senilen Veränderungen sei, spricht
erstens das gelegentliche Auftreten des Symptomencomplexes in höherem
Alter (im ersten meiner Fälle 44 Jahre) und ferner der in der Anam¬
nese solcher Fälle hervortretende Umstand, dass bei der ersten,
zweiten Incompensation die Oedeme zurückgehen, aber Lebervergrösse-
rung und Ascites isolirt bestehen bleiben, was gerade viel mehr für
meine Annahme spricht, wonach eben die sich jetzt in der Leber
dauernd etablirende Bindegewebswucherung die Ursache darstellt. Dies
Alles zeigt wohl zur Genüge, wie unzulänglich die verschiedenen Er¬
klärungsversuche sind, welche Herr Dr. Eisenmengei mit solchei
Bestimmtheit, zum Theil ohne meine frühere Zurückweisung derselben
zu erwähnen, anführt.
Ausserdem ist in seinen Erörterungen noch ein Umstand auf¬
fällig, die Art und Weise, mit welcher er bestimmte Aeusserungen
verschiedener Autoren, wenn er sie nicht widerlegen kann, in ihrer
Beweiskraft zweifelhaft zu machen sucht. So liest er aus der Abbil¬
dung Zi'egler’s, des einzigen pathologischen Anatomen, den er
citirt, einen Gegensatz zu dessen textlicher Aeusserung heraus, welch
letztere geradezu in meinem Sinne lautet. Beim Falle N a c h o tL be¬
zweifelt er die ganz präcisen Angaben über die Intactheit des l erito-
neums bei der wegen hochgradigem Ascites vorgenommenen Laparotomie.
Bei den Sectionsbefunden meiner drei Fälle tadelt er, dass „in keinem
einzigen Falle“ die mikroskopische Untersuchung erfolgt sei, und doch
enthält das erste Sectionsprotokoll (pag. 4) eine durch gesperrten
I Druck hervorgehobene Note darüber mit Constatirung der interstitiellen
326
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 14
Bindegewebswucherung. Ich glaube, bevor man so streng kri-
t i s i r t, sollte man doch genauer nachseh en. So sehr ich
das Fehlen des mikroskopischen Befundes bei den beiden anderen
Fällen bedauere, so ist dies nicht meine Schuld, denn wie aus dem
Texte meiner Arbeit hervorgeht, war erst das zufällige Zusammen¬
treffen der ersten zwei Fälle für mich die Veranlassung, mich mit
diesem Thema zu beschäftigen und damals die Bedeutung des Leber¬
befundes noch nicht so klar, um mir bei der Section gleich Stücke
der Leber zu erbitten. Der dritte Fall aber wurde durch eine Kette
von Transferirungen von einer anderen Klinik, ohne das3 ich davon
wusste, secirt. Uebrigens spricht schon die makroskopische Be¬
schreibung der Lebern, die trotz jahrelangem Ascites nicht ver¬
kleinert waren, gegen ihre Auffassung als atrophische oder Säufer-
cirrhose, wie Herr Dr. Eisenmenger will. Wenn er sich dabei auf
die von den secirenden Assistenten in der lateinischen Diagnose
gebrauchte Bezeichnung „Cirrhosis hepatisu stützt und es als
„ausgeschlossen“ bezeichnet, dass ein deutscher Anatom so eine
„Cirrhose cardiaque“ benenne, so genügt der Hinweis auf die oben
gebrachten Citate aus den Lehrbüchern, um dies zu widerlegen.
Uebrigens ist. Cirrhosis hepatis — ein Wort, das im Grunde genommen
nur bedeutet, dass die Leber gelb ist — kein so scharf umschriebener
Begriff, und die ätiologisch verschiedensten anatomischen Veränderungen
werden so bezeichnet. Bei dieser Gelegenheit zeigt sich auch wieder
das Bestreben Herrn Dr. Eisen menge r’s, präcise Aeusserungen
von Autoren auf Umwegen ihrer Beweiskraft zu entkleiden, indem er
mit Bezug auf die von mir mitgetheilte Ansicht Prof. Chiari’s, in
dessen Institut die Fälle secirt wurden, dahingehend, „dass es sich in
diesen Fällen um so eine Cirrhose cardiaque gehandelt habe“, sagt: Ich
bin überzeug t, dass Chiari, wenn er das Sectio nsproto-
koll gesehen hätte, sich nicht so bestimmt ausgedrückt hätte“.
Wie k o m m m t Herr Dr. Eisenmenger zu dieser U e b er¬
zen gung? Wer das Interesse kennt, welches Hofrath C h i a r i allen
solchen Arbeiten entgegenbringt und die peinliche Sorgfalt, mit
welcher er jedes Protokoll vor der Publication durchliest, den wird die
Leichtfertigkeit dieser Zumuthung überraschen und dar¬
über hätte, ehe er so etwas schrieb, Herr Dr. Eisenmenger sich
auch in Wien orientiren können. Auch lässt meine Stylisirung gar keinen
Zweifel aufkommen, dass es sich um autorisirte Wieder¬
gabe einer gutachtlichen Aeusserung handle, sie
ist ganz ähnlich wie dort, wo Herr Eisenmenger die Meinung
des Herrn Prof. Pal tauf über die Cirrhose mittheilf, und eine
solche Meinungsäusserung wird doch Niemand ohne reifliche
Erwägung abgeben.
• Was die Schlusssätze des Herrn Dr. Eise n menge r
betrifft, so liegt in den ersten beiden, die die Aehnlichkeit des von
mir beschriebenen Symptomencomplexes mit der Leberciri hose zugeben,
eigentlich eine genügende Desavouirung seines ablehnenden
Urtheiles ; wenn er denselben auch klinisch deswegen verwirft, weil
er nicht einheitlich anatomisch, sondern durch verschiedene Processe
herbeigeführt werde, so ist zu erwidern, dass es mir eben logischer
scheint, bei identischem klinischem Bilde das häufigste anatomische
Moment herauszuheben und das eben die Stauungsveränderungen in
der Leber bilden, wie ich erst auf dem letzten Congiesse für innere
Medicin in einem Vortrage hervorhob, den Herr Eisenmenger
nebenbei gesagt, gar nicht citirt, obwohl er ganze Sätze
wörtlich daraus abschreibt. Die Entscheidung können erst
weitere Untersuchungen bringen, die damaligen, nicht durch eigene
Beobachtungen gestützten Einwendungen des Herrn Eisenmenger
sind dazu am wenigsten geeignet. Uebrigens liegt die Hauptsache in
der richtigen klinischen Beobachtung, die Deutung, die jedoch immer
etwas Subjectives, vom Einzelfall Abhängiges hat, schwankt oft im
Anfänge, ehe eine endiltige Entscheidung getroffen wird.
Es ist eigentlich schwer zu verstehen, wieso Herr Eisen¬
menger die klinische Seite so vollständig verkannte, wie wir
anfaugs gesehen haben, da er ja als Motiv seiner Kritik den „Erfolg“
meiner Anregung bezeichnet. Worin soll dieser aber bestanden haben?
Dass bezüglich des Zustandekommens des Ascites nicht alle Autoren
meiner Meinung sind, das habe ich in meinem Karlsbader Vortrage,
den Herr Eisenmenger ja kennt, hervorgehoben, der „Erfolg“,
von welchem Herr Eisenmenger spricht, lag aber nicht in der
Erklärung, sondern in der diagnostischen Seite und in dieser
Beziehung wird mir Herr Dr. Eisenmenger schon gestatten, die
Aeceptirung von Seiten erfahrener Kliniker, wie Baeumler,
B o z z o 1 o, G a 1 v a g n i, Patella, Strümpell und Anderer für
schwerwiegend zu erachten.
Ueber die Hämamöben im Blute Leukämischer.
Von Prof. Dr. M. Löwit, Innsbruck.
Auf die vorläufige Mittheilung W. T ü r k’s in Nr. 13 dieser
Zeitschrift habe ich kurz Folgendes zu entgegnen:
1. Es ist unzulässig, die von mir als Hämamöben im Blute myelämi-
scher Kranker beschriebenen Gebilde als Auslaugungsproducte der Mast¬
zellengranula zu bezeichnen. Mastzellengranula und Ilämamöben können
durch Gestalt, Grösse und Färbungsdifferenzen sicher von einander unter¬
schieden werden. Tür k’s Beobachtungen über das differente Aussehen der
Mastzellen bei Anwendung verschiedener Farbstoffe (alkoholisches, wässeri¬
ges und Lö ff ler’s Methylenblau) treffen das Weseu dieser Unterscheidungen
zwischen den beiden Gebilden durchaus nicht. Diese Differenzen sind
bereits in meiner Monographie klar dargelegt, allein sie sind von
Türk nicht erfasst oder nicht beachtet worden. Wer behaupten kann,
dass die typischen Griffelformen, die typischen Sichelformen und auch
die grossen Amöbenformen der Myelämieparasiten als Kunst- oder
Auslaugungsproducte von Mastzellengranulis anzusehen sind, der hat
eben diese typischen Parasitenformen noch nicht gesehen.
2. Diese typischen Parasitenformen sind nicht, wie aus der Dar¬
stellung von Türk vermuthet werden könnte, nur mit verdünnten,
sondern mit vollständig gesättigten Thioninlösungen, mit denen ich
vorwiegend arbeite, darstellbar. Parasitenformen und Mastzellen¬
granula können gleichzeitig in demselben Präparate, ja in der gleichen
Zelle zur Darstellung gebracht und von einander namentlich durch
Gestalt- und Färbungsdifferenzen unterschieden werden. Die dies¬
bezügliche Färbungsmethode ist jedoch schwierig und wegen Mangel
an Material noch nicht völlig durchgearbeitet. Dass man bei An¬
wendung der bisherigen Färbungsmethoden, namentlich des basischen
Farbengemisches, derartige Beobachtungen bereits machen konnte, habe
ich in meiner Monographie erwähnt.
Dass man mit Farbstoftlösungen von verschiedenem Wassergehalt
verschiedenartige Bilder an den Mastzellengranulis zu erhalten ver¬
mag, die gelegentlich auch eine gewisse formelle Aehnlichkeit mit
parasitären Gebilden darbieten können, was bereits in meiner Mono¬
graphie betont wurde, kann ohne Weiteres zugegeben werden ; das
rechtfertigt aber in keinerlei Weise eine Identificirung dieser defor-
mirten Granula mit den parasitären Gebilden aus dem Blute myelämi-
scher Individuen.
3. Der Behauptung von Türk, dass er auch bei zahlreichen
anderen Krankheiten die „Haemamoeba leukaemiae magna“ im Blute
nachweisen konnte, stelle ich die ebenso bestimmte Behauptung gegen¬
über, dass die im Blute und den blutzellenbildenden Organen normaler
Menschen und Thiere enthaltenen Mastzellengranula, sowie die nament¬
lich bei der gewöhnlichen Form der Leukocytose, bei hochgradigen
Formen von Anämien, im Malariablute, bei Krebskachexie und wohl
auch bei zahlreichen anderen Erkrankungen im peripheren Blute an
den Leukocyten vorkommenden Degenerationsproducte des Kern- und
Zellzerfalles, die auch in den blutzellenbildenden Organen häufig ge¬
funden werden, mit den Parasiten aus dem Blute Myelämischer nicht
identificirt werden können, von ihnen vielmehr sicher unterscheid¬
bar sind.
4. Es kann nicht zugegeben werden, dass das von mir an den
leukämisch inficirten Kaninchen hervorgerufene Krankheitsbild als eine
chronisch recidivirende Leukocytose, wie das Türk thut, bezeichnet
werde; auch dafür habe ich die Gründe bereits in meiner Monographie
auseinandergesetzt.
Die parasitären Gebilde, die bei den inficirten Thieren im Blute
und den blutzellenbildenden Organen auftreten, sind von den normaler
Weise bei den betreffenden Thieren vorhandenen Mastzellengranulis
und anderen mit basischen Farben darstellbaren Elementen sicher
unterscheidbar, worüber ich bereits in meiner Monographie die
nöthigen Angaben machte, und worauf ich in einer baldigst erschei¬
nenden Untersuchung noch näher zurückkommen werde.
Die Behauptung von Türk, dass es mir an den leukämisch
inficirten Kaninchen nicht gelang, anatomisch und histologisch das Bild
menschlicher Leukämie zu erzeugen, findet ihre Entgegnung in der
von mir ermittelten und in meiner Monographie bereits näher aus¬
einandergesetzten Beobachturg. dass das gewählte Versuchsthier nicht
günstiger, oder doch jedenfalls andersartige Bedingungen als sie im
menschlichen Organismus für die Entwicklung des Parasiten vorliegen,
darbietet. Das leukämisch inficirte Kaninchen zeigt auch anatomisch
und histologisch Krankheitserscheinungen, 'welche nur quantitativ ver¬
schieden von jenen beim myelämischen Menschen sind, und welche es
nicht gestatten, diese Krankheitserscheinungen als eine chronisch reci¬
divirende Leukocytose zu bezeichnen. Ich halte daher meine Argumen¬
tation bezüglich der Uebertragungsversuche der Myelämie auf das
Kaninchen vollkommen aufrecht.
Eine eingehende Darstellung der hier berührten Verhältnisse
bleibt einer anderen Gelegenheit Vorbehalten.
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
327
Bemerkungen zu obiger Erwiderung.
Von Dr. W. Türk.
Die vorstehende Erwiderung Prof. L ö w i t s auf meine vor¬
läufige Mittheilung kann mich in keiner Weise veranlassen, irgend
einen Sa'z oder auch nur ein Wort meiner Ausführungen abzuändern
oder zu widerrufen; ich muss vielmehr alle ausgesprochenen An
schaumigen in ihrem vollen Umfange aufrecht erhalten.
Herr Prof. Löwit wiederholt lediglich die Argumente seiner
Monographie, die alle mir ja selbstverständlich vor Anstellung meiner
Nachuntersuchungen wohl bekannt waren, und trotz deren und
gegen die ich eben auf Grund dieser Nachunter¬
suchungen die vorläufige Mittheilung erscheinen liess. Ich habe
daher keinen Anlass, jetzt auf diese Erwiderung weiter einzugehen und
verweise bezüglich der Begründung meiner Anschauungen auf den in
Wiesbaden zu haltenden Vortrag, bei welchem Anlasse ich meine Ar¬
gumente und Präparate zur Beurtheilung nicht nur Prof. Löwit,
sondern den sämmtlichen Congresstheilnehmern und der Wissenschaft
überhaupt vorlegen werde.
FEUILLETON.
Am 31. März schied Josef Gruber in seinem 73. Lebens-
jahie aus einem fruchtbaren, an Arbeit und Ehren reichen Leben. —
Am 4. August 1827 zu Kosolup in Böhmen geboren, absolvirte
Gruber die medicinischen Studien an der Wiener Universität, wo¬
selbst er 1855 zum Doctor der Medicin und Chirurgie promovirt wurde.
1855 — 1860 wirkte er als Secundararzt im k. k. Allgemeinen Kranken¬
hause. Schon seine aus dieser Zeit stammenden Abhandlungen über
chirurgische und dermatologische Themata, z. B. : „Ueber Harnblasen-
zerreissung“ (Medicinisches Jahrbuch der k. k. Gesellschaft der Aerzte
1857) — „Ueber Abscesse in der vorderen Bauchwand“ (ibidem 1860)
— „Ueber den organischen Stoffwechsel syphilitisch Erkrankter unter
dem Gebrauche von Mercurialmitteln“ (ibidem 1859), legen Zeugniss
ab von seinem wissenschaftlichen Eifer und guter Beobachtungsgabe.
— Gleichzeitig beschäftigte er sich autodidaktisch mit Ohrenheilkunde,
die damals an der hiesigen Facultät nicht gelehrt, durch die Arbeiten
von Toynbee und von T r ö 1 1 s c h in eine neue Bahn geleitet wurde.
Unter dem Einflüsse der damals zur höchsten Bliithe gelangten Wiener
medicinischen Schule wandte er die Grundzüge der Forschung dieser
classischen Schule auf die junge Disciplin an. Mit einem, von heiligem
Enthusiasmus getragenen Feuereifer, den er sich bis zu seinem Tode
bewahrte, stürzte er sich auf die anatomische und pathologisch-anato¬
mische Bearbeitung des Gehörorganes. Auf Grundlage seiner diesbezüg¬
lichen Arbeiten habilitirte er sich 1863 neben den mächtig empor¬
strebenden Politzer unter der Patronanz Hyrtl’s als Privatdocent
für theoretische und praktische Ohrenheilkunde an der Wiener Univer¬
sität. 1867 publicirte er seine bedeutsame Monographie: „Anatomisch¬
physiologische Studien über das Trommelfell und die Gehörknöchelchen“
und 1870 sein „Lehrbuch der Ohrenheilkunde“. In dieselbe Zeit
fällt die Gründung der „Monatsschrift für Ohrenheilkunde“ im Vereine
mit Rü ding er, Voltolini und Weber -Lie 1, die seitdem als
wichtiges und vornehmes Publicationsorgan für dieses Gebiet, sowie
für die verwandten Fächer der Nasen-, Rachen- und Kehlkopf krank-
heiten blüht und gedeiht.
1870 erfolgte seine Ernennung zum a. o. Professor und 1873,
zugleich mit Politzer, zum Vorstande der hauptsächlich auf sein
unermüdliches Betreiben und auf Rokitansky’s Befürwortung neu¬
errichteten Klinik für Ohrenkranke. Trotz der Beschränktheit des
Raumes und der Mittel entwickelte hier Gruber seine äusserst frucht¬
bare didaktische Thätigkeit. Die Zahl der Hörer, welche aus aller
Herren Länder zuströmten, um sich an der Wiener Ohrenklinik zu
Ohrenärzten auszubilden, übersteigt viele Tausende; viele derselben
sind nunmehr als Professoren und Docenten an den Universitäten des
Auslandes und des Inlandes thätig. Dabei erlahmte Grube r’s Arbeits-
fleiss und seine Begeisterung für die von ihm tradirte Disciplin niemals.
Es gibt kein Gebiet der Ohrenheilkunde, welches er nicht durch gründ¬
liche Untersuchungen und durch auf seine reiche Erfahrung gegründete
Kenntnisse beleuchtet und gefördert hätte. Als einer der Ersten er¬
kannte er die Wichtigkeit der operativen Eingriffe bei Mittelohreiterungen
und ihrem Complicationen, und wusste diese Operationen mit bewun-
derungswerther Exactheit auszuführen. Viele Hunderte von Menschen
verdanken ihm ihr Leben, viele Tausende ihr Gehör.
Ein grosses Verdienst hat sich Gruber durch die Gründung
der „Oesterreichischen otologischen Gesellschaft' erworben. Insbesondere
die Wiener Ohrenärzte, die in der Lage sind, den Monatssitzungen
regelmässig beizuwohnen, wissen den hohen Werth eines streng sach¬
lichen Meinungsaustausches und der vielfachen Belehrung und Anregung,
sowie der Förderung der Collegialität, um die sich Gruber besonders
bemüht hat, zu schätzen. Er hat es während seiner Erkrankung als
besonders schmerzlich empfunden, dass er der letzten, am 26. März
stattgefundenen Sitzung, zum ersten Male seit Begründung der Gesell¬
schaft, nicht beiwohnen konnte.
In Anerkennung seiner wissenschaftlichen und lehramtlichen
Thätigkeit wurde ihm 1896 der Titel und Charakter eines o. ö. Pro¬
fessors verliehen, und als er, im Jahre 1898 nach Absolvirung dos
ihm von der Facultät bewilligten Ehrenjahres die Lehrkanzel wegen
seines Alters verlassen musste, wurde er Allerhöchst durch Verleihung
des Eisernen Kronenordens III. Classe ausgezeichnet.
Der Abschied des geistig und körperlich rüstigen, noch immer
arbeitsfrohen Mannes vom Lehramte gab zu einer erhebenden leier
Veranlassung, an der sich die Facultät, die otologische Gesellschaft
und Deputationen aus allen Welttheilen betheiligten, und bei welcher
sich manifestirte, wie viel Liebe, Verehrung und Dankbarkeit sich
Gruber durch seinen geraden, offenen, biederen Charakter bei seinen
Collegen und Schülern, und durch seine unversiegliche, stets gleich¬
bleibende Humanität bei seinen Patienten erworben hat. Leider war es
ihm nicht lange gegönnt, sein Otium cum dignitate zu gemessen; ganz
unerwartet trat der Tod an ihn heran; er starb nach kurzem und fast
schmerzlosem Krankenlager, zum grossen Kummer seiner Familie und
seiner Freunde. Ehre seinem Andenken! Josef Pollak.
REFERATE.
I. Atlas und Grundriss der Gynäkologie.
Von Dr. Oskar Schaeffer, Heidelberg.
2. Auflage.
München 1899, J. F. Lehman n.
II. Anatomischer Atlas der geburtshilflichen Diagnostik
und Therapie.
Von Dr. Oskar Schaeffer, Heidelberg.
2. Auflage.
M uneben 1899, J. F. Lehm a n n.
III. 100 illustrirte Fälle aus der Frauenpraxis.
Von Dr. A. Auvard, Paris.
Deutsch von Dr. A. Rosenau, Kissingen. 2. Auflage.
Leipzig 1899, J. A. Barth.
IV. Handbuch der Gynäkologie.
m. Band, 2. Hälfte, 1. und 2. Abtheilung.
Herausgegeben von J. Veit, Leyden.
Wiesbaden 1899, J. F. Bergman n.
V. Ueber den Abortus.
Von Dr. Oskar Piering.
Berlin 1899, Fischer’s medicinische Buchhandlung (H. Kornfeld).
I. Schaeffer’s Werk stellt eine glückliche Combination
von Atlas und Grundriss dar. Der äusserst knapp und präcis ge¬
haltene Text würde an und für sich die Lecture des Buches zu
einer sehr anstrengenden gestalten, wenn nicht die nebenstehenden
Abbildungen einesteils zur Erholung des Lesers, andererseits zu
der in dem behandelten Thema so sehr nötigen bildlichen Er¬
läuterung und Erklärung dienen würden.
Die Zahl der Abbildungen ist eine sehr grosse, auf 262 1 ext-
seiten kommen 207 meist farbige Illustrationen und 62 Text¬
illustrationen; die Bilder sind meist sehr gut ausgeführt, und die
Verwendung verschiedener Farben erleichtert in hohem Masse die
Orientirung. Das Werk, dessen äussere Ausstattung die bekannt
vornehme der L eh in a n n’sehen medicinischen Handatlanten ist,
dürfte sich sowohl für den Studirenden, als auch ganz besonders
für den Praktiker als werthvolles Nachschlagebuch auch weiterhin
bewähren.
*
II. Dasselbe gilt von dem anatomischen Atlas der geburts¬
hilflichen Diagnostik und Therapie; nur tritt hier, dem veränderten
Gegenstand entsprechend, die Ausstattung mit Abbildungen dem
Texte gegenüber mehr zurück.
*
III. Der Uebersetzer theilt mit, dass Auvard mit seinem
Büchlein, das er »Formulaire Gynecologique« nennt, durchaus nicht
ein ausführliches Handbuch der Frauenkrankheiten ersetzen, sondern
nur- diese in ihren Hauptformen kurz und anschaulich daislellcn
wollte. Diese Versicherung erscheint schon bei einem flüchtigen
Blicke in das Büchlein für überflüssig, denn kein Mensch wird hei
328
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 14
Durchsicht der 113 Seiten das Gegentheil annehmen. Die Illustra¬
tionen verblüffen oft durch ihre ungeheuere Naivität; sie ent¬
sprechen dem, was ein des Zeichnens vollkommen unkundiger
Lehrer oft zum besseren Verständnis der Hörer mit flüchtigem
Griffel an die Tafel wirft, erscheinen aber einer Reproduction ganz
und gar unwürdig. Der begleitende Text ist kurz, aber unvoll¬
ständig.
*
IV. Die vorliegende zweite Hälfte zum dritten Bande des
Handbuches der Gynäkologie bildet den Abschluss des gross ange¬
legten und gross durchgeführten Werkes. Veit selbst weist in der
Vorrede zum Schlussbande auf die grossen Schwierigkeiten hin,
die sich der raschen Vollendung desselben cntgegenstellten und
eine vielfache Arbeitsteilung erheischten. Er versäumt aber auch
nicht, zu betonen, dass in der Behandlung der einzelnen Fragen
eine weitgehende Uebereinstimmung herrscht, so dass die ver¬
schiedenen Schulen Deutschlands entstammenden Arbeiten doch ein
harmonisches Ganze bilden, und die Arbeit des Einen sich leicht
an die eines Anderen anlehnen konnte.
Diese Einigkeit tritt ganz besonders hervor in dem Streben
aller Mitarbeiter, die objective Basis unserer Kenntnisse in der
Anatomie und Aetiologie zu fördern. Diesbezüglich muss als muster-
giltig die erste Abhandlung in der ersten Abtheilung — jede
solche stellt einen ganz stattlichen Band dar — genannt werden,
in der v. Rosthorn die Krankheiten des Beckenbindegewebes
bespricht. Ein sehr ausführlicher, grösstentheils auf eigenen, mühe¬
vollen und nach eigenen exacten Methoden ausgeführten Unter¬
suchungen basirender anatomischer Excurs leitet zur Besprechung
der pathologischen Vorgänge und der Entzündungen des Becken¬
bindegewebes über, die in Aetiologie, pathologischer Anatomie, in
ihren klinischen Erscheinungen, in Verlauf und Behandlung ge¬
bührend gewürdigt erscheinen. Dann folgt ein Capitel über die
primären Neubildungen des Beckenbindegewebes und Bildungen aus
Resten embryonaler Organe, während ein kurzer Abschnitt über
Fremdkörper im Parametrium — aus redactionellen Gründen in
die zweite Abtheilung hineinverlegt — den Schluss bildet. Die
glückliche Verbindung von Anatom und Kliniker, wie sie dem Autor
zu eigen ist, lässt das Gelingen der mühevollen und schwierigen
Aufgabe begreiflich erscheinen. Die reichlich beigegebenen äusserst
gelungenen Abbildungen tragen in instructiver Weise zum Ver¬
ständnis des Textes bei.
In die Bearbeitung des Carcinoma uteri theilen sich
vier Autoren. W inter, der diesem Thema in seinem anatomischen
Theile seit langer Zeit volles Interesse zuwendet, bespricht die
Anatomie, Frommei die Aetiologie, Symptomatologie, Diagnose
und Radicalbehandlung, Gessner die palliative Behandlung des
inoperablen Carcinoms und Sarwey die Complication des Car-
cinoms durch Schwangerschaft. Die ersten zwei Abhandlungen
bringen leider nur sehr wenig, was in Bezug auf die praktischen
Erfolge von Wichtigkeit wäre. Mit Recht wird die Nothwendigkeit
einer möglichst frühzeitigen Diagnose für die Besserung der ope¬
rativen Resultate betont. (Referent kann nicht umhin, mit Genug¬
tuung darauf hinzuweisen, dass in den letzten Jahren immer mehr
Fälle von Seite der Hausärzte oft schon sehr frühzeitig erkannt
und behufs Operation der Klinik zugewiesen werden.) Ein weiterer
Fortschritt wäre möglicher Weise von der principiellen Anwendung
der abdominalen Totalexstirpation unter gleichzeitiger Ausräumung
der retroperitonealen Lymphdrüsen zu erwarten, doch stehen dem
zwei Bedenken entgegen; einerseits die erschreckend hohe Morta¬
lität dieser Operation und andererseits die principielle Frage, ob
denn thatsächlich das Carcinom des Uterus so rasch wie etwa das
der Mamma auf die Lymphdrüsen übergreift. Winter und F r om m e 1
verneinen diese Frage iür alle Formen des Uteruscareinoms und
wollen weitere Untersuchungen im Sinne Ries’ abwarten; Fr om¬
ni e 1 speciell betont die Seltenheit der Lymphdrüsenrecidive und
bezieht sich unter Anderem auf eine mündliche Mittheilung
f rounds, welcher bei der in letzterer Zeit principiell ausgeführ-
len Ausräumung der Iliaealdrüsen dieselben fast nie erkrankt fand.
Da derzeit in Wien einschlägige Untersuchungen in grossem Mass-
stabe vorgenommen werden, müssen wir den Resultaten derselben
mit Interesse entgegenblicken, da sie vielleicht geeignet erscheinen,
Klärung in die controverse Frage zu bringen.
Das Capitel über palliative Behandlung des inoperablen Car¬
cinoms erscheint für den praktischen Arzt zu wichtig, um hier im
Auszuge wiedergegeben zu werden, und wird Gessner den Dank
aller Derer eintragen, denen die undankbare und enorme Auf¬
opferung erfordernde Aufgabe zufällt, diesen Kranken im letzten
und schrecklichsten Stadium ihres Leidens beizustehen.
Die Arbeit Sarwey’s verwerthet die reichliche Casuistik zur
Formulirung folgender Schlusssätze: In der Schwangerschaft stellt
bei operablem Carcinom die unverzüglich vorgenommene vagi¬
nale Totalexstirpation des Uterus im Interesse der Mutter das
rationellste Verfahren dar; eine vorhergehende künstliche Entleerung
des Uterus erscheint in den ersten Schwangerschaftsmonaten über¬
flüssig, im fünften bis siebenten Monate dagegen wegen der be¬
trächtlichen Vergrösserung des Uterus angezeigt; in den zwei
letzten Monaten muss der Exstirpation des Uterus im Interesse
der lebensfähig gewordenen Frucht der abdominelle, eventuell der
vaginale Kaiserschnitt vorangehen. In der Schwangerschaft ist bei
inoperablem Carcinom im Interesse der Frucht, soweit irgend
möglich, ein exspectatives Verhalten mit rein symptomatischer Be¬
handlung bis zum normalen Ende der Gravidität angezeigt.
Während der Geburt ist bei operablem Carcinom an die
spontan erfolgte oder künstlich beendete Geburt die vaginale Total¬
exstirpation des frisch entbundenen Uterus sofort anzuschliessen;
bei . inoperablem, mit Gebärunmöglichkeit verbundenem Carcinom ist
wenigstens die Frucht durch Sectio caesarea zu retten.
Den Schluss der ersten Abtheilung bildet eine Besprechung
der Deciduoma m a 1 i g n u m durch Veit. Die eingehende Be¬
handlung des Themas ist in stark subjectiver Färbung gehalten
und bleibt Verfasser bei seiner alten Ansicht, dass zur Entwicklung
eines Deciduoms eine präexistente Erkrankung des Uterus (Sarkom)
nötbig sei. Die Therapie kann natürlich nur eine operative sein;
Verfasser zählt unter 89 Fällen 29, die durch die Operation vor¬
läufig und, wie es ziemlich sicher erscheint, einzelne definitiv ge¬
rettet erscheinen. Für die frühzeitige Erkenntniss wird ausser der
mikroskopischen Untersuchung curettirter Massen vor Allem der
Werth der diagnostischen Austastung des Uterus hervor¬
gehoben.
In der zweiten Abtheilung bearbeitet Winternitz die
Hämatokele, unter welchem Namen er nur die intraperitonealen
Blutergüsse verstanden wissen will; die extraperitonealen, die
Hämatome, hat v. Rosthorn in seiner Arbeit besprochen. Aetio-
logisch kommt weitaus in den meisten Fällen die Graviditas tubaria
mit ihren Ausgängen in Abort oder Ruptur in Betracht, doch
erscheint es nöthig, darauf hinzuweisen, dass, wenn auch selten,
zur Zeit der Menstruation, dann bei anderweitigen Tubenerkrankun¬
gen Pelveoperitonitis, Infectionskrankheiten, Varicositäten im Liga¬
mentum latum, malignen Neoplasmen etc. Hämatokelen entstehen
können. Die Besprechung des pathologisch-anatomischen Befundes,
der Symptome, des Verlaufes, der Häufigkeit und Diagnose leitet
hinüber zur Behandlung der Therapie. Exspectatives Verfahren
eignet sich besonders für uncomplicirte Hämatokelen, sowie für
frühe Tubaraborte, wobei natürlich vor Massage und heissen Aus¬
spülungen zu warnen ist. Tritt keine Resorption ein, oder wächst
die Hämatokele, so muss activ eingegriffen werden; auch sociale
Verhältnisse können zur Operation drängen, da die exspectative
Behandlung meist viel Zeit erfordert. Winternitz ist kein An¬
hänger der Punction, die vaginale Incision will er auf Fälle von
vereiterten oder verjauchten grossen Hämatokelen oder solche bei
herabgekommenen Kranken beschränkt wissen; als der normale
Weg erscheint ihm die Laparotomie. Zur Stillung parenchymatöser
Blutungen empfiehlt er warm die Tamponade nach Mikulicz.
Die Aetiologie und pathologische Anatomie der Tuben¬
erkrankungen hat in Kl ein bans einen würdigen Bearbeiter ge¬
funden. Es erscheint unmöglich, der Fülle von Material und der
entsprechenden Verwerthung desselben im Rahmen eines Referates
gerecht zu werden. Hervorzuheben ist die strenge Gliederung des
Stoffes, die Beherrschung der Literatur und die reichliche Aus-
■ stattung mit Abbildungen, von denen 51 im Texte und 7 auf
Tafeln beigegeben sind. Besonders letztere sind geradezu muster-
giltig ausgeführt. — Den klinischen Theil behandelt Veit in an¬
regender und fesselnder Form. Die Symptome, Diagnose und Pro¬
gnose werden eingehend behandelt, ganz besonders das Capitel über
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
329
Therapie; dass letzteres mit einem Abschnitte über Prophylaxe be¬
ginnt, muss rühmend hervorgehoben weiden, doch dürften leider
die darin gegebenen Vorschriften nur selten befolgt werden. Die
conservativen Methoden, wie Tamponbehandlung, Badecuren,
Lösung von Verwachsungen durch langsame Dehnung oder brüske
Zerreissung mit oder ohne Colpotomia anterior (A. Martin), die
Behandlung des Endometriums, vaginale Incision und die Salpingo-
tomie finden weniger in ihrer Technik, als in ihren Indicationen
und Contraindicationen eine erschöpfende Besprechung. Von den
operativen Methoden will Verfasser die vaginale Uterusexstirpation
(mit Zurücklassung der Anhänge) nur als Nothbehelf gelten lassen,
wenn es bei geplanter vaginaler Radicaloperation nicht möglich ist,
die Anhänge zu entfernen; ausserdem kommt die Operation auch
noch in Betracht, wenn nach der »Castration« die Entzündung an¬
dauert oder Fisteln Zurückbleiben, die nicht heilen. Die Darmver¬
letzungen, die bei der vaginalen Radicaloperation nicht so selten
Vorkommen, erfordern eine besonders strenge Indicationsstellung zu
dieser Operation. Nach der Exstirpation der Adnexe per laparo-
tomiam drainirt Veit nur, wenn der Darm oder der Ureter ver¬
letzt wurde und wenn nach Beendigung der Laparotomie noch
weitere Verunreinigung der Bauchhöhle sicher zu erwarten ist. Die
Mitentfernung des Uterus findet ihre Berechtigung in der Unmög¬
lichkeit, auf vaginalem Wege die Tubensäcke vollständig zu ent¬
fernen und darin, dass die Dauererfolge der Salpingektomie oft
recht unvollständige sind und der Uterus nach dieser ein functions¬
unfähiges Organ darstellt, das höchstens Beschwerden verursacht
und nicht so selten nachträglich exstirpirt werden muss. Die vagi¬
nale Cöliotomie ist zur Entfernung nur einer Tube der zu wählende
Weg. Die Indication zum operativen Eingreifen findet Veit stets
bei Tubentuberculose, malignen Erkrankungen, Hämatosalpinx bei
Genital Verschluss u. dgl., bei anderen Erkrankungen ist die Ope¬
ration als Ultimum refugium anzusehen, zu dem erst geschritten
werden soll, wenn die conservativen Behandlungsmethoden im
Stiche Hessen; allerdings werden da die äusseren Verhältnisse der
Patientin oft zur Operation drängen. Die Mortalität nach abdomi¬
naler Adnexenexstirpation beträgt 5*7 °/0, nach vaginaler Radical¬
operation 4‘49%. Die Dauererfolge ersterer betragen 85% ; bei
den übrigen wurde der Erfolg durch infectiöse Uteruskatarrhe und
klimakterische Beschwerden beeinträchtigt. Bei vaginaler Radical¬
operation sind 98% Dauererfolge zu verzeichnen. Veit wählt
daher diesen Weg, besonders dann, wenn die Bauchdecken sehr
fettreich sind und der Uterus gut beweglich, mithin das Ligamentum
infundibulo-pelvicum gut zugänglich ist. Zahlreiche Verwachsungen
oberhalb des Beckeneinganges dagegen bedingen die Laparotomie,
wobei man Tuben und Ovarien entfernt und die Mitnahme des
Uterus sehr erwägenswerth erscheint, wenngleich derzeit noch nicht
sicher zu bestimmen ist, ob dadurch die Resultate wesentlich besser
werden.
Die allgemeine Peritonitis, so weit sie in das Gebiet der
Gynäkologie reicht, wurde von Doederlein in vollständig mo¬
derner, klarer und übersichtlicher Weise bearbeitet. Hervorzuheben
ist, dass die Frage nach der Operation dahin beantwortet wird,
dass diese ebensosehr bei localisirter Peritonitis gerechtfertigt ist,
als ihr Erfolg bei der diffusen Entzündung unsicher ist und sich
für diese allgemein gütige Normen nicht aufstellen lassen. Die
Prognose bei Bauchfelltuberculose ist nach Doederlein weniger
günstig, als im Allgemeinen angenommen wird; die Operation
zeigt 48%, bei Peritonitis tuberculosa sicca sogar 72% Miss¬
erfolge.
Das Sarcoma uteri bespricht G e s s n e r. Er hat durch seine
mühevolle und ausserordentlich eingehende Darstellung des Standes
der Lehre vom Uterussarkom unser Wissen um Vieles erweitert
und dieses in anschaulicher Form geschildert; in praktischer Be¬
ziehung sind neue Schlüsse nicht zu ziehen. Im Anschlüsse gibt
er noch eine Uebersicht über das Endothelioma uteri und die
bisher bekannten Fälle.
Ein ausserordentlich genau gearbeitetes Autoren- und Sach¬
register bildet den Schluss dieses Bandes und damit des ganzen
Werkes, das stets dem wissenschaftlich Arbeitenden ein unent¬
behrliches Handbuch, der deutschen Wissenschaft eine unvergäng¬
liche Zierde bleiben wird.
*
V. Der mit sieben Abbildungen im Texte ausgestattete, den
Aerzten für die Praxis, den Studirenden für das Rigorosum ge¬
widmete Leitfaden Piering's enthält eine kurz, knapp und klar
gehaltene Uebersicht über die Aetiologie, Diagnose, Prognose und
Therapie des Abortus. Die darin ausgesprochenen Grundsätze ent¬
sprechen vollkommen denen der Wiener Schule; das Büchlein wird
am besten charakterisirt durch das Schlusswort des Autors: »Wie
überall in der Geburtshilfe, so führt auch beim Abortus ein
möglichst conservatives, ruhiges Vorgehen am sichersten zum Ziele.
Gleich dem Vorgehen bei normaler Geburt, erfordert auch der
Abort unser Einschreiten nur dann, wenn der Verlauf von der
Norm abweicht. Ohne strenge Indication (Fieber. Blutung, Jauchung)
darf kein Eingriff vorgenommen werden, besonders nicht mit In¬
strumenten. « Savor.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
98. Die interne Behandlung der Hämorrhoiden.
Von Boas (Berlin). Bei der Therapie der Hämorrhoiden muss man
sich vor Augen halten, dass dieselben, von seltenen Gomplicationen
abgesehen, ein locales Mastdarm leiden sind und, wie F r e-
r i c h s, v. Recklinghausen, Esmarch und Nothnagel
in letzter Zeit nachweisen, nichts mit den venösen Stauungen zu
thun haben, welche von Herz, Lunge oder Leber ausgehen. Unter
den localen Ursachen spielen jene die Hauptrolle, welche den Ab¬
fluss des Blutes nach der Pfortader behindern können: Tumoren
des Dickdarmes, der schwangere Uterus, Adnexerkrankungen, Blasen¬
steine, Darmgeschwüre, Stenosen, Darmkatarrhe u. A. Die häufigste
Ursache für Entstehung von Hämorrhoiden liegt jedoch in dem
Drucke, welchen eingedickte, stagnirende Kothmassen in der Flexur
oder der Ampulle des Rectums aut die Darmgefässe auszuüben
pflegen und folgerichtig besteht die häufigste Therapie in der Ver¬
hütung der Ansammlung grösserer Fäcalmassen, beziehungsweise
in der Beseitigung der habituellen Obstipation. Abführmittel sind
hier im Allgemeinen unzweckmässig; das Ziel der Therapie besteht
vielmehr darin, täglich einen breiigen Stuhl herbeizuführen, zu
welchem Zwecke fast allgemein eine reizlose, »blande Diät« ver¬
ordnet wird, welche jedoch nach Boas geradezu das geeignetste
Mittel ist, um die Hämorrhoiden in ihrem Bestände zu erhalten
und die Obstipation zu begünstigen. Am Platze sind Gemüse, Salze,
Zuckerarten u. s. w. Neben der Diät ist reichliche Bewegung, ge¬
naue Reinigung des Anus nach jeder Stuhlabsetzung (am besten
mit Wattebäuschchen in Alaunlösung getränkt) anzuordnen. In späteren
Stadien sind milde Abführmittel nicht zu umgehen, Klysmen jedoch
so viel als möglich wegen der localen Reizung zu vermeiden.
Weiters kommen Mineralwässer, Bade- und Traubencuren in Be¬
tracht; bei Excoriationen der Hämorrhoiden Suppositorien (Rp.
Chrysarob. 0'08, Jodof. 002, Extr. bellad. 0*01, Butyr. cacao. M.
f. suppos. D. S. zwei- bis dreimal täglich ein Supp.), oder Salben
(Chrysar. 0’8, Jodof. 0'3, Extr. bellad. 0'6, Vaselin 150. D. S. mehr¬
mals täglich aufzustreichen) in Betracht. Bei äusseren Knoten em¬
pfiehlt es sich: Kalii jodat. 2'0, Jodi puri 0'2, Glycer. 35'0 mit
einem Glasstabe aufzutragen. Treten habituelle Blutungen aus den
Knoten trotz normaler Defäcation auf, so empfiehlt es sich, vonExtr. tluid.
hamamel. virg. (Parke, Davis & Co.) durch vier Wochen dreimal
täglich einen Theelöffel in einem Weinglas Wasser, später zwei-, be¬
ziehungsweise einmal täglich durch weitere acht Wochen nehmen
zu lassen. Mehrfach werden auch Suppositorien von dem Mittel
empfohlen: Rp. Extr. fluid, hamamel. (Parke, Davis & Co.) 0'2o,
Disp. in suppos. opercul. dos. 20. D. S. zwei- bis dreimal täglich
ein Supp.). Bei acuten Blutungen tritt selbstverständlich eine sorg¬
fältige Tamponade des Rectums in ihr Recht. Weitere Gomplicationen
und Behandlungsmethoden fallen in das chirurgische Gebiet.
(Die Therapie der Gegenwart. 1899, Nr. 10.)
*
99. Zur therapeutischen Verwerthung von See¬
reisen. Von Dr. Weber (London). Seereisen sollen überhaupt
nur Personen empfohlen werden, welche das Seeleben gern haben
oder vertragen. In den Anfangsstadien der Lungentuberculose
können dieselben mit grossem Nutzen unternommen werden; in
vielen Fällen lassen sie sich jedoch durch andere klimatische und
hygienische Methoden ersetzen. Bei gewissen Zuständen der I ubei-
330
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 14
culose nervösen Ursprungs verdienen aber die Seereisen den Vorzug.
In prophylaktischer Hinsicht sind lange Seereisen bei Lungentuber-
culose und Scrophulose von Werth; aber auch hier lassen sie sich
durch Aufenthalt in Küsten- und Höhenklimaten ersetzen. Letzteres
eilt auch von der Bedeutung der Seefahrten bei chronischem Kehl-
k o p f- und Bronchialkatarrh; in diesen Fällen ist eine Reise
im Milteimeer, nach Madeira, den Azoren, nach Westindien meist
von grossem Vortheil. Bei A s th m a ist der Erfolg sehr un¬
sicher. Bei Hautschwäche, Neigung zu Erkältungen, Rheu-
m a t i s m u s empfehlen sich Seefahrten, sind aber hei Gicht meist
ohne Nutzen. Im Gegentheile: Gichtanfälle sind am Meere
sogar häufiger als am Lande. Bei Störungen in der Gallen¬
absonderung mit Neigung zu Gallensteinbildung sollen Seereisen
vermieden werden. Verstopfung in Folge von Darmträgheit
wird durch Seereisen meist vermehrt, ausser in heissen Zonen,
in welch letzteren aber die Neigung zu Durchfall verschlimmert
wird. In manchen Krankheiten der Harn- und Geschlechtsorgane
können Seereisen die Behandlung wesentlich unterstützen, sowie
sie auch hei manchen psychischen Alterationen empfehlenswerth
sind; hei Dipsomanie bilden sie, insofern wirklich auf Schiffen
keine geistigen Getränke verabreicht werden, ein wichtiges Be¬
handlungsmittel. Eine Contraindication gegen Seereisen geben
ab: Dauernde Neigung zu Seekrankheit, schwächliche Constitution,
Neigung zu Fieber, beständige Appetitlosigkeit, Dilatatio cordis,
Leberanschwellung, Atherom, vorgeschrittene Lungentuherculose mit
Ausnahme der ganz stationär bleibenden Fülle, grosse Neigung zu
Hämoptoe, Epilepsie, Schlaflosigkeit auf dem Meere, Glaukom,
Neigung zu maniakalischen Anfällen, periodischem Irresein und
Selbstmord. — (Zeitschrift für diätetische und physikalische Therapie.
Bd. III, Heft 5.)
*
100. (Aus dem hygienischen Institute zu Königsberg.) Ueber
die Kohlensäureverunreinigung d e r L u f t i n Z i m m ern
durch Petroleum Öfen. Von Dr. Babucke. Die Unter¬
suchung wurde in einem sehr kleinen Zimmer mit nur 12 cm3
Luftinhalt angestellt. Die Normalkohlensäuremenge (1%0) wurde
hinnen kurzer Zeit in einem Maasse überschritten, welche den Auf¬
enthalt in einem solchen Raume unräthlich erscheinen lässt. Doch
ist zu bemerken, dass so kleine Räume in Wirklichkeit doch meist
nur zu vorübergehendem Aufenthalte benützt werden. — (Zeit¬
schrift für Hygiene und Infectionskrankheiten. Rd. XXXII, Heft 1.)
*
101. Ueber das Plasmon (Caseon) als Eiweiss-
ersatz, nebst Beiträgen zur Lehre vom Eiweiss-
Stoffwechsel. Von Dr. Bloch (Moabit, Berlin). Die künstlichen
Eiweisspräparate lassen sich in zwei Gruppen bringen. In die erste
gehören diejenigen, welche hauptsächlich anregend wirken, während
ihr Nährwerth geringer ist; in diese reihen sich ein die Fleisch
und Bouillonextracle, Fleischsäfte (Puro, Carno, Meat juice, Beef
juice). Die zweite Gruppe umfasst die Präparate, welche eine er¬
nährende Wirkung entfalten können; dahin gehören das Fleisch¬
pulver, Tropon, Eucasin, Nutrose, Sanatogen, Albumosen (Somatose)
und Peptone. Die beiden letzteren reizen in grösserer Menge die
Magen- und Darmschleimhaut. Der Preis dieser Präparate ist zu¬
meist hinsichtlich ihres Nährwerthes ein ausserordentlich hoher.
Um ein Beispiel anzuführen, kosten 1000 g Eiweiss in Form von
Erbsen P70, als Tropon 4'80, als Kuhmilch 5'60, als Ochsen¬
fleisch (170, als Nutrose 2730, als Somatose aus Milch 70’00, als
Meat juice 1237 10 Mark! Das Plasmon, welches aus der Mager¬
milch gewonnen wird, stellt sich nicht höher als Tropon. Alle
dessen Eigenschaften inbegriffen, lässt sich behaupten, dass das
Plasmon hei seiner vorzüglichen Ausnützbarkeit das Eiweiss der
anderen Nahrungsmittel vollständig ersetzen kann. — (Zeitschrift
für diätetische und physikalische Therapie. Bd. Ill, Heft 6.)
*
102. lieber antitoxische Eigenschaften der
Galle eines T e t a n i k e r s. Von Prof. V i n c en z i (Sassari).
Die Galle zeigte im Reagensglase so ausgesprochene antitoxische
Eigenschaften, dass 1 cm 3 von ihr die fünfzigfache tödtliche Dosis
Tetanusgift zu neutralisiren im Stande war. Dieselbe zeigte jedoch
keine immunisirende Eigenschaft; denn alle Meerschweinchen, denen
zuerst Galle und einige Tage nachher Telanusgift injicirt worden
war, gingen zu Grunde. Die normale Galle vom Menschen und
verschiedenen Thieren zeigte keine antitoxische Eigenschaften. —
(Münchener medicinische Wochenschrift. 1899, Nr. 37.)
*
1 03. Ueber einenFall von gleichzeitiger Intra¬
un d Extrauteringravidität. Von Dr. Mond (Hamburg).
Der betreffende Fall betraf eine 28jährige Frau, die schon fünf
normale Gehurten überstanden hatte. Die Extrauteringravidität — be¬
ziehungsweise der Tuharabort — war in Folge der leichten äusseren,
der stärkeren inneren Blutung und durch die Palpation erkannt
und operativ angegangen worden. Bei der Laparotomie constatirte
man auch eine etwa der zehnten Woche entsprechende Gravidität
des Uterus, welche den Zeitverhältnissen nach der extrauterinen
Schwangerschaft entsprach. Beide sind demnach auf eine und die¬
selbe Conception zurückzuführen. Die Frau wurde fünf Monate
hernach leicht von einem kräftigen Kinde entbunden und hat ein
normales Wochenbett durehgemacht. — (Münchener medicinische
Wochenschrift. 1899, Nr. 37.)
*
104. Ueber mechanischeBehandlungvo n Unter¬
schenkelgeschwüren. Von Dr. Heermann (Spandau). Ein
viereckiges Lederstück von Höhe und etwas grösserem Umfange als
der zu behandelnde Theil des Unterschenkels wird an der einen
Seite mit Schnallen von 2 bis 4 cm Breite, die dicht aneinder ge¬
reiht sind, besetzt und von der anderen Seite her so in Riemen
geschnitten, dass jeder Schnalle ein Riemen entspricht, alle Riemen
aber durch einen Randstrefien an der Schnallenseite Zusammen¬
hängen. Handelt es sich um ein schmerzhaftes Geschwür,
dann werden ausserhalb der schmerzenden Stelle einige Rollen
Leinen oder Gaze, in die ein Stück Kork eingewickelt ist, durch
eine Mullbinde so befestigt, dass die schmerzhaften Stellen und die
Geschwürsfläche hohl liegen. Ueber die Mullbinde wird die Leder¬
binde so geschnallt, dass eine Entspannung des Geschwürsgrundes
eintritt. Die sonstige medicamentöse Behandlung wird, wie üblich,
fortgesetzt. Zeigt das Geschwür keine Schmerzhaftigkeit, aber hohe
Ränder, so werden die obgenannten Rollen auf diese Ränder selbst
aufgelegt. Mit einem derartigen Verbände kann der Kranke beliebig
herumgehen; nur hei Wunden mit auffallend schmierigem Belage
ist Vorsicht geboten und bei acut entzündetem Zustande die Me¬
thode nicht geeignet. Geschwüre, welche auf diese Weise im Umher¬
gehen zur Heilung gebracht werden, sollen mit einer festeren Narbe
als es sonst der Fall zu sein pflegt, heilen. — (Deutsche medi¬
cinische Wochenschrift. 1899, Nr. 37.)
*
105. (Aus dem städtischen Krankenhause in Gharlottenburg.)
Ueber Giftwirkungen des Extractum f i I i c i s m a r i s
aether eum und ihre Verhütung. Von Prof. Grawitz.
Die Dosis des Mittels soll bei der Frage nach der Giftwirkung nicht
von ausschlaggebender Bedeutung sein. Man begnügt sich aber
dennoch, Erwachsenen 8 — 10, Kindern über sechs Jahre die Hälfte
davon zu geben. Oelige Abführmittel sind zu vermeiden und die
Cur, besonders bei geschwächten Personen, mit besonderer Vorsicht
einzuleiten, also wenn z. B. eine antisyphilitische Cur kurz vorher
durchgemacht worden ist, wenn schwere Anämien bestehen. Eine
Schwächung des Organismus, welche für eine Giftwirkung des Filix-
extractes in Betracht kommt, soll auch die sogenannte »Vorbe-
reitungscur« bedeuten. Grawitz hat auf letztere schon seit Jahren
verzichtet. Die Patienten nehmen am Vortage wie gewöhnlich ihre
Mahlzeiten ein, am Morgen des Curtages erhalten sie auf nüchternen
Magen Karlsbader oder Bittersalz und, nachdem diese ihre Wirkung
gethan, das Mittel in Kaffee. — (Münchener medicinische Wochen¬
schrift. 1899, Nr. 38.)
*
106. Sechster Bericht der Augenahtheilung in
0 1 m ü t z über das Jahr 1899. Von Primarius Dr. E d u a r d
Zirm. Es standen 898 Augenkranke in Behandlung, von welchen
845 während des Jahres entlassen wurden, und zwar: 729 geheilt
(86-2%), 63 gebessert (7'5%), 20 ungeheilt (2'4%, 33 (3’9%)
wurden abtransferirt. Staaroperationen: 159, darunter 105 Lappen¬
extractionen. Iridektomien: 67. Gesammtzahl der Operationen: 466,
Von den mit Lappenschnitt nach oben operirlen 105 Staaren älterer
Kranker (96 mit und 9 ohne Iridektomie) war bei 101 der Erfolg
ein günstiger. In vier Fällen trat Wundeiterung auf. Pi.
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
331
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
In der vergangenen Woche spielte sich hier vor den Geschworenen
eine Gerichtsverhandlung ab, die die ganze Stadt in Athem hielt. Der
Vater eines in einem hiesigen Kinderspitale an Diphtherie verstorbenen
Kindes hat eine Flugschrift veröffentlicht, welche gegen die im Spitale
thätigen Aerzte, die dort den Wartdienst besorgenden Schwestern, wie
überhaupt gegen die ganze Verwaltung des Spitales die schwersten
Beschuldigungen enthielt. Es ist nicht unsere Sache, zu untersuchen,
inwieweit hinter diesen heftigen Anklagen eine Mache der Anhänger
der — sit venia verbo — „Naturheilkunde“ zu suchen ist, mit denen
der von den Aerzten auf Verleumdung geklagte Verfasser der Bro¬
chure in mehrfacher Verbindung stehen soll. Wir wollen vielmehr
annehmen, dass hier thatsächlich der Vaterschmerz sich Luft
gemacht und nicht gemeine geschäftliche Motive die Abfassung
und den eifrigen Vertrieb der Schrift veranlasst haben. Den Ge¬
schworenen schien für die weitaus grösste Mehrzahl der vom Ange¬
klagten erbrachten Anschuldigungen der Beweis der Wahrheit erbracht.
Dies war ja vorauszusehen. Es muss ja jedem Laien geradezu entsetz¬
lich scheinen, wenn man ihm erzählt, dass man den Diphtheriekindern
gewaltsam den Mund öffnet, ihnen Mundkeile einführt, dass die Kinder
hiebei bluten u. s. f.
„C’est le ton qui fait la chanson“, und die Laien sind ja ausser¬
dem bei uns zu Lande so vortrefflich darauf präparirt, den ärztlichen
Handlungen mit dem grössten Misstrauen zu begegnen. Dieselben
Leute, die ihr Kind in der häuslichen Noth den denkbar ungünstigsten
Verhältnissen überlassen, skandalisiren sich darüber, wenn ein unab¬
weisbares, schwer krankes Kind zunächst im Drange der Geschäfte und
aus Platzmangel in ein noch nicht umgebettetes Lager gebracht werden
muss, und wenn ein mit Ungeziefer eingebrachtes Kind nicht sofort
in radicaler Weise davon befreit wird, so hat es die Läuse natürlich
im Spital acquirirt. Wenn der Arzt es mit seiner Verantwortlichkeit
nicht vereinbaren kann, ein Kind auf der Höhe der Erkrankung oder
mit noch offener Wunde der häuslichen „Pflege11 zurückzugeben, so ist
auch sofort der Mythus von den wissenschaftlichen Experimenten zur
Stelle, die man mit dem Kinde im Spitale noch vorhabe. Da finden sich dann
Zeitungen, die mit fetten Lettern es abdrucken, dass der Portier des
Hauses den Kindern den Leib aufschneide, den Schädel durchsäge und
die Wirbelsäule aufstemme! Entsteht — trotz vermeintlicher Beob¬
achtung aller Cautelen der Asepsis — im Anschluss an eine Serum-
injection ein Abscess, der operativ eröffnet werden muss, dann wird
sofort die Gelegenheit ergriffen, die schädlichen Wirkungen der Serum¬
therapie ins grellste Licht zu stellen, und man darf auch dessen ge¬
wärtig sein, dass sich auch bald der „Volksfreund“ im Keichsrathe
finden wird, der mit beweglichen Worten all das Unheil schildern wird,
das die Schulmedicin mit ihren „Impfungen“ über die Menschheit bringt,
und die Regierung wird von ihm aufgefordert werden, ihr förderndes
Augenmerk den Bestrebungen der „Naturheilmethode“ zuzuwenden.
Der Sachkundige weiss, w7as er von all diesen Dingen zu halten hat,
der Laie, der in der Beurtheilung der Verhältnisse lediglich auf sein
Gefühl angewiesen ist, kann unter dem Eindrücke der Aussagen
schmerzgebeugter Eltern, die den unabwendbaren Tod ihres Kindes be¬
klagen, nicht anders als ein verdammendes Verdict fallen.
Ferne steht es uns, einen Schuldigen decken zu wollen und
. Missstände, wo immer sie bestehen, gutheissen zu wollen. Aber wer je
Gelegenheit gehabt, in das Getriebe unserer Kinderspitäler nur einiger-
massen Einblick zu gewannen, der wird auch in Rücksicht auf die un¬
geheure Ueberbürdung der dort unter so schwerer Verantwortung
arbeitenden Aerzte gewiss mit seinem verdammenden Urtheile
etwas zurückhaltender werden. Man wird es dann, wenn nicht ent¬
schuldigen, so doch erklärlich finden, wenn ein junger Arzt unter der
Last der grossen Anforderungen und der so hochgestellten vielseitigen
Ansprüche sein psychisches Gleichgewicht nicht immer aufieeht erhält
und sein Temperament in einer das allgemeine Empfinden verletzenden
Weise zeitweise durchbricht. Der ferner Stehende sieht bei Beurtheilung
solcher Verhältnisse nur den einzelnen Fall und fordert für diesen die
Bethätigung aller zweifellos gebotenen Rücksichten. Wem aber das
menschliche Elend tagtäglich hundertfach in seiner traurigsten Form
begegnet, wer berufsmässig mit dem Massenunglück und nicht nur mit
dem individuellen sich zu beschäftigen genötliigt ist, der büsst, auch
beim besten Willen sich auf der Höhe aller gerechten sittlichen For¬
derungen zu halten, doch mit der Zeit einigermassen von jener Em¬
pfindlichkeit für das individuelle Elend und jener Anpassungsfähigkeit
an die individuellen Empfindungen ein, die eine der wichtigsten Grund¬
lagen gedeihlich ärztlichen Wirkens sind. Es ist bedauerlich, dass oft
genug dem so ist — aber es ist menschlich, allzumenschlich.
Möge doch aus dieser Gerichtsverhandlung allseitig die Lehre
gezogen werden. Es möge den Aerzten eingedenk bleiben, dass all die
Wohlthaten, die sie vielen Tausenden erwiesen haben, die Klagen
einiger weniger Unzufriedener nicht aufwiegen können. Staat und
Gesellschaft aber mögen ihrerseits nun endlich an die Verpflichtungen
erinnert werden, die sie den armen kranken Kindern gegenüber haben.
Es muss endlich durch entsprechende Dotirung der bestehenden Kinder¬
spitäler, die alle in hohem Grade nothleidend sind und dem grossen
Andrange Hilfsbedürftiger nicht Stand halten können, und vor Allem
durch die Errichtung neuer Kinderspitäler dem oft genug geschilderten
Jammer und der unverantwortlichen Ueberbürdung von Aerzten und
Pflegerinnen ein Ende gemacht weiden. A. F.
*
H a b i 1 i t i r t : Dr. L. Neumaye r, Assistent am anatomischen
Institute in München.
*
Kundmachung. Mit Beziehung auf die Kundmachung der
k. k. niederösterreichischen Statthalterei vom 31. October 1882,
Z. 42.484, L.-G. und V.-Bl. Nr. 59, sowie auf das Gesetz vom
16. Januar 1896, R.-G.-Bl. Nr. 89 ex 1897, wird bekannt gegeben,
dass die zunächst für Aspiranten auf Marktcommissär¬
stellen jährlich abz uh altenden Curse: a) über mikro¬
skopische Fleischbeschau, l) über vegetabilische Nahrungs- und Genuss¬
mittel und die mit denselben leicht zu verwechselnden Giftpflanzen,
c) über chemische Technologie der menschlichen Nahrungs- und Ge¬
nussmittel, und zwar der erste in der Zeit vom 23. April bis 5. Mai
l. J. täglich mit Ausnahme der Sonn- und Feiertage von ^ll bis
1/2 1 Uhr Vormittags, der zweite und dritte Curs vom 23. April an
bis Anfangs Juli Montag, Mittwoch und Freitag von 3 — 5 Uhr Nach¬
mittags in einem vor Beginn durch Anschlag an der k. k. allgemeinen
Untersuchungsanstalt für Lebensmittel bekannt zu gebenden Hörsaale
stattfinden werden. Der Curs über Fleischbeschau wird im k. und
k. Militär-Thierarzneiinstitute in Wien von Prof. Dr. Johann
Czokor abgehalten werden. Der Unterricht über vegetabilische
Nahrungs- und Genussmittel wird unter Oberaufsicht, des
k. k. Professors für Hygiene, des Obersauitätsrathes Dr. Max
Gruber durch den Adjuncten der allgemeinen Untersuchungsanstalt
für Lebensmittel, Privatdocenten Dr. Josef Hockauf, der Curs
über chemische Technologie der menschlichen Nahrungs- und Genuss¬
mittel durch den k. k. Oberinspector der Untersuchungsanstalt, Privat¬
docenten Dr. Gustav Schacherl, ertheilt werden. Diebetreffenden
Prüfungen finden nach Schluss der Curse statt. Aerzte, Tbierärzte,
Aspiranten auf Vieh- und Fleischbeschauer-, sowie auf Marktcommissärs¬
stellen und andere, welche an diesen unentgeltlich abzuhaltenden Cursen
theilnehmen wollen, haben sich vor Beginn derselben bei dem Rectorate
des k. und k. Militär-Thierarzneiinstitutes und der thierärztlichen Hoch¬
schule in Wien, beziehungsweise in der k. k. allgemeinen Unter¬
suchungsanstalt für Lebensmittel in Wien, IX., Schwarzspanierstrasse 7,
zu melden. W i e n, am 23. März 1900. Von der k. k. niederöster¬
reichischen Statthalterei.
*
Wir erhalten folgende Zuschrift : Organisations sitzung.
In der am 24. v. M. stattgefundenen Sitzung des Centralausschusses
der Wiener Aerzteorganisation („Verband der Aerzte Wiens“) wurde
auf Grund einer vom Margarethener Aerzteverein eingebrachten Re¬
solution dem Bedauern Ausdruck verliehen, dass in der eben tagenden
Krankenhaus-Enquete die Vertretung der praktischen Aerzte keine Be¬
rücksichtigung gefunden habe, und es wurde beschlossen, an mass¬
gebender Stelle das Ersuchen vorzutragen, dass diese Ausserachtlassung
wieder wettgemacht werden möge. Um die bereits von der Kammer
mit viel Fleiss und Mühe, leider aber mit w7enig Erfolg bearbeitete
Ambulatoriumfrage vielleicht doch einer den Interessen der
praktischen Aerzte Rechnung tragenden Lösung näher zu
bringen, wurde eine achtgliederige Ambulatoriumscommission eingesetzt,
welche neuerlich die Ambulatoriumsfrage zu studiren hat. — Der Ver¬
treter der Zahnärzte referirte über die Lage der Zahnärzte und
deren Schädigung durch behördlich privilegirte C u r pfuscher; da
in Oesterreich die Heilkunde sowohl im Gesummten, als auch in ihren
einzelnen Zweigen nur von Doctoren ausgeübt werden darf, sind die
Genehmigung ausländischer Zahnärzte und die Erweiterung der gewerb¬
lichen Befugnisse der Zahntechniker in das Gebiet der Heilkunde hinein,
wie sie dermalen seitens des Ministeriums des Innern und verschiedener
Statthaltereien geübt werden, als ungesetzlich zu betrachten; ein dem
Ministerium zu überreichendes Memorandum spricht den V unsch aus,
dass derartige „ausnahmsweise Praxisbewilligungen“ in Hinkunft unter¬
bleiben mögen, da das Ministerium wohl die oberste Aufsichts¬
behörde über die Sanitätspersonen führe, jedoch nicht berechtigt
sei, Sanitätspersonen zu creire n. Die Allgemeinheit der Aerzte
geht diese Frage aus dem Grunde an, weil durch die Praxisberechtigung
gewisser Zahntechniker ein gefährliches Präjudiz für andere lächei
der Heilkunde geschaffen ist. — Der grösste Theil der \ erhandlungen
beschäftigte sich jedoch mit der Meister kr ankencassen frage.
Es wurde beschlossen, dass jene wenigen M iener Aerzte, deren ehien-
wörtliche Erklärungen noch ausstelien, neuerlich aufgefordert weiden,
dieselben innerhalb acht Tagen au die Organisation einzuschicken;
332
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 1
nach diesem Zeiträume werden die Säumigen den Bezirksvereinen
nominirt und durch deren persönliche Intervention zur Abgabe
der Erklärung veranlasst werden ; da es aber trauriger Weise doch
einzelne Aerzte gibt, welche trotz ausdrücklichen Beschlusses der
Kammer durch Annahme von (Control-)Stellen bei den Meistercassen
die Collegenschaft schwer schädigen, werden die Aerzte Wiens schon
heute gebeten, dem Centralausschusse solche Aerzte zur Kenntniss
zu bringen, damit derselbe die Namen derselben dem zuständigen
Bezirksvereine behufs gütlicher Intervention zum Zwecke der Nieder¬
legung dieser Stellen bekanntgeben kann; gegen jene Aerzte, welche
sich dem gemeinsamen Votum der Wiener Aerzteschaft gegenüber ab¬
lehnend verhalten und trotz desselben standeswidrig angenommene
Meistereassenstellen beibehalten, ist mit schroffer Rücksichtslosigkeit
vorzugehen, und in erster Linie werden deren Namen veröffentlicht.
Die erste Ceutralausschusssitzung bot den Eindruck, dass die Organi¬
sationsidee unter der überwiegenden Majorität der Aerzte Wiens warme
Freunde und Förderer besitzt und dass die Solidarität der Aerzte
gewiss nur Gutes erreichen wird.
*
Unterstützungsverein der Aerzte Wiens. Ein
neuer wirthschaftlicher Verein ist entstanden durch die am 6. v. M.
erfolgte Constituirung des „U nter Stützungsvereines der
Aerzte Wien s“, eines Vereines, welcher in gewissem Sinne eine
Aelinlichkeit mit dem „Todfall-Unterstützunginstitut der Aerztekammer
in Oberösterreich“ und mit ähnlichen Einrichtungen bei anderen
Ständen hat. Er ist eine auf dem Principe der Selbsthilfe aufgebaute
Sterbecassa. Im Falle des, aus was immer für Gründen, ein¬
getretenen Ablebens eines Mitgliedes erhalten die Hinterbliebenen des
Verstorbenen, beziehungsweise eine andere von ihm vorher (sub
Couvert; namhaft gemachte Person in discretester Weise aus den
Vereinsmitteln sofort einen Betrag, dessen Höhe sich nach der An¬
zahl der dem Vereine am Todestage des Mitgliedes angehörenden
Vereinsmitglieder richtet, und es gilt als Regel, dass für jedes Mit¬
glied 2 Kronen angewiesen werden. Dieser Betrag wird in geeigneter
Weise durch die Mitgliedsbeiträge eingebracht. Der Mitglieds¬
beitrag wird auf blos 2 Kronen pro Todesfall angesetzt, um be¬
sonders den weniger gut situirten Collegen die Möglichkeit des Bei¬
trittes zu bieten. (Angenommen, ein Mitglied stirbt und der Verein
zählt gerade 500 Mitglieder, so stellt sich der Betrag auf 1000 Kronen.)
Um dem Vereine eine möglichst breite Basis zu schaffen, wurde ausser
der geringen Bemessung des Mitgliedsbeitrages auch die einmalige
Eintrittsgebühr zur Bestreitung der Administration für den Anfang
ausserordentlich niedrig gestellt und im ersten Halbjahre des Vereins¬
bestandes für alle Eintretenden, unbeschadet ihres Alters, mit nur
4 Kronen festgesetzt. In späterer Zeit allerdings wird die Eintritts¬
gebühr je nach dem Alter des Aufzunehmenden zwischen 5 und
200 Kronen schwanken. Es empfiehlt sich daher aus Ersparungs¬
rücksichten, dem Vereine ehestens beizutreten. Die geringen Verbind¬
lichkeiten und namentlich auch der Umstand, dass auf eventuell in
Noth gerathende Collegen weitgehende Rücksicht genommen wird, er¬
möglicht es allen Wiener Collegen, dieser Vereinigung sich anzu-
schliessen. Zur Aufklärung sei noch beigefügt, dass dieser neue
„Unterstützungsverein der Aerzte Wiens“ nicht etwa ein Con-
currenzinstitut gegenüber dem „Unterstützungsinstitute des Wiener
medicinisc hen Doctor encollegiums“ ist, da beide Vereine
ganz verschiedene Zwecke verfolgen. Beitrittserklärungen nehmen die
Mitglieder und der Obmann Dr. Tennenbaum, II., Prater¬
strasse 10, entgegen.
*
Witwen- und Waisensocietät des Wiener medi-
cinischen Doctorencollegiums. Am 20. v. M. fand im
Societätshause „van Swieten-Hof“ die diesjährige ordentliche General¬
versammlung statt, die sehr zahlreich besucht war. Der Präsident,
Regierungsrath Dr. Spitzmüller, konnte in seinem Berichte unter
dem Beifalle der Versammlung constatiren, dass das Vermögen der
Societät sich im abgelaufenen Jahre wiederum vermehrt habe, so dass
es jetzt über 5'/2 Millionen Kronen beträgt. Dasselbe besteht aus
Realitäten, darunter der prächtige „van Swieten-Hof“ in der Rothen¬
thurmstrasse, und aus pupillarsicheren Effecten. Für Witwen- und
Waisenpensionen wurden im Jahre 1899 rund 260.000 Kronen aus
gegeben, ein glänzendes Zeugniss für die segensreiche Thätigkeit der
Societät. Dem abtretenden Präsidenten, Regierungs) ath Dr. Spitz¬
müller, wurde auf Antrag des Primarius Dr. Adler der beste
Dank für seine hingebungsvolle, eifrige und von Erfolg gekrönte
Thätigkeit ausgesprochen, worauf Dr. S p i t z m ü 1 1 er wieder für fünf
Jahre zum Präsidenten gewählt wurde. Auch dem Cassier Dr. R e i 1 1 e r
und dem Actuar Dr. Klein wurde der wärmste Dank ausgesprochen.
Die Wahlen ergaben das Resultat, dass Prof. Dr. Mracek, Doctor
Pernitza, Prof. Csokor, Dr. Fischer, Dr . Gelmo und
Dr. Uli mann einstimmig wiedergewählt wurden.
*
Von dem „Jahrbuch der praktischen Medici n“,
herausgegeben unter Mitwirkung bewährter Referenten von Doctor
J. Schwalbe (Berlin) im Verlage von F. Enke in Stuttgart, ist
das erste Heft des Jahrganges 1900 erschienen. Dasselbe enthält den
Bericht über allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie von
Ribbert (Zürich), über die Krankheiten des Nervensystems von
Seeligmüller (Halle), über Psychiatrie von L e w a 1 d (Breslau)
und über die Krankheiten der Athmungsorgane von Hochhaus
(Kiel). Preis des Heftes M. 3. — .
*
Von der neuen „Zeitschrift für Tuberculose und
Heilstätten wesen“, herausgegeben von C. Gerhardt,
B. Fraenkel und E. v. Leyden, verlegt bei Barth in Leipzig,
ist das erste Heft des ersten Bandes erschienen. Nebst den einleitenden
Worten von E. v. Leyden enthält das Heft an Originalarbeiten:
Die Tröpfcheninfection, von B. Fraenkel; The conditions of infection
by tubercle, von Ran so me; L’agglutination du baeille de Koch,
von Arloing; Zur Heilbarkeit der Tuberculose, von v. Schrötter;
Die Bedeutung der Tuberculose als Ursache des vorzeitigen Todes bei
erwachsenen Bewohnern des Deutschen Reiches, von R a h t s ; Die
Vererbung des Locus minoris resistentiae bei der Lungentuberculose,
von Turban; Die Bekämpfung der Lungenschwindsucht und das
neue Invalidenversicherungsgesetz, von Gebhard; Diagnostik preeoce
de la tuberculose pulmonaire, von Bogaert und Klyners; Ueber
einige der nächsten Aufgaben der Tuberculoseforschung, von Cornet.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 10. Jahreswoche (vom 4. März
bis 10, März 1900). Lebend geboren : ehelich 639, unehelich 329, zusammen
968. Todt geboren: ehelich 47, unehelich 14, zusammen 61. Gesammtzahl
der Todesfälle 763 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
24 2 Todesfälle), darunter an Tuberculose 148, Blattern 0, Masern 15,
Scharlach 2, Diphtherie und Croup 5, Pertussis 2, Typhus abdominalis 0,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 2, Neu¬
bildungen 40. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
115 (-(- 9), Masern 292 ( — 5), Scharlach 53 ( — 1), Typhus abdominalis
9 (-(- 7), Typbus exanthematicus 0 (=), Erysipel 27 (-f- 11), Croup und
Diphtherie 57 (-)- 5), Pertussis 70 (-j- 1), Dysenterie 0 (=), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 2 ( — 1), Trachom 5 (-(- 5), Influenza 38 (-J- 20).
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 11. Jahreswoche (vom 11. März
bis 17. März 1900). Lebend geboren: ehelich 641, unehelich 293, zusammen
934. Todt geboren: ehelich 55, unehelich 18, zusammen 73. Gesammtzahl
der Todesfälle 863 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
27-4 Todesfälle), darunter an Tuberculose 158, Blattern 0, Masern 19,
Scharlach 1, Diphtherie und Croup 5, Pertussis 3, Typhus abdominalis 4,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 2, Neu¬
bildungen 50. Angezeigte Infectionskrankheiten: Blattern 0 (=), Varicellen
72 ( — 43), Masern 204 ( — 88), Scharlach 45 ( — 8), Typhus abdominalis
25 (-{- 16), Typhus exanthematicus 0 (=), Erysipel 24 ( — 3), Croup und
Diphtherie 60 (-(-3), Pertussis 42 ( — 28), Dysenterie 0 (=), Cholera 0 (=),
Puerperalfieber 5 (-)- 3), Trachom 2 ( — 3), Influenza 54 (-|- 16),
Freie Stellen.
Erste Stadtarztesstelle in Leitmeritz, Böhmen.
Jahresgehalt 1200 K, ohne Anspruch auf einen Ruhegehalt. Der erste
Stadtarzt hat in dieser seiner Eigenschaft sich allen in der auf Grund des
Gesetzes vom 23. Februar 1888, L.-G.-Bl. Nr. 9, für Gemeindeärzte erlassenen
Dienstinstruction enthaltenen Obliegenheiten mit Ausnahme der iD den
§§ 11 und 13 dieser Instruction enthaltenen Verpflichtungen, betreffend die
Todtenbeschau und die Impfung, zu unterziehen. Bewerber deutscher Natio¬
nalität haben ihre mit dem Heimatsscheine, dem Diplome über den erlangten
Doctorgrad, mit den Zeugnissen über die bisherige Verwendung belegten
Gesuche bis zum 15. April 1900 bei dem Bürgermeisteramte in
Leitmeritz einzubringen. Der Antritt dieser Stelle kann am 1. Mai 1900
erfolgen.
Badearztesstelle im Curorte Liebwerda, Bezirk Friedland
in Böhmen. Die näheren Bedingungen sind bei der Curinspection zu
erfahren.
Gemeindearztesstelle in Gimino, Küstenland, mit einem
Jahresgehalte von 2000 K. Der Arzt ist verpflichtet, die Armen der ganzen
Dorfgemeinde unentgeltlich zu behandeln, als sanitäres Gemeindeorgan im
Sinne des Landesgesetzes vom 18. März 1874 zu fungiren und eine Haus¬
apotheke zu halten. Für Armenbesuche ausserhalb des Domicilortes, wie auch
für sonstige im Aufträge der Gemeinde unternommenen Dienstreisen werden
ihm die Reisekosten vergütet. Der Dienstvertrag wird auf drei Jahre ge¬
schlossen und nach Verlauf dieser Frist von Jahr zu Jahr stillschweigend
erneuert, den Fall einer gegenseitig drei Monate vor Ablauf der Jahresfrist
zu erfolgenden Kündigung ausgenommen. Die Gesuche mit dem ärztlichen
Diplome, den Nachweisen über die österreichische Staatsbürgerschaft, über
die Kenntniss der kroatischen und der italienischen Sprache und über
andere allfällige Qualificationen sind an das Bürgermeisteramt in Gimino
bis längstens 15. April 1. J. einzubringen.
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
333
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft
Sitzung vorn 30. März 1900.
INHALT:
der Aerzte in Wien. | Oesterreichische otologische Gesellschaft. Sitzung vom 29. Januar 1900.
(Fortsetzung )
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
Sitzung vom 30. März 1900.
Vorsitzender: Prof. Weinlecliner.
Schriftführer : Dr. Flinke.
Der Vorsitzende macht Mittheilung von dem Ableben Hofrath
Hofmokl’s und fordert die Anwesenden zur Trauerkundgebung auf,
sich von den Sitzen zu erheben. Hierauf begrüsst er den als Gast er¬
schienenen Prof. £ d i n g e r aus Frankfurt.
Der Schriftführer verliest das Protokoll der Wahlen von Func¬
tionären und Mitgliedern der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
vom 23. März 1900.
Für die Wahl zu Vorsitzenden und Schriftführern wurden ab¬
gegeben 137 gütige Stimmzettel. Die absolute Majorität betrug 69 ; als
gewählt erscheinen :
Zu Vorsitzenden: Prof. Johann Csokor, Dr. Joh.
Habart, k. und k. Oberstabsarzt, und Dr.Hermann T e 1 e k y.
Zu Schriftführern: Dr. Ferdinand Alt, Oskar
F o e d e r 1 und Emil Knauer.
Für die Wahl von Mitgliedern wurden abgegeben 127 gütige
Stimmzettel. Die absolute Majorität betrug 64. Als gewählt er¬
scheinen :
Zu correspond ir enden Mitgliedern: Prof. Julius
Glax in Graz und Prof. E. H. Kisch in Prag.
Zu ordentlichen Mitgliedern: Die Herren Doctoren
Alexander Gustav, Benedict Hermann, Czerwenka
Karl, Deutsch Eduard, Donath Julius, Grosser Otto,
Halban Heinrich v., Hamm erschlag Victor, Hanszel
Friedrich, Hitschmann Fritz, Kamen Ludwig, Korn¬
feld Ferdinand, Kornfeld Siegmund, Kr au s s W alther,
Lindenthal Otto, Oelwein Gustav, Oesterreicher
Gustav, O 1 1 o H e i n r i c h, Pick Ernst Peter, Reimann
Heinrich, Ri sc ha wy Benjamin, Roth Maximilian,
Rothberger Karl Julius, Schnabl Josef, Schumacher
Siegmund v., Spitzer Ludwig, Steiner Johann, Wald¬
stein Edmund und W eiss Hugo.
Dr. Wilhelm Latzko stellt eine Patientin aus dem Kaiser Franz
Josef-Ambulatorium vor, die vor ungefähr sechs Jahren in seme Be¬
handlung trat. „ _ , . .
Dieselbe ist 30 Jahre alt und litt seit ihrem 16. Lebensjahre an
Osteomalacie. Nebstdem bestanden heftige, anfallsweise auftretende
Magenbeschwerden, die wohl auf ein Ulcus ventriculi zurückzufühlen
sind. Durch eine fünf Jahre lang mit Unterbrechungen forgesetzte
Phosphortherapie heilte die Knochenerweichung vollständig aus. Die
Kranke hat im Ganzen 3 b g Phosphor eingenommen.
Im März v. J. wurde sie, die bis dahin virgo intacta war,
gravid, ohne dass die Schwangerschaft auf den erzielten Erfolg einen
Einfluss gehabt hätte.
Durch Untersuchung in Narkose am 18. November wurde fest¬
gestellt, dass die bestehende Beckenverengerung den Kaiserschnitt am
Ende der Schwangerschaft implicirte. Doch trat im Anschlüsse an die
Narkose unstillbares Erbrechen auf, welches als ultimum refugium d.e
künstliche Frühgeburt durch Sectio caesarea erforderte.
Die Operation wurde am 24. November ohne Narkose unter
Schleie h’scher Infiltrationsanästhesie mit Cocain ß -Lösung vorge¬
nommen. Es wurde nur die Linea alba infiltrirt. Der Schnitt im Uteius
erforderte keine künstliche Anästhesie. Das entwickelte Kind war todt
und leichenstarr. Nachdem jede Zerrung des Peritoneums mit heftigen
Schmerzäusserungen beantwortet wurde, wählte Latzko als kürzestes
Operationsverfahren die Porro-Operation mit extraperitonealer Stiel¬
behandlung.
Das Erbrechen sistirte sofort nach der Entbindung. Am selben
Tage wurde flüssige Nahrung, vom dritten Tage an auch feste an¬
standslos vertragen. Doch erkrankte die Wöchnerin — wohl in folge
der hochgradigen Inanition — am Operationstage an einer leichten
Psychose, die fünf Tage andauerte.
Derzeit besteht volle Euphorie, mit Ausnahme von hie und da
auf tretenden Magenbeschwerden.
Dr. Latzko demonstrirt verschiedene von Dr. Kienboeck
ausgeführte Röntgen-Bilder des ausgeheilten Skeletes, darunter ein
die &Beckenverhältnisse sehr deutlich darstellendes Radiogramm.
Prof. Benedikt demonstrirt einen seit 1873 erkrankten labiker
mit prodromaler Sehnervenatrophie.
Es ist die einzige Ausnahme, die Benedikt in seiner 40 jähri-
gen Praxis kennt, bei der trotz elektrischer und hydropathischer Be¬
handlung bei prodromaler Sehnervenatrophie die labes sich immei mein ent¬
wickelte und im Jahre 1889 einen so hohen Grad erreichte, dass
der Kranke weder stehen noch gehen konnte, und dass er den Ver¬
such zweier Männer, ihn stehend zu erhalten, vereitelte, indem die
schleudernde Bewegung seiner Beine die Haltenden gefährdete. Be¬
nedikt dehnte damals dessen beide Ischiadici blutig und im Ver¬
laufe eines Halbjahres kehrte allmälig die Geh- und Stehfähigkeit
zurück und die heftigen Schmerzanfälle wurden immer seltener, kürzer
und schwächer. Diese Gehfähigkeit hat sich durch elf Jahre bis jetzt
erhalten, wie die Demonstration zeigt, obwohl der Kranke von schweren
Schicksalsschlägen heimgesucht wurde.
Prof. Benedikt hält hierauf seinen angekündigten Vortrag:
Ueber die Therapie der Tabes. Er betont zunächst, dass er
bei der Besprechung verschiedener Tabesfragen in erster Linie die
Tendenz verfolge, einen Typus für jene wichtige Reform der klinischen
Wissenschaft zu liefern, die als „klinische Biomechanik“ bestimmt
ist, eine neue wissenschaftliche Denkschule in der Medicin zu schaffen.
Darum habe er die Grundgleichung aller biologischen Leistung als
Ausgangspunkt der Aetiologie dieses Leidens gewählt. Heute behandle
er vorzugsweise die Aetiologie des Keilstrangschwundes.
Die wissenschaftliche Grundlage jedes Heilversuches sei abei
der biomechanische Satz: Dass, so wie in der organischen Welt Alles
in ewiger Bewegung, und Ruhe und Gleichgewicht nur subjective
Orientirungspunkte unseres Denkens seien, so bestehe das Leben dei
Gewebe in fortwährendem Wechsel zwischen Ueberspannung. und
Unterspannung, zwischen Entladungs- und Ladungsdrang, zwischen
Entladung und Ladung. Ladung und Entladung geschehen durch Zu¬
fuhr oder Abfuhr von Energien allein, oder von Energien und Stoffen.
Durch Wärme, Licht, Elektricität laden wir den Organismus mit
Energien, und ähnlich entladen wir durch sie; stofflich und zugleich
mit Energien durch anorganische Substanzen, wie Luft, Wasser,
Salze etc. Eine „Conditio vitae sine qua non“ sei aber die Ladung
mit organischen Substanzen und diese Ladung sei mehr als eine stoff¬
liche allein, sie sei zugleich Ladung mit den eigentlichen Lebens¬
energien. Es sei hier wichtig, den Satz zu betonen : Der Tod sei
nicht das Ende des Lebens. Die Gewebe und Producte der Küche,
der Fruchtkammer, des Kellers sind todt, aber sie enthalten jene
Lebensenergien, welche die anorganischen Elemente zu organischen
Substanzen Zusammenhalten, und diese sind nöthig zur Erhaltung und
zum Erzeugen von Leben. Auch die Entladungen geschehen im
Stoffwechsel durch Lebensenergien und nicht durch rein physikalische
Vorgänge allein. Positive und negative biomechanische Spannungen
können nur zum kleinsten Theile durch physikalische Apparate kennt¬
lich gemacht und gemessen werden.
Der Fundamentalsatz von dem ewigen inneren Wechsel zwischen
nter- und Ueberspannung lehrt uns, dass die Unterspannung ein
ienso mächtiger Lebensreiz sei, als die Ueberspannung und die Lehre
jm negativen Reize gewinnt eine höhere Klarheit. Hunger und
urst der Gewebe sind ein ebenso mächtiger Reiz, wie der Zeugungs-,
ebärungs- und Abfuhrskitzel der Gewebe.
Von diesem gewonnenen neuen Standpunkte aus muss die
herapie an Klarheit gewinnen. Vor Allem werden, wir nicht men
m vorneherein gewisse krankhafte Vorgänge, wie Schmeiz um
rämpfe, als krankhaft erhöhte Zustände ansehen, sondern begreifen,
iss sie ebenso gut Zeichen eines herabgesetzten Lebenszustandes sein
Junen, und wir werden häufig Reizmittel statt Betäubungs- und
nterdrückungsmittel anwenden und umgekehrt. Auch erhöhte B u
ifuhr werden wir nicht absolut als zu bekämpfenden Reizzustand an-
334
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 14
sehen, sondern diese Zufuhr noch vielleicht fördern, um den Ladungs¬
reiz der Gewebe zu befriedigen.
Besonders geeignet ist diese biomechanische Betrachtungsweise,
um gewissen therapeutischen Käthseln beizukommen. Zu diesen zählt
die Wirkung der differenten Bäder, an deren verschiedener Wirkung
gegenüber den indifferenten kein Zweifel obwalten kann. Dass bei
den Jod-, Eisen- Moor-Bädern etc. Stoffzufuhr keine Rolle spielt, ist
sicher; es kann sich also nur um die Jod-Eisen-Moorenergien etc.
handeln, welche Ladungen und Entladungen bewirken, welche in sehr
verwickelter, heute nicht übersehbarer Weise in die Tiefe wirken.
Noch wichtiger wird dieser Standpunkt, wenn wir die specifische
Wirkung jener Heilmittel in Betracht ziehen, welche auf ein be¬
stimmtes Gewebe oder Theile eines bestimmten Gewebes wirken, wie
die Narcotica.
Nicht die Stoffzufuhr spielt dabei eine erste Rolle, sondern die
eigenartige Energiezufuhr, welche den bestimmten Gewebstheil zu
laden oder zu entladen im Stande ist. Die ganze Lehre von den
Toxinen, Antitoxinen und von der Immunität muss durch die bio¬
mechanische Beleuchtung an Klarheit gewinnen.
Nach der Entwicklung des allgemeinen biomechanischen Stand¬
punktes wollen wir die Therapie des Keilstrangschwundes erörtern.
Bei subacuter Entwicklung oder bei subacutem Nachschübe ist
strenge Antip hlogose angezeigt, also absolute Ruhe, Kälteanwen¬
dung an der Wirbelsäule, allenfalls blutige Schröpfköpfe und Ex-
tractum secalis cornuti innerlich. Gegen diese Heilanzeige wird am
meisten in verhängnissvoller Weise für den Verlauf der Erkrankung
gesündigt. Im späteren Verlaufe, wenn die Zehrung der Gewebe fort¬
geschritten ist, muss umgekehrt die Blutzufuhr begünstigt werden und
starke Douche und schottische Douche bewirken dies am besten.
Eine wichtige Heilkraft bei der Aufhaltung und Besserung und
vielleicht Heilung im Beginne kommt der Elektricität zu und vor
Allem der centralen Galvanisation; die Faradisation spielt eine Neben¬
rolle bei der Bekämpfung des Secundärsymptomes der Anästhesie und
als örtliches Betäubungsmittel gegen örtlichen tabischen Schmerz.
Der Kaltwasser cur kommt eine gleichwerthige Rolle zu.
Thermen sind schädlich. Milde und kurz angewendet sorgen sie für
die Reinlichkeit der Kranken. Wenn sie die Schmerzen mildern, ver¬
schlimmern sie die Bewegung.
Höchst bedeutsam ist die Dehnung, zunächst die unblutige
nach der Methode von Motschutkofski (Suspension), oder die
von mir verbreitete von B o n u z z i.
Als die wichtigste Methode in der Therapie des
Keilstrangschwundes ist die blutige Dehnung der
Ischiadici anzusehen; sie ist die oberste Therapie der Zukunft,
die in jedem Falle in früherer Zeit und sogar öfters bei den einzelnen
ausgeübt werden wird. Wenn die Methode von Motschutkofski
und B o n u z z i die Motilität bessern, so wirkt die blutige Dehnung
auf Motilität und die Schmerzen unvergleichlich besser. Sie spielt die¬
selbe Rolle, wie Nervenzerrung beim „Tic douloureux“. Alle diese
Dehnungen führen den Hintersträngen und Hinterwurzeln Energie zu,
welche deren Reizkraft erhöhen und in ein besseres Assimilations-
verhältniss zum Stoffwechsel setzen.
Es war unverständig und unvernünftig, diese grosse Errungen¬
schaft aus dem zeitgenössischen Bewusstsein verschwinden zu lassen.
Eine Nebenrolle spielt die Nervenmassage, die ich übe, nämlich
das „Zupfen der Nervenstämme“ in der Art, wie man Saiten
in der Musik zupft.
Die Uebungstherapie des Keilstrangschwundes ist so alt wie das
Leiden. Der erste Keilstrangkranke hat schon triebartig Alles auf-
geboten, durch Aufmerksamkeit, Hinschauen, durch Muskelinnervations¬
nachschub u. s. w. die Sicherheit seines Stehens und Gehens zu ver¬
bessern. Die spät nachhinkende ärztliche Intelligenz hat daran wenig
geändert. Ich mache solche Freiübungen seit längerer Zeit auf eine
persönliche Anregung des Pariser Arztes T a r g 1 i a u und heute werden
Vorrichtungen dazu verwendet. Die Erfolge sind spärlich, und am
wichtigsten bleiben die instinctiven Hebungen der Kranken. Der irrige
Aufputz mit der falschen Theorie von Leyden ändert natürlich an
der Sache nichts.
In der medicamentösen Therapie spielt jene mit Quecksilber und
Jod die hervorragendste, wenn auch oft eine äusserst traurige Rolle.
Gegen beide Heilmittel sind die Keilstränge sehr empfindlich auch
dann, wenn deren Verwendung gerechtfertigt ist. Nun werden sie aber
in der Mehrzahl der Fälle ohne Berechtigung angewendet, weil die
Ratio, nämlich die syphilitische Ursache des Leidens, fehlt. Darum hat
der zeitgenössische, ätiologische Irrthum so verhängnisvoll auf die
Kranken gewirkt, wie seinerzeit der Irrthum, dass die tabischen
Schmerzen Rheumatismus bedeuten und daher eine energische Thermo-
therapie erfordern. Hätte man in den letzten 20 Jahren die Tabiker
nicht behandelt, so stünde es besser um sie, weil viele durch die Mode-
thorheit nicht zu Grunde gerichtet worden wären. Gerade die wirklich
mit Lustseuche zusammenhängenden Fälle haben einen äusserst milden
Verlauf, der sie jeder vernünftigen Therapie, z. B. in hervorragender
Weise der blutigen Dehnung, zugänglich macht und jede übertriebene
antispecifische gefährdet sie ebenso sehr als die nicht syphilitischen
Fälle. Die Bekämpfung des Lustseuchengiftes durch die bewährten
Gegengifte — Quecksilber und Jod — muss sehr vorsichtig gemacht
werden. Die allgemeinen strategischen Regeln dieser Kampfführung
müssen bei Keilstrangkranken taktisch sehr vorsichtig verwendet werden.
Wo der Verdacht auf Lustseuche als Ursache des Leidens besteht,
beginne ich mit Einspritzungen von Sublimat. Ergeben diese keinen
Erfolg, so ist jeder energische Versuch gewiss erfolglos. Die Wirkung
der Einspritzungen erschöpfen aber den Erfolg nicht. Wo sie positiv
ausfallen, kann man zu Schmiercuren mit vorsichtiger Steigerung der
Dosis von 2‘0 aufwärts bis zu 4 0 Vorgehen. Tritt ein Stillstand der
Besserung oder gar Verschlimmerung ein, so ist die Behandlung zu
unterbrechen und allenfalls zu verschieben. Bei Jodgebrauch ist die
Tagesdosis von DO wohl immer genügend uud die Wirkung wie beim
Quecksilber strenge zu überwachen. Auf diese Weise kann man nützen
und den Schaden vermeiden. Bei heftigen Schmerzen kann man Sublimat
oder Jod in drei Tagesgaben mit je 1/3 crJL, Morphin verabreichen.
Die sonst in Betracht kommenden Heilmittel, wie Nitras argenti
und Extractum calabaris, spielen eine geringe Rolle. Als schmerz¬
stillende Mittel sind Jod-Natrium , die Salicylpräparate , Phenace¬
tin u. s. w. anzusehen, und das Morphin ist immer noch als souverän
zu betrachten. In subeutaner Form führt es leicht zum Morphinismus;
ob es aber auch in dieser Form bei Crises gastriques zu entbehren
sei, wage ich nicht zu entscheiden.
Eine wichtige Rolle spielen die Points defeu bei der Be¬
handlung der Tabes. Sie sind sowohl in der französischen Anwendungs¬
weise, als in meiner, durch Unterhaltung der Wundeiterimg häufig
wirksam gegen die Schmerzanfälle und sind von capitaler Bedeutung
für die Behandlung der Crises gastriques, besonders wenn noch kein
Morphinismus besteht.
Die Prognose des Tabes ist keine so schlimme als es scheint,
wenn sie sich selbst überlassen bleibt oder geeignet behandelt wird.
Sie verläuft meist schleppend, und rasche Verschlimmerungen
lassen sich oft durch antiphlogistische Behandlung bedeutend bessern.
Bei prodromaler Sehnervenatrophie, bei prodromalen Crises gastriques
und wenn der Fall die Bedeutung einer aufsteigenden Anoia para¬
lytica hat, lassen sich durch geeignete Therapie, wie blutige oder un¬
blutige Dehnung, durch Elektricität und Hydrotherapie die spinalen
Symptome wesentlich bessern, so dass selbst die verlorene Steh- und
Gehfähigkeit in einem hohen uud bleibenden Grade zurückgebildet
werden kann. Die Algien werden nach blutiger -Dehnung allmälig
schwächer, kürzer und seltener und ebenso, wie es scheint, die Crises
laryngeenes.
Dauernde Abhilfe der Crises gastriques habe ich von der Kau¬
terisation gesehen. Die mit Syphilis zusammenhängenden Fälle
haben auch ohne alle Therapie meist einen schlejjpenden Verlauf und
sind, wie schon erwähnt, allen rationellen Therapien, besonders der
Dehnung, äusserst zugänglich. Es gibt auch sonst noch „benigne“ Fälle.
Oesterreichische otologische Gesellschaft.
Officielles Protokoll der Sitzung vom 29. Januar 1900.
(Fortsetzung.)
Vorsitzender: Prof. Politzer.
Schriftführer: Dr. Hugo Frey.
3. Dr. Singer: Ein Fall von hysterischem Schwindel
nach Radicalope ration.
Discussion: Politzer: Obwrohl der Vortragende hervor¬
hebt, dass an eine Läsion des Labyrinths nicht zu denken sei, glaube
er doch, dass ein schon erkrankter und bei der Operation nicht ent¬
fernter Theil des Knochens noch nachträglich, während die Heilung
im Gange ist, zerstört werden könnte, oder dass durch das Vorhofs¬
und Schneckenfbnster Granulationen in das Labyrinth hineinwandern
könnten. Wenn nicht anderweitige hysterische Stigmen an der Patientin
nachweisbar seien, so würde er doch vorschlagen, auch diese Möglich¬
keit in Erwägung zu ziehen.
Urbantschitsch stimmt dieser Meinung im Allgemeinen bei,
nur meint er, dass in diesem speciellen Falle die Erscheinungen so eigen-
thümlicher Art seien, dass sie sich nur auf eine Hysterie beziehen
lassen.
Dr. Hammerschlag: Ich hatte im Verlaufe der letzten
Jahre wiederholt Gelegenheit, hysterische Personen auf eventuelle Hör¬
störungen zu untersuchen.
Nr. 14
335
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nach meinen Erfahrungen lassen sich die Manifestationen der
Hysterie im Gebiete des Gehörorganes eintheilen in Hypästhesien und
Hyperästhesien.
Die Hypästhesie des Acusticus ist gewöhnlich eine Theilorscheinung
der hysterischen halbseitigen Herabsetzung sämmtlicher Empfindungs¬
qualitäten und ist charakterisirt durch den Stimmgabelbefund der ein¬
seitigen nervösen Schwerhörigkeit. Ohrensausen und Schwindel gehören
nicht zum Symptomenbilde der hysterischen Hypakusis.
Wo Ohrensausen oder Schwindel bei Hysterischen auftritt, wird
man in der Regel ein organisches Ohrenleiden constatiren können. Bei
mit organischen Ohrenleiden behafteten, hysterischen Personen tritt
Schwindel mitunter mit einer Heftigkeit auf, die mit der Schwere des
Ohrenleidens in auffallendem Widerspruch steht.
4. Dr. Singer: Framboesia syphilitica an der
Ohrmuschel.
Ich möchte mir weiter erlauben, über die Krankheit eines Patienten,
den ich Ihnen hiemit vorstelle, nur zu referiren, denn das schöne Bild,
das ich Ihnen zeigen wollte, ist zum grössten Theil durch den fort¬
schreitenden Heilungsprocess verschwunden, wurde aber bereits von
Herrn Dr. Nobel, Assistent an der Abtheilung für Syphilis der All¬
gemeinen Poliklinik, in der Dermatologischen Gesellschaft demonstrirt.
Es handelte sich um ein gewiss sehr seltenes Vorkommniss einer
Framboesia syphilitica an der Ohrmuschel. Hofrath Neumann be¬
schreibt dieses Krankheitsbild folgendermassen: Selten begegnet man
an Stellen, die ziemlich entfernt von der Schleimhaut liegen, einer auf
papillärer Wucherung und Gefässbildung beruhenden Papelform mit
grossen, livid rothen, derben, bald ulcerösen, bald intacten disseminirten
Efflorescenzen, die als Framboesia syphilitica bezeichnet wird. Sie wurde
vonKolaczek, Amicis und Simon beobachtet. Sie zählt zu der
sehr seltenen Form des papulösen Syphilids. Diese Formen kommen
besonders an behaarten Körperstellen, also am behaarten Kopf und an
der Bartgegend, aber auch an anderen Körpertheilen vor, so an den
Mundwinkeln, dem Kinn, den Nasenflügeln und in unserem Fall an der
Ohrmuschel; es bilden sich da manchmal sehr grosse und succulente
Papeln aus, die mit Schuppen und Krusten bedeckt sind, nach deren
Abhebeu die Oberfläche mit zahlreichen papillären Zapfen besetzt ist.
Patient J. S., Kohlenhändler, ein Jahr verheiratet, inficirte sich
vor etwa drei Monaten, von dem Tage seines Eintrittes in die Ab¬
theilung an gerechnet (das war Anfangs December). Die damals sicht¬
baren Läsionsformen schlossen sich unmittelbar an den Initialeffect am
Penis an. Im Bereich der behaarten Kopfhaut, und zwar über dem
linken Scheitel und dem Hinterhaupt, sah man drei bis pfirsich grosse,
halbkugelig prominirende Tumoren, die mit schmutzig - honiggelben
Borken bedeckt waren. Entfernte man die Krusten, die aus ab-
gestossenen Schuppenmassen, Eiter und Blutcoagulis bestanden und
bloss an der Peripherie festsassen, so zeigte sich in auffallender Weise
die papillär unebene, vielfach durchfurchte, lappig-drüsige, himbeer-
artige, rothe, eine klebrige, stark stinkende Flüssigkeit secernirende
Oberfläche aus dem Capillitium stark hervortretend. Die Haare fehlten
auf ganzen Inseln der kranken Stellen, fanden sich an anderen Stellen
wieder in Büscheln und einzeln, fest und lose. Diese Geschwülste
grenzten sich scharf ab gegen die peripher gesunde Haut, erreichten
die Höhe von etwa D/2 — 2 cm, wuchsen mehr in die Breite, so zwar,
dass sie an der Oberfläche eine grössere Ausbreitung zeigten als an
der Basis, mit welcher sie mit der Haut in Verbindung standen. Am
linken Naseneingang befand sich eine bohnengrosse, grauweisse, nässende,
mit Borken bedeckte Vegetationsmasse. Am weichen Gaumen, besonders
an den vorderen Gaumenbögen und an der Uvula, bestanden zahlreiche
Plaques muqueuses. Am rechten Oberarm und auf der Stirn waren Narben
oder auch Erhabenheiten solcher Geschwülste sichtbar.
An der linken Ohrmuschel war die Concha, die Incisura inter-
tragica, der Eingang in den äusseren Gehörgang in nahezu seinem
ganzen Umfange ausgekleidet und erfüllt von einer confluirten, wenig
eiterig belegten, grauröthlichen, mannigfach durchfurchten, lappigen,
frambösieartigen, etwa 6 mm über der Oberfläche erhabenen, nuss¬
grossen, papulösen Wucherung. Bei Berührung war dieselbe wenig
schmerzhaft. Der äussere Gehörgang war zum grössten Theil verlegt,
theils durch die denselben erfüllende Aftermasse, theils durch reichliche,
geschwellte, grauröthliche, warzige Efflorescenzen, die besonders die
tieferen Abschnitte des Gehörganges so ausfüllten, dass sich dem unter¬
suchenden Auge, nach Einführen des kleinsten Trichters, eine dem
Granulationsgewebe ähnliche Neubildung präsentirte, welche das Lumen
abschloss. Aus dem Gehörgang fand eine reichliche, durch Beimischung
von Epidermisschuppen etwas resistentere Eiterabsonderung statt, so
dass das Bild einer Otitis externa vorgetäuscht wurde, umsomehr, als
der Process sehr schmerzhaft verlief; hatten ja erst die grossen Ohren¬
schmerzen den Patienten zu uns geführt. Patient gibt an, dass das
linksseitige Ohrenleiden vor etwa zwei Monaten mit einem kleinen
„Wimmerl“ am Ohreingang an der unteren Gehörgangswand begonnen
habe. Angeblich kratzte er dasselbe und riss die Krusten immer wieder
weg. Ohrenfluss sei erst vier Wochen später unter heftigen Schmerzen
aufgetreten. Das Hörvermögen auf diesem Ohr bedeutend herabgesetzt.
Linkes Ohr: Trommelfell und Hörvermögen vollkommen normal.
Alle Erscheinungsformen der Syphilis, wie Sklerosen, Roseola,
Maculae, Papeln, tuberculöse Syphilide, Condylomata lata, Ulcerationen,
Gummata, welche an der Haut überhaupt Vorkommen, können sich
auch an der Ohrmuschel oder im äusseren Gehörgang finden, und zwar
sowohl im frühesten Stadium, wie auch in späteren Zeiträumen der
Erkrankung, zugleich mit luetischen Zeichen am übrigen Körper odei
als einziges Symptom der Syphilis. Fälle dieser Art sollten immei
auch dem Ohrenarzt überwiesen werden — in unserem Fall geschah
es umgekehrt, da sandte ich den Patienten zu dem Syphilidologen — ,
denn neben dem äusseren Ohr kann gleichzeitig auch die Paukenhöhle
ergriffen sein, wie wir es hier fanden. Diese specifischen Eiterungs-
processe bieten jedoch in ihrem klinischen Bilde gewöhnlich keine
andere Erscheinung dar, als die nicht specifischen Mittelohreiterungen.
Was endlich die locale Disposition betrifft, ist hier die Otorrhoe nicht
als das die specifische Erkrankung an dieser Stelle bedingende Moment
auzusehen, da diese erst vier Wochen nach dem Auftreten der Ge¬
schwulst an der Ohrmuschel erschien.
Es finden sich verhältnissmässig wenig Veröffentlichungen über
Syphilis des äusseren Ohres, wie dies auch dem in praxi immerhin
seltenen Vorkommen von specifischen Affectionen im Gehörgang oder
an der Ohrmuschel entspricht. So konnte z. B. Knapp unter 9000
bis 10.000 Ohrenkranken nur viermal Syphilis des Gehörganges nach-
weisen.
5. Docent Dr. Alt: Ein Fall von geheilter Peri¬
chondritis auriculae nach Radicaloperation.
Bei einem 15jährigen Patienten wurde wegen einer chronischen
eiterigen Mittelohrentzündung mit Granulationen aus dem Anti um,
sowie wegen Kopfschmerzen, Schwindel und Erbrechen die Radical¬
operation mit Körne r’scher Plastik und primärer Naht ausgeführt.
Zwei Tage nach der Operation musste wegen eines eingetretenen Col¬
lapses Verbandwechsel vorgenommen werden, während sonst der erste
Verband erst nach fünf Tagen erfolgt, bis der bei der Plastik ge¬
bildete Lappen angeheilt ist. In der Wundhöhle konnte man von
hinten oben aus der Gegend des Sinus hervorquellenden Eiter nach-
weisen, weshalb sogleich die Wunde nochmals eröffnet und der Sinus
freigelegt wurde. Es bestand ein perisinuöser Abscess, der Sinus selbst
war mit missfarbigen Thromben erfüllt und wurde ausgeräumt.
Der weitere Verlauf war ein normaler, bis sechs Wochen nach
der zweiten Operation die Perichondritis auriculae auftrat, welche
nach zwei breiten Incisionen an der vorderen und hinteren Fläche
der Ohrmuschel ausheilte, ohne eine wesentliche Entstellung zurück¬
zulassen.
Dieser Fall von Perichondritis nach Radicaloperation ist der erste,
den Alt bei dem grossen Material an der Universitäts-Ohrenklinik seit
Jahren zu beobachten Gelegenheit hatte. Als Ursache der Affection
betrachtet er die Schädigung des Körne r’schen Lappens (w'elche
durch die Wiedereröffnung der primär geschlossenen Wundhöhle be¬
dingt war) mit secundärer Ernährungsstörung und Nekrose desselben,
die eine Infection der Ohrmuschel erst nach sechs Wochen herbei¬
führte. Die Körne r’sche Plastik mit primärer Naht nach Radical¬
operation bietet grosse Vortheile, darf aber nur für jene Fälle Vor¬
behalten bleiben, bei denen eine völlig uncomplicirte Nachbehandlung
voraussichtlich ist.
Discussion: Urbantschitsch glaubt im Gegensatz zum
Vortragenden, dass solche Perichondritiden immer die Folge von
Fehlern in der Asepsis bei der Operation seien, welche niemals ganz
zu vermeiden sein werden. Er sah in den letzten Jahren vier der¬
artige Fälle.
Politzer constatirt, dass dies der erste Fall an seiner Klinik
sei; er glaubt, dass beide Ursachen, Infection bei der Operation und
schlechte Ernährung des Gewebes, massgebend seien.
6. Dr. Hammer schlag: Ein Fall von chronischer
Mitteloh reite rung, Caries des Warzenfortsatzes,
plötzliches Auftreten schwerer meningealer Sym¬
ptome, Operation, Freilegung der Mittelohr räume,
Eröffnung der mittleren Schädelgrube, des Sinus,
der hinteren Schädelgrube, Exploration des Klein¬
hirnes, Heilung.
Die Patientin ist ein 1 Sjähriges Mädchen aus tubereulös belasteter
Familie. Seit dem fünften Lebensjahr besteht eine rechtsseitige Ohr¬
eiterung, die trotz ärztlicher Behandlung und trotz wiederholter Ent¬
fernung von Polypen niemals sistirt hat. Anfangs October 1899 stellten
sich ohne jede Veranlassung Schmerzen im rechten Ohr ein, die sich
allmälig zu grosser Intensität steigerten; hiezu gesellte sich ein con-
tinuirlicher, halbseitiger Kopfschmerz.
Die Patientin wurde am 25. October in die Klinik aufgenommen.
Noch am 2G. Früh war sie bei vollem Bewusstsein und im Stande, die
eben citirte Anamnese abzugeben. Der um diese Zeit erhobene somatische
Status ergab normalen Herz- und Lungenbefund, regelmässigen, nie >t
336
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 14
beschleunigten Puls, normale Temperatur; die Pupillen waren gleich,
ziemlich weit und reagirten prompt auf Licht und Accommodation.
Bevor an die Aufnahme des Ohrenbefundes geschritten werden konnte,
begann Patientin über furchtbare Kopfschmerzen zu klagen, wurde sein-
blass und verfallen und es stellte sich ein profuses Erbrechen ein.
Die Patientin vermied ängstlich jede Kopfbewegung, der Puls war
sehr klein, die Frequenz 72, dabei aber regelmässig.
Gegen 11 Uhr etwa trat vollständige Bewusstlosigkeit ein und
Strabismus divergens, die Pupillen waren sehr weit und reagirten
träge. Um 12 Uhr bestand noch immer vollständige Bewusstlosigkeit,
Puls 60, unregelmässig, Respiration 50. Es wurde sofort an die
Operation geschritten, die mir von Herrn Prof. Politzer gütigst
überlassen wurde.
Der gewöhnliche Hautschnitt durch die intacten Weichtheile legte
das Planum mastoideum bloss, welches unmittelbar hinter der Spina
suprameatum eine haardünne Fistel zeigte, aus der sich eine Spur
dünnen Eiters entleerte. Nach der Wegmeisselung der hinteren und
oberen Gehörgangswand zeigte sieb das stark vergrösserte Antrum,
welches vollkommen von einem sehr dünnen und stinkenden Eiter erfüllt
war. Im Attic und in der Trommelhöhle fanden sich spärliche Granu¬
lationen und derselbe stinkende Eiter. Der Ambos wurde nicht auf¬
gefunden, vom Hammer nur der Kopf. Die Knochenwand des Sulcus
sigmoideus fand sich an einer Stelle von einer feinen Fistel durch¬
brochen, aus der sehr lebhaft flüssiger Eiter hervorpulsirte.
Der hierauf in grossem Umfange freigelegte Sinus war von Eiter
vollständig umspült, seine laterale, membranöse Wand missfarbig. Die
laterale Wand wird gespalten und hierauf mit der Scheere so weit als
möglich abgetragen. Der Sinus selbst ist collabirt und leer, nur an
einer umschriebenen Stelle findet sich ein frisches Coagulum. Hierauf
wird das Tegmen tympani und antri vollständig entfernt, die freigelegte
Dura des Schläfenlappens w'ölbt sich stark vor, zeigt keine Pulsation,
erscheint aber sonst durchaus normal. Es wird sodann die vom Sinus
nach vorne gelegene Knochenwand entfernt und die Dura der hinteren
Schädelgruppe etwa in der Ausdehnung eines Kronenstückes freigelegt.
Dieselbe erscheint, so weit sichtbar, verdickt, stark injicirt und an
mehreren Stellen von einem missfarbigen Exsudat bedeckt. Dieser
Theil der Dura wird nun gespalten.
Das Kleinhirn wölbt sich sofort stark vor und wird zweimal nach
verschiedenen Richtungen mit dem Sealpell incidirt. Aus dem Kleinhirn
entleert sich kein Eiter. Hierauf lockere Tamponade und Verband.
Unmittelbar nach der Operation erlangte Patientin das Bewusst¬
sein wieder; sie klagte jetzt über sehr starke Schmerzen im Kopf und
Nacken, der Puls war stark retardirf, dabei rhythmisch, ziemlich voll
und hart. Am Abend verlor Patientin das Bewusstsein abermals und
blieb die ganze Nacht hindurch vollständig bewusstlos. Sie schrie zeit¬
weise auf, Hess Urin und Stuhl unter sich. Am nächsten Tage Früh,
etwa um 7 Uhr, war die Patientin wieder bei Bewusstsein, der Puls
war noch immer retardirt, dabei rhythmisch, die Temperatur normal;
an den unteren Extremitäten war jetzt deutliche Hauthyperästhesie zu
constatiren, Strabismus noch immer vorhanden. Seither hat Patientin
das Bewusstsein nicht mehr verloren.
Am zweiten Tage nach der Operation stieg die Temperatur noch
einmal über 38°; es wurde deshalb der Verbandwechsel vorgenommen,
die Wunde war vollkommen trocken, nirgends Eiter nachweisber. Seit¬
her blieb die Patientin afebril. Am vierten Tage nach der Operation
war sie bereits ganz schmerzfrei. Der Appetit und der Schlaf waren
wieder normal.
Am 4. December, also elf Tage nach der Aufnahme, verliess
die Patientin das Spital und ist jetzt vollständig geheilt. Nach¬
zutragen wäre noch, dass in diesem Fall die Gehörgangsplastik bei
der Operation unterlassen wurde, und zw-ar aus zweifachen Gründen:
1. Hess der sehr schlechte Zustand der Kranken eine länger dauernde
Narkose nicht als rathsam erscheinen und 2. sollte eventuell bei
günstigem Verlauf die Körner’sche Plastik mit primärem Verschluss
der retroauriculären Wunde ausgeführt werden. Die Patientin Hess
indessen später einen nochmaligen operativen Eingriff nicht zu, und so
musste die Wunde ohne Plastik behandelt werden. Mau sieht jetzt
durch den intacten Gehörgang die epidermisirte innere Trommelhöhlen¬
wand, die retroauriculäre Wunde hat sich secundär geschlossen, und
ich gewann aus dem Verlauf der Wundheilung den Eindruck, als sei
das Antrum obliterirt.
E p i k r i s e. Das plötzliche Auftreten des geschilderten schweren
Symptomencomplexes nach vorher relativ gutem Allgemeinbefinden
Hess zunächst an den Durchbruch eines bestandenen Hirnabscesses
denken, und das umsomehr, da die Exploration des Sinus wohl einen
perisinuösen Eiterherd, nicht aber eine makroskopisch nachweisbare
Infection seines Inhaltes ergeben hatte. Die Freilegung des Schläfen¬
lappens nun Hess das Vorhandensein eines Schläfenlappenabscesses als
unwahrscheinlich erscheinen. Dagegen musste man bei der Localisation
des perisinuösen Eiterherdes mehr an eine Infection des Kleinhirnes
denken. Die Operation ergab nun eine ziemlich ausgedehnte, wenn
auch circumscripte Pachymeningitis externa der hinteren Schädelgrube,
aber keinen Kleinhirnabscess. Die schweren Erscheinungen: die voll¬
ständige Bewusstlosigkeit, der Strabismus, die Hyperästhesie an den
Beinen, würden sich eventuell als Symptome einer diffusen, eiterigen
Leptomeningitis deuten lassen, umsomehr, da wir seit der letzten
Publication Gradenigo’s mit voller Sicherheit wissen, dass auch
diese otitische Complication einer operativen Therapie zugänglich ist.
Indessen ist zum Nachweis der otitischen Leptomeningitis das Er¬
gebnis der Spinalpunction unbedingt nothwendig, die in unserem Fall
wegen der drängenden Symptome nicht mohr ausführbar war. Der
Augenhintergrund war stets normal.
Discussion: Kaufmann erinnert an einen ähnlichen Fall,
der von ihm und Hacker operirt wurde.
7 . Dr. Hammerschlag: Ein Fall von plötzlicher,
totaler, beiderseitiger Ertaubung mit Schwindel
und Erbrechen im Gefolge einer fieberhaften
acuten Erkrankung.
Die Patientin ist ein 1 7jähriges Mädchen aus einer kinder¬
reichen Familie. Die Mutter leidet seit 14 Jahren an Beinfrass, der
Vater starb an einer Lungenkrankheit, und von elf Geschwistern leben
nur noch drei. Die Patientin will stets gesund gewesen sein, auch das
Gehör war immer normal. Am 16. November 1899 bekam sie Stechen
in der rechten Brustseite, am 17. stellte sich die Periode ein. An
demselben Tage bekam sie starke Schmerzen im Hinterhaupte, das
Erbrechen und das Fieber dauerten an. An diesem Tage bekam sie
auch Schwindel; derselbe war sehr stark und die Gegenstände drehten
sich von rechts nach links. Besonders beim Umwenden im Bette hatte
Patientin das Gefühl, als ob sie fallen müsste. An demselben Tage
stellte sich Ohrensausen ein. Erst am dritten Tage nach Beginn der
Erkrankung, also am 18. November, begann das Gehör langsam ab¬
zunehmen und war am Abend dieses Tages gleich Null.
Am 19. November wurde Patientin in die Klinik Neuss er
aufgenommen. Bei der Aufnahme bestand noch immer Fieber, Schwindel,
Ohrensausen und ein sehr ausgebreiteter Herpes im Gesicht, besonders
an den Lippen und um den Naseneingang. Die Allgemeinuntersuchung
ergab vollkommen normalen Thorax- und Abdomenbefund. Am Stamme
und an den Extremitäten bestanden zahlreiche blass rosarothe, unter
dem Fingerdrucke verschwindende Roseolen, daneben grössere, intensiv
rothe, unregelmässig zerstreute Flecke. Im Gebiete der Hirnnerven,
mit Ausnahme des Acusticus negativer Befund; der Augenhintergrund
beiderseits normal.
Als ich die Patientin am 20. November zum ersten Male sah,
zeigte sie beim Aufsitzen im Bette keinerlei Schwindel oder Unsicher¬
heit; auch das Stehen mit geschlossenen Augen und das Umdrehen
erfolgte ohne besonderes Schwanken, dagegen war die Patientin ausser
Stande, schwierigeren Anforderungen an ihr Gleichgewicht nachzu¬
kommen. Der Versuch, kleine Gegenstände, auf einem Fusse stehend,
vom Boden aufzuheben, misslang vollständig. Die Trommelfelle waren
beiderseits leicht getrübt und retrahirt, der Gehörgangskitzelreflex
rechts etwas herab gesetzt, Weber im Kopfe, Rinne beiderseits schein¬
bar negativ in Folge des beinahe vollständigen Ausfalles der Luft¬
leitung, nur bei stärkstem Anschlägen wurde die C2-Gabel beiderseits
angeblich gehört, vielleicht fand hier eine Verwechslung mit den Vi-
brationsempfindungen an der Ohrmuschel statt. Vollständige Taubheit,
selbst für forcirte laute Sprache und für Vocale, die Uhr wurde von
den Kopfknochen beiderseits nicht gehört, die stark angeschlagene
Stimmgabel von den Warzenfortsätzen stark verkürzt.
Der von Prof. v. Frankl aufgenommene Nervenbefund war in
jeder Hinsicht negativ, ebenso der Harnbefund. Patientin w-urde dann
durch etwa drei Wochen erfolglos mit Pilocarpin behandelt. Erst in
der letzten Zeit kam ich dazu, eine elektrische Untersuchung zu
machen, wobei sich zeigte, dass der Acusticus auf kurze Ströme
leichter ansprach, wie auf lange. Uebererregbarkeit der Acustici be¬
stand nicht. (Schluss folgt.)
Programm
der am
Freitag, den 6. April 1900, 7 Uhr Abends,
unter dem Vorsitze des Herrn Hofrathes Clll’obak
stattfindender)
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Dr. Latzko: Demonstrationen.
2. Dr. J. Tlienen: Die Ursache des Geburtseintrittes.
Vorträge haben angemeldet die Herren: Prof. A. Politzer, Professor
Weinlecliner, Hofrath Prof. Schnabel, Oberstabsarzt Docent Dr. Habart,
Dr. A. Julies, Docent Dr. R6tlli, Regimentsarzt Dr. J. Fein und
Prof. Englisch.
Bergmeister, Paltauf.
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
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gen und Geldsendungen an
die Verlagshandlung.
@>
Redaction :
Telephon Nr. 3373.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, O. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner,
M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann,
R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt, A. v. Vogl,
J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuekerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gnssenhauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Verlagshandlung :
Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel. Telephon Nr. etm.
o
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VII 1/1, Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang. Wien, 12. April 1900. Nr. 15.
XIDTIEX-A-ILT:
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel: 1. Aus der I. psychiatrischen Universitätsklinik von
Prof. v. Wagner. Ueber Beziehungen der K o r s a k o f f’schen
Psychose zur Polioencephalitis acuta liaemorrhagica superior. Von
Dr. A. E 1 z h o 1 z, I. Assistenten der Klinik.
2. Ein Beitrag zur sogenannten retrograden Incarceration. Von Dr.
Dominik P u p o v a c, Assistenten an der II. chirurgischen Klinik
in Wien.
3. Zum Artikel von Schenk und Austerlitz: »Weitere Unter¬
suchungen üb’er den Keimgehalt der weiblichen Urethra«, diese
Zeitschrift. 1900, pag 319 ff. Von Dr. Rudolf Savor, Assistenten
der Klinik Chrobak.
4. Erklärung zu Dr. F. Pick’s Erwiderung in voriger Nummer. Von
Dr. Victor Eisenmenger.
II. Referate: I. Die Erkrankungen des Nervensystems nach Unfällen, mit
besonderer Berücksichtigung der Untersuchung und Begutachtung.
Von Privatdocent Dr. Heinrich Sachs und Dr. C. S. Freun d.
II. Ueber traumatische Entstehung innerer Krankheiten. Von Prof.
Dr. R. Stern. III. Atlas und Grundriss der Unfallheilkunde, so¬
wie der Nachkrankheiten der Unfallverletzungen. Von Dr. E d.
Golebiewski. IV. Die Entschädigung der Unterleibsbrüche in
der staatlichen Unfallversicherung. Von Dr. C. Kaufmann.
V. Rentensätze für glatte Schäden in privater und obligatorischer
Unfallversicherung, Von Dr. Ferd. B ä h r, VI. Die Beziehungen
zwischen Unfall und Diabetes. Von Prof. H. Senate r. VII. Zur
Begutachtung der erwerbsbeeinträchtigenden Folgen der Ischias.
Von Dr. H. Ehret. Referent R o s m a n i t.
III. Vermischte Nachrichten.
| IV. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
Aus der I. psychiatrischen Universitätsklinik von Pro- j
fessor v. Wagner.
Ueber Beziehungen der Korsakoff’schen Psychose
zur Polioencephalitis acuta haemorrhagica su¬
perior.
Von Dr. A. Elzholz, I. Assistenten der Klinik.
Nach einem für die Probevorlesung zur Erlangung der Venia legendi be¬
stimmten Vortrag.
Die vorstehend genannten Affectionen wurden in nicht
gar weit auseinander liegenden Zeitpunkten als scharf um¬
schriebene, wohl charakterisirte, klinische Krankheitszustände
aufgestellt, von denen dem zweiten auch eine präcise patholo¬
gisch-anatomische Basis von seinem Autor zugeschrieben wurde.
Im Jahre 1881 entwarf W ernicke1) auf Grund dreier eigener
Beobachtungen, denen er einen Fall Gayet’s hinzufügte, das
klinische und pathologisch-anatomische Bild der von ihm
Polioencephalitis acuta haem. sup. genannten Krankheit, im
Jahre 1887 in zwei russischen Arbeiten Korsakoff die
Schilderung einer bis dahin wohl hie und da beobachteten und
auch berücksichtigten 2), aber in ihrer wohlausgeprägten
Eigenart nicht näher gewürdigten psychischen Störung, die er
dann in seinen im Jahre 1890 — 1891 erschienenen deutschen
Arbeiten 3) unter dem Namen Psychosis polyneuritica oder
Cerebropathia psych, toxaemica in die deutsche Literatur
einführte.
Beide diese Aufstellungen erregten in hohem Masse das
Interesse der Neurologen und Psychiater, wie aus den auf
diese ersten Arbeiten gefolgten, dem gleichen Gegenstand ge¬
widmeten Publicationen hervorgeht. Diese haben die Berech¬
tigung der von den ersten Autoren entworfenen klinischen
Bilder und der Angaben über die pathologisch-anatomische
Basis in dem einen derselben, der W ern i c k e’sehen Polio¬
encephalitis acuta haem. sup. bestätigt, doch dabei, wie so oft
bei vertieftem und auf eine breitere Basis gestellten Studium
von Fragen, gewisse Modificationen in der ursprünglichen
Prägung und Auffassung der uns beschäftigenden Krankheits¬
bilder herbeigeführt. Welche Wandlung sich darin bisher voll¬
zog, soll sich aus einem die Literatur in ihren markanten
Arbeiten berücksichtigenden Rückblick ergeben. Es wird sich
am Schlüsse desselben zeigen, dass die Verschiedenheit dieser
Krankheitsformen, sowie sie uns in der klinischen Erscheinungs¬
weise und den pathologisch-anatomischen Veränderungen jener
Fälle entgegentritt, welche zur Aufstellung derselben geführt
haben, nicht davon abzuhalten braucht, zwischen diesen
scheinbar so differenten Zuständen innige Beziehungen
zu entdecken und für beide, zumindest für eine An¬
zahl von Fällen auf einen einheitlichen Krankheitsprocess
zu recurriren. Ein auf der Klinik beobachteter, in seiner
Symptomengruppirung äusserst seltener Fall, dem meines
Wissens nur ein fast gleicher und einige ihm nahestehende
aus der Literatur an die Seite zu setzen sind, wird unter
Heranziehung anderweitiger Literaturdaten sowohl zur Ulu-
strirung dieser Auffassung, wie für die Stellungnahme zu einer
noch actuellen Frage in der Literatur der sogenannten poly-
neuritischen Psychose heranzuziehen sein.
Indem ich mit der Erörterung der sogenannten poly-
neuritischen Psychose beginne, sei in knappen Zügen das
Krankheitsbild, wie es Korsakoff zuerst entworfen, und die
Auffassung, die es bei ihm gefunden, hier reproducirt.
338
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 15
Die psychischen Störungen, welche die Polyneuritiden
verschiedenster Aetiologie begleiten, können in mehreren klini¬
schen Formen entgegen treten. In den leichtesten Fällen handelt
es sich um eine reizbare Schwäche, sich äussernd in leichter
Ermüdbarkeit des Gehirns, in Schlaflosigkeit und Affecten der
Furcht, des Kummers. Zwangsideen, launenhaftes Wesen, un¬
überlegte Wünsche kommen häufig vor als Ausdruck der Un¬
möglichkeit, gewisse Vorstellungen zu bannen. Bei tieferer
psychischer Störung entwickelt sich ein verwirrter Aufregungs¬
zustand mit heftigen Affecten. Delirien, Hallucinationen. affec¬
tiven Handlungen. Dieser erregte Zustand geht in Genesung
über oder macht einer chronischen Krankheitsform Platz. Die
chronischen Krankheitsformen unterschied Korsakoff in
seiner ersten Arbeit als stuporösen Schwachsinn und apathi¬
sche Verwirrtheit. Erstere äussere sich in tiefer Störung der
Ueberlegung mit isolirten deliriösen Ideen, Illusionen und
Hallucinationen, oft mit zeitweiligen Ausbrüchen von Tobsucht.
Die apathische Verwirrtheit, entweder das Endstadium
einer anfänglichen tobsüchtigen hallucinatorischen Verwirrtheit
darstellend, oder ohne ein solches Vorstadium sich allmälig ent¬
wickelnd, ist charakterisirt durch Vermengung der Vor¬
stellungen, Desorientirung in Bezug auf Zeit und Ort, viel¬
fache Irrungen und Schwächung des Gedächtnisses. Diese
Form der Verwirrtheit, meint Korsakoff, dürfte die häu¬
tigste Störung bei Polyneuritis sein und erreicht verschiedene
Grade, manchmal einen solch hohen Grad, dass der Kranke
die Bedeutung von Gegenständen, Worten und Zeichen ver¬
gisst. Als eine besondere Form neuritischer Geistesstörung
wird von den letzten Fällen noch eine abgetrennt, bei der
neben relativer Klarheit des Bewusstseins und erhaltener
Ueberlegung das Gedächtniss für die Jüngstvergangenheit ge¬
stört ist. Es sind das Fälle mit acuter Amnesie.
Neben diesen Symptomen psychischer Störung linden
sich die bekannten Erscheinungen der Polyneuritis. Besonders
hervorzuheben ist, dass Korsakoff das gelegentliche Mit-
betroffensein des Gehirnes und des Rückenmarkes in Form
von Herderkrankungen betont. Als Symptome herdartiger
Mitbetheiligung des Gehirnes verzeichnet er Schwindel, Er¬
brechen, Pupillendifferenz, Ophthalmoplegia externa, Sprach¬
störung, Schlingbeschwerden. Bemerkenswerth ist ferner die
von Korsakoff gemachte Beobachtung, dass bei der alko¬
holischen, multiplen Neuritis fast stets Cerebropathia (das ist
die soeben erwähnten Symptome) vorhanden zu sein pflegt.
Ausser den Störungen der Psyche, den physischen
Symptomen seitens des Nervensystems linden sich Erscheinun¬
gen einer Mitaffection des Gesammtorganismus, allgemeine Ab¬
magerung, Verfall der Kräfte, Sinken der Herzthätigkeit,
qualitative Veränderungen des Harnes, bisweilen hartnäckiges
Erbrechen.
Korsakoff bezeichnete die Combination der eigen¬
artigen Geistesstörung mit den Erscheinungen von Seiten, des
peripheren Nervensystems und des Gesammtorganismus als
Psychosis polyneuritica oder Cerebropathia psych, toxaemica.
Für die Aufstellung des ersten Terminus war bestimmend die
Auffassung Korsakoff’s von dem innigen Zusammenhänge
der psychischen Störung mit der Polyneuritis. Am bezeich¬
nendsten für diese Auffassung ist der Satz: »Uebrigens wird
man bei eingehender Untersuchung immer irgend welche An¬
zeichen von Neuritis linden können, was dann auch die
Diagnose der psychischen Störung erleichtert.« Dass die
psychische Störung, wie sie vor ihm bei Alkoholneuritis ge¬
sehen und beschrieben wurde, nicht als Complication der
Polyneuritis unter dem Einflüsse des Alkoholismus anzusehen
sei, ergibt sich Korsakoff aus dem Vorkommen der gleichen
psychischen Störung bei multipler Neuritis sicher nicht alko
holischen Ursprunges.
Cerebropathica psych, toxaem. nennt Korsakoff die
Krankheit, weil es sich um eine psychische Störung handelt,
die fast stets von physischen Symptomen einer Hirnaffection
begleitet ist und weil ihr aller Wahrscheinlichkeit nach ana¬
tomische, wenn auch mannigfache Veränderungen des Gehirnes
zu Grunde liegen. Zum Unterschiede von anderen Cerebro-
pathien legt er ihr die Bezeichnung toxämisch bei, weil er
sowohl die Affection des Gehirnes wie der peripheren Nerven
auf die Einwirkung im Blute kreisender toxischer Substanzen
auf das Nervensystem bezieht.
Was nun das psychische Krankheitsbild betrifft, bezie¬
hungsweise dieZahlder von Korsakof f unterschiedenen Formen
psychischer Störung bei Polyneuritis, so hat er schon in der
zweiten deutschen Arbeit die fünf Formen um eine, nämlich
um den stuporösen Schwachsinn eingeschränkt.
Die bald nach der russischen Publication sich regende
Opposition T i 1 i n g’s 4) gegen die Korsakof f’sche Auf¬
fassung der polyneuritischen Psychose, die geltend machte,
dass die von Korsakoff der Polyneuritis zu Gute ge¬
schriebene psychische Störung eine Ei-scheinungsweise des
chronischen Alkoholismus sei, konnte, wie schon erwähnt, von
Korsakoff, dann Korsakoff und Serbski5) durch Veröffent¬
lichung von Polyneuritisfällen mit einer vom Alkoholismus verschie¬
denen Aetiologie zumSchweigen gebracht werden. Schwerer wogen
die Einwände Tili n g’s in einer späteren Publication 6), Ein¬
wände, die, nach den zahlreichen, der Korsakof f’schen Auf¬
fassung zustimmenden Arbeiten der früheren Jahre in letzter
Zeit wieder zum Theil aufgenommen und um einen wesent¬
lichen, später zu besprechenden vermehrt, die ursprüngliche
Auffassung, sowie den von Korsakoff vorgeschlagenen
Terminus des in Rede stehenden Krankheitsbildes verdrängt
haben. Um auf Tiling zurückzukommen, wollte dieser zu¬
nächst die acute Form der sogenannten polyneuritischen
Psychose, die Verwirrung mit Aufregungszuständen, die ohne
Amnesie verlaufen kann, oder ein Anfangsstadium der späteren
amnestischen Geistesstörung darstellt, nicht als eine für Poly¬
neuritis charakteristische Geistesstörung gelten lassen. »So
lange allgemeine Verwirrtheit und Aufregung bis zu Tobsucht
besteht, liegt in dem Verwechseln von Factis und alten
Reminiscenzen mit kiirzlichen Begebenheiten, in der Des¬
orientirung in Bezug auf Ort und Zeit gar nichts Charakteri¬
stisches für eine Form von Geistesstörung.« Die Berechtigung
dieses Einwandes wurde in den späteren" Veröffentlichungen
der verschiedenen Autoren trotz Adoptirung der Korsakoff-
schen Krankheit dadurch dargethan, dass diese eigentlich nur
die eine E'orm der vielen von Korsakoff aufgestellten
Varietäten der sogenannten polyneuritischen Psychose zum
Gegenstände ihrer Erörterungen gemacht, nämlich die durch
Amnesie und Erinnerungsfälschungen, beziehungsweise Er¬
innerungstäuschungen charakterisirte Form, oder diese Zustände
mit vorausgehender deliranter Phase.
Dass diese Form von Geistesstörung eine klinische
Eigenart aufweist und zumindest vom symptomatologischen
Standpunkte als eine specifische Combination von Symptomen
eine besondere Stellung verdient, ist kaum zu bestreiten und
wurde auch so ziemlich allgemein anerkannt. Diese Eigenart
wurde von Tiling selbst durch den Terminus »amnestische
Geistesstörung« gewürdigt. Der extreme Standpunkt von
Seglas7), dass die Störung des Gedächtnisses in Form einer
hartnäckigen Amnesie in directe Beziehung mit der primären
Geistesverwirrung (Confusion mentale) zu bringen wäre, dass
diese ein Zeichen der Erschöpfung und der Abschwächung des
Nervensystems in der Reconvalescenzperiode nach der primären
Verwirrtheit darstelle, ist wohl ohne Weiteres abzulehnen. Mit
Recht opponirt demselben S o u k h a n o f f 8) unter Hinweis auf
die Meynert’scke Amentia, der ein solches Nachstadium
statuier Amnesie fehlt.
Ein weiterer Einwand T i 1 i n g’s, der später mehrfach
wiederholt und erweitert wurde, war der, dass die amnestische
Geistesstörung nicht nur der Polyneuritis zukomme, sondern
sich auch bei seniler Demenz, nach Schädeltraumen vorflnde.
Haury9), gleichfalls ein Gegner der K o r s a k of f’schen
Auffassung, verwies auf progressive Paralyse. Gudden10)
weist ausser auf diese Fälle auf die ähnlichen Zustände bei
Kohlenoxydgasvergiftungen und bei wiederbelebten Erhängten
hin. Redlich11) erinnert an die ähnliche psychische Störung
bei wiederbelebten Ertrunkenen, an die Zustände nach hysteri¬
schen Anfällen, nach apoplektischen Insulten und nach schweren
Affecten. In einer der letzten Arbeiten über unser Thema
kommt M ö n k e m ü 11er 12) in ausführlicher Weise auf die
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
339
ähnlichen Krankheitsbilder im Senium und bei der progres¬
siven Paralyse zu sprechen, ebenso Jolly 13), der für die
nicht heilenden Fälle der typischen, sogenannten polyneuriti-
schen Psychose selbst anatomische Veränderungen mit der¬
selben Localisation im Gehirn, wie für die Fälle von seniler
Demenz und progressiver Paralyse mit gleicher klinischer Er¬
scheinungsweise postulirt. Jolly hat auch in zwei Fällen
syphilitischer Gehirnerkrankungen das charakteristische Bild
der Ko r sa k o ff sehen Störung beobachtet.
Wenn aber Tiling wegen Vorkommens des gleichen
psychischen Symptomencomplexes bei seniler Demenz, nach
Schädeltraumen die K o r s a k o f f sehe Psychose als besondere
Form von Geistesstörungen nicht anerkennen will, und die Be¬
zeichnung dieser Krankheit als Cerebropathia psych, toxaern.
und der Psychose als Psychosis polyneuritica nicht zutreffend
tindet, so ist zu bedenken, dass, wie Redlich11) hervor¬
hebt, die Veränderungen bei den zwei genannten Affectionen,
die zu Gedäehtnissstörung führen, in ganz anderer Weise
zu Stande kommen, als bei der sogenannten polyneuritischen
Psychose. Dass übrigens eine klinische Specificität des typi¬
schen Krankheitsbildes bei Polyneuritis gegenüber der senilen
Demenz und der progressiven Paralyse bestellt, war M ön ke¬
rn ü 11 er 12) in einer differentialdiagnostischen Erörterung dieser
Zustände zu erweisen bestrebt. Wenngleich nun mit Rücksicht
darauf, dass Mönkemüller eigentlich nur quantitative Ver¬
schiedenheiten der Symptome zur Differentialdiagnose heran¬
zieht, seinen Erörterungen kaum unbestrittene Geltung
zuzusprechen ist, so ist wohl zu acceptiren, dass der
acute Beginn der Gedäehtnissstörung sowohl in den Fällen
mit, wie ohne delirantes Vorstadium der sogenannten poly¬
neuritischen Psychose einen besonderen Charakter verleiht.
Neben dieser klinischen Besonderheit ist es aber der ätio¬
logische Factor, welcher dem Krankheitsbilde bei Poly¬
neuritis eine Sonderstellung gegenüber den ähnlichen Bildern
bei progressiver Paralyse, seniler Demenz etc. anweist. Es ist
die Toxämie, die von der ganz überwiegenden Anzahl der
Autoren als ursächliches Moment der in Rede stehenden Zu¬
stände anerkannt ist und die Korsakoff durch den Ter¬
minus Cerebropathia psychica toxaemica berücksichtigt wissen
wollte. Abgesehen von Tiling, der erklärt, dass es vorder¬
hand unmöglich sei, anzugeben, welches ätiologische Moment
für die Entstehung der typischen Psychose bei Polyneuritis
entscheidend sei, haben meines Wissens nur Frank14),
Seglas7) und theilweise Gudden10) sich für eine andere
Aetiologie, als die Toxämie, ausgesprochen. Letztere erblicken
in der polyneuritischen Psychose eine Erschöpfung des Nerven¬
systems, beziehungsweise des Gehirns. Für Frank ist sie
das Ergebniss ungünstiger hygienischer Verhältnisse und un¬
genügender Ernährung.
Von den Autoren, die den K o r s a k o f f sehen Stand¬
punkt bezüglich der Toxämie theilen, acceptiren die Einen,
speciell die älteren, in Allem die Lehre K o r s a k o f f’s, sowohl
seine Auffassung, wie den Terminus »polyneuritische Psychose«*
die Anderen, und namentlich Autoren der letzten Zeit, betonen den
von ihnen gemachten Beobachtungen gemäss das Vorkommen
der K o r s a k o f f sehen Psychose auch ohne gleichzeitige
Neuritis, verwerfen daher die Bezeichnung polyneuritische Psy¬
chose. Zu den Autoren erster Kategorie gehören: Brie15),
Vaindrach, Doubrovine, K i c h k i n e 1 6), Hövel11’11),
S o 1 1 i e r 17), Ballet18), C o 1 1 e 1 a 1 9), Soukkanoff8), Red¬
lich11); auf der anderen Seite stehen: Regis'20), Ba¬
bin ski21), Gudden10), Jolly14), Mönkemüller12),
Schulze 22).
Der Ein wand Soukhanof f s 8) gegen B a b i n s k i 2 ‘),
dass dieser das Bestehen eines organischen Bandes zwischen
Psychose und Neuritis leugne, weil er offenbar Fälle vor
Augen hatte, bei denen die neuritische Störung nur wenig aus¬
geprägt war, ist durch die Publication der Fälle von
Gudden10) (vier Fälle), Jolly13) (zwei Fälle), Mönke¬
müller t2) (zwei Fälle), Schulze 22) (zwei Fälle) widerlegt.
Mönkemüller, Schulze betonen ausdrücklich, dass sie
ihre Fälle auf Symptome von Neuritis sorgfältig untersucht
und in typischen Fällen von K or salco ff scher Geistesstörung
alle Erscheinungen einer Neuritis vermisst haben. Auch der
auf unserer Klinik beobachtete Fall, der von Rai mann21;
publicirt wurde, reiht sich den wenigen bisher veröffentlichten
Fällen dieser Art an. Solche Fälle waren es, die Jolly die
Bezeichnung polyneuritische Psychose als den Thatsachcn nicht
entsprechend verwerfen Hessen und ihm nahelegten, für die
Korsakof f sehe Form den auch schon von Schulze accep-
tirten Terminus »Korsakof fsches Syndrom« vorzuschlagen.
Die Korsakof f sehe Form als toxämische Geistesstörung
zu bezeichnen, erklärt Jolly für nicht zulässig, da er in
Ueberein Stimmung mit der von K r a e p e 1 i n 24), von mir20),
von Jacobson26) vertretenen Auffassung auch das Delirium
tremens als toxämische Psychose anspricht. Mit Recht betont
er, dass in dem acut auftretenden Gesammtbilde des Del.
trem. sich auch eine acute Vergiftung ausdrücke, die durchaus
nicht aus einer einfachen Summation der Alkoholwirkung er¬
klärt werden könne, sondern das Zwischenglied einer inten¬
siven Stoffwechselstörung mit Noth wendigkeit postulire. Auch
ist Jolly zuzustimmen, wenn er sagt, dass toxämische Geistes¬
störungen zweifellos in grösserer Menge und Mannigfaltigkeit
Vorkommen, als dass sie auf das eine von Korsakoff ge¬
zeichnete, allerdings sehr in die Augen springende Bild be¬
schränkt werden könnten. Es ist hier insbesondere auf die
Arbeiten von v. Wagner27) zu verweisen, der einerseits den
stricten Nachweis der engen Beziehungen zwischen gastro¬
intestinalen Autointoxicationen in vielen Fällen von acuten
Psychosen führt und andererseits schon im Jahre 1892 für die
Mehrzahl der postfebrilen Psychosen auf leichte polyneuritische
Erscheinungen aufmerksam gemacht hat, ein Befund, den wir
bei der regelmässigen Untersuchung der Amentiafälle auf
die
se
Symptome hin immer wieder bestätigt finden konnten.
Gleichwohl glaube ich, dass die Bezeichnung Cerebro¬
pathia psychica toxaemica für die K o r s ak o ff’sche Psychose
nicht unzutreffend gewählt ist und sowohl der Pathologie, wie
dem Symptomencomplex dieses Krankheitszustandes gerecht
wird. Die Gründe, die hiefür sprechen, werden weiter unten
anzuführen sein, und zwar nach Erörterungen der Modificationen,
welche die Fassung des klinischen und pathologisch-anatomi¬
schen Bildes der Polioencephalitis acuta haem, sup., sowie die
Auffassung des dieser zu Grunde liegenden Processes seit der
Aufstellung jener Krankheit durch Wernicke bisher er¬
fahren hat.
Das Wesen der Wernicke’schen Polioencephalitis besteht
nach Wernicke in einem acuten entzündlichen Process mit zahl¬
reichen, sehr kleinen, die Grösse eines Stecknadelkopfes nicht iibei-
treffenden Blutaustritten, die das centrale Höhlengrau des vierten
Ventrikels, des Aquaeductus Sylvii und des diätten Ventrikels
einnehmen, wobei die Kerne der Augenmuskelnerven von den
Blutaustritten ergriffen werden. Die Krankheit führt in 10 bis
14 Tagen zum Tode. Die überwiegenden Symptome bestehen
in conjugirten Augenmuskellähmungen, die rasch entstehen,
fortschreiten und schliesslich zu einer fast totalen Lähmung der
Augenmusculatur führen; ausgenommen davon bleiben der
Sphincter iridis und Levator palpebrarum. Der Gang zeigt eine
Combination von Steifheit mit Ataxie, ist taumelnd; als Allgemein¬
erscheinungen bestehen Störungen des Bewusstseins, entweder
von Anfang an Somnolenz oder ein Schlussstadium der Som¬
nolenz, das durch ein länger dauerndes Stadium der Agitation
eingeleitet wird. Die psychischen Störungen bei zwei Alkoholfällen
waren ein Delirium tremens. Entzündliche Veränderungen der Pa
pillen fanden sich in allen drei Fällen Wernicke’s. Dieses Krank¬
heitsbild hat nach der symptomatologischen, wie nach der patho¬
logisch-anatomischen Seite mannigfache Modificationen erfahren.
In symptomatologischer Richtung stellte sich heraus, dass trotz
Gleichbleibens des pathologisch-anatomischen Processes conjugirte
Augenmuskellähmungen keineswegs die Regel sind; die Äugen-
muskellähmungen fanden sich auf ein Auge beschränkt bei I rei¬
bleiben des zweiten Auges (Fall Schlesi nger s und llori s -8). E>
fand sich Ptosis und auch die Innervation der inferioren Augen¬
muskeln war in mannigfacher Weise gestört.
Es ist Miosis,
verzeichnet: neben
dann Mydriasis, Ungleichheit der Pupillen
absoluter Pupillenstarre ist auch Lichtstarre bei erhaltener accom¬
modative!’ und Convergenzreaction der Pupillen vermerkt (I <i
340
WIEN Eli KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 15
Boe decker29), totale Pupillenstarre (Fall Salomonsohn’s30),
Fall Tomas ini’s31), Fall Reunert’s 32). Es fanden sieb in¬
dessen nicht nur Aenderungen hinsichtlich der Symptome
innerhalb des von Wernicke entworfenen localen Symptomen-
complexes, demnach in der Anordnung der von der Ophthal-
moplogie befallenen Augenmuskeln. Das Krankheitsbild griff
mehrfach über den Rahmen dieses Symptomencomplexes mehr
oder minder weit hinaus; so fanden sich im Falle Kaiser’s33)
ladbare Lähmungen und gegen Lebensende eine Hemiplegie,
schon im Falle Gayett’s34) eine kurzdauernde Hemiplegie, im
Falle S c h 1 e s i n g e r’s und H o r i’s 28) Sprachstörung und Schling¬
beschwerden, in dem allerdings zweifelhaften Falle Marina’s35)
Deglutitions- und dysarthrische Störungen, später beiderseitige
complete und totale Facialislähmung, im geheilten Falle
W iener’s36) eine flüchtige Hemiparese mit Einschluss des
Facialis. Mehr noch als durch die Symptomenbereicherung
treten einzelne Fälle durch weit verbreitete pathologisch¬
anatomische Veränderungen aus den Grenzen der von Wer¬
nicke aufgestellten pathologisch - anatomischen Grundlagen
seines Krankheitsbildes heraus. Nicht nur das centrale Höhlen¬
grau des dritten, vierten Ventrikels und des Aquaeductus Sylvii,
nicht nur die Gehirnnervenkerne sind der Sitz der acuten
hämorrhagischen Entzündung; die Hämorrhagien fanden sich auch
in anderen grauen Massen, in der Substantia nigra, im Nucleus ruber,
im Thalamus opticus, im Falle Kaiser’s33) und Boedecker’s29)
in den grauen Massen des Rückenmarkes, im Vorderhorn, an
der Grenze des Vorderhornes und Hinterholmes, in dem als sub¬
acute Polioencephalomyelitis diagnosticirten Falle Kal is che r’s 3‘)
im centralen Höhlengrau vom hinteren Drittel des dritten
Ventrikels abwärts bis zum Sacralmark. Man stiess ferner
auf kleine Hämorrhagien mit dem Charakter einer acuten Ent¬
zündung in der weissen Substanz, so in den Markmassen des
Hirnstammes, in der inneren Kapsel, dem Hirnschenkelfuss,
dem Vierhügel, dem Pons und der Medulla oblongata (Fall Hori’s
und S chl e s i nger’s, Kai s er’s; im ersten Falle Murawieff’s38)
waren Lemniscus, Brachia conjunctiva, Pyramiden betroffen
im Falle Gol d sc h eider’s 39) Schleife, Bindearm, Hirnschenkel¬
fuss, hintere Commissur, Capsula interna, Centrum semiovale in
geringem Masse neben den grauen Massen der Substantia
nigra, des rothen Haubenkernes, des Thalamus opticus; es
handelte sich um grössere Blutaustritte, dabei Polioencephalitis
acuta haem. sup.
Im Falle Schüle’s40) und Eisenlohr’s41) waren zum
Befunde einer Polioencephalitis acuta haem. sup. ziemlich aus¬
gedehnte Erweichungen hinzugesellt. Im Falle Eisenlohr’s
war ausser der Erweichung ein Befund, der der von Strümpell
aufgestellten Encephalitis acuta haemorrh. entspi'ach. Hieher
gehört offenbar auch der von Wernicke citirte Befund
Gayett’s, bei dem die als entzündlich aufgefassten Ver¬
änderungen den ganzen Querschnitt der linken Haube mit
Einschluss des linken Bindearmes einnahmen, und auch die
Sehhügel in unregelmässiger Weise ergriffen waren. Auch
der Fall Gold s c hei d er’s wurde von Oppenheim*) als
eine Combination der Polioencephalitis acuta haem. sup. mit
einer Strümp ell’schen Encephalitis acuta haem. angesehen.
V as die Krankheitsdauer der letal verlaufenen Fälle be¬
trifft, so ist, abgesehen von dem Falle Gayett’s mit fünf¬
monatlichem Verlauf und dem Schlesinger’s und Hori’s
mit 16 wöchentlicher Dauer, der peracute dreitägige Verlauf
im Falle Eis en lo h r’s 41), der fünftägige im Falle Jacobaeu s42)
hervorzuheben, zeitliche Verhältnisse, die von den Angaben
Wernicke’s über eine 10 — 14 tägige Dauer erheblich ab¬
weichen.
Eine praktische Bedeutung vom Standpunkte der Pro¬
gnose gewannen jene Fälle, die zweifellos durch ihre klinische
Erscheinungsweise der W er nie ke’schen Polioencephalitis
acuta haem. sup. sich einreihen, entgegen der letalen Pro¬
gnose, die Wernicke diesen Fällen stellt, jedoch dieser Krank¬
heit nicht erlagen, sondern entweder ganz geheilt (Fall
V i e n e r’s36), T omasin i’s31), Fall S a 1 o m o n s o h n’s30), hinsicht¬
lich der Augensymptome Fall Mur a wieff’s38), oder mit mehr
*) Hie Prognose (1er acuten nicht eiterigen Encephalitis. Deutsche
Zeitschrift für Nervenheilkunde. 1895, Bd. VI.
oder minder ausgeprägtem Bewegungsdefect der Augenmuskeln
aus derselben hervorgingen: die Fälle Thomsen’s43),
Boedecker’s44), Suckling’s45), Lin smey er’s 4fi), der auf
unserer Klinik beobachtete und von Raimann mitgetheilte
Fall, der allerdings nicht sicher hieher gehörige Fall Marina’s35)
(weil Lues nicht sicher auszuschliessen ist). Nach Oppen¬
heim47) scheint die Prognose der auf Influenza beruhenden
Fälle, wozu er die Fälle von Uhthoff, Pflüger, einen
eigenen Fall zählt, eine besonders günstige quoad sana-
tionem zu sein.
Wenn ich weiter oben Fälle erwähnt habe, welche nach
der symptomatologischen Seite gleichsam eine Bereicherung
des Wernicke’schen Symptomencomplexes bedeuten, Fälle,
bei denen sich mit der Ophthalmoplegie noch andere Ausfalls¬
erscheinungen vereinigten, so erscheinen die meisten geheilten
Fälle um einige klinische Züge ärmer, als das von W ernicke
entworfene Krankheitsbild; zunächst fehlt hier ein Fortschreiten
der Augenmuskellähmungen zu einer fast totalen Paralyse; viel¬
mehr bildet sich, wie schon B oedeeker44) hervorhob, die Oph¬
thalmoplegie innerhalb einer kurzen Zeit zurück. So sei bei¬
spielsweise erwähnt, dass im Falle Salomonsohn’s30) nach
zwölf Tagen die totale, demnach interiore und exteriore Oph¬
thalmoplegie vollständig geheilt war; im Falle Thomsen’s43)
ging in den nächsten Tagen nach der Erkrankung die Augen¬
muskellähmung zurück und war innerhalb vier Monaten bis
auf einen eben sichtbaren Bewegungsdefect des linken Auges
geheilt; im Falle Boedecker’s44) sind nach etwas mehr als
zwei Monaten, nach einem Wechsel von Besserung und Ver¬
schlimmerung die Augenbewegungen frei bis auf ein geringes
Zurückbleiben im Sinne der Extend ; bei dem auf unserer
Klinik beobachteten Falle war nur am ersten Tage Unbeweg¬
lichkeit des rechten Bulbus zu constatiren ; schon am zweiten
Tage fand sich nur beiderseitige Abducenslähmung, die sonstigen
Augenbewegungen waren und blieben frei; am 15. Tage war
die linke Abducenslähmung ganz zurückgegangen, die rechte
nur noch spurweise vorhanden, was bis zur Entlassung an¬
hält. Bei externer seitlicher Blickrichtung Nystagmus horizon-
talis. Dieser Fall bildet den Uebergang zu solchen Fällen, wo
eine eigentliche Ophthalmoplegie fehlt und nur Lähmungen
einzelner Muskeln sich vorfinden; als solcher ist ein Fall
B oedecker’s (in der Publication aus dem Jahre 189 2 44]) an¬
zuführen; es ist das ein geheilter Fall. Boedecker weistauf
die grosse Uebereinstimmung dieses Falles, in dem nur beider¬
seitige Abducenslähmung vorlag, mit dem zuvor schon er¬
wähnten geheilten Falle, welch letzterer anfangs eine Ophthalmo¬
plegie und weiterhin nur Abducensparese aufwies, eine Ueber¬
einstimmung, die durch den übrigen Symptomencomplex ge¬
geben ist. Die grosse Aehnlichkeit ist hergestellt durch den¬
selben acuten Beginn, durch Störungen im Augenmuskelapparate
unter gleichzeitigem Auftreten von Delirien, durch den Nystag¬
mus, Pupillendifferenz und denselben paretisch schwankenden
Gang, gleiche Pulsbeschleunigung bei normaler Temperatur,
das schnelle Schwinden der Augenmukeiparese im Bereiche der
Abducentes bis auf einen eben nachweisbaren minimalen Be-
wegungsdefeet, durch über Wochen sich hinziehendes protra-
hirtes Delirium alkoholischen Charakters, nach dessen Ablauf
Gedächtnissschwäche zurückbleibt. Boedecker nimmt von
diesem Falle ausgehend Anlass, darauf hinzuweisen, dass den
in der Literatur der multiplen Alkoholneuritis verzeichneten
Lähmungen einzelner Augenmuskeln bei manchen Fällen mit
psychischen Erscheinungen die gleiche Bedeutung wie der Oph¬
thalmoplegie in den mit den Wernicke’schen mehr oder
minder übereinstimmenden Fällen zukommen dürfte, so in
einzelnen Fällen von Schulze, Lilienfeld, Oppenheim
und Bernhardt, ein Hinweis, in dem schon Thomsen43),
Boedecker vorausging.
Indem ich nun an den ersten Tlieil meiner Dar¬
legungen anknüpfe, ist zu betonen, dass die beiden ge¬
heilten Fälle Boedecker’s nach Ablauf eines protrahirten
Deliriums das typische Bild der sogenannten polyneuritischen
Psychose in ganz gleicher Weise, wie der an unserer Klinik
beobachtete, dargeboten haben. Der mit mehr verbreiteten
Augenmuskellähmungen behaftet gewesene erste geheilte Fall
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
341
Boedecker’s stimmte mit dem an. unserer Klinik beobachteten,
wie ich entgegen Boedecker glaube, auch darin überein, dass
eigentliche neuritische Symptome dort fehlten. Boedecker
verzeichnet eine hochgradige Schwäche, einen paretischen,
ataktischen Gang, aber keine ausgesprochenen Lähmungserschei¬
nungen und an sensiblen Störungen vor der Erkrankung
Schmerzen in den Knieeu, Erscheinungen, die umso wenigei
zur Diagnose »Neuritis« ausreichen, als Boedecker selbst
in seiner späteren Arbeit 29) aus dem Jahre 1895 aus
der Zusammenfassung der bis dahin histologisch unter¬
suchten Fälle die Angabe ableitet, dass die peripheren Ner¬
ven, wo untersucht, entweder gesund, oder nur wenig be¬
fallen befunden wurden. In einem eigenen neuen Fall, der,
was Gang, motorische Kraft betrifft, sich gleich dem vor¬
erwähnten verhielt, überdies noch Abschwächung der Patellar-
sehnenreflexe aufwies, erhob er nur Blutungen und verdickte
Gefässwandungen in beiden Crurales; im Uebrigen waren diese
gesund. Der geheilte Fall Thomsen’s43) ist anfangs verwirrt,
nach 18 Tagen klar, aber ein wenig stumpf; vielleicht dart
auch in diesem Falle die Stumpfheit in Analogie mit der so¬
genannten polyneuritischen Psychose gesetzt werden. Der Fall
ist 1888 publicirt, wo die Kenntniss dieser Form psychischer
Störung noch nicht geläufig' war. Diesen Fällen ist ferner
Suckling’s gebesserter Fall einer Polioencephalitis acuta
haem. sup. anzureihen: Bei einem Potator fand sich beider¬
seitige Ptosis, Strabismus divergens. Patient konnte die Augen
zur Seite bewegen, nicht aber nach oben und unten. Die
Patellarsehnenreflexe fehlten; sonst keine Paresen, Druck¬
schmerzhaftigkeit der Nervenstämme; psychisch erschien der
Kranke verwirrt, sein Gedächtniss war sehr gestört; er wusste
nicht, wo er sich befand, war zeitlich desorientirt; wenn er gefragt
wurde, ob er aus war, antwortete er in bejahendem Sinne, indem
er erklärte, einige Meilen sich entfernt und Whisky getrunken zu
haben, während er sich thatsächlich im Spital befunden habe; später
besserte sich die Ophthalmoplegie; über das weitere psychische
Verhalten ist nichts angegeben. Es ist ohne Weiteres klar, dass
es sich auch in diesem Falle um eine psychische Störung vom
Charakter der sogenannten polyneuritischen Psychose mit Er¬
innerungstäuschungen handelte. Auch der geheilte Fall
Murawi e f f’s 38) betraf einen Potator, der neben Augenmuskel¬
störungen, beschränkt aut eine Störung der conjugirten Augen¬
bewegungen bei Freibleiben aller nicht conjugirten Bewegungen,
auf eine Pupillendifferenz und vorübergehende beiderseitige
Ptosis, neben Symptomen von Polyneuritis das typische Bild
einer sogenannten polyneuritischen Psychose bot; es fanden
sich Gedächtnissschwäche und paramuestische Erscheinungen;
innerhalb fünf Monaten war die Ophthalmoplegie ganz zurück¬
gegangen, das Gedächtniss so weit gebessert, dass er seinen Ge¬
schäften nachgehen konnte; die Symptome der Polyneuritis
hielten in geringem Grade noch an. Nur im Falle Wien er S"°)
mit der gleichen, nämlich alkoholischen Aetiologie ist von
einer sogenannten polyneuritischen Psychose nichts erwähnt;
immerhin auffallend ist auch bei diesem Falle die lange Dauer
der psychischen Störung, da erst am zehnten Tage nach Auf¬
nahme des im Alkoholdelirium angekommenen Kranken ver¬
zeichnet ist, dass die Benommenheit geschwunden sei; doch
soll Patient schon fünf Wochen früher krank gewesen sein;
aus der Krankengeschichte ist allerdings nicht zu ersehen, ob
er während dieser Zeit psychische Störungen bot. In den ge¬
heilten Fällen L i n s m e y e r’s 40) mit einer Septhämie alsLrsache
der Polioencephalitis acuta haem. sup., Tomasini’s mit In¬
fluenza als ätiologischem Moment dieses Leidens, Salomo n-
s ohn’s ohne bekannte Aetiologie, den Influenzafällen Uhthott s,
P f 1 ü g e r’s, Oppenhei m’s, und dem zweitelhatten Marinas
finden sich keine Anhaltspunkte für die Annahme einer poly¬
neuritischen Psychose.
Fasst man die Resultate obigen Rückblickes zu¬
sammen, so ergibt sich die bemerkenswerthe Ihatsache,
dass in sechs geheilten Fällen von Polioencephalitis acuta
haem. sup. sich eine Combination dieses Leidens mit der^ so¬
genannten polyneuritischen Psychose vortand, in einem Falle
mit alkoholischer Aetiologie war sie vielleicht deshalb nicht
vorhanden, weil es sich um einen leichten und sehr schnell in
Genesung ausgegangenen Fall handelte (Fall Wiener, der
am 5. Juni delirant ins Spital kam und am 6. Juli ganz ge¬
heilt war); die anderen Fälle mit nicht alkoholischer Aetiologie
(Influenza, Septhämie, unbekannte Aetiologie) Hessen die
obenerwähnte Combination vermissen. Diese Zusammenstellung
lässt den Schluss nicht ungerechtfertigt erscheinen, dass zu¬
mindest der alkoholischen Polioencephalitis acuta haem. sup
die Tendenz innewohnt, sich regelmässig mit der sogenannten
polyneuritischen Psychose zu verbinden und dass in den tödt-
lich verlaufenden Fällen dieser Affection sich vielleicht nur
desshalb die polyneuritische Psychose nicht bemerkbar machte,
weil der Entwicklung derselben der Exitus zuvorkam.
Was die zuvor erwähnte Annahme Boedecker’«4 1)
betrifft, dass manche Fälle der multiplen Alkoholneuritis mit
Erscheinungen psychischer Störung und einzelnen Augenmuskel¬
lähmungen den W e r n i c k e’schen Fällen der Polioencephalitis
acuta haem. sup. einzureihen sind, so haben Untersuchungen
der letzten Jahre ergeben, dass diese vollauf berechtigt war.
Von besonderem Interesse für die hier behandelte Frage ist
die Arbeit Gudden’s 10) aus dem Jahre 1896; von fünf
histologisch untersuchten Fällen Gudden’s gingen zwei mit
einer Psychose vom Charakter einer K o r s a k o f fischen
Geistesstörung einher; aber auch die anderen drei Fälle zeigten
eine nicht unbeträchtliche Geistesschwäche, namentlich eine
Schwäche des Gedächtnisses. In vier von diesen fünf Fällen
fanden sich nun hämorrhagisch-encephalitische Processe (der
Stamm des fünften Falles wurde nicht untersucht), die sich
mit grösserer oder geringerer Intensität in der Wand des
dritten Ventrikels, den grossen Ganglien, insbesondere den
Sehhügeln, auch in den Corpora mamillaria abgespielt hatten.
In keinem dieser Fälle sind Bewegungsstörungen der exteri-
oren Augenmuskeln intra vitam beobachtet worden; nur der
dritte Fall wies eine träge Lichtreaction, der fünfte Fall gegen
das Lebensende Fehlen der Lichtreaction auf. Die Natur des
Processes war identisch mit der der Fälle Wernicke’s und
der der anderen Fälle von Ophthalmoplegie, welche als Poli-
encephalitis acuta haem. sup. beschrieben wurden. Der Unter¬
schied bestand nur in der Localisation des Processes, der die
Augenmuskelkerne unbetheiligt Hess; im ersten Falle war der
entzündlich-hämorrhagische Process sogar weit verbreitet, so
dass die graue, hauptsächlich aber die weisse Substanz des
Rückenmarkes in den verschiedensten Höhen kleine und
kleinste Blutaustritte erkennen Hess; im mittleren Drittel des
Halssegmentes fand sich ein kleiner Erweichungsherd; im
dritten Falle fand sich eine Hämorrhagie in der kernfreien
Zone der Brücke zwischen Nervus facialis und trochlearis ver¬
zeichnet. Gudden’s Voraussage, dass eine methodische Unter¬
suchung der Hirnstämme von Alkohohkern solche, aut dieWandun-
gen des dritten Ventrikels und dessen Umgebung beschränkte De-
structionen, als ein nicht allzuseltenes Vorkommniss, ergeben
dürfte, ist durch die im Jahre 1898 mitgetheilte Untersuchung
Bonhoeffer’s48) bestätigt worden. Dieser fand bei vier
unter sieben untersuchten Delirantengehirnen kleine Blutextra¬
vasate im Höhlengrau, speciell in der Gegend der Augen¬
muskelkerne. Es hatte sich in diesen I ällen um schwere Al-
koholdelirien gehandelt. Was hier besonders zu betonen ist,
ist, dass Bonhoeffer klinisch nichts von Augenmuskel¬
störungen constatiren konnte. Von zwei geheilten Delirium¬
fällen Bonhoeffer’s brachte der eine Delirant Klagen über
Doppeltsehen ohne Vorhandensein einer objectiv nachweisbaren
Parese der Augenmuskeln vor, der zweite, der erst einen lag
nach Ablauf des Deliriums von Bonhoeffer gesehen wurde,
und gleichfalls Doppelbilder angab, zeigte eine leichte Schwäche
des rechten Abducens, die nach wenigen Tagen geschwun¬
den war. t
Diese hier zusammengestellten klinischen und patho¬
logisch-anatomischen Befunde geben Boedecke r Recht, w enn
er in der Arbeit aus dem Jahre 1892 darauf hinweist, dass
nur die verschiedene Ausdehnung und die Intensität der Hä-
morrhagien die Verschiedenheit der klinischen Bilder bedingt,
dass der rasche Exitus in den mit den W e r n i cke sehen
übereinstimmenden Fällen durch Uebergreiten auf I n UIU
Atbmungscentrum herbeigeführt werden dürfte. V ii se en c en
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 15
342
gleichen pathologisch -anatomischen Process und annäherungs¬
weise die gleiche Localisation mit Vorliebe desselben für das
centrale Höhlengrau des dritten, oder des dritten und vierten,
oder auch des dritten, vierten Ventrikels und Aquaeductus
Sylvii bald mit mehr oder minder vollständiger Ophthalmo¬
plegie, ähnlich den W e r n i c k e’schen Fällen, bald mit ein¬
zelnen Augenmuskellähmungen, wobei die Abducentes bevor¬
zugt werden, bald mit isolirten Störungen des Pupillenspieles
einhergehen und schliesslich ohne alle Augensymptome, ohne
irgend welche Symptome seitens der Gehirnnerven überhaupt
verlaufen.
Die Fälle, welche die Grundlage vorstehender Erörterungen
abgaben, betrafen vorwiegend chronische Alkoholisten, was nicht
Wunder nehmen wird, da in der Aetiologie der Polioencepha¬
litis acuta haem. sup. nach den bisher bekannt gewordenen
Fällen der chronische Alkoholmissbrauch eine überragende
Rolle spielt; wir sahen, dass sechs genesene Fälle, die das Bild
dieser Erkrankung darboten, auf psychischem Gebiete mit der
typischen K o r s a k o ff’schen Geistesstörung einhergingen. In
fünf dieser Fälle setzte die Erkrankung mit Augenmuskel¬
störungen und einem Delirium alkoholischen Charakters ein,
welch letzteres von den gewöhnlichen Delirien sich durch den
protrahirten Verlauf und durch die allgemeine Schwäche der
Patienten unterscheidet, derzufolge die Kranken nur halblaut
oder leise vor sich hindelirirten, nicht die bekannte motorische
Geschäftigkeit zeigten. Die Verwirrtheit im Falle Thomsen’s
hielt 17, das Delirium in dem einen geheilten Falle Boe-
decke r’s 15 Tage an, in dem zweiten Falle Boe decker’s
zoo- es sich über Wochen hin, in dem an unserer Klinik be-
obachteten Falle dauerte es sechs Tage. Mit Zurücktreten des
Deliriums trjtf in diesen Fällen das Krankheitsbild einer typi¬
schen Gedächtnissstörung vom Charakter der Korsakoff-
schen Psychose hervor, die weiterhin in Genesung überging.
Der eine Fall Boe decker’s, wie ich weiter oben ausführte,
sowie der auf unserer Klinik beobachtete Hessen die Sym¬
ptome einer Neuritis vermissen. In zwei der sechs Fälle, dem
Falle Suckling’s und Murawieff’s, scheint die Ophthal¬
moplegie und die sogenannte polyneuritische Psychose sich
ohne vorausgegangenes Delirium entwickelt zu haben.
Zieht man weiterhin die vorliegenden pathologisch-histo¬
logischen Befunde zu Rathe, so ist hervorzuheben, dass, wie
die Gudden’schen Fälle lehren, bei der sogenannten poly-
neuritischen Psychose sich ein pathologisch-anatomischer Befund
im Gehirne vorfinden kann, der mit den Befunden in den
Fällen Wernicke’s (der Polioencephalitis acuta haem. sup.)
im Wesentlichen übereinstimmt, auch dann, wenn Gehirn-
nervenlähnmngen, Augenmuskellähmungen fehlen oder verein¬
zelt angedeutet sind.
Mit diesem Sachverhalte vor Augen werden wir erst das
richtige Verständniss und die richtige pathologisch-anatomische
Deutung für jene Gehirnsymptome gewinnen, die Korsa¬
koff als sehr häufiges Vorkommniss bei der sogenannten
polyneuritischen Psychose alkoholischen Ursprunges beschrieb
und die ich eingangs besonders hervorhob; es handelt sich,
um zu wiederholen, um das Mitbetroffensein des Gehirnes in
Form von Herderkrankung, als deren Symptome Nystagmus,
Pupillendifferenz, Ophthalmoplegie, Sprachstörung, Schlingbe¬
schwerden, Schwindel, Erbrechen genannt Avurden; es sind
dies sämmtlich Symptome, wie sie auch dem hämorrhagisch
entzündlichen Process des centralen Höhlengraus im Gehirn
als solchem zukommen. Wenn K o r s ak o f f auch das Rücken¬
mark bei der sogenannten polyneuritischen Psychose mitafficirt
liudet. so ist an die Rückenmarksbefunde bei Polioencephalitis
acuta haem, sup., so z. B. in den obdueirten Fällen Kaiser’s,
Boedecke r’s, in dem einen Fall G u d d e ns zu erinnern. Ein
die nahen Beziehungen zwischen der Polioencephalitis acuta
haem. sup. und der sogenannten polyneuritischen Psychose be¬
leuchtendes Moment ist ferner in dem Umstande zu finden,
dass, wie Korsakoff hervorhebt und schon Aveiter oben
betont wurde, bei der alkoholischen multiplen Neuritis fast
stets Cerebropathie, d. i. die oben erwähnten Symptome zu
finden sind; andererseits hat die überAviegende Anzahl der
Fälle von Polioencephalitis acuta haem. sup. eine alkoholische
Aetiologie; aber selbst in Fällen der sogenannten polyneuriti¬
schen Psychose, avo Symptome einer Cerebropathie fehlen, wird
man nicht ohne Weiteres ein Mitbetroffensein des centralen
Höhlengraus ausschliessen können, wie die3 die Gudden-
schen Fälle lehren. Auch die B on h o e ff e r’schen 18) Fälle, bei
denen allerdings nichts von einer polyneuritischen Psychose
verzeichnet ist, und die allem Anscheine nach (die Angaben
hierüber sind sehr flüchtige) im Delirium starben, dürfen hieftir
herangezogen Averden. Es ist sehr Avahrscheinlich, dass es sich
um Fälle handelte, die, Avenn s’e nicht letal ausgegangen
wären, von einer K o r s a ko ff’schen Psychose gefolgt wären.
Die Angaben Korsakoff’s über eine Betheiligung der
Augenmuskeln bei den Fällen sogenannter polyneuritischer
Psychose linden sich in den Krankengeschichten späterer Au¬
toren vielfach bestätigt.
Brie l5) berichtet über Nystagmus bei seitlicher Blick¬
richtung und Abducenslähmung mit Doppeltsehen bei
einer durch Gastroenterititis zur Entwicklung gelangten Poly¬
neuritis mit Korsakof f’scher Psychose ; nach nahezu voll¬
ständiger psychischer Genesung blieben noch geringe Ein¬
schränkung der Beweglichkeit und geringer Nystagmus bei
seitlicher Blickrichtung zurück. Redlich11) verzeichnet im
ersten seiner zwei Fälle Ungleichheit der Pupillen, linksseitige
Abducensparese und Nystagmus bei extremer Blickrichtung
nach links wie rechts, desgleichen beim Blick nach oben,
Symptome, die bis auf die Pupillendifferenz weiterhin schwanden.
Im zweiten Falle fand sich Ungleichheit und Lichtstarre der
Pupillen, die weiterhin ihre Lichtreaction zurückerlangten.
Jolly l3) gibt im vierten seiner tabellarisch zusammen¬
gestellten männlichen Neuritisfälle mit K o r s a k o f f’schem
Syndrom beiderseitige Abducensparese an, die nach einigen
Monaten gesclnvunden ist, für den Fall 6 derselben Gruppe
Pupillendifferenz, für die zweite Frau derselben Gruppe
anfangs träge, später gebesserte Lichtreaction der Pupillen,
für die vierte Frau dieser Gruppe linke Abducensparese bei
der Aufnahme, die bald scliAvindet, für die fünfte Frau leichte
Ptosis und starke ErAveiterung der rechten Pupille, die beide
Aveiterhin zurückgehen; es sind das sämmtlich alkoholische
Fälle.
Soukhanoff8) berichtet im ersten seiner zehn Fälle,
dass das rechte Auge weiter offen ist als das linke, die Zunge
leicht nach rechts abAveicht. Die histologische Untersuchung
dieses zur Obduction gekommenen Falles hat leider Aveder das
centrale Höhlengrau noch auch die Augenmuskelnerven be¬
rücksichtigt; im zweiten Falle entwickelte sich nach einer
vorausgegangenen fieberhaften, nicht näher diagnosticirten Er¬
krankung, zugleich mit der Gedächtnissstörung einsetzend,
Doppeltsehen von flüchtiger Dauer; späterhin wurde beider¬
seitige Ptosis und zeitweiliger Strabismus, durch Schwäche des
linken Abducens bedingt, beobachtel; die Ptosis schwand nach
einigen Tagen. Im vierten Falle, einer Korsakoff’schen Psychose
bei einem Trinker nach Influenza fand sich eine AAreite linke, auf
Licht schlecht reagirende Pupille, nachdem schon zAvei Monate
früher Diplopie bestanden hatte. Auch für diesen Fall, der
obducirt wurde, findet sich kein ausführlicher histologischer
Befund ; nur Walle r’sche Degeneration der peripheren Nerven
ist verzeichnet. Der fünfte Fall, Säufer, zeigte nach voraus¬
gegangener Neuritis Strabismus und gleichzeitig mit dessen
Auftreten Neigung zu imaginären Erzählungen. Der siebente
Fall mit unbekannter Aetiologie bot rechts eine Aveitere Pupille
als links, der achte Fall zeigte Ungleichheit der Pupillen.
Im neunten Falle, der im Gefolge eines typhösen Fiebers er¬
krankt Avar, ist beiderseitige Ptosis und Diplopie vermerkt;
der physische Zustand besserte sich weiterhin.
Unter den 24 Fällen M ö n k e m ü 1 1 e r’s 12) lindet sich
auch eine Anzahl mit Augenmuskelstörungen ; der fünfte Fall,
Potator, zeigt Schwäche der Abducentes, sechster Fall, Potatrix,
lange dauernden Nystagmus und anfangs träge, später aus¬
giebige Lichtreaction der Pupillen, der siebente, Potatrix, hori¬
zontalen Nystagmus, der zehnte Fall mit unbekannter Aetiologie
(kein Trinker), vielleicht nach einer fieberhaften Cerebrospinal-
meningitis, eine Aveitere und träge reagirende linke Pupille
gegenüber rechts, die später zur Norm zurückkehrt, der eilte
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
343
Fall, Potator, horizontalen Nystagmus, der jahrelang fortbestehen
bleibt, der 13. Fall, Potator, im Beginne minimale, wenn über¬
haupt vorhandene, nach drei Monaten aber wieder ausgiebige
und prompte Licht- und Convergenzreaction, der 16. Fall,
Potator, starre, nach sechs Wochen wieder prompt reagirende
Pupillen ; hier verdient erwähnt zu werden, dass im dritten
Falle Mönkemülle r’s, einem ohne Augenerscheinungen
schnell verlaufenen, obducirten Falle, im Stabkranz und den
grossen Ganglien sich stecknadelkopfgrosse Erweichungsherde
vorfanden.
Meine vorstehende Zusammenstellung macht nicht den
Anspruch auf Vollständigkeit; ob in allen Fällen, wo Augen¬
muskelstörungen sich vorfanden, entzündlich-hämorrhagische
Processe im Sinne einer nach Ausdehnung und Localisation
modificirten Polioencephalitis haem. sup. acuta nach Wernicke
denselben zu Grunde lagen, wage ich nicht zu entscheiden ;
bei' einer Krankheit, die ihren Namen dem so häufigen Er-
griffensein der peripheren Nerven in Form einer Polyneuritis
anfangs verdankte, wird es schwer sein, für alle Fälle mit
Augenmuskelstörungen eine neuritische Affection der Augen¬
muskelnerven auszuschliessen ; eine gewisse Berechtigung
hiezu hätte man, wenn sehr zahlreiche histologische Unter¬
suchungen nach dieser Richtung ein negatives Resultat er¬
geben hätten; solche Untersuchungen stehen aber noch aus;
so ist darüber in den wenigen obducirten Fällen unter den
zuvor bezüglich der Augensymptome gestreiften nichts darüber
ausgesagt. Auch ist nicht zu übersehen, dass in einigen wenigen
obducirten Fällen von Augenmuskellähmung bei Alkoholneuritis
weder Veränderungen an den Augenmuskelnerven, noch auch
solche, in deren Ursprungskernen, oder dem centralen Höhlen¬
grau gefunden wurden. Ob nicht eine weniger sorgfältige
Untersuchung kleinere und kleinste Läsionen hiebei über¬
sehen, käme immerhin in Betracht.
Die weiter oben erörteten Befunde weisen jedoch wohl
mit Sicherheit darauf hin, dass viele selbst der unbedeutend¬
sten Augenmuskelstörungen im Verlaufe der sogenannten
polyneuritischen Psychose einer hämorrhagisch entzündlichen
Polioencephalitis ihre Entstehung verdanken dürften; vielleicht
ist die überwiegende Anzahl, oder auch alle darauf zu beziehen.
Es darf unter Zugrundelegung der vorausgegangenen Er¬
örterungen die Combination der polyneuritischen Psychose mit
Polioencephalitis acuta haem, sup., besonders in Fällen alko¬
holischer Provenienz, als häufiges Vorkommniss angesehen
werden; aus dieser Häufigkeit des gemeinschaftlichen Vor¬
kommens darf aber weiter geschlossen werden, dass die poly-
* neuritische Psychose und die Polioencephalitis acuta haem. sup.
verschiedene Manifestationen eines und desselben Krankheits-
processes sind. Dadurch, dass derselbe die Gehirnrinde in
einer bisher nicht genau bekannten Weise in ihrer Function
schädigt, im centralen Höhlengrau des Gehirnes, der Medulla
spinalis, den Gehirnnervenkernen hämorrhagisch entzündliche
Vorgänge verursacht und an den peripheren Nerven neuriti¬
sche Veränderungen setzt, kommt das complete Bild einer soge¬
nannten polyneuritischen Psychose mit Gehirnnervensymptomen
zu Stande, manchmal auch ohne letztere; manchmal bleiben die
peripheren Nerven verschont, dann resultirt die typische psychi¬
sche Störung und diese Fälle haben, wie früher erörtert, zur Ver¬
werfung des Terminus »polyneuritische Psychose« geführt.
Andere Male ist das centrale Höhlengrau, namentlich die Augen¬
muskelkerne, in einer mit den W e r n i c k e’schen Fällen über¬
einstimmenden Ausdehnung und Localisation betroffen, dann
werden die Symptome der W e r n i c k e’schen Polioencephalitis
acuta haem. sup. die Scene beherrschen. — Was den Krankheits-
process betrifft, so hängt er, wie in Uebereinstimmung mit
Korsakoff angenommen und wie im ersten Theile des
Aufsatzes besprochen wurde, mit Toxämie des Blutes, bedingt
durch Autointoxicationen oder Toxine der Infectionserreger,
zusammen. Mit Rücksicht auf die Häufigkeit der physischen
Gehirnsymtome bei der sogenannten polyneuritischen Psychose
erscheint mir der von Korsakoff vorgeschlagene Terminus
Cerebropathia psychica toxaemica werth, beibehalten zu
werden. Gegen Jolly13) der diesen Terminus nicht passend
findet, weil er (wie schon früher erwähnt) nichts Charakteri¬
stisches für die in Rede stehende Psychose habe, ebenso gut
auf das Delirium tremens als eine gleichfalls toxische Psychose
anwendbar sei und weil der Begriff der toxämischen psychischen
Störungen oder der Autointoxicationen ein ziemlich weit aus¬
gedehnter ist, ist zu bemerken, dass Symptome seitens der
Gehirnnerven beim gewöhnlichen Delirium tremens kaum Vor¬
kommen.
Gewisse klinische Gesichtspunkte lassen ferner die Auf¬
fassung gerechtfertigt erscheinen, dass dem gewöhnlichen De¬
lirium tremens einerseits und der sogenannten polyneuritischen
Psychose andererseits verschiedene Toxämien zu Grunde liegen.
Die initialen Delirien der sogenannten polyneuritischen Psy¬
chose, sowie die die Polioencephalitis haem. acuta sup. be¬
gleitenden Delirien sind schwere, wie Boedecker für letztere
betonte, durch die grosse allgemeine Schwäche mit einem
charakteristischen Zuge ausgestattete, ferner protrahirte, über
Wochen und selbst Monate sich hinziehende Delirien. Be¬
merkenswerth ist ferner, dass hier andauerndes, hartnäckiges
Erbrechen, ein Symptom langdauernder Verdauungsstörungen,
wie dies Mönkemüller für die sogenannte polyneuritische
Psychose mit Recht betont, ein häufiges Vorkommniss ist, ein
Umstand, der auf die grosse Bedeutung der gestörten Func¬
tion des Intestinaltractes bei der Bildung des hier in Be¬
tracht kommenden Giftes hin weist, während man für das ge¬
wöhnliche Delirium tremens sich das hier wirksame Gift in
anderer Weise zu Stande gekommen denken kann.*)
Für das qualitative Auseinanderhalten der zwei oben unter¬
schiedenen Gifte dürfte vielleicht noch Folgendes in Betracht
kommen : Das alkoholische Delirium trägt vorwiegend den Cha¬
rakter eines Reizungsvorganges, die Cerebropathia psych, tox.
das Gepräge der Lähmung, des associativen Ausfalles. Während
wir für das gewöhnliche, heilende Alkoholdelirium gar keinen
Grund zur Annahme eines andauernden Ausfalles asso-
ciativer Bahnen haben, ist dies für die Cerebropathia psychica
toxaemica durch die Befunde Gudden’s so ziemlich sicher¬
gestellt; im ersten, vierten und fünften seiner alkoholischen
Polyneuritisfälle mit psychischer Störung, mit dem post¬
mortalen Befund einer Polioencephalitis acuta haem. sup. fand
sich Einbusse des radiären Fasergeflechtes, im ersten
Falle in der linken, vorderen Centralwindung, im vierten
Falle in der dritten Stirnwindung, im fünften Falle, wo nur
ein Stück der ersten linken Temporalwindung untersucht
wurde, in dieser Windung; gleichsam als Ergänzung zu diesen
Befunden sind die Angaben Bonhoeffer’s49) anzusehen, wonach
er bei drei tödtlich verlaufenen Delirien alkoholischen Cha¬
rakters mit March i frische, sehr starke, degenerative Verände¬
rungen in den Radiärfasern der centralen Windungen und
daneben im Wurm des Kleinhirns fand; in einem dieser Fälle
liegt auch der Befund einer Polioencephalitis acuta haem.
sup. vor; es bandelte sich hier um schwere Delirien. Wären
diese Delirien in Heilung übergegangen, so hätten die Kranken
in die Reconvalescenzperiode eine Einbusse an Fasern des
radiären Flechtwerkes herübergenommen und es wäre bei
späterer histologischer Untersuchung der gleiche Befund, wie
in dem ersten Falle Gudden’s zu erwarten. Vielleicht hätte
sich diese Einbusse und die daraus abzuleitenden, weniger in¬
tensiven, nur functioneilen Störungen des übrigen Associations¬
organes als psychische Cerebropathie geltend gemacht. — Es ist
daher wohl nicht ungerechtfertigt, sich vorzustellen, dass beim
gewöhnlichen Delirium durch das specitische Gift desselben vor-
wiegendReizung’svorgänge, vielleicht nur in denGanglienzellen (als
dem allgemein angenommenen Sitze der Initiative für psychi¬
sche Processe) ausgelöst werden, bei der Cerebropathia psy¬
chica toxaemica durch die andere, vielleicht eine accidentelle
Toxämie in Folge der intensiveren Schädigung die Ganglien¬
zellen gelähmt werden und die von vielen Zellen abgehenden
Associations- und Projectionsfasern degeneriren, oder dass diese
Fasern selbst Sitz der Schädigung durch das aut sie ein wir¬
kende Gift sind und auf solche Weise untergehen. Letztere
Annahme könnte sich auf die Analogie des Betroffenseins von
Nervenfasern in den peripheren Nerven bei der multiplen
*) Siehe Literaturuummer 25).
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Neuritis stützen; für die erste Annahme würden sowohl die
von Bonhoeffer 49), wie j üngst von Trömner50) erhobenen
Befunde schwerer Veränderungen an den Ganglienzellen der
Gehirnrinde bei letal verlaufenden Alkoholdelirien heranzu¬
ziehen sein.
Die sogenannte polyneuritische Psychose behält sowohl
durch die Häufigkeit der Symptome seitens der Gehirnnerven,
wie allem Anscheine nach auch durch eine besondere Art der
Toxämie ihre Sonderstellung gegenüber dem gewöhnlichen
Delirium tremens bei, nicht minder gegenüber anderen Psy¬
chosen. die auf eine Autointoxication im Sinne v. Wagner’s
zu beziehen sind, weil bei den letztgenannten Psychosen
physische Symptome seitens des Gehirnes ein äusserst seltenes
Vorkommniss darstellen dürften. Es wird daher der Terminus
» Cerebropathia psychica toxaemica« sowohl der Symptomatologie,
wie der Pathologie des von Korsakoff zuerst genauer ge¬
schilderten Krankheitsbildes gerecht.
Literatur.
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Lehrbuch der Gehirnkrankheiten. Bd. II, pag. 229.
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Trinkern. Archiv für Psychiatrie. 1882, Bd. XIII; dann Fälle von Strüm¬
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combinirt mit multipler Neuritis. Archiv für Psychiatrie. 1890, Bd. XXI. —
Eine psychische Störung, combinirt mit multipler Neuritis. Allgemeine Zeit¬
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reminiscenzen) bei polyneuritischer Psychose. Ibidem. 1891, Bd. XLVII.
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Ein Beitrag zur sogenannten retrograden In¬
carceration.
Von Dr. Dominik Pnpovac, Assistenten an der II. chirurgischen Klinik in
Wien.
Bekanntlich hat May dl im Jahre 1895 den Terminus
»retrograde Incarceration« eingeführt, und zwar anlässlich
zweier von ihm beobachteter Fälle, von denen der eine eine
Incarceration des Wurmfortsatzes, der andere eine solche der
Tube betraf. Mavdl erwähnt hiebei die Seltenheit der Her-
«/
nien des Wurmfortsatzes und der Tube überhaupt, noch mehr
aber das seltene Vorkommen der Incarceration dieser Organe,
insbesondere aber der retrograden Incarceration. Unter diesem
Ausdrucke versteht er die Erscheinung, dass der incarcerirte
Theil des Organes bauchwärts vom incarcerirenden Ringe ge¬
legen ist, während peripherwärts von ihm, das heisst im
Bruchsacke selbst, ein verhältnissmässig normal beschaffener
Theil des Eingeweides sich vorfindet. In seinem Falle von
retrograder Incarceration des Wurmfortsatzes fand sich im
Bruchsacke das Cöcum. ein Theil des Ileums und das Anfangs¬
stück des Wurmfortsatzes, während das periphere Ende des
letzteren in der Bauchhöhle lag; dieser Theil zeigte die Er¬
scheinungen der Gangrän, während die im Bruchsacke ge¬
legenen Gebilde in ihrer Ernährung nicht gestört waren. Im
Anschlüsse an seine Beobachtungen bespricht May dl die
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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veranlassenden Momente zur Entstehung dieser Art von In¬
carceration, bezeichnet die strangförmigen Organe, wie Tube
und Wurmfortsatz, als besonders disponirt für die retrograde
Incarceration und zieht auch die Möglichkeit einer retrograden
Incarceration eines Netzstranges oder eines vorhandenen Di¬
verticulum Meckelii in Betracht, wenn, auch bis zu seiner Pu¬
blication keine Beobachtung einer retrograden Incarceration
dieser Organe veröffentlicht war.
Der Publication Maydl’s folgten in kurzen Intervallen
die von Schnitzler, Kukula, Kopstein und C. Bayer,
die verschiedene Arten von retrograden Incarcerationen be¬
trafen, vorzugsweise aber Netzincarcerationen, so dass also die
Annahme Maydl’s, dass auch das Netz zur retrograden In¬
carceration disponirt sei, in der That ihre Bestätigung fand.
In jüngster Zeit ist von Baracz ein Fall von retrograder
Netzincarceration mit Torsion des retrograd incarcerirten
Theiles erschienen.
Mit diesen Fällen ist die bisherige Casuistik der soge¬
nannten retrograden Incarcerationen erschöpft.
Ich hatte nun vor kurzer Zeit Gelegenheit einen Fall
von retrograder Incarceration des Wurmfortsatzes zu beob¬
achten und da der Fall eine reine Wurmfortsatzhernie betraf,
so glaube ich, dass die Seltenheit dieser Erscheinung die Mit¬
theilung derselben rechtfertigt.
Im Anschlüsse daran berichte ich kurz über einen von
mir beobachteten Fall von retrograder Netzincarceration.
1. Fall von retrograder Incarceration des Wurm¬
fortsatzes.
Am 9. März d. J. wurde ein SOjähriger Geschäftsdiener an
die II. chirurgische Klinik behufs Operation eines rechtsseitigen
incarcerirten Schenkelhernie geschickt. Die Anamnese ergab, dass
Patient in seiner Jugend an Knochentubercuiose und häufigen
Lungenkatarrhen gelitten habe. Eine linksseitige Leistenhernie habe
er schon seit 30 Jahren; die rechtsseitige Schenkelhernie sei vor
zwei Tagen plötzlich nach körperlicher Anstrengung aufgetreten,
wobei Patient heftige Schmerzen in der Geschwulst, selbst und in
der Nabelgegend empfunden habe; gleichzeitig trat Brechneigung
auf und erst nach Einnahme von Abführmitteln trat wenige Stunden
vor der auf die Klinik erfolgten Aufnahme des Patienten reich¬
licher Stuhlgang und Abgang von Winden *ein, so dass sich Pa¬
tient bedeutend erleichtert fühlte, doch blieben die Schmerzen in
der Bruchgeschwulst fortbestehen. Die Untersuchung des ziemlich
mageren, schwächlich gebauten Mannes ergab: An den inneren
Organen ausser einem Emphysem der Lungen keine abnormen
Verhältnisse.
In der Gegend des Sternums zahlreiche strahlige Narben.
In der linken Leistenbeuge eine kindsfaustgrosse, leicht reponible
Hernie. In der rechten Schenkelbeuge eine unterhalb des Poupart-
schen Bandes gelegene hühnereigrosse Geschwulst über der die
Haut etwas geröthet erscheint. Haut und subcutanes Zellgewebe
über der Geschwulst verschieblich. Geschwulst selbst auf der
Unterlage nicht verschiebbar.
Consistenz: prall, elastisch, fluctuirend, Percussionsschall da¬
rüber leer.
Diagnose: rechtsseitige incarcerirte Schenkelhernie, Inhalt
wahrscheinlich Netz.
Die Operation wurde unter meiner Assistenz von Herrn
Dr. Stein ausgeführt und zwar anfangs unter localer Anästhesie
(S ch 1 eich’sche Infiltrationsmethode), dann unter Narkose mit
B i 1 1 r o t h’scher Mischung.
Nach Freilegung des circa hühnereigrossen Bruchsackes
durch einen Längsschnitt wurde derselbe eröffnet. Er erwies sieb
als ziemlich dickwandig und es entleerte sich eine geringe Menge
blutig tingirten, jedoch nicht trüben und nicht übelriechenden
Bruchwassers.
Als Inhalt repräsentirte sich eine düsterroth gefärbte Darm¬
schlinge von Kleinfingerdicke, die wegen ihren Grössenverhältnisse
sofort als Wurmfortsatz angesprochen werden musste.
Nun wurde die allgemeine Narkose eingeleitet und unter
dieser die Operation beendet. Nach Erweiterung des Bruchringes
von aussen Hess sich die Darmschlinge vorziehen und es zeigte
sich, dass in der That eine Schlingenincarceration des Processus
vermiformis vorlas;.
Das freie Ende desselben war bauchwärts vom Bruchringe
gelegen und zeigte eine schwärzlichgrüne Farbe und an seiner
hinteren Fläche einen gelblich belegten oberflächlichen Substanz¬
verlust. Nun wurde das Cöcum vorgezogen und der Wurmfortsatz
an seiner Insertionsstelle amputirt und die im Cöcum gesetzte
Wunde kunstgerecht geschlossen. Abtragung des Bruchsackes nach
vorhergegangener Ligatur des Bruchsackhalses und vollständige
Hautnaht. Leider erlag der 80jährige Patient am zehnten Tage
nach der Operation einer Lobulärpneumonie, die am achten Tage
post operationem aufgetreten war. Die Obductionsdiagnose lautete:
Diffuse eiterige Bronchititis mit lobulärpneumonischen Herden in
beiden Unterlappen. Chronisches Emphysem beider Lungen und
senile Atrophie sämmtlicher Organe. Operationswunde vollständig
reactionslos.
Der exstirpirte Wurmfortsatz (siehe die Abbildung) zeigt
eine Länge von 11cm und enthält in seinem Innern einen
blutig-schleimigen Inhalt. Es waren deutlich zwei Incarcerations-
furchen ausgeprägt, wodurch er in drei Theile getheilt wurde,
deren mittlerer und periplierster die bereits oben geschilderten
Veränderungen zeigten, während der centrale Theil keinerlei
Veränderungen aufwies. Es lag somit in diesem Falle eine In¬
carceration des Wurmfortsatzes vor, die dadurch umso inter¬
essanter ist, als erstens der Wurmfortsatz allein incarcerirt
war, und zweitens nur eine Schlinge desselben im Bruchsacke
lag, während sein peripherster Theil bauchwärts vom Bruch¬
ringe lag und in seinen Circulationsverhältnissen am schwersten
geschädigt war, so dass also jene Erscheinung vorlag, die
M a y d 1 mit dem Namen der retrograden Incarceration be-
zeichnete. Dass diese Erscheinung eintreten konnte, dazu war
der Wurmfortsatz durch seine bedeutende Länge und sein
freies Gekröse vorzüglich geeignet. Dass sein distales Ende
von Circulationsstörungen mehr betroffen war als das im Bruch¬
sacke gelegene Mittelstück, hat wohl darin seinen Grund, dass
die zu- und abführenden Gefässe des ersteren an zwei Stellen
entsprechend den beiden Incarcerationsfurchen comprimirt
wurden, während das Mittelstück die Constriction seiner
zu- und abführenden Gefässe nur an einer Stelle zu er¬
leiden hatte.
Bei der Suche in der ziemlich reichhaltigen Literatur
über die Wurmfortsatzbrüche konnte ich nur einen einzigen
ähnlichen Fall finden und zwar betrifft dieser eine Beobach¬
tung Rose’s. Derselbe theilt einen Fall von Schlingenincar¬
ceration des Processus vermiformis mit. Es handelte sich um
eine rechtsseitige incarcerirte Schenkelhernie bei einer 54jährigen
Patientin. Der Befund bei der Operation ergab eine Schlingen¬
incarceration des Processus vermiformis, wobei jedoch der im
Bruchsacke gelegene Theil des Wurmfortsatzes in seinen Cir¬
culationsverhältnissen am meisten gestört war, während sowohl
das centrale Ende, als auch das periphere die normale Färbung
zeigten. Dies erklärt sich wohl au3 dem Umstande, dass im
Falle Rose’s die Einschnürung nicht das Mesenteriolum des
Wurmfortsatzes mit betraf, so dass also die zu- und abführen¬
den Gefässe des Endstückes keinerlei Compression erfuhren.
Somit ist dieser Fall wohl als Schlingenincarceration des Wurm-
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fortsatzes, nicht aber als retrograde Incarceration im Sinne
Maydl’s aufzufassen, da das bauch wärts vom Bruchringe
gelegene Ende keinerlei Veränderungen autwies.
Erklärung der Abbildung: Dieselbe stellt den resecirten
Wurmfortsatz in der Ansicht von rückwärts etwas verkleinert
dar. Man sieht deutlich die beiden Sehnürfurchen und die
Erscheinung der Gangrän am peripheren Ende, die sich durch
einen oberflächlichen Substanzverlust daselbst documentirt.
Auch am Mesenteriolum sieht man die Strangulation, gekenn¬
zeichnet durch dessen Zusammenfaltung. Leider wurde dasselbe
am Uebergange vom centralen Theile des Wurmfortsatzes zur
incarcerirt gewesenen Schlinge bei der Entfaltung nach Lösung
der Incarceration eingerissen.
2. Fall von retrograder Netzincareeration.
Am 17. October 1899 erschien im Ambulatorium der
II. chirurgischen Klinik ein 46jähriger Patient, der folgende An¬
gaben machte. Seit 20 Jahren habe er einen rechtsseitigen Leisten-
bruch, der sich stets leicht reponiren liess und den Patient in den
letzten Jahren durch ein entsprechendes Bruchband zurückhielt.
Am 16. October 1899 verspürte Patient beim Aufstehen
einen stechenden Schmerz in der Leistengegend, und als er den
hervorgetretenen Bruch reponiren wollte, gelang ihm dies nicht
mehr, so dass er rasch einen Arzt aufsuchte, der durch eine
Stunde lang unter heftigen Schmerzen von Seite des Patienten
vergebliche Repositionsversuche machte.
Patient begab sich wieder nach Hause, legte sich zu Bette
und bemerkte nun eine allmälig zunehmende Anschwellung des
Bruches.
Tags darauf suchte er unsere Klinik auf. Ich constatirte eine
rechtsseitige inguinale, irreponible Netzhernie mit Flüssigkeitserguss
im Bruchsacke und rieth dem Patienten die Spitalsaufnahme an,
wozu er sich jedoch erst am 19. October entschloss.
Bei der an diesem Tage erfolgten Untersuchung constatirte
man eine circa kindsfaustgrosse, rechtsseitige, inguinale, irreponible
Netzhernie mit Flüssigkeitsansammlung im Bruchsacke und bedeu¬
tender Druckschmerzhaftigkeit im Bereiche der Hernie. Allgemein¬
erscheinungen einer Incarceration fehlten, und da zu einem sofor¬
tigen Eingriff keine Indication vorlag, wurde Patient zunächst zu
Bett gebracht und local Kälte applicirt, worauf binnen wenigen Tagen
die Druckempfindlichkeit aufhörte und auch der Flüssigkeitserguss
schwand.
Am 28. October wurde unter meiner Assistenz die Radical-
operation der Hernie nach B a s s i n i in ungestörter Mischungs¬
narkose (Billroth) von 5/4stündiger Dauer durch einen der
Operationszöglinge der Klinik (Dr. Schall er) ausgeführt. Nach
Freilegung des Bruchsackes und Isolirung desselben vom Samen¬
strange wurde der Bruchsack eröffnet.
Als Inhalt desselben zeigte sich ein circa daumendicker, mit
der Bruchsackwandung durch leicht trennbare Adhäsionen verklebter
Netzstrang. Als man nun versuchte, denselben aus dem inneren
Bruchringe vorzuziehen, gelang dies nicht und erst nach Erweiterung
des inneren Bruchringes konnte der Netzstrang weiter vorgezogen
werden, wobei auf einmal ein circa kindsfaustgrosser, schwärzlich
verfärbter, von thrombosirten Gefässen durchzogener Netzklumpen
aus der Bauchhöhle herauskam. Derselbe stellte das freie Ende des
im Bruchsacke gelegenen und zusammengefalteten Netzstranges dar
und war von der ihm zugehörenden Hälfte durch eine deutliche
Schnürt urche geschieden, so wie er sich durch seine Verfärbung
schon von dem allerdings auch nicht mehr normal aussehenden, im
Bruchsacke gelegenen Netzstrange unterschied.
Der im Bruchsacke gelegene Netzstrang stellte also eigentlich
eine Schlinge dar, deren beide Schenkel durch Adhäsionen an¬
einander fixirt waren, während das freie Ende des Netzstranges
bauchwärts vom Bruchringe lag. Nun wurde der Netzstrang so weit
vorgezogen, dass dessen Resection in normal aussehendem Gewebe
vollzogen werden konnte, worauf die typische Operation nach
B a s s i n i ausgeführt wurde.
17 Tage später verliess Patient mit per primam intentionein
verheilter Operationswunde die Klinik.
Aus dem Befunde bei der Operation erhellt, dass es sich in
diesem Falle um eine retrograde Incarceration eines Netzstranges
im Sinne Maydl’s gehandelt hatte.
Im Anschlüsse an diese zwei von mir beobachteten Fälle
will ich folgeude Bemerkungen über den Terminus »retrograde
Incarceration« anknüpfen.
Dier Ausdruck kann seiner Etymologie nach zu Miss¬
verständnissen führen und bezeichnet auch nicht die thatsäch-
lich vorhandenen anatomischen Verhältnisse.
Welchen Theil nennen wir incarcerirt? Gewiss nur
jenen, der im Bruchsacke eingesperrt ist. Die Bezeichnung
kann sich also nicht auf jene Theile erstrecken, die bauch¬
wärts vom incatcerirenden Ringe gelegen sind, auch dann
nicht, wenn diese Theile das freie Ende der im Bruchsacke
enthaltenen Theile darstellen. Dass bei einer Incarceration
eines strangförmigen Organes das centralwärts vom Bruchringe
gelegene Ende in seiner Ernährung am meisten geschädigt
sein kann, hat seinen Grund darin, dass die zu- und abführenden
Gefässe dieses Theiles zweimal eine Einschnürung erlitten
haben, während der im Bruchsack gelegene Theil diese Schädi¬
gung seiner Gefässe nur einmal erfahren hat. Der Umstand,
dass die auf die Incarceration folgenden Zustände am meisten
den bauchwärts vom Incarcerationsringe gelegenen Theil des
incarcerirten Organes betreffen, kann nicht bestimmend sein,
diesen Theil deshalb als incarcerirt zu bezeichnen. Der ein¬
schnürende Ring, der im Falle Maydl’s das Cöcum, einen
Theil des Ileums und den Processus' vermiformis umschnürte,
hat die ersteren zwei Organe nicht weniger umschnürt, als den
Wurmfortsatz, da er sie ja gemeinschaftlich umfasste, nur
mussten sich eben die Circulationsstörungen aus den bereits
angeführten Gründen am freien Ende des Wurmfortsatzes am
meisten bemerkbar machen.
Der Fall Rose's zeigt uns, dass diese Erscheinung aus-
bleiben kann, wenn das Mesenteriolum des Wurmfortsatzes
nicht mit incarcerirt ist. Es ist somit die Erscheinung der
Circulationsstörungen am peripheren Ende nur eine accidentelle
Erscheinung des gesammten Bildes einer Schlingenincarceration
eines strangförmigen Gebildes, mag nun dieselbe den Processus
vermiformis allein betreffen, oder der andere Schenkel der
Schlinge von den dem Wurmfortsatz benachbarten Gebilden
formirt werden.
Besser ist daher für die reinen Fälle der Incarceration
der strangförmigen Gebilde, wie Wurmfortsatz, Tube, Netz
und Diverticulum Meckelii die bereits von Rose gebrauchte
Bezeichnung »incarc’erirter Schlingenbruch« des betreffenden
Organes, die sofort verständlich ist.
Literatur.
May dl, Ueber retrograde Incarceration der Tube und des Pro¬
cessus vermiformis. Wiener klinische Rundschau. 1895, Nr. 2 und 3.
Kukula 0., Ueber einen Fall von retrograder Incarceration, welche
durch einen gestielten Tumor des Dünndarmes bedingt war. Wiener klinische
Rundschau. 1895, Nr. 20.
J. Schnitzler, Retrograde Incarceration des Netzes. Wiener klini¬
sche Rundschau. 1896, Nr. 6.
W. Kopstein, Ueber einen Fall von retrograder Incarceration
eines bindegewebigen Stranges Wiener klinische Rundschau. 1898, Nr. 14.
C. Bayer, Retrograde Netzincareeration mit Stieltorsion über dem
Bruchringe. Centralblatt für Chirurgie. 1898, Nr. 17.
R. v. B a r a c z, Retrograde Netzincareeration mit Torsion in der
Bauchhöhle. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. Bd. LIV.
J. Rose, Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. Bd. XXXV, pag. 51.
Zum Artikel von Schenk und Austerlitz: »Weitere
Untersuchungen über derr Keimgehalt der weib¬
lichen Urethra«, diese Zeitschrift. 1900, pag. 319 ff.
Von Dr. Rudolf Savor, Assistenten der Klinik C h r o b a k.
Schenk und Austerlitz haben bald nach dem Erscheinen
meiner Mittheilung über den Keimgehalt der weiblichen Harnröhre1)
ihre Untersuchungsergebnisse 2) veröffentlicht und vielfach differente
Resultate mitgetheilt ; in einer Nachschrift besprechen sie meine Re¬
sultate und stellen weitere Untersuchungen in Aussicht, über welche
sie in der im Titel genannten Publication berichten.
J) H e g a r, Beiträge zur Geburtshilfe und Gynäkologie. 1899, Bd. II,
Heft 1.
2) Prager medicinische Wochenschrift. 1899, Bd. XXIV, Nr. 17,
27. April.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900
Sie stellen dieselben in Gegensatz zu meinen Resultaten und
äussern so wie in der ersten Veröffentlichung ihre Ansicht dahin, dass
unsere Methoden nicht so sehr ditferiren, als dass dadurch so diver¬
gente Resultate bedingt sein könnten.
Ich bedauere nun, hierin mit Schenk und Austerlitz
nicht der gleichen Ansicht sein zu können, und führe hier zur Be¬
gründung die Schilderung unserer Methoden an.
Ich beschreibe die Methode der Abimpfung aus der Urethra
folgendermassen : ,, Zuerst wurde durch entsprechendes Auseinander¬
ziehen der Labien das Orificium externum urethrae und seine Um¬
gebung freigelegt, wobei es fast immer zu einem leichten Klaffen der
Harnröhrenmündung kommt; sodann wurde diese sammt ihrer Um¬
gebung mit einem in l0/o0iger Sublimatlösung getauchten Watte-
bäuschchen und dann mit sterilem Wasser energisch gereinigt; nun
wurde unter thunlichster Vermeidung des Orif. ext. urethrae mit einer
Platinöse eingegangen bis in die Tiefe von 2— 2'/2CWi, die Wände der
Urethra abgeschabt und sofort überimpft.“
Schenk und Austerlitz schreiben: „Wir gingen hei
unseren Untersuchungen in der Weise vor, dass wir zunächst mit
einem nicht zu feuchten Wattebäuschchen, das in Sublimatlösung
(1:1000) getaucht war, die Umgebung der Urethralmündung reinigten
und hierauf ein am unteren Ende mit Watte umwickelter Holzstäbchen,
wie man solche zur Auswischung des Cervicalcanales verwendet, mit
diesem Ende in eine Sublimatlöung (ebenfalls 1 : 1000) eintauebten, sorg¬
fältig ausdrückten und hierauf ’/ 2 cm weit in die Urethra einführten
und damit den Anfangstheil derselben gründlich abrieben. Hierauf
gingen wir mit einer Impfnadel 1 — 2 cm tief ein und entnahmen
von da das auszusäende Material.“
Aus dem Vergleiche beider Schilderungen geht hervor, dass
Schenk und Austerlitz durchaus nicht das Object in gleicher
Ausdehnung untersuchten, wie ich. Was ich der bacteriologischen
Prüfung unterzog, war die Harnröhre mit thunlichster Ausschaltung
des Orificium externum urethrae; es entsprach dies auch dev Frage, zu
deren Beantwortung ich meine Untersuchungen unternahm, der Frage
nämlich, wie oft bei schwangeren und kranken Frauen nach der
üblichen und allgemein durchführbaren Desinftctionsmethode Mikro¬
organismen nachw7eisbar sind, und welcher Natur dieselben sind; ich
habe dies auch ausdrücklich in meiner Publication hervorgehoben
(1. c. pag. 107). Was hingegen Schenk und Austerlitz unter¬
suchten, wTar die Harnröhre mit Ausschaltung des vordersten Abschnittes
derselben, also des Abschnittes, der bei der üblichen Desinfections-
methode undesinficirt bleibt.
Gestattet mithin schon die Verschiedenheit des Objectes nicht,
ohne Weiteres unsere Untersuchungsresultate zu vergleichen, so glaube
ich im Gegentheile noch einige Erklärungen für unsere divergenten
Resultate geben zu dürfen. Während ich mein Augenmerk darauf
lenkte, nach der Desinfection mit Sublimat durch Abreiben mit
sterilem Wasser etwa noch anhaftendes Sublimat zu entfernen, haben
Schenk und Austerlitz dies nicht nur nicht gethan, sondern
sogar den Anfangstheil der Urethra mit Sublimat ausgerieben, ohne
hinterher für die Fortschaft’ung von vielleicht noch anhaftendem
Sublimat zu sorgen. Dann gingen sie mit einer Impfnadel durch den
soeben desinficirten Anfangstheil der Harnröhre hindurch, um aus den
tieferen Partien abzuimpfen. Es liegt nahe, wenigstens der Vermuthung
Ausdruck zu geben, es mögen doch bei dieser zweimaligen Passage
des vorderen Theiles der Urethra Reste des zur Desinfection desselben
verwendeten Sublimates mitgenommen und auf den Nährboden über¬
bracht worden sein, woselbst das Sublimat seine auch noch in sehr
starken Verdünnungen bedeutende entwicklungshemmende Wirkung
entfalten konnte.
Ist nun dadurch vielleicht schon theilweise eine Erklärung der
vielen sterilen Befunde von Schenk und Austerlitz gegeben,
so mag eine weitere in dem zur Entnahme verwendeten Instrumente
liegen. Schenk und A u s t e r 1 i t z verwendeten eine Impfnadel, ich
eine Platinöse von etwa 2 mm Durchmesser, letzteres in der Absicht,
durch Abschaben der Wände mehr Material zu gewinnen, da ich von
früheren Untersuchungen her wusste, dass oft nur spärliche Keime
in der Urethra vorhanden sind. Es ist vielleicht nicht unangemessen,
auch auf diese Differenz hinzuweisen, die es möglicher Weise mit sich
brachte, dass manche keimhaltige Urethra der Impfnadel entging.
Dass vorstehende Ausführungen viel für sich haben, geht auch
aus einem Theile der Untersuchungen von Schenk und Auster¬
litz hervor. Die beiden Autoren haben nämlich auch die Methode
der Desinfection nachgeprüft die ich anwendete, und fanden nur in
40°/o die Urethra steril. Meine Untersuchungen ergaben für die gleichen
Fälle (gynäkologisch Kranke ohne nachweisbare Gonorrhoe) 36*5°/o,
was meines Erachtens ganz gut stimmt.
Diese so geringe Verschiedenheit bei nach der von mir angewendeten
Methode ausgefiibrten Untersuchungen wird auch von Schenk und
Aus t e r 1 i t z anerkannt, nur finden sie, dass es die Art der ge¬
fundenen Keime sei, welche unsere Resultate so divergent erscheinen
liess. Sie trafen nämlich viel seltener als ich pathogene Keime in der
Urethra. Es ist wohl meiner Meinung nach nicht schwierig, diesom
Einwande unter Hinweis auf die so differente Zahl der untersuchten
Fälle (25 bei Schenk und Austerlitz, gegen 93 bei mir) zu
begegnen.
Was die nach der von Schenk und Austerlitz geübten
Methode untersuchten Fälle betrifft, so kann wohl über die dabei er¬
zielten Resultate vor Allem über das häufige oder seltene Vorkommen
pathogener Keime ein Urtheil nicht abgegeben werden, da eigene
Erfahrungen nach dieser Methode fehlen. Ebenso ist es unmöglich,
über die weiteren Schlüsse, die Schenk und Austerlitz im
Gegensätze zu mir gezogen haben, zu discutiren, da die Prämissen
andere sind.
Von meiner Behauptung, dass die Katheterisationscystitis eine
schwer zu heilende Affection darstellt, kann ich nicht abgehen. Es ist
ja richtig, dass man durch entsprechende Behandlung die Individuen
von ihrem subjectiven Symptomen befreien und den Harn eiterfrei
machen kann. Wenn man aber solche Fälle in Evidenz hält, so findet
man, dass es speciell bei der saueren Cystitis nur selten gelingt, den
Harn dauernd keimfrei zu erhalten, und man bekommt den Eindruck
— mir stehen derzeit noch keine statistischen Daten zu Gebote — dass
viele Frauen unter den Folgen einer bei jedem Anlasse recidivirenden,
durch den Katheterismus erworbenen Cystitis jahrelang und viel
mehr zu leiden haben, als es die Krankheit, derentwegen sie operirt
wurden, mit sich gebracht hätte.
Wenn ich mir erlaube, zum Schlüsse kurz zu resumiren, so
erscheint es mir nicht möglich, den Untersuchungsergebnissen von
Schenk und Austerlitz, die auf anderer Basis und mit anderer
Methode unter Ausschaltung eines Theiles des Untersuchungsobjectes
erzielt wurden, vorläufig den von den Autoren angenommenen Bezug
zu den Resultaten meiner bacteriologischen Prüfungen zuzuerkennen.
Doch ist zuzugeben, dass noch weitere Untersuchungen nothwendig
sind; dieselben werden auch an unserer Klinik ausgeführt werden.
Erklärung zu Dr. F. Pick’s Erwiderung in
voriger Nummer.
Von Dr. Victor Eisenmenger.
Der sachliche Theil von Pick’s Erwiderung gibt mir keinen
Anlass, meine Meinung zu ändern. Ich werde auf den Gegenstand, wie
bereits angekündigt, noch einmal zurückkommen. Auf die persönlichen
Anwürfe Pick’s gehe ich wegen des Tones, in dem sie gehalten sind,
nicht ein.
REFERATE.
I. Die Erkrankungen des Nervensystems nach Unfällen,
mit besonderer Berücksichtigung der Untersuchung und
Begutachtung.
Von Privatdocent Dr. Heinrich Sachs und Dr. C. S. Freund. Nerven¬
ärzte in Breslau.
Mit 20 Abbildungen im Text. 581 S.
Berlin 1900, Fische r’s medicinische Buchhandlung.
II. Ueber traumatische Entstehung innerer Krank¬
heiten.
Klinische Studien mit Berücksichtigung der Un¬
fall-Begutachtung.
Von Prof. Dr. R. Stern in Breslau.
Zweites (Schluss-)Heft: Krankheiten der Bauchorgane, des Stoffwechsels
und des Blutes.
502 Seiten.
Jena 1900, Gustav Fischer.
III. Atlas und Grundriss der Unfallheilkunde, sowie der
Nachkrankheiten der Unfallverletzungen.
Von Dr. Ed. Golebiewski in Berlin.
Mit 40 farbigen Tafeln nach Originalaquarellen des Malers J o h. F i n k
und 141 schwarzen Abbildungen.
642 Seiten, Preis 15 Mark.
München 1900, J. F. Le h in a n n.
IV. Die Entschädigung der Unterleibsbrüche in der
staatlichen Unfallversicherung.
Gutachten, dem Vorstande der Arbeiter-Unfallversicherungsaustalt für Nieder¬
österreich in Wien erstattet von Dr. C. Kaufmann, Docent fur Chirurgie
in Zürich.
47 Seiten.
Wien 1900, Franz Deuticke,
348
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 15
V. Rentensätze für glatte Schäden in privater und
obligatorischer Unfallversicherung.
Von l)r. Ford. Rühr, Hannover.
94 Seiten, Preis M. 1'50.
Karlsruhe 1899, J. J. Reif f.
VI. Die Beziehungen zwischen Unfall und Diabetes.
Von Prof. H. Senator, Berlin.
Monatsschrift für Unfallheilkunde. 1900, Nr. 1.
VII. Zur Begutachtung der erwerbsbeeinträchtigenden
Folgen der Ischias.
Von Dr. H. Ehret. Privatdocent in Strassbur^.
Monatsschrift für Unfallheilkunde. 1900, Nr. 2.
1. Die durch mehrfache Arbeiten auf diesem Gebiete bereits
wohlbekannten Verfasser haben nun ihre reiche, grösstentheils in
dem Institute für Unfallverletzte in Breslau gesammelten Erfah¬
rungen zu einer zusammenfassenden Darstellung der Unfallnerven¬
krankheiten verarbeitet, die eine äusserst willkommene und werth-
volle Ergänzung der Unfallsliteratur bildet, da eine derartige Arbeit
von fachmännischer Seite bisher fehlte. Das aussergewöhnlich grosse
Material (5000 stationäre Verletzte, darunter circa 1000, die an
Nervenkrankheiten litten oder solcher verdächtig waren, nebst vielen
Tausend von begutachteten Fällen) setzte die Verfasser in den
Stand, überall aus Eigenem zu schöpfen, so dass das Buch nicht
nur ein durchaus suhjeclives Gepräge trägt, sondern die eigenen
Erfahrungen in gewissem Sinne auch massgebend waren für Um¬
grenzung und Eintheilung des Stoffes, sonst hätte vielleicht noch
manche Nervenkrankheit, die zu Unfällen in Beziehung steht (etwa
im Vergleiche mit dem betreffenden Abschnitte in Th ienrs Hand¬
huche), Aufnahme und manche Einzelheit eine nähere Ausführung
verdient. Indessen fehlt nichts Wessentliches, und was die Verfasser
bieten, steht durchaus auf der Höhe ernster, wissenschaftlicher
Forschung. Wer also etwa in dem Buche nach kurzgefassten
Regeln für eine bequeme Abschätzung suchen wollte, wird es ent¬
täuscht bei Seite legen; wer sich aber gründlich und in ernstem
Streben über den fraglichen Gegenstand unterrichten und auf die
Höhe unseres heutigen Standpunktes bringen will, der wird die
Arbeit mit ebensoviel Vergnügen als Nutzen studiren.
Die Vertheilung der Materie ist hauptsächlich durch zwei
Momente gekennzeichnet: die grosse Ausdehnung des allgemeinen
Theiles (309 Seiten von 564) und die ausführliche, zwei Drittel
des Textes einnehmende Darstellung der Neurosen im speciellen
Theile. Die weite Fassung der allgemeinen Erörterungen ergab sich
aus dem Bestreben, die zwischen Unfällen und Erkrankungen des
Nervensystems bestehenden Beziehungen im Zusammenhänge mög¬
lichst nach allen Richtungen hin zu beleuchten und auch dem
neurologisch nicht vorgebildeten Arzte durch umfassende Darlegung
der normalen Beschaffenheit und Function des Nervensystems, der
Symptomatologie und Untersuchungsmethoden unter besonderer Be¬
rücksichtigung der Gutachterthätigkeit »das gesammte Handwerks¬
zeug für die neurologische Auffassung des einzelnen Falles an die
Hand zu gehen.« Die Zweckmässigkeit einer eingehenden Behand¬
lung der Neurosen bedarf kaum einer besonderen Begründung;
nicht nur, dass sie auch heute noch eines der schwierigsten Capitel
auf dem ganzen Wissensgebiete der Medicin darstellen, fehlt es
gerade hier in weiten Kreisen noch immer an einem durchgreifen¬
den Verständnisse, woraus für Behandlung und Begutachtung die
nachtheiligsten Folgen entstehen. Der unglückselige Name »trauma¬
tische Neurose« mit den daran geknüpften nebelhaften Vorstellungen
beherrscht noch immer nicht nur einen beträchtlichen Theil der
Praktiker, sondern hat sich auch in Richterkreisen und selbst im
Publicum bereits derart festgesetzt, dass es jahrelanger Arbeit bedürfen
wird, dem richtigen Verständnisse zum Durchbruche zu verhelfen.
Wie die Verfasser ihre Aufgabe des Näheren gelöst, darüber
soll der Leser kurz orientirt werden.
Auf eine allgemeine Einleitung, welche die Begriffe: Unfall,
Arbeits- und Erwerbsfähigkeit, sowie die allgemeinen Grundsätze
der Abschätzung und Begutachtung feststellt, folgen die Grundan¬
schauungen der Anatomie und Physiologie, soweit dieselben
für das Verständniss und die Diagnose der einzelnen Erkrankung-
° <D
formen unerlässlich sind. Die Aufeinanderfolge der Muskelkerne im
Rückenmarke wird nach Kocher gebracht; eine Tabelle gibt die
zu den einzelnen peripheren Nerven gehörigen Muskeln. Vortrefflich
ist der Abschnitt über die Function der Muskeln gefasst, die an
den einzelnen Gelenken unter genauer Berücksichtigung der Schwere
wie der Thätigkeit der Antagonisten in anschaulichster Weise durch-
gesproehen werden. Zur Darstellung der sensiblen Beziehungen des
Rückenmarkes und der peripheren Nerven zur Haut dienen die
vielfach verbesserten Freun d’schen Schemata zur Eintragung der
Sensibilitätsstörungen. Ausserordentlich interessant mit vielfachen
neuen Gesichtspunkten sind die vielfachen Abschnitte über die
Thätigkeit des Rückenmarkes und Grosshirnes
beleuchtet. Tn dem wichtigen Capitel über Symptomatologie
und Untersuchungsmethoden geben Verfasser aus ihrer
reichen Erfahrung die werthvollsten Fingerzeige, die umsomehr Be¬
achtung verdienen, als es sich hier nicht nur um den richtigen
Aufbau der Diagnose handelt, sondern der Kranke durch unzweck-
mässige Untersuchungsmethoden ganz erheblich geschädigt werden
kann. Den Anomalien der Körperform, der Haltung
und des Ganges folgen die Störungen der Geistesthä-
t i g k e i t, der Schmerz, die Parästhesien und wegen ihrer
besonderen Bedeutung für Unvallverletzte in ausführlichster Weise
abgehandelt die Störungen der Empfindung s- und Be¬
wegungsfähigkeit. Stern hat bekanntlich periodische
Schwankungen der Hirnrindenfunctionen beschrieben, die sich da¬
durch kundgeben, dass an derselben Stelle von Secunde zu Se-
cunde Anästhesie mit normaler Empfindungsfähigkeit abwechselt;
Verfasser haben ähnliche Schwankungen, aber mit grösseren Perioden
von je 10 — 20 Secunden Dauer gefunden. Die normalen Excur-
sionsweiten sind an allen Gelenken für active und passive Bewe¬
gungen genau angegeben. Dynamometern und dergleichen Hilfs¬
apparaten wird nur ein sehr bedingter Werth beigelegt; zuverlässiger
seien die Uebungen an den medico-mechanischen Apparaten. An
die Reflexerscheinungen schliessen der Trigeminus,
Geruch und Geschmack; die Störungen des Auges
und seiner Hilfsorgane sind, entsprechend ihrer Wichtigkeit
für den vorliegenden Zweck, in eingehendster und klarster 'Weise
auseinandergesetzt; daran reihen sich die Störungen des
Gehörs und der vegetativen Functionen (Circulation,
Respiration, Verdauung, Urinentleerung, Potenz, secretorische und
trophisehe Störungen).
In dem grundlegenden Capitel »Pathogenese« werden das
körperliche und psychische Trauma in ihren unmittelbaren und se-
cundären Wirkungen auf das Nervensystem in ausführlichster Weise
erörtert. Die Neuritis ascend, wird von den Verfassern nicht aner¬
kannt, sie haben unter ihrem grossen Materiale niemals eine ge¬
sehen. Das Aufwärtskriechen einer parenchymatösen oder intersti¬
tiellen (nicht infectiösen) Neuritis sei einer pathogenetischen Auf¬
fassung überhaupt nicht zugänglich und in allen bisher veröffent¬
lichten Fällen fehlte der Nachweis der sich ausbreitenden Neuritis.
Ebenso ablehnend verhalten sich die Verfasser gegenüber den Ge¬
hirn- und Rückenmarkserkrankungen, die nach peripheren Ver¬
letzungen auf reflectorischem Wege oder durch das Mittelglied der
Neurit, asc. entstehen sollen. Bei Besprechung des psychischen
Traumas wird der Schreck an erster Stelle genannt, nicht mit der
gleichen Unmittelbarkeit, aber mit eher noch stärkerer Gefährdung
wirkt die Angst; die dritte Form der psychischen Schädlichkeiten
ist durch die langsam, aber dauernd einwirkenden deprimirenden
Vorstellungen gegeben, und die schädigenden Momente, welche dem
modernen Versicherungswesen ihre Entstehung verdanken. Unter der
erworbenen Prädisposition wird der chronische Alkoholismus in
allen seinen Erscheinungsformen eingehend gewürdigt und auf deren
häufige Aehnlichkeit mit Unfallfolgen hingewiesen. In dem Haupt¬
abschnitte »Einfluss von Unfällen auf schon beste¬
hende Krankheiten und unmittelbare Hervor-
rufung von Krankheiten durch Unfälle« bringen die
Verfasser ihre Anschauungen über den causalen Zusammenhang der
typischen und atypischen Nervenkrankheiten mit Unfällen.
In der Frage der traumatischen Tabes präcisiren die
Autoren ihren Standpunkt dahin: »Ein gesunder und nicht — ins¬
besondere durch vorausgegangene Syphilis — prädisponirter Mensch
erwirbt in Folge eines Unfalles, mag derselbe leicht oder schwer
sein, mag er am Rückenmarke selbst oder an den peripheren
Nerven angreifen, niemals eine Tabes. . . . Bei vorhandener Anlage
zur Tabes können Verletzungen des Rückenmarkes den Ausbruch
der Krankheit herbeiführen, bei vorhandener Erkrankung den Ver¬
lauf beschleunigen. Periphere Verletzungen können selbst bei vor¬
handener Krankheitsanlage oder schon ausgebildeter Tabes den
349
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Verlauf derselben nicht direct beeinflussen, wohl aber für das Her¬
vortreten einzelner Symptome der Erkrankung von wesentlicher
Bedeutung sein.« Unter vielen tausend Unfällen haben die \ erfasst i
zwar eine grössere Reihe von 1 abesfällen getroffen, abei niemals
zur Annahme eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen Unfall
und Entstehung der Tabes Veranlassung gefunden. Aehnlich wird
die traumatische Paralyse beurtheilt. »Ein Unfall macht
an sich niemals eine progressive Paralyse. « Bei vorbereitetem Boden
kann eine schwere Kopfverletzung ihren schnellen Ausbruch herbei¬
führen oder eine schon vorhandene in ihrer Weiterentwicklung
beschleunigen. »Das Gewöhnlichste aber ist, dass, wenn nach einer
Verletzung sich eine Geistesstörung entwickelt, dies keine 1 aial^se ist.«
Der Zusammenhang zwischen V erletzung und echter Para¬
lysis agitans müsse erst noch erwiesen werden (die letzten
Publicationen v. Krafft-Ebing’s in dieser Zeitschrift sind noch
nicht berücksichtigt). Bei der Sy r ingom yelie sei diese bestimmte
Erkrankung streng zu scheiden von einem syringomyelitischen
Symptomencomplexe, als Ausdruck der Vernichtung der grauen
Substanz des Rückenmarkes. Die Anlage zur Syringomyelie ist an¬
geboren; diese Erkrankung ist nicht Folge von Unfällen; doch
könnte ihre Entwicklung und Verschlimmerung gelegentlich durch
das Rückenmark treffende Unfälle begünstigt werden. Ganz ausge¬
schlossen erscheint den Verfassern die Entstehung dieser Krankheit
auf Grund einer peripheren Verletzung; es wäre ganz unbegreiflich,
wie eine in die Höhe kriechende Entzündung gerade die graue
Substanz um den Centralcanal erreichen und hier eine ausgedehnte
Höhlenbildung bewirken sollte. Verfasser haben viele Fälle von
Syringomyelie bef Verletzten gefunden, konnten abei in dei Mehi-
zahl der Fälle nachweisen, dass die Erkrankung schon vor dem
Unfälle bestanden hatte und niemals auch nur mit einiger Wahr¬
scheinlichkeit den Beweis erbringen, dass der Unfall die Syringo¬
myelie veranlasst habe. Betrachtungen über Unfall und A 1 1 e i
schliessen den allgemeinen Theil.
Im speciellen Th eile werden zunächst die V e r-
letzungen der Extremitäten in neurologischer und vielfach
auch chirurgischer Beziehung besprochen und die Läsionen du
einzelnen Nerven in ihren Folgen genau beschrieben. Bei Behand¬
lung der Radialislähmung wird ein einfacher Apparat von B o-
g at sch empfohlen, der die Hand in die Verlängerung des Vorder¬
armes stellt und den Faustschluss ganz erheblich kräftigt. Mit
grösster Sorgfalt und ausserordentlich lehrreich sind die \ erletzungen
der Wirbelsä ule, des Rückenmarkes und der Nerven¬
wurzeln nach allen Richtungen hin durchgearbeitet. Bei dei
K ü m m e 1 l’schen Fractur (der Name des Autors ist, wie so häufig,
nicht richtig wiedergegeben) kann im Stadium der Gibbusbildung
durch Verengerung der Zwischenwirbellöcher leicht ein Diuck aut
die Nervenwurzeln enstehen (das Mark selbst ist dabei nicht be¬
theiligt), der sich durch neuralgische Schmerzen, sowie charakte¬
ristische Bewegungsstörungen und Haltungsanomalien verräth.
Bezüglich des Vorkommens einer reinen Commotio spinal,
schliessen sich die Verfasser dem Ausspruche Kochers an, dass
sie für den Menschen erst noch zu erweisen sei; wie bekannt, ist
die Rückenmarkserschütterung namentlich nach Eisenbahnverletzungen
noch immer eine sehr beliebte Diagnose (zweifellos in Nachwiikung
der früher üblichen englischen Bezeichnung für derartige Folge¬
zustände). Die Verletzungen der anderen Regionen sind nur kurz
berührt und erst die das Capitel abschliessenden \ erletzun¬
gen des Hirnschädels und seines Inhaltes wiedei
ausführlich behandelt. Bei Besprechung der späteren Folgen dei
Kopfverletzungen heben die Verfasser eine typische Gruppe von
Fällen heraus, deren Kenntniss praktisch von Wichtigkeit ist. Ge¬
meinsam ist diesen Erkrankungen die Entstehung durch directe Ver¬
letzungen des Kopfes (alle Formen der Schädigung des Gehirnes
und seiner Häute können das ursächliche Moment bilden) und das
oft jahrelange, selbst dauernde Bestehen von Reizerscheinungen,
die genau geschildert werden. Von den Neurosen sind die Fälle zu
trennen; in der Behandlung erfordern sie im Gegensätze zu diesen
Schonung; frühzeitige Wiederaufnahme der Arbeit kann schweren
Schaden bringen. Von weiteren Folgen der Kopfverletzungen wird
das häufige Auftreten von Arteriosklerose schon in jungen Jahren
hervorgehoben. Die Beurtheilung der Erwerbsfähigkeit nach Wiibel-
Rückenmarks- und Kopfverletzungen wird in eingehendster Weise
erörtert.
Der weiteste Raum im speciellen Theile ist, wie bereits
hervorgehoben, der Besprechung der Neurosen gewidmet. Was
die Verfasser über diese im Allgemeinen, sowie ihre Beziehungen
zu den Unfällen Vorbringen, gehört mit zu dem Interessantesten
und Lehrreichsten, was über dieses schwierige Thema noch ge¬
schrieben worden ist. Ferne von allen speculativen Betrachtungen
suchen sie den Erscheinungen überall auf den Grund zu gehen,
und, so weit es der Stand unseres heutigen Wissens überhaupt
gestattet, ein wirkliches Erfassen der oft recht complicirten Ver¬
hältnisse zu ermöglichen. Die »traumatische Neurose« als eigene
Krankheitsform wird nicht anerkannt und dringend gerathen, diese
Bezeichnung, die schon so viel Unheil in der neurologischen
Diagnostik angestellt hat, endlich ganz fallen zu lassen. Dagegen
fordern sie sowohl mit Rücksicht aul die Iherapie, als die Ab¬
schätzung eine möglichst genaue Differentialdiagnose der einzelnen
Neurosen, um so die Zahl jener undefinirbaren Krankheits formen,
für deren Unterbringung der Name »traumatische Neurose« ein so
unendlich bequemes Auskunftsmittel ist, nach Möglichkeit einzu¬
engen. Falls man diagnostisch nicht zum Ziele komme, möge man
nicht anstehen, zu sagen: »Hier handelt es sich um eine lunctio-
nelle Allgemeinerkrankung des Nervensystems mir unklarer Natur« ,
damit werde man keinen Schaden anrichten und sich selbst nicht
in eine trügerische neurologische Sicherheit einwiegen.
Die verschiedenen Formen der Neurosen werden hierauf an
einer Reihe von typischen Fällen erörtert, beginnend mit der
Hysterie. Die Verfasser sondern die Fälle in zwei grosse Gruppen,
deren erste alle diejenigen Formen umfasst, bei denen irgendwelche
körperliche Erscheinungen der Hysterie nach einem Unfälle aulge¬
treten sind, während das psychische Leben nicht wesentlich alteiiit
erscheint. Innerhalb dieser Gruppen werden die Fälle nach den
wesentlichsten klinischen Momenten geordnet und für jede diesei
Abtheilungen mehrere Beispiele gebracht. Die Verfasser unterscheiden
so Fälle mit 1. vorwiegenden Sensibilitätsstörungen, 2. ausgespro¬
chene Lähmungen, 3. vorwiegenden Contracturen, 4. tonischen und
klonischen Krämpfen, 5. Zittern und Schütteln, 6. Herz- und Ath-
mungsneurosen, und 7. hysterischen Krampfanfällen.
Die zweite Gruppe bilden die Schreckneur osen, bei
denen das ganze psychische Leben geändert erscheint und bei
denen es mitunter zweifelhaft sein kann, ob sie nicht schon den
Uebergang zu den Psychosen bilden. Die Combination mit Hysteiie
kann sehr verwickelte Krankheitsbilder geben. Es iolgen die Neur¬
asthenie und im Anfänge Beispiele von Ilirnreizung nach Kopt-
traumen (wie oben angedeutet); die Hypochondiie, Bemei-
kungen zur Differentialdiagnostik der Neurosen, ihre
Prognose, Therapie und Höhe der Abschätzung mit
einer Unsumme praktisch eminent wichtiger Auseinandersetzungen.
Recht eindringlich wird hervorgehoben und begründet, wie die ein¬
zelnen Formen eine ganz verschiedene Abschätzung erfoidern und
dass die Höhe derselben recht eigentlich mit zur Therapie gehöre.
Die Krankengeschichten selbst (inclusive Psychosen 69 an Zahl),
deren besondere Bedeutung für die hier in Betracht kommenden
Krankheitsformen nicht erst hervorgehoben zu werden braucht,
sind meisterhaft abgefasst, es ist ein wahres Vergnügen, sie zu
lesen. Ohne Weitschweifigkeit ergeben sie jederzeit ein erschöpfen¬
des Bild des Einzelfalles und zeugen zugleich von der hochenl-
wickelten Behandlungskunst der Verfasser, die ja gerade hier von
ausschlaggebender Wichtigkeit. Ueberall wissen sie die lichtige
Grenze zwischen wissenschaftlicher Ueberzeugung und wahrei
Humanität zu wahren und der Leser gewinnt die Ueberzeugung,
dass das Wohl der Kranken nicht leicht sorgfältigeren Anwälten
anvertraut werden könnte. Besonderen Werth erhalten die Kranken¬
geschichten noch dadurch, dass zahlreiche Fälle jahrelang (bis zu
zehn) beobachtet oder nach solchen Fristen nach untersucht winden,
so dass auch die prognostischen Angaben der Verfasser auf v üb¬
licher Erfahrung beruhen und sie in die Lage kamen, glei* b ( u
praktische Probe auf die Richtigkeit ihrer Behandlungs- und Ab¬
schätzungsmethode zu machen.
Das letzte Capitel ist den Geistesstörungen nach
Unfällen gewidmet. Die Verfasser führen aus, dass die traumati¬
sche Aetiologie für echte Geistesstörungen nur eine sehr geringe
Bedeutung besitze und dass sich in Folge dessen in der Psychiatrie
unter Einwirkung der Unfallversicherungsgesetze nicht jener gewal tige
Fortschritt vollzogen habe, wie ihn die übrigen I)is< ip nu n
350
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 15
weisen. Abgesehen von ihrer reichen eigenen (Kasuistik haben sie
in allen zugänglichen Acten nach solchen Erkrankungen gefahndet
und hatten so ein Material von circa 20.000 Unfällen zur Ver¬
fügung. Aber während bei den Neurosen die Auswahl der Fälle
wegen ihrer Ueberfülle Schwierigkeiten machte, stellte sich hei den
Psychosen die entgegengesetzte Verlegenheit heraus; auch in den
Irrenanstalten kämen Fälle von »traumatischem Irresein« selten zur
Aufnahme. Was über einschlägige Fragen zu sagen ist, haben die
Verfasser in musterhafter Weise zusamengestellt und mit den hier
ebenfalls unentbehrlichen Krankengeschichten belegt, so dass der
Praktiker alle jene Anhaltspunkte, die ihm die Wissenschaft über¬
haupt gehen kann, in übersichtlichster und anregendster Weise zur
Benützung bereit findet.
Diese kurzen Andeutungen müssen dem Hinweise genügen,
welcher Schatz von Wissen und Erfahrung in dem Buche zu¬
sammengetragen ist; mögen ihn recht Viele heben und sich des
Genusses freuen.
*
II. Stern, der inzwischen, zweifellos mit für seine Verdienste
um die Unfallheilkunde (gleich Thiem) zum Professor ernannt
worden ist, hat dem im Jahre 1896 erschienenen ersten Hefte
seiner klinischen Studien, welches die Krankheiten des Herzens
und der Lunge zum Gegenstand hatte, und in dieser Zeitschrift,
1896, pag. 1040—1044, ausführlich referirt wurde, nun das Schluss¬
heft folgen lassen, wrelches die traumatische Entstehung
der Krankheiten der Bauchorgane (mit Ausschluss der
Beckenorgane), des Stoffwechsels und Blutes behandelt,
unter Verzicht auf die Bearbeitung der Nervenkrankheiten, deren
traumatische Aetiologie bereits eingehende Würdigung gefunden hat.
Der überragenden Sachkenntniss und dem scharfen kritischen
Verstände des Verfassers ist es abermals glänzend gelungen, alle
auch in diesem Bereiche bestehenden Beziehungen zwischen Un¬
fällen und Krankheiten bis in die verborgensten Einzelheiten klar¬
zulegen und uns unter strenger Festhaltung des ausschliesslich
massgebenden wissenschaftlichen Standpunktes in allen einschlägigen
Fragen an die Grenze der für unser heutiges Wissen erreichbaren
Erkenntniss zu führen, über die hinaus es vor der Hand nur ein
non liquet gibt. Es wäre recht sehr zu wünschen, dass die Arbeits¬
methode des Verfassers allgemein gewürdigt und zum Muster ge¬
nommen würde; die Grenzen der Unfallheilkunde würden dann zwar
enger gezogen, der Besitzstand aber ein umso besser fundirter
werden. In unserer Gutachterthätigkeit sollen wir eben nur wissen¬
schaftliche Principien vertreten, nicht aber Socialpolitik treiben;
dass uns Verfasser dies für eine grosse Reihe wichtiger Erkran¬
kungen wieder in so ausserordentlicher Weise erleichtert hat, dafür
sind wir ihm zu wärmstem Danke verpflichtet. Bei dem lebhaften
Interesse, das diesem Gegenstände wohl von allen Seiten entgegen¬
gebracht wird, mag es gestattet sein, die Ausführungen des Ver¬
fassers etwas genauer wiederzugeben.
Der dritte Abschnitt (der erste des zweiten Heftes) umfasst
die Krankheiten des Magen-Darmcanales und des
Peritoneums. Nach allgemeinen Bemerkungen über Magenver¬
letzungen und Bluterbrechen werden zunächst die Erkrankungen
der Magenschleimhaut (sogenanntes traumatisches Magen¬
geschwür) besprochen, und zwar in zwei Gruppen, als rasch
zur Heilung gelangende und chronisch verlaufende Fälle. Nach
einem die Magengegend treffenden Trauma bleibt ein Schmerz in
der getroffenen Gegend zurück und es stellt sich sofort, nach
Stunden oder Tagen, Blutbrechen ein. Meist handelt es sich dabei
um einfache Schleimhautrisse oder umschriebene Nekrosen der
Mucosa, kaum um wirkliche Geschwüre. Heilungsdauer von wenigen
Tagen bis zu etwa drei Monaten. Die Fälle der zweiten Gruppe
nehmen bei ähnlichem Beginne einen chronischen, über Jahre sich
erstreckenden Verlauf. Zwei eigene Beobachtungen. Der Verlauf
entspricht beiläufig der Annahme eines Ulcus rotund.; ob ein
solches immer vorliegt, darüber fehlen noch anatomische Befunde;
es kann sich auch um atypische Ulcerationen, beziehungsweise
hämorrhagische Erosionen mit gastritischen Veränderungen handeln.
Welche Umstände im Einzelfalle die Heilung der frischen Magen¬
wunde verhindern, wissen wir nicht sicher; Anämie und Hyperacidität
scheinen nicht in Betracht zu kommen, vielleicht secundäre In¬
fection. Eine sichere Entscheidung, ob ein Ulcus in Folge eines
Trauma entstanden, oder nur manifest geworden ist, lässt sich
nicht immer treffen. Für Duodenal- und Magengeschwüre nach Ver¬
brennungen (vielleicht auch nach Infectionskrankheiten) ist der em-
bolische oder thrombotische Ursprung wahrscheinlich. Bekanntlich
machte v. Eiseisberg am letzten Chirurgencongresse Mitthei¬
lungen über Magen- und Duodenalblutungen nach Operationen, die
er auf Thrombose und Embolie in Folge Quetschung und Abbin¬
dung des Netzes des Mesenteriums u. s. w. zurückführt. In fünf
von sieben Fällen (fünf Herniolaparotomieen und zwei sacrale Ope¬
rationen) erfolgte die Hämatemesis am ersten bis siebenten Tage;
in den zwei anderen Fällen blieb wohl das Blutbrechen aus, aber
die Section stellte einmal frische Hämorrhagien der Magenschleim¬
haut, das andere Mal zahlreiche Geschwüre im Magen fest; auch
in zwei der erstgenannten Fälle fanden sich bei der Obduction
frische Duodenalgeschwüre. Ebenso hat v. Eiseisberg nach zwei
Pylorusresectionen das Auftreten von Ulcerationen in der Nähe der
fest verheilten Narbe beobachtet, die jedes Mal durch Perforation
zum Tode führten; ferner ein Duodenalgeschwür nach einer Hals¬
operation. Die Nutzanwendung dieser Erfahrungen auf die Folgen
von äusseren Verletzungen ergibt sich von selbst. Pylorus¬
stenose kann nach einem Trauma auf zweifache Weise entste¬
llen, durch Narbenbildung innerhalb der Magenwand und durch
Perigastritis, deren Producte Compression oder Abknickung des
Pylorus bewirken. Mittheilung von fünf operativ geheilten Fällen;
in dem zweiten Falle Krön lei n’s fand sich dicht vor der Stenose
ein 2 — 4 cm breiter, gürtelförmiger Defect der Schleimhaut, den
K r ö n 1 e i n durch traumatische Ablösung und secundäre Nekrose
erklärt, während Stern eine Verletzung der den Pylorus und
seine Umgebung versorgenden Gefässe, die zu Circulationsstörungen
und Nekrose der gegen Schädigung der Blutzufuhr besonders em¬
pfindlichen Schleimhaut führte, für wahrscheinlicher hält. An an¬
deren Stellen des Magens als am Pylorus ist die traumatische
Narbenstenose in einwandfreien Beispielen bisher nicht bekannt.
Naturgemäss können auch traumatisch entstandene Veränderungen
der Nachbarorgane (Leber, Gallenblase, Pankreas) Compression des
Pylorus veranlassen. Ausser durch mechanische Hindernisse kann
eine traumatische Magenerweiterung auch acut durch plötzliche
Lähmung der Musculatur entstehen; eine solche ist auch nach
Traumen beobachtet worden, die nicht die Magengegend direct trafen.
Es folgen die Krankheiten des Darmes; zunächst
jene der Schleimhaut (Enteritis und Darmgeschwür), dann
das umfangreiche Capitel Darm Verengerung und Ver¬
schluss: durch narbige Veränderung der Darmwand, Divertikel¬
bildung; Invagination; Einklemmung in traumatisch entstandene
pathologische Oeffnungen in Netz, Mesenterium, Bauchwand und
Zwerchfell; in Folge von Peritonitis (Fall von Ruggi, achtjähriger
Knabe, Quetschung des Bauches, nach 14 Tagen die ersten Zeichen
von Darmstenose; nach vier Monaten erste Laparotomie, Durch¬
schneidung eines Netzstranges; nach 12 Tagen zweite Laparotomie,
Enteroanastomose; nach weiteren 13 Tagen dritte Laparotomie mit
Resection der miteinander und mit der Bauchwand verwachsenen
Dünndarmschlingen in der Länge von 3'30 m\ Heilung); Compression
von aussen; Achsendrehung und Knotenbildung; Darmlähmung
(Ileus paralyticus). Ein Krankheitsbild des traumatischen Ileus zu
entwerfen, ist nicht möglich, ebensowenig eine zeitliche Grenze auf¬
zustellen, innerhalb deren nach einem Unfälle Ileussymptome auf¬
getreten sein müssen, um einen ursächlichen Zusammenhang anzu¬
nehmen. Nur die Aufklärung der Ursachen des Ileus ermöglicht im
Einzelfalle die Entscheidung über die Bedeutung eines vorausgegan¬
genen Traumas; oft nur der autoptische Befund (Operation oder
Section). Nach den nervösen Magen- und Darmerkran¬
kungen (hysterische Magenblutung, gastrische Krisen, Rumination
nach Unfällen) wird die Peritonitis in eingehendster Weise mit
reicher Casuistik abgehandelt. Der normale Wurmfortsatz wird
nicht leicht von einem Trauma getroffen werden, wohl aber kann
durch ein solches die chronische und latente Entzündung desselben
in eine acute Epityphitis umgewandelt werden. (Die deutschen
Chirurgen gebrauchen, dem Vorschläge K lister’s folgend [Cen¬
tralblatt für Chirurgie. 1898, 50] fast durchwegs diese Bezeichnung,
während Verfasser das »Wortungeheuer« Appendicitis beibehalten
hat; Appendix ist ausserdem Fern.). Die sogenannte traumati¬
sche Perityphlitis kann durch Verletzung des Cöcum und
Dünndarms hervorgerufen werden; ohne Operation ist eine strenge
Scheidung der genannten Erkrankungen meist nicht möglich. Bei
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
351
Quetschungen mit Secundärperforation können Tage und Wochen
vergehen, ehe die peritonitischen Erscheinungen auftreten. Auch der
traumatische Ursprung von subphrenischen und peri-
gastritischen Abscesen ist bereits beobachtet. Unter den
chronischen Formen der Peritonitis kann die Tuberculose ebenfalls
durch ein Trauma entstehen. Besondere Bedeutung haben die nach
traumatischen Entzündungen auftretenden peritonealen Ad¬
häsionen, die Verfasser in drei Gruppen bespricht, je nachdem
Schmerzen, Magenbeschwerden oder Störungen der Darmfunctionen
vorwiegen. Bemerkenswerth ist ihr enger Zusammenhang mit
neurasthenischen und hysterischen Symptomen; es ist nicht immer
leicht, zu entscheiden, was das Primäre ist. Schliesslich wird noch
der Einfluss körperlicher Anstrengungen auf die
Entstehung und Verschlimmerung von Krankheiten des Magen-
Darmcanales erörtert. Eine plötzliche intensive Anstrengung führt
nicht nur zu einer erheblichen Drucksteigerung in der Brusthöhle,
sondern auch zu einer ebensolchen in der Bauchhöhle, die ähn¬
liche Effecte haben kann, wie eine plötzlich von aussen ein wir¬
kende, zur Verkleinerung des Bauchraumes führende Gewalt: Zer¬
rung und Verschiebung der Unterleibsorgane, Sprengung von Ad¬
häsionen u. dgl. ; Magenblutungen, Perforationen bereits bestehender
Magengeschwüre und' selbst Rupturen des gesunden Darmes wurden
aus diesem Anlasse wiederholt beobachtet.
Der vierte Abschnitt bringt die Krankheiten der
parenchymatösen Unterleibsorgane; vorerst jene der
Leber und der G a 1 1 e n w e g e, als : Active Hyperämie.
Nach Quetschung und heftiger Erschütterung der Leber treten An¬
schwellung und Druckempfindlichkeit auf, die als fluxionäre Hyper¬
ämie, eventuell mit Blutungen in das Innere des Organes gedeutet
werden und nach einigen Tagen oder Wochen wieder zurückgehen.
Tritt durch Verletzung der Leber- und Gallenwege gleichzeitig
Ikterus auf, so kann das Bild dem katarrhalischen Ikterus sehr
ähnlich werden. Infectiöse Hepatitis, Leberabscess.
Wird eine Leberverletzung inficirt, so kommt es meist zur Eiterung.
Bezüglich der Zeit zwischen Trauma und Beginn der Krankheits¬
erscheinungen lässt sich eine bestimmte Grenze nicht aufstellen.
In der Mehrzahl der Fälle entwickeln sich die Symptome in den
ersten Tagen, es kann aber auch zunächst eine Latenzzeit von
verschieden langer Dauer (Wochen, Monate, vielleicht sogar Jahre)
eintreten, weil die Infection nicht sofort zu erfolgen braucht oder
bei geringer Virulenz der Erreger geringe oder gar keine Symptome
macht. Verlauf und Ausgang wie bei nicht traumatischen Abscessen.
Chronische Hepatitis (Lebercirrhose). Es werden zwei
Fälle mitgetheilt, wo nach Trauma eine diffuse, nach Art der
Cirrhose verlaufende Bindegewebswucherung mit secundärer Atrophie
des Parenchyms zu Stande kam; beide Male fand sich reichliche
Ablagerung von Blutpigment in der Leber. Die Fälle von t r a u-
matischer Wanderleber sind noch zweifelhaft; bei be¬
stehender Enteroptose kann das Trauma durch Zerrung der Liga¬
mente zu Schmerzen führen und auf diese Weise zum ersten Male
Symptome machen. Die wichtigste Folgekrankheit der Verletzung
der Gallenblase und der grossen Gallengänge ist die Peritonitis.
Eine in .Folge von Cholelithiasis entstandene und bis dahin latente
Cholecystitis kann durch ein Trauma manifest werden. Aber auch
ohne vorherige Cholelithiasis kann ein Trauma zu Cholecystitis
führen, indem es durch eine Schleimhautverletzung der Gallenblase
den schon vorher eingedrungenen Infectionserregern eine Invasions¬
stelle schafft; Verfasser theilt einen selbst beobachteten derartigen
Fall mit. Es folgen die traumatischen Milzerkrankungen
als: Acute und chronische Splenitis, Milzabscess, Milznekrose, eiterige
Perisplenitis und Wandermilz; ob eine Milzcontusion das Aufflackern
einer alten Malariainfection bedingen könne, ist noch fraglich. Von
den Krankheiten des Pankreas: Die acute Entzündung,
Blutung und Nekrose, chronische Pankreatitis, bewegliches Pankreas
und ein kurzer Hinweis auf Cysten und Pseudocysten; zu den
letzteren kann man auch die Flüssigkeitsansammlungen in der
Bursa omental, rechnen, die sich zuweilen schon in den ersten
Tagen nach der Verletzung entwickeln.
Eines der wichtigsten Capitel stellen die vom Verfasser zum
ersten Male zusammenfassend bearbeiteten Nierenkrankheiten
dar. Nach allgemeinen Bemerkungen über Nierenverletzungen werden
die Veränderungen des Harnes in Folge von Traumen besprochen.
Sie können Folge der Nierenverletzung sein: Hämaturie, Ausscheidung
von Eiweiss und geformten Elementen und quantitative Aenderungen
der Harnsecretion; in Verletzungen des Centralnervensystems be¬
gründet sein und nach Knochenbrüchen und ausgedehnten Blutun¬
gen auftreten (Fett, braungefärbte Cylinder u. s. w.). Ganz hervor¬
ragendes Interesse bietet die ausgezeichnete Bearbeitung der trau¬
matischen Nephritis, die Verfasser in drei Formen bespricht:
1. Rasch zur Heilung oder zum Tode gelangende Fälle mit dem
Harnbefunde einer acuten Nephritis. 2. Fälle von länger dauernder Ei-
weiss-(und Cylinder-)Ausscheidung ohne sonstige nephritische
Erscheinungen. 3. Fälle von diffuser Nephritis nach Trauma. Auf
schon bestehende Nephritis können Contusionen der Niere einen
ungünstigen Einfluss ausüben (Auftreten von Oedemen bald nach
dem Trauma). Die infectiösen Processe in den Nieren und in ihrer
Umgebung werden gemeinsam behandelt, weil die Bedeutung des
Traumas für ihr Zustandekommen die gleiche ist und sie nicht
selten nebeneinander Vorkommen: Niere na bscess und eite¬
rige Nephritis; Pyelonephritis und Pyonephrose;
Para- und Perinephritis. Bezüglich des zeitlichen Ablaufes
bestehen die grössten Unterschiede; während in einem Falle von
subcutaner Nierenverletzung bereits am 17. Tage ein grosser Theil
des Organes in einen Abscess verwandelt war, kann es andererseits
nicht nur Wochen und Monate, sondern selbst Jahre dauern, ehe
die Infection erfolgt oder bis sie Symptome macht. Einwandfreie
Fälle, in denen ein Trauma zu Nierentubercuculose ge¬
führt hätte, sind bisher nicht bekannt; wohl aber kann bei schon
bestehender, bis dahin latenter Tuberculose ein das kranke Organ
treffendes Trauma zu Blutung führen und so zum ersten Male die
Aufmerksamkeit auf das Leiden lenken. Die Entstehung einer
Häm a to- oder richtiger Hämatohydronephrose in Folge
von Trauma ist ohne Weiteres verständlich; viel mannigfacher ist
schon die Pathogenese der traumatischen Hydro nephrose,
die erschöpfend dargestellt wird; bei der Verschiedenheit der Ur¬
sache ist auch die Zeit zwischen Trauma und Entwicklung der
Hydronephrose grossen Schwankungen unterworfen. Die sogenannte
traumatische Pseudohydronephrose (Ansammlung von
Urin und eventuell auch Blut im perirenalen Gewebe) ist durch
die physikalische Untersuchung und auch durch die Punction nicht
immer sicher von der wahren Hydronephrose zu unterscheiden;
einwandfreien Aufschluss gibt meist nur die Operation. Naturgemäss
kann das Trauma auch das Bersten eines hydro- oder pyonephro-
tischen Sackes bewirken; sollte das Leiden bis dahin keine Symp¬
tome gemacht haben, so kann die Diagnose beträchtliche Schwierig¬
keiten veranlassen. Sehr unsicher ist der ursächliche Zusammen¬
hang zwischen Trauma und Nephrolithiasis, da auch deren
sonstige Aetiologie nicht klar und ihre unbemerkte Präexistenz nie¬
mals mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Traumatische
Einwirkungen scheinen die Entstehung dieses Leidens in zweifacher
Weise zu begünstigen, durch Verletzungen der Niere und des
Nierenbeckens und solche der Wirbelsäule, beziehungsweise des
Rückenmarkes. Da die traumatischen Nierenblutungen in der Mehr¬
zahl der Fälle sicher nicht zur Steinbildung führen, müsste noch
eine sogenannte Disposition dazukommen, die man sich in Analogie
mit der Cholelithiasis etwa als einen durch Mikroorganismen hervor¬
gerufenen »steinbildenden Katarrh« denken könnte. Selbst die
seltenen Fälle, in denen ein Blutgerinnsel als Centrum eines nach
einem Trauma entstandenen Concrementes gefunden wird, sind als
wissenschaftliches Beweismaterial nur mit grösster Vorsicht zu ver-
werthen, da auch hier eine präexistente Nephrolithiasis meist nicht
mit Sicherheit auszuschliessen ist. Für die Unfallbegutachtung ist
es namentlich wichtig, ob man annehmen darf, dass das Stein¬
leiden erst nach dem Unfälle entstanden oder durch diesen wesent¬
lich verschlimmert worden ist und ob das Trauma geeignet war.
eine Nierenverletzung zu verursachen. Bezüglich der Rückenmark¬
verletzungen ist nur sicher, dass sie in Folge von Blasenlähmung
zur Harninfection führen, welch letztere die Entstehung von Phosphat¬
steinen begünstigt; ob Verletzungen der Wirbelsäule oder des
Rückenmarkes ausserdem noch einen begünstigenden Einfluss aul
die Entstehung der Nephrolithiasis ausiiben, muss vorläufig dahin¬
gestellt bleiben. Von grosser praktischer Wichtigkeit sind die Aus¬
führungen über traumatische Nierendislocation. In
der überwiegenden Mehrzahl der Fälle kann man nur sagen, dass
die Wanderniere durch das Trauma manifest geworden ist; es ist
nicht wahrscheinlich, dass ein einmaliges Trauma ohne sonstige
352
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 15
Nebenverletzungen zu erheblicher Dislocation der normal befestigten
Niere führt. Bei Beurtheilung der Erwerbsfähigkeit ist zu beachten,
dass nicht das Vorhandensein einer Wanderniere an und für sich
einen Rentenanspruch bedingt, sondern erst die dadurch etwa
hervorgerufene Einhusse an Arbeitsfähigkeit. Bei Untersuchung und
Begutachtung ist ferner nicht zu vergessen, dass die wandernde
Niere hei Laien als ein schweres Leiden gilt, daher Mittheilung
und Bescheinigung der Diagnose die Erwerbsfähigkeit geradezu
vernichten kann. Um einer missbräuchlichen Ausnützung des Ge¬
setzes vorzubeugen, nehmen gegenwärtig die meisten Gutachter und
auch das Reichsversicherungsamt an, die »Entstehung« einer
Wanderniere sei nur dann auf einen Unfall zurückzuführen, wenn
im Momente desselben ein heftiger Schmerz empfunden wurde und
seitdem subjective Beschwerden vorhanden sind.
Im fünften Abschnitte bespricht Verfasser die malignen
Geschwülste, Cysten und Gefässerkrankungen der
Unterleibsorgane. Er verurtheilt sehr mit Recht die immer
wieder veröffentlichten Massenstatistiken, in denen Beobachtungen
der verschiedensten Autoren, soweit sie in der Anamnese eines
Tumorfalles irgend ein Trauma im weitesten Sinne des Wortes er¬
wähnen, zusammengestellt und daraus weitgehende Schlüsse gezogen
werden; die Grösse solcher Zahlen könne nur Demjenigen impo-
niren, der sich die Qualität des Materiales nicht näher ansieht. Bei
dem Mangel aller positiven Erkenntniss müssen wir uns damit
bescheiden, die Ergebnisse ärztlicher Erfahrung kritisch zu ver-
werthen, und wenn uns die Ausführung der Unfallversicherungs¬
gesetze Entscheidungen aufzwingt, so können diese nicht als wissen¬
schaftliche Urtheilssprüche gelten, sondern sie laufen auf eine Ab¬
wägung von Wahrscheinlichkeiten hinaus. In der Frage kommen
in Betracht: Ort der Verletzung; der Unfall muss nach der
Art seines Herganges geeignet sein, eine Verletzung desjenigen Or¬
ganes herbeizuführen, das später Sitz der Neubildung wurde; leider
ist auch diese selbstverständliche Forderung in vielen Publicationen
ausser Acht gelassen. Die Entwicklung der Geschwulst
nach dem Trauma; der Tumor muss nach dem Trauma und
zwar innerhalb einer Zeit entstanden sein, die einen Zusammenhang
als wahrscheinlich annehmen lässt; die ersten Symptome werden
kaum vor einigen Wochen auftreten können; zeigen sich innerhalb
der Zeit, die maligne Neubildungen erfahrungsgemäss zu ihrer Ent¬
wicklung brauchen, d. h. innerhalb von zwei bis drei Jahren nach
dem Trauma gar keine Symptome, so kann die Wahrscheinlichkeit
traumatischer Entstehung nicht mehr geltend gemacht werden; es
sei denn, dass sich an das Trauma zunächst chronisch entzünd¬
liche Processe anschlossen, oder dass hei Operation oder Section
ein Zusammenhang der Neubildung mit einer von der Verletzung
herrührenden Narbe nachgewiesen wird. (Mittheilung eines Falles von
Lebersarkom nach Schlag in die Magengegend, wo hei der Section,
fünf Monate nach dem Unfälle im 1. Leberlappen, dem Hauptsitze
der Geschwulst, eine grosse Narbe gefunden wurde.) In Folge eines
Traumas etwa eingetretene allgemeine Schwächung des Körpers hat
keinen Einfluss auf die Entwicklung bösartiger Geschwülste. Am
häufigsten kommt das Magencarcinom in Betracht. (Als Be¬
weis, wie — leider nicht selten - — auch namhafte Kliniker in
ihren Gutachten mehr suhjectiven Anschauungen als ohjectiver
Beweisführung Raum geben, sei auf ein hier mitgetheiltes Gutachten
von Schönborn verwiesen. Die Kritik desselben besorgt Verfasser
mit der gewohnten vornehmen Ruhe und Gelassenheit, die durch lang¬
jährige Erfahrung gegen alle Ueherraschungen gesichert erscheint.) Ver¬
fasser hebt als bezeichnend hervor, dass in der reichen Literatur über
traumatisches Magencarcinom bisher kein Fall vorliegt, in dem ein
Zusammenhang des Carcinoms mit chronisch entzündlichen Pro¬
cessen traumatischen Ursprunges oder einer auf Magenverletzung
zurückzu führenden Narbe thatsächlicli beobachtet worden wäre. Viel
seltener als beim Carcinom des Magens wird bei den Darmtumoren
das I rauma als ätiologisches Moment angeschuldigt, während man
gerade das Umgekehrte erwarten müsste, wenn wirklich das Trauma
ein bedeutungsvoller Factor bei der Entwicklung maligner Geschwülste
wäre, da der Darm viel häufiger durch äussere Gewalt verletzt
wird, als der Magen.
Seltene Vorkommnisse und der klinischen Diagnose bezüglich
ihres Ausgangspunktes schwer zugänglich sind die nach traumati¬
schen Einwirkungen auf die Unterleibsorgane beobachteten B 1 u t-
und E r w eich ungscyst e n oder in drüsigen Organen gelegent¬
lich vorkommenden Retentionscysten. Verfasser erwähnt
solche im Bereiche des Magen-Darmcanales, Peritoneal-, Mesen¬
terial-, Leber-, Milz-, echte Pankreas- und hämorrhagische Pseudo¬
cysten, die oben bereits angeführt, hier erst eingehender besprochen
werden.
Bei der Echinococcenkrankheit besteht die ver¬
meintliche Einwirkung des Traumas meist darin, dass der hiebei
entstehende Schmerz die Aufmerksamkeit des Verletzten auf die
bis dabin symptomlos und unbemerkt gebliebene Geschwulst lenkt.
Wahrscheinlich erfolgt die Infection in den meisten der bei Er¬
wachsenen in Erscheinung tretenden Fälle schon im frühen Kindes¬
alter. Wohl aber kann das Trauma verschlimmernd auf den Verlauf
der Echinococcenkrankheit — insbesondere des Leberechinococcus
— einwirken, indem es zu reactiver Entzündung, Vereiterung
und Perforation des Sackes mit allen ihren möglichen Folgen führt.
Die Krankheiten der Unter leibsgefässe um¬
fassen die Aneurysmen der Aorta abdominalis und
ihrer Aeste (Beispiele von traumatischen Spätblutungen in den
Magen-Darmcanal oder den Harnapparat in Folge von traumatischen
Aneurysmen der Leber-, beziehungsweise Nierenarterie); ferner
Arterien- und Venenthrombosen (Fall von Thrombose
der rechten Arteria iliaca mit consecutiver Gangrän des Fusses in
Folge Contusion der rechten Unterbauchgegend).
Der letzte Abschnitt enthält die Krankheiten des
Stoffwechsels und des Blutes, beginnend mit dem
Diabetes mellitus. Rasch vorübergehende Glykosurie ist nach
Kopfverletzungen nicht selten; sie tritt nach Stunden ein und
dauert im Mittel fünf bis acht Tage; dabei meist leichte Albumin¬
urie. Von diesen Fällen führen allmälige Uebergänge zu solchen
mit länger dauernder Zuckerausscheidung, gewöhnlich verbunden
mit Polydipsie und Polyurie. Am wahrscheinlichsten ist die trau¬
matische Entstehung des Diabetes in jenen Fällen mit ungewöhn¬
lich raschem und gutartigem Verlaufe, bei denen die Zuckeraus¬
scheidung meist in den ersten Tagen nach dem Trauma beginnt
und nur einige Wochen oder Monate dauert. Dagegen ist in fast
allen Fällen mit chronischem Verlaufe die Möglichkeit, dass die
Krankheit schon vor dem Trauma bestand, nicht auszuschliessen.
Die nähere Localisation der Schädelverletzung scheint ohne be¬
stimmenden Einfluss auf die Entstehung des Diabetes zu sein; in
vereinzelten Fällen kann die Glykosurie die Bedeutung eines bul-
bären Herdsymptomes haben; für die sichere Localisation eines
»Centrums« am Boden des vierten Ventrikels beim Menschen fehlen
bisher Anhaltspunkte. Falls nicht durch das Trauma hervorgerufene
Hirnkrankheiten oder Neurosen das Bindeglied zwischen Trauma
und Diabetes hersteilen, wird der ursächliche Zusammenhang dann
unwahrscheinlich, wenn sich die Zuckerausscheidung nicht in den
ersten Wochen entwickelt. Aehnlich wie die directen Kopfver¬
letzungen können schwere allgemeine Erschütterungen des Körpers
wirken, wobei es oft unentschieden bleibt, ob etwa auch Rücken¬
marksverletzungen causal anzuschuldigen sind. Von weiteren
sonstigen Verletzungen und traumatischen Erkrankungen kommen
hauptsächlich noch jene des Pankreas und vielleicht der Leber in
Betracht; für das Entstehen eines Diabetes nach peripheren Ver¬
letzungen fehlt uns jedes Verständniss. Die Möglichkeit, dass psy¬
chische Einwirkungen zu Diabetes führen, will Verfasser nicht in
Abrede stellen, doch komme derartigen Beobachtungen fast niemals
eine Beweiskraft zu; er erinnert daran, wie vor Aufklärung der
Aetiologie der Infectionskrankheiten bei mehreren unter ihnen
(Typhus, Tetanus) dieselben Einflüsse als sein* wichtig bezeichnet
wurden; auch die vielfach behauptete verschlimmernde Wirkung
von seelischen Erregungen ist jedenfalls nicht constatirt. Bezüglich
der Unfallneurosen als ätiologisches Moment für Diabetes hält Ver¬
fasser die Zahl der mitgetheilten Fälle noch nicht für gross genug,
um eine zufällige Coincidenz ausschliessen zu lassen. Den neueren
Untersuchungen über alimentäre Glykosurie bei derartigen Neurosen
wird kein zu grosser Werth für die Unterstützung eines causalen
Zusammenhanges zwischen Diabetes und Neurosen beigemessen; es
hegen bisher keine Erfahrungen vor, dass sich aus einer derartigen
Glykosurie ein Diabetes entwickelt hätte.
Der Diabetes insipidus wird in ähnlicher Anordnung
getrennt besprochen; eine Tabelle bringt auch hier wie beim Diabetes
mellitus eine Auswahl klinischer Beobachtungen: die traumatische
Entstehung scheint liier relativ häufiger vorzukommen.
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
353
Das Capitel über Diabetes gehört mit jenem über die Nieren¬
krankheiten zu den schönsten des Buches; sie zeigen so recht die
unvergleichliche Kunst des Verfassers, auch verwickelte Fragen so
einfach und klar auseinanderzulegen und die Schlussfolgerungen
mit solcher logischen Schärfe zu deduciren, dass die Orientirung
für Jedermann eine spielende wird. Es wird wohl kaum Jemand
in einschlägigen Fragen ein Gutachten abgeben dürfen, ohne die
Ausführungen des Verfassers eingesehen zu haben.
Von den Krankheiten des Blutes ist hauptsächlich
die Leukämie berücksichtigt, während eine Würdigung der
traumatischen Aetiologie einiger allgemeinen Infectionskrankheiten
(acuter Gelenksrheumatismus) das Heft abschliesst. Jedem Abschnitte
folgt das ausführliche Literaturverzeichniss.
So liegt denn die erste zusammenfassende Darstellung der
traumatischen Entstehung innerer Krankheiten vollendet vor und
Verfasser kann sich mit wohlverdienter Genugthuung sagen, dass
er da auf einem abgelegenen und bisher wenig beachteten Gebiete
eine wirklich bahnbrechende Arbeit geleistet hat, die erst nach und
nach in ihrem wahren Wer the erkannt werden wird. Das Buch ist
nicht nur für alle Unfallsärzte, die ihre Aufgabe ernst nehmen,
durchaus unentbehrlich, sondern auch die Internisten werden ihm
die eingehendste Beachtung schenken müssen, weil die Erforschung
der Aetiologie dieser Krankheiten eine der wichtigsten allgemeinen
Aufgaben der medicinischen Wissenschaft darstellt, die nur durch
die Unfallversicherungsgesetze in etwas rascheren Fluss gebracht
worden ist.
*
III. Der sehr fleissige und seit Bestehen der Unfallversiche¬
rungsgesetze um die Unfallheilkunde verdiente Verfasser hat sich
hier eine Aufgabe gestellt, der er nicht gewachsen ist. Gole-
biewski weiss und kann sehr viel, auf seinem bekannten Lieb¬
lingsgebiete ist er sogar sehr zu Hause, aber zu einer Darstellung
der Unfallheilkunde auch nur in ihren Hauptgebieten ist sein
Wissen weder abgeklärt, noch umfassend genug. Was er bietet,
ist eigentlich nur ein illustrirter Bericht über seine 13jährige, der
Nachbehandlung von Unfallverletzten gewidmete Thätigkeit (dem
ganzen Werke liegen 5245 eigene Beobachtungen zu Grunde), der
noch dadurch einseitig und einförmig wird, dass er hauptsächlich
die Folgezustände von Knochen- und Gelenkverletzungen aus einer
Zeit zum Gegenstände hat, wo die Verletzten nach abgeschlossener
chirurgischer Heilung (i. e. Wochen und Monate nach dem Unfälle)
zur medico-mechanischen Nachbehandlung in seine Anstalt aufge¬
nommen wurden. Es werden demgemäss nur die Symptome geheilter
Verletzungen geschildert (die Lecture muthet so sonderbar an, dass
man sich erst vorsätzlich hineindenken muss, um das Gebotene
überhaupt zu verstehen), die von sehr geringer Mannigfaltigkeit
sind und sich wie die Nachbehandlung mehr oder weniger immer
um dieselben Zustände von Steifigkeit, Atrophie u. s. w. drehen.
Ueber die Behandlung frischer Verletzungen, namentlich wie die¬
selbe von vorneherein einzurichten ist, um zu einem möglichst
günstigen functioneilen Resultate zu führen, und Zustände, deren
Schilderung dieses Buch gewidmet ist, zu vermeiden, erfährt der
Leser gar nichts. Ebenso betrifft die sehr ausgedehnte Gasuistik
(circa 310 eigene und nur ein fremder Fall) fast durchwegs Folge¬
zustände nach den genannten Verletzungen, deren Mittheilung kaum
allgemeines Interesse erregt. So ist der Fall z. B. »Hüftverrenkung«
überschrieben, aber Verfasser hatte nur die reponirte und geheilte Luxa¬
tion zur Nachbehandlung und der Leser erfährt gar nicht, welche Art
der Verrenkung- Vorgelegen. Was textlich, casuistisch und bildlich
von sonstigen Verletzungen und Erkrankungen drum und dran
gehängt wurde, um wenigstens den Schein der Vollständigkeit zu
erwecken, ist von mehr als zweifelhaftem Werthe; die hier bei¬
gegebenen Krankengeschichten sind meist so kurz gefasst, dass die
Diagnosen mehr wie angeklebte Etiquetten wirken, die man gläubig
hinnehmen muss, da jede Begründung fehlt. Sehr schlecht sind die
Nervenkrankheiten weggekommen, von denen man da und dort
wohl verstreute Bruchstücke findet, aber Vieles ganz fehlt (z. B.
die peripheren Lähmungen); Augen-, Ohren- und Frauenkrankheiten
waren von vornherein ausgeschlossen. Wie Verfasser mit der
Materie überhaupt geschaltet hat, wollen wir kurz durchgehen.
Der sehr kurz gefasste allgemeine Theil ist so flüchtig hin¬
geworfen und enthält so viele unrichtige, willkürliche, nicht er¬
wiesene, ja überhaupt nicht verständliche Behauptungen, dass er
das grösste Befremden hinterlässt; die Belege dafür findet man auf
jedem Blatte. Im speciellen Theile fehlt vor Allem jede zweckent¬
sprechende Stoffvertheilung und ist die Ausführung eine so un-
gleichmässige und sprunghafte, dass kaum ein Krankheitsbild rund
herausgearbeitet wird. So sind gleich die Verletzungen und trau¬
matischen Erkrankungen des Kopfes ausserordentlich lückenhaft
und oberflächlich behandelt, die wichtigsten Dinge mit einigen
nichtssagenden Bemerkungen abgethan. Der Diabetes ist in sieben
Zeilen zusammengefasst. Zwischen Gehirntumoren und Gesichtsver-
letzungen werden auf fünf Seiten die functionellen Neurosen er¬
ledigt unter Beibringung von zwei ganz belanglosen, wenige Zeilen
umfassenden Krankengeschichten. Der Abschnitt Rumpf ist fast
ausschliesslich den Verletzungen der Wirbelsäule gewidmet (circa
50 Seiten), während die gesannnten Rückenmarkserkrankungen in
durchaus ungenügender Weise auf wenigen Blättern abgefertigt
werden. Unter Brust ist wieder der weiteste Raum auf die Schil¬
derung der Rippenbrüche verwendet, während die traumatischen Er¬
krankungen von Pleura und Lungen (auch die Tuberculose) als
Nachkrankheiten dieser Fracturen auf sechs Seiten zu einem sehr
ungedeihlichen Ende geführt werden; die Herz- und Gefässerkran-
kungen auf vier Seiten. Nach S t er n’s Arbeiten auf diesem Gebiete
ist eine solche Behandlung dieser Krankheiten nicht mehr zulässig;
ein einfacher Hinweis auf diesen Autor wäre klüger gewesen. Doch
findet sich Derartiges in dem ganzen dicken Buche nicht, aus dem
man überhaupt sehr wenig über die Arbeiten Anderer erfährt; die
wenigen Autornamen, die Vorkommen, sind nicht einmal durch
gesperrten Druck hervorgehoben. Die Verletzungen und Erkrankungen
des Bauches erscheinen mehr angedeutet, als ausgeführt, nur die
Hernien eingehender besprochen.
Dagegen nehmen die Verletzungen und traumatischen Er¬
krankungen des Beckens und der Extremitäten fast zwei
Drittel des umfangreichen Buches (378 Seiten) ein und zwar, wie
bereits hervorgehoben wurde, unter fast ausschliesslicher Berück¬
sichtigung der Fracturen und Luxationen, während auf die sonstigen
Gewebsverletzungen und Erkrankungen nur ein verschwindender
Theil entfällt. Hier ist das eigenliche Arbeitsgebiet des Verfassers
und da weiss er sich keine Beschränkung aufzuerlegen.
Leider finden sich auch hier neben vielen interessanten und
schönen Beobachtungen und Beschreibungen — die übrigens kaum
Jemand in einem Grundrisse der Unfallheilkunde suchen diirlte —
viele Flüchtigkeiten und Absonderlichkeiten und fehlt es so sehr
an jeder grundlegenden Eintheilung und systematischen Durch¬
führung, dass auch die Lecture dieses Haupttheiles des Buches
keine rechte Freude aufkommen lässt.
Und nun der Atlas, den das Buch wohl in erster Linie vor¬
stellen soll. Ein Atlas der Unfallheilkunde erregt schon von vorn¬
herein gewisse Bedenken, da die nach Unfällen auftretenden Ver-
letzungs- und Krankheitsbilder keine anderen sind, als wir aus
sonstigen Ursachen zu sehen pflegen. Immerhin könnte man sich
aus den einzelnen Disciplinen (nebst Chirurgie hauptsächlich Neuro¬
logie) wichtige und bezeichnende, für diesen speciellen Zweck ge¬
eignete Typen ausgewählt denken, die auch dieses Grenzgebiet
bildlich umfassen und den Praktiker bei der Diagnosenstellung
unterstützen könnten. Golebiewski hat sich aber auch hier
ausschliesslich auf sein eigenes einseitiges Material beschränkt und
liefert im Grunde genommen nur Illustrationen zu seinem Anstalts¬
berichte, also hauptsächlich Fracturen (über 120 Bilder, darunter
Sprunggelenk und Fusswurzel stark vorwiegend), gegen welche die
Luxationen (die eben meist schon reponirt in die Anstalt kamen)
an Zahl (vier) verschwinden. Diese Ziffern allein beweisen eigentlich
schon, dass auch bei der Auswahl und Vertheilung der Bilder
jedes einheitliche und zielbewusste Princip fehlte. Ob übrigens nach
dem in jeder Hinsicht ausgezeichneten Atlas von Helfer ich ein
besonderes Bedürfniss für eine derartige Darstellung des Gegenstandes
vorhanden war, kann doch füglich mit Recht bezweifelt werden.
Die farbigen Tafeln sind von Maler Fink in durchaus
künstlerischer Weise mit grösster Sorgfalt und Naturtreue ausge¬
führt und man möchte es fast bedauern, dass diese Kunst nicht in
den Dienst einer besseren Sache gestellt wurde. Was die Auswahl
der Fälle anbelangt, dürfte es für den Lehrzweck doch von recht
geringem Werthe sein, Schädeldepressionen, Narben an den ver¬
schiedensten Körperstellen, ein verengtes Nasenloch, geheilte Schlüssel¬
bein- und Rippenbrüche, Vorderarmatrophien, Handsteifigkeiten
354
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 15
Fingerstümpfe, einen Nabelbruch, die Narbe nach Leistenbruch-
operation (als Kniestück), ein Genu valg. nach Unterschenkelfractur
u. v. A. in schönsten farbigen Bildern dargeslcllt zu sehen, da der¬
artige Dinge wohl den meisten Aerzten aus der Nalurbetrachtung
geläufig sind und besondere Feinheiten der Beobachtung oder Be¬
schreibung für den vorliegenden Zweck nicht in Betracht kommen.
Hervorgehoben seien hier: Facialis-, Sympathicuslähmung, Contractor
des Cucullaris, einige Wirbelbrüche, eine frische Ulnarislähmung
(sonst fehlen die peripheren Nervenlähmungen ganz), eine Tropho-
neurose der Hand nach Medianus- und Ulnarisdurchschneidung,
Fersenbeinbruch, Luxationsfractur des Talus u. A. m.
In ähnlicher Weise findet man unter den schwarzen Bildern
sehr Brauchbares nebst Alltäglichem und Ueberflüssigem. Von Sohlen¬
abdrücken zählt man 17 Paare. Am werthvollsten sind die Röntgen-
Bilder (obwohl Wirbelsäule, Becken und Hüftgelenk ganz fehlen),
welche die Fracturen der Extremitäten durch überzahlreiche Bilder
(GO) in schöner Weise zur Darstellung bringen.
So hinterlässt das Buch Alles in Allem einen recht gemischten
Eindruck und wenn Verfasser in der Einleitung dccretirt, dass das¬
selbe für Aerzte und Studirende ein willkommenes, kurzge-
fasstes Handbuch sein und eine bestehende Lücke in der medi-
einisehen Literatur ausfüllen solle, so dürfte das ärztliche Publicum
diese Widmung unter dem gegenwärtigen Titel des Buches kaum
annehmen; als Atlas und Handbuch der Nachkrankheiten von Un¬
fall Verletzungen könnte man ihm nicht viel Uebles nachsagen.
*
IV. Der Vorstand der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt für
Niederösterreich in Wien hat Kaufmann um ein Gutachten in
der Bruchfrage ersucht und ihn eingeladen, sich gleichzeitig über
die bei der Unfallerhebung im Allgemeinen, sowie von dem be¬
handelnden und begutachtenden Arzte zu beachtenden Momente zu
äussern. Kaufmann ist dieser Aufforderung bereitwilligst nach¬
gekommen und der genannte Vorstand veröffentlicht nun dessen
Gutachten. Es zerfällt in folgende Abschnitte: I. Die für die Ent¬
schädigung der unfallweise entstandenen sogenannten traumatischen
Erkrankungen massgebenden Gesichtspunkte. II. Die Begründung
der Entschädigungspflicht bei Unterleibsbrüchen. III. Art und Fest¬
stellung des Betriebsunfalles. IV. Die Aufgaben der ärztlichen
Untersuchung bei Leistenbrüchen. V. Die Aufgaben der ärztlichen
Begutachtung bei Leistenbrüchen. VI. Begründung und Normirung
der Entschädigung bei Leistenbrüchen. VII. Die seltenen Bruch¬
arten (Schenkel-, Nabel-, Magen-, Narbenbruch). VIII. Die Bruch¬
einklemmung. IX. Verschlimmerung und Verletzung alter Brüche.
Im Anhänge: Formulare. In jedem Abschnitte werden alle ein¬
schlägigen Fragen kurz erörtert und zum Schlüsse in knappe, be¬
zeichnende Sätze zusammengefasst. Hier möge Folgendes kurz
hervorgehoben werden :
In der Regel entstehen die Brüche langsam und allmälig;
doch lässt sich ihre ausnahmsweise plötzliche Entstehung nicht
bestreiten. Hauptzweck des Gutachtens ist es nun, die Bedingungen
festzustellen, unter denen ein Bruch als Unfallfolge anzusehen ist.
Kaufmann sagt:
»Ein Unfallbruch ist mit Wahrscheinlichkeit
anzunehmen: 1. Wenn ein Unfall oder eine Ueberanstrengung
beim Betriebe mit Sicherheit nachweisbar sind. 2. Wenn die Er¬
scheinungen des Bruchaustrittes zutreffend angegeben werden und
der Arzt rasch darnach zugezogen wurde. 3. Wenn nach dem Be¬
funde zuzugeben ist, dass es sich um einen frischen Bruch
handeln kann.
EinUnfallbruchist ohne Weiteres nicht anzu¬
nehmen, sofern nur eine der folgenden Bedingungen zutrifft:
1. Wenn er bei der gewohnten und betriebsüblichen Arbeits¬
verrichtung in die Erscheinung trat, ein Unfall oder eine Ueber¬
anstrengung mithin nicht vorliegt. 2. Wenn Schmerzen beim Bruch¬
austritt fehlten und der Arzt nicht sofort oder innerhalb der ersten
zwei Tage, sondern erst später zugezogen wurde. 3. Wenn der
Bruch mit Sicherheit als alter Bruch erkannt wird.«
Zur Feststellung des Betriebsunfalles und der aussergewöhn-
lichen Anstrengung, die in erster Linie den Betriebsorganen zusteht,
aber auch darin bewanderten Aerzten übertragen werden kann,
wird ein entsprechender, auf Brüche bezüglicher Zusatz zur Un¬
fallsanzeige vorgeschlagen. Die äusseren Umstände des zweiten
Punktes ergeben sich aus dem ärztlichen Gutachten oder werden
durch Zeugen eruirt. Nur die dritte Frage ist rein medicinischer
Natur und werden alle für ihre Entscheidung nur irgendwie be¬
langreichen Gesichtspunkte kurz, aber eingehend gewürdigt, ohne
hiezu neue Argumente vorzubringen. Um dieselben thunlichst bald
nach dem Unfälle festzulegen, sollen die Gassenärzte, denen die
Verletzten zuerst zugewiesen werden, einen »Anmeldeschein
für Unterleibsbrüche« ausfüllen, der in 25 Fragen alles
für den speciollen Zweck Wissenswerthe enthält und deren Be¬
antwortung zu genauester Untersuchung zwingt. Sollte die Ent¬
schädigungspflicht durch diesen ersten ärztlichen Befund nicht ge¬
nügend geklärt, respective ein solcher überhaupt nicht aufgenommen
worden sein, weil die Ansprüche erst nachträglich erhoben wurden,
so wird für die Untersuchung durch den Vertrauensarzt ein zweites
ähnliches Formular: »Aerztlicher Bericht über das
Bruchleiden des...« vorgeschlagen, welches in 31 Fragen
sowohl die Angaben des Verletzten, als den Befund in ausführ¬
lichster Weise wiedergibt. Naturgemäss wird die Werthigkeit dieser
Befunde hauptsächlich von der Sachkenntniss der betreffenden Aerzte
und ihrer Beherrschung der Untersuchungstechnik abhängen; diese
aber vorausgesetzt, dürfte ein derartig ausgefülltes Formular that-
sächlich alle für die Beurtheilung der Frage, ob ein Bruch als
frisch entstanden oder alt anzusehen sei, massgebenden Gesichts¬
punkte mit der heute überhaupt erreichbaren Vollständigkeit enthalten.
Dem Vorstande würde die Entscheidung über die Entschädigungs¬
pflicht im Einzelfalle ganz wesentlich erleichtert werden und dies
etwa dem Standpunkte entsprechen, wie er in Deutschland seit
Jahren geltend ist. Allerdings bleibt dabei die Frage offen, wie sich
die Schiedsgerichte zu dieser Auffassung stellen würden, für deren
Entscheidungen bei dem Mangel einer dem Reichsversicherungs¬
amte entsprechenden Centralstelle bisher ebenfalls alle einheitlichen
Gesichtspunkte fehlen. Auf alle Fälle verdient das Bestreben des
sehr rührigen Vorstandes, in einer so wichtigen Frage endlich
halbwegs Ordnung zu schaffen, die vollste Anerkennung. Vielleicht
finden diese Verhältnisse nun auch von Seite der berufsgenossen¬
schaftlichen Unfallversicherungsanstalt der österreichischen Eisen¬
bahnen eine eingehendere Beachtung; bisher hat dieselbe die für
sie thätigen Aerzte ohne alle Informationen gelassen, so dass diese
weder wissen, was der Vorstand unter einem Unfälle überhaupt
versteht, noch von welchen Momenten er sich bei der Einschätzung
leiten lässt.
Zweifellos ist es, dass die Vertheilung dieses leicht verständ¬
lich abgefassten Gutachtens unter die Aerzte und ihre Verpflichtung
auf dasselbe ganz wohl geeignet wären, in dieser vielumstrittenen
Frage nicht nur ein besseres Verständniss im Allgemeinen, sondern
vor Allem eine einheitliche Auffassung und gleichmässiges Vor¬
gehen bei der praktischen Durchführung des Unfallversicherungs¬
gesetzes anzubahnen. Aber die wissenschaftliche Seite der Bruch¬
frage ist dadurch um keinen Schritt vorwärts gebracht. Es wird
doch Niemand glauben, dass eine Hernie, bei der die Punkte 1
und 2 zutreffen (deren Erfüllung dem Rentenwärter zudem in ge¬
wissem Sinne in die Hand gegeben ist) und bei der nach dem
localen Befunde die plötzliche Entstehung wahrscheinlich ist, auch
wirklich anlässlich des fraglichen Unfalles plötzlich und zum ersten
Male vorgetreten sei; es kann so sein, doch besteht keinerlei Ge¬
wissheit darüber, da sich diese Erscheinungen auch auf mannig¬
fache andere Art erklären lassen. Es ist daher nicht recht ver¬
ständlich, warum sich Kaufmann über Aerzte und Juristen
verwundert, die immer noch Schwierigkeiten in der Bruchfrage
finden, und ziemlich deutlich zu verstehen gibt, man müsse die
Sache nur recht anzupacken wissen, dann sei ihre Ueberwindung
leicht. Die Verdienste, die sich Kaufmann um die praktische
Lösung dieser Frage schon früher und jetzt neuerdings erworben
hat, sind klar und unbestritten, aber neue Momente zur wissen¬
schaftlichen Klärung der Frage hat er nicht beigebracht; hier be¬
stehen die alten Schwierigkeiten unverändert fort, und auch die
vielen Autopsien durch Radicaloperation haben bisher keinen
wesentlichen Fortschritt gezeitigt.
*
V. Man mag noch so sehr gegen die Benützung von Renten¬
tabellen eifern und noch so dringend für die Individualisirung im
Einzelfalle eintreten, die Thatsache ihrer Unentbehrlichkeit für die
Praxis lässt sich nicht aus der Welt schaffen. Am ersten Tage seiner
praktischen Thätigkeit werden dem Arzte die Formulare der Ver-
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
355
sicherungsanstalt auf den Tisch gelegt, deren Ausfüllung eine pro-
centuelle Abschätzung der etwaigen Einbusse an Erwerbsfähigkeit
erfordert. Nun gleich wieder mit dem Studium der Unfallheilkunde
zu beginnen, dazu fehlen meist sowohl Zeit als Lust; es wird also
naturgewäss nach dem ersten besten erreichbaren Schema gegriffen,
das aus der Noth hilft, und nur zu oft erschöpft sich die ganze
Unfallheilkunde in der bald erworbenen Abschätzungsroutine. Es ist
daher sehr erfreulich, dass ein so erfahrener und anerkannter Autor
wie B ä h r die Mühe nicht gescheut hat, für diesen Zweck einen
Schlüssel zu bringen, der eindringlichst zum Mitdenken anregen
und die rein mechanische Benützung nach Möglichkeit hintanhalten
soll. Da jede Tabelle mehr weniger subjective Anschauungen zum
Ausdrucke bringt, so ist es vor Allem die Durchsicht mehrerer
solcher Zusammenstellungen und der Vergleich ihrer Begründungen,
der zur Kritik und Mitarbeit anregt und diese Methode hat Bähr
für sein Schema in der glücklichsten Weise nutzbar zu machen
verstanden. »Nicht die Entnahme eines Werthes aus einer der Ta¬
bellen wird beabsichtigt, sondern der Leser möge durch den Ver¬
gleich der Tabellen zu eigenem Urtheile angeregt werden.«
Nach einigen sehr treffenden allgemeinen Bemerkungen über
die Schaffung und den Werth solcher Entschädigungsscalen werden
zunächst die in der Privatunfallversicherung (bei 28 Anstalten)
bestehenden Sätze mitgetheilt und besprochen. Die Normen, die
sich in der obligatorischen Unfallversicherung in Deutschland all-
mälig herausgebildet haben, werden an der Hand der Tabellen von
elf Berufsgenossenschaften und der K ö n e n’schen Gliedertabelle er¬
örtert. Hierauf wird das sehr ausführliche Wiener Schema
(der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt für Niederösterreich in Wien)
und das kurze Grazer Schema (der gleichen Anstalt für Steier¬
mark und Kärnten in Graz) zum Abdrucke gebracht. Es folgen die
von Aerzten aufgestellten Tabellen (Blasius, Bode, Riedinger,
Becker) und auf fünf Blättern eine zusammenfassende kritische
Besprechung aller vorgeführten Rentensätze, die bei den einzelnen
Krankheitsgruppen zu den von Bähr selbst vorgeschlagenen und
begründeten Werthen hinüberleitet. Schliesslich werden sie in einer
kurzen Tabelle übersichtlich zur Darstellung gebracht. Verfasser er¬
sucht nochmals, bei Benützung seiner Tabelle alles das, was im
Texte und in den einzelnen Tabellen bei deren Gebrauche ausge¬
führt ist, eingehend zu berücksichtigen, weil nur so ein wirklicher
Nutzen resultiren könne. Auf Einzelheiten einzugehen, ist hier nicht
der Ort. Die kleine Schrift sei allen Aerzten bestens empfohlen; sie
ist die vollkommenste ihrer Art, die wir bisher besitzen.
*
VI. Sowohl körperliches als psychisches Trauma kann Veran¬
lassung zu Diabetes mellitus geben, »zumal bei schon bestehender
Disposition dazu«. In ersterer Beziehung kommen namentlich Ver¬
letzungen der Medulla oblong, und der benachbarten Hirnpartien,
der sympathischen Ganglien, des Halsmarks, ferner von Pankreas,
und Leber in Betracht, ebenso heftige Erschütterung des ganzen
Körpers. Dass heftige Gemüthsbewegungen einen bestehenden Diabetes
verschlimmern und nicht selten erst veranlassen, hält Senator
durch klinische Beobachtungen für sichergestellt; die Disposition
kann durch neuropathische Belastung oder Krankheiten (Gicht, Fett¬
leibigkeit) gegeben sein. Sehr häufig combiniren sich beide Schädi¬
gungen. Senator erwähnt einen Mann, bei dem er mehrere
Monate nach einem Blitzschläge unzweifelhaften Diabetes nach-
weisen konnte und bei dem sich die Symptome angeblich
schon 14 Tage nach dem Unfälle bemerkbar machten. Als dritte
Entstehungsweise hält Senator die Entwicklung eines Diabetes
durch das Mittelglied einer Unfall-, oder wie er sagt, Emotions¬
neurose für wahrscheinlich, Nach dem Trauma entwickelt sich zu¬
nächst die Neurose, in ihrem Verlaufe alimentäre Glykosurie und
aus dieser der Diabetes. Senator gibt aber zu, diesen Entwick¬
lungsgang selbst noch nicht beobachtet zu haben. Unter 1090
eigenen Fällen von Diabetes kann Senator nur elfmal (in wenig
über 1%) traumatische Entstehung annehmen (dabei ist der er¬
wähnte Fall von Blitzschlag und ein Fall nach Laparotomie mit¬
gezählt).
Viel seltener ist im Allgemeinen der Diabetes insipidus, seine
traumatische Entstehung dagegen häufiger; unter 76 eigenen Fällen
zählt Senator drei, in denen dem Ausbruche der Krankheit
Sturz oder Schlag auf den Kopf unmittelbar vorausging, also 4%.
*
VII. Die Zug- und Druckverhältnisse für den erkrankten Ischiadicus
(wie Cruralis) sind am günstigsten in Abduction, Flexion und
Rotation nach aussen. Aus der Stellung, die das kranke Bein in
Folge dessen gegen den Rumpf anzunehmen und festzuhalten be¬
strebt ist, ergeben sich gewisse Eigenthümlichkeiten des Sitzens,
Aufrichtens, Biickens, Stehens und Gehens, die sich als objective
Symptome für die Beurtheilung der Erwerbsfähigkeit verwerthen
lassen. Die Kranken sitzen derart, dass sie den Winkel zwischen
Oberschenkel und Rumpf stumpf, d. h. möglichst unverändert
lassen; sie vermeiden die senkrecht aufsteigende Lehne und sitzen
mehr auf dem vorderen Rande des Stuhles; der Oberschenkel wird
nicht wagrecht gehalten, sondern das Knie möglichst gesenkt und
der Oberkörper durch kyphotische Biegung der Wirbelsäule im
Dorsolumbaltheile möglichst nach vorne gebracht. Die Kranken
sitzen mehr auf der hinteren, als unteren Fläche der Tubera ischii.
Noch auffälliger wird die Behinderung des Sitzens auf dem Erd¬
boden oder einer Tischplatte, weil hier der Oberschenkel nicht
gesenkt werden kann. Die Kranken sitzen sozusagen auf dem Kreuz¬
bein und die Erhebung des Oberkörpers gelingt trotz der deutlichen
kyphotischen Krümmung der Wirbelsäule nur unvollständig; der
Oberschenkel wird möglichst dicht auf die Unterlage aufgedrückt.
Bringt man den Kranken aus der sitzenden in die liegende Stellung,
so geschieht dies durch Umschlagen der Kyphose im Dorsolumbal¬
theile in lordotische Biegung; das Becken selbst bewegt sich nur
wenig und nimmt den Oberschenkel, dessen Flexion dadurch offen¬
kundig wird, mit. Das Knie muss gebeugt werden, um den Fuss
auf die Unterlage zu bringen. Beim Aufstehen vom Stuhle rückt
der Ischiaskranke zunächst möglichst weit nach dem vorderen
Rande des Stuhles und stellt dabei die Füsse, besonders den er¬
krankten, möglichst weit zurück; erst dann richtet er sich gerade
auf, ohne dabei viel an der Stellung des Oberkörpers zu ändern.
Die Besonderheiten des Aufstehens vom Erdboden hat bereits
Minor zur Differentialdiagnose zwischen Lumbago und Ischias
verwendet. Der gesunde Fuss wird durch starke Beugung des Knies
und Oberschenkels möglichst weit unter den durch die Hände in
Schwebe gehaltenen Oberkörper gebracht, dieser selbst möglichst
stark nach der gesunden Seite hinübergelehnt; der Fuss der er-
erkrankten Seite wird nach rückwärts gebracht und die Beugung
des Oberschenkels gegen den Rumpf nach Möglichkeit vermieden,
während die Flexion des Knies sehr stark ausfällt; nach Erlangung
des nöthigen Gleichgewichtes richtet sich der Kranke auf. Bückt
sich der Ischiaskranke, so wird das kranke Bein bei fixem Winkel
zwischen Oberschenkel und Becken umsomehr nach rückwärts
gestellt, als sich der auf dem gesunden, in Knie und Hüfte ent¬
sprechend gebeugten Beine ruhende Oberkörper nach abwärts senkt.
Am deutlichsten ist die Hemmung des Beckens bei geschlossenen
Füssen und durchgedrücktem Knie. Complicirter und nicht leicht
kurz wiederzugeben sind die im Stehen und Gehen sich all-
mälig ausbildenden Veränderungen; sie müssen im Originale nach¬
gelesen werden. Aus der Vollständigkeit und dem Grade der hier
nur angedeuteten Kennzeichen ergeben sich werthvolle Anhalts¬
punkte für eine den thatsächlichen Verhältnissen möglichst nahe¬
kommende Abschätzung der Erwerbsfähigkeit. R o s m a n i t.
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Ernannt: Manson in London und Bergmann in Berlin
zu auswärtigen Mitgliedern der Academie de medicine zu Paris.
*
V erliehen: Dem Sanilätsrath Dr. Max Breitung in
Coburg das Prädicat Professor.
*
Gestorben: Der Chefarzt des Ersten allgemeinen Beamten¬
vereines der österreichisch-ungarischen Monarchie, Dr. E. Buch he im
in W i e n. — Der ehemalige Professor der Chirurgie zu K o p e n-
hagen, Dr. Saxtorph.
*
In der am 20. März d. J. abgehaltenen Sitzung des n i e d e r-
üsterreichischen Landes-Sanitätsrathes gaben die
Mittheilungen des Regierungs-Vertreters über das im Monate Mäiz be¬
obachtete häufigere Auftreten von Typhus-Erkrankungen
356
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 15
in Wien dem Landes-Sanitätsrathe Gelegenheit zu einer eingehenden
Besprechung über die Ursachen und die Verbreitung dieser Infections-
krankheit. Die Zahl der Erkrankungen bewegte sich bis Mitte März
d. J. in normalen Grenzen und war sogar geringer als in der gleichen
Zeitperiode der Vorjahre. Ueber Anzeige der Direction des Allgemeinen
Krankenhauses von der häufigeren Aufnahme Typhuskranker in die
Anstalt wurden sofort von der Sanitätsbehörde und dem Wiener
Stadtphysieate die eingehendsten Erhebungen über die Zahl und die
Wohnung der Kranken, sowie über die Entstehungsursachen gepflogen
und dieselben auch auf das Gebiet der Hochquellenleitung und das
Pottschacher Schöpfwerk ausgedehnt. Die eingehenden Untersuchungen
durch die Hygieniker schliessen jeden Verdacht einer Verunreinigung
des Wiener Trinkwassers aus. Ebenso hat auch die Besichtigung des
Pottschacher Schöpfwerkes, welches übrigens seit Mitte Februar nicht
im Betriebe ist, nicht den geringsten Anhaltspunkt eines Verdachtes
der Verschlechterung oder Gefährdung der Hochquellenleitung ergeben.
Es kann daher das Trinkwasser mit Bestimmtheit als Krankheits¬
vermittler ausgeschlossen werden. Auch die bisherigen Untersuchungen
der Milch und anderer Nahrungsmittel lassen dieselben vorläufig als
Infectionsquellen ausschliessen. Die Krankheitsfälle vertheilen sich auf
das ganze Gebiet der Stadt Wien und kommen zum grössten Theile
in Häusern und Strassen vereinzelt vor. Es ist daher ein Grund zur
Befürchtung einer abnormen Verbreitung des Typhus in Wien nicht
vorhanden, doch werden die Nachforschungen nach den Ursachen der
Entstehung und Verbreitung fortgesetzt und besondere Aufmerksamkeit
den Typhuserkrankungen auf dem Lande und der Einfuhr von Lebens¬
mitteln aus verdächtigen Gegenden zugewendet. Aehnliche vorüber¬
gehende Steigerungen der Zahl der Typhuserkrankungen wurden wieder¬
holt, und zwar besonders 1883 und 1893 (December 143 Fälle) beob¬
achtet. Für die Krankenaufnahme ist vorläufig in den Spitälern
gesorgt, doch dürfte, da der Krankheitscharakter einen längeren Auf¬
enthalt in den Spitälern bedingt, eventuell die Gemeinde für die
Unterbringung dieser oder anderer sich häufender Fälle von Infections-
krankheiten herangezogen werden müssen. Im weiteren Verlaufe der
Sitzung wurden Gutachten über den Betrieb einer Privat-Heilanstalt
in einer Gemeinde Niederösterreichs und über die Erweiterung
einer ausserhalb Wiens in einer Kirche befindlichen Familiengruft
erstattet.
*
Vom 18. bis 21. April wird zu Wiesbaden unter dem
Vorsitze des Prof. Dr. R. v. Jak sch der XVII L Congress für
innere Me di ein tagen. Die Sitzungen finden im Weis sen
Saale des Curhauses statt. Das Bureau befindet sich neben
dem Eingänge des Curhauses. Als schon länger vorbereitete Verhand¬
lungsgegenstände, für welche Autoritäten ersten Ranges
die Referate übernommen haben und welche bedeu¬
tendes act u eiles Interesse haben, stehen auf dem Pro¬
gramme: Die Behandlung der Pneumonie (Referenten:
v. Koran yi [Budapest] und Pel [Amsterdam]); Die Endocar¬
ditis und ihre Beziehungen zu anderen Krankheiten
(Referent: Litten [Berlin]). Ausserdem haben folgende Herren Einzel¬
vorträge angemeldet: Neuss er (Wien): Zur Klinik des Maltafiebers
(mit Demonstration); Wenckebach (Utrecht): Ueber die physio¬
logische Erklärung verschiedener Herzpulsarhythmien; Türk (Wien):
Ueber die Hämamöba L ö w i t’s im Blute Leukämischer; M. Löwit
(Innsbruck): Weitere Beobachtungen über die Parasiten der Leukämie;
K. Grube (Neuenahr London) : 1. Ueber gichtische Erkrankungen
de3 Magens und Darmes, 2. Ueber ein dem Coma diabeticum analoges
künstlich hervorgerufenes Koma (Demonstration); M. Bresgen
(Wiesbaden): Die Reizung und Entzündung der Nasenschleimhaut in
ihrem Einflüsse auf die Athmung und das Herz; Schott (Nauheim):
Influenza und chronische Herzkrankheiten; Martin Mendelsohn
(Berlin): Ueber ein Herztonicum; Weintraud (Wiesbaden): Ueber
den Abbau des Nucleins im Stoffwechsel; Herrn. Hildebrandt
(Berlin): Ueber eine Synthese im Thierkörpsr; v. Noorden (Frank¬
furt a. M.) : Zur Arzneibehandlung des Diabetes mellitus; K o h n-
stamm (Königstein i. T.): Die abführenden Kleinhirnbahnen und
ihre klinische Bedeutung; Sonnenberger (Worms): Beiträge zur
Aetiologie der acuten Verdauungsstörung, insbesondere der Cholera
nostras des Säuglingsalters; Edgar Gans (Karlsbad): Die Gade-
sche Methode der quantitativen Harnstoffbestimmung; Schücking
(Pyrmont): Die physiologischen Wirkungen der Alkalisaccharate;
Lenne (Neuenahr): Die Eiweisszufuhr in der Diabetikerdiät; Aug.
Hoi imanu (Düsseldorf): Zur Pathologie der paroxysmalen Tachy-
cardie; Herrn. Vi erordt (Tübingen): Ueber Cyanose; Bettmann
Uleidelberg): Ueber eine besondere Form des chronischen Ikterus;
Gum p recht (Jena): Ein neuer Bestandtheil der normalen Spinal-
fliissigkeit ; Karl Born stein (Bad Landeck): Ueber die Mittel zur
Hebung des Ei weissbestandes im Organismus; A. Smith (Schloss Marbach):
1. Ueber einige neue Methoden zur Bestimmung der Herzgrenzen,
2. Ueber objective Veränderungen des Herzens unter dem Einflüsse
localer und allgemeiner Elektrisation. Zugleich ein Beitrag zur
Lösung der Frage: Beruht die Wirkung der Elektricität beim Menschen
auf Suggestion oder nicht? Boas (Berlin): Statistisch-klinische Studien
an 200 Fällen von intestinalen Carcinomen; A. Poehl (St. Peters¬
burg) : Die organtherapeutischen Mittel bei Autointoxicationen ; Emil
Kraus (Prag): Züchtung des Typhusbacillus aus dem Stuhle;
Wal ko (Prag): Ueber den therapeutischen Werth und die Wirkung
der Blutentziehung bei Urämie und Pneumonie; Queirolo (Pisa):
Die Magengrenzen und ihre Veränderungen, sowie ein neues Verfahren
(Queirolo-Landi), dieselben zu bestimmen; A. Strubeil
(Breslau) : Ueber eine neue Methode der Urin- und Blutuntersuchung;
W. 11 i s jr. und Theodor Paul: Verhalten und Reactionen der
Harnsäure und ihrer Salze in Lösungen; R. Behla (Luckau N. L.) :
Ueber Cancer ä deux; Friedei Pick (Prag): Eine eigenartige
Lähmungserscheinung bei Hysterie; Moritz (München): Eine ein¬
fache Methode, um beim Röntgen- Verfahren mit Hilfe der Schatten-
projectionen die wahre Grösse der Gegenstände zu ermitteln und die
exacte Bestimmung der Herzgrösse mittelst dieses Verfahrens (mit
Demonstration); Heinz (Erlangen): Experimentelle Untersuchungen
über Digitaliswirkung; Qu esse (Wiesbaden): Epilepsie und adenoide
Vegetationen; Ad. Bickel (Berlin): Ueber die krampferregende
Wirkung der Galle und der gallensauren Salze (mit Demonstrationen);
A g er on (Hamburg): Diagnostische und therapeutische Bemerkungen
zum chronischen Magengeschwüre; Stareka (Berka): Ueber Blut-
körperchenzählung; W e i s s (Basel): Die Erfolge der Urosinbehandlung
bei harnsaurer Diathese; Ernst Bendix (Berlin): Ueber Agglutina¬
tion der Tuberkelbacillen (Demonstration); Leo Schwarz (Prag):
Ueber Acetonausscheidung; Magnus-Levi (Berlin): Ueber den
B e n c e - J o n e s’schen Ei weisskörper ; Max Michaelis (Berlin):
Ueber Sauerstofftherapie; Müller (Leipzig): Zur Entstehung der
Lungenentzündungen; W o 1 f Becher (Berlin) und Rud. Len n-
h o ff (Berlin): Weitere Untersuchungen über die Beziehungen zwischen
Körperform und Lage der Nieren. Theilnehmer für einen
einzelnen Congress kann jeder Arzt werden. Die
Theilnehmerkarte kostet 15 Mark. Die Theilnehmer können sich an
Vorträgen, Demonstrationen und Discussionen betheiligen und erhalten
ein im Buchhandel circa 12 Mark kostendes Exemplar der Ve hand¬
langen gratis. Mit dem Congresse ist in einem Nebenraume des
Sitzungssaales eine Ausstellung von neueren ärztlichen
Apparaten, Instrumenten, Präparaten u. s. w., so weit
sie für die innere Medicin Interesse haben, verbunden.
Freie Stellen.
Stadtarztesstelle in Sangerberg bei Marienbad, Böhmen.
Der Gebalt beträgt jährlich 1200 K. Bewerber um diese Stelle müssen
Österreichische Staatsbürger, deutscher Nationalität, christlicher Religion und
Doctoren der gesammten Heilkunde sein. Der Antritt dieses Postens erfolgt
nach Uebereinkommen. Bewerber wollen ihre mit dem Heimatscheine,
dem Sittenzeugnisse, Doctordiplome, Taufscheine und dem von einem
k. k Bezirksarzte ausgestellten oder bestätigten Zeugnisse über die
physische Diensttauglichkeit und den allfälligen Verwendungszeugnissen
belegten Gesuche bis 15. April 1900 beim Bürgermeisteramte Sangerberg
einbringen.
D ist r ictsar zt esstell e in dem aus den Gemeinden Mildenau und
Raspenau bestehenden, 3920 Einwohner zählenden Sanitätsdistricte Raspenau,
politischer Bezirk Friedland. Böhmen. Mit diesem Dienstposten ist ein
Jahresgehalt von 800 K und ein jährliches Reisepauschale von 154 K 36 A
verbunden. Gesuche um die Verleihung dieser Districtsarztesstelle, deren
Besetzung > auf ein Jahr provisorisch und gegen eine vierteljährige
Kündigung erfolgt, sind unter Beibringung der im § 5 des Gesetzes vom
23. Februar 1888, L. G. Bl. Nr. 9, vorgeschriebenen Belege und der Nack¬
weisung der vollkommenen Kenntniss der deutschen Sprache in Wort und
Schrift bis 15 April 1900 beim Bezirksausschüsse in Friedland einzubringen.
Der Dienstantritt hat am 1. Juni d. J. zu erfolgen.
Gemeindearztesstelle für die Sanitätsgemeindengruppe Traut¬
mannsdorf, Sarasdorf und Stixneusiedl, mit dem Wolmsitzein Trautmanns¬
dorf, Nieder Österreich. Gemeindebezüge 900 K, eventuell 500 K
und freie Wohnung in einem eigenen Hause sammt Garten. Landes¬
subvention 800 Ä', ferner ein zu vereinbarendes Pauschale seitens der
Bezirkskrankencasse. Haltung einer Hausapotheke erforderlich. Der Ge¬
meindearzt ist verpflichtet, in Siixneusiedl dreimal und in Sarasdorf
zweimal wöchentlich zu ordiniren Bewerber um diese mit 1. Juni 1900 zu
besetzende Stelle wollen ihre mit dem Tauf-(Geburts-)scheine, dem
Heimatscheine, dem amtsärztlichen Gesundheits- und Tauglichkeitszeugnisse,
dem Siltenzeugnisse, sowie dem Diplome und etwaigen Verwendungs¬
zeugnissen belegten Gesuche bis längstens 20. April 1900 bei der k. k.
Bezirkshauptmannschaft Bruck an der Leitha einbringen. Persönliche Vor¬
stellung erwünscht.
Gemeindearztes stelle für die Sanitätsgruppe Gross-Ebersdorf,
Bezirk Korneuburg, Nieder Österreich. Bezüge: Von den Gemeinden ein
jährliches Fixum von 400 K und eine Subvention aus dem Landesfonde im
jährlichen Ausmasse von 700 K. Haltung einer Hausapotheke erforderlich.
Die Einrichtung für dieselbe kann von den Erben des verstorbenen Ge¬
meindearztes übernommen werden. Bewerber wollen ihre Gesuche ehestens
an die Gemeindevorstehung in Gross-Ebersdorf richten.
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
357
Verhandlungen
ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien. | Oesterreichische otologische Gesellschaft. Sitzung vom 29. Januar 1900.
Sitzung vom 6. April 1900. (Schluss.) .
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien. Sitzung vom 71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in München.
13. März 1900. Vom 17. — 22. September 1899. (Fortsetzung.)
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
Sitzung vom G. Apiil 1900.
Vorsitzender: Hofrath Chrobak.
Schriftführer : Prof. R. Paltauf.
Der Vorsitzende tlieilt den Tod zweier Mitglieder der k. k. Ge¬
sellschaft rpit, darunter eines der ältesten; es sind dies Herr Professor
J. Gruber und Herr Dr. Thausig; die Versammlung erhebt sich
zum Zeichen der Trauer.
Der Vorsitzende erinnert, dass aus den Stiftungen für arme,
unterstützungsbedürftige Mitglieder noch Gelder erübrigt sind und
ersucht um eventuelle confidentielle Mittheilungen.
Der Verein „Centralbibliothek“, welcher sich keiner Unter¬
stützung von Seite mancher Behörden erfreut, aber innerhalb kurzer
Zeit einen ganz enormen Aufschwung genommen hat (er hat in zwei
Jahren zwölf Bibliotheken eingerichtet), legt den Mitgliedern der
k. k. Gesellschaft der Aerzte seine Jahresberichte vor und ersucht
um Unterstützung und Förderung namentlich in Beziehung auf die
von ihm errichte medicinische Studienbibliothek (IX., Ilöfergasse) sei
es durch Spenden von Büchern, sei es durch solche von Geld.
Der österreichische Verein gegen Trunksucht richtete an die
k. k. Gesellschaft der Aerzte ein Schreiben, mit welchem es dieselbe
einladet, sich an den Organisationsarbeiten für den im Jahre 1901 in Wien
abzuhaltenden 8. internationalen Congress gegen den Alkoholismus
zu betheiligen und einen Delegirten in das in Bildung begriffene Or-
ganisationscomite zu entsenden. Der VerwaltuDgsrath wird entsprechend
den Statuten die Delegirtenwahl vornehmen.
Prof. Benedikt stellt einen Fall von Tabes vor, den er im
Jahre 1898 durch acht Monate vergebens mittelst Elektricität, Hydro¬
therapie, Points de feu und unblutige Dehnung behandelte.
Der Kranke litt an äusserst heftigen, fast continuirlich andau¬
ernden Schmerzanfällen, an ebenso intensiven und andauernden Larynx-
krisen und seine Gehfähigkeit war so herabgekommen, dass er nur mit
Hilfe zweier Stöcke gehen konnte und bald ermüdete.
Da jede Art von Respirationsbeschwerden und besonders Crises
laryngeennes für die blutige Dehnung sehr bedenklich sind, entschloss
sich Benedikt im December 1898 nur wegen der verzweifelten
Lage des Kranken zweizeitig zu operiren. Alle krankhaften Evsehei-
scheinungen Hessen bald nach. Die Algien und die Kehlkopfkrisen
wurden immer seltener, kürzer und schwächer und heute sind nur
mehr Mahnungen daron vorhanden. Die Gehfähigkeit besserte sich
so, dass def Kranke leicht ohne Stock und andauernd gehen kann
und sich- sein Brot als Hausirer verdient.
Dr. P. Karplus demonstrirt das anatomische Präparat eines
Falles, bei dem intra vitam die Diagnose auf ein rupturirtes
Aneurysma der Carotis interna an der Hirnbasis
gestellt und Heilung durch Unterbindung der Carotis
communis versucht worden war.
Die 69jährige Kranke war am 8. März 1900 während der
Mahlzeit mitten aus vollkommenem Wohlbefinden plötzlich erkrankt.
Sie empfand einen heftigen stechenden Schmerz, der vom linken Unter¬
kieferwinkel gegen den Scheitel hinaufzog; sie meinte, der Schlag
müsse sie getroffen haben und schrie vor Schmerz laut auf. Von
diesem Momente an hatte Patientin heftige Schmerzen in der linken
Kopfhälfte; zugleich mit den Schmerzen trat ein Rauschen im linken
Ohre auf, „wie wenn eine Säge hin und her fährt“. Zwei Tage später
begann eine leichte Ptosis links, die während der folgenden acht
Tage an Intensität zunahm; es trat ein eben merklicher Exophthalmus
links auf; der linke Bulbus wurde etwas druckempfindlich; hob Pa¬
tientin das herabgesunkene Oberlid mit der Hand in die Höhe, so sah
sie doppelt.
Die anhaltenden Schmerzen veranlassten die Kranke im Spitale
Hilfe zu suchen; sie wurde auf die Nervenklinik v. K r a f f t - E b i n g
aufgenommen.
Der Vortragende sah die Patientin zum ersten Male am 27. M är z
Früh und konnte folgenden Befund aufnehmen: Freies Sensorium,
Klage über heftige Kopfschmerzen links und Rauschen im linken Ohre
Arteriosklerose der tastbaren Gefässe. Hypertrophie des linken Herz
Ventrikels. Eine Spur Albumen im Harn. Die übrigen Störungen im
Bereich des Kopfes. Ptosis links, leichter Exophthalmus links, Parese
des linken Nervus abducens und der äusseren Aeste des linken N.
oculomotorius. Die anderen Hirnnerven normal. Beim Anlegen des Ohres
an den Kopf der Kranken hörte man ein lautes Geräusch; das¬
selbe war rhythmisch, mit dem Puls synchron, links viel deutlicher
zu hören als rechts. Am lautesten war es hinter der linken Ohr¬
muschel. Man hörte das Geräusch auch auf eine Distanz von mehreren
Centimetern vom Kopfe. Compression der linken Carotis
communis am Halse brachte das Geräusch zum Ver¬
schwinden und zugleich gab Patientin jedes Mal an, das Rauschen
nun nicht zu hören. Der linke Bulbus pulsirte nicht, Stauungs
erscheinungen waren weder im Augeninneren noch im äusseren Augen
abschnitte links vorhanden. Visus links Vi o» rechts °/i o-
Bei wiederholter Untersuchung der Kranken während der ersten
24 Stunden ihres Spitalaufenthaltes war stets derselbe Befund zu con-
statiren. Auch klagte sie beständig über starke Kopfschmerzen, gegen
welche Eisbeutel und Antineuralgica nur vorübergehend Erleichterung
brachten.
Der Vortragende stellte nun die Diagnose auf ein rupturirtes
Aneurysma der linken Carotis interna an der Hirn¬
basis. Aneurysmaruptur glaubte er wegen des so acuten Einsetzens
des Symptombildes annehmen zu müssen. Ob die Ruptur in den
Sinus cavernosus hinein erfolgt war oder nach dem Austritte der
Carotis aus dem Sinus, Hess sich nicht entscheiden. Die für den Sinus
cavernosus ganz charakteristischen Symptome fehlten, es war kein
Pulsiren des etwas prominenten Bulbus vorhanden, es waren keine
Stauungserscheinungen am Bulbus da; auch an der Augenklinik,
welche Patientin ursprünglich aufgesuclit hatte, und von welcher sie
in die Nervenambulanz gesendet wurde, hatte man das Fehlen von
Stauungssymptomen constatirt, und die Patientin, sowie deren intelligente
Umgebung berichteten, dass sie Pulsiren des Auges, sowie Röthung
und Schwellung desselben im ganzen bisherigen Verlaufe nicht wahr¬
genommen hätten. Bei der Annahme einer Ruptur des Carotis-
Aneurysmas nach Austritt aus dem Sinus war die Abdueensparese un¬
gewöhnlich; ferner konnte mau wegen des Fehlens allgemeiner cen¬
traler Erscheinungen trotz des plötzlichen Beginnes keine grosse
diffuse Blutung annehmen, sondern abgesackte Blutung oder vielleicht
nicht vollkommene Ruptur der Arterienwand. Aber daran, dass hier
nicht ein unversehrtes Aneurysma vorlag, daran, dass in dem Moment,
wo die Schmerzen und das Sausen unter einem heftigen Stiche ein¬
setzten, das Aneurysma rupturirt war, wurde festgehalten.
Auf Grund dieser Diagnose wurde der Kranken eine Operation
vorgeschlagen, sie willigte sofort ein. Prof. v. Mosetig hatte die
Güte, auf des Vortragenden Ersuchen sogleich — am 28. März,
Mittags — unter Localanästhesie die Unterbindung und
Durchschneidung der linken Carotis communis am
Halse vorzunehmen. Der Eingriff wurde zunächst gut vertragen. Die
Schmerzen waren mit einem Schlage verschwunden und kehrten nicht
wieder. Sausen — von der Patientin selbst wahrgenommen und vom
Arzte zu hören — trat wenige Minuten nach der Operation in geringer
Stärke wieder auf und verlor sich im Laufe des 29. März nach und
nach vollkommen. Der Exophthalmus war verschwunden, der Bulbus
nicht mehr empfindlich, die Ptosis und die Parese der anderen äusseren
Oculomotoriusäste gingen zurück, die Abdueensparese besserte sich am
wenigsten. Patientin war überglücklich, von den Schmerzen und dem
lästigen Rauschen befreit zu sein.
Am 30. März trat Herzschwäche ein, gegen die wir ver¬
gebens ankämpften. Dazu trat eine rechtsseitige Hemiplegie
mit Aphasie. Kräfteverfall, Lobulärpneumonie. Exitus letalis am
3. April 1900.
Die klinische Diagnose lautete: Aneurysma der linken
Carotis an der Gehirnbasis. Ruptur des Aneurysma.
Ligatur undDurchschnoidung der linken Carotis
358
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 15
communis mit nachfolgenderErweichungder linken
Gehirnhemisphäre. Arteriosklerose.
Die Section (Prof. Weichselbaum) bestätigte die Diagnose.
Das Präparat, welches der Vortragende nun zur Demonstration bringt,
zeigt an der linken Carotis im Sinus cavernosus ein sackförmiges,
flaches, etwa 1 cm langes Aneurysma, welches an der medialen Wand
eine 3 mm lange, von einem Thrombus verstopfte Rissstelle aufweist.
Der Circulus arteriosus Willisii war normal entwickelt, die basalen
Hirngefässe wenig arteriosklerotisch, nirgends thrombosirt. Die linke
Jlirnhemisphäre erweicht. Die Herzmusculatur war fettig degenerirt,
von Schwielen durchsetzt. In dieser schlechten Beschaffenheit der Herz¬
musculatur war auch wohl die wesentliche Ursache zu suchen für den
ungünstigen Ausgang. Doch glaubt der Vortragende, dass in einem
ähnlichen Falle wieder ein operativer Eingriff in Erwägung gezogen
werden müsste.
Dr. Kornfeld; Ich habe den G a e r t n e r’schen Versuch, in
welchem der Druck bestimmt wurde, unter dem Flüssigkeit durch die
Radialarterie iu die Leichenhand einströmte und zugleich der Tono¬
meterdruck gemessen wurde, welcher nöthig war, um das Ausfliessen
dieser Flüssigkeit aus dem Finger zu unterdrücken, wiederholt, und
zwar zunächst mit Wickershei m’scher Flüssigkeit. Dieser Versuch
ergab, dass bei Durchströmen des Fingers sofort ein Oedem auftrat;
schon vor Entstehung des Oedems zeigte sich ein Missverhältniss
zwischen dem mit dem Manometer gemessenen Radialisdruck und dem
Tonometerdruck, welches Missverhältniss sich in dem Masse steigerte,
als das Oedem zur Entwicklung gelangte. Ich habe dann, um das
Oedem zu vermeiden, die Versuche statt mit Wasser oder Wickers-
h e i m’scher Flüssigkeit mit einer Mischung von Oel und Petroleum
ausgeführt. Hiebei entstand kein Oedem, aber das Missverhältniss
zwischen dem Tonometerdruck und zwar demjenigen, der abgelesen
wurde, wenn das Durchströmen aufhörte, also die Digitalarterie eom-
primirt war, und dem Drucke, der in der Ulnararterie gemessen wurde,
während die Einflusscanule in die A. radialis eingebunden war, so dass
der Druck im Arcus volaris bestimmt wurde, war ein ganz auffallender.
Eine annähernde Uebereinstimmung fand sich aber zwischen dem
Druck, welcher im Arcus herrschte, und dem Tonometerdruck, wenn
das Ausfliessen wieder begann. Diese letzteren Versuche würden mit
Prof. G aertner’s Meinung übereinstimmen, aus den ersteren dagegen
geht hervor, dass von dem durch die Kautschukspannung erzeugten
Druck nur ein aliquoter Theil auf die Digitalarterie übertragen wird.
Da aber diese Versuche über die klinische Verwerthung nichts aus-
sagen, so müssen direct vergleichende Messungen am lebenden Finger
angestellt werden.
Ich habe 120 vergleichende Messungen dieser Art ausgeführt,
und zwar in der Weise, dass ich unter ganz gleichen Versuchsbedin¬
gungen mit dem Sphygmomanometer v. B a s c h’s den Druck in der
Radialarterie mass und gleichzeitig mit dem Tonometer von Gaertner
den Druck bestimmte, bei welchem deutliche Röthung eines bestimmten
Fingers eintrat.
Sämmtlicbe Versuche sind mit exact construirten und erprobten
Hg-Manometern ausgeführt worden. Nur in einer kleinen Zahl der
Fälle, und zwar im Ganzen 18, fand ich Uebereinstimmung der nach
beiden Methoden gefundenen Werthe und in einer noch geringeren
Zahl war der Tonometerdruck niedriger, als der mit dem Sphygmo¬
manometer gefundene. In der übrigen Zahl war der Tonometerdruck
der höhere. Das Ueberwiegen des Tonometerdruckes betrug zuweilen
nur 5 — 10%. in der Mehrzahl der Fälle 25 — 35%, doch in einzelnen
Fällen auch 60% und darüber.
Keineswegs liess sich eine Proportionalität zwischen den nach
beiden Methoden gefundenen Zahlen feststellen. Demselben Sphygmo¬
manometerdruck entsprachen sowohl bei demselben Individuum, als
auch bei verschiedenen Individuen verschiedene Tonometer drucke und
umgekehrt.
Während der Sphygmomanometerdruck unverändert blieb, konnten
durch Aenderungen der Geschwindigkeit der Lüftung des den Finger
comprimirenden Ringes verschiedene Druckwertlie mit dem Tonometer
gemessen werden. Ebenso war bei unverändertem Sphygmomanometer¬
druck der Tonometerdruck je nach Wahl der Hand oder des Fingers
verschieden. Eine weitere Reihe von Versuchen zeigte, dass durch
locale Einflüsse das Ergebniss der Tonometermessung an dem diesen
Einflüssen unterworfenen Finger in ganz bestimmter Weise beeinflusst
werden konnte, welche der allgemeinen Beeinflussung des Kreislaufes
durch die vorgenommene Procedur nicht entsprach. Hieraus geht hervor,
dass die mit dem Tonometer gewonnenen Zahlen die Resultante eines
ganzen Complexes von Bedingungen darstellen, unter denen nebst dem
Arteriondrucke die Art der Venenstauung und der Gewebsdruck eine
massgebende Rolle spielen dürften. Es ist aber aus der Angabe des
Tonometers selbst nicht möglich, zu entscheiden, welchen Antheil diese
verschiedenen Bedingungen an dem Gesammtresultate haben. Ja es ist
nicht einmal möglich, festzustellen, ob der Blutdruck, der ja eigentlich
gemessen werden soll, in dem gefundenen Gesammtresultate eine
dominirende Rolle spielt. (Näheres werde ich an anderer Stelle mit¬
theilen.)
Ob die tonometrische Methode, combinirt mit der sphygmomano-
metrischen, dadurch, dass man eine von den unbekannten Bedingungen,
d. i. den Blutdruck, genauer kennen lernt, Auskunft über die anderen
Bedingungen zu geben vermag, was ja klinisch nicht ohne Interesse
wäre, das müssen weitere Versuche lehren.
Discussion zum Vortrage Dr. K o r n f e 1 d’s :
Prof. Gaertner: Die Ausführungen des Herrn Redners zer¬
fallen in zwei Abschnitte. Der erste behandelt Leichenversuche nach
einer von mir erfundenen Methode. Es ergab sich dabei eine gute
Uebereinstimmung der Resultate, wenn das Experiment analog der
Messung am Lebenden ausgeführt wurde. Das spricht also entschieden
fürs Tonometer.
Schon in meiner ersten Publication (Wiener klinische Wochen¬
schrift vom 23. Juni 1899) habe ich auf verschiedene Fehlerquellen
dieser Versuche hingewiesen.
Demnächst werde ich über viel verlässlichere Vergleichs -
messungen berichten, die es gestatten, am lebenden Thiere die Angaben
des Tonometers mit den Angaben eines mit der Arterie direct ver¬
bundenen Quecksilbermanometers zu vergleichen. Das Tonometer lege
ich am rasirten Schwanz eines (weissen) Hundes an.
Die Ausführung der tonometrischen Messung unterliegt keiner
Schwierigkeit.
Diese Versuche ergaben nun eine ausgezeichnete Ueberein¬
stimmung zwischen den Tonometerzahlen und den in der A. cruralis
direct gemessenen.
In dem zweiten Theile seiner Ausführungen vergleicht Herr
Dr. Kornfeld die Angaben des Tonometers mit denen des Sphygmo¬
manometers v. B a s c h’s. Aus der ungenügenden Uebereinstimmung
schliesst er auf die Unvollkommenheit des Tonometers.
Gegen diese Art der Argumentation muss ich
entschieden Protest erheben. Das Sphygmomano¬
meter v. Base h’s ist sicherlich kein Normalinstru¬
ment, mit dem man andere Apparate aicht oder con¬
trol irt. Das sollte dem Herrn Vortragenden aus der Literatur be¬
kannt sein.
Für mich unterliegt es keinem Zweifel, dass die Differenzen
hauptsächlich dem Sphygmomanometer zur Last geschrieben werden
müssen.
Der Herr Vortragende hat übrigens vor kurzer Zeit in einer
Publication erwähnt, dass er seine sphygmomanometrischen Messungen
mit dem Tonometer controlirt: „Das gewonnene Resultat war nach
beiden Methoden das absolut gleiche.“
Zum Schlüsse erlaube ich mir, Herrn Prof. v. Basch gegen¬
über neuerdings meine Ueberzeugung von der völligen Unerspriesslich-
keit der von ihm und seinen Schülern am Tonometer geübten Kritik
hervorzuheben. Die Entscheidung darüber, ob sein oder mein Apparat
besser ist, wird sicherlich nur von Unbefangenen, Dritten gefällt
werden. Sie ist ja im Zuge, und ich habe allen Grund, mit dem bis¬
herigen Ausfall derselben zufrieden sein.
Prof. v. Basch erinnert daran, dass die exacte Prüfung des
Sphygmomanometers am Thierexperimente sehr leicht und sicher sei,
und dass dieselbe nicht nur von ihm, sondern auch von Z a d e k,
Rosen u. A. vorgenommen worden sei. Rosen hat die sphygmo-
manometrische Methode sogar für das Thier direct verwendet, wo ja
immer die directe manometrische Methode mit in Anwendung kommen
kann. Der Letzte, der die sphygmomanomefrische Methode experimentell
prüfte, war bekanntlich Prof. v. Ziemssen. Vor einigen Jahren
theilte er auf einer Naturforscherversammlung, die hier stattfand,
folgenden Versuch mit: Er hatte Gelegenheit, einen Mann auf die
Klinik zu bekommen, dessen Temporalis auf der einen Seite verletzt
war. Mit dieser Temporalis wurde ein Manometer verbunden und damit
der Druck gemessen, an der anderen unverletzten Temporalis wurde
der Druck mit dem Sphygmomanometer, den Prof. v. Ziemssen so
freundlich war, Baschometer zu nennen, bestimmt. Es ergaben sich
hiebei ganz übereinstimmende Werthe. Er hält es also für vollständig
überflüssig, auch nur ein Wort zur Vertheidigung der sphygmomano-
metrischen Methode beizubringen, wohl aber möchte er Herrn Professor
Gaertner, der so ängstlich dem Sphygmomanometer ausweicht, den
Rath geben, ein anderes Instrument zu vergleichenden Prüfungen zu
benützen, und zwar das Sphygmomanometer von Moss o* Das scheint
schon deshalb angezeigt, weil ja mit dem Moss o’schen Instrumente
der Druck ebenfalls an der Digitalis gemessen wird. Auf diese Weise
könnte er sich den Controlversuch mit dem Schweife des weissen
Hundes ersparen und da vergleichen, wo verglichen werden soll, am
Menschen.
Prof. Gaertner: Die freundlichen Rathschläge des Herrn
Prof. v. Basch lehne ich dankend ab. Das Sphygmomanometer von
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCIIENSCI IRIFT. 1900.
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M o 8 s o ist zur Ueberprüfung des Tonometers nicht geeignet, da seine
Angaben sich mit den absoluten Druckwerthen sicherlich nicht docken.
Das geben auch Autoren zu, die den Apparat verwendet haben.
Hierauf hält Dr. Theneii seinen Vortrag: Die Ursache des
Geburtseintrittes. (Erscheint demnächst ausführlich in dieser
Wochenschrift.)
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien.
Sitzung vom 13. März 1900.
Vorsitzender: Hofrath v. Krafft-Ebing.
Schriftführer: Dr. y. Sölder.
1. Privatdocent Dr. K a r 1 K u n n demonstrirt einen Tabiker mit
dissociirter Augenmuskellähmung. Patient leidet an
Paralyse des rechten Rectus medialis, fixirt aber mit dem rechten Auge.
Lässt man ihn stark nach rechts blicken, so bewegt sich' das linke
Auge bis ungefähr an die normale Grenze nach innen und macht dann,
während das rechte Auge ruhig im äusseren Lidwinkel stehen bleibt
von Zeit zu Zeit ruhig gleitende Bewegungen zurück in die Mittel¬
stellung oder ein wenig nach oben oder unten. Diese Bewegungen
eines Auges, unabhängig vom anderen, stellen somit einen Zerfall der
Association der Augenbewegungen dar. Diese Erscheinung konnte Vor¬
tragender bisher in sechs Fällen constatiren, welche alle an Tabes
litten. Die ausführliche Publication über dieses merkwürdige Phänomen
findet sich in: Beiträge zur Augenheilkunde, Heft 41.
Discussion: Dr. Kar plus bemerkt, dass man dieselbe
Erscheinung manchmal bei Krampfanfällen sehe, und zwar zuweilen
ganz so, wie im demonstrirten Falle. Karplus habe seinerzeit in
einer Publication diese dissociirten Augenbewegungen in Krampfanfällen
erwähnt; sie kommen bei epileptischen wie bei hysterischen Anfällen vor.
Dr. K u n n erwähnt, dass er als Erster einen classischen Fall
von Dissociation der Augenbewegungen bei Hysterie beschrieben habe,
dass es sich hierbei aber nicht um Lähmungen handle. Die scheinbare
Dissociation bei Augenmuskelkrämpfen rührt daher, dass die krampfenden
Muskeln sich eben in unregelmässiger Weise contrahiren und relaxiren,
wodurch auch uncoordinirte Bewegungen zu Stande kommen, die
aber mit dem von ihm demonstrirten Symptom der dissociirten
Lähm u n g keine Analogie habe.
Dr. Karplus erwidert, er wolle nicht behaupten, dass der
Mechanismus des Phänomens in beiden Fällen derselbe sei. Das klinische
Bild der dissociirten Augenbewegung aber könne in Krampfanfällen
ganz so sein wie in dem von Dr. Kunn demonstrirten Falle.
2. Dr. Elzholz demonstrirt eine Patientin mit der zwischen
Syringomyelie und amyotrophischer Lateralsklerose schwankenden
Diagnose.
Die 49jährige, hereditär nicht belastete, vor vier Jahren wegen
Uteruscarcinom radical operirte, von Recidiven oder nachweisbaren
Metastasen frei gebliebene Kranke fiel im October 1898 von Tisch¬
höhe rücklings auf die rechte Schulter auf, ohne das Bewusstsein ver¬
loren zu haben. Die in der Folge aufgetretenen intermittirenden Schmerzen
in der Schultergegend sind seit mehreren Monaten cessirt. Im April
1899 hatte sie einen Anfall von Bewusstlosigkeit mit klonischen
Zuckuugen im rechten Facialisgobiet und nachfolgender aphasischer
Sprachstörung von einer flüchtigen, kaum mehrere Stunden anhaltenden
Dauer. Im Mai stellte sich eine innerhalb 24 Stunden zur Entwicklung
gelangte Gebrauchsunfähigkeit des rechten Oberarmes ein, nachdem
schon mehrere Wochen zuvor Abstehen des rechten Schulterblattes von
der Umgebung bemerkt worden war. Innerhalb weniger Tage besserte
sich der Zustand im rechten Oberarme bis zur normalen Bewegungs¬
fähigkeit bei Fortdauer eines Schwächegefühles in demselben. Die Kranke
konnte wieder durch mehrere Wochen sich des Armes zum Frisiren
bedienen. Nach allmälig fortgeschrittener Verschlimmerung besteht seit
drei Monaten vollständiges Unvermögen, den rechten Oberarm zu ge¬
brauchen, bei Erhaltensein der Bewegungen in der rechten Hand und
in den Fingern in normalem Umfange. Letztere befähigen die Kranke
zu kleineren \ errichtungen und Hantirungen, wenn sie die im Ellbogen
gebeugte Extremität in einer Schlinge trägt. Eine Abnahme der Be¬
wegungsfähigkeit und der Kraft in den anderen Extremitäten machte
sich der Patientin nicht wahrnehmbar.
Die Intelligenz der anämischen, schlecht genährten Kranken ist
nachweislich nicht gestört. Pupillen lichtstarr bei erhaltener accommo-
dativer und Convergenzreaetion. Seitens der Gehirnnerven bis auf einen
leicht auslösbaren Masseterenreflex sonst nichts Bemerkenswerthes.
Der Oberarm kann wegen totaler Lähmung des Deltoideus nicht ge¬
hoben, wegen Functionsschwäche des Peetoralis major, des Latissimus
dorsi und Teres major nur mit geringer Kraft adducirf, wegen aus¬
geprägter Parese der Subscapularis nur sehr schwächlich einwärts ge¬
rollt und wegen Parese des Infraspinatus und Teres minor nur mit
leicht zu überwindender Kraft nach auswärts gerollt werden. Die Beu¬
gung des Oberarmes im Ellbogengelenk ist wegen totaler Lähmung
des Brachialis internus, des Biceps und des Supinator longus unmöglich.
Der in pronirter Stellung herabhängende Vorderarm kann wegen
Lähmung des Supinator brevis nicht supinirt werden. Die Extensoren
des Vorderarmes, sowie die die Bewegungen der Hand und der Finger
besorgenden Muskeln nur in ihren groben motorischen Kraft gegenüber
der linken Seite etwas herabgesetzt. Die Parese des Musculus serratus
anticus major ist aus dem flügelförmigen Abstehen der Scapula deut¬
lich erkennbar. Die Motilität der anderen Extremitäten intact.
Die von der Lähmung am stärksten betroffenen Muskeln sind
stark atrophisch, am stärksten der Deltoideus, etwas weniger der Biceps,
Brachialis internus, Supinator longus, ferner in geringerem Masse der
rechte Peetoralis major, Latissimus dorsi. Der noch erhaltene Rest des
Biceps, Brachialis internus fühlte sich weich und teigig an, offenbar
in Folge Ersatzes eines Theiles der Muskelsubstanz durch Fett. Links
ist der Petoralis major vielleicht auch schon etwas atrophisch. In den
stark atrophischen Muskeln fibrilläre Zuckungen. Der Deltoideus,
Brachialis interims, Biceps, Supinator longus, und Serratus anticus major
zeigen Entartungsreaction, Einzelne der anderen functionsschwachen
Muskeln herabgesetzte elektrische Erregbarkeit. Der Bicepsreflex rechts,
sowie die tiefen Reflexe vom Vorderarm fehlen. Der Tricepsreflex leb¬
haft. Dia Sehnenreflexe der linken Seite lebhaft. Der Patellar- und
Achillessehnenreflex rechts gegenüber links deutlich gesteigert. Kigores
in der Musculatur, Versteifungen in den Gelenken bei passiven Be¬
wegungen bestehen nicht.
Die Sensibilität ist überall intact, insbesondere nirgends disso¬
ciate Empfindungslähmung. Wirbelsäule weder spontan schmerzhaft
noch druckempfindlich; keine Deformität derselben, keine Skoliose.
Blasen- und Mastdarmfunction intact.
Was zunächst den Sitz der dem obigen Befunde zu Grunde
liegenden Affection betrifft, so ist eine primäre und nur auf diese
beschränkte Erkrankung der Muskeln, ferner ein Neuritis der peripheren
Nervenstämme auszuschliessen, letztere schon wegen des ungleichartigen
Verhaltens von Muskeln, die von gleichen Nervenstämmen versorgt
werden. An eine combinirte Plexuslähmung im Sinne E r b’s, bei der
die Combination gelähmter und atrophischer Muskeln die gleiche ist,
wie die Combination der von der Lähmung am stärksten betroffenen
Muskeln in unserem Falle, ist kein Grund zu denken, weil neben Fehlen
von Sensibilitätsstörungen, von Druckempfindlichkeit des Plexus brachi¬
alis das Mitbetroffensein einer Anzahl von bei der E r b’schen Lähmung
nicht afficirteu Muskeln, wenn auch in geringerem Grade dagegen
spricht. Das vorliegende Symptom einer Seitenstrangaffeetion, und zwar
rechts in Form des gesteigerten Patellar- und Achillessehnenreflexes auf
einer Seite, auf welcher sich auch die Muskelaffection befindet, unter¬
stützt diese Ansschliessung. Die annäherungsweise gleiche Auswahl
atrophischer und gelähmter Muskeln hat Rem a k als Oberarmtypus der
Poliomyelitis acuta bei Erwachsenen unterschieden. Der Sitz der Rücken¬
marksläsion wurde für diese Affection in die Höhe der vierten und
fünften Cer vicalwurzel verlegt. Den gleichen Sitz dürfte die Affection
in uuserem Falle haben. Was die Natur der Affection betrifft, so
kommen Syringgomyelie und amyotrophische Lateralsklerose differential¬
diagnostisch in Betracht, Syringomyelie, da wir gegenwärtig wissen,
dass diese in Beginn und auch später noch lange Zeit mit vorwiegend
oder ausschliesslich motorischen Symptomen bei Fehlen von Sensibilitäts-
defecten einhergehen kann. Die Vertheilung der atrophischen Muskeln
in unserem Falle stimmt mit Remak's ähnlichen Fällen von Syringo¬
myelie (mit Oberarmtypus) überein, und fügt sich auch in den von
Schlesinger genauer beschriebenen humero-scapularen Typus der
Syringomyelie ein, bei dem den Muskelatropbien um Jahre voraus¬
eilende sensible Störungen Vorkommen können. Was nun die amyo¬
trophische Lateralsklerose betrifft, so würde das Beschränktbleiben der
Störungen auf die motorische Sphäre eher für letztere sprechen. Die
vorwiegende Localisation der Atrophie und der Lähmungen im Bereich
der Schulter und des Oberarmes bei relativem Intactbleiben der kleinen
Muskeln der Hand, der Streck- und Beugemuskel des Vorderarmes
Hesse allerdings den Fall einem selteneren, aber immerhin' bekannten
Typus dieses Leidens zuzählen. Auch hinsichtlich des auffallend langen
Verschontbleibens der linken oberen Extremität von Atrophie und Parese
(seit April 1899) bei der Kranken sind analoge Fälle in der Literatur
verzeichnet; so z. B. ein Fall S t r ü m p e 1 l’s, ein Fall G o w e r’s. Die
rasch einsetzende Lähmung des rechten Oberarmes, f nachdem eine
Atrophie der Muskeln des Schultergürtels vorausgegangen (von der
Umgebung früher bemerktes Abstehen der rechten Scapula) kann
ebensogut auf Syringomyelie, wie auf amyotrophische Lateralsklerose,
wenn auch als seltenes Ereigniss bei letzterer bezogen werden. Der
Beginn mit Schmerzen und namentlich die Remission nach der anfalls¬
weise aufgetretenen Lähmung des Oberarmes spricht zu Gunsten einer
Syringomyelie. Eine sichere Entscheidung bezüglich der Diagnose ist
jedoch derzeit nicht möglich. Die reflectorische Pupillenstarre, gleich-
giltig, ob sie ein Initialsymptom einer progressiven Paralyse darstellt,
wofür nach den anamnestischen Daten ein begründeter Verdacht hier
360
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 15
vorliegt, oder selbstständig besteht, kann als unterstützendes Moment
für die Diagnose nicht verwerthet werden. Es sind Syringomyelien,
aber auch Fälle amyotrophischer Lateralsklerose und progressiver
Muskelatrophie, combinirt mit progressiver Paralyse bekannt. Aber auch
ohne Combination mit Paralyse oder Tabes ist Pupillenstarre bei Syringo¬
myelie verzeichnet; dass sie bei amyotrophischer Lateralsklerose Vor¬
kommen könne, hat letzthin Schlesinger hier mitgetheilt.
3. Df. E. Kaimann demonstrirt mikroskopische Präparate
eines Falles von Polioencephalitis superior acula hämorrhagica.
Es handelto sich um einen 45jährigen Alkoholiker (Schnaps¬
säufer), der mit Ausnahme eines Deliriums vor 18 Jahren nie krank
gewesen ; der Mann ging sogar bis zum Tage vor der Einbringung
anstandslos seinem Berufe nach. Jetzt war neuerlich ein Delirium aleo-
holicum ausgebrochen ; ausserdem fiel uns eine Orientirungsstörung auf,
welche der ganz leichten deliriösen Verwirrtheit nicht entsprach. Die
körperliche Untersuchung ergab bei dem kräftigen Patienten die Zeichen
des chronischen Alkoholismus, deutlich das ß o m b e r g’sche Symptom,
endlich einen geringen Strabismus convergens als Folge einer beider¬
seitigen Abducens p a r e s e ; bei seitlicher Blickrichtung traten nystak¬
tische Zuckungen auf. Die Pupillen, anfangs eng, auf Licht nicht
roagirend, wurden später different und vollkommen starr. Sonst be¬
standen keinerlei Störungen. Der Krankheitsprocess dauerte nur kurze
Zeit; das Delirium nahm einen asthenischen Charakter an, die anfangs
normale Körpertemperatur sank unter die Norm; am neunten Krank¬
heitstage war der Patient moribund und unter allmäligem Erlöschen
der Reflexe erfolgte ohne besondere Erscheinungen Tags darauf im
tiefsten Koma der Exitus letalis.
Die Obduction lieferte ein recht negatives Ergebniss luid keine
Aufklärung über die unmittelbare Todesursache. Sehr ausgeprägte Ver¬
änderungen ergab indess die mikroskopische Untersuchung des Hirn¬
stammes, von dem eine geschlossene Schnittserie angefertigt wurde.
Wir sehen einen Krankheitsprocess, der sich strenge auf den grauen
Boden des vierten Ventrikels, des Aquaeductus Sylvii beschränkt, und
im hinterstsn Drittel der dritten Hirnkammer abklingt; alle anderen
grauen Massen, die Rinde des Gross- und Kleinhirns sind völlig ver¬
schont. In diesem streng abgegrenzten Gebiete finden wir eine ausser¬
ordentliche Hyperämie, die Gewebselemente dicht durchsetzt von einer
grossen Anzahl erweiterter und geschlängelter Gefässe, die mit Blut¬
körperchen strotzend angepfropft sind. Die Scene wird aber beherrscht
durch zahlreiche Hämorrhagien, die in wechselnder Form und oft be¬
trächtlicher Ausdehnung die perivasculären Räume erfüllen und frei im
Gewebe sich ausbreiten. Eine Rundzelleninfiltration, eine Kernvermehrung
ist nicht erweislich, auch scheinen die Zellen wenig gelitten zu haben,
was vielleicht die Geringfügigkeit der intra vitam bestandenen Aus¬
fallssymptome zu erklären vermöchte.
Da mancherlei Zeichen fehlen, die wir sonst für Entzündungs-
processe verlangen, so mag es fraglich sein, ob man das Recht hat,
in unserem Falle von Polioencephalitis zu sprechen. Indess lassen sich
in der Literatur, worauf Vortragender erst kürzlich hinwies, von dem
völlig negativen pathologisch-histologischen Befunde bei diaguosticir-
barem klinischem Bilde alle Uebergänge auffinden bis zum voll aus¬
geprägten Entzündungsprocosse; als einen solchen Uebergangsfall, der
von der Polioencephalitis nicht scharf abzugrenzen, wäre auch der eben
vorgestellte zu betrachten. Ohne für heute naheliegende Schlussfolge¬
rungen zu ziehen, betont der Vortragende schliesslich nochmals das
Missverhältnis zwischen dem Ernste des eben mitgetheilten Falles, dem
deutlich markirten pathologisch-histologischen Befunde und der Gering¬
fügigkeit der klinisch nachweisbaren Localzeichen. (Der Casus wird
gelegentlich einer allgemeineren, an anderer Stelle zu veröffentlichenden
Arbeit Verwendung finden.)
4. Cand. med. Erwin Stransky und Dr. Ten C a t e
halten einen Vortrag übor die c o r r e 1 a t i v e E m p f i n d 1 i c h k e i ts-
schwank ung. Als solche wird von ihnen die Erscheinung be¬
zeichnet, dass Anästhesirung, beziehungsweise Hypästhesirung einer
Hautstelle Hyperästhesie in anderen noch näher zu bezeichnenden Ilaut-
gebieten hervorruft, oder, wie sich die Vortragenden ausdrücken, sich
auf letztere projiciren lässt. Eine ähnliche Beobachtung wurde
schon ^ früher von R u m p f, Friedmann und Rosenthal ge¬
macht, aber diese Autoren suchten einen Zusammenhang der Erscheinung
mit dem Transfert zu constatiren, als dessen physiologisches Correlat
sie ihnen "^erschien. Diese Annahme musste um so näher liegen, als die
genannten Autoren die Empfindlichkeitssteigerung nur an dem zur
hypästhesirten Stelle symmetrisch gelegenen Hautfleck beobachteten.
Doch war es den Vortragenden a limine zweifelhaft, ob eine Homo-
logisirung beider Erscheinungen gerechtfertigt sei, denn beim Transfert
wird durch psychische Mittel, die in keinem Verhältnisse zur erzeugten
Wirkung stehen, Anästhesie in normale Empfindlichkeit übergeleitet
und umgekehrt; sind zwar auch hier mannigfache Varianten möglich —
Möbius hat in seinem seinerzeitigen Referat über den Gegenstand
eine grosse Reihe derselben zusammengestellt — so handelt es sich
doch nirgends darum, dass Hypästhesirung eines llautgebietes durch
organische Anästhetica (Cocain, Aethylchlorid, Eis) in anderen um
schriebenen und keinerlei corticalen oder — nach Wernicke’s Aus¬
druck — transcorticalen Innervationstypus aufweisenden Hautbezirken
eine correlative Hyperästhesie hervorruft. Andererseits hat Volkmann
schon vor langer Zeit gezeigt, dass durch Einübung erzeugte Steigerung
der Tastschärfe eines Hautgebietes, z. B. einer Fingerkuppe, mit der
gleichen Erscheinung auf der symmetrischen Stelle der Gegenseite ver¬
gesellschaftet sei. Und v. Frankl-Hochwart fand bei einer Reihe
von hysterischen Anästhesien eine Herabsetzung der Empfindlichkeit
auch auf der anderen Körperseite. Diese letzteren Wahrnehmungen
sind aus der beiderseitigen corticalen Innervation zu erklären, welche
Sensibilität und Motilität in gleicher Weise betrifft. Gilt dasselbe aber
auch für die correlative Empfindlichkeitsschwankung? Ist der Ort, wo
dieselbe ausgelöst wird, gleichfalls in corticalen oder transcorticalen
Regionen zu suchen?
Die Vortragenden haben, um die Entscheidung dieser physiolo¬
gisch und klinisch nicht uninteressanten Frage anzubahnen, in dem
unter der Leitung v. Frankl-IIochwar t’s* stehenden Nerven-
ambulatorium der Klinik Nothnagel sowie auf dieser Klinik selber
an über 50 Personen mehr als 300 Versuche ausgeführt. Es wurden
mittelst der oben genannten Anästhetica kleine Fleckchen Haut hyp-
ästhesirt und nun andere Hautgebiete derselben und der heteronymen
Seite, deren Schwellenwerth vorher bestimmt worden war — in Betracht
kam, der grösseren Objectivität halber, vorzüglich die tactile Empfind¬
lichkeit — gleichfalls fleckchenweise auf Empfindlichkeitssteigerung hin
untersucht. Benützt wurde ein von Stransky schon in einer früheren
Arbeit verwendetes und von Dr. T e n C a t e zweckmässig verbessertes
Aesthesiometer, welches sich von dem von v. Frey im Jahre 1896
angegebenen Haarästhesiometer nicht wesentlich unterscheidet. Die
v. Fre y’sche Methode gestattet ja überhaupt einen hohen Grad von
Objectivität der Untersuchung. Diese letztere geschah natürlich unter
einer ganzen Reihe von Cautelen, die hier nicht näher erörtert
werden sollen.
Als Endresultat ergab sich, dass die correlative Empfindlichkeits¬
schwankung Hautgebiete betrifft, welche mit der hypästhesirten Stelle
im Verhältnisse der Gemeinschaft oder nahen Nachbarschaft bezüglich
der zugehörigen Rückenmarkssegmeute stehen. Als Segmente sind hier
nicht so sehr die radiculären Zonen, wie sie vorwiegend Kocher
aufstellte, anzusehen, weil ja Wurzel und Segment sich nicht decken
(Mott, Sherrington, Head), als die mehr spinalen Zonen. Als
Paradigmata dienten vorwiegend die W i c h m a n n’schen Tafeln. Eine
Uebereinstimmung mit dem Vertheilungstypus der peripheren Nerven
ergab sich ebensowenig wie eine Beziehung zur Symmetrie, soweit sich
dieselbe nicht mit den Segmentbezirken deckte. Homonyme und hetero-
nyme Körperseite verhielten sich gleich.
Da vorwiegend die Tastempfindlichkeit geprüft wurde, so wäre
somit auch für diese eine segmentale Vertretung im Rückenmarke zu
denken, gleichwie für Schmerz- und Temperaturempfindlichkeit. Eine
theilweise Vertretung derselben im centralen Rückenmarksgrau gibt
selbst Bickel zu, auch Obersteiner spricht davon. E dinger
hält sogar dafür, dass es nur die Bahnen für Muskel- und statischen
Sinn seien, die, ohne das centrale Rückenmarksgrau zu passiren, zum
Gehirn emporsteigen; für die Tastbahnen wäre somit ebenfalls eine
Beziehung zum Segment anzunehmen. Als nähere Localität wäre mit
Schlesinger das Vorderhorn zu bezeichnen.
Die Vortragenden haben auch eine Reihe pathologischer Fälle
mit Defecten der Sensibilität untersucht. Bringt man diese Fälle dem
Sitze der Erkrankung nach in Gruppen, so zeigte sich Folgendes : In
zwei Fällen von Myelitis und zwei Fällen von Syringomyelie war in
den Bereich der hypästhetischen Hautsegmente eine Schwankung eben¬
so wenig zu projiciren wie von demselben weg. Von diesen Fällen
unterschied sich ein Fall von isolirter Neuritis des N. ulnaris an der
linken Hand dadurch, dass die Projection auf das, beziehungsweise
von dem hypästhetischen Hautgebiet unmöglich war, jedoch bezüglich
der an die hypästhetische Zone angrenzende Haut, welche wohl dem¬
selben Rückenmarksegmente, nicht aber demselben Nerven angehört,
sich normal verhielt. Ein ganz ähnliches Bild boten fünf Fälle von
peripherischer Facialislähmung mit der zuerst von v. Frank 1-
Hochwart, später auch von anderen Autoren, jüngst wieder erst
von Biehl beschriebenen und auch von den Vortragenden beobach¬
teten Sensibilitätsherabsetzung auf der paretischen Gesichtseite. Ein
Fall von Meningitis cerebralis luetica mit Hypästhesie des linken
Beines zeigte Projectionsmöglichkeit nach beiden Richtungen hin. Im
Gegensätze hiezu konnte in drei Fällen von hysterischer Ilalbseiten-
hvpästliesie zwar von der hypästhetischen auf die normal empfindende,
nicht aber in umgekehrter Richtung correlative Hyperästhesie projicirt
werden. Das spricht gleichfalls dafür, dass der Auslösungsort der
Schwankung im Rückenmark sich befindet. Hier ist es auch am Platze,
daran zu erinnern, dass von L a e h r auf klinischem, von Korniloff
auf experimentellem Wege gezeigt wurde, dass myelogenhypästhetische,
beziehungsweise anästhetische Gebiete sich nach oben mit einer hyper-
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
361
ästhetischen Zone abgrenzen, was übrigens schon Brown-Scquard
hervorhob.
Eine Schematisirung dieser Befunde wäre sicherlich verfrüht.
Nur das Verhalten in Fällen mit „functioneller“ Sensibilitätsstörung
könnte vielleicht schon jetzt als differentialdiagnostisches Moment gegen¬
über simulirten Defecten benützt werden.
Nähere Erörterungen, sowie detaillirte Mittheilungen und Zahlen¬
angaben über die angestellten Versuche folgen bald in einer ausführ¬
lichen Publication ; dieselben mussten aus äusseren Gründen leider
schon jetzt zu einem vorläufigen Abschlüsse gebracht, sollen aber
demnächst wieder aufgenommen werden.
Discussion: Prof. Ober st ein er: Diese interessanten Ver¬
suche sind geeignet, die Selbstständigkeit des Rückenmarksegmentes
viel besser hervortreten zu lassen, als es die Anatomie bei der Un¬
sicherheit unserer Kenntnisse über den Verlauf der Sensibilitätsbahnen
bisher vermocht hat. Wie es diese Versuche für das sensible Gebiet
erweisen, so scheint auch auf trophischem und vasomotorischen Gebiete
eine gewisse Selbstständigkeit des Segmentes zu herrschen; so soll
durch das Kriechen einer Raupe über den Arm ein Erythem an der
symmetrischen Stelle auftreten können.
5. Dr. Pilcz hält seinen Vortrag: Zur Aetiologie und
pathologischen Anatomie des periodischen Irre¬
seins.
In der Aetiologie des periodischen Irreseins kennt man die an¬
geborene, erblich übertragbare und die erworbene Veranlagung. Die Here¬
dität findet sich gerade bei den periodischen Psychosen häufig als
gleichartige, derart, dass die eigenartige Disposition in der Ascendenz
und der Descendenz ihren Ausdruck in derselben Form der psychischen
Störung findet. Von erworbenen Schädlichkeiten, welche periodisches
Irresein nach sich ziehen, sind Schädeltraumen seit Langem bekannt.
Es gibt nun eine andere Art erworbener Schädlichkeiten, welche
auch periodisches Irresein zur Folge haben kann, nämlich organische
cerebrale Processe, cerebrale Herde, Hirnnarben.
In der Literatur existiren acht Sectionsberiehte mit negativem
Obductionsbefunde; neun mit positivem Ergebnisse der Nekropsie (alle
Erweichungen, Sklerosen etc.), zu denen weitere zwei Fälle aus dem
Materiale der Klinik v. Wagner kommen; ausserdem verfügt Pilcz
über drei persönliche Beobachtungen, bei welchen zwar noch kein Ob-
ductionsbefund vorliegt, schon in vivo aber die Diagnose eines cere¬
bralen Herdes mit voller Sicherheit gestellt werden konnte (Apoplexie
mit nachfolgender Hemiparese), desgleichen drei analoge Fälle aus der
Literatur; im Ganzen also 17 Fälle periodischer Psychosen mit posi¬
tivem, pathologisch-anatomischem Befund.
Das Klinische der Fälle anlangend, wird bei 50° o jener ohne
Sectionsergebniss das Intactbleiben der Intelligenz ausdrücklich notirt,
bei 88°/o der Kranken mit positivem Befunde ausdrücklich der Aus¬
gang in mehr minder hochgradige Demenz angegeben. (Bei den übrigen
Fällen liegen keine genaueren Berichte über diesen speciellen
Punkt vor.)
Dass unter den periodisch Geisteskranken, deren pathologische
Anatomie durch die Obduction oder durch das klinische Bild klar¬
gestellt ist, 88% in Demenz verfallen, ist umso bemerkenswerther, als
gerade der Intellect bei dem periodischen Irresein im Allgemeinen nicht
geschädigt zu werden pflegt. Bei jenen Fällen, welche eine geistige
Abschwächung im Verlaufe der periodischen Psychose erleiden, dürfte
nach dem vorliegenden Materiale ein cerebraler organischer Process,
eine „Hirnnarbe“, zu Grunde liegen.
Die Ansicht, dass gewisse Fälle periodischen Irreseins ihre
Aetiologie in einer durch einen cerebralen Herd bewirkten erworbenen
Anlage haben, wird aber gestützt durch andere bekannte Thatsachen
der klinischen Psychiatrie, welche nunmehr in ein neues Licht
rücken.
In der manischen Phase des circulären Irreseins wurden vielfach
sogenannte „liirncongestive“ Zustände beschrieben, Sprachstörung,
epileptische Anfälle, vorübergehende Hemiparesen etc.
Pilcz möchte in dergleichen Zuständen nur Nachschübe jener
cerebralen pathologischen Vorgänge erblicken, welche die Psychose
selbst möglicher Weise bewirkten, Läsionen, welche einmal durch eine
neuerliche Localisation klinisch manifest wurden, während sie vorher,
in einer indifferenten Gehirnregion, z. B. im Stirnlappen sitzend, keine
anderweitigen Erscheinungen hervorgerufen hatten, als eben die periodi¬
sche Geistesstörung.
Im Einklänge mit der Anschauung Pilcz’ steht auch der Um¬
stand, dass in der Vorgeschichte periodisch Geisteskranker so häufig
die Rede ist von Zuständen, welche gleichfalls auf ein cerebrales
Leiden hinweisen (Fraisen, „Gehirnhautentzündung“ etc.).
Zum Schlüsse erwähnt Pilcz die mannigfachen Beziehungen
und Analogien zwischen periodischem Irresein und der Epilepsie. (Die¬
selbe Aetiologie, nämlich Heredität, Schädeltrauma, Hirnnarben, reflec-
torisch wirkende Veränderungen peripherer Organe, dann Gleichartig¬
keit der Prodrome und der Anfälle selbst, Combination von Epilepsie
und einer periodischen Psychose, das circulare epileptische Irresein [Samt
v. Krafft-Ebing], die periodischen, kurzdauernden, deliranten
Verworrenheitszustände, welche sich klinisch überhaupt nicht von der
psychischen Epilepsie trennen lassen.)
(Ausführliche Mittheilung erfolgt demnächst in der „Monatsschrift
für Psychiatrie und Neurologie“ von W e r n i c k e- Ziehen).
Discussion: Hofrath v. Krafft-Ebing: Die Analogien
zwischen periodischer Geistesstörung und Epilepsie verdienen gewiss
weiter in Betracht gezogen zu werden. Besonders wäre darauf zu
achten, ob nicht hinter den periodischen Psychosen etwas Epileptisches
zu finden ist. Es hat ja Autoren gegeben, die erstere geradezu in die
Epilepsie einbezogen haben. Hiezu wäre noch zu erwähnen, dass cs
bei Epilepsie periodische Manien und Melancholien mit ganz kurz
dauernden Anfällen gibt, die sich bei klarem Bewusstsein abspielen,
so dass man zunächst gar nicht auf deren epileptische Bedeutung ver¬
fallen würde.
Prof. v. Wagner bemerkt bezüglich der beiden von ihm be¬
obachteten und von Dr. P i 1 c z in seinem Vortrage verwertheten Fälle
von periodischer Geistesstörung mit Obductionsbefund, dass bei den¬
selben nicht an Epilepsie zu denken war, da absolut nichts Anderes
als eine periodische Psychose vorlag. Der eine war ein typischer Fall
von periodischer Manie, deren Verlauf durch Jahre beobachtet werden
konnte; im zweiten Falle handelte es sich um circulare Geistes¬
störung.
Dr. Pilcz beantwortet eine Anfrage dahin, dass manche trau¬
matische Fälle von periodischer Geistesstörung ausser dem Uebergange
in Blödsinn noch gewisse andere klinische Unterscheidungsmerkmale
zeigen, auf deren Besprechung wegen vorgerückter Stunde nicht ein¬
gegangen werden konnte.
Oesterreichische otologische Gesellschaft.
Officielles Protokoll der Sitzung vom 29. Januar 1900.
(Schluss.)
Vorsitzender: Prof. Politzer.
Schriftführer: Dr. Hugo Frey.
7 . Dr. Hammer schlag: Ein Fall von plötzlicher,
totaler, beiderseitiger Ertaubung mit Schwindel
und Erbrechen im Gefolge einer fieberhaften
acuten Erkrankung.
E p i k r i s e. Wir haben es hier mit einem Falle von plötzlicher
und im Gefolge einer acuten fieberhaften Infectionskrankheit aufge¬
tretener Ertaubung unter M e n i e r e’schen Symptomen zu thun.
Hysterie lässt sich bei der Patientin mit voller Sicherheit ausschliessen,
ebensowohl eine beiderseitige wirkliche Meniere’sche Erkrankung
also eine beiderseitige apoplektiform durch Hämorrhagie ins Labyrinth
hervorgerufene Ertaubung. Am plausibelsten erscheint die Ansicht
Prof. v. Frank l’s, der auch ich mich anschliessen möchte, der die
Ertaubung auf eine Otitis interna labyrinthica (V o 1 1 o 1 i n i) zurück¬
führt und die ganze Erkrankung der Patientin als eine abortive Form
der Meningitis cerebrospinalis epidemica deutet. Diese abortive Form
manifestirt sich nach II a u g durch meist nur mässiges, kurz dauerndes
Fieber in der Dauer von 3 — 4 Tagen mit leichten Reizerscheinungen
von Seiten des Gehirns, leichtem Brechreiz oder wirklichem Erbrechen.
Die Bogengangsymptome, die Ataxie, der Schwindel und die Brech¬
neigung gehen im Laufe der Zeit wieder zurück, während die Taub¬
heit meist in vollem Umfange bestehen bleibt.
Discussion: Poliak vermuthet, gestützt auf eigene Beob¬
achtungen, dass es sich hier um eine Abortivform der Meningitis
cerebrospinalis handle.
Gruber glaubt, dass auch die Annahme einer genuinen Otitis
interna, nach V o 1 1 o 1 i n i, den Fall zureichend erkläre.
8. Prof. Politzer: Demonstration eines Gehirns
mit multipler Abscessbildung im linken Schläfen¬
lappe n.
Der Fall betrifft einen 29jährigen Idioten, der angeblich seit
vier Wochen an einer linksseitigen acuten, eiterigen Mittelohrentzün¬
dung litt und über heftige Schmerzen in der linken Kopfhälfte klagte.
Die Untersuchung ergab eine kleinlinsengrosse Perforation in der
unteren Hälfte des entzündeten und geschwellten Trommelfells, mässige
Eitersecretion in der Trommelhöhle und leichte Druckempfindlichkeit
am Warzenfortsatz. Genaue Hörprüfungen konnten nicht vorgenommen
werden. Da trotz dreitägiger antiphlogistischer Behandlung die Kopf¬
schmerzen anhielten, so wurde die Aufmeisselung des Warzenfortsatzes
vorgenommen, bei welcher man erst in einer Tiefe von 1/2 cm auf
Eiter und schlaffe Granulationen stiess. Nach vollständiger Ausräumung
der erweichten Knochenpartien zeigte sich das an das Antrum gren¬
zende Knochengewebe von normaler Beschaffenheit, weshalb von einer
Eröffnung des Antrums Abstand genommen wurde. Zwei Tage nach
362
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 15
der Operation befand sieh Patient anscheinend wohl, in der dem
zweiten Tage folgenden Nacht wurde er von wüthenden Kopfschmerzen
befallen, welche die Nacht hindurch unter Symptomen von Tobsucht
fortdauerten, bis Morgens der letale Ausgang erfolgte.
Die Nekroskopie ergab: Eiterige Entzündung der linken Trommel¬
höhle mit Perforation des Trommelfells. Die Trommelhöhlenschleimhaut
stark aufgelockert; Cavum tympani und Antrum mastoideum enthalten
nur geringe Eitermengen. Das Tegmen tympani hyperämisch, jedoch
intact, desgleichen die der Trommelhöhle entsprechende Partie der Dura
mater. Im linken Schläfenlappen erscheinen am Durchschnitt drei ältere,
von einer Bindegewebskapsel begrenzte Abscesse, welche nahe der
Grenze der unteren Fläche des Schläfenlappens liegen und deren Um¬
gebung frische, encephalitbche Erweichung und beginnende Lepto¬
meningitis zeigt. Entsprechend einem der oberflächlich gelegenen Ab¬
scesse besteht eine circumscripte Pachymeningitis interna und externa
in der Ausdehnung von 4 mm und entsprechend dieser Stelle am
unteren Abschnitt der Schläfenbeinschuppe eine frische Knocbenusur
mit Perforation der Schläfenbeinschuppe nach aussen.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
in München.
Vom 17. bis 22. September 1899.
(Fortsetzung.)
Section für Geburtshilfe und Gynäkologie.
Referent Dr. Edmund Falk (Berlin).
Sitzung am 20. September 1899, Vormittags.
Vorsitzender: Se. königl. Hoheit Prinz Dr. Ludwig Ferdinand von
Baiern.
Gemeinsame Sitzung mit der Section für Augen¬
heilkunde.
I. v. A m m o n : Zur Diagnose und Therapie der
Augeneiterung der Neugeborenen.
Die eine Zeit lang herrschende Ansicht, dass die Augeneiterungen
Neugeborenev in den allermeisten Fällen durch gonorrhoische An¬
steckung bedingt seien, wobei die Zeit der Infection in den Verlauf
des Geburtsvorganges verlegt wird, wurde während der letzten Jahre
mehrfach angegriffen. Sie verdient aber nicht allein bezüglich der
Classificirung der Infectionsträger, sondern auch hinsichtlich des Zeit¬
punktes der Uebertragung des Virus rectificirt zu werden.
Das sogenannte typische Bild der Ophthalmogonorrhoea neona¬
torum darf zur Diagnose nicht ohne Weiteres benützt werden, da es
einerseits eine Reihe von Fällen gonorrhoischer Natur gibt, die aus
verschiedenen Gründen wenig entzündliche Erscheinungen aufweisen,
und da andererseits Fälle zur Beobachtung kommen, bei denen trotz
hochgradigster entzündlicher Veränderungen die Gonococcen absolut
keine Rolle spielen. Unter 100 Fällen von Augeneiterungen Neugebo¬
rener befanden sich nur 56 gonorrhoische, bei denen die Eiterung nur
in einem Viertel der Fälle zwischen dem ersten und dritten Tage
auftrat. Die Mehrzahl der Fälle stellen Spätinfectionen dar, die nicht
bei oder unmittelbar nach der Geburt entstanden sind. Deshalb wird
auch die C r e d e’sche Methode die Zahl der Augeneiterungen nicht
wesentlich zu verringern im Stande sein.
Eine wichtige Rolle bei der Infection der Bindehaut Neugebo¬
rener spielen die Pneumococcen. Das durch dieselben liervorgerufene
Krankheitsbild zeigt die Eigentümlichkeit, dass nach drei bis fünf
Tagen sehr starken Katarrhs und profuser Eiterung der Process mit
einem Male besser wird, im Gegensätze zu den gonorrhoischen
Infectiouen, die nur ganz allmälig in der Besserung fortschreiten.
Ausser diesen beiden Infectionserregern wurden noch in zwei Fällen
die sogenannten Pseudogonococcen, in drei Fällen Bacterium pneu¬
moniae gefunden, während sich Staphylococcen beinahe in jedem
Conjuncti valeiter nach weisen lassen. Auch die letzteren vermögen
schwere Zerstörungen der Hornhaut zu verursachen, wenn der all¬
gemeine Ernährungszustand des Patienten gelitten hat. Der Name
Blennorrhoea wäre deshalb am besten ganz zu vermeiden, da er nur
ein Symptom ätiologisch ganz verschiedener Processe berücksichtigt,
sollte aber mindestens hei den von amtlicher Seite ausgegebenen Zähl¬
karten durch einen präeiseren ersetzt werden.
Unter den zur Heilung der gonorrhoischen Conjunctivitis Neu¬
geborener angewendeten therapeutischen Massnahmen scheint die
Argentum nitricum-Behandlung noch am meisten im Gebrauche zu
sein. Ihre Unzuverlässigkeit und die dabei gelegentlich auftretenden
Schädigungen der Hornhaut haben v. Ammon veranlasst, ex¬
perimentelle Untersuchungen über die Wirkungsweise des Höllensteins
zu machen, und zwar vor Allem deshalb, weil man vielfach die
Infectionserreger direct beeinflussen zu können glaubt. Die Versuche
wurden so vorgenommen, dass die Augen lebender Kaninchen, gesunde
und in pathologischen Zustand versetzte, mit Höllenstein sowohl in
der Form des C r e d e’sehen Tropfens als in der Form von Höllen-
steinpinselungeu behandelt wurden. Nach der Tüdtung des Thiei es
wurde das in die Gewebe eingedrungene Silbersalz durch Schwefel¬
wasserstoffwasser als unlösliches schwarzes Sclnvefelsilber nieder¬
geschlagen, das seinerseits im mikroskopischen Präparate bequem nach¬
gewiesen werden konnte. Es zeigte sich hiebei, dass die Ilöllenstein-
ätzungen viel zu wenig tief in das Gewebe eindringen, als dass sie
darin befindliche Mikroben zu schädigen vermöchten. Aus diesem Grunde
ist auch die Cr ed e’sche Methode nicht absolut zuverlässig. Die
gleichen Versuche wurden dann unter Anwendung von Protargol ge¬
macht und auch hiebei erfuhr man, dass diesem Mittel die ihm
zugesagte Tiefenwirkung nicht zukommt.
Wir vermögen daher durch chemische Mittel die eingedrungenen
Mikroben nicht zu schädigen und es ist das Beste, wenn wir derartige
Bestrebungen überhaupt aufgeben. Es hat sich bei der Behandlung
gezeigt, dass die reizlose Therapie, welche lediglich in der Anwendung
der Kälte und in der Ausspülung des Bindehautsackes mit physio¬
logischer Kochsalzlösung besteht, am schnellsten einen
Rückgang der entzündlichen Erscheinungen herbeizuführen vermag.
Erst wenn die Lidschwellung so weit zurückgegangen ist, dass die
Kinder die Augen wieder selbst zu öffnen vermögen, was nach drei
bis fünf Tagen der Fall ist, kann zu einer adstringirenden Behandlung
übergegangen werden. Hiebei hat sich dann 10 — 20% Protargol-
lösung gut bewährt. Nach einiger Zeit muss jedoch auch an die Stelle
dieses Adstringens ein anderes treten, wenn die Heilung nicht ver¬
zögert werden soll. Da man mit dieser im Anfänge rein antiphlogistischen
Therapie ebensoweit kommt wie mit der Anwendung ätzender Sub¬
stanzen, so sind die letzteren bei der Behandlung der Augeneiterung
Neugeborener entbehrlich geworden. Die Therapie dieser Affection
kann in Ansehung der Zartheit der betroffenen Organe nicht reizlos
genug sein. Der Schwerpunkt der Behandlung liegt in der Anwendung
der Kälte und in der mechanischen Reinigung.
II. Gramer (Bonn): Augenkatarrhe und pro¬
phylaktische Desinfection der Augen der Neugebo¬
renen.
Gonorrhoische und nicht gonorrhoische Augenentzündungen
können klinisch nicht unterschieden werden. Als Erreger von Augen¬
entzündungen beim Neugeborenen kommen neben den Gonococcen
in Befracht Pneumococcen, zur Coligruppe gehörige Stäbchen, Sta¬
phylococcus aureus, Streptococcen und Diphtheriebacillen. Auch ein
Theil der nicht gonorrhoischen Augeneiterungen wird durch Bacterieu
des Locliialsecretes hervorgerufen. Die Pneumococcen-Conjunctivitis
kann durch Uebertragung durch den Mundspeichel der Mutter hervor¬
gerufen weiden. Eine Eröffnung der Lidspalte intra partum ist mit
Sicherheit als möglich anzunehmen. Primärblenorrhoeen bieten deshalb
heftigere klinische Symptome als Secundärblenorrhoeen, weil das Auge
direct post partum sich in einem alterirten Zustande befindet und
deshalb auf alle Reize heftiger reagirt als später. Die Cred c’sehe
Einträufelung ist als prophylaktische Massnahme zu verlassen, weil
durch die nach derselben eintretende heftige Reaction der Conjunctival-
sehleimhaut die Besiedlung des Conjunctivalsacks mit Bacterien und
die Entstehung von gutartigen Secundärinfectionen ausserordentlich
begünstigt wird. Die Besiedlung des Conjunctivalsackes des Neugebo¬
renen mit Bacterien geht sehr langsam und spärlich vor sich. Pro¬
targol hat sich in der Bonner Frauenklinik in 20%iger Lösung als Pro-
phylacticum gut bewährt.
Discussion: Schatz hat die Argentum-Einträufelungen
durch 1 1 r o 1-Instillationen ersetzt, die Reaction nach denselben ist
wesentlich geringer.
Krönig konnte nachweisen, dass sicher intra partum eine
Infection mit Gonococcen möglich ist, in einem Falle Hess sich direct
nach der Geburt schon eine schwere Veränderung am Auge nachweisen
(vorzeitiger Blasensprung). Er verwendet Argentum aceticum.
S c h m i d t-R i m p 1 e r hält es für wichtig, dass wir den Namen
Blennorrhoe beibelialten, eventuell ihn durch den Zusatz Blennorrhoea
gonorrhoica etc. näher definiren. Eine Abschwächung von Gonococcen,
welche leichtere Aftectionen hervorrufen soll, scheint ihm nicht be¬
wiesen. Denn durch dieselbe Infection kann eine verschieden schwere
Erkrankung hei verschiedenen Personen entstehen. Er ist entschiedener
Anhänger der Behandlung mit 2%iger Höllensteinlösung, selbstverständ¬
lich unter gleichzeitiger Anwendung von Kälte; hiedurch entsteht eine
sehr schnelle Abschwellung der Conjunctiva. Er kennt keinen Fall,
in dem das Auge zu Grunde ging, wenn nicht vorher Honihautver-
letzungen bestanden.
La queu r stimmt ebenfalls der Behandlung mit Argentum
nitricum bei und warnt vor der zu frühzeitigen Empfehlung neuerer
Mittel. Nachtheilige Wirkungen konnten bei vorsichtiger Anwendung
nicht festgestellt werden. Reizungen kommen zweifellos vor, jedoch
keine schweren Affectionen.
Nr 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
363
Uh toff: Schwere Conjunctivitis durch sogenannte Pseudo-
gonococeen sind zweifellos selten. Bei Staphylococcus albus ist es
zweifelhaft, ob er, wo er gefunden wird, auch der Erreger der Er¬
krankung ist. Auch Uh to ff hält das Argentum nitricum ■ für das
zuverlässigste Mittel; Protargol ist zweifellos ein gutes Mittel, aber
ist sicher dem Argentum nitricum nicht überlegen, eine 2%ige
Argentumlösung sollte nicht überschritten werden. Das C r e d e’sche
Verfahren ist ein wirksames, eine obligatorische Einführung ist jedoch
keineswegs empfehlenswerth. Der ulceröse Hornhautprocess wird nicht
durch Gonococcen, sondern durch Streptococcen, Staphylococcen etc.
bewirkt, und in diesen Fällen ist natürlich die Anwendung von
Mitteln, welche allein Gonococcen abtödten sollen, nicht genügend.
Schatz empfiehlt noch einmal das Itrol auch als prophylakti¬
sches Mittel gegen die Blennorrhoe.
Freund empfiehlt warm die Anwendung von Argentum
nitricum; natürlich können wir nicht jedes Mal Erkrankungen verhüten,
besonders unreife, widerstandsunfähige Individuen zeigen nach prophy¬
laktischen Einträufelungen sehr schwere Reizzustände. Waren diese
Kinder aber inficirt, so nützen die Einträufelungen bei ihnen gar
nichts. Bei ihnen sind daher die Instillationen nur in ganz verdünnter
Concentration anzuwenden.
Eversb usch (Erlangen): Die Entstehung von Hornhaut¬
geschwüren verhindert er durch gleichzeitige Instillation von Physo¬
stigmin-Pilocarpinlösung. Eine Argentumbehandlung prophylaktisch
kann nie schaden. Bei einer ausgebrochenen Blennorrhoe hingegen ist
die Hauptsache Reinlichkeit, Entfernung der Secrete, roizlose Be¬
handlung mit Eisumschlägen. Protargol scheint bei schweren
Fällen weniger günstig zu wirken. Eine Infection kann auch
intra partum entstehen bei Kindern, die in der Glückshaube geboren
wurden.
E 1 s c h n i g (Wien) betont die Nothwendigkeit, frische Argentum¬
lösungen zu verwenden.
Schlösser (München). Bei schwächlichen Kindern muss jeder
Reiz vermieden werden, ja selbst Eisumschläge wirken bei ihnen
schädlich, Wärme, Kataplasmen wirken günstiger.
Cramer: Für die Behandlung der ausgebrochenen Blennorrhoe
leistet die 2%ige Argentum nitricum-Lösung auf der geburtshilflichen
Station sehr gute Dienste. Schon C r e d e hat in seiner Monographie
über sein Verfahren die Empfindlichkeit Frühgeborener gegen die
Argentumlösung hervorgehoben.
*
Vorsitzender: v. Ott (St. Petersburg).
V. Schatz (Rostock) : Ueber die Stirn lagen.
Die Stirnlagen sind, weil so selten vorkommend, wenig studirt
worden ; und doch müssten sie, gerade weil so selten, umsomehr
theoretisch gepflegt werden. Gewöhnlich werden die Stirnlagen mit den
Gesichtslagen gewissermassen als eine Unterart derselben oder als
Uebergang zu denselben behandelt. Das ist aber vollständig falsch,
denn sie sind gerade das Gegentlieil von Gesichtslagen, ebenso wie
von Hinterhauptslagen, gewissermassen die Querlagen des Kopfes. Sie
kommen auch entgegen den Gesichts- und Hinterhauptslagen in der
Schwangerschaft als stabile Lage bei normal gebauten Kindern gar
nicht vor. Während der Geburt entstehen sie zwar nicht ganz selten
bei Mangel jeden Widerstandes, z. B. beim zweiten Zwilling ; sie sind
dann aber ganz ohne Bedeutung. Gewöhnlich aber ist der Widerstand
bei ihnen sehr gross und der Mechanismus sehr exact. Die meisten
stabilen Stirnlagen entstehen durch einen Rückzug am Kindeskopf
mittelst des Halses des Kindes. Zumeist entsteht dieser Rückzug durch
Krampf des Isthmus uteri, des inneren Muttermundes. Ohne die Lehre
von diesem Krampfe ist die Lehre von der Stirnlage überhaupt nicht
zu verstehen. Nun ist aber dieses Capitel in Deutschland in den letzten
Decennien so gut wie gar nicht behandelt, ja der Krampf sogar ge¬
leugnet worden. In derartigen Fällen von Gesichtslagen wendete
Schatz mit bestem Erfolge Chloroform an, legte die Zange zu beiden
Seiten des Kopfes an, ohne denselben zunächst direct zu fassen, stellte
dann innerhalb der Zange durch Herabziehen des Kinnes mit Zeige-
und Mittelfinger während der Wehenpause eine Gesichtslage her, schloss
nun die Zange an dem in Gesichtslage befindlichen Kopf und zog ihn
so herab, dass das Kinn in den Schambogen zu liegen kam und dort
liegen bleiben musste. Jetzt konnte der Kopf sich auch nicht mehr in
der Zange um seine Querachse drehen und wurde, während der Krampf
des inneren Muttermundes durch die Narkose aufhörte, leicht entwickelt.
Aber nur bei relativ kleinem Kopf kann der Krampf des inneren
Muttermundes Stirnlage bewirken. Die Behandlung wird immer auf den
Krampf des inneren Muttermundes zuerst Rücksicht nehmen müssen.
Er schwindet von selbst kaum oder sehr spät und macht die Geburt
sehr schmerzhaft und langwierig. Man erkennt ihn indirect an den
eigentümlich schmerzhaften Wehen mit Pressgefühl ohne entsprechenden
Tiefstand des Kopfes, direct an der Einschnürung um den Hals des
Kindes. Ist der äussere Muttermund vollständig erweitert und der Kopf
nicht gross und gut beweglich, so wird man denselben ohne Aufschub
durch das oben geschilderte Operationsverfahren unter Chloroform , ex-
trahiren. Ist der äussere Muttermund noch eng oder der Kopf nicht
so handlich, so wird man mit Wärme, Bädern, Schwitzen, Morphium
den Krampf bekämpfen. Er scheint unter rheumatischen Vorbedingungen
häufiger aufzutreten. In Mecklenburg sind in zwölf Jahren in den
Monaten Juni, Juli, August Stirnlagen viel weniger beobachtet worden,
als in den übrigen Monaten, während bei den Gesichtslagen ein Unter¬
schied nicht zu finden ist. Ist erst einmal starke Configuration einge¬
treten, so wird man sich begnügen müssen, den Kopf so, wie er con-
figurirt ist, zu extrahiren; wird aber dabei immer Chloroform an wenden,
um den Krampf zu vermindern und kann dann auch die Zange über
Stirn und Hinterhaupt anlegen. Bei tieferem Kopfstand wird man, wenn
es ohne grössere Schwierigkeit geschehen kann, möglichst bald Nacken
oder Nasenwurzel in den Schambogen einleiten. (Erscheint ausführlich
im Centralblatt für Gynäkologie.)
VI. A. Müller (München): Ueber die Ursachen der
Ungleichheit und der Unklarheit der Benennung
und Eintheilung der Kindeslagen.
Nachdem Müller ausführlich auf die Ursachen der jetzt herr¬
schenden Unklarheit in der Benennung der Kinderlagen eingegangen
ist, führt er aus, dass zur Erreichung einer grösseren Klarheit und
Einigkeit nöthig sei, dass
L alle aut Eintheilung der Lagen und deren Verlauf bezüglichen
Verhältnisse in dem Abschnitte über „Mechanik der Geburt“ zusammen¬
hängend und erschöpfend abgehandelt werden und dass alle hiebei in
Betracht kommenden Begriffe peinlich genau definirt werden, diese
Definitionen consequent durchgeführt werden;
2. das Wort „Lage“ nicht mehr als mit „Situs“ identisch
gebraucht wird.
3. Das Wort „Schädel“ ist gänzlich zu verwerfen und wenn
gebraucht, genau zu definiren und nur in diesem einen Sinne -zu ge¬
brauchen.
4. Das Wort „normal“ ist ebenfalls durch andere zu ersetzen
oder nur in einem, vom Autor genau zu definirendem Sinne zu ge¬
brauchen.
5. Bei der Eintheilung der Lagen ist nicht nur der „Situs“ als
Achsenrichtung, sondern auch der vorliegende Endpunkt der Achse in
die Definition der Geradelagen aufzunehmen.
6. Der Begriff „Kindesachse“ ist zu definiren.
7. Der alte Begriff: Stellung, Positio, ist in zwei zu spalten,
nämlich
1. Versio = Richtung des Rückens (oder Hinterhauptes) nach
den Seiten der Mutter,
2. Positio = Einstellung (Lage) des vorliegenden Theiles.
8. Der „Stand“ (Status) ist zu definiren und eventuell „Quer¬
stellung“ statt „Querstand“ zu sagen.
9. Das Wort „Lage“ ist nur noch zur Bezeichnung von Lagerungs¬
verhältnissen im Allgemeinen (auch hier ist besser „Lagerung“ zu
sagen) und von „Lage im klinischen Sinne zu benützen und
ist dieser „klinische Begriff“ zu definiren.
10. Man muss trennen : Eintheilung der Lagen und B e-
nennung der Lagen. Die Benennung wird bei den Geradlagen
dem vorliegennen Kindestheile entnommen.
11. Die Bezeichnung der Unterarten der Lagen nach der Richtung
des Rückens mittelst Zahlen ist subjectiv, daher unwissenschaftlich
und durch objective, rein räumliche Bezeichnungen zu ersetzen, wie
solche z. B. in Frankreich üblich sind.
12. Erkennt man die von v. Weiss und Vortragenden gege¬
benen Definitionen für die „klinische Lage“ an, so muss man mit
K ehre r unterscheiden :
1. Hinterscheitel = Hinterhauptslagen: Pos. Occipital, posteriores.
2. Mittelscheitellagen: Scheitellagen: Pos. Verticales.
3. Vorderscheitel — Vorderhauptslagen.
(Erscheint ausführlich in der Monatsschrift für Geburtshilfe und
Gynäkologie.)
VII. J. Veit (Leiden): Ueber V ord.erhauptslagen.
Veit knüpft an die Arbeiten von C. Bidder und A. Müller
au und bespricht die Frage, ob es zweckmässig sei, neben den beiden
Hinterhauptslagen und den beiden Vorderhauptslagen noch hintere
Hinterhauptlage und eventuell auch hintere Vorderhauptslagen zu
trennen. Vortragender kann diese Unterscheidungen nicht als nützlich
anerkennen, wenn auch gewisse Unterschiede im Mechanismus Vor¬
kommen. Die Gründe, welche ihn veranlassen, im Wesentlichen nur
die beiden Hinterhauptslagen und daneben zwei Vorderhauplslagen als
abnorme Austrittsmechanismen, die übrigens nicht immer unter sich
gleich sind, zuzulassen, sind folgende: In erster Linie sieht man den
Austritt des Hinterhauptes nach hinten gleichzeitig mit dem Gesicht
— also den Mechanismus der Vorderhauptlage mit brachycepbalem
Schädel — erfolgen in Fällen, in denen der Schädel dolichocephal ist
und umgekehrt sieht man bei rigidem Damm auch einmal auanahms
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 15
weise brachycephale Schädel so austreton, dass erst das Hinterhaupt
über den Damm rotirt und dann das Gesicht hinter der Symphyse
hervorklappt. Das hängt allein von dem Fehlen oder Vorhandensein
des Dammes ab.
Demnächst aber gibt es Fälle, in denen ein kleiner kindlicher
Schädel durch das Becken sehr schnell durchtritt, ohne dass man mehr
sagen kann, als dass die grosse Fontanelle nach vorn gelichtet ist.
Die Senkung der grossen Fontanelle im Beckeneingang, wie man
sie beim platten Becken findet, verwandelt sich gewöhnlich in eine ge¬
wöhnliche Hinterhauptslage, d. h. der Kopf, dem durch das platte
Becken eine bestimmte Haltung und Configuration auferlegt war, geht
in eine normale Stellung nach Ueberwindung des Hindernisses zurück,
wenn nicht Zufälligkeiten seine Beweglichkeit beeinträchtigen; als solche
Ursachen nennt Vortragender den vorzeitigen Wasserabgang; doch gibt
es auch andere — den Krampf des Contractionsringes gibt Vortragender
aber nicht zu.
Drehung der kleinen Fontanelle nach hinten im Beginne der
Geburt braucht keineswegs bis zuletzt zu persistiren.
Man kommt nach der Meinung des Vortragenden damit aus,
dass man z. B. von erster oder zweiter Hinterhauptslage spricht und
eventuell hinzusetzt mit Senkung der grossen Fontanelle oder mit
Stand der kleinen Fontanelle noch nach hinten. Erst wenn der Kopf
mit nach vorn gerichteter grosser Fontanelle austrat, spricht er von
Vorderhauptslage und ist bereit, den Unterschied der Senkung der
kleinen oder der grossen Fontanelle descriptiv als Zusatz hinzuzufügen.
Die Aetiologie der Vorderhauptslage liegt nicht in der Kopf¬
form — sonst müssten Vorderhauptslagen regelmässig bei denselben
Frauen bei verschiedenen Geburten beobachtet werden.
Vortragender trennt den Eingangsmechanismus, den er nur beim
engen Becken zugibt, von dem eigentlichen Durchtritts- und diesen
von dem Austrittsmechanismus. Nur die beiden letzten sind in der
Aetiologie von Bedeutung.
Vom praktischen Standpunkte aus ist es wichtig, den Unterschied
zwischen Vorderhauptslage und Vorderscheitelbeineinstellung streng
durchzuführen ; nur dadurch wird man sich vor Schwierigkeiten be¬
wahren. Die Vorderscheitelbeineinstellung verlangt unter gewissen Um¬
ständen die Wendung, contraindicirt im Allgemeinen die Zange; die
Vorderhauptslage verlangt Abwarten und nur bei strenger Indication
die Zange.
Auf die Frage, wann man die Drehung der kleinen Fontanelle
nach vorn noch vornehmen soll, geht Vortragender hier nicht ein;
muss man in Vorderhauptslage extrahiren, so muss man entsprechend
dem Geburtsmechanismus die Griffe der Zange zuerst sehr stark senken.
An der gemeinsamen Discussion über die drei Vorträge betheiligen
sich die Herren Freund sen., Bumm, v. Her ff, Schatz,
J. Veit, A. Müller.
VIII. v. II er ff (Halle a. S.): Ueber Dauer heilung
nach Prolapsoperationen.
v. H e r f f berichtet über die Resultate, die er bei den ver¬
schiedenen Arten der Operationen, welche zur Heilung des Vorfalles
der Scheide und der Gebärmutter vorgenommen wurden, erhalten hat.
In einer ersten Gruppe sind die Fälle zusammengestellt, in denen es
sich um einfache Prolapsoperationen, Kolporhaphien, Perineorhaphien
handelte. In diesen Fällen (137), von denen 21 später geboren haben,
sah er zwar in 7 7 • 1 °/0 Heilung des Vorfalles, aber nur in 37 ‘2 % der
Fälle völlige Arbeitsfähigkeit eintreten. In 76*1 °/0 von ihnen fand sich
Descensus der vorderen Scheidewand, in 21-4°/o Senkung der hinteren,
in 33-3% war gleichzeitig Senkung der Gebärmutter vorhanden. Als
Ursache des Recidives werden neunmal Geburten, 36mal Schlaffheit
der Gewebe und zwölfmal Störungen am Damm angegeben. Bei mit
Collum- und Portiooperationen complicirten Prolapsoperationen (28), bei
denen fünf Frauen später Geburten überstanden, trat in 75°/0 Heilung,
in 50% völlige Arbeitsfähigkeit ein. Wurde mit den Prolapsoperationen
eine Vagino- respective Vesicofixation ausgeführt (61mal), — 16 von
diesen Frauen wurden später zum Theile mittelst Kunsthilfe ent¬
bunden — so wurde in 7 8 • 1 °/0 Heilung, in 4 18% völlige Arbeitsfähigkeit
erzielt. Bei gleichzeitiger Ventrofixation war das Verhältnis 76 '9%
Heilungen, 53'8% völlige Arbeitsfähigkeit. Wurde endlich zur Hebung
des Vorfalles die Hysterektomie und dabei zugleich eine Kolporhaphie,
respective Perineorhaphie ausgeführt, so wurde zwar nur in 51-7% eine
Heilung des Vorfalles gesehen, hingegen in 55' 1% dauernde Arbeits¬
fähigkeit erreicht.
v. H e r f f betont die Nothwendigkeit einer gleichzeitigen Aus¬
führung der Vagino , respective Vesicofixation zur Heilung des Prolapses.
IX. K o e t s c h a u : U e b e r D a u e r r e s u 1 1 a t e nach Ve n t r i-
fixatio uteri und nach der Alexander - Ada m’s chen
Operation.
Vortragender behandelt jede bewegliche Retroflexioversio bei
der geschlechtsreifen Frau auch dann, wenn sie noch keine Symptome
macht, weil sie immer eine schwere Gleichgewichtsstörung der Bocken-
organe darstellt. Die Operation tritt bei Hindernissen für dauernde
Reposition in ihre Rechte. Allen operativen Methoden ist gemeinsam,
dass sie absolut normale Verhältnisse nicht liei stellen. Die Vagino¬
fixation im geschlechtsreifen Alter hält Koetschau für unstatthaft.
Sie kommt besonders bei Combination von Prolaps und Retroflexion
post climacterium in Betracht ; i n t r a climacterium ist in solchen
Fällen bei beweglicher Retroflexion die A 1 e x a n d e r’sche Operation
die richtige. Diese „bilateral-symmetrische Suspension des Uterus an
den Ligamenta rotunda“, seit den Modificationen von Kocher,
W e r t h und Rumpf erheblich verbessert, kommt nur in Fällen von
vollständig beweglichem, nicht vergrössertem Uterus in Anwendung.
Vortragender hat unter 23 seit 1894 operirfen Fällen fünf
Recidive erlebt; von 19 Fällen bis Ende 1898 (die übrigen vier — 1899)
wurden drei gravid und kamen glatt nieder. Operationsmethode nach
Werth und später nach Rump f. Bei der fixirten Retroflexion
ist und bleibt die Operation par excellence die Ventrifixatio uteri. Die
sogenannte innere ventrale A 1 e x a n d e r -Operation, welche die Liga¬
menta rotunda mittelst Faltenbildung verkürzt, ist wegen der Verklebung
mit der Bauchwand und der dadurch entstehenden unerwünschten tiefen
Fixation kein Ersatz für die Ventrifixation.
Vortragender hat bis Ende 1898 letztere 149mal ausgeführt; im
Jahre 1899 zwölfmal. Der Uterus wird ungefähr an der Stelle, wo der
Fundus in die vordere Wand übergeht, mittelst zweier starker, durch
die ganze Dicke der Bauchdecken geführter Seidennäbte fixirt in einer
Breite von 1% — 2 cm und einer Tiefe von % cm. Der Fundus darf
nicht fixirt werden, denn der Uterus ist physiologisch ein in sich und
nach allen Seiten bewegliches Organ. Die nach Ventrifixationen be¬
obachtete Häufigkeit von Querlagen ist immer dann gefunden worden,
wenn der Fundus fixirt war; nur eine tiefe und breite Fixation ruft
eine Querlage oder schwere Geburtsstörung hervor, nicht aber eine
schmale und hohe.
Unter 75 bis Ende 1894 ventrifixirten Fällen war, soweit Nach¬
untersuchung möglich, kein Recidiv, kein Todesfall; neun gebaren glatt,
zwei abortirten.
Von 1895 — 1897: 35 Ventrifixationen mit 21 für Gravidität
verwerthbaren Fällen ; darunter neunmal ungestörte Gravidität und
glatte rasche Geburt, einmal ZaDge am hochstehenden Kopfe, einmal
drei Aborte; in elf dieser Fälle waren nur einseitige Adnexa noch
vorhanden. Recidiv: einmal (bei Prolaps), kein Todesfall. 1897 und 1898:
39 Fälle; kein Recidiv, kein Todesfall. Von 23 für Gravidität ver¬
werthbaren Fällen (zehnmal nur einseitige Adnexa) haben sieben geboren
und zwar schnell und ohne Störung; einmal Wendung wie in früheren
Geburten.
Die Dauerresultate der Ventrifixationen müssen somit als durch¬
aus gute bezeichnet werden. Kein einziges Recidiv bei Retroflexio uteri
war vorhanden. Die Ventrifixation wird dauerndes Bürgerrecht in der
Gynäkologie behalten. Die Dauerresultate der A 1 e x a n d e r’schen
Operation nach heutigen Grundsätzen können nach den vorliegenden
Berichten als zufriedenstellende bezeichnet werden.
X. S c hü ck in g (Pyrmont): Die K o 1 p o c h i a s m o r h a p h i e,
eine neue Operationsmethode bei Retroflexio und
Prolaps.
Behufs Erhaltung der freien Beweglichkeit der Gebärmutter und
ihrer ungestörten Entwicklung im graviden Zustande, suchte Schücking
ähnliche Verhältnisse, wie sie durch das Pessar geschaffen werden,
durch folgenden Eingriff zu erreichen. Nach einem an der Grenze
zwischen Portio und vorderem Scheidengewölbe geführten Querschnitt
wird die Schleimhaut nach oben und unten mit dem Scalpellstiel stumpf
abgelöst. Nach dieser Unterminirung wird der horizontal verlaufende
Schnitt in senkrechter Linie vereinigt. Ursprüngliche Wundlinie und
Naht stellen ein Kreuz dar, daher der einer älteren technischen Be¬
zeichnung entnommene Name der Chiasmorhaphie - — Scheiden¬
kreuznaht.
In den Fällen, in denen das hintere Scheidengewölbe derartig
gedehnt war, dass der vom vorderen Scheidengewölbe ausgehende seit¬
liche Zug nicht ausreichte, das Corpus nach vorn zu halten, hat
Schücking den vorderen Querschnitt durch einen Längsschnitt im
hinteren Scheidengewölbe, der an der Grenze zwischen der Portio und
dem Gewölbe begann, ergänzt. Dieser sagittal verlaufende Schnitt
wurde durch eine Quernaht vereinigt.
Bei den sieben, nach dieser Methode behandelten Fällen von
mobiler Retroflexio wurde fünfmal ein befriedigendes Resultat erzielt.
Im sechsten Fall wurde das Resultat durch secundäre Narbenbildung
gleichfalls günstig. Im siebenten Falle ist es hingegen zunächst ein
negatives.
(Fortsetzung folgt.)
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, O. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner,
M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. KrafFt-Ebing, I. Neumann,
R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt, A. v. Vogl,
J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Güssen!) auer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
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XIII. Jahrgang.
Wien, 19. April 1900.
Nr. 16.
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel: 1. Die Ursache des Gebartseintrittes. Von Dr. Josef
T h e n e n.
2. Ueber den Einfluss des Alkohols auf die Ausscheidung- der re-
ducirenden Substanzen im Harne. Von Adalbert Gregor,
Cand. med., Innsbruck.
II. Referate: I. Mittel und Wege zur Schaffung und Erhaltung eines
entsprechenden Sanitäts-Hilfspersonales für die Militär-Sanitäts¬
anstalten und die Truppen im Frieden und im Kriege. Von Dr.
Eduard Bass. II. Leitfaden der Militärbygiene für den Unter¬
richt der Einjährig-Freiwilligenärzte. Von Dr. Johann Schüfe r.
III. Eine applicatorische Uebung im Freien für Militärärzte und
Sanitätsofficiere. Von Gustav Wolff. IV. Ein Vorschlag zur
Ventilation fahrender Eisenbahnwaggons. Von Dr. A. Hinter-
III.
IV.
V.
VI.
b e r g e r. Ref. J. Steiner. — Lehrbuch der Histologie und der
mikroskopischen Anatomie mit besonderer Berücksichtigung des
menschlichen Körpers, einschliesslich der mikroskopischen Technik.
Von Ladislaus Szymonowicz. Ref. J. Schaffer. —
I. Rhinologie, Laryngologie und Otologie in ihrer Bedeutung für
die allgemeine Medicin. Von Dr. E. P. Friedrich. II. Die
Krankheiten der Mundhöhle, des Rachens und des Kehlkopfes.
Von Dr. Albert Rose n'b e r g. HI. Zur Morphologie der Epi¬
glottis. Von Dr. R. Henke. Ref. Koschier.
Ans verschiedenen Zeitschriften.
Therapeutische Notizen.
Vermischte Nachrichten.
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
Die Ursache des Geburtseintrittes.
Von Dr. Josef Thenen.
Vortrag, gehalten in der k. k. Gesellschaft der Aerzte am 6. April 1900.
Die Frage nach der Ursache des Geburtseintrittes, be¬
ziehungsweise nach jenen Vorgängen, welche den Beginn der
Wehenthätigkeit des schwangeren Uterus hervorrufen, bildet
den Gegenstand eines viel bearbeiteten Capitels der
Physiologie.
In zahlreichen Hypothesen wurden die verschiedent-
lichsten, am Ende der Schwangerschaft auftretenden, Erschei¬
nungen und Veränderungen am Uterus, an den Eihüllen und
im Embryo mit dem Beginne des Geburtsactes in Verbindung
gebracht, oder zumindest die Möglichkeit eines Einflusses dieser
erwogen.
Keine der bisher aufgestellten Hypothesen konnte der
Kritik Stand halten, da in denselben Vorgänge und Erschei¬
nungen verwerthet wurden, die wohl am Schwangerschaftsende
auftreten können, keineswegs jedoch — wie es eine allgemeine
Theorie erfordert — bei jeder Geburt, sei dieselbe normal
oder auf pathologische Vorgänge zurückzuführen, nachweis¬
bar sind.
Diese Theorien erweisen sich aber a priori schon deshalb
als unrichtig, weil in denselben der Beginn der Wehenthätig¬
keit bei extrauteriner Schwangerschaft weder zu erklären
versucht, noch überhaupt in einen Zusammenhang mit der ver-
wertheten Erscheinung gebracht wird.
So nahmen Petit, Dubois, Kilian an, die Geburts¬
wehen werden durch den Druck, den der vorliegende Kindes-
tlieil auf den unteren Abschnitt des Uterus ausübe, ausgelöst.1)
Um dieser Auffassung mehr Wahrscheinlichkeit zu verleiben,
ergänzte sie Veit durch die Erklärung, dass es wohl vor¬
wiegend auf den Druck, den das Ganglion cervicale und die
benachbarten Nerven erleiden, sowie auf die Pressung der
Uteruswand zwischen Kindestheil und Beckenwandung an¬
kommen müsse.
Zur Beurtheilung dieser Hypothese genügt die Anführung
jener Fälle, welche sie nicht erklärt: Sämmtliche normalen
Geburten bei Mehrgeschwängerten und Eintritt der Wehen¬
thätigkeit bei Querlage, bei Abortus und extrauteriner Schwan¬
gerschaft.
Simpson suchte in der Verfettung der Decidua die
Ursache des Geburtseintrittes. Veit hält jedoch die Rüclc-
bildnngsphänomene in der Decidua für zu geringfügig, um
solchen Einfluss ausüben zu können, und er citirt
in der Besprechung dieser Theorie mit Recht den Ausspruch
Labs’, der, »selbst wenn die Verfettung vorhanden ist —
statt des einen Räthsels — des Eintrittes der Wehen — nur
ein anderes — Eintritt der Verfettung — gesetzt findet«.
Die sogenannten Fremdkörpertheorien, deren Begründer
nach einer Mittheilung Geyl’s der Physiologe Reil war, und
die von Baudelocque, Huve, Scanzoni, Nägele ver¬
treten wurden, berücksichtigen ebenfalls nicht die extrauterine
Lage der Frucht. Durch Veränderungen, welche am Ende der
Schwangerschaft in der Decidua auftreten, deren Entstehen
übrigens auch unerklärt bleibt2), werde die Frucht zum Fremd¬
körper, der den Uterus zu Contractionen anrege.
Die Resultate der experimentellen Untersuchungen
Brown-Sequar d’s, welcher bei Versuchsthieren durch Ueber-
ladung des Blutes mit Kohlensäure Uteruscontractionen hervor¬
rufen konnte, ferner die Untersuchungen Rung e’s, welcher
das Entstehen der Contractionen nicht auf den lvohlensäure-
') J. V e i t, Handbuch der Geburtshilfe von Müller.
J) Veit, 1. c.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 16
366
Überschuss, sondern auf den Sauerstoffmangel im Blute zurück¬
führte, bildeten die Grundlage mehrerer Hypothesen, in
welchen die Ursache des Geburtseintrittes auf oberwähnte
chemische Veränderungen des in den intervillösen Räumen
circulirenden Blutes bezogen wurde.
Nach C. Hasse lässt sich der Kohlensäurereichthum
des vom Fötus abströmenden Blutes am Ende der Schwanger¬
schaft durch die in Folge Verschlusses des Foramen ovale und
Verengerung des Ductus arteriosus Botalli und Ductus venosus
Arantii bedingte Aenderung der Circulation im Fötus er¬
klären.
Nach Leopold kann eine erhöhte Venosität des in den
intervillösen Räumen circulirenden Blutes durch das Auftreten
der spontanen Venenthrombosen in der Serotina und der
Placentarstelle des Uterus zu Stande kommen.
Abgesehen davon, dass diese Hypothesen gleichfalls nur
die intrauterine Schwangerschaft berücksichtigen, erscheint es
zweifelhaft, ob die Ergebnisse der erwähnten Experimente,
bei welchen die gesammte oder der grösste Theil der Uterus-
masse unter geänderte Verhältnisse gesetzt wurde, eine so er¬
weiterte Anwendung erfahren dürfen, wie es die Annahme
erfordert, dass in der veränderten Beschaffenheit des Blutes
in den intervillösen Räumen dieselben Bedingungen wie im
Experimente vorhanden seien.
In einer grossen Zahl von Hypothesen werden die
natürlichen Schwangerschaftsveränderungen des Uterus
zur Erklärung des Geburtseintrittes herangezogen. So ist es
nach R i t g e n auf die vollendete Ausbildung der Muskel¬
fasern, nach Litzman auf die Ausbildung der Nervenfasern,
nach Obernier, R e i m a n n, Kehrer, Labs auf die zu¬
nehmende Reizbarkeit der Uterusnerven zurückzuführen, dass
ein geringer Reiz am Ende der Schwangerschaft Uteruscon-
tractionen und Geburtseintritt hervorrufen könne. 3)
Es liegt, wie schon aus den angeführten Beispielen
hervorgeht, den meisten Hypothesen die Auffassung zu Grunde,
dass der Geburtsact durch einen Reiz ausgelöst werde, und
dass dieser Reiz durch Veränderungen hervorgerufen werde,
welche am Ende der Schwangerschaft im Uterus oder in der
Frucht auftreten und durch Reifung der Frucht bedingt oder
auf noch unbekannte Vorgänge zurückzuführen sein sollten.
Aus der Unmöglichkeit, auf Grund dieser Vorstellung zu
einer einheitlichen Theorie zu gelangen, wurde nicht die Fol¬
gerung gezogen, diese Vorstellung sei möglicher Weise un¬
richtig, sondern es wurde zur Stütze derselben das Auskunfts¬
mittel einer neuen Hypothese gefunden und aus der scheinbar
verschiedenen Geburtsursache bei anormalem Geburtseintritte
wie nach Fieber, Blutung, Endometritis, Vergiftungen,
Sturz etc. — erklärt, e3 müssen verschiedene Reize die Geburts¬
wehen auslösen können. Diese Annahme beruht nach meiner
Ansicht auf Verwechslung der Begriffe von Ursache und Ver¬
anlassung. Alle angeführten Momente — wie Fieber, Sturz
etc. — führen nur unter bestimmten Umständen den Geburts¬
eintritt herbei, und zwar dann, wenn durch sie zufällig jener
physiologische Process hervorgerufen wird, der den Eintritt
der Wehen verursacht. Sie können jedoch auch vollständig
reactionslos verlauten, sind daher keineswegs als causa sufficiens
zu betrachten.
Da die Besprechung sämmtlicher Hypothosen zu weit
führen würde, wurden nur diejenigen erwähnt, welche in der
Literatur häufiger angeführt werden, um gerade an diesen
nachzuweisen, dass das Problem der Ursache des Geburts¬
eintrittes, welches bekanntlich schon Hippok rates zu er¬
gründen versucht hatte, als ungelöst betrachtet werden muss.
I.
Wenn sich das lebende befruchtete Ei an der Schleim¬
haut des Uterus oder der Tuben (eventuell am Ovarium oder
Peritoneum) festgesetzt hat und mit dieser, beziehungsweise
dem mütterlichen ( )rganismus in vitale Verbindung tritt, be¬
ginnt Schwangerschaft.
In Folge dieser Verbindung bilden sich im mütterlichen
Organismus die bedeutenden Veränderungen aus, welche kurz¬
weg als Schwangerschaftssymtome bezeichnet werden. Diese
sind immer gleichartig und weisen nur je nach der
Eignung der Haftstelle graduelle Unterschiede auf.
Bei normalem Verlaufe schreitet die Entwicklung der
Schwangerschaftsveränderungen mit der Entwicklung der
Frucht gleichmässig fort. Erst durch den Eintritt der Geburt
erfolgt eine Unterbrechung, an die sich die Rückbildung der
Schwangerschaftsveränderungen anschliesst.
Wird jedoch — wie die Erfahrung lehrt — durch einen
pathologischen Process, z. B. eine Blutung, das Ei zerstört
oder von seiner Haftstelle losgelöst, so beginnt, ebenso wie
nach normaler Geburt, die Rückbildung der Schwangerschafts¬
veränderungen, wobei die Erscheinung zu Tage tritt, dass es
physiologisch bedeutungslos ist, ob das Ei im Mutterleibe ver¬
bleibt, wie z. B. bei extrauteriner Lage der Frucht, oder ob
dasselbe ausgestossen wurde.
Die Zerstörung des Eies oder die Lostrennung desselben
von der Haftstelle, d. i. die Unterbrechung der vitalen Ver¬
bindung von Mutter und Frucht hemmt demnach nicht nur
die Fortentwicklung der Schwangerschaftsveränderungen,
sondern sie bedingt auch die sofortige Rückbildung der
schon v o r h a n d e n e n Veränderungen und die Rückkehr des
mütterlichen Organismus zur Norm, soferne nicht — wie bei
Retention des abgestorbenen Eies oder eines Theiles desselben
im Uterus — ein Hinderniss die Rückbildung einer Schwanger¬
schaftserscheinung hemmt, die eben dann nur als mechanisch
bedingte Veränderung fortbesteht.
Die physiologische Ursache dieser Erscheinung kann
daher nicht in der mechanischen Entfernung des Eies gesucht
werden, sondern muss — wie es allerdings selbstverständlich
erscheint, doch betont werden muss — nur in einer Func¬
tion des Eies gelegen sein.
Auf Grund dieser Vorstellung würde sich der natürliche
Zusammenhang der erwähnten Erscheinungen folgendermassen
erklären lassen:
Das lebende befruchtete Ei übt in vitaler Verbindung
einen mächtigen Reiz auf den mütterlichen Organismus aus,
dessen Reaction sich in den Schwangerschaftsveränderungen
äussert. Durch Zerstörung oder Loslösung des Eies entfällt der
Reiz, worauf die Reactionserscheinungen schwinden.
Die Schwangerschafts Veränderungen bil¬
den demnach die s p e c i fische Reaction des weib¬
lichen Organismus auf den Reiz des lebenden
befruchteten Eies.
Da die Uebertragung des Reizes nur an der Verbindungs¬
stelle von Mutter und Frucht stattfinden kann, so wird die¬
selbe anfangs von der Gesammtoberfläche, später vom Chorion
frondosum und nach Entwicklung der Placenta von dieser aus
erfolgen. Es ist in den anatomischen und physiologischen Ver¬
hältnissen begründet, dass der Placenta die Aufgabe der Reiz¬
übertragung zufällt. Dass eine Loslösung derselben von gleichen
Folgen wie die Lostrennung des ganzen Eies begleitet ist,
wird durch jene Fälle von Abortus illustrirt, die nach Zer¬
störung der Placenta oder nach ausgebreiteter Blutung zwischen
dieser und der Uterusschleimhaut auftreten.
Die naturgemäss bedeutenden Reactionserscheinungen am
Uterus äussern sich einerseits in den sinnlich wahrnehm¬
baren Veränderungen desselben (Massenzunahme,
Bildung der Decidua etc.) und andererseits in einem s p e-
cifischen functionellen Verhalten. Letzteres muss
deshalb als specifisch aufgefasst werden, da nur während der
Schwangerschaft die auffallende Erscheinung zu Tage tritt,
dass der Uterus bei seiner erhaltenen und eher noch erhö hen
Irritabilität auf so hochgradige Veränderungen seiner Sch'eim-
haut nicht mit Contractionen reagirt, während solche sowohl
im schwangeren, als im nicht schwangeren Zustande durch
anderweitige, weit geringere Vorgänge ausgelöst werden.
Dieses Verhalten gegenüber den durch die Schwanger¬
schaft hervorgerufenen Veränderungen lässt sich nur durch
das Bestehen der vitalen Verbindung und der Uebertragung
eines Reizes erklären, wodurch Ei und Decidua, bezielmngs-
s) Veit, 1. c.
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900
367
weise letztere allein, sich während der Schwangerschaft als dem
Uterus normal angehörende Gebilde repräsentiren.
Sind die Schwangerschaftserscheinungen als specifische
Reaction an das Bestehen eines Reizes geknüpft, so muss mit
dem Ausfall des Reizes oder dem Sinken desselben unter die
erforderliche Grösse das physiologische Ende der
Schwangerschaft eintrete n, welches, wie aus der Dar¬
stellung ersichtlich ist, nicht mit dem bisher festgehaltenen,
auf den anatomischen Vorgang zurückgeführten Schwanger¬
schaftsende zu identificiren ist.
Nach Beendigung der Schwangerschaft, d. h. wenn der
vom Ei ausgehende Reiz entfallen ist, oder nicht mehr jene
Grösse erreicht, um den mütterlichen Organismus in seiner
Reaction zu erhalten, tritt der Uterus wieder in normale
Function und wird durch die Decidua, die nunmehr nur eine
veränderte Schleimhaut darstellt, zu Contractionen angeregt,
die sich, entsprechend der Ausbildung der Muscularis und der
Nervenelemente und im Verhältniss zum auszustossenden Objecte
zu Geburtswehen steigern, die erst nach Entfernung des verän¬
derten Gewebes aufhören. 4)
Die Ursache dieser Erscheinung ist nach meiner, der
bisherigen Auffassung entgegengesetzten Anschauung daher
nicht im Auftreten eines neuen Reizes, sondern im Aus¬
fallen jenes Reizes zu suchen, der die Schwangerschaft
hervorrief.
Die Wehenthätigkeit des Uterus ist die
erste Aeusserung seiner wiedergewonnenen
normalen Function in unmittelbaremAnschluss
an das physiologische Schwangerschaftsende.
II.
Von der Anschauung geleitet, welcher schon Zweifel
in seinem Lehrbuche der Geburtshilfe Ausdruck verlieh, dass
gewissen Fällen von Frühgeburt die Bedeutung eines Experi¬
mentes zukomme, gehe ich daran, die aus der Beobachtung
der einfachen Beispiele gewonnenen Resultate zur Erklärung
des normalen Geburtseintrittes zu verwerthen.
In den an s ä m m 1 1 i c h e n g e b o r e ne n P 1 a ce n t e n
wahrnehmbaren Degenerationserscheinungen
sehe ich die Folgen jener Vorgänge, die die An¬
nahme einer der Geburt vorausgegangenen
physiologischen Lostrennung von Mutter und
Frucht, sowie der Ausschaltung d e s v o n letzterer
ausgehenden Reizes rechtfertigen.
Die auffallende Erscheinung ausgebreiteter Degeneration
an einem so wichtigen Organe, wie es die Placenta ist, legte
von jeher den Gedanken nahe, in diesen ein ursächliches
Moment für den Geburtseintritt zu suchen; doch kam man
nicht über die Vermuthung hinaus, da nicht einmal das Ent¬
stehen der Degenerationen einwurfsfrei erklärt werden konnte.
Um das Auftreten degenerativer Processe in der Placenta
zur Erklärung des Geburtseintrittes überhaupt heranziehen zu
dürfen, halte ich es für erforderlich, zunächst deren Ent¬
stehungsursache klarz ulegen, dann aber auch
die Erklärung zu erbringen, warum diese Pro¬
cesse zu einer Zeit auftrete n, in welcher sich
das Kind — bei der durch die Grösse des mensch¬
lichen Organismus erreichbaren Grenze — unter
günstigsten Bedingungen zur selbstständigen
Fortentwicklung befindet. Aus der Physiologie der
Placenta ergeben sich sehr wichtige Beiträge zur Lösung er¬
wähnter Fragen, weshalb auf dieselben im Nachfolgenden des
Näheren eingegangen werden soll.
Die Placenta erreicht am Ende des dritten Monates der
Schwangerschaft das Gewicht von 36 g, im vierten Monate er¬
reicht sie 80 <7; im fünften, sechsten und siebenten Monate be¬
trägt die Gewichtszunahme je 100 <7; im achten Monate ver¬
ringert sich die Zunahme auf 60 im neunten Monate
schon auf 40 g und im zehnten Monate soll die Gewichts¬
zunahme 6 g betragen. Wenn man berücksichtigt, dass ein
4) Ein Abortus in den ersten Wochen der Schwangerschaft verläuft
daher unter dem Bilde einer Menstruation.
Theil der Gewichtszunahme der Placenta auf die Zunahme
des Blutgehaltes in der Frucht zurückzuführen ist und diese
in den letzten sechs Wochen auf mindestens 40 g 5) zu ver¬
anschlagen ist, so erscheint die Annahme gerechtfertigt, dass
die Placenta von der 34. bis zur 36. Woche eine
geringe, von der 36. Woche bis zum Ende der
Schwangerschaft keine Grössenzunahme er¬
fährt.
Der Fötus hingegen wächst vom Beginne der Schwanger¬
schaft bis zum Ende continuirlich; er erlangt im dritten Monate,
in welchem die Placenta ein Durchschnittsgewicht von 36 g
aufweist, ein Gewicht von circa 15 g und erreicht in der
30. Woche 1800 g. Von diesem Zeitpunkte an¬
gefangen ist die Massenzunahme des Fötus eine
enorme und beträgt bis zum Ende der Schwanger¬
schaft circa 1400 t/.
Nachfolgende Tabelle gibt ein übersichtliches Bild des
Wachsthums von Fötus und Placenta in den letzten zehn
Wochen :
Woche
Placenta
Fötus
Zunahme
der Placenta
des Kindes
Beginn bis
30. Woche
bis 430 #
bis 1800#
30.— 3‘2. Woche
» 460 g
» 2100 (j
30#
300 #
32. — 34. »
» 480 g
» 2400#
20#
300#
34. — 36. »
» 490 g
» 28C0 #
10#
400 #
(500)
200#
36.-38. »
—
» 3000 #
—
38.-40. »
» 3200 #
200#
Ein Vergleich der Gewichte von Fötus und Placenta in
den einzelnen Phasen ihrer Entwicklung führt zu folgendem
Resultate: Die ersten Wochen der Schwangerschaft scheinen
vorwiegend der Ausbildung der Placenta zu dienen. Von dem
Zeitpunkte, in welchem die Placenta zu vollständiger Functions¬
fähigkeit entwickelt ist, wachsen Placenta und Fötus bis zur
30. Woche gleichmässig weiter, und es erreicht erstere ein
Gewicht von 430 g, letzterer von 1800 ^7. Während nun
in den nachfolgenden Wochen das Wachsthum
des Fötus in so erhöhtem Masse fortschreitet,
dass derselbe in der kurzen Zeit bis zum Ende
der Schwangerschaft eine Gewichtszunahme
von 1400y — beinahe eine Verdoppelung des Gewichtes —
erfährt, bleibt die Placenta in ihrer Entwick¬
lung auffallend zurück undzeigt in den letzten
vier Wochen gar keine Grössenzunahme.
Die Ursache dieser Erscheinungen ist in den Kreislaufs¬
verhältnissen der Frucht zu suchen, die es bedingen, dass die
Ernährung und Fortentwicklung der Placenta auch von der
Entwicklung des Fötus abhängig ist.
Ich erachte es für nothwendig, diese Verhältnisse, denen
ich eine grosse Bedeutung für die Physiologie und Pathologie
der Placenta zuschreibe, ausführlicher zu erörtern, und zwar
umsomehr, als dieselben auffallender Weise bisher in der
Literatur keine Beachtung fanden. Dabei beziehe ich mich
zunächst nur auf die Thatsache, dass der fötale Kreislauf in
sich geschlossen ist.
Das durch die Vena umbilicalis zum Fötus fliessende
arterielle Blut versorgt denselben. Von diesem strömt das
venöse Blut durch die beiden Arteriae umbilicales zur Placenta
zurück. In der Placenta findet eine Theilung des Blutstromes
statt, und zwar in den Hauptstrom, der durch die Zotten-
gefässe direct zu den Capillaren der Ernährungszotten fliesst,
um den Stoffwechsel zu vermitteln, und in einen Nebenstrom,
der die Placenta ernährt.
Stamm und Haftzotten können nur auf die beschriebene
Weise mit Nährstoffen versehen werden. f>) Die dem Stoff-
5) Welcker gibt die Blutmenge des Neugeborenen mit '/19 des
Körpergewichtes an.
ü) Das von denselben abfliessende, hochgradig venöse Blut vermischt
sich mit dem aus den Ernährungszotten kommenden arteriellen Blute.
3B8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 16
Wechsel dienenden sogenannten Ernährungszotten stehen aller¬
dings unter weit günstigeren Bedingungen, da sie, vom mütter¬
lichen Blute umspült, auch durch Osmose aus diesem das
nothwendige Material beziehen können.
Diejenigen Theile der Placenta, welche nicht durch
Osmose ernährt werden , können daher nur durch
Blut versorgt werden, w^ eich es den Fötus vorher
schon p a s s i r t hat, und nur jene Nährstoffe er-
halten, welche als (Jeher schuss vom Fötus im
venösen Blute durch dieArteriae umbilicales
rückströmen.
In Folge der Kreislaufverhältnisse muss die Entwicklung
der Placenta daher von zwei Factoren abhängig sein, und
zwar sowohl von der eigenen Grösse als von der des Fötus,
wie sich dies auch thatsächlich an der Entwicklung beider in
den einzelnen Phasen nachwreisen lässt.
Nach Ausbildung des Placentarkreislaufes vermag die
Placenta in Folge des günstigen Verhältnisses ihrer Grösse zu
der des Fötus so viel Material aufzubringen, um damit die
Fortentwicklung des Fötus zu ermöglichen und mit dem im
venösen Blute abströmenden Ueberschusse sich selbst weiter
zu entwickeln.
Mit dem Fortschreiten der Schwangerschaft ändert sich
zwar das Grössenverhältniss zwischen Placenta und Fötus zu
Ungunsten letzterer, bleibt aber immerhin bis zum Anfänge
des achten Lunarmonates relativ günstig, da die Placenta
gleichzeitig mit dem Fötus wächst und daher dem gesteigerten
Nahrungserforderniss nachzukommen vermag.
Um die 30. Woche der Schwangerschaft, es fällt dies
gerade in jene Periode, in welcher der Fötus die Lebens¬
fähigkeit erlangt hat, da alle Organe functionsfähig geworden
sind — tritt in der Fortentwicklung beider Fruchtan theile
eine auffallende Verschiedenheit auf: Die Placenta bleibt
im Vergleiche zu den vorangegangenen Mona¬
ten in der Entwicklung zurück, während der
Fötus von diesemZeitpunkte an enorm es Wachs¬
thum auf weist. Letzterer konnte sich nämlich in Folge
seiner günstigeren Ernährungsbedingungen rascher als die
Placenta entwickeln, so dass sich mit dem Fortschreiten der
Schwangerschaft das Verhältniss zu Ungunsten der Placenta
verschob und nun der grösste Theil des von der Placenta auf¬
gebrachten Nährmateriales vom Fötus — in Folge seiner
Masse und der Ausbildung der Organe — absorbirt wird.
Dadurch verringert sich die für die Placenta erübrigte Quan¬
tität der Nährstoffe.
Das Wachsthum der Placenta word — wie aus ansre-
führter Tabelle ersichtlich — träger und dies führt schliesslich
bei dem durch die Weiterentwicklung sich steigernden
Nahrungserforderniss des Fötus dazu, dass die zur Placenta
abströmenden Stoffe gerade nur noch hinreichen, um die
Placenta im Gleichgewichte zu erhalten, wodurch Stillstand
im Wachsthume eintritt (circa 34. Woche). Zu dieser Zeit
hat die Placenta das Maximum ihrer Leistungsfähigkeit
erlangt.
Da sich jedoch das Nahrungserforderniss des Fötus mit
seiner Massenzunahme noch weiter steigert, muss die Menge
der im abströmenden Blute vorhandenen Nährstoffe ent¬
sprechend abnehmen, bis die erübrigte Quantität endlich nicht
mehr hinreichen kann, um die Placenta im Gleichgewichte zu
erhalten : Die Placenta muss daher der Unter¬
ernährung und in Folge dieser der regressiven
Metamorphose anheimfallen.
Anfangs dürfte wohl noch die Blutzunahme in der
Frucht eine Compensation schaffen, doch kann dieselbe nicht
von dauernder Wirkung sein. Auch werden andererseits durch
die regressive Metamorphose in der Placenta Theile derselben
vom Stoffwechsel ausgeschaltet, was wieder durch Verminderung
der Nahrungsaufnahme zu noch rascherer Ausbreitung dege-
nerativer Processe führen muss.
Da demnach Aufbau und Ernährung der
Placenta durch die vom Fötus abströmenden
Nährstoffe erfolgt, tritt die Placenta mit dem
Fortschreiten der Entwicklung des Fötus in
den letzten Wochen der Schwangerschaft
unter ungünstige Ernährungsbedingungen. Dies
äussert sich in der Zeit zwischen der 30. und 34. Woche in
trägerem Wachsthume, später (34. bis 36. Woche) in Wachs¬
thumsstillstand und in den letzten Wochen (36. Woche bis
Schluss) in Erscheinungen regressiver Metamorphose.
Die Folgen der regressiven Metamorphose zeigen sich in
den bekannten Veränderungen geborener Placenten, und zwar
als Degenerationserscheinungen verschiedenen Grades an den
Zotten und deren Epithelien. Sie treten in denjenigen Gewebs-
partien zuerst auf, welche in Bezug auf Lage und Gefässver-
theilung unter ungünstigeren Bedingungen stehen. In dieser
Hinsicht sind an erster Stelle die Haftzotten, also diejenigen
Gebilde, welche die Verbindung zwischen Mutter und Frucht
vermitteln, zu nennen, die nur durch Endramificationen der
Gefässe versorgt werden. Unter weit günstigeren Bedingungen
befinden sich schon die Stammzotten mit ihren axialen
Gefässen.
Unter den günstigsten Bedingungen stehen jedoch die
Ernährungszotten, die das für sie erforderliche Nährmaterial
auch auf osmotischem Wege direct vom mütterlichen Blute
aufnehmen können. In denselben wird es daher weit seltener
und nur secundär zu regressiver Metamorphose kommen, wo¬
durch der für den Fötus nothwendige Stoff Wechsel
ungestört bleibt, während grosse Theile der Placenta
schon zu Grunde gegangen sind.
Die degenerativen Veränderungen in der
Placenta sind demnach Folgeerscheinungen
der physiologischen Unterernährung derselben
in den letzten Wochen der Schwangerschaft. Sie
sind, mit Ausnahme der durch bestimmt nachweisbare patho¬
logische Processe hervorgerufenen Veränderungen — insge-
sammt auf beschriebene Rückbildungsvorgänge zurückzuführen,
so z. B. die Infarcte (Ackermann), bei welchen die
primären Gefässveränderungen, oder auch die Gerinnungen, bei
welchen die physiologische Degeneration der Zotten die
durch Nekrobiose hervorgerufenen ersten Veränderungen dar¬
stellen.
Es würde zu weit vom Thema ablenken, wenn ich auf
alle in den letzten Jahrzehnten so ausführlich bearbeiteten
Degenerationserscheinungen reifer Placenten näher eingehen
würde. Es genüge der Hinweis, dass alle Grade der Rück¬
bildung beobachtet werden, von den ersten Veränderungen
des Zellkernes bis zu den schon makroskopisch wahrnehm¬
baren Erscheinungen, und dass selbst ganze Gewebsantheile
der Placenta so verändert sind, dass deren ursprüngliche
Structur überhaupt nicht mehr erkennbar ist.
Darauf ist es auch zurückzuführen, dass das Studium
der normalen Structur der menschlichen Placenta grossen
Schwierigkeiten begegnet und auch zu keinem Abschlüsse ge¬
bracht werden konnte. 7)
Ich möchte nur die Beobachtungen von Lang h ans
über das Auftreten von Verkalkungen in der Placenta be¬
sonders hervorheben, da aus der Lage dieser Herde ein Schluss
auf die Lage der relativ älteren Degenerationsherde berechtigt
erscheint, und ich die Angaben von Langhans als Beweis
zur Stütze meiner Hypothese anführen zu dürfen glaube.
»Verkalkungen finden sich«, wie Langhans schreibt,
»vorzugsweise in denjenigen Theilen, welche weniger der Er¬
nährung des Kindes, als vielmehr zur Verbindung beider
Theile der Placenta untereinander, von den fötalen Theilen
/
die letzten Enden der dickeren in die Placenta materna sich
einsenkenden Zottenstämme und mütterlicherseits die oberen,
die eingewachsenen feinen Zotten umgebenden homogenen oder
leicht streifigen meist zellarmen Schichten«.
Langhans hebt auch hervor, dass durch diese Ver¬
änderungen die Ernährung des Kindes kaum beeinträchtigt
werden könne.
') Nur Placenten aus der Zeit vor der 30. Schv\ angerschaftswoche,
die nicht durch den Geburtsact zu Tage gefördert werden (z. B. durch
Operationen oder bei Sectio caesarea nach plötzlichem Tod der Mutter) könnten
normale Strueturverhältnisse bieten.
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
369
Aus den Ergebnissen der histologischen Untersuchungen
gewinnen wir jedoch noch nicht ein richtiges Bild von der
Ausdehnung der vegetativen Störungen in der reifenden
Placenta8), da sich bekanntlich nicht nur functioneile Aen-
derungen in der Zelle, sondern sogar auch die ersten Dege¬
nerationsstadien im Zellplasma und im Zellkerne unserer Be¬
obachtung entziehen. Die Veränderungen letzterwähnter Art
müssen — nach der Ausbreitung der sinnlich wahrnehmbaren
zu sch lies sen — jedenfalls auch bedeutend sein und werden
vorwiegend die Haftzotten betreffen, als diejenigen Theile der
Placenta, welche unter den ungünstigsten Ernähr ungsbedin-
gungen stehen.
Nachdem Entstehen und Ausbreitung der Degenerationen
klargelegt und die Erklärung erbracht wurde, dass diese Pro-
cesse Folgen der physiologischen Rückbildung der Placenta
nach Entwicklung des Fötus sind, erübrigt noch die Ver-
werthung der gewonnenen Resultate zur Erklärung des nor¬
malen Geburtseintrittes.
Mit der Degeneration der Haftzotten vollzieht sich ein
Process, der eine psysiologische Loslösung der Frucht vom
mütterlichen Organismus bedeutet, da das veränderte Gewebe
der Haftzotten nicht mehr die vitale Verbindung aufrecht
erhalten und daher auch nicht mehr den Reiz des lebenden
Eies zu übertragen vermag. In gleichem Masse, wie die De¬
generation der Zotten schreitet die Trennung von Mutter und
Frucht vor, doch dauert die Schwangerschaft fort, so lange
noch ein genügend grosser Antheil der Placenta mit dem
mütterlichen Organismus in vitaler Verbindung verbleibt. Mit
weiterer Ausbreitung der Veränderungen verringert sich das
intacte Gewebe, bis schliesslich der von diesem übertragene
Reiz nicht mehr hinreicht, den mütterlichen Organismus in
Schwangerschaftsreaction zu erhalten: es ist hie mit das
physiologische Ende der Schwangerschaft ein¬
getreten.
Der Uterus tritt wieder in normale Function und wird
durch die veränderte Mucosa zu Contractionen angeregt, deren
Intensität durch die Ausbildung der Musculatur und Nerven-
elemente, sowie durch die Masse des auszustossenden Inhaltes
bedingt ist. und die erst dann aufhören, wenn die Hauptmasse
veränderter Schleimhaut ausgestossen wurde (Geburt und Nach¬
wehen).
Der Geburtsact bereitet sich demnach allmälig vor, indem
mit der Ausbreitung der degenerativen Veränderungen der
Reiz abnimmt, wodurch das Gleichgewicht des in Schwanger¬
schaftsreaction befindlichen Uterus eine Störung erleiden muss.
Dies äussert sich auch in den im letzten Monate auftretenden
und sich häufenden Contractionen, die durch den Antagonis¬
mus zweier Factoren ausgelöst und behoben werden, durch
den Reiz der veränderten Mucosa (Decidua) einerseits und den
Reiz der lebenden Frucht andererseits, bis endlich durch die
Abschwächung des letzteren ersterer überwiegt.
Es soll noch hervorgehoben werden, dass die Decidua
als solche, als veränderte Uterusmacosa, die normal
functionirende Gebärmutter zu Contractionen anregen muss.
Möglicher Weise wäre auch den degenerativen Veränderungen
in der Decidua eine gewisse Bedeutung zuzumessen und daher
zu erwähnen, dass deren Ausbreitung durch die in den letzten
Wochen auftretenden Uteruscontractionen sowie die hie¬
durch bedingten mechanischen Gewebstrenn ungen gefördert
werden dürfte. Doch sind dies Momente, die erst in zweiter
Linie in Betracht kommen — ebenso wie z. B. auch die Masse
des Uterusinhaltes für die Wehenstärke massgebend ist —
und die mit der Ursache des Geburtseintrittes nicht in directem
Zusammenhänge stehen.
III.
Die Anwendung meiner Hypothese zur Erklärung des
anormalen Geburtseintrittes, der, trotz verschiedener Veranlas¬
sungen, immer auf dieselbe physiologische Ursache — Ausfall
des Reizes der lebenden Frucht — zurückgeführt werden
8) Die Kalkablagerungen in der Placenta materna dürften grössten-
theils Reste geschwundener Haftzotten sein.
muss — gestaltet sich, wie ich an einzelnen Beispielen nach-
weisen will, sehr einfach.
Fälle von Abortus oder Frühgeburt in Folge Erkran¬
kungen der Uterusmucosa sind auf die Art zu erklären, dass
in Folge der Erkrankung der Uterusschleimhaut die Placenta
in der Entwicklung Zurückbleiben muss. Dadurch wird die
Grenze ihrer Leistungsfähigkeit früher erreicht und die Geburt
bereitet sich in jenem Momente vor, in welchem sich der
Fötus im Verhältniss zur Placenta in solchem Masse entwickelt
hat, dass er das durch sie gelieferte Nahrungsmaterial zum
grössten Theile absorbirt.
Tritt ein Bluterguss zwischen Placenta und Uterus ein,
so ist der weitere Verlauf der Schwangerschaft vom relativen
Grössenverhältniss zwischen dem noch functionirenden, nicht
ausgeschalteten Placentarantheile und dem Fötus, somit auch
vom Alter der Frucht abhängig. Ist dieses Ereigniss beispiels¬
weise in den ersten Monaten der Schwangerschaft eingetreten,
so kann bei dem geringen Nahrungsbedürfnisse des Embryo
der unversehrte Antheil der Placenta noch genügend Material
zur eigenen und des Embryo Fortentwicklung aufbringen und
die Schwangerschaft kann ungefähr zum normalen Termine
enden, nur dass bisweilen ein in der Entwicklung zurückge¬
bliebenes Kind geboren wird.
Erfolgt die Blutung in einem späteren Monate, in welchem
der Nahrungsüberschuss für die Placenta schon ein geringer
ist, dann wird die Wirkung, d. i. Geburt, sofort oder in
kurzer Zeit eintreten müssen, da durch Ausschaltung eines
Theiles der Placenta dem noch functionirenden Reste auch
das geringe Nährmaterial, das demselben vorher zuströmte,
entzogen wird, wodurch es in diesem zu nekrobiotiscken Ver¬
änderungen kommen muss.
Die künstliche Einleitung der Geburt besteht darin, dass
durch mechanische Reizung Uteruscontractionen hervorgerufen
werden, die sich erst dann zu Geburtswehen steigern, wenn
eine mechanische Loslösung der Frucht und dadurch Ausfall
des Reizes der lebenden Frucht erzielt wurde.
Fieberhafte Erkrankungen der Mutter, pathologische
Processe im Fötus oder Tod desselben, Circulationsstörungen
in Folge Veränderungen an der Nabelschnur fuhren zuerst
zur Degeneration in der Placenta foetalis, die den Geburtsein¬
tritt verursacht.
Die Ursache der Uteruscontractionen bei ektopischer
Schwangerschaft ist ebenso wie bei normaler auf den Ausfall
des Reizes der lebenden Frucht zurückzuführen. Wie sich aus
der Beobachtung des Schwangerschaftsverlaufes ergibt, erfährt
der Mechanismus nur insoferne eine Aenderung, als der Uterus
nicht wie bei normalem Verlaufe unter directem, sondern in
Folge der Verlagerung der Haftstelle unter mittelbarem Ein¬
fluss des Eies steht, wie sich dies auch in der geringen Reaction
desselben äussert.
Nach Absterben oder Loslösung der Frucht entfällt auch
dieser indirecte Reiz, worauf der Uterus, zur Norm zurück¬
gekehrt, die veränderte Mucosa ausstösst.
Auch alle anderen, nicht speciell angeführten Fälle
anormalen Geburtseintrittes lassen sich unter Berücksichtigung
der Wechselbeziehung zwischen Fötus und Placenta aut die-
dieselbe Ursache — Ausfall des Reizes der Frucht zurück¬
führen, weshalb ich der Kenntniss dieser Vorgänge auch eine
gewisse praktische Bedeutung zuschreiben möchte.
Diese Hypothese liefert — wie erforderlich — auch die
ungezwungene Erklärung der typischen Schwangerschafts¬
dauer, die, trotz der zahlreichen Erörterungen, deren Gegen¬
stand sie war, gegenwärtig nur mit Zugrundelegung der
Vererbungstheorie und in weitgehender Anwendung derselben
erklärt wird.
370
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 16
Ueber den Einfluss des Alkohols auf die Aus¬
scheidung der reducirenden Substanzen im
Harne.
Von Adalbert Gregor, Cand. med., Innsbruck.
In einer Arbeit '): »Ueber die quantitative Bestimmung
der reducirenden Substanzen im Harne nach dem Verfahren
von Zdenek Peska«, in welcher ich den Einfluss ver¬
schiedener Ernährungsverhältnisse auf die Ausscheidung der
reducirenden Substanzen im Harne untersuchte, ergab es sich,
dass unter den im gewöhnlichen Leben hiebei in Betracht
kommenden Substanzen der Alkohol die einzige war, die eine
Steigerung der Reductionskraft des Harnes herbeiführte. Diese
Erfahrung schien mir von derartigem Interesse, dass ich be¬
schloss, die damals erhaltenen Resultate durch neue Experi¬
mente zu ergänzen.
Zur quantitativen Bestimmung der reducirenden Substanzen
diente mir auch diesmal das von mir für die Harnanalyse em¬
pfohlene Peska’sche Verfahren. Dasselbe beruht auf der von
P a v y 2) angegebenen Methode, nach welcher durch Ammoniak¬
zusatz zur F e h 1 i n g’schen Lösung ein scharfer Farbenumschlag
von Blau in farblos erzielt wird und ist insoweit ein Fortschritt
gegen Pav y's Verfahren, als der hiebei nöthige Abschluss der
Rcductionsflüssigkeit von der atmosphärischen Luft durch Ueber-
schichtung mit Paraffmöl erzielt wird. Schon in der citirten Arbeit
fand ich mich genöthigt, bei der Untersuchung normaler Harne auf
ihr Reductionsvermögen eine Modification der Methode Peska’s
vorzunehmen, auf die ich auch hier näher eingehen möchte. Bei
der Untersuchung nicht diabetischer, zumal niedrig gestellter Harne
tritt nämlich meistens bei Anwendung der von Peska empfohlenen
Methode ein schwer zu constatirender Farbenumschlag der dunkel¬
blauen Kupfersulfatlösung ins Schmutziggrüne ein. Es rührt dies
daher, dass zur Titration sehr bedeutende Harnmengen verwendet
werden müssen und kann dadurch vermieden werden, dass man
kleinere Mengen von Kupfersulfatlösung in Anwendung bringt. So
ergaben vergleichende Versuche, dass bei demselben Harne, der bei
der Titration mit 100c?«3 Peska’scher Lösung einen kaum wahr¬
nehmbaren, bei 50 c???3 einen noch undeutlichen Umschlag ergab,
derselbe bei weiter verminderter Flüssigkeitsmenge immer deutlicher
wurde und bei Quantitäten von unter 10 c???3 stets in zufrieden¬
stellender Weise eintrat.
Den Nachweis, dass eine derartige Veränderung der Menge
der Reductionslösung zulässig ist, suchte ich in der Weise zu
erbringen, dass ich eine circa V2%2»e Zuckerlösung herstellte und
dieselbe nacheinander mit 50, 20, 10 c???3 P e s k a’scher Flüssigkeit
titrirte und ebenso mit einer circa y4%igen Traubenzuckerlösung
verfuhr. Es stellte sich dabei heraus, dass die zur Reduction der
betreffenden Mengen Titrationsflüssigkeit verbrauchten Cubikcenti-
meter Zuckerlösung denselben proportional waren. Ein Gleiches
ergab die Berechnung des Procentgehaltes. Die Zahlen selbst
lauten:
Verwendete
Menge Peska-
scher Flüssig¬
keit in Cubik-
I centimetern
Zur Reduction ver¬
brauchte Zuckerlösung in
Cubikcentimetern
Procentgehalt
50
8-0
0-497
20
3-3
0-488
10
1-7
0-474
50
16-1
0-249
20
6-55
0-252
10
325
0-251
Eine noch grössere Verminderung der Titrationslösung vorzu¬
nehmen, halte ich für unzweckmässig, weil bei der Verwendung
noch geringerer Mengen die Fehlerquellen (Abmessung, Titrations-
’) Centralblatt für die Krankheiten der Harn- und Geschlechtsorgane.
1899, Bd. X, 240.
'-) Zeitschrift für analytische Chemie. 1880, 19, 98.
grenze) immer mehr in die Wagschale fallen. So macht die Ueber-
oder Untertitration um nur */l0c???3 bei 1/2°/<Poer Zucker- und
5c???3 Peska'scher Lösung einen Fehler von bereits 003% aus.
Es erscheint daher angezeigt, ausser in Fällen, wo man durch
überaus geringe Reductionsfähigkeit des Harnes — und mit solchem
hatte ich es in meiner früheren Arbeit zu thun — geradezu ge¬
zwungen ist, die Menge Peska’scher Flüssigkeit sehr zu ver¬
mindern, keinesfalls zu geringe Mengen derselben anzuwenden.
Für die folgenden Versuche wählte ich je 10 cm3 Reductions¬
lösung, da mir dieses Quantum für die zu erwartenden Verhält¬
nisse am angemessensten schien.
Ich kann diese Bemerkungen über die Methode nicht ab-
schliessen, ohne auf einen Umstand hingewiesen zu haben, der
leicbt die ganze Methode misscreditiren könnte. Im Laboratoriums¬
gebrauche wird bisweilen statt der empfohlenen Paraffinflüssigkeil
als Abschlussmittel Petroleum gewählt. Dieses Verfahren ist aber
entschieden unzulässig. Denn durch das Petroleum hindurch findet
eine Oxydation der reducirten Lösung statt und man kommt mit
der Titration nicht zu Ende, weil gegen Schluss der Titration die
langen Zwischenpausen hinreichen, um die Reduction des hinzu¬
gefügten V10 c???3 wieder aufzuheben.
Freilich findet der Erfahrene hinlänglich Anhaltspunkte (wie
das Eben-Reducirtwerden, die Raschheit der Verfärbung nach dem
letzten Zusatze reducirender Flüssigkeit etc.), um die Untersuchung
abkürzen zu können.
Als ein solcher Anhaltspunkt kann auch das specifische Ge¬
wicht des Harnes dienen, da es in gewisser Proportionalität mit
dem Gehalte an reducirenden Substanzen steht.
Indem ich nunmehr zu der Beschreibung der Versuche
selbst übergehe, führe ich als Grundlage derselben die Resul¬
tate an, die ich an einem Tage erhielt, an dem sich nach
mehreren Beobachtungen die Ausscheidung der reducirenden
Substanzen für die im Verlaufe der Experimente im Allge¬
meinen beobachteteten Verhältnisse als typisch erwiesen. Mit
ihnen sollen die sich nach Einführung eines oder des anderen
Factors ergebenden Ausscheidungen verglichen, nach ihnen
eventuelle Veränderungen der Quantität reducirender Sub¬
stanzen beurtheilt werden.
An sämmtlichen Versuchstagen nahm ich in jeweils ungefähr
gleichbleibender Menge Morgens 8V2 Uhr eine Tasse Kaffee mit
etwas Weissbrot, Mittags 1 — 1% Uhr Suppe, Braten, Mehlspeise
und circa 250 c???3 Gieshübler, Nachmittags 4 Uhr circa 50$ Ge¬
bäck, Abends 8 Uhr Braten und circa 400 c???3 Thee mit ungefähr
10 $ Zucker.
Der Versuch fand bei gewöhnlicher geistiger Thätigkeit und
Gemiithslage statt und ergab folgendes Resultat:
©
SJ
cd a
<D
TD
©
CD
© C
bß.S
E
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W
s s.3 g
■3 s " -t
ä - *
8-10
78
1-022
0-4040
03151
20
10—1
151
1023
0-2886
0-4357
2-8
1-4
119
1-026
0-4488
0-5341
1-8
4—7
96
1-025
0-4488
0-4308
1-8
7 — 10
104
1-025
0-5050
0-5252
1-6
10—7
241
1-024
0-4488
1-0816
1-8
t: • 0
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co y, >-< ©
SC! „ ■«-»
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_ CO C E
2 ® P v V3
Ph :0 3 g
Ein Vergleich des erhaltenen Ergebnisses mit den ent¬
sprechenden der erwähnten Arbeit3) lässt erkennen, dass die
daselbst aufgestellten Gesetze für die Abhängigkeit der Aus¬
scheidung an reducirenden Substanzen von der Nahrungs¬
aufnahme in gleicher Weise wiederkehren, dass aber die Aus¬
scheidungen im Ganzen erhöht sind.
Als Ursache hiefür sehe ich eine veränderte mit ge¬
ringerem Energieverbrauche verbundene Lebensweise an
(Weihnachtsferien).
3) 1. c. S. 248.
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
371
An dem Versuchslage wurden unter sonst ganz gleichen Be¬
dingungen um l'/2 Uhr Mittags unmittelbar nach dem Speisen und
Abends 10 Uhr nach vermindertem Theegenusse (circa 200 cm3)
je 500 cm3 Bukowinaer Dampfbieres genossen, dessen Analyse nach
Dr. Neumann Wender4 5) lautet:
Specifisches Gewicht . 1'0163
Extract . 4'85
Alkohol . -U26
Glycerin . 0230
Milchsäure . 0'120
Phosphorsäure . 0'042
Ursprünglicher Extract der Würze . 1337
Wirklicher Vergährungsgrad . . . 64' 16°.
Die Harnuntersuchung ergab folgende Wer the:
Zeit
1
Ausgeschiedene
Harnmenge in
Cubikcentimetern
Specifisches Gewicht
i
Procentgehalt des
Harnes an redu¬
cirenden Substanzen
i
Reducii ende Substanz
bezogen auf
Traubenzucker in
Grammen
10 cmz P e s k a’sche
Lösung, reducirt
durch Cubik-
centimeter Harn
Aii merk urig’
7-10
164
1 019
0.2607
0-4275
3-1
10-1
128
102
0-3232
0-4106
2-5
1-4
170
102
0-5373
0-9134
1-5
1. Biergenuss.
4—7
115
1-029
0-5743
0-6604
1-4
7-10
110
1-025
0-4752
0-5227
1-7
10—7
451
1-013
02093
0-9439
3-9
2. Biergenuss.
Am nächsten Versuchstage, an dem ich je die gleiche Menge
Bieres um 10 Uhr Vormittags und 4 Uhr Nachmittags trank, erhielt
ich folgende Werthe:
Zeit
Ausgeschiedene
Harumenge in
Cubikcentimetern
Specifisches Gewicht
Procentgehalt des
Harnes an redu¬
cirenden Substanzen
Reduc.rende Substanz
bezogen auf
Traubenzucker in
Grammen
10 c??i3 der Peska-
schen Lösung, redu¬
cirt durch Cubik-
centimeter Harn
Anmerkung !
7—10
346
1 011
0 1510
05165
5-5
10-10®/4
450
1-003
00516
0-2322
15-9
1. Biergenuss.
10»/4 — 1
294
1-007
0 1415
0-4160
5-8
1—4
177
1025
0-4040
0-7151
2-0
4-7
557
1-004
0-0932
0-5191
8-8
2 . Biergenuss.
7-10
143
1-024
0-4252
0-6080
1-9
10—7
298
1-023
0-4040
1-2039
2-0
Es sei noch bemerkt, dass die Zeit, in der die jedesmalige
Bieraufnahme stattfand, 15 Minuten betrug.
Die gefundenen Zahlen lassen eine deutliche Steigerung
der Reduction sk raft des Harnes im Anschlüsse an den Bier¬
genuss erkennen. Die Menge an reducirender Substanz er¬
reicht in der Periode 1 — 4 Uhr die sonst in der Nachmittags¬
ausseheidung nie beobachtete Höhe von 0 9134 g und ist noch
in den beiden folgenden Perioden gesteigert. Dass unter
solchen Umständen der Biergenuss am Abende nicht noch
eine Steigerung hervorrufen konnte, ist erklärlich. Aehnlich sind
die Ergebnisse des zweiten Versuches zu deuten. Der nach
der ersten Bieraufnahme in zwei Perioden ausgeschiedene
Harn enthält 0 6482(7 reducirender Substanz gegen eine dieser
Periode entsprechende Normalausscheidung von durchschnitt¬
lich 0 4 <7. Auch die nächste Periode ist noch erhöht, 0 715(7.
Der zweite Biergenuss um 4 Uhr Nachmittags übt seine
Wirkung wahrscheinlich in Folge der durch den ungewohnten ’)
Alkoholgenuss verursachten Verdauungsstörung erst in den
4) Wender, Lebensmittel und Gebrauclisgegenstände der Stadt
Czernowitz. 1891.
5) Verfasser pflegt sonst Alkohol in gar keiner 1 orm zu sich zu
nehmen.
zwei nicht unmittelbar anschliessenden Perioden 7 — 10 und
10 — 7 aus.
Wie man sieht, sind also die erhaltenen Resultate durch¬
aus eindeutig.
Thatsächlich war es mir aber diesmal weniger darum zu
thun, die Wirkung des Alkohols auf die Ausscheidung der
reducirenden Substanzen klarzulegen (sie ist schon durch die
Ergebnisse anderer Erscheinungen (i) hinlänglich verbürgt) als
vielmehr den Nachweis zu liefern, dass unter ganz denselben
Verhältnissen bis auf Ausschluss des Alkohols eine Steigerung
der Reductionskraft nicht stattfindet. Warum denn gerade
den Alkohol für eine physiologische Glykosurie verant¬
wortlich machen, wenn er nicht der einzige, ja beim Biere
nicht einmal der Hauptbestandtheil des alkoholischen Ge¬
tränkes ist? Krehl7), der die Einwirkung des Bieres auf die
Zuckerausscheidung im Harne studirt, führt als Einwand gegen
seine Deutung, dass der Alkohol die constatirte Mehraus¬
scheidung an Zucker hervorrufe, die Vermuthung an, es
könne der gleiche Effect auf die Maltose des Bieres zurück¬
geführt werden. In Wirklichkeit wurde der Einfluss der
Maltose meines Wissens darauf hin noch nicht geprüft, und
der Einwurf bleibt bei Krehl wenigstens aufrecht er¬
halten 7).
Auch mir stiegen Bedenken gegen die Bierexperimente
auf. Reine Maltose einzunehmen unterliess ich aber aus prak¬
tischen Rücksichten, halte es aber auch aus theoretischen
Ueberlegungen für gänzlich überflüssig.
Fürs Erste ist ja Maltose dem Organismus gar kein
fremder Körper. Steht es doch heute gegenüber der älteren
Anschauung, es werde das Stärkemehl durch die Verdauungs¬
fermente im Organismus in Dextrose verwandelt, durch neuere
Untersuchungen fest8), dass die Hälfte der aufgenommenen
Stärke in Maltose übergeführt werde. Es wäre also doch zum
Mindesten sonderbar, wenn der Organismus gegen die directe
Einführung eines von ihm selbst producirten Körpers revol-
tiren sollte.
Und dann: Was macht denn eigentlich das Bier zum
Biere? Offenbar die Vergäbrung der Maltose. In dem Masse
also, als der Alkoholgehalt steigt, muss der Gehalt an Maltose
sinken. Und die Einwirkung halb vergoltener Biere und die
einzelnen Stufen der Vergährung der maltosehaltigen Flüssig¬
keit im Bier zu studiren, dürfte praktisch undurchführbar sein
und kaum grosses Interesse beanspruchen.
Ich entnehme aus König’s Handbuch eine Angabe über die
Zusammensetzung der Bierwürze, die V. Schulze für eine
10%ige Wiener Würze als Mittel von vier Analysen durch directe
Summe des Extractes .
. . 9'584
Maltose .
. . 4-419
Dextrin .
. . 3-373
Protein .
. . 0-671
Asche .
. . 0-179
Sonstige Bestandtheile
. . 0-905.
lyse des fertigen Bieres
bietet nach K
Specifisches Gewicht
. . 1-0165
Wasser .
. . 90-27
Kohlensäure
. . 0-194
Alkohol .
. .* 3-95
Extract .
. . 5-78
Eiweiss .
. . 0-44
Zucker .
. . 0-68
Gummi .
. . 4-7
Milchsäure
. . 0145
Asche .
. . 0-234
Phosphorsäure
. . 0-077.
IV,
D Krehl, Centralblatt für innere Medicin. 1897. Nr. 40
7) K r e h 1, Pathologische Physiologie. Leipzig 1898, S '’l81"
• 8) Literatur bei : Bunge, Physiologische Chemie. 18J8, Bel.
181
9) Koni g, Die menschlichen Nahrungs- und Genussmittel. Zweite
Auflage. Bd. II, pag. 521.
pag.
372
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900
Nr. 10
Al so nicht die Spuren von Maltose sind es, die für die
Einwirkung des Bieres auf die Reductionsfähigkeit des Harnes
zur Verantwortung gezogen werden könnten. Das fertige Bier
enthält ja reichlich andere Substanzen, die dem Zweifel ge¬
nügende Anhaltspunkte geben.
Die ganze Angelegenheit ist aber mit einem Schlage er¬
ledigt, wenn wir uns durch einen energischen Willensact ent-
schliessen, die Ausscheidung nach dem Genüsse der nichts
weniger als wohlschmeckenden Bierwürze zu untersuchen, in
deren Gehalte nicht nur alle etwa in Betracht zu ziehenden
Bestandteile des Bieres wiederkehren, sondern noch obendrein
an erster Stelle die Maltose prangt.
Bei den gleich anzuführenden Versuchen nahm ich an zwei
aufeinanderfolgenden Tagen am ersten um 10 Uhr Vormittags und
4 Uhr Nachmittags jo 500 c?«3 gehopfte, am zweiten zu denselben
Tageszeiten die gleichen Mengen ungehopfter Bierwürze ein, die
derselben Brauerei und derselben Biergattung entstammte, deren
Bier ich bei den obigen Versuchen trank.
Zeit
Ausgeschiedene
Harnmenge inCubik-
centimetern
Specifiscbes
Gewicht
Procentgehalt des
Harnsanreducirenden(
Substanzen
Reducirende Substanz
bezogen auf Trauben¬
zucker in Grammen
10 cm3 der Peska-
schen Lösung redu¬
cirt durch Cubik-
centimeter Harn
Anmerkung
I.
7— lü
160
1-02
0-2321
0-3729
35
io— v2i
638
1-004
00694
0-4427
11*8
Bierwürze
V-4-4
248
1 021
0-2886
0-7151
2-8
'4-7
279
1012
0-1736
0-4843
4-7
Bierwürze
7—10
147
1*021
0-3513
05163
2-3
10-7
508
1-015
0-2331
1-1841
35
7—10
199
1-014
0-1600
0-3184
5-1
10-1
496
1-005
00586
0-2906
14-0 I Bierwürze
1-4
335
1-015
0-1773
0-5939
4-6
4-7
281
1-011
0-1026
0-2883
8"0 i Bierwürze
7—10
136
1-020
0-4040
0-5494
2-0
10—7
487
1-015
0-2607
1-1896
3-1
Nirgends ist eine Steigerung der Reductionskraft des
Harnes wahrzunehmen. Zwar findet sich in der Periode I
'/2 1 — 4 der verhältnissmässig hohe Werth von 0‘7151, aber
wir dürfen dennoch hierin nichts Widersprechendes erkennen,
weil er einerseits einer B’/oStündigen Ausscheidung entspricht,
andererseits vor- und nachher geringe Mengen reducirender
Substanz ausgeschieden wurden.
Die für das Bier erhaltenen Ergebnisse dürfen natürlich
auch auf die übrigen zumeist minder extractreichen alkoholi¬
schen Getränke übertragen werden. Wie überhaupt der blosse
Alkoholzusatz die Wirkung irgend eines Getränkes auf den
Organismus gründlich verändern könne, wollte ich noch in
anderer Weise darthun.
Dass Traubenzucker an sich keine Vermehrung der re-
ducirenden Substanzen im Harne hervorruft, steht durch
B re u l’s I0) Versuche fest; dass ein Gemenge von Traubenzucker
und Alkohol ganz andere Resultate liefert, erweisen folgende
Versuche :
50 g Dextrose wurden mit 50 c?«3 absoluten Alkoholes ver¬
setzt und das Ganze auf 500 c??t3 mit Wasser aufgefüllt. Von
diesem Alkoholsyrup genoss ich um 11 Uhr Vormittags 150 cm1
und, nachdem die Folgen für das Sensorium wider Erwarten glimpf¬
lich waren, am Nachmittage um 2 Uhr 200 ciivK Da sich diese
in) Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie.
Ed. XL, I.
Versuche der Zeit nach den Bierexperimenten anschlossen und man
daher von dieser Seite eine Beeinflussung voraussetzen konnte,
lasse ich den erhaltenen Ergebnissen die Daten vorangehen, welche
ich an dem dem Biergenusse folgenden Tage erhielt, um darzu-
thun, dass sich ein solcher Einfluss thatsächlich nicht geltend
machen konnte.
Zeit
Ausgeschiedene
Harnmenge in Cubik-
centimetern
Specifiscbes
Gewicht
Procentgehalt des
Harnsanreducirenden
Substanzen
Reductionssubstanz
bezogen auf Trauben¬
zucker in Grammen
1
100cm3 der Peska-
sehen Lösung, redu¬
cirt durch Cubik-
centimeter Harn
Anmerkung
7-10
166
1 021
03513
0-5834
2-3
10-1
120
1-020
0-4040
0-4848
2-0
60
d
1-4
102
1025
0 4488
0-4577
1-8
4-7
111
1031
0-4752
0-5274
1-7
a
7—10
101
1-032
0-5386
0-5439
1*5
o
10-7
268
1034
0-4488
1-2027
1-8
<4
Die Zahlen sind offenbar ganz normal, wenn auch die Aus¬
scheidung 7 — 10 Uhr Morgens etwas höher reducirt, so erreicht
doch im Verlaufe des Tages die Reductionskraft ihren normalen
Verlauf. Hingegen ergab der Genuss des beschriebenen Alkohol-
syrupes folgende Werthe:
Zeit
Ausgeschiedene
Harnmenge in Cubik-
centimetern
ISpecifisches
Gewicht
Procentgehalt des
Harnsan reducirenden
Substanzen
Reductionssubstanz
bezogen auf Trauben¬
zucker in Grammen
10cm3 der Peska-
schen Lösung, redu¬
cirt durch Cubik-
centimeter Harn
Anmerkung
7—10
66
1 028
0-4752
0-3136
1-7
10-7
214
1-028
0-4752
1-0169
1-7
7—10
98
1-025
0-3673
03539
2-2
10—1
141
1023
0-3848
0-5425
2-1
Alkoholsyrup
1—4
341
1-013
0-2473
0-8433
3-3
Alkoholsyrup
4-7
119
1-025
0-5050
06009
1-6
7-10
94
1 027
0-5757
0-5411
1-4
10-7
410
1-016
03232
1-3251
2-5
Die
erste
Aufnahme des
alkoholischen Getränkes ge
fast spurlos vorüber, was zum Theile der geringen genossenen
Alkoholmenge zuzuschreiben ist, zum Theile aber auch dadurch
verursacht wurde, dass ich, um die üblen Empfindungen zu
verscheuchen, einen Spaziergang bei — 10° unternahm. Und dass
eine so erzeugte Vermehrung der Wärmeabgabe leicht die zu
erwartende Mehrreduction compensiren kann, habe ich in
der citirten Arbeit nachgewiesen. n) Ganz anders stellten sich
die Verhältnisse nach der zweiten verstärkten Alkoholaufnahme.
Hier -wurde absichtlich nach derselben vollkommen physische
Ruhe beobachtet und der Erfolg war eine ganz bedeutende
Mehrreduction in der folgenden Periode 1—4); ja noch die
nächste (4 — 7) scheint noch beeinflusst. Die Periode (7 — 10)
zeigt ein Sinken, die darauffolgende ein Steigen.
Offenbar wurde hier die durch das Abendessen bedingte
Mehrausscheidung durch die noch anhaltende Alkoholeinwir¬
kung verstärkt.
Ueberhaupt erscheint mir der Einfluss des reinen Al¬
kohols in dieser Richtung als verhältnissmässig gedehnt, indem
sie nicht in unmittelbar folgender Ausscheidung die Menge
reducirender Substanzen plötzlich erhebt, sondern sich gleich-
mässig auf mehrere Perioden erstreckt; eine Vermuthung, die
auch durch folgende Zahlen gestützt wird, welche ich am
folgenden Tage durch einen abermaligen Genuss von 150 c»?3
desselben Syrups, denen noch 5 c???3 absoluter Alkohol beige¬
fügt waren, erhielt.
1!) 1. c. S. 257.
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
373
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Anmerkung*
7—10
368
1-011
01243
0-4647
65
10—12 7,
313
1-010
0-1243
0-3950
65
12'/2-4
175
1021
03513
0-6147
2-3
4-7
183
1024
0-2786
0-5098
2-9
7—10
100
1024
0-5050
0-5050
1-6
Alkoholsyrup.
10—7
318
1025
0-4488
1-4271
1-8
Die Ausscheidung an reducirender Substanz in der ent¬
sprechenden Periode ist verhältnissmässig nur wenig gesteigert,
erreicht aber während der Nacht die sonst nie beobachtete
Grösse von 1-4271 (/.
Ich kann also als Resultat meiner neuerlichen Unter¬
suchungen meine in der öfters citirten Abhandlung aufgestel'te
Behauptung: Der Alkoholgenuss erzeugt eine Erhöhung der
Reductionsfähigkeit des Harnes, dahin modificiren: Der Genuss
alkoholischer Getränke, vor Allem des Bieres, ruft eine aus¬
schliesslich auf den Alkoholgehalt derselben zurückzuführende
Steigerung der Reductionsfähigkeit des Harnes herbei.
Dabei könnte man selbstverständlich an eine Steigerung
der Ausscheidung aller iiu Harne vorkommenden Substanzen,
die ammoniakalische Kupferlösung reduciren, denken, so
Kreatin, Kreatinin, deren diesbezügliches Verhalten ich näch¬
stens zu veröffentlichen gedenke ; im Zusammenhänge aber
mit den Ergebnissen Breul’s dürfte jedenfalls in erster Linie
dem Traubenzucker die wesentliche Rolle zuzuschreiben sein.
REFERATE.
I. Mittel und Wege zur Schaffung und Erhaltung eines
entsprechenden Sanitäts-Hilfspersonales für die Militär-
Sanitätsanstalten und die Truppen im Frieden und im
Kriege.
Von Dr. Eduard Bass, k. u. k. Regimentsarzt etc.
Vom k. u. k. Militär-Sanitätscomite gekrönte Preissclirift.
8U, 155 Seiten.
Wien 1900, Josef Safar.
II. Leitfaden der Militärhygiene für den Unterricht der
Einjährig-Freiwilligenärzte.
Von Dr. Johann Schöfer, k. u. k. Oberstabsarzt.
* . 7
Zweite umgearbeitete Auflage. Mit neun Abbildungen.
8n, 116 Seiten.
Wien 1900, Josef ft a f ä f.
III. Eine applicatorische Uebung im Freien für
Militärärzte und Sanitätsofficiere.
Von Gustav Wolff, k. und k. Oberlieutenant, zugetheilt dem Generalstabe.
Mit 1 Ordre de bataille und 4 Skizzen. 16°. 23 Seiten.
Wien und Leipzig 1899, Wilhelm Braumiiller.
IV. Ein Vorschlag zur Ventilation fahrender Eisenbahn¬
waggons.
Von Dr. A. Hinterberger.
Sonderabdruck aus der »Zeitschrift des österreichischen Ingenieur- und
Architekten-Vereines«. 1899, Nr. 32.
Wien 1899, im Selbstverläge des Verfassers.
I. Die überaus gediegene Studie sucht alle jene organisatori¬
schen Massnahmen darzulegen, welche bezüglich Wahl, Ausbildung
und Verwendung des Sanitäts-Hilfspersonales getroffen werden
müssen, um den Militärärzten und dem Sanitätsdienste bei der
Armee überhaupt ein geschultes und verlässliches Unterpersonal zu
schaffen. Dies wäre in erster Linie durch Stabilisirung des
Truppen-Sanitäts-Hilfspersonales zu bewerkstelligen,
da derzeit der grösste Theil der Krankenpfleger nur vorübergehend
in dieser Dienstesverwendung steht.
Die concreten, bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten Anträge
des Verfassers betreffen die Fürwahl und Ausbildung der Sanitäts¬
gehilfen, die Schaffung von ständigen Truppen-Krankenpflegern, von
Spitalsdienern, von Blessirtenträger-Compagnien bei den Divisions-
Sanitätsanstalten und von Hilfsblessirtenträgern, dann die Verlegung
der rein militärischen Ausbildung der Sanitätstruppe zur Infanterie
u. a. m. Alle Vorschläge beruhen auf äusserst genauen, zum 1 hei 1
sehr complicirten Rechnungen und zeigen das Bestreben, ohne
Heranziehung grosser, neuer personeller Mittel durch blosse Um¬
lagerung der vorhandenen Kräfte das Ziel zu erreichen.
Wendet sich • auch das Buch vorzüglich an die zur organi¬
satorischen Umgestaltung des Heeres-Sanitätswesens berufenen fac-
toren, so bietet es doch allen Militärärzten eine Fülle von An¬
regungen und Belehrungen, so dass es allseits bestens empfohlen
werden kann.
*
II. Als langjähriger Lehrer der Einjährig-Freiwilligenärzte
am Garnisonsspitale Nr. 1 in Wien war der Verfasser wohl ganz
besonders berufen, alle jene einschlägigen Kenntnisse in möglichst
gedrängter Form und doch erschöpfendem Umfange zusammenzu¬
fassen, welche dem Militärärzte zur zweckdienlichen Ausübung
seines Berufes als praktischer Hygieniker unentbehrlich sind. Dass
das Büchlein einem wirklichen Bedürfnisse entsprach, zeigt das Er¬
scheinen einer zweiten Auflage binnen Jahresfrist.
Die Erörterungen erstrecken sich auf die Ernährung und die
Nahrungsmittel, wobei selbstverständlich der Ernährung des Soldaten
besonderes Augenmerk geschenkt wird, aul die Wasserversorgung,
die militärischen Unterkünfte, die Bekleidung und Rüstung, ferner
auf die hygienischen Verhältnisse bei den militärischen Hebungen
und auf die Infection skrankheiten. Dieses Capitel hat in der vor¬
liegenden Auflage eine ausführlichere Behandlung erfahren, als
früher.
Das besprochene Buch wird nicht nur den Einjährig-! rei-
willigenärzten hochwillkommen sein, sondern auch allen activen
Kameraden als handliches Nachsch lagebuch, sowie als Behelf zur
Vorbereitung für die Stabsarztprüfung gute Dienste leisten.
*
III. W o 1 ff’s Büchlein ist ein neuer, willkommener Beitrag zu
der auf Schulung der Militärärzte im Eeld-Sanitätsdienste ab-
zielenden Literatur. Die Arbeit besteht in »Annahmen« für eine
im Gelände selbst durchzuführende applicatorische Uebung. Die
»Lösungen« der Aufgaben werden nicht geboten, jedoch in Aus¬
sicht gestellt. Als Uebungsterrain ist der historische Boden von
Königgrätz gewählt. Vier treffliche Skizzen erhöhen den Werth der
Arbeit.
*
IV. Um in den Eisenbahnwaggons langer Fahrt, besonders wäh¬
rend der kalten Jahreszeit, den Belästigungen, sowie den Gesund¬
heitsstörungen durch Luftverunreinigungen vorzubeugen, legt Doctor
Hinterberger den Ingenieuren einen trefflichen Vorschlag zur
Begutachtung, technischen Detaillirung und Berechnung vor.
Von der Thatsache ausgehend, dass sich in der Nähe eines
bewegenden Eisenbahnzuges in Folge des aufgewirbelten Staubes
und der verschiedenen Emanationen der Maschine keine hygienisch
zulässige Frischluft vorfindet, verlangt der Autor die Entnahme der
Ventilationsluft vor der Spitze des Zuges durch an der
Stirnseite der Maschine befindliche, fast so weit wie die Puffer¬
enden vorstehende, grosse Auffangtrichter, von denen Rohre über
den Zug wegziehen und im Inneren der Waggons enden, lim Zug¬
luft zu vermeiden, müsse der Austritt an der Decke der Waggons
durch zahlreiche kleine Oeffnungen erfolgen und eine Vorwärmung
der Ventilationsluft stattfinden. Letzteres könne durch Ausnützung
der Jleizvorkehrungen oder durch eigene elektrische Heizkörper
geschehen. — Weitere Details müssen im Originale nachgesehen
werden.
Der sinnreiche Vorschlag des Verfassers verdient vollste Be¬
achtung. Für Militärärzte ist die Angelegenheit mit Bücksicht aul
die Wichtigkeit der Ventilirung von Lazarethzügen besonders
interessant. T Steiner.
374
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 16
Lehrbuch der Histologie und der mikroskopischen Ana¬
tomie mit besonderer Berücksichtigung des menschlichen
Körpers, einschliesslich der mikroskopischen Technik.
Von Ladislaus Szymonowicz (Lemberg).
Mit 169 Original -Illustrationen im Text und 81 desgleichen auf 52, theils
farbigen Tafeln.
1. und 2. Lieferung.
W ü r sc b n r g 19'JO, A. Stube r.
Die vorliegenden Lieferungen dieses auf beiläufig fünf Liefe¬
rungen berechneten Lehrbuches der Histologie überraschen durch
eine auffallend reiche Ausstattung und wirklich künstlerische Aus¬
führung der Abbildungen, welche durch die beigegebenen, theilweise
mehrfarbigen Tafeln, die in den Text eingeschaltet werden sollen,
noch erhöht wird. Das Werk wird somit als erstes in der histo¬
logischen Literatur Lehrbuch und Atlas vereinigen. Die Abbildungen
scheinen grösstentheils sorgfältig nach Originalpräparaten gezeichnet,
ein kleiner Theil sind Nachbildungen. Die textliche Darstellung
scheint sehr concis — nach meiner Meinung vielfach sogar allzu
kurz gefasst — und den neuesten Forschungsergebnissen Rechnung
tragend; über dieselbe, sowie über den sachlichen Inhalt und
didaktischen Werth des Buches kann ein Urtheil erst gefällt werden,
wenn das Werk vollendet vorliegt, was hoffentlich nicht in allzu
langer Zeit der Fall ist. J. Schaffer, Wien.
I. Rhinologie. Laryngologie und Otologie in ihrer Be¬
deutung für die allgemeine Medicin.
Von Dr. E. P. Friedrich, Privatdocent an der Universität Leipzig.
Leipzig 1899, F. C. W. V o g e 1.
II. Die Krankheiten der Mundhöhle, des Rachens und
des Kehlkopfes.
Von Dr. Albert Rosenberg.
Berlin, S. Karger.
III. Zur Morphologie der Epiglottis.
Von Dr. R. Henke.
B e r 1 i n 1899, Oskar Coblentz.
I. Im vorliegenden Werke bespricht Verfasser die zahlreichen
Berührungspunkte der allgemeinen Medicin mit der Laryngo-,
Rhino- und Otologie und macht hiebei auf die Wichtigkeit der
richtigen Beurtheilung jener bei den verschiedenen Krankheiten des
allgemeinen Organismus auftretenden Symptome aufmerksam,
welche schon in die oben erwähnten Specialfächer einschlagen und
für die Erkenntniss der allgemeinen Krankheit von ausserordent¬
licher Bedeutung sind. Wir haben hiemit mit keinem streng spe-
cialistischen Buch zu thun, Verfasser hat sich vielmehr die Aufgabe
gestellt, die scharfen Grenzen, welche jetzt noch vielfach zwischen
diesen Specialfächern und der allgemeinen Medicin bestehen, auf¬
zuheben und die Verbindung zwischen denselben zu einer engeren
zu gestalten. Zu dem Zweck schildert Verfasser die vielfachen
Wechselbeziehungen zwischen den Krankheiten des allgemeinen Or¬
ganismus und jenen der Nase, des Rachens, des Kehlkopfes und
der Ohren und illustrirt dieselben durch knapp gefasste, aber doch
sehr genaue Krankheitsbilder, welche eben durch ihre Exactheit
besonders geeignet erscheinen, dem nachschlagenden praktischen
Arzte eine sehr werthvolle Hilfe und Unterstützung in der Be¬
urtheilung des ihm vorliegenden Krankheitsfalles zu gewähren.
Wenn auch sämmlliche Capitel des Buches ganz ausserordent¬
lich gewissenhaft und erschöpfend bearbeitet sind, möchten wir
doch jene über die Nervenkrankheiten und die Infectionskrankheiten
als ganz besonders gelungen bezeichnen.
*
II. Es liegt nun die zweite Auflage des bekannten Bucbes
von Dr. Rosenberg über Laryngo- und Rhinologie vor. Diese
neue Auflage hat bedeutende Veränderungen und Erweiterungen
erfahren in Folge der nothwendig gewordenen Berücksichtigung von
zahlreichen dieses Specialfach berührenden Arbeiten, welche in der
letzten Zeit erschienen sind.
Dank den Erfahrungen aus den Aerztecursen, als auch aus
dem studentischen Unterricht, welche sich Verfasser während seiner
zwölfjährigen Thätigkeit als Assistent von Prof. Fränkel erworben
hat, erscheint uns das Buch speciell für Studirende ganz besonders
geeignet.
Die Ausstattung des Buches, welchem zahlreiche Abbildungen
beigegeben sind, ist vorzüglich.
*
IH. Im ersten Abschnitte der vorliegenden Brochure bespricht
Verfasser mit Berücksichtigung der Literatur die physiologisch vor¬
kommenden Varietäten der Epiglottis in Bezug auf ihre Form und
Lage. Im zweiten Theile werden die Formveränderungen der Epi¬
glottis bei den verschiedenen Krankheiten der oberen Luftröhre
beschrieben und besonders ausführlich werden jene Veränderungen
behandelt, welche durch von der Epiglottis ausgehende Tumoren
bedingt sind. Die am häufigsten vorkommenden Formver¬
änderungen der Epiglottis sind durch zahlreiche, meistens ganz gut
gelungene Abbildungen veranschaulicht. K o s c h i e r.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
107. (Aus dem physiologischen Institute zu Erlangen.) Ueber
einen bequemen Nachweis von Aceton im Harne
und anderen Körperflüssigkeiten. Von Dr. Oppen¬
heimer. Nachfolgende Probe soll weit empfindlicher als die
übliche Jodoformprobe sein noch bei 1 : 800.000 eine Reaction
geben und bei reinen Zuckerharnen nicht auftreten. Das Reagens
ist nach folgendem Verhältniss zusammengesetzt: Hydrarg. oxyd.
flavi v. hum. parat. 50 0, Acid. sulf. conc. 200'0, Aq. d. lOOO'O.
Zuerst wird die Schwefelsäure, dann das Hg O ins Wasser gegeben,
das Ganze 24 Stunden stehen gelassen und filtrirt. Zu etwa
3 cm 3 unfiltrirten Harn wird tropfenweise so lange Reagens zuge¬
setzt, bis die entstehende Trübung nicht mehr durch Umschütteln
verschwindet, worauf noch einige Tropfen hinzugefügt werden. Man
lässt dann durch drei Minuten den Niederschlag sich setzen, filtrirt
durch ein dickes Filter, bis das Filtrat klar ist; diesem werden
dann noch etwa 2 cmz Reagens und 3 — 4 c?«3 einer 30%igen
Schwefelsäure zugesetzt. Das Ganze wird ein bis zwei, höchstens
vier Minuten an der Flamme oder im Wasserbade erhitzt. Tritt
ein dicker, weisser Niederschlag, der sich in überschüssiger Salz¬
säure fast ganz auflöst, auf, so ist reichlich Aceton vorhanden. Der
Niederschlag fällt nur in sehr verdünnten Lösungen aus. Verfasser
theilt auch eine Methode mit, durch die mit dem gleichen Reagens
eine quantitative Bestimmung des Aceton vorgenommen werden
könnte. — (Berliner klinische Wochenschrift. 1899, Nr. 38.)
*
1 08. Histologische Untersuchungen bei experi-
m enteil erzeugter Osteo myelitis. Von Prof. Enderlen
(Marburg). Es handelte sich darum, die Behauptung Marwedel’s,
dass grosse eosinophile Markzcllen in Bindegewebszellen übergeben
können, einer Nachprüfung zu unterziehen. Die Versuche wurden
an Kaninchen angestellt, denen der Femur mit einem Drillbolwer
durchbohrt und dessen Mark dann mechanisch zerstört, beziehungs¬
weise bei späteren Versuchen mit Eitercoccen inficirt wurde. Im
ersten Falle fand Enderlen unter Anderem, dass die Nekrose nur
eine ganz umschriebene bleibt, die Regeneration von den Binde¬
gewebszellen ausgeht, dass aus den eosinophilen und pseudoeosino¬
philen Zellen keine Spindelzellen entstehen und die Einwanderung
von Markzellen aus der Umgebung statthat. Die eiterige Entzündung
des Knochenmarkes unterscheidet sich wesentlich von der anderer
Organe, indem hier in den Herd die leukocytären Elemente direct
aus der Umgebung einwandern, ohne erst den Umweg durch die
Blutgefässe zu machen. — (Separatabdruck aus der Deutschen
Zeitschrift für Chirurgie. Bd. LIT.)
*
109. DieBehandlung der Ischias mit Methylen-
b 1 a u. Von G. Klemperer (Berlin). Unter 27 Fällen typischer,
mit Methylenblau behandelter Ischias waren sechs Fälle in ausge¬
zeichneter Weise durch das Mittel beeinflusst worden, so dass die
Krankheit in 10 bis 15 Tagen als definitiv geheilt bezeichnet
werden musste, während 13 Fälle sieben bis zehn Wochen zur
Heilung gebraucht haben; achtmal hat das Präparat gar keinen
Einfluss gehabt. Klemperer empfiehlt: Methyleni coerul.; Semen
myristicae aa. 0T in Caps, gelat. Nr. G0. Täglich drei bis sechs
Stück. Der Zusatz von Semen myristicae soll eine mögliche Blasen¬
reizung verhindern. Auf die blaue Verfärbung des Urins sind die
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
375
Kranken aufmerksam zu machen. — (Die Therapie der Gegenwart.
1899, Nr. 11.)
*
110. Blaublindheit bei Schrumpfniere. Von
C. Gebhardt. König hat seinerzeit unter Anderen bei 14 an
Retinitis albuminurica leidenden Personen Blaublindheit feststellen
können und Gebhardt neuerdings dasselbe Verhalten hei drei
Fällen von Schrumpfniere. — (Münchener medicinische Wochen¬
schrift. 1900, Nr. 1.)
*
111. Ueber die therapeutische Anwendung
der Ei gone (Jodeiweisssverbi ndungen). Von Doctor
Ghrzelitzer (Posen). Man unterscheidet unter Anderem ein
a-Eigon (Albumen jodatum) und ein ß-Eigon (Peptonum jod.). Sie
wirken in der Weise, dass die Verbindung zersetzt und das frei¬
werdende Jod sofort wieder durch andere Eiweissstoffe gebunden
wird. Aeusseriich als 10 bis 20%iges Streupulver oder 5°/0ige
Salbe angewendet, sollen sie eine schnell granulirende, stark anti¬
septische und desodorisirende Kraft besitzen, innerlich (a-Eigon-
natrium 5 0. solve in Aqu. ferv. 20 0, Syr. cort. aur. lSO'O, drei¬
mal täglich ein Esslöffel) appetitanregend wirken. Verfasser nennt
sie ein ideales Wundstreupulver und hat namentlich das a-Eigon
bei hartem Schanker, Hautgummen, Balanitis, Unterschenkel¬
geschwüren mit gutem Erfolge angewendet. — (Monatshefte lür
praktische Dermatologie. Bd. XXIX, Nr. 8.)
*
112. Str enge Milch euren b er i Diabetes mellitus.
Von Prof. Winternitz und Dr. Strass er (Wien). Die Ergeb¬
nisse der an Diabetikern bei Einhaltung strenger Milchcur von den
Verfassern gemachten Beobachtungen sind unter anderen folgende:
Eine strenge Milchcur macht in kürzester Zeit, meist schon nach
48 Stunden, die Mehrzahl der Diabetiker, auch jugendlicher und
selbst solcher, die durch Karlsbadercuren keinen Erfolg gehabt
haben, zuckerfrei oder vermindert zum Mindesten sehr beträchtlich
die Zuckerausscheidung. Besteht gleichzeitig Albuminurie, so
schwindet oder nimmt auch letztere ab. In manchen Fällen tritt
beim Uebergange zur gemischten Diät oder bei Zugabe von Fleisch
zur Milch, der Zucker aufs Neue auf, so dass eine Wiederholung
der Milchcur nothwendig ist: überhaupt ist nicht zu entscheiden,
ob beim Uebergange von strenger Milchcur zur gemischten Kost
nicht die Zugabe von grünen Gemüsen und Cerealien jener von
Fleisch vorzuziehen sei. Manche Diabetiker werden durch die Milch¬
cur vollständig geheilt und bleiben es auch bei gemischter Kost
und reichlicher Zufuhr von Amylaceen. — (Centralblatt für innere
Medicin. 1899. Nr. 45.)
*
113. (Aus der medicinischen Poliklinik des Prof. Penzoldt
in Erlangen.) Orexinum tannicum als appetitanregen¬
des Mittel. Von Dr. Z e 1 1 n e r. Den früher in Verwendung ge¬
standenen Orexinpräparaten, d. i. dem O. muriaticum, dann dem
O. basicum hafteten verschiedene unangenehme Nebenwirkungen,
wie Brennen im Munde an, was bei dem in neuerer Zeit herge¬
stellten Mittel, dem 0. tannicum nicht der Fall ist, weshalb dieses
ohne Umhüllung gegeben werden kann, ln 53 Fällen, in denen
das Mittel verabreicht worden war, wobei gleichzeitig Aufzeichnun¬
gen gemacht wurden, war 30mal sofort oder in den ersten Tagen
die appetiterregende Wirkung - — - in einzelnen Fällen sogar das
Gefühl des Heisshungers — eingetreten, neunmal war die Wirkung
undeutlich und 14mal war sie ganz ausgeblieben. Die zu verab¬
reichende Dosis beträgt (43 — 0'5 ein- bis zweimal täglich und
wird besonders anlässlich der bei beginnender Lungentuberculose,
anämischen Zuständen, Reconvalescenten, Nervösen etc. bestehenden
Appetitlosigkeit angewendet. Die streng wissenschaftiche Indication
besteht in der Herabsetzung der Salzsäuresecretion ; da man die
Untersuchung des Magensaftes nicht immer leicht vornehmen kann,
ist — bei der zweifellosen Unschädlichkeit des Mittels — dasselbe
abgesehen von der ursächlichen Behandlung, versuchsweise zu
geben. — (Die Therapie der Gegenwart. 1899, Nr. 11.) Pi.
THERAPEUTISCHE NOTIZEN.
Ueber das Holocain und dessenEin Wirkung auf
das Hornhautepithel und auf die Heilung per for i-
render Horn hautschnitte. Von A 1 b i n Daten. (Aus: Mit¬
tbeilungen aus der Augenklinik des carolinischen medico-chirurgischen
Institutes zu Stockholm. Herausgegeben von Prof. J. Widmark.
Jena 1899, G. Fischer.) Auf Grund einer Gegenüberstellung der
ausserordentlichen Vortheile, andererseits auch der Nachtheile, welche
die Anwendung des Cocains hei Augenoperationen mit sich bringt,
kommt Dalen zu dem Schlüsse, dass es gerechtfertigt ist, Ersatz¬
mittel des Cocains auf ihre Brauchbarkeit zu prüfen und hat als
solches das Holocain ins Bereich seiner Untersuchungen gezogen. Das¬
selbe hat vor dem Cocain den Vorzug, dass es sich beim Kochen
nicht ändert und selbst antiseptische Eigenschaften besitzt, dass es
auch bei entzündeten Augen wirkt und die Pupillenweite, sowie den
intraoeulären Druck nicht beeinflusst. Von seinen Fehlern ist der
grösste seine starke Giftigkeit, sowie die Schädigung des Hornhaut¬
epithels bei öfterer Einträufelung, weshalb es sich vorzugsweise für
kurz dauernde Eingriffe (z. B. Entfernung von Fremdkörpern aus der
Cornea) eignet.
Den durch das Holocain bewirkten Epithel Veränderungen hat
der Verfasser besondere Aufmerksamkeit gewidmet und glaubt auch
Unterschiede zwischen denselben und jenen nach Cocaineinträufelungen
entstandenen aufgefunden zu haben, welche darin bestehen, dass die
holocainisirte Cornea an den veränderten Partien mehr eben und matt¬
grau, die cocainisirte mehr feinhöckerig, hie und da auf der Ober¬
fläche fein zerfetzt und mehr grau gefleckt erscheint. Nach kurzer Ein¬
wirkung des Mittels kehrt ungefähr gleichzeitig mit der Sensibilität
auch das normale Aussehen der Hornhautoberfläche zurück; nach
länger fortgesetzter Einträufelung konnte er jedoch noch nach
24 Stunden oberflächliche Flecken in der Cornea erkennen. Mikrosko¬
pisch untersucht zeigt eine holocainisirte Hornhaut eine Coagulations-
nekrose, welche in der Schichte der polygonalen Zellen anfängt, zu¬
letzt aber das ganze Epithel in eine homogene Masse umwandelt; bei
Cocaineinwirkring dagegen werden die obersten Zellen abgestossen und
bilden einen Detritus, während die darunterliegenden vaeuolisirt und
schliesslich auch abgestossen werden.
Da nach Mellinger’s Untersuchungen das Cocain die Heilung
der Hornhautwunden stört, und zwar, wie er annimmt, durch eine
lymphatische Anämie, welche verhindert, dass der gewöhnliche primäre
Wundverschluss durch ein directes Aneinanderlegen der Lamellen oder
durch fibrinöse Verklebung zu Stande kommt, so dass der Wund¬
verschluss ausschliesslich vom Epithel besorgt wird, so wiederholte
Dalen diese Versuche, indem er kurze Schnittwunden in der Mitte
der Cornea von Kaninchen anlegte, einerseits unter Anwendung von
Cocain, andererseits von Holocain, endlich ohne locale Anästhesie in
Aethernarkose und die Heilungsvorgänge an gleichalterigen Wunden
verglich. Dabei erhielt er das Resultat, dass der primärlamelläre Ver¬
schluss sehr wohl auch bei Cocain- oder Holocainanwendung Vor¬
kommen kann, dass ebenso auch eine reichliche Fibrinausscheidung
sieb eiDstellen kann, und dass das Epithel an verschiedenen Stellen
der Wunde sehr verschieden tief eindringt. Es besteht also durchaus
kein wesentlicher Unterschied in den Heilungsvorgängen zwischen den
drei unter verschiedenen Bedingungen angelegten Schnittwunden.
Wintersteiner.
*
Untersuchungen über Naphthalan. Von Doctor
Spiegel und Dr. N a p h t a 1 i. Die Untersuchungen haben ergeben,
dass Naphthalan ein nahezu reines Mineralfett ist, das durch seine
Consistenz, Emulgirbarkeit, Aufnahmsfähigkeit für wässerige und wein-
geistige Lösungen, Unveränderlichkeit, seine antiseptische Wirkung
sich hervorragend zur Salbengrundlage, wie als Verband mittel eignet.
(Therapeutische Monatshefte. 1900, Nr.
3.)
Ueber Kryofin. Von Dr. Br ei ten stein (Basel).
Kryofin — Methylglykolsäurephenetidid, ein geschmack- und geruch¬
loses, in Wasser schwer lösliches Pulver wird zu 0'5 — 10 pro dosi
und etwa 2 0 pro die in Kapseln als Antipyreticum und namentlich
auch als wirksames Antineuralgicum oft auch bei Migräne mit gutem
Erfolge- verabreicht. Soll keine besonderen Nebenwirkungen besitzen.
— (Theraneutische Monatshefte. 1900, Nr. 3.) Bi.
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Ernannt: Dr. P. Popp er t zum o. Professor der Chirurgie
in Giessen. — Dr. Göppert zum a. o. Professor der Anatomie
in Heidelberg. — Prof. Cramer zum Director der Irrenanstalt
in Göttin gen. — Dr. Nikol ski in Kiew zum a. o. Professor
für Dermatologie und Syphilis in Warschau.
376
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 16
Verliehen: Den Oberstabsärzten Dr. Augustin Weis¬
bach, Dr. Franz Weese, Dr. Eduard P o r i a s und Dr. T heo-
d o r Helm der Generalstabsarztes-Charakter ad honores; sännntlichen,
sowie dem Oberstabsarzte Dr. Johann P rottmann wurde der
Ausdruck der Allerhöchsten Zufriedenheit bekannt gegeben. — Dem
Oberstabsarzte Dr. Konrad Knöchel das Ritterkreuz des Franz
Josef-Ordens. — Das goldene Verdienstkreuz mit der Krone den
Regimentsärzten: Dr. Michael Schwarzkopf, Dr. Leopold
B i b e r, Dr. Josef Kan ii s z, Dr. Leopold Terenkoczy,
Dr. Adolf Schönbaum, Dr. Polykarp Stary, Dr. Karl
Schneider, Dr. C o 1 o m a n G ö m ö r y, Dr. G o 1 1 1 i e b Arn¬
stein, Dr. Heinrich Otto, Dr. Josef S t r a § i r i b k a,
J )r. Paul Winternitz, Dr. Alfred Schücking, Dr. Karl
Fischer und Dr. Wenzel Jun.
*
Habil itirt: In Bologna: Dr. Secchi für Dermatologie
und Syphilis, Bruschettini und Brazzola für Hygiene. — In
Neapel: C h i n n i für Anatomie, B a c u 1 o für Pädiatrie, P i e c i-
nino für Elektrotherapie. — In Rom: Parlavecchio für chirur¬
gische Pathologie. — In Siena: Martini für chirurgische Patho¬
logie, Simonetta für Hygiene. — In Turin: Galeazzi und
Nigrisoli für Chirurgie, B i a g i n i und M e n s i für Pädiatrie,
Abba und Mazza für Hygiene, Tirelli für gerichtliche Medicin.
— Kohlbrugge in Utrecht für Tropenhygiene. — Neielow
in Kiew für Geburtshilfe und Gynäkologie. — Yakowlew und
Abramitschewin Petersburg für Dermatologie und Syphilis,
Hubert ebendaselbst für Pädiatrie.
*
Gestorben: Der Frauenarzt S. William Priestley in
London. — Dr. Franz W i 1 d n e r, a. o. Professor der Thierheil¬
kunde in Innsbruck.
*
In der am 9. Apiil d. J. abgehaltenen Sitzung des nieder¬
österreichischen Landes-Sanitätsrathes machte der
Landes-Sanitäts-Referent Statthaltereirath Dr. Netolitzky dem
Sanitätsrathe die Mittheilung von der Abnahme der Typhus-
Erkrankungen in Wien. Während die Zahl der neugemeldeten
Typhuskranken in der vorletzten Märzwoche sich auf 62 und in der
letzten Märzwoche auf 70 Fälle belief, wurden in der ersten- April¬
woche nur 26 Erkrankungen neu gemeldet. Auch die Zahl der in den
öffentlichen Krankenanstalten untergebraebten Typhuskranken ist von
97 auf 89 Kranke gesunken. Diese rasche und beträchliche Abnahme
in der, Zahl der Typhuserkrankungen lässt hoffen, dass die Gefahr
einer weiteren Ausbreitung der erwähnten Infectionskrankheit als be¬
seitigt anzusehen sein dürfte. Behufs wirksamer Controle der Nahrungs¬
mittel und Milchzufuhr aus verdächtigen Gegenden wird dem Wiener
Magistrate fortlaufend der Stand ausserhalb Wiens bekanntgegeben,
um einer eventuellen Einschleppung dieser Krankheit von auswärts vor¬
zubeugen, da die Entstehung von Typhuserkrankungen auf diesem
Wege nicht völlig ausgeschlossen werden kann. Im weiteren Verlaufe
der Sitzung wurde ein Besetzungsvorschlag für die erledigte Stelle
eines Veterinär-Inspectors in Niederösterreich erstattet und wurden
Gutachten über die Statutenentwürfe eines ärztlichen Röntgen-Institutes
in Wien und einer öffentlichen Krankenanstalt ausserhalb Wiens,
schliesslich über den Betrieb einer Privat-Heilanstalt in einer Gemeinde
Niederösterreichs abgegeben.
*
Collegentag. Im Kreise der Unterzeichneten Collegen, welche
1 869 die Alma mater Vindobonensis bezogen und somit
1874 absolvirt haben, win de der Gedanken rege, zur Feier der 25. Jahres¬
wende ihres Austrittes aus der Studienzeit einen gemeinsamen Collegen¬
tag im Laufe des October 1. J. in Wien zu veranstalten. Der Zweck ist
die Belebung der Erinnerung an ' die schönen goldenen Tage des ge¬
meinsamen Studiums, sowie die Erneuerung und Festigung des im
Laufe der langen Zeit gelockerten Freundschaftsbandes. Es ergeht
daher zunächst mit Diesem die collegiale Aufforderung an sämmtliche
Absolventen, ihre Theilnahmserklärung mündlich oder schriftlich an
Herrn Dr. Arthur Pinsker, II., Kaiser Josefstrasse 3,
und zwar längstens bis 1. Juni 1. J. gelangen zu lassen, worauf
jedem Theilnehmer das detaillirte Programm zugeschickt wird. Mit
collegialem Grusse das vorbereitende Comite: Dr. Moriz Breuer,
Prof. Hans C h i a r i, Dr. Heinrich Farvage r, Dr. Emanuel
Frank, Dr. Hermann H i 1 1 i s e h e r, Dr. Heinrich Jellinek,
Prof. Johann Mikulicz, Dr. Arthur Pinsker, Dr. Josef
Stein bach, Dr. Franz S c h o p f.
*
Wir erhalten folgende Zuschrift: „Warnung! Mit Bezug auf
ein vor Kurzem in einem Wiener Tagesjournale eingeschaltetes I n s e-
r a t, durch welches eine Meiste rkrankencasse mehrere Control-
ärzte sucht, wird seitens des Verbandes der Aerzte Wiens in Erin¬
nerung gebracht, dass laut Beschluss des Wiener allgemeinen Aerztetages
und der Wiener Kammer die Anuahme einer solchen Stelle standeswidrig
ist und einem Verrathe an der Gesammtheit der Collegen gleich¬
kommt.“
*
Das chemisch-mikroskopische und bacteriologisebe Laboratorium
von Dr. Max Jolles und Dr. Adolf Jolles in Wien, IX.,
Türkenstrasse 9, hat über Erlass des k. k. Ministeriums des Innern
von der Statthalterei nach § 31 des Lebensmittelgesetzes die Autori¬
sation zur Vornahme von chemischen und bacteriologischen Unter¬
suchungen von Nahrungs- und Genussmitteln, sowie Gebrauchsgegen¬
ständen erhalten.
*
Vom 25. bis 28. April d. J. wird in Neapel unter dem Prä¬
sidium des Unterrichtsministers Prof. B a c c e 1 1 i ein Tuberculose-
congress stattfinden. Derselbe wird in sich in vier Abtheilungen gliedern,
deren Gegenstand Aetiologie und Prophylaxe, Pathologie und Klinik,
Therapie und die Sanatorienfrage bilden wird. Die italienischen Bahnen
gewähren den auswärtigen Theilnehmern 50% Ermässigung. Mitglieder¬
beitrag 20 Lire.
*
Vom 27. Juli bis 1. August d. J. wird in Paris ein inter¬
nationaler Congress für medicinische Elektrologie
und Radiologie stattfinden.
*
Seit 1. März erscheint im Verlage von W. Braumüller in
Wien halbmonatlich unter dem Titel : „O österreichisches
Aerztekammerblatt“ ein amtliches, von Dr. Franz Br e n n e r
in Brünn redigirtes Organ der Aerztekammern von Kärnten, Krain,
Mähren (deutscher Antheil), Niederösterreich (ausser Wien), Salzburg,
Schlesien und Deutschtirol.. Das Blatt, welches in die Hände sämmt-
licher Aerzte gelangt, deren Kammern an der Herausgabe des Or¬
ganes mitbetheiligt sind und gewissermassen ein Bindeglied zwischen
allen Aerzten der Monarchie sein soll, wird die Verhandiungsberichte
aller Aerztekammern bringen und ausschliesslich den Standesinteressen
der Aerzte gewidmet sein.
*
Die Schädlichkeit mässigen Alkoholgenusses.
Vom Oberstabsarzt Dr. Matthaei (Danzig). Verlag Tienken
(Leipzig). Die Brochure, auch zur Massenverbreitung bestimmt, wendet
sich gegen den auch nur mässigen Genuss alkoholischer Getränke bei
Kindern und Erwachsenen. Der Alkohol ist der Feind jedes Cultur-
fortschrittes und sein Vertrieb sollte eigentlich auf die Apotheken
beschränkt sein. Das Schriftclien wird allen Freunden der Antialkohol¬
bewegung sehr vollkommen sein. Preis M. 0-50.
*
Im Verlage von Möller in Berlin ist ein von Dr. Schönen¬
berger (Bremen) herausgegebener „Wegweiser zur Aus¬
führung ärztlicher Curvor Schriften“ erschienen.
*
Der „Bibliographische Semester bericht für
Neurologie und Psychiatri e“, herausgegebon bei G. Fischer
in Jena von Dr. Busch an, ist in seiner ersten Hälfte für 1899
(fünfter Jahrgang) erschienen.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 12. .Jahreswoche (vom 18. März
bis 24. März 1900). Lebend geboren: ehelich 721, unehelich 334, zusammen
1055. Todt geboren: ehelich 48, unehelich 16, zusammen 64. Gesammtzahl
der Todesfälle 835 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
26'5 Todesfälle), darunter an Tuberculose 153, Blattern 0, Masern 15,
Scharlach 1, Diphtherie und Croup 10, Pertussis 3, Typhus abdominalis 6,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 5, Neu¬
bildungen 49. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
101 (~|- 29), Masern 261 (— |— 57), Scharlach 66 (— }— 21), Typhus abdominalis
64 (-)- 39), Typhus exanthematicus 0 (=), Erysipel 33 (-(- 9), Croup und
Diphtherie 53 ( — 7), Pertussis 65 (-[- 23), Dysenterie 0 (—), Cholera (J (=),
Puerperalfieber 3 ( — 2), Trachom 5 (-|- 3), Influenza 57 (-f- 3).
*
Aas dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 13. Jahreswoche (vom 25. März
bis 31, März 1900). Lebend geboren : ehelich 639, unehelich 314, zusammen
953. Todt geboren: ehelich 46 unehelich 23, zusammen 69. Gesammtzahl
der Todesfälle 876 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
277 Todesfälle), darunter an Tuberculose 163, Blattern 0, Masern 19,
Scharlach 4, Diphtherie und Croup 6, Pertussis 9, Typhus abdominalis 8,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 1, Neu¬
bildungen 48. Angezeigte Infectionskrankheiten: Blattern 0 (=), Varicellen
88 ( — 13), Masern 247 ( — 14t, Scharlach 50 ( — 16), Typhus abdominalis
70 (-j- 6), Typhus exanthematicus 0 (=), Erysipel 32 ( — 1), Croup und
Diphtherie 37 ( — 16 1, Pertussis 41 ( — 24), Dysenterie 0 (=), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 2 ( — 1 , Trachom 2 ( — 3 , Influenza 38 ( — 19).
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
377
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
INHALT:
Wissenschaftlicher Verein der k. u. k. Militärärzte der Garnison 71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in München.
Wien. Sitzung vom 13. und 27. Januar 1900. Vom 17.— 22. September 1899. (Fortsetzung.)
Berichte aus dem Verein österreichischer Zahnärzte. Sitzung vom
3. Januar und 7. März 1900.
Wissenschaftlicher Verein der k. und k. Militärärzte
der Garnison Wien.
Sitzung am 13. Januar 1900.
Vorsitzender: Oberstabsarzt Prof. Dr. Kratschmer.
Oberarzt Dr. Jeney demonstrirt verschiedene Röntgen-
Photographien aus dem Gebiete der Chirurgie. Er hebt die Wichtig¬
keit der Controle mittelst Röntgen- Strahlen beim Anlegen fixirender
Verbände hervor, demonstrirt mehrere Photographien von Fällen, wo
man mit den gewöhnlichen Untersuchungsmethoden keine Knochen-
fractur nachweisen konnte, während die Röntgen - Untersuchung
eine solche ergab. Von solchen Fällen besprach er eine speciell beim
Militär vorkommende Krankheit, nämlich die Fussgescliwulst oder
Marschgeschwulst, welche besonders während der Ablichtung oder
während der Marschübungen bei den Recruten vorkommt und in einer
sehr schmerzhaften Anschwellung des Fussrückens besteht. Diese Er¬
krankung der Soldaten wurde von Weisbach für eine Entzündung
der Gelenksbänder zwischen den Mittelfussknochen (Syndesmitis meta-
tarsea), von Pouzat, Poulet und anderen französischen Militär¬
ärzten für eine Sehnenscheidenentzündung, beziehungsweise für eine
epidemisch auftretende rheumatische Erkrankung gehalten. Oberstabs¬
arzt Kirchner in Düsseldorf hatte mittelst Röntgen - Strahlen
nachgewiesen, dass es sieb in den meisten Fällen um Fractur eines
Mittelfussknocliens handelt, und zwar am häufigsten des II und III,
weniger häufig des IV, seltener des I und V. Nach dem Sanitäts¬
berichte der königlich preussischen Armee vom Jahre 1896 und 1897
beträgt die Fussgescliwulst 27 %o sämmtlicher Krankheitsfälle.
Vortragender konnte im Laufe des Jahres 1899 bei den in Wien
garnisonirenden Soldaten einen einzigen Fall röntgenographisch nach¬
weisen; alle anderen Krankheitsfälle von ähnlichen Symptomen waren
wahrscheinlich Syndesmitiden im Sinne W e i s b a c h’s.
Vortragender prüfte die Harnblasen- und Gallensteine, ferner
die Nierenconcremente auf ihre Durchlässigkeit für Röntgen- Strahlen
und demonstrate ein diesbezügliches Bild. Er erwähnt die Unter¬
suchungen von Wagner, Leonard und Ringel, von welchen
der Erstere die Urate für durchlässiger erklärt als die Phosphate,
während Ringel und Leonard die Phosphate für durchlässiger
halten.
Vortragender schliesst sich nach seinem Befunde der Meinung
von Leonard und Ringel an, dass nämlich die Oxalate am aller¬
undurchlässigsten, etwas durchlässiger die Urate, noch mehr die Phos¬
phate, während die Cholesterien und Gallenfarbstoffsteine für Röntgen-
Strahlen sehr durchlässig sind, so dass letztere im Organismus auf der
photographischen Platte sehr selten nachweisbar sind.
Oberstabsarzt Dr. Habart bemerkt zu den Darstellungen der
Marschgeschwulst, dass es zwei Gattungen dieser Krankheit
gibt, und zwar: 1. jene mit Bruch des Mittelfussknoehens im Sinne
K i r c h n e r’s, und 2. solche unter dem Bilde von Syndesmitis oder
Tendovaginitis im Sinne Weisbach’s, und fragt, warum in den
statistischen Jahrbüchern unserer Armee dieselbe keine Erwähnung
findet. Er hofft, dass die heutige Demonstration diesbezüglich anregend
wirken wird.
Darauf demonstrirt er: I. ein Schusspräparat aus dem Dünn¬
darm eines Selbstmörders, welches durch Resection gewonnen wurde,
und zwei Schussöffnungen von 3 cm Länge und 1'5 — 2 cm Breite dar¬
stellt, an welchen eine Schleimhauteversion (bouchon muqueux) von
schöner Form sichtbar ist, wie sie von Braman, Reclus und vielen
Anderen beschrieben worden und von ihm bei Schiessversuchen mit
8 mm Handfeuerwaffen beobachtet worden ist. Der Obductionsbefund
constatirte ausserdem zwei Durchbohrungen des Magens, zwei des
Dickdarmes und eine des Dünndarmes (sieben Perforationen) nebst
Kothaustritt, Spulwürmer in der Bauchhöhle und ausgebreitete Bauch¬
fellverletzungen. Bei der Operation wurden grosse Tuchfetzen im Ein¬
schuss (Magengrube) nebst Spulwürmern und trichterförmiger Ausschuss
in der rechten Lendengegend (Schrägschuss ä bout partant) vorgefunden.
Nach Einnähen eines Murphy- Knopfes im Dünndarm, Naht einer
Dickdarmöffnung nach Lembert und Resection von Netztheilen
musste die Operation unterbrochen werden, und trotz dieser multiplen
Schussverletzung blieb der Puls bis zum Tode (acht Stunden nach
der Verletzung) ziemlich gut, nachdem keine grossen Blutgefässe ver¬
letzt worden sind. Unter Demonstration mehrerer Schusspräparate von
den Darmeingeweiden des Pferdes, von denen einzelne gleichfalls
Schleimhautvorfälle enthalten, hebt er den schädlichen Einfluss der¬
selben auf Spontanheilungen hervor, da sie Kothfistelbildungen be¬
günstigen, und behält sich vor, auf den Entstehungsmechanismus dieser
Vorfälle später einmal einzugehen. Die Weite der Schussöffnungen
verhält sich stets proportional zur Schussdistanz und wächst mit der
Nähe des Schusses bis zur Explosivwirkung.
2. Vorführung eines Kanoniers mit den Erscheinungen einer
traumatischen Neurose, entstanden durch Quetschung und
Erschütterung des Brustkorbes und des Magens durch Anpressen an
eine Futtermuschel seitens eines Pferdes. Die anscheinend leichte Ver¬
letzung artete in gefahrdrohende Neurose aus, und vor 14 Tagen
wurde ein heftiger Anfall von traumatischer Hysterie mit
Erscheinungen von Tetanie beobachtet, in dessen Verlaufe die Athmung
ausgeblieben ist, so dass das Pflegepersonale bereits den eingetretenen
Tod meldete. Chvostek’sches Symptom und Troussea li¬
sch, es Phänomen von N. ulnaris links und N. tibialis waren
deutlich ausgeprägt, die galvanische Erregbarkeit (E r b) war hoch¬
gradig gesteigert, die Pupillen waren weit, es bestand Erbrechen und
linksseitige Hemihypästhesie. Die Hände befanden sich in Schreiber¬
stellung. Der hochgradig herabgekommene Mann erholte sich in den
letzten Tagen, und der bestandene Verdacht auf Lungen- und Meningeal-
tuberculose konnte weder bacteriologisch , noch klinisch hergestellt
werden.
3. Demonstration eines nach Trepanation der Wirbel¬
säule theilweise geheilten Marine-Unterofficiers, welcher vor zwei
Jahren nach Rückkehr der Escadre von Kreta durch Sturz vom
dritten Stockwerke der Marinekaserne in Pola einen Bruch des
zehnten, elften und zwölften Brustwirbels erlitten hatte und Er¬
scheinungen der vollständigen Lähmung der Blase, des Mastdarmes
und der Beine bot. Er lag acht Monate im Marinespitale in Pola in
Behandlung, worauf er superarbitrirt dem Invalidenhause in Wien
übergeben wurde. Im 14. Monate nach der Verletzung eröffnete
Habart an Stelle des bestandenen Buckels (Kyphoskoliose) den
Wirbelcanal, resecirte alle drei gebrochenen und eingedrückten Wirbel¬
bogen und Darmfortsätze (Laminectomia) und konnte durch Abtasten
des Rückenmarkes nachweisen, dass die Continuität desselben nicht
unterbrochen ist, sondern an der Stelle der Impression eine Verdickung
von Daumendicke besteht, theils als Folge von Pachymeningitis
haemorrhagica und von neugebildeten Knochenplatten, theils in Folge
von Wucherungen der Rückenmarkshüllen bedingt durch C o m-
pressionsmyelitis, während eine Fractur, Luxation und Luxations-
fractur der Wirbelkörper ausgeschlossen werden konnte. Der Defect
im Bereiche der abgemeisselten Quer- und Dornfortsätze wurde durch
eine 10 cm lange und 3 cm breite ausgehöhlte Celluloid platte,
welche in die Wirbelsäule eingeklemmt wurde, gedeckt (Heteroplastik),
und, Dank der gelungenen Aseptik, gelang die Einheilung derselben
anstandslos und der Buckel sammt der bestehenden Schmerzhaftigkeit
ist behoben. Unter Ausnützung aller Hilfsmittel in der Nachbehandlungs¬
periode (Suspensorium, Lorenz ’s che Gehänge, Massage, Elektricität,
Bäder, Eisen, Nitr. argenti, Nux vomica) ist es gelungen, 1. den
Blasenkatarrh und die Pyelitis zu beheben; 2. die Capacität der Blase
bis auf 220cm3 Inhalt zu erhöhen; 3. den Mastdarm bezüglich der
Motilität vollständig herzustellen, so dass der Stuhlgang regelmässig
erfolgt; 4. den Decubitus sammt den Gefahren der Sepsis zur Heilung
zu bringen; 5. die Beweglichkeit der Beine so weit herzustellen, dass
sie gehoben und bei Gehversuchen in einer Gehschule nach vorne ge¬
schleudert werden; 6. den paralytischen Spitzhiss durch Redressement
zu beseitigen; 7. die Ernährung und Empfindlichkeit der Beine zu
bessern und 8. dem Kranken ein erträgliches Dasein zu ermöglichen.
Durch Versteifung der Gelenke (steife Verbände) erscheint die Ge-
378
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
Nr. 16
brauchsfähigkeit der Beine noch grösser, und II a b a r t hofft, dieselbe
durch Fixationsapparate oder Arthrodese noch zu erhöhen.
Der lehrreiche Fall dürfte in der Casuistik über Rückenmarks¬
regeneration und operative W i r b e 1 c h i r u r g i e eine bleibende
Stellung behaupten.
Regimentsarzt Dr. Drastich stellt einen Jäger vor, welcher
sich durch einen am 27. November 1899 im Dienste erfolgten Sturz
auf den vorgestreckten linken Arm eine Verrenkung des Schulter¬
gelenkes (Luxatio subcoracoidea) zugezogen und bei dem sich trotz
sofortiger Repouirung nach einigen Tagen eine fast vollständige Läh¬
mung des linken Armes eingestellt hat.
Der Vortragende hebt als interessanten Befund hervor, dass es
sich einerseits um eine Plexuslähmung handle, welche aus dem
Functionsausfalle und der partiellen Entartungsreaction (träge Zuckung)
zu erschlossen sei, und dass andererseits auch eine functioneile Er¬
krankung (traumatische Hysterie) vorliege, nachdem ein ausgebreiteter
Sensibilitätsdefect für alle Gefühlsqualitäten nachzuweisen sei, welcher
die Haut des ganzen Oberarmes, der Achselhöhle und der Schulter
bis zum Halse betrifft, und nachdem überdies — abgesehen von dem
Missverhältnisse zwischen objectivem Befund und Functionsausfall —
auch noch eine bedeutende Herabsetzung des Gaumenreflexes und Un¬
vermögen, die linke Schulter zu heben (Cucullariswirkung), bestehen.
*
Sitzung am 27. Januar 1900.
Vorsitzender: Generalstabsarzt Dr. Josef Uriel.
Regimentsarzt Dr. Zimmer mann demonstrirt eine Frau, bei
welcher er die supravaginale Amputation des graviden myomatösen
Uterus nach Porro ausgeführt hatte und bespricht die Indications-
stellung für sein operatives Vorgehen in diesem Falle und im Allge¬
meinen über das Thema „Uterus-Myom und Gravidität“, wobei er auf
den von Hofrath Prof. Dr. Chrobak am 2. Juni 1899 in der
k. k. Gesellschaft der Aerzte gehaltenen Vortrag verwies.
Regimentsarzt Dr. C. B i e h 1 zeigt drei Leute, bei welchen er
wegen chronischer Mittelohreiterung sämmtliclie Mittelohrräume frei¬
gelegt hatte, ln einem Falle wurde die Hautwunde sofort vernäht;
dieselbe heilte per primam und war nach acht Wochen die ganze
Wundhöhle vollständig überhäutet. Im zweiten Falle schloss sich die
retroauriculäre Oeffnung per granulationem. Wenngleich auch in diesem
Falle die Heilung ungestört von Statten ging, so verlief dieselbe doch
bedeutend langsamer, als bei dem früher Besprochenen; der Mann ist
bereits den vierten Monat im Spital. Bei dem zuletzt Demonstrirten
wird die retroauriculäre Oeffnung offen erhalten, da der gesetzte Defect
wegen der ausgedehnten Caries zu gross war, andererseits auch die
Wunde, namentlich in der Tiefe gegen den Sinus jederzeit zugänglich
sein muss. Bei diesem Kranken ist die Heilung am langwierigsten,
zumal schliesslich auch die Oeffnung plastisch gedeckt werden muss.
Oberarzt Dr. Doerr demonstrirt das anatomische Präparat
eines Falles von multipler Dünndarmstenose. Es waren fünf Stricturen des
Ileums in einer Entfernung von 15, 50, 70, 80 und 110 c??i von der
lleocöcalklappe gemessen, vorhanden. Oberhalb jeder Strietur war der
Darm beträchtlich erweitert, die Musculatur hypertrophisch, die Schleim¬
haut zeigte kleine Geschwüre. Eines derselben hatte perforirt und eine
letale Peritonitis veranlasst. Ausserdem bestand eine narbige Strietur
der B a u h i n’sehen Klappe (nur für einen Bleistift passirbar) und eine
röhrenförmige Verengerung des Cöcums und des unteren Theiles des
Colon ascendens, dessen Wand daselbst tumorartig verdickt war. Ober¬
halb der Dünndarmstricturen fanden sich zahlreiche Fremdkörper (in-
crustirte Pflaumen- und Kirschenkerne). Die mikroskopische Unter¬
suchung ergab jedoch die tuberculöse Natur der Vorgefundenen Ver¬
änderungen. Der Vortragende verweist auf eine Discussion, die an¬
lässlich eines von Primarius Dr. Schnitzler in der Sitzung der
Gesellschaft der Aerzte vom 30. November 1899 vorgestellten Falles
stattgefunden hatte, im Verlaufe welcher Hofrath Prof. v. Schrotte r
behauptete, dass multiple Dünndarmstricturen häufig durch verschluckte
Fremdkörper herbeigeführt würden. Auf Grund seines Falles kommt
der Vortragende zu dem Schlüsse, dass die aufgefundenen Fremdkörper
in derartigen Fällen nur einen zufälligen Befund darstellen. Sie werden
an den schon früher vorhandenen Stricturen zurückgehalten, die sich
aus tubereulösen Ulcerationen entwickeln.
Weiters demonstrirt der Vortragende Präparate von Darm¬
geschwüren, die sich bei der Section eines Selbstmörders fanden, der
im Stadium der secundäreu Syphilis gestorben war.
Berichte aus dem Vereine österreichischer Zahnärzte.
Officieller Bericht.
Sitzung vom 3. Januar 1900.
Vorsitzender: Dr. Johann Piclller.
Schriftführer : Dr. v. Wunschheini.
Dr. v. Wunsch heim demonstrirt einen elektrischen Warm¬
wasserbehälter, der die Form oines gewöhnlichen Rechauds hat und
durch eine Glühlampe, die in den flascheuförmig ausgehöhlten Boden
desselben hineiureicht, die nöthige Wärme zugeführt erhält. Der Vor¬
tragende liebt die Vorzüge dieses kleinen Apparates hervor, als welche
er insbesondere dessen Reinlichkeit, stete Gebrauchsfertigkeit und
Billigkeit bezeichnet.
Es erhält nunmehr Herr Dr. Breuer das Wort zu seinem an¬
gekündigtem Vortrage : „Ueber Solilagold und Fälle aus
der Praxis“. Mit Rücksicht auf die noch zu verhandelnden ge¬
schäftlichen Angelegenheiten verschiebt der Redner die erste
Hälfte seines Vortrages und geht gleich zum zweiten Theile des¬
selben über.
Dr. Breuer demonstrirt zunächst einen Unterkiefer mit einem
transponirteu, zweiten Schneidezahne, der so um 180° gedreht war,
dass seine labiale Seite nach rückwärts, und seine linguale Seite nach
vorne gerichtet war. Es folgten den drei Schneidezähnen der Reihe
nach der linko Eckzahn, der gedrehte, seitliche Schneidezahn und
hierauf die übrigen Zähne.
Im Anschlüsse daran zeigt der Vortragende das Modell eines
Oberkiefers mit zwei vollständig ausgebildeten, bleibenden, seitlichen
linken Schneidezähnen.
Dr. Bieuer demonstrirt ferner die Modelle eines Unterkiefer¬
bruches sammt Saue r’scher Schiene. Der Fall war insoferne interes¬
sant, als er in mancher Beziehung von den in den Lehrbüchern ent¬
haltenen Regeln abwich. Er betraf einen Patienten, der in einem
epileptischen Anfälle vom zweiten Stocke aufs Pflaster stürzte und
mehrfache Verletzungen, darunter eine Fractur des Uuterkiefers
davon trug. Der Vortragende wurde behufs Anlegung eines entspre¬
chenden Verbandes ins Stephanie-Spital gerufen, wohin der Verletzte
gebracht worden war. In der Narkose wurde von dem gebrochenen
Unterkiefer nach möglichster Reposition des herausgeschlagenen Mittel¬
stückes, das die Schneidezähne und Eckzähne und noch den linken
Backenzahn trug, ein Abdruck genommen, desgleichen vom Oberkiefer,
und dann eine provisorische Schiene nach v. M e t n i t z angelegt. Die
Herstellung der Dauerschiene bot aber grosse Schwierigkeiten. In den
Lehrbüchern steht immer, man richte sich bei Herstellung der Arti¬
culation nach den Zähnen des Oberkiefers. Nun hatte der Patient aber
nur fünf Zähne im Oberkiefer und diese articulirten mit den gerade
im herausgeschlagenen Mittelstück des Unterkiefers steckenden Zähnen.
Um die Articulation zu finden, wurde das Gypsmodell den Bruchlinien
des Unterkiefers entsprechend zersägt, die einzelnen Theile so lange
verstellt, bis die Zähne des Unterkiefers mit den an den oberen
Zähnen im Ganzen vorhandenen fünf Schlifflächen articulirten, die
Theile sodann fixirt, und auf der so gewonnenen ursprünglichen Form
des Unterkiefers die Saue r’sche Schiene den Zahnhälsen entsprechend
aus einem Stück Eisendraht vom Vortragenden selbst montirt. Am
nächsten Tage wurde dem Patienten die Schiene in Narkose angelegt,
zunächst an den vorhandenen Molaren mit Bindedraht in Achtertouren
befestigt, sodann nunmehr das leicht reponible Mittelstück des Unter¬
kiefers so gehoben, dass die Zähne in ihrem Bett in der Schiene Platz
fanden, und sodann die Zähne gleichfalls mit Bindedraht an der
Schiene fest angebunden. Die Schiene passte vollkommen, die ge¬
brochenen Theile bewegten sich nicht mehr. Bereits am selben Tage
fühlte sich Patient bedeutend wohler, am vierten Tage rauchte er
bereits seine geliebte Virginiacigarre und, als er nach vier Wochen
wegen vollkommenen Wohlbefindens stürmisch seine Entlassung aus
dem Spitale verlangte, war die Callusbildung bereits soweit vorge¬
schritten, dass man seinem Wunsche willfahren konnte, ihm aber die
Schiene noch beliess (gegen seinen Willen), da sich rechterseits einige
Sequester abzustossen drohten. Seither sah und hörte der Vortragende
von dem Patienten nichts mehr.
Der Redner demonstrirt weiters die Wurzel eines linken oberen
Schneidezahnes, welche der Länge nach gespalten war. Selbe war im
Jahre 1894 behufs Stiftzahnersatzes elektrolytisch behandelt worden,
d. h. es wurde der Wurzelcanalinhalt nach Einführung einer als Anode
dienenden Mille r’schen Nervnadel einfach durch die Wirkung eines
ein und einhalb M. -Ampere starken Stromes in der Dauer von fünf
Minuten in drei auf einander folgenden Sitzungen elektrolytisch zer¬
setzt. Nach dieser Procedur wurde der Wurzelcanalinhalt jedes Mal
ausgespritzt, der Canal gereinigt, nach der letzten Behandlung mit
Thyraolpasta und Guttapercha gefüllt und der Stiftzahn eingesetzt.
Nach mehr als zwei Jahren brach der Stiftzahn ab. Der Stift wurde
entfernt, neuerdings Elektrolyse des Wurzelcanalinhaltes, diesmal aber
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
879
mit einer Platinnadel als Anode, welche mit in Kochsalz getauchten
Wattefäden bewickelt war (behufs Abspaltung von Chlor). Nach kaum
einem Jahre hatte Patientin (eine Knirscherin), auch diesen Stiftzahn
und mit ihm die Wurzel zertrümmert. Das gleiche Schicksal ereilte
die nebenstehende, eine Richmondkrone tragende Eckzahnwurzel. Man
sieht an der extrahirten Schneidezahnwurzel die Spitze ganz schwarz
gefärbt (von den an der M i 1 1 e r’schen Nadel [Anode] gebildeten und
in das Dentin eingedrungenen Eisenverbindungen), ein Beweis dafür,
dass in dem sich verjüngenden Wurzelcanale dort, wo die Spitze der
Anode die Wände fast berührte, die grösste Stromdichte war, mithin
am gefährlichsten Theil, dem Apex, die grösste bactericide Wirkung
des elektrischen Stromes erfolgte. Patientin hatte auch während der
vier Jahre, da sie den Stiftzahn trug, niemals irgend welche Be¬
schwerden seitens der Wurzel gehabt.
Weiters berichtet Dr. B r e u e r über folgenden Fall: Vor einiger
Zeit kam beim Vortragenden ein Hauptmann wieder in Behandlung,
der schon vor fünf Jahrer in längerer zahnärztlicher Behandlung ge¬
standen war. Diesmal fanden sich grosse eariöse Defecte an den
letzten Molaren des Ober- und Unterkiefers vor, was bei dem sonst
sehr auf seine Zähne sehenden Patienten auffiel. Auf die Frage, warum
er das Uebel so lange anstehen liess, gab er erstaunt zur Antwort,
er habe nie etwas verspürt. Eine abgestorbene Pulpa vermuthend,
nahm Vortiagender zunächst den am stärksten erkrankten Weisheits¬
zahn links unten in Behandlung und war sehr erstaunt, plötzlich eine
blutende Pulpa vor sich zu haben. Patient verspürte aber keinen
Scbmerz, empfand auch nicht Temperaturwechsel schmerzhaft. Während
der weiteren Behandlung bekam Patient plötzlich einen besorgniss¬
erregenden Anfall von Laryngospasmus. Auf das hin forschte Vor¬
tragender weiter und erhob folgende Anamnese:
Patient war im Jahre 1888 bei einer (Jebung vom Pferde ge¬
stürzt, so dass er eine schwere Gehirn- und Rückenmarkserschütterung
davontrug. Nach jahrelangem Kranksein und wiederholter Behandlung
in Spitälern hatte sich Patient wieder so weit erholt, dass er wieder
Dienst machen konnte, war aber zum Truppendienste nicht mehr recht
fähig. Da ihn seine unterschiedlichen Neuralgien, seine rasche Er¬
müdung, die merkliche Abnahme seiner Sehkraft den an ihn gestellten
Anforderungen nicht mehr nachkommen Hessen, wurde er auf einen
Ruheposten versetzt und sieht nun mit Besorgniss seinen Zustand von
Jahr zu Jahr schlechter werden. Während früher die Neuralgien nur
die Beine betrafen, treten sie jetzt auch schon in der Bauch- und
Magengegend, sowie in den Armen auf. Desgleichen leidet er oft an
unerträglichen Kopfschmerzen und dem oben erwähnten Laryngo¬
spasmus. Prof. Ortner, an den Patient gewiesen wurde, bestätigte
die schon vor Jahren im Garnisonsspitale vermuthungsweise gestellte
Diagnose auf Tabes mit ungünstiger Prognose, insbesondere mit Rück¬
sicht auf die bestehende Postieuslähmung (auf welcher der Laryngo¬
spasmus beruht). Der Befund an den Zähnen, nämlich die Entwicklung
grosser cariöser Defecte mangels einer schmerzhaften Empfindung
seitens des Patienten, die vollkommene Empfindungslosigkeit gegen
Temperatureinflüsse und beim Excaviren, welche Symptome auch bei
den anderen noch behandelten Zähnen constatirt wurden, berechtigen
zu der Annahme, dass diese Symptome mit dem fortschreitenden All¬
gemeinleiden Zusammenhängen, umsomehr, als Patient vor fünf Jahren
sehr empfindlich war, weshalb der Vortragende die Herren Collegen,
insbesonders Jene, welche an den Schulen wirken, auffordert, auf diese
Symptome zu achten, weil vielleicht dieselben zu einer Frühdiagnose
auf Tabes verwerthet werden können.
Ein weiterer Fall betrifft eine bedauernswerthe Frau, welche vor
Jahren von ihrem Gatten mit Lues beglückt wurde. Als sie im
Jahre 1896 in Behandlung trat, litt sie an einer ausgebreiteten Leuko¬
plakia oris, die jeder Behandlung trotzte, sowie an Neuralgien im
linken Unterkiefer, die sich hauptsächlich im ersten Backenzahne eon-
centrirten, jedes Frühjahr auftraten, von Jahr zu Jahr ärger wurden
und auf Jodkali wohl nachliessen, aber nur sehr langsam schwanden.
Da sie sich weigerte, nochmals Jodkali zu nehmen und auf Extraction
des bei Percussion etwas empfindlichen ersten Prämolaren bestand,
willfahrte Vortragender ihrem Wunsche. Der extrahirte Zahn war
äusserlich vollkommen gesund, nur am Periost befanden sich einzelne
sehnige Flecken. Der Zahn wurde zersprengt, wobei die Pulpa leider
sehr in Mitleidenschaft gezogen wurde. An den intacten Theilen
konnte man aber eine merkwürdige Veränderung constatiren. Sie waren
starr, elastisch, glänzend, am Rande durchscheinend, wenig blutend,
so dass Vortragender eine amyloide Entartung vermuthen möchte. Der
Beweis konnte allerdings nicht erbracht werden, da es an den nöthigen
Uutersuchungsmitteln und an der Zeit fehlte. Vortragender möchte
jedoch abermals die Herren Collegen bitten, ähnlichen Fällen ihre
Aufmerksamkeit zuzuwenden. Die neuralgischen Schmerzen erklärt sich
Vortragender als auf endarteriitischen Veränderungen im Canalis
mandibularis beruhend, welche im Frühjahre, sobald in Folge der zu¬
nehmenden Lufttemperatur eine erhöhte Fluxion zur Haut stattfindet,
leicht zur Compression des Nervus mandibularis im Canale oder im
Foramen mentale führen könnten. Nach der Extraction war Patientin
eine Zeit lang von Schmerzen frei. Ob sie es dauernd blieb, kann
Vortragender nicht beantworten, da er sie seitdem nicht wieder
gesehen.
Der nächste Fall betrifft eine Patientin, welche im October 1896
aus Mähren zugereist kam, um hier Heilung und Linderung von neur¬
algischen Schmerzen im linken Unterkiefer zu finden, die sie schon
seit zwei Monaten quälten und ihr den Schlaf raubten. Der Arzt in
ihrem Heimatsorte hatte schon vor längerer Zeit den zweiten Backen¬
zahn links unten entfernt, den Patientin als Ursache bezeichnete, ohne
mehr als vorübergehende Besserung zu erreichen. Da in letzter Zeit,
wie gesagt, die Schmerzen, welche Abends auftraten und bis zum
Morgen dauerten, den Schlaf vollständig störten, griff der behandelnde
Arzt zum Morphin; Patientin, aus Angst vor einem schweren Leiden,
kam nach Wien und wurde wegen Verdachtes auf dentalen Ursprung
des Leidens von dem consultirten Arzte an den Vortragenden gewiesen.
Patientin klagte ausser neuralgischen Schmerzen im linken Unterkiefer
auch noch seit mehreren Tagen über Schwerhörigkeit, Ohrenstechen
und Ohrensausen, Gefühl von Schwere und Druck im linken Ohre
(„wie wenn das Ohr zerspringen sollte“). Die Untersuchung ergab am
Weisheitszahn links unten, buccal, unter dem Zahnfleisch versteckt,
eine tiefe eariöse Höhle, auf derem Grunde die Pulpa, wahrscheinlich
ulcerirend, blosslag.
Die Extraction des Weisheitszahnes befreite Patientin wohl von
den Neuralgien, aber nicht von den Ohrenschmerzen. Vortragender
untersuchte nun das Ohr, fand den äusseren Gehörgang mit einer
braunen Masse erfüllt und spritzte denselben, Cerumen vermuthend,
aus. Die aus dem Ohre kommende Flüssigkeit hatte einen eigenthiim-
lichen Geruch; der Pfropf ging nicht mit. Mit der Pincette entfernte
nun Vortragender denselben, welcher sich als aus zwei gequollenen
Knoblauchstückchen bestehend erwies. Jetzt erst erinnerte sich Patientin,
dass sie sich in ihren Schmerzen auf den Rath theilnehmender Be¬
kannten hin vor elf Tagen zwei Stückchen einer Knoblauchfrucht ins
Ohr steckte, auf deren Herausnahme sie vergass. Mit der Entfernung
dieser Fremdkörper schwanden auch die Ohrenschmerzen. Vortragender
macht darauf aufmerksam, dass auch in unseren Gegenden bei Ohren¬
stechen (im Gefolge von Zahnschmerzen) von der Bevölkerung häufig
die Blätter des Hauswurz (Sempervivum teetovum) in ähnlicher Weise
verwendet werden, und spricht die Vermuthung aus, ob nicht manche
der beschriebenen Ohrenleiden im Gefolge von Pulpitis auf vergessene
Fremdkörper zurückzuführen wären.
Der letzte Fall von wochenlanger Dauer einer Neuralgie in
Folge von Pulpitis betraf einen Herrn, der im Jahre 1897 zum Vor¬
tragenden um Hilfe kam, nachdem er durch nahezu drei Wochen
täglich von 5 Uhr ab bis nach Mitternacht an den heftigsten Schmerzen
im rechten Unterkiefer zu leiden hatte. Genannter Patient hatte sich
aut den Rath seines Zahnarztes hin den im aufsteigenden Aste des
rechten Unterkiefers sitzenden, mit der Krone horizontal gegen den
zweiten Molaren hin durchbrechenden Weisheitszahn entfernen lassen.
Die Operation wurde in Narkose vorgenommen, dabei aber der Zahn
so unglücklich fracturirt, dass nur die Krone und der grössere Theil
der mesialen Wurzel entfernt wurde, was bei der eigenthümlichen
Stellung des Zahnes kaum zu vermeiden war. Nach der Operation
hatte der Patient grosse Schmerzen, bezüglich deren er vertröstet
wurde, dass sie wohl bald aufhören würden. Nachdem dies aber durch
Wochen nicht der Fall war, kam Patient zum Vortragenden. Derselbe
constatirte rechts unten, hinter dem zweiten Molaren, in der distalen
Spitze eines tief reichenden Schlitzes im Zahnfleische die Reste der
distalen Wurzel des dritten Molaren. An der nach vorne abfallenden
schiefen Ebene berührte die Sonde die Stelle, welche ausserordentlich
empfindlich war, also blossliegende Pulpa in traumatischer Entzündung.
Nach Application von Cocain in Substanz wurde selbe mit scharfer
Fräse abgebohrt. Darauf war Patient schmerzfrei. Die Extraction der
Wurzel gelang aber erst nach IV2 Jahren.
*
Sitzung vom 7. März 1900.
Vorsitzender: Dr. Johann Pichler.
Schriftführer: Dr. v. Wunschheim.
Dr. Pichler stellt in Vertretung des am Erscheinen verhin¬
derten Dr. T rauner eine Patientin vor, bei welcher Letzterer vor
vier Wochen eine Zahnwurzelcyste des Oberkiefers nach der Methode
von Part sch operirt hatte. Das Volumen der Cyste entsprach un¬
gefähr demjenigen eines Taubeneies bei der Operation, während gegen¬
wärtig nach nur vier Wochen nur mehr eine seichte grnb'ge ^ er-
tiefung an der Operationsstelle zu sehen ist. Der Vortragende betont
die Kürze der Heilungsdauer, die bei der Methode nach Partsch
erzielt wird, während bei den früheren Operationsmethoden oft ein Jahr
und länger zur Heilung solcher Cysten benöthigt wurde.
380
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Dr. Kraus hält hierauf seinen an der Tagesordnung stehenden
Vortrag : Ueber die Verwertung keramischer Kunst
in der operativen Zahnheilkunde. (Derselbe erscheint
ausführlich in der Wiener zahnärztlichen Monatsschrift.)
Der Vortragende gibt zunächst einen geschichtlichen Ueberblick
über die Verwendung des Porzellans in der Zahnheilkunde und wendet
sich gegen letzteren Ausdruck, den er lieber durch die Bezeichnung
„keramische Füllungen“ ersetzt wissen möchte. Nach Erörterung der
Zusammensetzung des Porzellans und der Farbengebung desselben
mittelst Metalloxyden wendet sich der Redner seiner Methode der Her¬
stellung von Porzellanfüllungen zu. Dieselbe besteht gleich der Me¬
thode Silberer’s darin, dass er mit einer plastischen Masse (Gutta¬
percha), Abdruck nimmt, den letzteren mit Gyps ausgiesst und in der
so gewonnenen Cavität des Gypsmodelles die Einlage in einem Gas¬
ofen brennt. Der Vortragende zeigt am Schlüsse seiner Ausführungen
verschiedene Einlagen und Ecken, die er nach seiner Methode
hergestellt und auf deren exacten Randschluss er speciell auf¬
merksam macht und demonstrirt auch die Herstellung eines Inlays mit
seinem Ofen.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
in München.
Vom 17. bis 22. September 1899.
(Fortsetzung.)
Section für Geburtshilfe und Gynäkologie.
Referent Dr. Edmund Falk (Berlin).
Sitzung am 20. September 1899, Vormittags.
Vorsitzender: Se. königl. Hoheit Prinz Dr. Ludwig Ferdinand von
Baiern .
Gemeinsame Sitzung mit der Section für Augen¬
heilkunde.
Vorsitzender: v. Ott (St. Petersburg).
X. S c h ü c k in g ( Pyrmont) : Die Kolpochiasmorhaphie,
eine neue Operationsmethode bei Retroflexio und
P r o 1 a p s.
Ausser der Retroflexio ist das geschilderte Verfahren in einem
Falle von totalem Prolaps angewrendet. Hier handelte cs sich um ein
elongirtes Collum nebst Cystocele. Die in diesem Falle benützten
Pessare waren nicht im Stunde gewesen, den Vorfall zurückzuhalten.
Hier, wo sich die Leistungsfähigkeit der Methode sehr deutlich erweisen
konnte, hat sie die Probe durchaus befriedigend bestanden.
XL Th ei 1 h ab er (München): Ueber Prolapsoperationen.
1. Vortragender ist der Ansicht, dass viel schärfer unterschieden
werden sollte zwischen Vaginal- und Uterusprolaps. Die grossen Pro¬
lapse sind meist Prolapse der vorderen Vaginalwand mit secundärer
Elongation der Cervix, der primäre Prolaps der hinteren Vaginalwand
nimmt selten grosse Dimensionen an. Der primäre Uterusprolaps ist
sehr selten. Dies zeigt die klinische Beobachtung. Aber auch theo¬
retische Erwägungen beweisen dies, denn der Uterus ist ausserordentlich
stark fixirt durch das parametrane Bindegewebe; dies verhindert den
Vorfall. Die Ligamenta vesico-uterina, recto-uterina, rotunda, das Peri¬
toneum können den Uterus nicht verhindern, zu prolabiren.
2. Die Vaginalwände sind nur durch das unter ihnen liegende
Bindegewebe fixirt. Der Vaginalprolaps kommt zu Stande durch Atro¬
phie dieses Bindegewebes. Die Einrisse des Septum recto vaginale
haben für die Entstehung des Prolapsus vaginae anterior, keine wesent¬
liche Bedeutung. Die Erschlaffung dieses Septums ist in der Haupt¬
sache Folge des Prolapses.
3. Dem entsprechend ist es zwecklos, bei der Operation des
Prolapsus vaginae anterior, eine Verstärkung des Septum vaginale her¬
beizuführen, dagegen darf die Colporrhaphia anterior nicht als „neben¬
sächliche“ Operation ausgeführt werden, im Gegentheil, es sollte, wie bei
malignen Tumoren, exactest im Gesunden angefrischt werden. Bleiben
kleine Reste der prolabirten Schleimhaut stehen, so bildet sich die
Cystocele wieder heraus. Dies wird nicht verhindert durch sehr hohen
Damm oder sehr enge Vagina oder sehr starkes Septum recto vaginale.
Bei grossen Prolapsen muss deshalb die ganze vordere Vaginal¬
wand bis in die seitlichen Scheiden Wandungen hinein excidirt werden.
Die hintere Scheidenwand bleibt gewöhnlich intact. Dammplastik hält
T hei lh aber nicht für unbedingt nothwendig, doch nimmt er ge¬
wöhnlich eine Verengerung des weiten Vaginalostiums durch „quere
Dammspaltung“ vor.
22 in dieser Weise operirte und controlirte Fälle sind bis
heute recidivfrei geblieben (zum Theil schon vor vier bis fünf Jahren
operirt).
Die Retroflexionstellung des Uterus wurde nicht corrigirt.
Er hält letzteres für überflüssig, die Vaginofixation leistet gegen
den Prolaps nichts, der Nutzen der Ventrofixation ist ebenso proble¬
matisch, auch die Totalextirpation des Uterus dürfte bei der Be¬
handlung des Vaginalprolapses keine Zukunft haben.
Die typische Colpoperineorhaphie ist für die Fälle von Prolapsus
vaginae posterior zu reserviren. Das Zustandekommen dieser Form
von Prolapsen wird begünstigst durch das Vorhandensein eines
Dammrisses.
XII. Robert Ziegen speck (München) beschreibt eine
neue Prolapsoperation, der vor allem eine Myorhapie des
M. levator ani eigen ist. Ziegen speck glaubt nähmlich, dass die
Erweiterung der Oeffnung im Levator ani, durch welchen die Scheide
hindurchtritt, die hauptsächliche Ursache für die Entstehung des Vor¬
falles sei. Zur Heilung sei daher die Muskelnaht dringend nothwendig.
Der Muskel erscheint nach der stumpfen Ablösung der hinteren
Scheidenwand als sehnig schimmernde Falte, derselbe wird mittelst
zweier kräftiger Catgutsuturen isolirt. Der übrige Theil der Operation
ist der F r a n k’schen Operation ähnlich. Ein Bogenschnitt wird ent¬
lang der Grenze von Haut und Scheidenschleimhaut am hinteren
Umfange des Scheideneinganges gemacht; die Scheidenwand von der
Wand des Rectums im Septum recto-vaginale stumpf abpräparirt, jetzt
aber zur Vermeidung von todten Räumen der abgelöste Lappen durch
einen Längsschnitt gespalten und durch versenkte Nähte werden
die wunden Flächen der Scheidenhaut der einen Seite auf diejenigen
der anderen Seite aufgenäht. Zum Schluss wird die rautenförmige
Dammwunde vernäht.
*
Gemeinsame Sitzung mit der Section für Chirurgie.
Donnerstag, den 21. September, Vormittags.
I. Martin (Greifswald) : Zur Ureter en-Chirurgie.
Mit den Fortschritten der Chirurgie sind auch die Ergebnisse,
welche von den Gynäkologen bei den Operationen der Ureterenfisteln
erzielt wurden, bessere geworden. Die Operation von der Scheide aus
liess sich in vielen Fällen durch den Angriff von der Bauchhöhle er¬
setzen. Man muss in operativer Hinsicht zwischen den frischen Fällen
von Ureterenverletzungen und den Fisteln unterscheiden. Die Ureteren¬
fisteln entstehen am häufigsten durch Verletzungen im Wochenbett, aber
auch die Myomoperation erscheint als nicht seltene Gelegenheitsursache,
und zwar entstehen sie häufiger durch Unterbindung oder durch Ab¬
klemmen als durch directes Durchschneiden, gar oft wird während
der Operation die Verletzung nicht erkannt. Wird die Ureterenverletzung
bei vaginalen Operationen alsbald erkannt, so empfiehlt sich die Ein-
nähung der Uretermündung in die Blase, bei abdominaler Operation
kommt die K e 1 1 y’sche Operation (Invagination des oberen Endes in
das untere) und besonders die Implantation des oberen, centralen Endes
des verletzten Uterus in die Blase in Betracht. Wesentliche Fort¬
schritte hat auch die Operation der Ureterfisteln gemacht, die wegen
der Narbenverziehungen so äusserst schwer anzugreifen sind und wegen
der nicht seltenen Betheiligung der Niere an dem Erkrankungspi'ocess
eine ungünstige Prognose geben. Der Vorschlag M a c k e n r o d t’s, die
Operation von der Scheide her durch vorhergehende Exstirpation des
Uterus leichter zu gestalten, dürfte nur für Frauen im vorgerückterem
Alter Geltung haben. Ausserordentliche Erfolge hat hingegen die Ope¬
ration der Ureterfistel von der eröffneten Bauchhöhle aus zu verzeich¬
nen, auch ein rein extraperitoneales Verfahren kann bisweilen sehr
gute Resultate geben und ist ungefährlicher, stösst aber, wenn der
Ureter in Schwielen eingebettet ist, auf unüberwindliche Schwierigkeiten,
ist also nur bei Abwesenheit ausgedehnter Narben anzuwenden. Bei
nachweisbarer oder während der Operation festgestellter Entwicklung
ausgedehnter Narben hingegen soll man zunächst intraperitoneal den
Ureter auslösen, alsdann die Wunde im Peritoneum schliessen und den
unter dem Peritoneum in den paravesicalen Raum hindurchgeführten
Ureter in die Blase einnähen, indem man ihn circa 'l*cm weit in die
Blase mittelst des durch die Harnröhre herausgeführten Zügels hinein¬
zieht und durch zwei Etagen von Catgutknopfnähten befestigt. — Ebenso
wie Martin für die meisten der genannten Operationsarten Beispiele
an führt, in denen er dieselben ausgeführt hat, erläutert er auch diese
intraperitoneale Ureterocystoanastomose durch die Mittheilung einer
ausführlichen Krankengeschichte. Bei der betreffenden Patientin war
bei einer abdominalen Radicaloperation eine Verletzung des linken
Ureters, wahrscheinlich durch eine Ligatur eingetreten. Im Verlauf der
lieconvalescenz bildete sich eine Ureterenscheidenfistel. Vor der Ope¬
ration, welche ein halbes Jahr später vorgenommen wurde, coivstatirte
Martin durch Sondirung und Cystoskopie, dass das untere Ende des
Ureters verödet war, das obere Ende hingegen beweglich erschien. Er
versuchte daher zunächst von der Scheide aus den Ureter in die Blase
einzunähen, da jedoch wahrscheinlich ein Faden zu tief gelegt war,
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
381
bildete sich eine neue Ureterenfistel, welche auch durch Ueberhäutung
mit Scheidenschleimhaut nicht geschlossen werden konnte. Durch diese
Operationen, in deren Folge es zu einer urämischen Intoxication kam,
waren durch die starke Narbenbildung die Aussichten für eine neue
Operation wesentlich verschlechtert.
Trotzdem gelang es, durch eine intra-extraperitonale Operation
die Patientin zu heilen. Die Operation wurde so ausgeführt, dass zu¬
nächst intraperitoneal der Ureter aus den Verwachsungen gelöst, als¬
dann von dem Ende der Bauchincision aus das Peritoneum von der
Blase abpräparirt wurde, und weiter wurde über die Fossa paravesi-
calis weg bis zur Kreuzung des Ureters mit der Art. iliaca subporito-
neal vorgedrungen. Der Schlitz im Peritoneum wurde jetzt vernäht,
die Bauchwunde provisorisch geschlossen, und so die Einnähung des
Ureters in der Blase auf extraperitonealem Wege vollzogen. Zum
Schluss wurde in den paravesicalen Raum ein Jodoformgazestreifen
eingelegt.
II. Wert heim: Demonstration zum Capitel:
Ureterenchirurgie.
Die grosse Mehrzahl aller bisher in der Literatur nieder¬
gelegten Fälle von abdominaler Implantation des Ureters in die
Blase betreffenden Fälle, in denen die Verletzung des Ureters unbeab¬
sichtigter Weise bei Gelegenheit irgend einer Operation in der Nach¬
barschaft desselben oder in Folge schwerer Entbindung zu Stande kam.
Werthei m demonstrirt die Präparate von zwei Fällen, in w’elchen
die vesicale Einpflanzung des Ureters nach beabsichtigter Ureteren-
resection ausgeführt wurde.
Der eine dieser Fälle betrifft eine circa 64jährige Frau, bei welcher
ein circa hühnereigrosser Blasentumor vorhanden war, der sich in der
Basis der Blase derart entwickelt hatte, dass der linke Ureter mitten
in der Geschwulstmasse ausmündete. Da in Folge dessen die cysto-
skopische Ureterensondirung unmöglich war, eröffnete Wer the im die
Blase durch Sectio alta und nach Abkratzung der weichen Geschwulst¬
massen mit dem Löffel gelang es, einen Katheter einzuführen, der bis
zum Ende der Operation liegen blieb. Durch einen Querschnitt, ange¬
setzt am oberen Ende des Sectio alta-Schnittes, drang er nun extra-
vesical und extraperitoneal, also zwischen Blasenwand und Peritoneum
in die Tiefe, wo der durch den Katheter kenntliche Ureter freipräpa-
rirt und etwas mobilisirt wurde. Hierauf Durchtrennung des Ureters
circa 2'/ncm von der Einmündung in die Blase entfernt, Sicherung des
centralen Ureterenendes durch einen provisorischen Seidenzügel und
jetzt vom Sectio alta-Schnitt aus Erfassen des Blasentumors mittelst Zange
und Exstirpation desselben im Zusammenhänge mit dem ausgelösten
Ureterenstücke. In den so resultirenden circa doppeltthalergrossen De¬
fect der Blasenwand wurde nun das centrale Ende des Ureters herein¬
gezogen und mittelst einiger feiner Catgutnäthe fixirt, im Uebrigen
der Defect sorgfältig vereinigt. Da W e r t h e i m eine Sicherung für
den Fall der Incontinenz der Einpflanzungsnaht für wünschenswerth
hielt, stiess er nach der Scheide hin durch und legte eine Jodoform¬
gazedrainage an. Dann wurde die Bauchwunde völlig geschlossen, bis
auf eine kleine Oeffnung, durch die ein D i 1 1 e l’sches Knieheberrohr in
die Blase eingeführt wurde.
Der Verlauf war günstig, die Heilung ging anstandslos vor sich.
Doch ging die durch Alter und die Krankheit geschwächte Patientin
einige Monate nach der Operation an Herzschwäche und Marasmus
zu Grunde.
Der linke Ureter ist, wie an dem Sectionspräparat zu erkennen,
fast an normaler Stelle in die Blasenwand eingeheilt, ferner kann man
an dem bis nahe zur Niere aufgeschnittenen Ureter weder ein Zeichen
einer Stenose, noch irgend welche Dilatation entdecken. Drittens er¬
scheint bemerkenswert!!, dass der Ureter mit einem circa 6 — 7 mm
langen Stücke in das Blasenlumen vorragt, ein Umstand, der gewiss
nur zufällig ist und dadurch bedingt ist, dass der Ureter bei seiner
Einpflanzung vorsichtshalber etwas stärker herabgezogen worden war.
In diesem Falle, der schon im Jahre 1895 operirt wurde, zu
einer Zeit also, in welcher die Literatur der Ureterenchirurgie noch
sehr spärlich war, wurde der Typus der extraperitonealen Operations¬
methode gewahrt, und es ist vielleicht der erste in dieser Weise mit
Erfolg operirte Fall; in dem zweiten Falle handelte es sich um ein
intra-extraperitoneales Vorgehen, wie es schon durch die Sachlage
geboten war.
Wertheim exstirpirte bei der 30jährigen Patientin ein mit
dem im vierten Monate graviden Uterus innig verwachsenes linksseitiges
Ovarialsarkom von eineinhalb Faust Grösse, welches derart auf das
Colon descendens und den linken Ureter Übergriffen hatte, dass von
ersterem ein circa 10 cm langes Stück, von letzterem ein circa 7 cm
langes Stück resecirt werden musste. Wie man aus den verschiedenen,
durch das Präparat gelegten Durchschnitten ersieht, wäre es ganz un¬
möglich gewesen, den Tumor vom Darme oder vom Ureter abzulösen;
ja letzterer ist von der Tumormassö vollständig obliterirt, so dass das
Lumen aufgehoben ist.
Die Darmnaht hielt, die Uretereneinpflanzungsnaht versagte. Da
wiederum nach der Scheide drainirt und die Peritonealhöhle sorgfältigst
abgeschlossen war, resultirte eine Ureterenvaginalfistel, mit welcher
Patientin entlassen wurde.
Die Ursache für das Misslingen der Einpflanzung ist offenbar in
der bedeutenden Spannung zu suchen.
Im Anschlüsse an diese beiden Fälle von beabsichtigt durchge¬
führter Ureterenresection mit Implantation in die Blase, erwähnt Wer t-
h e i m noch eine vor wenigen Monaten erfolgreich durchgeführte vesicale
Ureterenimplantation, die wegen unversehentlicher Verletzung des Ureters
nöthig war. Es handelte sich um ein enorm grosses intraligamentäres
Myom. Den bei der Ausschälung verletzten Ureter pflanzte er circa
4 cm höher in die Blase ein. Wiederum Drainage nach der Vagina und
sorgfältige Deckung des Ureters und der Blase mit Peritoneum, Heilung
per primam.
Interessant ist nun in diesem Falle die cystokopische Beobachtung
des implantirten Ureters. Wie im ersten Falle, ragt derselbe stumpf¬
artig in die Blase vor, und an diesem Stumpf kommt nun die peri¬
staltische Contraction der Ureterenmusculatur in höchst auffälliger Weise
zur Beobachtung: nachdem der Urinstrahl ausgepresst ist, verschliesst
sich das Ostium und der Stumpf krümmt sich nun ganz zur Seite, sich
innig an die Blasenwand anlegend. Auch scheint dabei trotz des Ver¬
lustes des Ureterensphinkters ein sphinkterenartiger Schluss einzutreten,
eine Beobachtung, die für die Möglichkeit einer aufsteigenden Infection
nicht ohne Belang zu sein scheint.
Zum Schlüsse erwähnt Wortheim, dass ausser diesen bei
frischer Verletzung ausgeführten Einpflanzungen des Ureters in die
Blase auch bei verschiedenen alten Verletzungen (sogenannten Ureter
fisteln) die Einpflanzung ausgeführt wurde, sowohl auf vaginalem als
auf abdominalem Wege. Diese alten Fälle sind ganz anders zu be-
urth eilen. Hier handelt es sich um narbiges, manchmal schwieliges
Gewebe, in welchem der Ureter völlig eingeschlossen sein kann. Er
kann nicht immer genügend mobilisirt werden, und da die Verletzung
mitunter recht hoch sitzt, schliesslich auch die Blase (nach Exstirpation
grosser intraligamentärer Tumoren) dabei sehr fixirt und derb infiltrirt
sein kann, gelingt die Näherung der beiden Theile (Ureter und Blase)
nicht jedes Mal ohne bedeutende Spannung. Das aber gibt eine sehr
schlechte Prognose für die Einheilung. Solche Fälle sind es, für welche
nach wie vor die Nephrektomie der richtige Eingriff ist.
Discussion: 1. Fritsch: Die Diagnose soll bei Ureteren-
verletzung stets durch die Cystoskopie, nicht durch Sondirung gestellt
werden. Fritsch hat wiederholt die directe Ureterennaht mit günstigem
Erfolg gemacht. Später hat er die Witze l’sclie Operation, zuletzt die
intraperitoneale Einnähung in die Blase gemacht und über die Wunde
das Peritoneum vernäht. Im Princip ist Fritsch für die abdominale
Operation, bei decrepiden, schwachen Personen ist jedoch die Nephrek¬
tomie ungefährlicher.
2. A mann glaubt, dass das extraperitoneale Verfahren für die
Zukunft die meiste Aussicht auf Erfolg habe. Das Narbengewebe,
welches die Operation erschweren kann, kann man bei dem extra¬
peritonealen Verfahren häufig umgehen. Den Uterus zu exstirpiren
hält er nicht für zweckmässig. Bei einer Ureterencervicalfistel operirte
er nach W i t z e 1 ; die Frau machte nachher eine Geburt ohne
Schwierigkeit durch.
3. Martin: Die Nierenexstirpation hält Martin, falls der
Implantation Schwierigkeiten entgegenstehen, für berechtigt.
*
Section für Kinderheilkunde.
Referent Dr. B. B e n d i x (Berlin).
I. Sitzung: Montag den 18. September 1899.
IV. Dr. K. Oppenheimer (München) : Ueb er d i e Pasten-
risirung der M i 1 c h zum Zwecke der Säuglingser¬
nähr u n g.
Verfasser wurde durch Solo min’s Arbeit aus dem Jahre 1896
darauf aufmerksam, dass bei einer Erhitzung der Milch auf 80" und
mehr bereits eingreifende chemische Veränderungen (Ausscheidung der
Eiweisskörper) vor sich gehen.
Um diese Schädigungen bei der Herstellung der Kindermilch zu
vermeiden, stellte sich Verfasser die Aufgabe, die Ursache der chemi¬
schen Veränderungen, das heisst das übermässige Erhitzen der Milch,
zu vermeiden und trotzdem eine genügend lange Haltbarkeit zu
erzielen.
Das Resultat seiner dreijährigen Versuche auf diesem Gebiete
fasst er zusammen in dem Satz:
,.Eine halbstündige Erhitzung der Milch auf 70" mit darnach
folgender tüchtiger Abkühlung genügt, um die Milch für mindestens
zwei Tage haltbar zu machen.“
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 16
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Bezüglich der Abtödtung der pathogenen Keime, speciell des
Tuberkelbaeillus, in der so bereiteten, das heisst pasteurisirten Milch
stützt sich Verfasser auf die Versuche von Bi tier und De Man,
ans denen hervorgeht, dass der Tuberkelbacillus bei halbstündiger
Einwirkung einer Temperatur von 68 — 69° mit Sicherheit ver¬
nichtet wird.
Um die, in seinem weiter unten zu beschreibenden Pasteurisir-
apparate bereitete Milch noch speciell auf ihre Tuberkelfreiheit zu
prüfen, stellte Verfasser im pathologischen Institute zu München Ver¬
suche an, welche zeigten, dass der Apparat in dieser Beziehung völlige
Sicherheit bietet. Drei Versuchsthiere, denen eine, mit einer reichlichen
Tuberkelcultur inficirte und dann pasteurisirte Milch injicirt worden
war, wiesen nach sechs Wochen keinerlei tuberculöse Erscheinungen
auf, während die drei Controlthiere, denen man die gleiche Menge einer
ebenso infieirten Rohmilch injicirt hatte, deutlich erkennbare Tuber-
culose der Leber und Milz zeigten.
Der Apparat, welcher zum Pasteurisiren im Hause bestimmt ist,
besteht aus einem Wasserbehälter mit doppelter Wandung, deren
Zwischenraum mit Asbest ausgefüllt ist. Durch den Deckel ragt ein
Thermometer, welches in das Wasserbad eintaucht und dessen Tempe¬
ratur anzeigt. In den Wasserbehälter wird ein Flascheneinsatz mit acht
Milchfläschchen gestellt. Zum Gebrauch wird der Wasserbehälter bis
zur Höhe der Milchsäule in den Flaschen mit kaltem Wasser gefüllt
und verschlossen auf ein gelindes Feuer gestellt. Sobald das Thermo¬
meter auf 75° zeigt, wird der Apparat vom Feuer genommen und in
der Nähe des Herdes niedergestellt.
Nach einer halben Stunde wird der Deckel geöffnet, die Flaschen
werden tüchtig gekühlt und kalt aufbewahrt, am Besten im Eisschrank.
In Familien welche keinen Eisschrank besitzen, lässt Verfasser die
M'lch in oft zu erneuerndem Brunnenwasser aufbewahren.
Mit der, in dem eben beschriebenen Apparate im Hause
bereiteten Milch wurden zehn Säuglinge aufgezogen. Neun gediehen
trefflich und ohne jede Störung; das zehnte starb an einer cerebralen
Erkrankung. 32 Kinder wurden mit einer im Grossbetriebe pasteuri¬
sirten Milch ernährt; hier waren die Resultate im Winter günstig, im
Sommer dagegen traten bei verschiedenen Kindern Darmstörungen auf.
Als Verfasser daraufhin die Milch im Grossbetriebe sterilisiren
liess, blieben die Verhältnisse genau die gleichen, das heisst, es kamen
auch jetzt mehrere theils leichte, theils schwere Darmerkrankungen zur
Beobachtung.
Verfasser misst weder dem Pasteurisiren noch dem Sterilisiren
an und für sich die Schuld an diesen ungünstigen Resultaten bei, son¬
dern glaubt, die mangelhafte Ausführung verantwortlich machen zu
müssen, welche beide Methoden im Grossbetriebe erfuhren.
Zum Schlüsse empfiehlt der Vortragende, statt des jetzt
üblichen Sterilisirens das Pasteurisiren in die Praxis einzuführen, da
die pasteurisirte Milch bei genügender Haltbarkeit chemisch weit
weniger verändert, daher bekömmlicher und wohlschmeckender sei als
die sterilisirte.
Discussion zu dem Vortrage Oppenheime r’s.
1. Biedert (Hagenau) weiss durch persönliche Mittheilung,
dass von Forster in Amsterdam bereits seit Langem die Pasteu¬
risation der Milch im Grossen durchgeführt wird. Biedert fragt den
Vortragenden, ob ihm hierüber günstigere Resultate gegenüber der ge¬
kochten Milch bekannt sind. Biedert selbst scheinen die Nachtheile
gekochter Milch noch nicht genügend bewiesen zu sein. Biedert
weist darauf hin, dass man auch in der Butterindustrie die Pasteu¬
risation verwendet aber man traue dem pasteurisirten Rahm nicht
ganz, da Bacterium coli und Proteus nicht vernichtet und daher Rahm
und Butter verderben könnten. Immerhin hält Biedert den von
Oppenheimer angegebenen Apparat für nützlich, weil dadurch dem
Einzelnen Versuche damit ermöglicht würden.
2. Sonnenberger (Worms) legt den Hauptwerth für die
Gewinnung einer guten Milch auf die Fütterung der Kühe, es kommt
sehr darauf au, dass durch das Futter keine toxischen Stoffe in die
Milch hineingelangen. Redner fragt daher den Herrn Vortragenden, ob
nicht etwa die beobachteten Brechdurcb fälle mit einer Aenderung in
der I ütterung Zusammenhängen, was jedoch Oppenheimer
negiren kann.
Y. Ca merer sen. (Urach) gibt für den ausfallenden Vortrag
des Herrn Ritter (Berlin): Der Urin des Säuglings, einige
Zahlen von drei Kinderharnen.
Der relative Gehalt des Säuglingsurins an C und II nimmt mit
der Zeit der Lactation ab. (Siehe nebenstehende Tabelle.)
VI. Georg Mell in (Helsingfors in Finnland): Ueber die
Virulenz des aus Kiuderstühlen gewonnenen Bac¬
terium coli commune.
Der Referent hat aus 22 verschiedenen Kinderstühlen Bacterium
coli commune isolirt, und zwar aus 21 Fällen von acuten Gastro¬
C
H
I
N = 1 gesetzt
(R u b n e r u. H e u b n e r) neun
Wochen .
(Camerer u. Söldner) . . J
1-27
1-20
100
0-27
0-21
Muttermilchnahrung
Erwachsener — gemischte \
Kost (nach V o i t) /
0-72
0T5
enteritiden und einmal aus den Entleerungen eines gesunden Kindes.
Von diesem rein gezüchteten verschiedenen Bacterium coli wurde eine
bestimmte Menge von einer 24 Stunden alten Bouilloncultur je einem
Kaninchen oder Meerschweinchen intraperitoneal injicirt, und zwar
jedes Mal 1 cm* auf circa 1 hg Körpergewicht.
Die Thiere reagirten auf diese Einspritzungen sehr verschieden:
1. Die Thiere starben schon nach weniger als zwölf Stunden,
ohne dass eine Verletzung bei den Einspritzungen bei der Section sich
ergab (vier Fälle).
2. Die Thiere erlagen nach zwei bis drei Tagen (fünf Fälle).
3. Die Thiere starben erst nach einer Kraukheitsdauer von mehr
als einer Woche (drei Fälle).
4. Die Thiere zeigten wohl die ersten Tage Krankheitssymptome,
wie Fieber, Appetitlosigkeit, Unbeweglichkeit u. s. w., aber bald er¬
holten sie sich wieder, wurden mobil, nahmen an Gewicht zu und
schienen vollständig gesund (zehn Fälle).
In den zu der ersten Reihe gehörigen Fällen ergab die
Section makroskopisch kaum etwas Abnormes. Mit Hilfe des Mikro¬
skops könnte Bacterium coli schon vier Stunden nach der Injection
im Herzblut constatirt und daraus rein gezüchtet werden.
In den zum Punkte 2 gehörigen Fällen zeigte die Section ein
spärliches seröses Exsudat in der Pleura- und Pericardial-, etwas
reichlicheres in der Bauchhöhle, mit ab und zu beginnender Verklebung
der mässig aufgeblähten Därme. Die Milz erschien mässig geschwollen,
die Darmschleimhaut ganz oder theilweise injicirt und die Peyer’schen
Plaques ebenso geschwollen. Bacterium coli konnte in allen Fällen
aus dem Herzblute, oft auch aus der Urinblase, der Milz und den
Nieren rein gezüchtet werden.
Bei den zum Momente 3 gehörigen Fällen ergab die Section
grössere Veränderungen. Auch hier bestand ein spärliches seröses
Exsudat in der Pleura- und der Pericardialhöhle. ln der Bauchhöhle
wurde einmal eine schwere Peritonitis mit abgekapselten Eiterherden
gefunden, in den anderen Fällen eine beginnende adhäsive Peritonitis
ohne Eiter. Die Milz war stark geschwollen, die Darmschleimhaut
injicirt, die Peyer’schen Plaques auch geschwollen. In dem Falle
von der eiterigen Peritonitis konnte Bacterium coli aus der Bauch¬
höhle, dem Herzblute, der Milz, den Tubae fallopiae rein gezüchtet
werden. In den anderen Fällen waren keine Mikroorganismen an den¬
selben Stellen zu finden.
Die zum 4. Punkte gehörigen Thiere leben noch, nachdem
sie ihre Krankheit überwunden haben und nehmen fortdauernd an
Gewicht zu.
Bei der Einspritzung von sogar relativ grösseren Mengen von
dem aus gesundem Darme stammenden Bacterium coli zeigte das
Versuchsthier keine Krankheitssymptome.
Aus diesen Versuchen geht also hervor, dass das Bacterium coli
unter Umständen eine ausserordentliche Virulenz erlangen kann, aber
auch, dass die Virulenz in grossen Breiten schwankt. Neben einer
Giftwirkung, welche ein Thier in wenigen Stunden zu Grunde richtet,
steht eine solche, welche die Gesundheit der Thiere energisch erschüttert,
um dann das Thier wieder zur vollen Gesundung gelangen zu lassen.
— Dabei kann man nicht behaupten, dass die Schwere der Erkrankung
mit der Giftwirkung des Bacterium coli in Correspondenz stände.
Leichtere Erkrankungsfälle ergaben giftigere Keime, als schwerere.
Bemerkt muss aber auch werden, dass das aus gesundem
Darme stammende Bacterium coli nicht pathogen war. Doch müssten
mehrere ähnliche Fälle erst beobachtet werden, ehe man ein zu¬
verlässiges Resultat in dieser Hinsicht erreichen kann.
Dabei war es vom höchsten Interesse, zu beobachten, dass alle
die Alfectionen, Cystitiden, Tympania abdominis et uteri u. s. w., die
bisher in der Literatur als menschliche Erkrankungen durch Bacterium
coli hervorgerufen, angegeben worden sind, auch bei unseren Versuchs-
thieren beobachtet wurden.
(Fortsetzung folgt.)
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumiiller in Wien.
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Beaumetz, Medications nouvelles, 2. Serie ; Bibliotheque Charcot-Debove, Purgatifs,
pag. 104; Prof. Lemoine in Lille. Therapeutique clinique, pag. 305; Tison, Hop'tal
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Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gussenhaner, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/1, Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang. Wien, 26. April 1900. Nr. 17.
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Die „Wiener klinische
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erscheint jeden Donnerstag
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Zuschriften für die Redac¬
tion sind zu richten an
Dr. Alexander Fraenkel,
IX/3, Maximilian platz,
Günthergasse 1. Bestellun¬
gen nnd Geldsendungen an
die Verlagshandlung.
Redaction :
Telephon Nr. 3373.
INHALT:
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel : 1. Ueber die Nachkommenschaft der Hereditärsyphi¬
litischen. Von Prof. E. Finger.
2. Aus dem Kronprinz Rudolf-Spitale. Der Darmkrebs im Kindes¬
alter. Von Dr. Zuppinger,
II. Referate: Die Krankheiten der Milz und die hämorrhagischen Dia-
thesen. Von Prof. Dr. M. Litten. Ref. Schmidt.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
Ueber die Nachkommenschaft der Hereditär
syphilitischen.
Von Prof. £. Finger.
Referat, über Ersuchen des Organisationscomites erstattet für den IV. inter¬
nationalen Congress für Dermatologie und Syphilidologie in Paris vom
2. — 9. August 1900.
Wenn ich der sehr ehrenden Einladung des Organisations¬
comites für den IV. internationalen Congress für Dermatologie
und Syphilis Folge leiste und über das Thema: »Die Nach¬
kommenschaft der Hereditärsyphilitischen« Be¬
richt erstatte, so geschieht dies nicht ohne Zagen. Müssen wir
auf der einen Seite dem Organisationscomite unseren herz¬
lichen Dank sagen, dass es die Anregung gab, eine so
wichtige, nicht nur hygienisch, sondern social bedeutungsvolle
Frage zu discutiren, so müssen wir auf der anderen Seite zu¬
geben, dass die Discussion über dieses ernste Thema eine sehr
schwierige ist, indem bisher nur eine relativ kleine Zahl und da
oft nicht einwandfreier Beobachtungen vorliegt. Es ist ja auch
naturgemäss, dass solche Beobachtungen nur in kleiner Zahl
vorliegen können, sind doch die Schwierigkeiten, die dem
Arzte, dem Forscher sich hier entgegenstellen, riesig gross.
Die Nachkommenschaft Hereditärsypbilitischer studiren, fest¬
stellen, ob und welche Veränderungen bei denselben die durch
mehrere Generationen vererbte Krankheit bedingte, heisst für
uns mindestens drei Generationen überblicken, deren Krank¬
heit, deren Verlauf deren Acquisitionsweise zweifellos eruiren,
die Aesserungen der Krankheit fixiren ; wie schwer ist dieses
aber. Nur wenig Aerzten ist es gegönnt, während einer langen
Ihätigkeit Grossvater und Enkel in der Ordinationsstunde zu
sehen, und so sind wir meist auf Anamnese angewiesen, und
wie trügerisch und unverlässlich diese bei Syphilis gerade ist,
wissen wir ja. Wie selten gelingt es uns, nur aus der Anamnese
zweifellos festzustellen, dass die • Eltern eines Patienten an
Syphilis litten. Werden sonst die Leiden und Krankheiten der
Eltern am häuslichen Herde offen besprochen, tauchen sie nach
Jahren als Reminiscenzen schwerer Tage wieder auf und ge¬
langen so zur Kenntniss der Kinder, so ist das bei Syphilis
ganz anders. Der Vater hütet sich wohl, von den galanten
Abenteuern seines Junggesellenlebens und deren Folgen, von
den in der Ehe gemachten Seitensprüngen vor seiner Familie
zu sprechen; da ist er der Tugendheld und geneigt, auf jeden
leichtfertigen Jüngling den Stein zu werfen, jeden Syphilitischen
zu verdammen. Wird die Frau, die Mutter, inficirt, so weiss
sie ja meist von ihrer Erkrankung nichts, der vom Manne ein-
geweihte Hausarzt muss im Gegentheile mithelfen, die Frau
zu hintergehen und über die wahre Ursache ihres Leidens
hinüberzutäuschen. Die Kinder erfahren also von der syphiliti¬
schen Erkrankung ihrer Eltern nur selten, nur durch einen
Zufall etwa. Ja, selbst in jenen Fällen, in denen die Er¬
krankung der Eltern sich durch Vererbung auf ihre nächsten
Nachkommen übertrug, erfahren die Kinder meist nichts davon,
ihre Erkrankung wird ihnen als von einer Amme, einem Kinds¬
mädchen acquirirt geschildert, die hereditäre Lues denselben
als eine in frühester Kindheit acquirirte Erkrankung dar¬
gestellt. Zahlreiche Hereditärsyphilitische wissen also nicht,
dass sie an ererbter Syphilis leiden, was für uns bei Aufnahme
anamnestischer Daten umso bedauerlicher ist, als wir bei einem
an veralteter Lues leidenden erwachsenen Individuum oft ab¬
solut keine Anhaltspunkte haben, zu entscheiden, ob hereditäre
oder in frühester Jugend acquirirte Lues vorliegt. Der Streit
über die sogenannte Lues hereditaria tarda beweist dieses ja.
Wenn nun aber die Eltern ihre acquirirte Syphilis ver¬
heimlichen oder dissimuliren, deren Kinder von der Syphilis
der Eltern meist keine Kenntniss haben, selbst wenn sie an
hereditär-luetischen Symptomen leiden, von der Thatsache der
Ererbung der Syphilis keine Ahnung haben, wie soll die dritte
Generation über die acquirirte Syphilis der ersten, die ererbte
Syphilis der zweiten Generation eine solche genaue Kenntniss
haben, dass deren Bericht für unsere wissenschaftliche Nach¬
forschung nur halbwegs brauchbar wäre? Andererseits kommt
aber auch das Entgegengesetzte vor, dass insbesondere Väter
hereditär-syphilitischer Kinder vom Arzte wegen acquirirter
Syphilis inquirirt und in die Enge getrieben, sich als un¬
schuldige Opfer hereditärer Syphilis hinstellen wollen. »Sie
können mir es glauben, Herr Doctor, ich war nie krank, ich
habe nie etwas, selbst nicht den kleinsten Tripper gehabt,
aber mein Vater, Gott hab’ ihn selig! soll ein flottes Jung-
384
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Vr. 17
gesellenleben geführt und an galanten Krankheiten gelitten
haben; kann die Krankheit meines Kindes nicht noch aus
dieser Quelle stammen?« ist eine Frage, die wir nicht selten
zu hören bekommen. Anderweitige, für die Anamnese als
unterstützende Momente dienende Angaben sind meist ebenso
schwer verlässlich und lückenlos zu erhalten. Wie selten weiss
die zweite Generation darüber Auskunft zu geben, ob in der
ersten Generation Abortus, Frühgeburten, Todtgeburten etc.
vorkamen. AI it dieser Un Verlässlichkeit der Angaben hängt es
zusammen, dass in früheren Zeiten eine Vererbung der Syphilis
in mehreren Generationen wohl im Allgemeinen behauptet,
aber nicht erwiesen wurde. So spricht van Helm on t von
einer Vererbung der Syphilis bis in die vierte Generation,
Sanchez erklärt aus seiner 60jährigen Erfahrung, dass es
täglich geschehe, dass sich die Syphilis bis in das vierte und
achte Glied forterbe. Gir tanner erklärt diese Vererbung
für möglich, R a u 1 i n, Beyer, P o 1 1 o n behaupten, dass sich
die Syphilis bis auf die dritte Generation erstrecken könne,
Rosen hebt hervor, die Kinder der Syphilitischen seien klein
und schwächlich, zeugen ähnliche Kinder, so dass auf diese
Weise eine ganze Bevölkerung ausarten könne; eine ähnliche
Ansicht spricht F a b r e aus , und Par en t-Duch atel
meint, die Syphilis tödte den Befallenen zwar nicht sofort, aber
die Zahl ihrer Opfer sei doch gross; macht sie den Befallenen
nicht steril, so stellen doch dessen Nachkommen eine ver¬
kümmerte Race (race abätardie) dar, ungeeignet zu bürger¬
licher Beschäftigung, wie zum Militärdienst, eine Last für die
Gesellschaft.
Diese Ansichten sind ganz allgemein gehalten und wir sind
nicht in der Lage, die Beweise, jen* Momente, die zu diesen
Ansichten führten, zu prüfen. In den letzten Decennien nun
ist diese Frage in concreterer Form wieder aufgeworfen
worden und nicht Avenig casuistische Arbeiten wurden publicirt.
Insbesondere aber sind hervorzuheben die Arbeiten unserer
verdienstvollen französischen Collegen A. und E. Fournier,
Barthelemy, Jullien und Anderer, die sehr werthvolles
Material zusammentrugen und mit denen wir uns im Fol¬
genden zu beschäftigen haben werden.
Die acquirirte Syphilis der Eltern kann der allgemein
geltenden Ansicht nach bei ihren directen Nachkommen,
ihren Kindern, in verschiedener Form sich äussern. Sie kann
direct als Syphilis übergehen; die Kinder leiden an echter,
ererbter, zu Zeiten contagiöser Syphilis. Doch dieses ist nicht
unbedingt nöthig. ja es findet nur in der Minderzahl der
Fälle statt. In der Mehrzahl der Fälle bleiben die Kinder
gesund. Diesen gesunden Kindern wird eine gewisse absolute
oder relative Immunität zugeschrieben, mit der wir uns werden
zu beschäftigen haben. Schon die hereditär-syphilitischen
Kinder bieten neben den Symptomen echter Syphilis Erschei¬
nungen anderer Art dar, verschiedene Formen von Ernährungs¬
störungen und EntAvicklungshemmungen. Welk, zart, greisen¬
haft bei der Geburt, bleiben sie schlecht genährt, im Wachs-
tlmm zurück, lernen spät gehen und sprechen, die Entwick¬
lung der Zähne und Haare ist ungenügend, die Geschlechts¬
reife tritt zögernd und ungenügend ein, Ernährungsstörungen
verschiedener Art, gewisse charakteristische Erkrankungen,
Avie die von Silex wieder aufgenommene Hutchinso n-
seke Trias treten auf, Erscheinungen auf deren Details ich ja
an diesem Orte nicht näher einzugehen brauche. Diese selben
Erscheinungen vererben sich aber auch selbstständig, unab¬
hängig von Vererbung der Syphilis als solcher.
Die echte hereditäre Lues ist auf den Uebergang des
uns leider noch immer nicht bekannten Virus von Eltern auf
die Kinder zurückzuführen, die Immunität ist auf den Ueber¬
gang immun isirender Substanzen von Eltern zum Kinde, oder
auf die Anregung der Production solcher im kindlichen Or¬
ganismus zurückzuleiten, so die letzte Reihe der »dystrophi¬
schen« Störungen ist auf eine Alteration, eine »Depravation«
von Sperma und Ovulum zu beziehen, die durch die vom
gt wird. So Avenigstens
habe ich in meinem Aufsatze »Die Syphilis als Bacterien-
krankheit« und insbesondere in meiner Bearbeitung von
A. Fourniers »Heredite syphilitique« diese ganze Erschei¬
Syphilisvirus producirten Toxine bedin
nungsreihe gedeutet. Die Experimente von Char rin, Gley,
Fern etc. haben diese Auffassung durch Analogien gestützt
und die französischen Bearbeiter dieser Fragen haben dieselbe
Auffassung aeceptirt. Wollen wir also die Einwirkung der
Syphilis auf die weiteren Generationen studiren, so müssen
Avir diese drei Aeusserungen der Syphilis trennen und stu¬
diren. ob 1. das syphilitische Virus, 2. die toxischen syphili¬
tischen Dystrophien, 3. die Immunität gegen Syphilisinfection
als absolute und relative sich in Generationen vererben.
I. Was die erste Frage, die Vererbung d ex-
echten Syphilis in Generationen betrifft, so sind
allerdings bereits eine Reihe casuistischer Mittheilungen be¬
kannt, die diese Vererbung zu beweisen trachten. Was das
Formale betrifft, so sind diese Publicationen unter verschiedenen,
zum Theile nicht dem Sachlichen entsprechenden Titeln ange¬
führt. Wenn in einer Familie die erste Generation an aquirirter,
die zweite an ererbter und die dritte an ererbter Syphylis
leidet, so handelt es sich um Syphilis in drei auf¬
einander folgenden Generationen, aber nur um
Vererbung der Syphilis auf die zAveite Genera¬
tion, da ja der Process der Vererbung nur zweimal, von der
ersten auf die zweite, von der zweiten auf die dritte Genera¬
tion stattfand, nur die zAveite und dritte Generation an Erb¬
syphilis leidet, die erste ja acquirirte Syphilis darbot. Die hie
und da beliebte Bezeichnung solcher Fälle als Vererbung auf
die dritte Generation ist also logisch nicht ganz gerechtfertigt,
und es wäre wünschenswerth, diese Fälle einheitlich als Ver¬
erbung der Syphilis auf die zweite Generation
zu bezeichnen, und damit zu kennzeichnen, dass der Process
der Vererbung zweimal stattfand.
Was das Sachliche betrifft, so wird die theoretische
Möglichkeit des Statthndens eines solchen Vorganges von den
neueren Autoren wohl ausnahmslos zugegeben. Avenn auch als
eine Seltenheit, und zwar deshalb zugegeben, Aveil es bekannt ist,
dass bei acquirirter Syphilis die V er e r b u n g d e r s e 1 b en, Avie
Fälle von Campbell, Henoch, Weil etc. beweisen, noch
lange Zeit nach der Infection, 12,15, selbst 2 0 J ahre
nach derselben erfolgen könne. An diese Erfahrung
schliesst sich die logische Folgerung an, dass auch ein Indivi¬
duum, das seine Syphilis bei der Zeugung acquirirte, dieselbe
noch nach 20 Jahren vererben könne, also besonders für das
Aveibliche Geschlecht die Möglichkeit vorliege, dass eine mit
Erbsyphilis geborene Fx-au in ihrem 18., 20. Lebensjahre
ihrerseits Kinder mit von ihr Aveitei-geerbter Syphilis gebären
könne. Als der crasseste dieser Fälle ATon Vererbung der
Syphilis mit langer Frist gilt der Fall von Bo e ck (Erfahrun-
gen über Syphilis. 1876) eine Frau betreffend, die im Alter
von zehn Jahren von Bo eck Avegen acquirirter Syphilis be¬
handelt wurde, später zAvei tertiäre Recidiven hatte und dann
heiratete. Diese Frau hatte nun fünf Kinder, deren erstes
gesund Avar und, zwei Jahre alt, an unbekannter Krankheit
starb, deren zweites, drittes, viertes gesund waren und von
einem Dienstmädchen mit Syphilis inticirt wurden, während
das fünfte Kind, zehn Jahre nach dem vierten geboren, als
die Frau 47 Jahre alt Avar, Erscheinungen hereditärer Syphilis
darbot. Der Vater hat »aller Wahrscheinlichkeit nach? keine
constitutionelle Syphilis gehabt, es hätte also die Mutter
37 Jahre nach der eigenen Infection ihre Syphilis noch vererbt,
vererbt nachdem sie vorher vier ganz gesunde Kindei-, von denen
drei sich mit Syphilis inficirten, geboren hatte. Der Fall er¬
scheint mir nicht absolut einwandfrei und wäre wohl die
hereditäre Syphilis des letzten Kindes dadurch zu erklären,
dass der Mann sich in dem Intervalle von zehn Jahren, das
zwischen der Geburt des vorletzten und letzten Kindes lag,
mit Syphilis inticirte, Avas um so wahrscheinlicher ist, als die
Angaben B o e c k’s über den Gesundheitszustand des Mannes
doch reservirt lauten, oder dass der Mann nicht der Vater des
Kindes war.
Als weiterer Stützpunkt für die Möglichkeit der Vei'-
erbung der Syphilis auf die zweite Genei-ation Aväre geltend
zu machen, dass die hereditäre Syphilis lange Zeit
contagiös bleiben könne. So führt Lee (Lectures on
Syphilis. 1875) einen Fall an, einen Mann betreffend, der an
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900
385
hereditärer Syphilis litt und seine Frau bald nach der Ehe¬
schliessung mit Syphilis inficirte.
Da nun aber solche Fälle von Vererbung
und Contagiosität der Syphilis mit 1 a n g e r F r i s t,
wenn auch als extreme Seltenheit, v o r 1 i e g e n ,
muss theoretisch die Vererbung der Syphilis
auf die zweite Generation, wenn auch g e w i s s
nur als ausnahmsweises Vorkommniss zuge¬
geben werden.
Eine Zahl von Einzelbeobachtungen liegt nun vor;
wollen wir diese kritisch durchsehen, dann müssen wir zu¬
nächst jene Postulate fixiren, die zur Aüthenticität des Falles
noting sind.
Hiezu ist noting, dass 1. die vererbte Syphilis
in der zweiten Generation zweifellos feststehe,
Vater oder Mutter an zweifelloser hereditärer Syphilis gelitten
haben müssen, deren Beginn auch wirklich aus den ersten
Lebenswochen oder Lebenslagen datiren muss. Steht diese
Thatsache fest, dann sind weitere Daten über die erste Gene¬
ration nicht noting. 2. Es muss eine acquirirte Syphi¬
lis in der zweiten Generation, also eine Infection des
gesunden, oder eine Reinfection des syphilitischen Theiles voi¬
der Geburt der dritten Generation unbedingt ausge¬
schlossen sein. 3. Die hereditäre Natur der
Syphilis der dritten Generation muss zweifel¬
los erwiesen sein.
Von diesen Postulaten ist das zweite wohl am schwersten
zu erfüllen, und wie wir sehen werden, in den bisher vor¬
liegenden Fällen nicht erfüllt.
Es ist ja durch eine selbst wiederholte Untersuchung
eines Individuums oft nicht so leicht festzustellen, dass es von
Syphilis frei ist und frei war, dann, wenn gar keine Anhalts¬
punkte dafür da sind, wissen wir doch, dass eine Lues nicht
selten so spurlos verläuft, dass sie nach Jahren keine Residuen
mehr zurücklässt, der Anamnese ist aber begreiflicher Weise
nur wenig Werth beizumessen.
Sehen wir nun die bisher publicirten Fälle an, die ich
in chronologischer Reihenfolge hier kurz Revue passiren
lassen will.
1. Fall. (Davas-se, La Syphilis, ses formes et son unite.
Paris 1865.) Erste (feneration: Die Grossmutter wurde kurz nach
der Verehelichung krank, hatte Ausschläge, Geschwüre im Halse,
die lange Zeit dauerten und mit Zerstörung des Gaumens endeten.
Auf wahrscheinlich mercurielle Behandlung genas sie und gebar
drei gesunde Kinder. Zur Zeit zeigte sie ganz charakteristische
Syphiliserscheinungen, gänzliche Zerstörung des Gaumens und der
Gaumenbögen, von Narbensträngen eingefasst, Communication der
Nasen- und Rachenhöhle, näselnde Sprache etc. Zweite Generation:
Vater und Mutter beide kräftig, leugnen Infection, wurden nicht
untersucht. Sechs Kinder starben kurz nach der Geburt an Lebens¬
schwäche, Gonvulsionen, das letzte Kind (dritte Generation) bis zum
Alter von -sieben Jahren gesund, zeigte damals eine chronische
Kniegelenksentzündung, die auf antiscrophulöse Behandlung nicht
heilte. Im Alter von 16 Jahren chronische fungöse Kniegelenks¬
entzündung mit multipler Caries und Nekrose der Gelenksenden,
multiple Periostitiden der langen Röhrenknochen, Erkrankung der
Nase mit Exfoliation von Knochen und Knorpel. Erscheinungen
von Rachitis, die Schneidezähne zeigen die »für Syphilis charakte¬
ristischen Veränderungen«.
Epikrise: Die Syphilis der ersten Generation ist zweifellos,
Die Angaben betreffend die zweite Generation sind lückenhaft;
würde man sie wörtlich nehmen, dann wäre der Fall ein solcher,
in dem die Syphilis von der ersten mit Ueberspringung der zweiten
auf die dritte Generation vererbt wäre. Die Angabe der sechs auf¬
einanderfolgenden Todesfälle von kleinen Kindern könnte Verdacht
auf acquirirte Syphilis in der zweiten Generation erwecken. In der
dritten Generation ist sowohl die Erkrankung als syphilitische, wie
insbesondere als hereditärsyphilitische zweifelhaft.
2. Fall. (Collin, Observation de THeredosyphilis ä la seconde
Generation. Lyon medic. 1874.)
Der Grossvater mütterlicherseits soll an Syphilis gestorben
sein. Beide Eltern, die zweite Generation, werden bei Untersuchung
gesund befunden und sollen immer gesund gewesen sein. Deren
Kind, die dritte Generation, hatte, acht oder neun Monate alt, ein
Exanthem, später wiederholt Bronchitis und Koryza, im Alter von
sechs Jahren Koryza und Affection beider Lungenspitzen. Unter
Schwefeltherapie kam es zu einer Eruption von Roseola und Plaques
der Mundschleimhaut.
Epikrise: Ueber Syphilis der ersten Generation ungenaue
Daten, in der zweiten Generation hereditäre Syphilis nicht er¬
weisbar, acquirirte nicht auszuschliessen, die hereditäre Natur der
Syphilis der dritten Generation ist fraglich.
3. Fall. (Simon, Discussion über die Pathologie der Syphilis.
Transact, of the pathol. Soc. London 1876.) Eine Frau, deren
Vater an tertiärer Syphilis gestorben war und die selbst syphilitische
Symptome darbot, die nur auf Vererbung zurückzuführen waren,
gebar ein Kind mit Erscheinungen hereditärer Syphilis. Verfasser
ist geneigt, die Syphilis des Grossvaters und Enkels in Zusammen¬
hang zu bringen.
Epikrise: Da alle Angaben über den Mann, den Vater des
Kindes, fehlen, entspricht die Beobachtung nicht den oben an¬
gegebenen Postulaten.
4. Fall. (Atkinson, An account of Syphilis inherited trough
two Generations. Arch, of Dermatology. 1877.) In der ersten
Generation zeigt die Grossmutter im Gesicht zahlreiche, für Syphilis
verdächtige Narben. Der Grossvater leugnet jedoch jede Infection.
Die dieser Ehe entsprossene Generation besteht aus sechs
Kindern. Von diesen starben die beiden ersten ein Jahr, respective
zwei Wochen alt an Gonvulsionen, das dritte und vierte Kind starb
jedes im Alter von fünf Monaten. Das fünfte Kind Julia zeigt
Symptome hereditärer Syphilis, vorgewölbte Stirne, abgeplattete Nase,
gekerbte Zähne, Cornealnarben nach Keratitis. Julia verehelichte
sich mit 16 Jahren an einen gesunden und bei der Untersuchung
gesund befundenen Mann, und hatte noch in der Ehe, nach der
Geburt des ersten Kindes, ein papulo-serpiginöses Syphilid an den
oberen Extremitäten. Das sechste Kind, drei Jahre jünger als Julia,
zeigt gekerbte Zähne, Corneanarben nach Keratitis, Taubheit. Die
der Ehe der Julia mit dem angeblich gesunden Manne entsprossene
dritte Generation besteht aus zwei Kindern. Das ältere war bis auf
ein Eczema ani gesund. Das jüngere, zwei Jahre später geborene
Kind zeigte acht Wochen nach der Geburt eine schon längere Zeit
bestehende Koryza, eine ältere Roseola, Röthung und Schuppung
der Palmae und Plantae, Fissuren in den Mundwinkeln, ist wohl
reif geboren, aber schwach und welk. Auf antiluetische Behandlung
bessern sich wohl die Syphilissymptome, aber das Kind stirbt, zwei
Monate alt, an Diarrhöe.
Epikrise: Die hereditäre Syphilis in der zweiten und
dritten Generation ist wohl zweifellos. Die Aüthenticität des Falles
hängt davon ab, wie viel man den Angaben, der Vater des Kindes
sei nicht syphilitisch, Geltung gibt. Immerhin wäre es möglich, dass
die hereditärsyphilitische Julia sich vor ihrer Ehe reinficirte, wofür
das sonst auffallende Auftreten des tuberculo-serpiginösen Syphilides
sprechen würde, oder dass deren Mann nach der Geburt des ersten
gesunden Kindes sich mit Syphilis inficirte. Zweifel an der Echtheit
des Falles sind umso berechtigter, als King (Hereditary Syphilitic
Transmission through two Generations. Journ. of cutan. and genito-urin.
Dis. 1889) berichtet, Atkinson habe ihm gesprächsweise mit-
getheilt, dass er selbst an der Echtheit seines Falles zweifle.
5. Fall. (Laschkewitz, Syphilis hereditaria tarda. Archiv
für Dermatologie. 1878.) Ein sehr lückenhafter Fall. Von der ersten
Generation ist nichts bekannt. Von der zweiten Generation ist die
Mutter gesund, der Vater schien es auch, erkrankte aber ein Jahr
nach der Erkrankung seines Kindes an Amblyopie in Folge bilateraler
Retinitis, die auf Quecksilber rasch heilte. Die dritte Generation, ein
Mädchen, war bis zum Alter von 13 Jahren gesund, erkrankte
dann an Spondylitis der Halswirbel mit Lähmung aller vier Ex¬
tremitäten. Mercurielle Behandlung brachte in zwei Monaten Heilung.
Epikrise: Selbst unter der Voraussetzung, dass Vater und
Kind wirklich an luetischen Erscheinungen litten, was nicht zweifel¬
los dasteht, lässt der Fall doch mehrere Deutungen zu, so acquirirte
Syphilis des Vaters, hereditäre Syphilis des Kindes, acquirirte
Syphilis des Vaters nach Geburt des Kindes, frühzeitige Infection
des Kindes durch den Vater oder anderwärts, so dass wir dem Falle
absolut keine Beweiskraft zuschreiben können.
386
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 17
6. Fal]. (Hutchinson, London Hospital Report. II, 1865,
und: Syphilis. 1887, pag. 396.) Ueber die erste Generation ist
nichts bekannt. Von der zweiten Generation zeigt die Mutter
zweifellose Symptome hereditärer Syphilis. Ist zwar kräftig, hat
aber frische Keratitis, gekerbte Zähne, radiäre Narben um den
Mund, vorgewölbte Stirne. Der Vater leugnet syphilitische Infection,
Untersuchung lässt keine solche nachweisen. Der Mann stand wegen
Sykosis lange Zeit bei E. Wilson und Dr. Startin in Behand¬
lung, ohne dass einer dieser Aerzte Erscheinungen von Syphilis
nachweisen konnte. Dritte Generation: deren Kind ist kräftig,
aber zweifellos hereditärsyphilitisch, hat Koryza, syphilitisches
Exanthem, welche Symptome unter antiluetischer Behandlung aus¬
heilten.
Epikrise: Der Fall wäre authentisch, wenn nicht doch
die Möglichkeit, dass in der zweiten Generation acquirirte Syphi¬
lis da war, aber nicht nachgewiesen werden konnte, zugegeben
werden müsste.
7. Fall. (Rabl, Ueber Lues congenita tarda. Wien 1887.)
Ueber die erste Generation ist nichts bekannt. Von der zweiten
Generation hatten die Mutter und deren Schwester, die sonst gesund
waren, in den Pubertätsjahren eine interstitielle Keratitis durch¬
gemacht, deren Narben noch sichtbar sind. Die Tochter, die dritte
Generation, erkrankte, 14 Jahre alt, an interstitieller Keratitis, die
in Bad Hall zur Ausheilung kam.
Epikrise: Selbst für den Fall, dass die Keratitis bei
Mutter und Tochter wirklich hereditärluetischen Ursprungs sind,
was durchaus nicht zweifellos ist, kann der Fall, da über den
Vater nur die Angabe der Frau, er sei gesund, vorliegt, nicht als
Beweis der Vererbung der Syphilis auf die zweite Generation bei¬
gezogen werden.
8. Fall. (Rabl, ibidem.) Von der ersten Generation hatte die
Grossmutter mutterseits im ersten Jahre der Ehe eine Syphilis
durchgemacht, die in mehrfachen Recidiven zu Tophi an den
Tibien und Perforation des Septum narium geführt hatte. Deren
Tochter (die Mutter, zweite Generation) war gesund erkrankte aber
in den Pubertätsjahren an einer Ozaena, die zu Verlust des
Knochengerüstes und Einsinken der Nase geführt hatte. Ueber
deren Mann, den Vater, ist nichts bekannt. Der Sohn, dritte Ge¬
neration, war gesund, bis er im Alter von elf Jahren an einer
Schwellung der Cervicaldrüsen erkrankte, die auf Jodbehand¬
lung heilte.
Epikrise: Die ererbte Syphilis in der zweiten Generation
ist zweifellos, acquirirte Syphilis des Vaters nicht auszuschliessen,
die Natur der Erkrankung des Sohnes, dritte Generation, als syphi¬
litisch ist wohl fraglich.
9. Fall. (R a b 1, ibidem.) Die Grossmutter mutterseits, erste
Generation, erkrankt im Alter von 65 Jahren an Ulcerationen an
den Muscheln und am Septum der Nase mit typischen nächtlichen
Kopfschmerzen; Heilung in Hall, doch Recidive im nächsten Jahre.
Deren Tochter, zweite Generation, ist bis zum Alter von 20 Jahren
gesund, erkrankt dann an ulcerösem Processe des Septum cartila-
gineum nasi mit Destruction und Deformation der Nase. Der Mann
derselben soll gesund sein. Deren Sohn, dritte Generation, gesund,
zeigt zehn Jahre alt Koryza, 17 Jahre alt Gumma am unteren
Augenlid.
Epikrise: Der Fall lässt auch die Deutung zu, die Gross¬
mutter sei erst nach Geburt der Tochter mit Lues inficirt worden,
die Tochter leide, vielleicht von der Mutter in der Kindheit inficirt,
an aller, frühzeitig acquirirter Lues; deren Syphilis ist als hereditär
durchaus nicht festgestellt, acquirirte Syphilis beim Vater, respec¬
tive Manne nicht ausgeschlossen, hereditäre Lues der dritten Gene¬
ration nicht zweifellos.
10. Fall. (Dezanneau, Observation d’Heredosyphilis ä la
seconde Generation. Anna], de Dermat. et de Syphil. 1888.) Ueber
die erste Generation fehlen alle Nachrichten. Der Vater, zweite
Generation, war gesund bis zum Alter von 14 Jahren, in dem er
eine incomplete Paralyse beider Beine, Diplopie, Kopfschmerz darbot,
welche Erscheinungen auf unbekannte Heilmittel schwanden. Fünf
Geschwister des Vaters starben an Lebensschwäche rasch nach
der Geburt. Seine Frau, die Mutter, soll stets gesund gewesen sein.
Der Ehe entstammten vier Kinder, dritte Generation, davon zwei
Abortus, ein scheinbar gesundes Kind, das, sieben Monate alt, an
Hirnerscheinungen starb, ein viertes Kind, das bis zum Alter von
23 Jahren gesund war, dann aber an Hemiplegie und doppelseitiger
Keratitis erkrankte, die auf Quecksilber und Jod heilte, nach
einiger Zeit recidivirte, um unter derselben Behandlung wieder ab¬
zuheilen.
Epik rise: Weder in der zweiten noch dritten Generation
ist die ererbte Syphilis zweifellos, ja selbst die Diagnose Syphilis,
besonders in der zweiten Generation, nicht unzweifelhaft.
11. Fall. (Mensinga, Ueber 40 Jahre Lues in einer
Familie. Internationale klinische Rundschau. 1888.) In der ersten
Generation hatte der Grossvater als lediger Mann eine schwere Lues
durchgemacht, die Mutter gesund. Deren sechs Kinder, zweite Gene¬
ration, zuerst drei Knaben und darauf drei Mädchen zeigten alle
bei oder bald nach der Geburt Erscheinungen hereditärer Syphilis.
Die Zweitälteste Tochter, das viertälteste Kind, hatte ebenso bald
nach der Geburt, in der Kindheit und noch während der Ehe
syphilitische oder wenigstens verdächtige Symptome. Sie heiratete
mit 20 Jahren einen Mann, den der Verfasser kannte, vor und
während der Ehe wiederholt behandelt und untersucht hatte, einmal
auch zwecks Versicherung, der nie Symptome von Syphilis zeigte,
syphilitische Infection leugnete. Die dieser Ehe entsprossene dritte
Generation besteht aus fünf Kindern. Das erste Kind, ein Mädchen,
zeigt drei Wochen nach der Geburt ein luetisches Exanthem, das
zweite Kind, ein Mädchen, ist gesund. Das dritte Kind, ein Mäd¬
chen, gesund, erkrankt, ein Jahr alt, an einer Meningitis, die auf
Jodkali heilte. Das vierte Kind, ein Mädchen, zeigte zehn Wochen
nach der Geburt Rhagaden der Mundwinkel, Papeln am Anus, in-
ficirte seine Amme und ein Stubenmädchen. Das fünfte Kind, ein
Knabe, neun Jahre nach der Eheschliessung geboren, zeigt 14 Tage
alt einen Pemphigus syphiliticus und inficirte seine Amme, die, als
der Knabe vier Monate alt war, secundäre Syphilissymptome darbot.
Alle vier syphilitischen Kinder wurden behandelt, blieben am
Leben, zeigten aber mehrere Recidiven ihrer Lues.
Epikrise: Der Fall ist wohl höchst beachtenswerth, der
auffälligste Fall in der ganzen diesbezüglichen Casuistik. Die Erb¬
lues sowohl in der zweiten, als dritten Generation ist zweifellos,
das einzige Bedenken wird doch immer das bleiben, der Verfasser
habe trotz alledem die acquirirte Lues des Vaters, der zweiten
Generation übersehen.
12. Fall. (King, Hereditary-syphilitic Transmission throug two
Generations. Journ. of Cutan. and Genito-urin. Dis. 1889.) Ueber
die erste Generation ist nichts bekannt. Die zweite Generation, so¬
wohl Vater als Mutter, erscheinen völlig wohl und zeigen keine
Erscheinungen von Syphilis, insbesondere leugnet der Vater, der
vom Verfasser »ernstlich ins Gebet genommen wurde«, jede In¬
fection. Deren Kinder, Zwillinge, Knabe und Mädchen, zeigen
zweifellose Erscheinungen hereditärer Syphilis, Roseola bei, respec¬
tive wenige Tage nach der Geburt, Koryza, Plaques, Condylomata
ad anuni. Das Mädchen bekommt ein Blasensyphilid und stirbt,
der Knabe bleibt am Leben und inficirt beim Säugen seine Mutter.
Nachdem in der zweiten Generation keine Syphilis nachzuweisen
ist, führt Verfasser die Syphilis der dritten Generation auf die
erste Generation zurück.
Epikrise: Nachdem für die zweite Generation der Beweis
ererbter Syphilis fehlt, acquirirte Syphilis in dieser Generation nicht
ausgeschlossen ist, erscheint der Fall für unsere Frage nicht be¬
weisend.
13. Fall. (Majew, Ueber den Einfluss der Syphilis der
Eltern auf die Nachkommen. III. Congress russischer Aerzte. Monats¬
hefte für praktische Dermatologie. 1889.) Von der ersten Generation
ist der Grossvater mutterseits syphilitisch gewesen. Die zweite Ge¬
neration, Vater und Mutter, werden gesund befunden und leugnen
Infection, deren Kind, dritte Generation, zeigt, drei Jahre alt,
ein Gumma ad nates, nachdem es bis dahin gesund gewesen
sein soll.
Epikrise: Die ererbte Syphilis ist in der zweiten Generation
nicht erwiesen, acquirirte nicht ausgeschlossen, aber auch die er¬
erbte Syphilis der dritten Generation erscheint fraglich, frühzeitig
acquirirte Syphilis beim Kinde möglich, der Fall also nicht
beweisend.
14. Fall. (Bo eck, Syphilis hereditaire ä la seconde Gene¬
ration. Annal. de Derm, et de Syphiligr. 1889.) Die Grossmutter
mutterseits, erste Generation, war 18 Jahre alt wegen Syphilis be¬
handelt worden. Sechs Jahre später gebar sie eine Tochter, zweite
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
387
Generation, die, zwei Monate alt, schwere Erscheinungen hereditärer
Syphilis darbot, behandelt wurde, aber noch im Alter von 29 Jahren
die Residuen dieser als Narben nach Keratitis, gekerbte Zähne,
Narben um den Mund zeigte. Was die dritte Generation betrifft, so
hatte diese Frau zunächst ausserehelich ein Kind von einem Manne,
über den nichts weiter bekannt ist, das gesund war, aber, einen
Monat alt, an Convulsionen starb. Dann verheiratete sich die Frau
mit einem Manne, der, sorgfältig von B o e c k untersucht, keine
Syphilissymptome zeigte, Infection leugnete. Mit diesem Manne hatte
die Frau zwei Kinder, zunächst nach zweijähriger Ehe ein Kind,
das bis zum Alter von zwei Jahren gesund blieb, dann an Scarla¬
tina starb, dann nach fünfjähriger Ehe ein zweites Kind, das bei
der Geburt schon Koryza zeigte, im Alter von 2'/2 Monaten Ro¬
seola, später Fissuren an den Lippen, Periostitis der Tibien zeigte
und auf antiluetische Behandlung genas.
Epikrise: Der Fall ist gewiss beachtenswerlh, hereditäre
Lues in der zweiten und dritten Generation sind zweifellos und
doch kann man angesichts der Thatsache, dass die Frau zuerst
zwei gesunde Kinder gebar, sich des Verdachtes nicht erwehren,
der Mann der Frau habe in dem Intervall von drei Jahren, das
zwischen der Geburt des zweiten und dritten Kindes lag, eine
Syphilis acquirirt, von der B o e c k bei der Untersuchung keine
Symptome mehr wahrnahm.
15. Fall. (Nunn, On maternal Conditions in congenital
Syphilis. Lancet. 1891,11.) Die Grossmutter mutterseits hatteSyphilis voi¬
der Geburt ihrer Tochter und als Residuum dieser eine alte
Psoriasis palmaris. Neben dieser Sklerose am Finger, Roseola,
recente Syphilissymptome als Folge einer venerischen Infection
von ihrem syphilitischen Enkel. In der zweiten Generation hatte die
Tochter bald nach der Geburt die Erscheinungen congenitaler Lues,
Koryza, Fissuren der Mundwinkel und zeigt als Erwachsene noch
hereditärluetische Symptome, Fehlen der Augenbrauen und Wimpern,
H u t c h i n s o n’sche Zähne. Deren Mann, vom Autor sorgfältig
untersucht, zeigte keine Symptome von Syphilis, leugnet Infection.
Deren Kind, die dritte Generation, hatte nach der Geburt Koryza,
Fissuren um den Mund, Papeln ad anum.
Epikrise: Die Bedeutung dieses Falles hängt davon ab,
oh man den Beweis, dass in der zweiten Generation acquirirte
Lues ausgeschlossen sei, durch die Untersuchung des Mannes und
dessen Angaben als erbracht ansehen will.
16. Fall. (Galezowski, Des Affections oculaires syphilit.
ä la troisieme Generation, Ann ab de Derm, et de Syphiligr. 1895,
und: Ogilvie, On the transmission of Syphilis te tho third
Gener. Brit. Journ. of Dermat. 1897.) Der Grossvater mutterseits,
erste Generation, litt in den letzten Jahren viel an Halsschmerzen,
Geschwüren an den Beinen und stand in Ri cord’s Behandlung.
Dessen Tochter, zweite Generation, litt von Kindheit an bösen
Augen und Abscessen am Nacken. Im Alter von 42 Jahren er¬
krankte sie an beiderseitiger interstitieller Keratitis und disseminirter
syphilitischer Chorioiditis, die auf Mercur heilte. Dieselbe ist ver¬
heiratet, doch fehlen über den Mann alle Angaben. Sie hatte einen
Abortus, dann ein Kind, das schwächlich war, immer an den
Augen litt und, acht Jahre alt, eine interstitielle Keratitis beider
Augen und dissemenirte Retinitis pigmentosa darbot. Quecksilber¬
behandlung brachte Besserung.
Epikrise: Nachdem acquirirte Syphilis in der zweiten
Generation nicht auszuschliessen ist, erscheint der Fall nicht be¬
weisend.
17. Fall. (Galezowski, ibidem.) In der ersten Generation
hatte der Grossvater schwere syphilitische Haut- und Lungen-
altectionen, an denen er trotz antiluetischer Behandlung starb.
Seine Frau, die Grossmutter, hatte einen Abortus, drei Kinder, von
denen zwei in der Kindheit starben. Das einzige überlebende Kind,
die zweite Generation, ein Mädchen, litt von früh auf an Augen¬
entzündungen, erkrankte, 26 Jahre alt, an peripherer interstitieller
Keratitis, die nach zwei Jahren recidivirte und auf Quecksilber
heilte. Ueber den Mann derselben fehlen alle Angaben. Sie hatte
zwei Kinder, eines starb im ersten Lebensjahre, das andere (dritte
Generation), hatte drei Jahre alt disseminirte Retinitis pigmentosa,
die auf Quecksilber sich wesentlich besserte.
Epikrise: Das Fehlen von Nachweisen über den Mann,
besonders der Mangel, dass hei demselben acquirirte Lues nicht
auszuschliessen ist, lassen den Fall in unserer Frage nicht be¬
weisend erscheinen.
18. Fall. (Klein in: Neumann, Syphilis. 1896.) Von
der ersten Generation hatte der Grossvater (mutterseits) acquirirte
Lues. Die Tochter (zweite Generation) eine Syphilis hereditaria
tarda mit Periostosen. Ueber deren Mann ist nichts bekannt, deren
Tochter, dritte Generation, hatte mit 16 und 18 Jahren je einen
Anfall von Keratitis parenchymatosa.
Epik rise: Die hereditäre Lues ist weder in der zweiten
noch dritten Generation zweifellos erwiesen, acquirirte Lues beim
Vater, zweite Generation, nicht ausgeschlossen, der Fall nicht be¬
weisend.
19. Fall. (v. Düring, Weitere Beiträge zur Lehre von der
hereditären Syphilis. Deutsche medicinische Wochenschrift. 1897.)
Grossvater, erste Generation, hatte sich angeblich vor 35 Jahren
inficirt. Zeigt eine grosse Narbe auf der Schleimhaut des Gaumens.
Sein Sohn, zweite Generation, hatte von klein auf luetische Symp¬
tome, im 14. Lebenjahre Spätsymptome, deren Residuen, Narben
am Gaumen, Perforation des Septums, Sattelnase, noch sichtbar.
Ueber dessen Frau nichts bekannt. Von seinen Kindern (dritte
Generation) sind drei früh gestorben, eine acht Jahre alte Tochter
zeigt Narben auf der Scheimhaut des Gaumens, Hutchinson-
sche Zähne, Deformation des Schädels, ist in der Entwicklung sehr
zurück.
20. Fall. (v. Düring, ibidem.) Der Grossvater, erste Genera¬
tion, hat mit circa 20 Jahren Syphilis acquirirt, hatte Spät¬
symptome vor 15 Jahren, zeigt gummöse Ulcerationen an den
Unterschenkeln, ebenda zahlreiche Narben, Leukoplakia oris. Sein
Sohn? zweite Generation, soll von Kind auf syphilitisch gewesen
sein, hatte als junger Mann Spätsymptome, zeigt eine grosse Narbe
an Pharynxwand, Gaumenbögen, Gaumen. Ueber dessen Frau ist
nichts bekannt. Dessen Sohn, dritte Generation, zehn Jahre alt, hat
interstitielle Glossitis, Ulcerationen an Gaumenbögen, Deformation
des Schädels, schwächlich entwickelt.
21. Fall. (v. Düring, ibidem.) Von der ersten Generation
hat der Grossvater, der nun 60 Jahre ist, vor mehr als 20 Jahren
Syphilis acquirirt, seine Frau inficirt, die mehrere Abortus durch-
machte und ein serpiginöses Syphilid am Stamme darbot. Mehrere
Kinder sind gestorben, die zwei überlebenden zeigen Formen der
Spätsyphilis. Von diesen hat der Sohn, zweite Generation, Leuko¬
plakie und grosse Ulcerationen auf der Schleimhaut des Gaumens,
auch dessen Frau soll syphilitisch sein. Der Sohn desselben, dritte
Generation, hat natiforme Stirne, TI u t ch i n s o n’sche Zähne,
Ulceration mit Zerstörung des weichen Gaumen.
Epikrise: Alle drei Beobachtungen v. Düring’s leiden
an dem Umstand, dass sie nur durch die sehr lückenhafte und bei
dem Milieu, das Verfasser untersuchte (türkische Landbevölkerung)
sehr unverlässliche Anamnese gestützt werden. Der Einwand, dass
alle drei Generationen, die ja Spätsyphilis darbieten, sämmtlich an
acquirirter Syphilis leiden, ist nicht zu entkräften, die Fälle für
unsere Frage nicht verwendbar.
22. Fall. (S t r eg m i nski, Heredosypliilis ä la seconde
Generation. Wratsch. 1897. Annal. de Denn, et de Syphil. 1897.)
Ueber die erste Generation ist nichts bekannt. Von der zweiten
Generation erkrankte der Vater mit 16 Jahren an Keratitis
bilateralis, die für heredosyphili tisch erklärt wurde und auf anti-
luetische Cur heilte. Zur Zeit der letzten Untersuchungen zeigte
Patient eine Chorioiditis areolaris, wie sie bei hereditärer Syphilis
nicht selten vorkommt. Die Mutter ist völlig gesund. Die dritte
Generation besteht aus zwei Kindern, von denen das ältere, ein
12 Jahre alter Knabe, Keratitis punctata, Glaskörpertrübung,
Chorioiditis areolaris zeigt, die sich auf antiluetische Behandlung
wesentlich bessern, während das jüngere Kind, ein neun Jahre
altes Mädchen, Glaskörpertrübung, areoläre Chorioiditis, Retinitis
pigmentosa darbietet, die sich auf antiluetische Cur bessern.
Epikrise: Abgesehen davon, ob man berechtigt ist, in der
zweiten und dritten Generation, rein nur auf Grund der Augen¬
erkrankung hereditäre Syphilis zu diagnosticiren, ist in der zweiten
Generation, bei der Mutter, acquirirte Lues nicht mit Sicherheit
ausgeschlossen.
23. Fall. (Pinard, citirt: E. Fournier, Stigmates dys-
trophiques de l’heredosyphilis. 1898.) Von der ersten Generation
soll der Grossvater an Syphilis gelitten haben, die Grossmutter
388
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 17
war gesund. Der Ehe entsprossen zuerst zwei macerirte, dann ein
todtes Kind, dann zwei gesunde Mädchen, deren jüngeres mit
14 Jahren eine Periostitis tibiae und hartnäckige Ophthalmie darbot,
heiratete und ein gesundes Kind hatte. Das ältere Mädchen war
als Kind sehr schwächlich, wurde nur mit Mühe grossgezogen,
lernte erst mit 14 Monaten gehen. Im Alter von 18 !/-2 Jahren
hatte sie Dolores nocturni in den Tibien, es entwickelte sich
Periostitis derselben mit Verdickung des Knochens. Bald darauf
entstand eine schwere Ophthalmie, die mit hinteren Synechien aus¬
heilte und eine Ohrenkrankheit, die zu Schwerhörigkeit führte. Die
Betreffende, zweite Generation, hatte von ihrem ersten Manne ein
Kind, Zangengeburt, das rasch starb; über den Mann konnte nichts
Bestimmtes cruirt werden. In zweiter Ehe mit einem Manne, der
bei der Untersuchung nichts Verdächtiges darbot, hatte sie zuerst
vier Abortus zwischen dem zweiten und vierten Monate, dann
gebar sie ein gesundes, kräftiges Kind (dritte Generation), das einen
Monat nach der Geburt rothe Flecke, zwei Monate nach der Geburt
ein ulceröses Syphilid am Schenkel darbot.
Epikrise: Das späte Auftreten der Syphiliserscheinungen
in der zweiten Generation lässt die hereditäre Syphilis nicht
zweifellos erscheinen, gibt die Möglichkeit, dass die Mutter an
acquirirter Syphilis gelitten habe. Ebenso kann über die Thatsache,
dass der Mann, zweite Generation, nicht an Syphilis litt, Zweifel
entstehen; der Fall ist also nicht beweisend.
24. Fall. (1st am an off, nach gütiger persönlicher Mit¬
theilung.) Der Grossvater, erste Generation, acquirirte Syphilis im
Jahre 1862. Von seinen zwei Söhnen starb der erste gleich nach
der Geburt, der zweite (zweite Generation) hatte Erscheinungen
hereditärer Syphilis. Dieser heiratete im Jahre 1893. Zwei Kinder
desselben, dritte Generation, Sohn und Tochter, jetzt vier, respective
zwei Jahre alt, hatten gleich nach der Geburt einen Pemphigus,
der auf Sublimatbäder heilte.
Epikrise: Abgesehen davon, dass die Syphilis der dritten
Generation nicht so ganz ausser Zweifel scheint, ist acquirirte
Syphilis seitens der Mutter in der zweiten Generation, ebenso auch
seitens des Vaters nicht völlig ausgeschlossen, der Fall also nicht
zweifellos.
Dies das Material, das mir von Fällen von Vererbung
der Syphilis in die zweite Generation zusammenzustellen
gelang. Wie die kurzen epikritischen Bemerkungen, die ich
jedem einzelnen Falle beifügte, zeigen, ist es fast durchwegs
nicht absolut beweiskräftig.
Sondern wir zunächst eine kleine Gruppe von Fällen,
die Fälle von Davasse, Collin, King, Majew ab, in
denen in der zweiten Generation überhaupt Syphilis nicht
nachzuweisen war, und die Verfasser auf die präsumirte oder
nachgewiesene Syphilis der Grosseltern als Erklärung für die
hereditäre Syphilis der Enkel eben aus diesem Grunde recur-
riren, weil sie in der zweiten Generation keine Syphilis über¬
haupt nachweisen konnten, wir aber diese Auffassung absolut
nicht acceptiren können, da wir uns nicht vorstellen können,
dass das syphilitische Virus im Organismus eines der Erzeuger
der zweiten Generation durch dessen ganzes Leben latent
geblieben wäre, um bei dem Enkel erst in activer Form auf¬
zutreten; — eliminiren wir weiters jene Fälle, in denen die
hereditäre Syphilis, sei es in der zweiten oder dritten Gene¬
ration, nur auf Grund tardiver und da wohl tbeilweise frag¬
licher Symptome diagnosticirt wurde, so der Fälle von L a s c li¬
ke witz, Vater bilaterale Retinitis — Kind Spondylitis der
Halswirbel, Rabl (7), Mutter Keratitis interstitialis — Kind
Keratitis interstitialis, Dezanneau, Vater Parese mit Diplopie
— Kind im Alter von 23 Jahren Hemiplegie und bilaterale
Keratitis, Galezowski (16) Mutter interstitielle Keratitis
und disseminirte Chorioiditis — Kind, acht Jahre alt, inter¬
stitielle Keratitis und Retinitis pigmentosa, (17) Mutter inter¬
stitielle Keratitis — Kind, drei Jahre alt, Retinitis pigmentosa,
Klein Mutter Syphilis hereditaria tarda — Kind mit 16 Jahren
Keratitis parenehymatosa. S t r e g m i n s k y, V ater Chorioiditis
areolaris — zwei Kinder Keratitis punctata, Chorioiditis, Glas¬
körpertrübung, indem es sich hier um Fälle handelt, in
denen sowohl die syphilitische Natur des Uebels überhaupt, als
dessen heredosyphilitisehe Natur doch noch nicht über allen
Zweifel erhaben ist, von mancher autoritativen Seite diese
Aetiologie nicht, oder wenigstens nicht als ausschliesslich zu¬
gegeben wird, wie z. B. Hippel, der die Keratitis inter-
stitialis häufiger auf tuberculöse Infection, als auf Lues
zu rück führt ; - —
Eliminiren wir endlich jene Fälle, wie die v. Dü ring’s,
wo dem Verfasser nur die spätsyphilitischen Erscheinungen
bei schon älteren oder wenigstens über die erste Kindheit
hinausgewachsenen Individuen Vorlagen und die Thatsache
der Ererbung in der zweiten und dritten Generation nur auf
eine, nach den Schilderungen des Verfassers selbst sehr unzu¬
verlässige Anamnese basirt ist, dann bleiben nur die Beob¬
achtungen von Atkinson, Hutchinson, Mensinga,
Boeck, N u n n übrig, die den eingangs angeführten Postulaten
nahezu entsprechen.
Im Falle Atkinson lässt das späte Auftreten eines
papulo-serpiginösen Syphilides bei der Mutter an die Möglich¬
keit einer Reinfection, die Thatsache, dass zwei Jahre nach
dem älteren gesunden ein hereditärsyphilitisches, intensiv
krankes Kind zur Welt kam, ap eine nach Geburt des ersten
Kindes erfolgte Infection des Mannes denken; übrigens soll,
wie King mittheilt, Atkinson seinen Fall selbst fallen
gelassen haben. Im Falle B o e c k’s, der sonst höchst beachtens-
werth wäre, wirkt es störend und die Bedeutung des Falles
beeinträchtigend , dass die zweifellos hereditärsyphilitische
Mutter zuerst von zwei verschiedenen Männern je ein gesundes,
dann erst drei Jahre später von dem zweiten dieser Männer
ein schwer hereditärsyphilitisches Kind bekam. Es bleiben
noch die Fälle Hutchinson, Mensinga, Nunn. Den Fall
Hutchinson’s beschuldigt Ogilvie, dass er zweimal (in
Hutchinso n’s Syphilis) in verschiedener Version erschienen
sei (pag. 90 und 397). Ich habe bei genauer Durchsicht nicht
die Ueberzeugung gewinnen können, dass es sich in beiden
Stellen um denselben Fall handelt, glaube vielmehr, dass Hut¬
chinson hier zwei differente Fälle bespricht. Die zwei Fälle
Mensinga, Nunn sind nun allerdings sehr beaehtenswerth.
In allen beiden Fällen ist die hereditäre Syphilis der Mutter
in der zweiten Generation zweifellos erwiesen, auch die Lues
der ersten Generation sichergestellt, weniger sicher ist in
Hutchinson’s Falle die ererbte Syphilis der Mutter (vor¬
gewölbte Stirne, erodirte Zähne, Keratitisnarben), auch fehlen
in diesem Falle die gewiss wünschenswerthen Angaben über
die erste Generation. Zweifellos ist in allen drei Fällen die
ererbte Syphilis in der dritten Generation, die bei Mensinga
sogar bei drei Kindern nachweisbar ist; nur einen wunden
Punkt haben alle drei Fälle, die Gesundheit des Vaters. Der
Vater, von dem genannten Verfasser sorgfältig wiederholt
untersucht, befragt, im Falle Mensinga selbst' durch Jahre
beobachtet, zeigte keine Erscheinungen von Syphilis. Ist nun
dieser thunlichst sorgfältig erhobene negative Befund wissen¬
schaftlich dem Beweise, dass der Vater nicht syphilitisch war,
gleichzustellen? Gewiss nicht! Wir befinden uns hier wieder
in einer Situation, in der wir uns in den Fragen der Ver¬
erbung nicht so selten befinden. Ich erinnere nur an die Frage
der Syphilis tertiaire d’emblee, sei es als Syphilis hereditaria
tarda, oder als Syphilis postconceptionelle tardive der Frau.
Diese Frage steht und fällt mit dem Beweis, dass den tar-
diven Erscheinungen in beiden Fällen keine frühsyphilitischen,
sei es hereditäre, sei es acquirirte Symptome vorausgingen.
Den exacten Beweis zu liefern werden wir aber nie im Stande
sein deshalb, weil, gleichviel ob der Patient Symptome hatte,
die er übersah, oder ob er keine Symptome hatte, er in beiden
Fällen den Arzt nicht zu Rathe zieht, wir also rein nur auf
die Anamnese angewiesen sind. Aehnlich ist unsere Situation
hier. Auch sorgfältigste Untersuchung, auch längere Beob¬
achtung vermag nie wissenschaftlich einwandfrei festzustellen,
dass der Vater in den Fällen sicher nicht an Syphilis gelitten
habe, ein exacter einwandfreier Beweis der Existenz einer
Vererbung auf die zweite Generation ist damit kaum denkbar.
Nur e i n F a 1 1 wäre denkbar, der zur zweifellosen
Constatirung dieses Factums führen könnte,
der Fall, dass eine zweifellos hereditärsyphilitische Frau ein
zweifellos hereditärsyphilitisches Kind gebärt und der Vater
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
ä89
des Kindes bald nach dessen Geburt eine receute acquirirte
Syphilis darbieten würde. Andererseits müsste eine Verviel¬
fältigung der Beobachtungen von Mens in ga und Nunn
auch den Werth eines Beweises haben., da der Einwand, der
jetzt einem oder wenigen Fällen gegenüber Geltung hat, man
sei nicht in der Lage gewesen, die acquirirte, zur Zeit der
Untersuchung abgelaufene oder latente Syphilis des Vaters zu
constatiren, einer grossen Zahl analoger Beobachtungen gegen¬
über wohl verstummen müsste. Wie heute die Sachen stehen,
können wir nur sagen, die Vererbung echter Syphilis
auf die zweite Generation sei theoretisch als
möglich zuzugeben, es liege bereits eine Zahl
von Beobachtungen, vor, die, wenn auch nicht
absolut einwandfrei, doch in diesem Sinne ge¬
deutet werden könne, wissenschaftlich er¬
wiesen sei aber diese Vere r. bung heute noch
nicht. (Fortsetzung folgt.)
Aus dem Kronprinz Rudolf-Kinderspitale.
Der Darmkrebs im Kindesalter.
Von Dr. Znppinger.
Vor kurzer Zei t wurden wir im Kronprinz Rudolf-Kinder¬
spitale durch ein jäh zum Tode führendes Darmcarcinom bei einem
zwölfjährigen Mädchen in seltener Weise überrascht.
Im Nachstehenden theile ich die Krankengeschichte und den
genauen Obductionsbefund mit und möchte nach einigen epikriti¬
schen Bemerkungen den Stand unseres jetzigen Wissens in Bezug
auf den Darmkrebs im Kindesalter, das ich mit dem vollendeten
14. Lebensjahre für abgeschlossen betrachte, präcisiren.
Am 19. Januar 1900 kam aus Ungarn die zwölfjährige
Theresia II., sub Prot.-Z. 36 zur Aufnahme.
Die Mutter gab an, dass ihr Kind seit drei Monaten krank
sei; anfangs stellten sich Kolikanfälle ein, dann traten nebstbei
vor und während jeder Defäcation im Bauche starke Schmer¬
zen auf.
Die Kleine hatte oft Stuhlzwang und in letzter Zeit zeigte
sich öfters Blut im Stuhle. Die Schmerzen sollen zeitweilig so
intensiv sein, dass sie nur in stark nach vorne gebeugter Haltung
gehen kann.
Ich liess das Kind vollständig entkleiden und fragte nach
dem Sitze der Schmerzen; es zeigte wiederholt auf die oberen
Steissbeinwirbel, an denen jedoch nichts Abnormes nachweis¬
bar war.
Das Abdomen war etwas meteoristisch aufgetrieben und ge¬
spannt, Palpation und Percussion desselben ergaben sonst keine
positiven Anhaltspunkte.
Ebenso negativ war die Digital Untersuchung des Enddarmes.
Bei genauer Inspection des Anus entdeckte ich eine kleine Fissur,
touchirte dieselbe mit dem Lapisstifte und nahm dann die Patientin
zur weiteren Beobachtung auf.
Nachträglich wurde noch anamnestisch eruirt, dass die kleine
Theresia früher nie krank gewesen sei und bis in die allerletzte
Zeit stets normalen Appetit zeigte.
Vater und Mutter der Patientin leben und sind gesund.
Niemand in ihrer ganzen Verwandtschaft soll je an Krebs ge¬
storben sein.
Din Mutter hatte 16 Kinder geboren, von denen neun starben,
sechs im Alter von drei Monaten angeblich an Fraisen, drei in
späteren Jahren an Lungenentzündung. Die anderen lebenden
Kinder erfreuen sich bester Gesundheit.
Status praesens vom 25. Januar: Für ihr Aller
grosses, kräftig gebautes, gul entwickeltes und gut genährtes
Mädchen.
Skleren leicht ikterisch. Befund der Lunge und des Herzens
normal, ebenso die Temperatur.
Abdomen massig meteoristisch aufgetrieben, ohne abnormen
Befund. Harn weder eiweiss- noch zuckerhaltig.
Das Kind ist bei Appetit, tagsüber ausser Bett, lustig und
guter Dinge und gibt an, in den letzten Tagen ohne Schmerzen
und Blutabgang mehrmals zu Stuhl gewesen zu sein.
D.ecur.sus morbi. 29. Januar: Patientin fühlte sich Vor¬
mittags noch wohl, erbrach Nachmittags, verweigerte die Nahrungs¬
aufnahme und begab sich zu Bette, . nachdem sie noch einen Brief
an ihre Eltern geschrieben, dass sie heute wieder ihre Bauch¬
schmerzen bekommen habe. Das Wartepersonale machte sie auf
eine faustgrosse Geschwulst aufmerksam, die sich im linken Hypo¬
gastrium zeigte und bald wieder verging, wie sie dies, wenn sie
Bauchschmerzen habe, schon öfters bemerkte.
Bei der Nachmittagsvisite klagte das arme Kind über uner¬
trägliche Bauchschmerzen und war sehr unruhig. Das Abdomen
war stark meteoristisch aufgetrieben und druckempfindlich. Seil
Mittags entleerte es zwei flüssige, schwarzbraune Stühle.
Es wurde ein Le i t e r’scher Kühlapparat auf das Abdomen
verordnet und intern Opium gegeben.
Bis Nachts hatte sich ihr Zustand bedenklich verschlimmert;
sie jammerte und stöhnte ununterbrochen. Der Puls wurde faden¬
förmig und die peripheren Körpertheile blieben trotz reichlicher
Wärmezufuhr kalt.
Sensorium meist benommen. Das Abdomen war noch
stärker aufgetrieben, mit deutlicher Dämpfung in beiden Flanken.
Das Erbrechen hatte sich nicht mehr wiederholt, jedoch gingen
noch zwei fast aus reinem, schwarz-rothem Blute bestehende Stühle
ab. Die Temperatur stieg nur auf 37 2.
30. Januar. Frühtemperatur 35'6; Puls schwer zu fühlen,
Herztöne kaum hörbar. In den bisher von Schmerzen durchwühlten
Körper ist Ruhe eingezogen.
Das Abdomen ist bretthart und hochgradig aufgetrieben.
Trotz Kochsalzinfusion und. Injection von Ivampheröl ver¬
fällt das Kind rasch und stirbt in schwerstem Collaps um
9 Uhr Früh.
Die O b d u c t i o n (Prof. P a 1 1 a u f) e r g ab folgenden
BefuntL'
Dem Alter entsprechend gross, mässig genährt. Allgemeine
Decke blass, mit lividen Todtenflecken auf der Rückseite und
rechten Gesichtshälfte, Lippen cyanotisch, Pupillen mässig und
gleich weit. Abdomen sehr stark gespannt, in der unteren rechten
Hälfte etwas mehr ausgebaucht als links, daselbst auch etwas
grünlich verfärbt.
Bei der Eröffnung des Abdomens entleert sich eine trübe,
wässerige, mit schleimigen Fibrinflocken untermengte, etwas gas¬
führende Flüssigkeit und liegt zunächst in der Mittellinie das zu
einer S-förmigen Schlinge gebogene, enorm ausgedehnte und prall
gespannte Colon transversum vor.
Auch das Colon ascendens, namentlich das Cöcum ist enorm
ausgedehnt und gespannt.
Die Serosa, ebenso das Netz intensiv geröthet, in letzterem
ein kleinbohnengrosser medullar-weisser, ziemlich harter Knoten,
welcher reichlich Saft gibt. An dem Ansatz des Netzes am Colon
transversum sind noch vier ähnliche, weissröthliche, harte Knoten
auffindbar.
Das Netz ist mit der Leber, und zwar an einer etwa hühner¬
eigrossen Geschwulst, welche sich aber vollständig aus einer tiefen
Grube der Leber auslösen lässt und dem Peritoneum parietale der
vorderen Bsuchwand innig aufsitzt, verwachsen.
Diese oberflächlich schwärzlich verfärbte Geschwulst besteht
aus einem grauröthlichen, ziemlich reich vascularisirten, von der
Basis aus etwas radiär gestreiften Neubildungsgewebe, das an der
Peripherie fettig-gelbe, opake und von Hämorrhagien durchsetzte
Herde zeigt. Neben und auf dieser grösseren Geschwulst sitzt eine
zweite, kleinussgrosse, wie ein Fortsatz auf, die aus einem weiss¬
gelblichen, hie und da gallertig schimmernden Gewebe besteht.
Das Colon descendens, die obere Schlinge der Flcxur enorm
ausgedehnt, letztere an einer ringförmig eingezogenen, sich hart an¬
fühlenden Partie plötzlich abgeschnürt.
Der untere Schenkel der Flexur, der Uebergang in den End¬
darm nur von wenig Gas gebläht.
An der ringförmig eingezogene Partie ist das Mesenterium
von einer weissen, harten Aftermasse infiltrirt. Am Rande des
Darmbein tellers, an der hinteren Blasenwand, vor dem infantilen
Uterus und an einer halbmondförmig sich spannenden Falte erbsen-
und kleinbohnengrosse geröthete Knoten. Der Grund des D o u g 1 a s-
schen Raumes rechterseits an der vorderen Rectalwand stari
infiltrirt.
390
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Die dünnen Gedärme sind massig ausgedehnt, ihre Serosa
stellenweise streifenförmig geröthet.
Die Leber ist stark in die Kuppe des Zwerchfelles gedrängt,
zeigt ausser jener bereits beschriebenen tiefen Grube noch drei
fingerbeerengrosse Eindrücke, herrührend von halbkugeligen, circa
1 cm im Durchmesser haltenden, theils gerötheten, theils medullar-
weissen Knoten, neben denen sich zahlreiche kleinere, grauweisse
und ebenfalls runde Knötchen finden. In der Leber mehrere nuss-
bis kleinapfelgrosse, medullar-weisse, runde Geschwülste, welche
reichlich Saft geben; das anliegende Lebergewebe ist etwas com-
primirt, sonst blass-braun mit undeutlicher Zeichnung.
Die Milz ist platt, braunroth, das Gewebe ziemlich dicht.
Beide Nieren in der Rinde stark gequollen und erbleicht.
Im Dickdarm reichliche, aashaft stinkende, graubraune, mit
Fruchtkörnern untermengte harte Knollen und skybalahältige, flüssige
Fäcalmassen.
Die Schleimhaut ist grau, hie und da gallig imbibirt.
An der eingeschnürten Stelle der Flexura sigmoidea befindet
sich ein gürtelförmiges, etwa 2 cm starkes Geschwür mit stark auf¬
geworfenen, starr infiltrirten Rändern und einer nach dem Mesen¬
terium zu recessusartig vertieften Basis. Die Ränder, sowie jene
medulläre Infiltration zeigen ein weisses, deutlich Saft gebendes
Neubildungsgewebe.
Im Enddarm gefaltete Schleimhaut. Jene Knoten im Douglas
durch die Darmwand wohl tastbar, aber nicht in die Darmwand
infiltrirt.
Im Dünndarm starke Schwellung der Follikel und der Pay er¬
sehen Plaques und flüssiger, gallig gefärbter Inhalt. Der Magen ist
klein und enthält wenig schleimige Flüssigkeit, seine Schleimhaut
ist blass. Brustorgane normal.
Diagnose: Carcinoma flexurae sigmoides exulceratum, cum
strictura hujus Carcinoma metastaticum hepatis, peritonei, omenti
et glandularum lymph, retroperitoneal. Peritonitis incipiens.
Die histologisch-mikroskopische Untersuchung des Neubildungs¬
gewebes ergab ein typisches Cylinderzellencarcinom.
Es ist wohl leicht begreiflich, dass wir in diesem Falle nicht
im Entferntesten an ein Darmcarcinom dachten und die nach¬
träglich allerdings erkannten Anhaltspunkte hiefür anders ver-
wertheten.
Das Mädchen war gut genährt und entwickelt, bei Appetit
und guter Laune; tagsüber ausser Bett, tummelte es sich mit
anderen Kindern im Krankenzimmer herum. Da konnten wir doch
an keine ernstere Krankheit denken; zudem gab die Kleine an, dass
sie seit der Touchirung der Analfissur die Schmerzen fast vollständig
verloren habe und der Stuhl nicht mehr blutig sei.
Auch die genaueste Palpation des Abdomens hätte uns nicht
eines Besseren belehren können, da sowohl das Carcinom der
Flexura sigmoidea, sowie die metastatischen Tumoren der Leber¬
oberfläche, wie die Obduction ergab, von stark geblähten Darm¬
schlingen überlagert waren.
Als das Krankheitsbild sich in so stürmischer Weise änderte,
mussten wir an eine wahrscheinlich durch Invagination bedingte
Occlusio intestini denken.
Während der Vorbereitungen zur operativen Hilfe trat der
Exitus letalis ein.
Die Darmobturation hatten wohl die harten Kothknollen an
der kaum für einen kleinen Finger durchgängigen Strictur ver¬
schuldet und intestinale Toxikämie und die beginnende Peritonitis
zerstörten in wenigen Stunden das junge Leben.
Die Carcinose ist im Kindesalter bekannter Weise eine
seltene Krankheit. Nach verschiedenen statistischen Arbeiten
treten 90% aller Carcinome im 40. — 80. Lebensjahre auf,
die zweite Hälfte des zweiten, das dritte und vierte Lebens-
decennium occupiren fast den ganzen Rest, so dass die älteren
Berechnungen, wonach von 1000 Krebskranken drei bis acht
dem Kindesalter angehören, der Wirklichkeit entschieden nicht
entsprechen; der Irrthum kam durch die Einrechnung anderer
Geschwülste, besonders der bei Kindern viel häufigeren Sarkome
zu Stande.
Nach den neueren statistischen Daten von de la C a m p ')
kommen von 10.000 Carcinomen auf das erste und zweite
Decennium 19; von diesen stehen aber verschiedene ausserhalb
des Kindesalters, so dass wir sagen müssen, dass von 1000 Krebs¬
fällen ungefähr einer dem Kindesalter angehört.
Diese auf die Kinder entfallende geringe Anzahl vertheilt
sich nun, Avie auch im höheren Alter, auf fast sämmtliche Or¬
gane des Körpers, nur mit dem Unterschiede, dass der Lieb¬
lingssitz der Carcinome bei Erwachsenen ein anderer ist.
Nach verschiedenen statistischen Berechnungen kommt
bei diesen an erster Stelle des Carcinoma uteri, dann das
Mammacarcinom, der Magen-, der Mastdarm- und Speise¬
röhrenkrebs.
Bei den Kindern ist dies nun ganz anders. Das Carci¬
noma uteri ist die grösste Seltenheit, ebenso das Mammacarci¬
nom, es liegen hierüber nur ganz vereinzelte Publicationen
vor. Bezüglich des Sitzes an der Speiseröhre sagt May dl2),
dass er vor dem 30. Lebensjahre kein Oesophaguscarcinom
fand; obwohl seit der Veröffentlichung dieser Arbeit 17 Jahre
vorüber sind, erging es mir ebenso.
Etwas häufiger ist der Magenkrebs; so erwähnt
R Scholz in seiner im Jahre 1886 in Breslau erschienenen
Dissertation, dass bis dahin fünf Fälle von Magenkrebs im
ersten Ledensdecennium bekannt seien. C. Stern3) erklärt
allerdings zwei hievon als sehr zweifelhaft. Seither sah
Duzea4) eiu Pyloruscarcinom bei einem zwölfjährigen
Mädchen.
Was den Darmkrebs anbelangt, erwähne ich hier vor¬
läufig nur kurz, dass er im Kindesalter die erste Stelle ein¬
nimmt, häufiger aber in den nächstfolgenden Jahren vor¬
kommt.
In den älteren Arbeiten über Carcinose im Kindesalter
stehen bezüglich der Häufigkeit voran die Nieren , Augen-
und Knochen krebse.
Nun wissen wir, dass damals die Sarkome noch nicht
abgetrennt waren, und dass die Carcinome in diesen Organen,
wenn es überhaupt wahr ist, enorm selten Vorkommen.
Dann liest man, dass relativ oft auch die Generations¬
drüsen der Kinder vom Krebs befallen werden. Aber auch
hier Avaren die Sarkome Veranlassung zu diesem Irrthum;
thatsäehlich liegen aber einige Beobachtungen von primärem
Krebs der Testtkel, Samen blasen und Ovarien vor.
Ebenso dürfte es sich mit den bösartigen Neubildungen
der Prostata verhalten.
Quincke und Hoppe S e y 1 e r 5) berichten von sechs
unzweifelhaften Fällen von primären Lebercarcinomen bei
Kindern bis zum zwölften Lebensjahre; • nach den neuesten
Arbeiten von Ziegler handelt es sich aber hier meist um
sogenannte Angiosarkome.
Nach O s e r 6) wurden drei Fälle von Pankreascarci-
nomen vom siebenten Monate bis zum 14. Lebensjahre
beobachtet.
Endlich erwähne ich noch kurz, dass man in der ein¬
schlägigen Literatur noch ganz vereinzelte Beobachtungen von
Carcinom des Gehirnes, der Nase, Lippen, Schilddrüse, des
Kehlkopfes mit Tracheotomie, der Lunge und Milz, der Hals-,
Achsel-, Bronchial-, Mesenterial- und Leistendrüsen, Harnblase
und Knochen findet, die dem Kindelalter angehören; diese
Fälle stammen zumeist aus früherer Zeit und dürften daher
nicht verlässlich sein.
Doch nun zum Darmkrebs.
Im Nachstehenden will ich nun alle in der Literatur mir
zugänglich gewesenen primären kindlichen Darmkrebse, die
mir unzweifelhaft schienen, möglichst chronologisch zusammen¬
stellen.
Prof. Clar7) berichtete im Jahre 1855 folgenden Fall,
der seither in allen diesbezüglichen Arbeiten als vollwerthig
citirt ist.
Ein 3 '/4 Jahre alter Knabe schien bis sieben Tage vor
seinem Tode fast durchgehends gesund.
An diesem Jage schAvoll, ohne dass sich der Knabe
besonders unwohl gefühlt hätte, der Bauch bei zeitweiser Ver¬
stopfung in sehr bedeutender Weise an. Erst drei Tage vor
dem Tode war im Mesogastrium eine faustgrosse, schmerzlose
Gesclnvulst zu fühlen. In den letzten zwei Lebenstagen trat
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
391
Erbrechen mit fäculentem Geruch auf. Bei fortwährender Zu¬
nahme des Bauches, bei zunehmender Hinfälligkeit und all¬
gemeiner Anämie entschlief der Knabe bei fast vollkommenem
Bewusstsein.
Im Dickdarm und zwar beim Uebergange des absteigen¬
den Colons in die Flexura sigmoidea war eine fast 4'" dicke,
hirnmarkähnliche Infiltration der gesammten Darmhäute, welche
nach innen zu im ganzen Umfang erweicht und graulich pig-
mentirt war. Das Zwerchfell, Peritoneum, Gekröse und die
Bauchwand enthielten Krebsknoten.
Zum Schlüsse sagt Prof. Clar: »Der Knabe war somit
an einem acuten Krebs des Darmes, des Bauchfells und der
Mesenterialdrüsen, welche acute Bauchwassersucht, Darm¬
lähmung und acutes Lungenödem zur Folge hatte, gestorben.«
feteiners) sah im Jahre 1865 Dickdarmkrebs bei einem
neunjährigen Knaben. Man merkte in der letzten Zeit dem
Kinde nur an, dass es blässer wurde.
Zwei Tage vor der Spitalsaufnahme traten ohne nach¬
weisbare Ursache Ueblichkeit, Erbrechen, Stuhlverstopfung und
Kolikanfälle auf.
Der Knabe war kräftig gebaut und gut genährt. Das
Abdomen war in seiner ganzen Ausdehnung ungewöhnlich
meteoristisch aufgetrieben und druckempfindlich. Bei diesen
Symptomen wurde an eine innere Incarceration gedacht, re¬
spective die Möglichkeit eines Volvulus oder Darmin vagination
angenommen. Der Knabe verschied sechs Stünden nach der
Spitalsaufnahme.
Bei der Obduetion zeigte sich der Dickdarrn an der
Stelle, wo die Flexura sigmoidea beginnt, in sämmtlichen
Häuten enorm verdickt, callös, grünlichgelb. Das Lumen des
Darmrohres war bis zur Undurchgängigkeit einer Federspule
verengt und zwar trichterförmig mit der Spitze nach oben.
Diese stricturirte Partie war an 5/4 Zoll lang und wie
ein dicker Wulst in das Darmrohr gewissermassen emgekeilt.
Die mikroskopische Untersuchung ergab Areolarkrebs.
Im Jahre 1878 entdeckte Span ton9) bei einem zwölf¬
jährigen Knaben eines Tages, nachdem er einen Sturz erlitten,
eine Schwellung in der rechten Leistengegend.
Bei näherer Untersuchung fand man in der Fossa iliaca
dext. eine ovale, wenig empfindliche und bewegliche Geschwulst,
welche nach dem Gebrauche von Abführmitteln unverändert blieb.
Zehn Tage später traten unter Fiebererscheinungen (39°)
häufiges Erbrechen und Bauchschmerzen auf. Alle diese Zu¬
fälle verschwanden wieder, nur der Tumor blieb. Nach etwa
dreimonatlicher Krankheitsdauer starb das Kind an Peritonitis.
Bei der Obduetion fand man ausser der letzteren ein Medullar-
carcinom am Endstück des Ileums von der Grösse einer Cocos-
nuss, welches das Cöcum durchbrochen hatte und dort mit
einer Geschwürsfläche blosslag.
Dun kan10) beobachtete im Jab re 1885 bei einem
S'/ojährigen Knaben ein grosses Dünndarmcarcinom mit meta¬
statischen Tumoren in Leber und Nieren.
Die Krankheit begann mit leichten Anschwellungen des
Bauches und der Beine und endete in einem Monat. Wegen
Dyspnoe musste ein pleuritisches Exsudat punctirt werden.
Unter Zunahme der Athembeschwerden, Auftreten von knolligen
Anschwellungen im Bauche und erschöpfenden Diarrhöen ging
das Kind drei Wochen nach der Spitalsaufnahme zu Grunde.
Der Dünndarm war in der Ausdehnung« von 7 */., cm von
einer harten Krebsgeschwulst eingenommen, welche sich auch
mikroskopisch als Carcinom erwies.
Stern ') berichtet im Jahre 1892 von einem Mastdarm-
carcinom bei einem elfjährigen Mädchen.
Das Kind soll seit einem Monat an schwer zu be¬
kämpfender Stuhlverstopfung gelitten haben und magerte dabei
stark ab. Im Stuhl war nie Blut, das Abdomen war stark
meteoristisch aufgetrieben. Es wurde die Diagnose auf chronisch
entstandene Invagination gestellt. Bei der vorgenommenen
Operation musste ein Anus praeternaturalis angelegt werden.
Sechs Monate hernach starb das Kind.
Erwähnenswerth wäre noch, dass während des Verlaufes
zweimal Convulsionen auftraten, die auf Darmausspülungen
behoben wurden, und Stern meinte, dass es sich um Auto-
intoxicationen handelte.
Interessant ist die Beobachtung A h 1 f e 1 d’s n); er sah
bei einer Sirenenmissbildung, welche blinde Endigung des Dick¬
darmes zeigte, an diesem ein Darmcarcinom von Maulbeer¬
grösse.
Prof. Czerny12) hatte im Jahre 1896 die seltene Ge¬
legenheit, bei einem 13jährigen Knaben einen Mastdarmkrebs
zu operiren.
Im Rectum des kleinen Patienten fand sich dicht unter¬
halb des Promontoriums eine zapfenförmige, innen ulcerirte
Geschwulst. Wegen der Jugend des Patienten wurde die
Diagnose auf papilläres Adenom gestellt, trotzdem aber die
Resectio recti auf 8 cm Länge vorgenommen. Das carcinomatöse
Geschwür umfasste 4 cm hoch das Mastdarmrohr, und die
epitheliale Wucherung reichte durch die Muscularis bis auf
die Serosa des D o u g 1 a s'schen Raumes, die in Pfennigstück¬
grösse entartet war und entfernt wurde.
Der Tumor soll sich seit einem halben Jahre ent¬
wickelt haben; bezüglich der Symptome ist nichts mitgetheilt.
Ohne nähere Angaben erwähnt Prof. Nothnagel13)
bei den bösartigen Neubildungen des Darmes, dass er bei
einem zwölfjährigen Knaben ein Cöcumcarcinom beobachtete.
Nach May dl2) sollen Allingham und Bryant über
Cöcalcarcinome bei einem 13jährigen Knaben und einem zwölf
jährigen Mädchen berichtet haben.
Leider waren mir diese Mittheilungen nicht zugänglich,
aber die Namen dieser Autoren verbürgen wohl die Richtigkeit
der Angaben.
Als letzter Fall beschliesst die Casuistik des kindlichen
Darmkrebses unsere eingangs mitgetheilte Beobachtung.
Wir konnten also elf unzweifelhafte Fälle von primärem
Darmkrebs zusammenstellen und müssen daraus folgern, dass
derselbe im Kindesalter relativ am häufigsten vorkommt, an
und für sich aber eine seltene und in vivo schwer diagnosticir-
bare Krankheit ist.
Die meisten Beobachtungen wurden in den letzten De-
cennien gemacht und es ist wahrscheinlich, dass bei der all¬
gemeinen Zunahme der Carcinose ihr auch immer mehr Kinder
zum Opfer fallen.
Bezüglich des Sitzes der Carcinome wird bei Erwachsenen
nach verschiedenen statistischen Arbeiten weitaus am häufigsten
der Mastdarm, am seltensten der Dünndarm befallen.
Wir hatten einen Dünndarm-, zwei Mastdarm- und acht
Dickdarmkrebse; von letzteren sass die eine Hälfte am Cöcum,
die andere an der, Flexura sigmoidea.
Es scheint also der Lieblingssitz bei Kindern der Dick¬
darm an den letztgenannten Partien zu sein, während der
Mastdarm viel seltener betheiligt ist.
So stellte Schoening14) im Jahre 1885 13 Fälle von
Mastdarmkrebs vor dem 20. Lebensjahre zusammen, von
denen jedoch nur sieben unzweifelhaft sind, doch alle diese
Patienten standen im Alter von 16 — 20 Jahren und Schoe¬
ning hielt deshalb den Mastdarmkrebs vor dem 15. Lebens¬
jahre für unbekannt.
Interessant ist diesbezüglich das Wechselspiel mit dem
Sarkom; dieses befällt hauptsächlich den Dünndarm, in seltenen
Fällen den Dickdarm und dann meist am Cöcum.
Was das Alter der Kinder anbelangt, tritt der Darmkrebs
am häufigsten gegen das Ende des Kindesalters auf; nur ein¬
mal wurde er bei einem Neugeborenen und zweimal zwischen
dem dritten und vierten Lebensjahr beobachtet.
Bezüglich des Geschlechtes sind die Knaben in auf¬
fallender Weise bevorzugt; von zehn Kindern waren sieben
Knaben und drei Mädchen. Auch bei Erwachsenen prävalirt
das männliche Geschlecht.
Bei der Symptomatologie des Darmkrebses müssen wir
vor Allem hervorheben, dass es bei Kindern nie zur ausge¬
sprochenen Krebskachexie kommt; meist bestehen nur mehr
oder weniger schwere Anämien und der gute Ernährungs¬
zustand kann bis zum Tode intact bleiben, ja es kann das
Darmcarcinom bei einem anscheinend gesunden Kinde nur
ein zufälliger Befund sein.
392
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr.- -17
Mit der Zeit treten aber doch die localen Symptome, die
ja dieselben wie bei Erwachsenen sind, in den Vordergrund,
und dann ist auch meist der Exitus letalis nicht mehr ferne.
Es scheint nämlich im kindlichen Organismus mit seinem
erhöhten Stoffwechsel das Carcinom zum rascheren Wachs¬
thum günstige Bedingungen zu finden; andererseits ist dieser
zarte kindliche Organismus bedeutend weniger widerstands¬
fähig, so dass daraus eine viel kürzere Lebensdauer resultirt.
Prof. Nothnagel schätzt bei Erwachsenen die mittlere
Lebensdauer, wenn keine operative Hilfe geleistet wird, auf
v2 — 2 Jahre, Bei den Kindern müssen wir unter denselben
Bedingungen höchstens ein halbes Jahr annehmen.
In Bezug auf die Differentialdiagnose mit dem Darm-
sarkom, das im Kindesalter seltener als das Carcinom vor¬
kommt, erwähne ich, dass nach Prof. Nothnagel das
Sarkom keine Einschnürung, sondern meist eine Dilatation
der erkrankten Darmpartie erzeuge; auch soll frühzeitig be¬
deutende Abmagerung und Kräfteverfall auftreten.
Die operative Heilung des Darmkrebses dürfte bei den
Kindern bedeutend schlechtere Chancen haben als bei Er¬
wachsenen, und zwar hauptsächlich deshalb, weil meistens die
D iagnose erst zu einer Zeit sicher gestellt werden kann,
wenn zahlreiche Metastasen eine radicale Operation unmöglich
machen; so starb auch, wie mir mitgetheilt wurde, der von
Czerny anscheinend gewiss radical operirte Knabe nach
ungefähr eineinviertel Jahren an Recidive.
Zum Schlüsse erübrigt mir noch die angenehme Pflicht,
meinem verehrten Chef, Herrn Director Gnän dinger, und
Herrn Prof. Pal tauf für ihre freundliche Unterstützung
meinen besten Dank auszuspr echen.
Literaturangaben.
') Dr. de 1 a Camp, Carcinom in den ersten beiden Lebens-
decennien. Mittbeilnngen aus den Hamburger Staatskrankenanstalten. 1897,
Bd. I, Heft 1, pag. 41.
-) Dr. M a y d 1, Ueber den Darmkrebs. Wien 1883.
;!) Dr. Karl Stern, Zur Kenntniss maligner Neubildungen im
Kindesalter. Deutsche medicinische Wochenschrift. 1892.
4) Dr. D u z e a, Saute des hospit. 1887, Heft 56.
•') Prof. Q ui n cke und Hoppe-Seyler, Die Krankheiten der
Leber. Nothnagel’s Speeielle Pathologie und Therapie.
°) Prof. Oser, Die Erkrankungen des Pankreas. Ebendort.
7) Prof. C 1 a r, Oesterreichische Zeitschrift für Kinderheilkunde.
1855, I. Jahrgang, Heft 2.
8) Docent Steiner, Ein Beitrag zu den Stenosen im Kindesalter.
Jahrbuch für Kinderheilkunde. A. R. Bd. VII.
9) S p a n t o n, Med. Times and Gaz. 1878; nach einem Referat in:
Jahrbuch für Kinderheilkunde. Bd. XIII.
,0) Dunkan, Edinburgh med. Journ. 1885. Jahrbuch für Kinder¬
heilkunde. Bd. XVII.
!1) Alfeld, Archiv für Gynäkologie. Bd. XVI.
12) Czerny, Münchener medicinische Wochenschrift. 1896, Nr. 11.
13) Prof. Nothnagel, Die Erkrankungen des Darmes und Perito¬
neums. 1898
14) Schoenin g, Ueber das Vorkommen des Mastdarmkrebses in
den ersten beiden Lebensdecennien. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie.
Bd. XXII.
REFERATE.
Die Krankheiten der Milz und die hämorrhagischen
Diathesen.
Von Prof. Dr. M. Litten.
Speeielle Pathologie und Therapie. Herausgegeben
von Hofrath Prof. Dr. Hermann Nothnagel.
Bd. VIII, 3. Theil.
Wien, Hölde r.
Bei der Seltenheit von in der Milz primär und ausschliess¬
lich localisirten Kraukheitsprocessen, bei der regen Antheilnahme
dieses uns in seiner physiologischen Function noch vielfach räth-
selhaften Organes an ganz verschiedenartigen Krankheitsprocessen,
erscheint die Aufgabe, der sich der Autor mit so grosser Sach¬
kenntnis und Geschicklichkeit unterzogen hat, von vorneherein
als eine äusserst schwierige. Dazu gesellt sich der Umstand, dass
die Milz ja eigentlich nicht ein in sich abgeschlossenes functio-
uelles Ganze bildet, sondern nur einen Theil eines viel grösseren
Systemes (Milz -j- Drüsen -(- Knochenmark -f- Thyreoidea (?)
ausmaeht. Ein Herausschälen, ein isolirtes Hervorheben der Milz¬
veränderung erscheint daher vielfach unmöglich. Aus diesen und
den früher erwähnten Verhältnissen erklärt sich Manches, was im
ersten Momente als Weitschweifigkeit, als ein Uebergreifen in die
Prärogative anderer Bände des Handbuches aufgefasst werden
könnte (eingehende Berücksichtigung der Leukämie, Pseudoleu¬
kämie u. s. wr.).
Die grosse Sicherheit unseres pathologisch - anatomischen
Wissens gegenüber der Unklarheit so mancher klinischer Fragen
lägst es wohl auch erklärlich erscheinen, wenn der Autor auf dem
sicheren Boden pathologisch- anatomischer Forschung mit besonderer
Vorliebe weilt (Milzinfarct, Histologie der Milztumoren u, 8. w.).
So gewissenhaft der Autor in der Wiedergabe fremder An¬
schauungen ist, so präeise und klar tritt dort, wo ihm eigene
Erfahrung zu Gebote steht, sein individueller Standpunkt hervor.
Zunächst werden die physikalischen Untersuehungsmethoden
eingehend berücksichtigt, einschliesslich Röntgenographie und Probe-
punctioD.
Besonders bei jugendlichen Individuen will Litten den
unteren Theil der Milz deutlich gefühlt haben, ohne dass Erkran¬
kungen des Organes bestanden.
Er weist andererseits hin auf das häufige Vorkommen von
Mflztumor ohne greifbare Aetiologie, besonders bei jugendlichen
Individuen.
Eine Beziehung zu Rachitis ist ihm unwahrscheinlich. Im
engeren Rahmen, unserem Wissen entsprechend, ist die Physio¬
logie der Milz gehalten. Auf Widerspruch dürfte der Autor stossen mit
der Behauptung, die Milz sei die Hauptbildungsstätte der weissen
Blutkörperchen. Nun folgen die verschiedenartigen pathologischen
Affectionen der Milz. Nur Einzelnes sei hervorgehoben aus der
Fülle interessanter Details, besonders so weit es sieh um die in¬
dividuellen Anschauungen des Autors handelt. Reichlich sind die¬
selben niedergelegt in dem ausführlichen Capitel über Milzinfarct.
Mit besonderem Nachdruck wird auf die ab und zu vorkommende
Sterilität von Milzabscessen hingewiesen. Betont wird die Häufig¬
keit von venösen Herderkrankungen (Infarcten) bei Recurrensmilz
(40%) gegenüber der Seltenheit solcher arteriellen Ursprunges
(5%l Sehr eingehende Besprechung erfährt die Amyloidose
der Milz.
Hinsichtlich der Organotherapie bei Leukämie steht der
Autor auf einen ganz ablehnenden Standpunkte, auch vom Thyre-
oidin sah er keine Erfolge. Sehr Iesenswerth ist die Besprechung
der niehtparasitären Milzcysten. Gegen die Auffassung seröser
Cysten, als durch Retention bedingt, wird entschieden Stellung
genommen, das scheinbare Fehlen des Zellenbelages in hämorrha¬
gischen Cysten zurückgeführt auf artifieielle Entfernung desselben
bei den Härtungsprocessen.
Hinsichtlich der Probepunctionen ist jedenfalls die Bemer¬
kung des Autors interessant, »er habe bei fast zahllosen Probe-
punetionen, die zum Theil in eine nicht antiseptische Zeit fallen,
niemals einen unangenehmen Zwischenfall erlebt«, vor Allem nie
eine Vereiterung eines früher klaren Inhaltes.
Hinsichtlich des so viel besprochenen und so selten beob¬
achteten Hydatidenschwirrens steht Litten auf dem Standpunkte
Rüchenmeister’s. Eine Bedingung desselben sei das Vor¬
handensein von Toehterblasen. Es sei für den Process charakteri¬
stisch, komme bei Cysten anderer Genesis nicht vor. Ausführ¬
liche Berücksichtigung erfährt die Splenektomie sowohl in ihren
theoretischen als praktischen Ergebnissen, sowie in ihrer Indica¬
tion am Krankenbett.
Anschliessend an die Erkrankungen der Milz bespricht
Litten in klarer und erschöpfender Weise das so überaus ver¬
worrene, an Worten mit fehlenden Begriffen reiche Capitel der
hämorrhagischen Diathesen (Scorbut, Hämophilie, Morbus maculosus
Werlhofii).
Er definirt den Scorbut als eine Infectionskrankheit nicht
contagiösen Ursprunges, hervorgerufen durch Mikroorganismen,
welche in einem kaliarmen Körper günstigen Nährboden finden,
ohne jedoch den Kalimangel als eine Conditio sine qua non auf¬
zufassen. Seiner eigenen Beobachtung zufolge tritt Scorbut auch
nach Influenza auf.
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
393
Nansen’s Erfahrungen hinsichtlich zweckmässiger Ver-
proviantiruug werden eingehend berücksichtigt.
Bei Besprechung der Hämophilie wird gegen die K o c h’sche
Theorie vom infectiösen Charakter derselben, wohl mit Fug und
Recht, entschieden Stellung genommen. Sehr bemerkenswertk er¬
scheint mir der Standpunkt des Autors hinsichtlich der Purpura-
erkraukungen, dahingehend, »dass es sich nicht um essentielle
Unterschiede, sondern nur um graduelle, d. h. um solche in der
Intensität der Erkrankungen handelt.« Sehr warm tritt Litten
für die infectiöse Natur der Purpuraerkrankungen ein, während er
andererseits Gefässveränderungen als ätiologisches Moment mit
Rücksicht auf das rasche Kommen und Gehen von Hautblutungen
zurückweist.
Energisch wendet er sich gegen den Missbrauch mit den
von Schön lein eingeführten Namen »Peliosis rheumatiea«.
Eine Existenzberechtigung kommt seiner Ansicht nach diesem
Symptomeneomplex überhaupt nicht zu. Die Schwierigkeit der
Diagnose einer Purpura fulminans (Henoch) besonders gegen¬
über hämorrhagischer Variola wird durch einen Fall eigener Be¬
obachtung erläutert.
Alles in Allem — ein Buch, dessen Lecture Niemand be¬
enden wild, ohne dem Autor Dank zu sagen, für die so klare,
übersichtlichtliche, durch reichliche eigene Erfahrung gestützte
Bearbeitung zweier so eminent schwieriger Capitel der internen
Medicin. Schmidt.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
1 14. U e b e r eine Massenerkrankung d u r c h
Vergift um g mit stark solan inhaltigen Kartoffeln.
Von Prof. Pfuhl (Berlin). Bei einem Truppentheil hatten " sich
vom 29. Mai bis 1. Juni 1898 56 Mann wegen eines acuten
Magefi-Darmkatarrhes krank gemeldet. Die Umstände lenkten den
Verdacht auf eine Tags vorher frisch bezogene Lieferung Kartoffel,
welche dann auch auf ihren Solaningehalt geprüft wurden. Die
Untersuchung ergab bei den ungekochten 0'38, bei den gekochten
O-24%0 Solanin, während normaler Weise bei den ungekochten im
Mai blos 0 06 Vorkommen. Diejenigen aus der Mannschaft, welche
ihre ganze Portion Erdäpfel gegessen hatten, dürften etwa 0 3 So-
lanin zu sich genommen haben. Diese Massenerkrankung hat auch
insoferne ein weiteres Interesse, als sie auffordert, in Fällen, wo
nach einer Mahlzeit mit reichlichem Kartoffelgenuss ein acuter
Magen-Darmkatarrh mit Kopfschmerz, Schwindel und Schläfrigkeit
entsteht, auch an eine Solaninvergiftung zu denken. — (Deutsche
medicinische Wochenschrift. 1899, Nr. 46.)
*
1 15. E i n V o r s c h 1 a g z u r d i ä t e t i s c h e n B e h a n d 1 u ng
Basedow-Kranker. Von Dr. L a n z (Bern). Beim Basedow
scheint die Thätigkeit der Schilddrüse eine übermässige und diese
Krankheit daher der Gegensatz zu jenen Zuständen zu sein, welche
bei . mangelnder Function der Schilddrüse eintreten (Athyreosis,
Cachexia thyreopriva, Myxödem). Im letzteren Falle entstehen im
Körper Gifte, deren Einverleibung in den Organismus eines Basedow-
Kranken möglicher Weise das überschüssige Drüsensecret neutrali-
siren kann. Lanz hat jungen Ziegen die Schilddrüse entfernt und
deren Milch zwei Basedowkranken regelmässig verabreicht, was
von sehr günstigem Erfolge gewesen sein soll. — (Correspondenz-
blatt für Schweizer Aerzte. 1899, Nr. 23.)
*
116. Zur wissenschaftlichen Begründung der
Organtherapie. Von Dr. L o e w y und Dr. Richter (Berlin).
Die Organtherapie will dem Körper durch Einverleibung bestimmter
Organsubstanzen wieder etwas zuführen, was ihm verloren ge¬
gangen ist. Vorläufig hat diese Therapie ihre Begründung in den
Erfolgen der Schilddrüsentherapie gefunden. Loewy und Richter
beschäftigten sich, den Einfluss verabreichter Ovarialsubstanz kennen
zu lernen und fanden dabei, dass hei castrirten weiblichen Thieren
10 bis 15 Wochen der Sauersloffverbrauch sich um etwa 20%
gegen früher verringerte und auch in der weiteren Zeit auf dieser
niederen Stufe bestehen bleibt, durch welchen Befund sich auch
der Fettansatz bei Individuen mit nicht mein* functionirenden
Ovarien erklärt. Wurde derartig castrirten Thieren Oophorin ver¬
abreicht, so steigerte sich wieder der Gaswechsel und erreichte
sogar höhere Werthe als vorher. Dieser Umstand legt es nahe, hei
Fettsucht in Folge Klimakterium Oophorin zu versuchen. Auf ge¬
sunde Thiere hatte die Verabreichung von Eierstocksubstanz nicht
den geringsten Einfluss. — (Berliner klinische Wochenschrift. 1899,
Nr. 50.)
*
117. In der Juni-Sitzung der medicinischen Gesellschaft der
Stadt Basel fand durch Dr. Gelpke die Demonstration zweier
Präparate aus dem Gebiete der Magenchirurgie
statt. Bei einer Frau war vor fünf Jahren durch Prof. Socin die
Gastroenterostomia anterior in üblicher Weise ausgeführt worden.
Einige Monate vor dem jetzt erfolgten Tode waren aufs neue
Magenbeschwerden aufgetreten. Die Section ergab den überraschen¬
den Befund, dass die angelegte Magen-Darmfistel bis auf ein Lumen
von Bleistiftdicke in Folge Narbenschrumpfung sich verengert hatte.
Dieser Befund würde dazu nöthigen, die Fisteln künftig gross
genug anzulegen und bei der fortlaufenden Naht ein allzu starkes
Zusammenschnüren zu vermeiden. Das zweite Präparat stammte
von einer wegen Garcinom ausgeführten Pylorusresection.
Die Wiedervereinigung von Magen und Duodenum erfolgte mittelst
Murphy - Knopf. Abgang desselben am 14. Tage. — Gorrespon-
denzblalt für Schweizer Aerzte. 1899.)
*
118. lieber den Einfluss des Schilddrüsen Ver¬
lustes auf die Heilung von Knochenbrüchen. Von
Dr. Steinlin (St. Gallen). Auf Grund ausgedehnter Thierversuche
kam Verfasser zu folgenden Schlussfolgerungen: Durch Verlust der
Schilddrüse tritt eine Störung der normalen Fracturheilung ein und
zwar beruht dieselbe auf einer Verzögerung der Gallusentwicklung
und -Rückbildung. Je länger das Thier der Schilddrüse beraubt
ist, je länger also die Kachexie besteht, desto ausgeprägter sind
die genannten Abweichungen vom Normalen; schliesslich tritt aber
dennoch Fracturheilung ein. Ueber die Frage, ob durch Einführung
von Schilddrüsensubstanz in den Körper eine Beschleunigung einer
Fracturheilung erzielt werden oder überhaupt angeregt werden
könnte, ist Steinlin nicht in der Lage, zu berichten; er macht
jedoch auf zwei von Gauthier veröffentlichte Fälle aufmerksam,
welche eine derartige therapeutische Beeinflussung als möglich er¬
scheinen lassen. — (Archiv für klinische Chirurgie. Bd. LX, Heft 2.)
*
119. Forceps in mortua. Lebendes Kind. Von
Dr. Fl ei schm an n (Budapest). Nachdem das erste Zangenblatt
eingeführt war, collabirte die mit einem Vitium behaftete Frau,
'trotz der durch etwa zehn Minuten fortgesetzten Wiederbelebungsver-
suche sistirte Athmung und Puls, worauf gleich mit dem zweiten
Blatte eingegangen und ein reifes, asphyktisches, jedoch leicht zu
belebendes Mädchen entwickelt werden konnte. — ■ (Centralblatt für
Gynäkologie. 1900, Nr. 4.) Pi.
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
E r n a n n t : Dr. G. Aschaffenburg in Heidelberg
zum a. o. Professor der Psychiatrie. — Geheimer Rath Röntgen
in München zum auswärtigen Mitgliede der Academie de medecine
zu Paris.
*
Verliehen: Dem Oberstabsarzte Martin Rosner der
Generalstabsarztes-Charakter ad honores und das Ritterkreuz des Franz
Josef-Ordens. — Dem Oberstabsarzte Dr. Victor Tein dl der
Orden der Eisernen Krone III. CI. — Dem Oberstabsarzte Doctor
Michael V o 1 l e r i c der Generalstabsarztes-Charakter ad honores.
— Dem Generalstabsärzte Dr. Julius Ivlemenöic wurde der
Ausdruck der Allerhöchsten Zufriedenheit bekannt gegeben, desgleichen
dem Oberstabsarzte Dr. Ludwig Ehnl; letzterem auch der General-
stabsarztes-Chai akter verliehen. — Dem Oberstabsarzte Dr. S t e p h a n
R u c e v i c der kaiserlich oftomanische Medschidje-Oröen 111. CI. — Dem
Stabsarzte Dr. Wilhelm Cavallar a. D. das Ehrenkreuz III. CI.
des fürstlich Schaümburg-Lippe’schen llausordens. — Dem Curarzte
Dr, Emil Röchelt in Meran das Ritterkreuz de3 Franz Josef-
Ordens. — Dr. R o i n <> h o t h in Halle das Prädieat Professor.
*
394
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 17
Das von den österreichischen zahnärztlichen Vereinen eingesetzte
Comite macht auf den diesjährigen Internationalen zahn-
ärztlichenCongress zu Paris aufmerksam. Die Anmeldungen
zur Theilnahme an dem Congresse geschehen mittelst eigener
Beitrittserklärungen, die jedem Fachcollegen von Seite
des Comites zugesendet werden. Zugleich mit der An¬
meldung ist an den Gassier des Comites, Herrn Dr.
Willy Herz-Fränkl, Wien, I., Graben 31, der Mit¬
gliedsbeitrag von 25 K einzusenden. Das Comite steht mit
einem hervorragenden Reisebureau in Verhandlungen, um den am Con¬
gresse theilnehmenden Collegen, welche übrigens auf den französischen
Bahnen eine 50%ige Ermässigung geniessen, die Reise, sowie die
Unterkunft möglichst zu erleichtern. Im Hinblicke auf die
bereits sehr vorgerückte Zeit, welche es namentlich mit
Rücksicht auf Unterkunft geboten erscheinen lässt, sich eine solche
noch rechtzeitig zu sichern, ergeht analleCollegen, welche
die Absicht haben, sich an dem Congresse zu be¬
theiligen, die dringende Bitte, ihre Beitritts¬
erklärungen ehestens einzusenden. Sämmtliche
Beitrittserklärungen, Zuschriften und Anfragen
sind an den Secretär des Comites, Herrn Dr. v. Wunsch¬
heim, Wien, I., Kärntnerstrasse 8, zu richten.
*
Kundmachung. (Neuwahlen der Mitglieder der
Wiener Ae rztekammer.) Behufs Einleitung der Neuwahlen der
Mitglieder und Ersatzmänner der Wiener Aerztekammer wurden im
Sinne der Durchführungsverordnung zum Aerztekammergesetze (L. Gr.
und V.-Bl. Nr. 61 ex 1893) im Einvernehmen mit dem zur einst¬
weiligen Besorgung der Geschäfte der Wiener Aerztekammer bestellten
Herrn k. k. Bezirksarzte Dr. Thomas Edlen v. Res ch die Wähler¬
listen getrennt für die 19 Wiener Gemeindebezirke verfasst. Dieselben
werden nunmehr von Samstag dem 21. April 1900 an durch acht Tage,
d. i. bis einschliesslich Samstag den 28. April 1900 während der Amts¬
stunden (8 Uhr Früh bis 2 Uhr Nachmittags) im Steuer- und Wahl¬
kataster fl. Bezirk, Rathhaus, Stiege VIII, Hochparterre) im Originale
and bei den magistratischen Bezirksämtern in Abschrift zur Einsicht
aufliegen. Dies wird den Herren Aerzten des Wiener Gemeindebezirkes
mit der Einladung bekannt gegeben, etwaige Reclamationen innerhalb
dieses Termiues schriftlich beim Wiener Magistrate (Einreichungspro¬
tokoll) anzubringen. Nach Ablauf dieses Termines einlangende Recla¬
mationen können für den bevorstehenden Wahlact nicht mehr berück¬
sichtigt werden. Vom Magistrate der k. k. Reichshaupt- und Residenz¬
stadt Wien als politischer Behörde erster Instanz, am 14. April 1900.
Im Nachhange zur liierämtlichen Kundmachung vom 14. April
1900, G.-Z. 204.200 ex 1899/ VIII, betreffend die Neuwahlen der
Mitglieder der Wiener Aerztekammer, wird im Sinne des Erlasses der
k. k. n.-ö. Statthalterei vom 19. April 1900, Z. 36.267 den Herren
Aerzten des Wiener Gemeindegebietes bekanntgegeben, dass Reclama¬
tionen gegen die Wählerlisten bezüglich der oben bezeichneten Neu¬
wahlen auch mündlich im Steuer- und Wahlkataster,
(I. Bezirk, Rathhaus, Stiege VIII, Hochparterre) innerhalb des
in der eingangs bezogenen Kundmachung fest¬
gesetzten achttägigen Termines, das ist vom 21. bis
einschliesslich 28. April 1900 täglich von 8 Uhr früh bis
2 Uhr nachmittags angebracht werden können. Vom Magistrate der
k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien als politische Behörde
erster Instanz, am 20. April 1900.
*
Unterstützungsverein der Aerzte Wiens. Dem
neugegründeten Vereine wird von der Aerzteschaft Wiens grosses
Interesse entgegengebracht. Es sind demselben in der kurzen Zeit seit
dessem Bestände schon über 400 Collegen als Mitglieder beigetreten.
In allen in der letzten Zeit stattgehabten Sitzungen der einzelnen Be¬
zirksvereine wurde über den Verein referirt. Die Nothwendigkeit des
Bestandes eines derartiges Vereines wurde allgemein anerkannt und
dessen Gründung sympathisch begrüsst. Der Aerzteverein des
VII., A Ill. und XVII. Bezirkes fasste den Beschluss auf corpo-
rativen Eintritt in den neu gegründeten Verein. In der letzten Sitzung
des ärztlichen Vereines des X. Bezirkes und des Ver¬
eines der südlichen Bezirke traten sämmtliche anwesende
Collegen sofort dem Vereine bei und es wurde überdies der Beschluss
gefasst, die abwesenden Collegen, Mitglieder des betreffenden Vereines,
aufzufordern, ebenfalls dem Vereine beizutreten. Der ärztliche
\ er ein der südlichen Bezirke bewilligte überdies dem Ver¬
eine eine Spende von 100 Kronen; einen gleichen Betrag widmete der
anwesende Herr Primarius Dr. Hans Adler. Diesem Beispiele
folgten einige andere anwesende Collegen mit Spenden. Bei den bekannt
edlen Zwecken des Vereines und den geringen Beiträgen (4 Kronen
E i n t r i 1 1 s g e b ü h r, 2 Kronen Mitgliedsbeitrag bei
jedem Todesfälle) unterliegt es keinem Zweifel, dass in kurzer
Zeit die gesammte Aerzteschaft Wiens diesem Vereine sich anschliessen
wird. Der Beitritt zum Vereine erfolgt am bequemsten durch Einsen¬
dung von 6 Kronen an den Obmann, Herrn Dr. S. Tennenbaum,
II., Praterstrasse 10, oder an den Vereinscassier, Herrn Doctor
W. Schönwald, II., Taborstrasse 17.
*
Im Verlage von Urban & Schwarzenberg (Wien-
Berlin) erscheint ein von Prof. P a g e 1 herausgegebenes „Biblio¬
graphisches Lexikon hervorragender Aerzte des
XIX. Jahrhundertes“. Das ganze mit zahlreichen Portraits ver¬
sehene Werk wird in etwa 20 Lieferungen ä M. 1*20 erscheinen; die
ersten vier Hefte (Abadie — Delstanches) sind bereits zur Aus¬
gabe gelangt.
*
Im Verlage von Vogel (Leipzig) sollen mehrere mediciuische
Encyklopädien erscheinen. Vorläufig liegt das erste Heft einer von
den Professoren Sänger (Prag) und v. H e r f f (Halle) heraus¬
gegebenen „Encyklopädie der Geburtshilfe und Gynä¬
kologie“ vor, welche in 20 Lieferungen (ä M. 2. — ) vollständig
erscheinen wird.
*
Hofrath Prof. Neumann wohnt I. Kolowratring 14 (Telephon
904). — Docent Dr. K o 1 i s c h ordinirt von Ende April bis
September in Karlsbad, Haus „Pomeranzenbaum“.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 14. Jahreswoche (vom 1. April
bis 7. April 1900). Lebend geboren : ehelich 617, unehelich 260, zusammen
877. Todt geboren: ehelich 41, unehelich 27, zusammen 68. Gesammtzahl
der Todesfälle 802 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
25 2 Todesfälle), darunter an Tuberculose 149, Blattern 0, Masern 12,
Scharlach 3, Diphtherie und Croup 6, Pertussis 2, Typbus abdominalis 7,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 0, Neu¬
bildungen 46. Angezeigte Infectionskrankheiten: Blattern 0 (=), Varicellen
98 (-{- 10), Masern 266 (-|- 19), Scharlach 36 ( — 14). Typhus abdominalis
27 ( — 43), Typbus exanthematicus 0 (=), Erysipel 37 (-(- 5), Croup und
Diphtherie 43 (~f- 6), Pertussis 35 (— 6), Dysenterie 0 (=), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 4 (-f- 2), Trachom 4 (-j- 2), Influenza 37 ( — 1).
Freie Stellen.
Zweite Stadtarztesstelle in Mährisch-Ostrau, Mähren.
Mit dieser Stelle ist ein Grundgehalt von 2400 K pro Jahr, nebst
dem Ansprüche auf zehn sechsprocentige und zehn vierprocentige Biennal¬
zulagen, sowie im Falle der definitiven Anstellung auch der Anspruch
auf Altersversorgung nach der für städtische Beamte und Diener gelten¬
den Pensionsnorm verbunden. Die Anstellung erfolgt auf ein Jahr pro¬
visorisch, doch wird dieses provisorische Dienstjahr bei der definitiven An¬
stellung in das Definitivum eingerechnet. Bewerber um diese Stelle, welche
das Alter von 35 Jahren nicht überschritten haben, haben ihre mit
den Nachweisen über die zurückgelegten Studien und die abgelegte
Physicatsprüfung belegten, mit einem Kronenstempel versehenen Gesuche
bis längstens 15. Mai 1900 beim Stadtvorstande in Mährisch Ostrau einzu¬
bringen. Dem anzustellenden Arzte werden nebst den theilweisen Agenden
des Stadtphysicates auch noch die Agenden des Marktcommissariates
übertragen, weshalb Competenten, welche in dieser Beziehung praktische
und theoretische Ausbildung nachweisen, bevorzugt werden.
P. T.
Die gefertigte Administration erlaubt sich, an alle
P. T. Abonnenten die dringende Bitte zu richten, ihr
jede Wolinungs Veränderung rechtzeitig und auf directem
Wege bekanntgeben zu wollen, da sie sonst nicht in der
Lage wäre, weder für rechtzeitige Zustellung des Blattes
haften zu können, noch für eventuell durch diese Ur¬
sache in Verlust gerathene Nummern kostenlosen Er¬
satz zu bieten.
/ ....
Telephon Nr. 601)4. Hochachtungsvoll
Wilhelm Braumüller
Administration der „Wiener klinischen Wochenschrift“
Wien, VIII/1, Wickenburggasse Nr, 13.
Nr. 17
395
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
IMHALT:
Verhandlungen der Wiener dermatologischen Gesellschaft. Sitzung 71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in München.
vom 7. März 1900. Vom 17. — 22. September 1899. (Fortsetzung.)
29. Congress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. (18. bis
21. April.) I
Verhandlungen der Wiener dermatologischen Gesellschaft.
Sitzung vom 7. März 1900.
Vorsitzender : Kaposi.
Schriftführer: Kreibich.
Ehr mann stellt einen Mann mit einem handtellergrossen Ge¬
schwüre am Nacken vor, das secundär aus einem trockenen Schorf
mit einem randständigen Blasenwall hervorging, die ebenso deutlich
wie das bestehende Geschwür ein Artefact als Ursache annehmen
lassen. Die Verätzung dürfte durch ein concentrirtes Alkali herbei¬
geführt worden sein, wenn auch aus der Anamnese nichts zu erfahren
war. Aehnliche Schorfe wurden auch an Lagerhausarbeitern beobachtet,
die Aetzsoda in Säcken trugen.
Auch Neumann hält das Geschwür für arteficiell und erinnert
namentlich an ähnliche Affectionen bei Hysterischen, wie auch an das
von ihm vor circa 15 Jahren vorgestellte Mädchen, bei dem ähnliche
Schorfe als Spontongangrän imponirten. Billroth habe sie aber als
Artefacte erkannt; und in der That waren sie durch selbst beigebrachte
Nadelstiche verursacht.
Kreibich erwähnt eines Mädchens, dass sich mit einem in
Wasser getauchten Sodasäckchen einrieb und dadurch eine faustgrosse
Blase erzeugte, die sich auf einen Scheerenschlag entleerte und so
einen Pemphigus hystericus ausschloss.
Spie gl er stellt eine 72jährige Frau vor, die vierzig Jahre
verheiratet war und seit Jahren verwitwet ist. Vor 50 Jahren erfolgte
viermal hintereinander Abortus. Jetzt hat sie ein universelles Exanthem,
dessen so spätes Auftreten bemerkenswerth ist, da man eine neuer¬
liche Infection wohl nicht annehmen kann.
Neumann erinnert an solche Formen bei der endemischen
Syphilis, bei der besonders der Mangel einer specifischen Therapie
ausschlaggebend sei.
Neumann demonstrirt:
1. Einen 41jährigen Mann mit ausgebreitetem Carcinom der
Mund- und Rachenhöhle. Der Patient erhielt im Sommer 1899,
als die Affection begann, sieben Injectionen in die Glutäalgegend.
Von autoritativer chirurgischer Seite wurden die Zerstörungen für
tuberculös gehalten, später wieder im Krankenhause mit Jodkali be¬
handelt. Der ganze weiche Gaumen, die angrenzenden Theile der
Gaumenbögen und Tonsillen sind in ein ausgedehntes Geschwür mit
aufgeworfenen, steilen Rändern verwandelt, das auf den rechten
hinteren Zungenrand übergreift. Am Halse rechts ist ein mit dem
Unterkiefer fest verwachsener, kindskopfgrosser Drüsentumor, der in
der Mitte zu einem fistulösen Durchbruche geführt hat.
Die histologische Untersuchung eines kleinen Gewebsstückes
bestätigte die klinische Diagnose eines Carcinoms.
2. Einen 34jährigen Kranken mit umfangreichen gummösen
Zerstörungen des Rachens. Infection seit 1892; ein halbes
Jahr darauf Lichen syphiliticus und ein papulo-pustulöses Exanthem.
Seit 1896 Auftreten und rasches Fortschreiten der Geschwüre im
Rachen.
3. Eine 25jährige Kranke, die bei ihrem Spitalseintritte im
December 1899 einen ausgedehnten Lupus exulceratus der
linken Wange, der Nase und des Gaumens hatte. Nach localer Appli¬
cation von 30% Chrysarob inpflaster ist der Lupus der Wange
ganz, der an der Nase fast vollkommen mit Hinterlassung einer glatten,
weissen Narbe geschwunden.
4. Einen 45jährigen Kranken, bei dem ein elevirter, flachhand¬
grosser Herd von Lupus vulgaris am Nacken nach localer An¬
wendung des Chrysarobinpflasters bis auf eine bräunliche Verfärbung
regress erscheint.
5. Multiple ulcerirte Hautgummen bei einer 55jährigen
Patientin. Syphilis seit dem Jahre 1893.
Finger demonstrirt einen seit drei Monaten in Beobachtung
stehenden Mann, bei dem man nach dem Initialaffect und dem fast
involvirten papulo-pustulosen Exanthem nunmehr allenthalben Ver¬
änderungen an den Venen der Extremitäten sieht. Die Gefässe sind
als verdickte, nicht schmerzhafte Stränge, und längs derselben den
Venenklappen entsprechende Knötchen zu tasten. Sie verschwinden
unter specifischer Behandlung, andere tauchen wieder auf. Diese
Gefässerkrankung muss als multiple chronische Phlebitis
syphilitica aufgefasst werden.
Ehrmann hebt zum Unterschiede von der Lymphangoitis
syphilitica hervor, dass, während die infiltrirten Venen mannigfache
Inseln einschliessen, die Lymphstränge in bestimmten Richtungen ver¬
laufen und wegen der dichten Anordnung der Klappen viel- und
kleinhöckerig erscheinen, wie bei der dorsalen Lymphstrangsklerose,
die mit Unrecht als Phlebitis angesehen werde.
Matzenaue r berichtet über gummöse Neubildungen im
Blasenhalse bei einer 20jährigen Prostituirten. Dieselben erscheinen
bei der urethroskopischen Untersuchung der dilatirten Harnröhre als
flach erhabene, leicht blutende Wucherungen an der genannten Stelle.
Ehr mann demonstrirt den in der vorigen Sitzung vorgestellten
Fall der extragenitalen Sklerose an der Nase, der nun ein
papulöses Exanthem zeigt. Ferner:
2. Einen Mann mit Ulcer a tuberculosa am weichen
Gaumen und der Epiglottis.
Spiegler stellt ein Mädchen vor, das sich vor fünf Jahren
die Obren stechen liess und im Anschlüsse daran eine derbe Neu¬
bildung bekam, deren histologische Untersuchung fibröses Bindegewebe
mit eingelagerten Riesenzellen, also das Bild einer chronisch ent¬
zündlichen Geschwulst ergab.
Kaposi hält die Geschwulst für ein gerade an dieser Stelle
so häutiges Keloid.
Kreibich stellt einen kräftigen, 46jährigen Mann vor, der
seit acht Jahren am Halse, dem Stamme, sowie den Extremitäten, be¬
sonders auch an den Handrücken, verschieden grosse und geformte,
flecken- und streifenförmige, scharf begrenzte, stark juckende, gelb¬
braun bis braunroth gefärbte Herde hat, deren Haut leicht schilfert
und keinerlei Exsudationserscheinungen zeigt. Der Vortragende hält
diese Herde für jenes eigentümliche, Monate bis Jahre andauernde
Stadium eczematosum, das als Frühsymptom der
Mycosis fungoides vorangeht.
Lang und Neumann geben diese Möglichkeit zu, doch
müsse man noch andere Processe differentialdiagnostisch ins Auge
fassen.
Kaposi gesteht die Schwierigkeit der Einreihung dieses
Krankheitsbildes zu einer systematischen Diagnose zu. Doch handle
es sich seiner Meinung nach hier um eine mechanische Ektasie der
oberflächlichen Gefässe mit consecutive r Atrophie und allen
ihren Folgeerscheinungen.
Neumann wird von Weidenfeld aufmerksam gemacht,
dass das vorliegende Krankheitsbild auch viel Aehnlichkeit mit den
von ihm beschriebenen Fällen von circumscripter idiopathischer Atro¬
phie habe.
Kaposi verweist auch auf die von E. W i 1 s o n als Morphaea
(rubra, nigra, lardacea etc.) beschriebenen Affectionen, die mit ihren
atrophischen Folgezuständen von späteren Autoren theils der circum-
scripten Sklerodermie, theils der eigenthümlichen, milde verlaufenden
Form der Lepra maculosa zugesprochen wurden und auch hier er¬
wähnt werden müssen.
Kaposi demonstrirt:
1. Ein junges, 26jähriges Mädchen mit beginnender Sklerodermie,
vorwiegend an den Wangen und am Kinne, wenig am Stamme aus¬
gebreitet.
2. Einen 23jährigen Mann mit einem N a e v u s mollusciformis
angiomatosus der linken Wange, die sich im Ganzen pastös an¬
fühlt und deren Schleimhaut durch die dunkelblaurotbe, unregelmässig
höckerige, etwas compressable Tumormasse vorgedrängt erscheint.
3. Einen Fall von eigentümlicher multipler Hautgangrän
nach einer Kohlenoxydgasintoxication bei einer 56jährigen
Taglöhnerin, die von der Abtheilung Pdl ins Wasserbett trans-
ferirt wurde.
WIEN Eli KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 17
396
Bei der ziemlieh herabgekommenen und etwas dementen Patientin
findet sich unterhalb des rechten Trochanters ein zweihandtellergrosser,
ovaler, längsverlaufender, tief zwischen die Museulatur bis nahe an
den Knochen reichender, unregelmässig zerklüfteter Substanzverlust,
der von missfarbigen, übelriechenden, Fett emulgirenden Gangränfetzen
bedeckt ist, am Rande aber deutliche Granulationsbildung zeigt.
An der Aussenseite des rechten Unterschenkels, hart unter dem
Kniegelenke, findet man zwei ähnliche, kleinere Gangränherde, deren
Centrum von je einem, 3 mm vom zarten Ueberhäutungssaume ent¬
fernten, schwarzen, trockenen Schorfe bedeckt ist, der so gelockert
aufsitzt, dass man darunter den gangränösen, mit missfarbigem Eiter
bedeckten Grund erkennt. Zwei seichte, kreuzergrosse, schon in
Epidermisirung begriffene Substanzverluste sind an der Innenseite des
linken Oberschenkels und Kniegelenkes, während sich nach aussen
vom linken Tibiaknorren eine rötbliche, oberflächlich erodirte Stolle
findet. Den inneren, unteren Quadranten der rechten Mamma nimmt
ein apfelgrosser, zerklüfteter, Museulatur, Fett- und Drüsengewebe
blosslegender, missfärbig belegter Substanzverlust ein, der sich am
Rand durch eine reactive Entzündungszone abgrenzt. Auch über beiden
Glutaei finden sich links ein handtellergrosser, rechts ein guldengrosser
Substanzverlust, von denen der irstere im Centrum einen schwarzen,
gangränösen Schorf trägt, der rechte rein granulirend erscheint.
Innere Organe gesund. Der Nervenstatus ergibt ausser einer
leichten Schwäche im rechten Bein keine Veränderung. Im Harn weder
Eiweiss, noch Zucker, doch lässt die Patientin Urin und Stuhl
unter sich.
Das eigenthümliehe Krankheitsbild liess im ersten Augenblicke
vermuthen, als handelte es sich um eine traumatische, durch eine
ätzende Flüssigkeit hervorgerufene Nekrose an den betreffenden Stellen.
Dagegen spricht zunächst der vor der Spitalsaufnahme beobachtete
Befund von tiefen, subcutaneu Hautkämorrhagien als Primärerschei-
nungen, über denen sich dann die Haut in missfärbigen Blasen abhob;
noch mehr die Anamnese, welche ergab, dass die Patientin am 4. Februar
mitten in ihrer Wohnstube bewusstlos und mit ihr ein lojähriger Sohn
todt aufgefunden wurde, dessen gerichtliche Obduction Kohlenoxydgas¬
vergiftung feststellte; es war somit der Beweis erbracht, dass es sich
um eine symptomatische lntoxicationsgangrän handle. Ohne des Näheren
auf die Pathologie und allgemeine Symptomenreihe dieser Vergiftung
einzugehen, wie sie ja ausführlich von Robert in seinem Lehrbuche
der Intoxicationen erörtert sind, möchte ich nur kurz einige, uns
interessirende, in unmittelbarer Folge oder erst Tage und Wochen
nach der Vergiftung entstehende Veränderungen an der Haut be¬
rühren.
Man beobachtet, ähnlich wie in den inneren Organen, auch in
der Haut kleinere und grössere Gefässrupturen und Ilämorrhagien,
ferner in Folge persistirender Gefässerweiteruugen das Auftreten von
rothen Flecken am Stamme und im Gesichte, an der Nase und den
Ohren, ähnlich wie bei Erfrierungen. Als Folge local asphyklischer
Zustände entstehen Decubitus, Gangrän, Herpes und pemphigusartige
Blasenbildungen, wie die vou Lendet beobachtete Eruption eines
Herpes zoster frontalis. Auch so schwere Veränderungen, wie in
unserem Falle, wurden schon beschrieben, so von Alberti, der eine
tiefe Gangrän der Halsmusculatur, der Haut über dem Olecranon,
Trochanter und Hinterhaupte an der rechten Körperhälfte erwähnt und
darum vermuthet, dass die Entstehung der Gangrän durch das Liegen
des Patienten auf der rechten Seite während der Bewusstlosigkeit
Bedingt sei. Eine Zusammenstellung ähnlicher, schwerer Läsionen an
der Haut biingt, noch eine Arbeit Becker’s in der Deutschen
medicinischen Wochenschrift (1889).
29 Congress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie
18.-21. April.
Referent: Dr. Heinz Wohlgemuth (Berlin).
I. Sitzungstag: Vormittagssitzung.
Der \ oreitzende v. Bergmann (Berlin) begrüsst die Ver¬
sammlung und gibt in kurzen charakteristischen Zügen ein Bild vom
Standpunkte der Chirurgie von heute in Gegenüberstellung der
grossen Errungenschaften des vergangenen Jahrhunderts zu" dem
Können im Anfänge desselben. Er betont, wie das vergangene Jahr¬
hundert sich vor Allem um die Erforschung der Entstehung und Be¬
handlung der bösartigen Geschwülste verdient gemacht hat, der
auch die heutige Vormittagssitzung gewidmet ist. Erster Vor¬
tragender ist:
Czern y (Heidelberg) : U e b e r die Behandlung in¬
operabler Krebse.
Nach den Statistiken, so führt Redner aus, seien 75% aller
chirurgischen Carcinome inoperabel, nach D ü h r s s e n werde von den
Carcinomen des Uterus nur der zehnte Theil geheilt. Das ist gewiss
ein trauriges Resultat, und er ist durch diese schlechten Resultate zu
dem wohlüberlegten Schlüsse gekommen, dass er einen Patienten mit
einem inoperablen oder schwer zu operirenden Carcinom lieber in der
Hoffnung, doch noch gesund zu werden, zu Grunde gehen sehen, als
dass er dies mit so traurigem Resultate, welches die beste Operation oft
nicht vermeiden kann, operirt wird und seine Hoffnung auf Genesung
1 schwinden sieht. Das Vertrauen zum Arzte ist eine Hauptsache gerade
bei den bösartigen Geschwülsten. Nur durch die Erschütterung des¬
selben fallen die Patienten oft der Curpfuscherei anheim. Hier haben
Arzt und Publicum zu gleichen Theilen Schuld. Bei letzterem ist es zu¬
meist der Wunderglaube an verschiedene pflanzliche oder auch sympathi¬
sche Mittel, der die Schuld trägt, dann aber auch die Leichtigkeit, mit
der heutzutage der Patient andere Aerzte unter Umgehung seines Haus¬
oder behandelnden Arztes fragt. Der Hausarzt ist in vielen Fällen nur der
dünne sympathische Nervenstrang, der zum Specialisten hinleitet. An
den Aerzten liegt die Schuld, weil die Diagnose „Carcinom“ für viele ein
Horror ist. Vielo junge Aerzte können und viele ältere wollen damit
nichts anfangen, wenn sie den Fall für inoperabel halten. Doch muss
er gerade ein Hauptgewicht auf die Behandlung dieser Art von Car¬
cinomen legen. Mit der Diagnose „Krebs“ will er überhaupt „alle
bösartigen Geschwülste bezeichnet wissen, welche weiter wuchern und
durch Infection oder Marasmus schliesslich zum Tode führen“. Soll man
nun jeden Krebs operiren? So weit wie möglich, ja, sogar bei dem so
sehr gefürchteten Carcinoma lenticulare will er eine Exstirpation weit
im Gesunden versucht, wissen. Manchmal gelingt es, ihn so zu heilen.
Drei Dinge sind es, die vor Allem bei der Behandlung des Carcinoms
vermieden werden müssen: Blutung, Jauchung und Sch merzen. Als Palliativ-
Operation kommt hier manchmal die Unterbindung der zuführenden Ge-
fässe in Betracht, wie sie beim Zungencarcinom sich nicht selten von
gutem Erfolge erweist. Ferner die Auslöffelung und das Ferrum candens.
Durch Ausschabung und Aetzung bringen wir dem Patienten oft Er¬
leichterung und manchmal Heilung. Die Aetzung soll am besten eine
chemische sein und hier haben sich ihm die 20 — 50n/nigen Clorzink-
lösungen, mit denen Gazestreifen befeuchtet werden und die Wundhöhle
tamponirt wird, am vortheilhaftesten gezeigt. Bei flachen Geschwüren
ist auch eine Aetzpaste am Platze. Bei den Carcinomen der Cervix uteri
leistet der Thermokauter oder die Heissluftbehandlung mit nachfolgen¬
der Aetzung gute Dienste, nur soll man nicht vergessen, die Scheide
gut einzufetten und sie. nachher mit in 5%ige Na Cl-Lösung getauchten
Gazestreifen gut auszustopfen. Auch bei Rectumcarcinom hat Czerny
gesehen, dass nach Chlorzinkätzung ein vorher für inoperabel gehal¬
tenes Carcinom beweglich wurde und dann exstirpirt werden konnte.
Bei recidivirtem Carcinom der Clavicula, des Gesichts etc. konnte er
nach 10 — 50n,0igor Chlorzinkätzung fast stets einen guten Erfolg auf¬
weisen. Bei 48 Uteruscarcinomcn erreichte er nach Ausschabung und
Tamponade kein Resultat, dagegen nach weiterer Chlorzinkätzung
Heilung. Vortragender theilt dann noch mehrere Krankengeschichten
mit, wo z. B. nach Auslöffelung, Abtragung und Aetzung mit 30°/oiger
Chlorzinklösung bei einem von autoritativer Seite für inoperabel ge¬
haltenen Carcinom Heilung erfolgt ist. Er hat auch Aetzungen
mit Formalin als 10— -30°/0iger Umschlag, mit Arsenpaste
und Sol. Fowleri als Injection versucht, doch diese machen Entzün¬
dungen und Schmerzen, nicht selten auch Vergiftungen. Von Arsen
und Jodkali, von dem Cancroin Adamkiewicz hat er ebenso-
w'enig wie von den zahlreichen anderen Injectionsmittein und der
elektrischen Behandlung Nutzen gesehen. Aber auch die Pflanzenmittel
will er nicht vermissen, wenn er sieht, dass der Kranke diese Dinge,
die ihm heilkräftig dünken oder von deren Heilkraft er gehört hat,
erproben will, wenn er auch zugeben muss, dass alle Versuche, durch
allgemeine Behandlung Heilung zu erzielen, nutzlos seien. Ein Lichtblick
für die Carcinombehandlung schien es zu sein, als man erfuhr, dass
das Erysipel auf die Resorption des Sarkoms so vortheilhaft einwirkte,
aber auch diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Ueberhaupt werden
wir zu einer rationellen Grundlage für die Behandlung des Carcinoms
erst dann gelangen können, wenn die Ursachen des Carcinoms
erforscht worden sind. Daher ist die Initiative des Cultusministeriums
mit Freuden zu begriissen, welches zu einer Sammelforschuug zur Er¬
forschung des Krebses auffordert und auch die Deutsche Gesellschaft
für Chirurgie sollte dies unterstützen, und zur besseren Erforschung,
zum gründlicheren Studium sollten die Carcinomkranken in besondere
Hospitäler kommen. Die Statistik hat gezeigt, dass die Krebsseuche
fortwährend zunimmt, in England ist sie auf das Vierfache gestiegen,
in New York soll sie die Tuberculose, den Typhus und die Blattern
zusammen um das Zehnfache übertr^ffen. Sie ist in Städten häufiger,
als auf dem Lande, die Erkrankungen sind umso zahlreicher, je
enger und dichter die Menschen beisammen wohnen. Das spricht für
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WüCl LENSCHR1ET. 19U0.
eine von aussen kommende Ursache. Daher soll man wie in London,
New York und in anderen Städten Cancerhospitäler bauen mit allon
Einrichtungen modorner Forschung und Behandlung. Diese Hospitäler
sollen nicht Sinecuren für alternde Bezirksärzte sein, sondern junge
Aerzte mit jugendlichem Forscherdrang sollen sie leiten; denn keine
Krankheit fordere so sehr das Mitgefühl mit den armen Leidenden wie
das Carcinom.
Discussion: Friedrich (Leipzig) betont, dass Thiersch
schon in den letzten 20 Jahren seines Lebens der parasitären Natur
für eine gewisse Reihe von Carcinomen zugeneigt hat.
Helfe rich (Kiel) tritt für die Chlorzinkätzung ein.
Steinthal (Stuttgart) hat sehr schwere Nachblutungen nach
Abstossung des Schorfes bei Chlorzinkätzungen gesehen.
Krönlein (Zürich): Darm- und M a s t d a r m c a r c i-
n o m e und die Resultate ihrer operativen Behänd-
1 u n g.
Der deutsche Standpunkt der operativen Behandlung des Mast-
darmcarcinoms wie aller anderen Carcinome wird eigentlich nur in
Deutschland selbst vertreten. Es sprechen dagegen mehrere Dinge :
1. die schlechten Endresultate, 2. die Mortalität bei der Operation,
3. die schlechten functionellen Resultate. Um einen Ueberblick zu ge¬
winnen, hat er das ganze Material der in Deutschland operirten Car-
cinome von elf Kliniken gesammelt. Was nun die Mortalität anlangt,
so sind von zusammen 881 in den letzten zwei Decennien operirten
und exstirpirten Fällen von Carcinoma recti 19'4%> d. h. ein Fünftel
aller Fälle gestorben, eine Mortalitätsziffer, die bei den verschiedenen
Autoren natürlich bedeutend schwankt. Der eine Theil, sechs Kliniken
mit 444 Operationen, habe 12 6% Todesfälle, der andere, fünf Kliniken
mit 437 Operationen, habe dagegen 26r7% aufzuweisen. Wenn man
sich nun nach der Ursache dieser grossen Mortalität erkundigt, so
sieht man, dass an Sepsis 5US %, d. h. mehr als die Hälfte an Wund-
infection, an Collaps 18%, an Pneumonie, Embolie etc. 131% zu
Grunde gingen. In keiner Beziehung zur Operation starben 15%. An
diesen Resultaten ist wohl in einzelnen Fällen eine zu weit gestellte
Indication zur Operation Schuld, in anderen wohl die Methode der
Operation. Ivrönlein unterscheidet zwei Hauptmethoden derselben:
1. die perineale, 2. die dorsale mit oder ohne Voroperation. Die erste
greift direct den Mastdarm an, die zweite holt erst das intacte Mast-
darmrohr heraus. Diese Operation wurde zuerst von französischen
Chirurgen D e n o u v i 1 1 i e r und V e r n e u i 1 angegeben, bei uns
heisst sie die Koche r’sche Methode. Darnach trat Kraske mit
der osteoplastischen Resection des Kreuzbeines auf. Was nun die
Wahl der Operationsmethode anlangt, so verfahren die meisten
Chirurgen eklektisch mit Ausnahme von H o c h e n e g g, der die sacrale
Methode zum Princip erhebt. In Bezug auf die Dauerresultate ist der
Standpunkt bis jetzt ein sehr pessimistischer, doch wird er besser,
wenn man diese Resultate vom pathologisch-anatomischen Standpunkt
aus beta achtet. Axel 1 versen hat eine Statistik geliefert, nach
welcher in operirten und nicht operirten Fällen bei an Carcinom ge¬
storbenen Patienten in fast der Hälfte aller Fälle keine Metastasen
in Leber, Milz etc. nachzuweisen, darum wäre vom pathologisch-anato¬
mischen Standpunkte dieser Pessimismus nicht gerechtfertigt. Wann
sollen wir nur eine Heilung als Dauererfolg annehmen? Er glaubt,
dass drei Jahre genug sind, und nach seiner Statistik ist nach diesem
Giundsatze in einem Siebentel aller Fälle ein Dauererfolg aufzuweisen.
Aber er hat auch 13 Spätrecidive unter allen seinen Fällen aufzu-
w'eisen und daher will er nicht von einer Radicalheilung, sondern nur
von Dauererfolgen sprechen. Der Kreis der Indication zur Operation
sollte nicht mehr erweitert werden, das Zulässige ist nach seiner Meinung
schon überschritten. Man soll Halt machen, sobald die Nebenorgane
ergriffen sind. Die Resection der Blase und der Harnröhre hat stets
schlechte Resultate geliefert. Lieber solle man den Kreis der Indicationen
enger ziehen. Die functionellen Resultate betreffen in erster Reihe immer
die Continenzfrage. Beobachtungen darüber hat er wenig gefunden, daher
will er über die Erfahrungen in seiner eigenen Klinik sprechen. Die
Continenzfrage hat in den Augen der Patienten die grösste Bedeutung,
eine grössere noch als die Mortalitätsfrage. Daher soll man möglichst
conservirend verfahren, nicht rücksichtslos exstirpiren aus Furcht vor
Recidiven im Interesse gründlicher Säuberung. Entweder ganz odor
partiell soll ein gesunder Anus erhalten -werden und wenn auch nur
ein Schleimhautstreifen den gesunden Anus mit dem centralen Mast¬
darmende verbindet. Er hat nie einen Anus sacralis praeternaturalis
geduldet, sondern ihn stets geschlossen und hat in seinen 39 Fällen
in 30% vollkommene Continenz, relative Continenz in 60%, ab¬
solute Incontinenz in 10% aufzuweisen.
(Fortsetzung folgt.)
397
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
in München.
Vom 17. bis 22. September 1899.
(Fortsetzung.)
Section für Kinderheilkunde.
Referent Dr. B. B e n d i x (Berlin).
I. Sitzung: Montag den 18. September 1899.
VI. Georg M e 1 1 i n (Helsingfors in Finnland) : U e b e r die
Virulenz des aus Kinder Stühlen gewonnenen Bac¬
terium coli commune. (Fortsetzung.)
Wie soll man sich das Verhältniss des Bacterium coli im ge¬
sunden Darm im Gegensatz zu dem im kranken Darm erklären? Wes¬
halb ist das eine Bacterium coli virulenter als das andere? Manche
Autoren haben geglaubt, die Ursache in der Verschiedenartigkeit der
Nährböden finden zu müssen. Und wenn auch die Möglichkeit nicht
von der Hand zu weisen ist, dass eine chemisch, thermisch und
mechanisch oder anderweitig gereizte Darmschleimhaut ein besonders
günstiger Entwicklungsplatz für ein virulentes Bacterium coli abgeben
dürfte, so könnte man mit Ritter auch die Frage anders beant¬
worten. Denn wie wir von einem Diphtheriebacillus und von einem
Pseudodiphtheriebacillus sprechen, so könnten wir auch bei Bacterium
coli zwischen einem Pseudobacillus und einem virulenten Bacterium
coli commune unterscheiden.
VII. Meinhard P f a u n d 1 e r (Graz) : Ueber Saugen
und Verdauen.
Bei der Nahrungsaufnahme des Kindes treten oft schon in den
ersten Lebenswochen stark betonte, individuelle Züge hervor; sorgsame
Rücksichtnahme auf dieselben fördert die diätetischen Bestrebungen,
wogegen eine schablonenhafte Anstaltsbehandlung minder gute Erfolge
aufweist. Andererseits darf aber auch die „Selbstbestimmung“ der
Mahlzeit durch den Säugling nicht zu weit gehen. Bei künstlich ge¬
nährten Kindern droht sonst namentlich Gefahr von Seiten übermässiger
Inanspruchnahme der mechanischen Magenwandfunctionen durch Ueber-
schreitung der Maximaldosis für die Einzelmahlzeit. Hiefür wurde an
anderem Orte der exacte Beweis erbracht. Ein Grund dafür, dass
diese Ueberschreitung des maximalen Nahrungsvolums gerade bei
künstlich genährten Kindern so häufig geschieht, liegt darin, dass die
heute als rationell geltende Fütterungsmethode beim Flaschenkinde im
Gegensätze zu jener beim Brustkinde eine fast durchaus passive
Nahrungsaufnahme zur Folge hat.
Ein detaillirte3 Studium der Mechanik von Saug- und Kau¬
bewegung beim Kinde erwies:
1. Dass dem Brustkinde Saugbewegungen im Sinne des
„primitiven Saugverfahrens“ (Auerbach) zukommen, dass dieselben
aber nicht den Austritt der Milch aus der erigirten Warze, sondern
im Wesentlichen nur die Füllung der äusseren Milchwege von der
Drüse her bewerkstelligen. Der Austritt der Milch aus der Warze
erfolgt durch eine auspressende , gewissermassen melkende Kau¬
bewegung.
2. Dass bei der meist üblichen Fütterungsmethode der Flaschen-
kinder mittelst grossen Biberons echte Saugbewegungen, welche ein
Druckgefälle im Sinne einer Ausaugung von Nahruugsflüs3igkeit er¬
zeugen würden, in der Regel völlig fehlen und die Kaubewegungen
energielos erfolgen, dass das Kind seine Nahrung als nahezu ohne
eigene Arbeitsleistung zugeführt erhält.
3. Dass Flaschenkinder jedoch durch geeignetes Verfahren,
namentlich durch Einschaltung successive gesteigerter Widerstände,
zu einer activen Nahrungsaufnahme angelernt werden können.
Die ehemals gebräuchliche Form der Saugflaschen „ä long
biberon“ nöthigt das künstlich genährte Kind zu einer activen Nahrungs¬
aufnahme, doch stehen diesem Vortheile die bekannten in der er¬
schwerten Reinigung des Gummischlauches begründeten Nachtheile
entgegen, deren Bedeutung allerdings überschätzt zu werden pflegt.
Eine vom Verfasser angewandte, einfache Vorrichtung gestattet
die Energie der einzelnen Saugzüge, sowie den durch Summirung des
Effectes aufeinander folgender Saugzüge erreichbaren „maximalen
Saug druck“ während der Mahlzeit manometrisch zu messen. Die
aus diesen Messungen sich ergebenden Schlüsse und Daten sind im
Originale einzusehen.
Es wurden ferner vergleichende Untersuchungen über die secre-
torische Magenfunction und den Verlauf der Magenverdauung nach
activ und nach passiv eingenommenen Mahlzeiten von gleicher Qualität
und Quantität angestellt. Dieselben ergaben in der ausgesprochensten
Weise, dass die Gesammt-Aeiditätscurve und der Procentgehalt des
gemischten Mageninhaltes an HCl nach activ eingenommenen Mahl¬
zeiten ceteris paribus beträchtlich rascher und höher ansteigen, als
nach passiv eingenommener Mahlzeit. Dies wird am einfachsten durch
die Annahme erklärt, dass die Saugbewegung zur Magensaftsec ction
398
WIENEK KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 17
anrege. Auch die Magenentleerung scheint direct durch die Saug¬
bewegung gefördert zu werden. Damit steht die Beobachtung, dass
sich die Flaschenkinder nach activ eingenommener Mahlzeit sichtlich
wohler fühlen, seltener erbrechen, rascher einsehlafen etc., in gutem
Einklänge. Nach all dem erscheint die active Nahrungsaufnahme durch
das Flaschenkind eine erstrebenswerthe Neuerung in der Diätetik des
Säuglings.
Discussion: 1. Biedert (Hagenau) hebt hervor, dass er
bereits im Jahre 1876 die mit der P f a u n d 1 e r’schen übereinstimmende
Erklärung für die Saugbewegung gegeben habe. Zugleich sprechen
die Bemerkungen Pf aundler’s auch für das, was Biedert des
Oefteren hervorgehoben hat, dass die Nachtheile der alten Saugflasche
nicht gar zu grosse sein dürften.
2. Czerny (Breslau) meint, wenn die alten Saugflaschen gut
seien, so ermangle der Beweis dafür, welcher nur gegeben würde durch
bessere Ernährungsresultate bei Kindern, welche mit den Flaschen mit
langen Saugrohren gefüttert wurden, gegenüber denen, bei welchen
moderne Flaschen verwendet werden.
3. R. F i s c h 1 (Prag) hält das Innehalten einer bestimmten
Zeit bei der Verabreichung der Nahrung doch für segensreich, die
Resultate bei künstlicher Ernährung seit Einführung der dreistündlichen
Pausen haben sich günstiger gestaltet. Die Kinder schreien meist nicht,
weil sie Hunger haben, sondern vor Schmerzen (Kolik etc.), auch wird
durch das stricte Innebalten der längeren Pause wohl am leichtesten
die Magenüberdehnung verhütet. Ob durch das Trinken aus Saug¬
flaschen mit langem Saugstück das Saugen an der Mutterbrust voll¬
kommen nachgeabmt wird, bezweifelt F i s c h 1.
4. Schlossmann (Dresden) betont, dass die eine Brust nicht
wie die andere in derselben Weise die Milch beim Saugen hergeben,
der einen ist leichter, der anderen schwerer die Milch zu entziehen
(respective durch Saugen zu entnehmen); auch ist die Saugkraft der
einzelnen Kinder nicht dieselbe.
5. Conrad (Essen) warnt vor der alten Saugflasche wegen
der Schwierigkeit, sie leicht und gut zu säubern; er macht ferner
darauf aufmerksam, dass in den Vertiefungen (Theilstrichmarke) der
sogenannten Strichflaschen leicht eine Schmutzablagerungsstätte ge¬
geben sei.
6. Hecker (München) redet dem Schnuller insoweit das Wort,
weil er das Kind beruhigt und es dadurch vor Ermüdung schützt.
Den kurzen Sauger zieht er vor.
7. Luge n b ü h 1 (Wiesbaden) hebt hervor, dass die Mittheilung
P f a u n d 1 e r’s, dass durch den Saugact die Magensaftabsonderung ver¬
mehrt werde, auch durch Untersuchungen von P a u 1 o w gestützt werde.
8. Pfaundler (Graz) [Schlusswort] erwidert auf die
mannigfachen Einwürfe, dass auch heute noch wie früher die Saug¬
flasche „ä long biberon“ in der Grazer Klinik verworfen werde. Das
Mitschlucken von Luft könne übrigens auch hiebei durch ein Ventil
verhindert werden, wodurch eine Ueberdehnung des Magens aus¬
geschaltet würde. Dass bei den verschiedenen Frauen die Milch leicht
oder schwer kommt und geht, hat auch Pfaundler beobachtet,
aber nicht, wenn einmal angesogen, sie von selbst wieder läuft. In
der Grazer Klinik haben die Strichflaschen keine Vertiefungen als
„Marke“, sondern an der Aussenseite Leisten.
*
II. Sitzung, Dienstag, den 19. September 1899.
Vorsitzender: Heubner.
I. J. Lange (Leipzig), Referent: Ueb er Krämpfe im
K i n d e s a 1 1 e r.
Das Thema ist im Einverständnis mit dem Vorstande der Ge¬
sellschaft auf die sogenannte Eclampsia infantum begrenzt worden.
Nach kurzer Schilderung der wesentlichsten Symptome dessen, was wir
als Kindereklampsie zu bezeichnen pflegen, und Betonung der Schwierig
keit, darüber schlüssig zu werden, wo Normal und Krankhaft sich
scheiden, wird auf die ätiologischen Verhältnisse des Näheren ein¬
gegangen. Von den organisch bedingten Convulsionen ist hier nicht die
Rede, sondern nur von den sogenannten functionellen. Der Unterschied
besteht ja nur darin, dass wir für die eiuen ein anatomisches Substrat
kennen, für die anderen bis dato nicht. Die functionelle Eklampsie
wird wiederum in sympathische und idiopathische getheilt. Der erstere
Begriff deckt sich fast mit dem der symptomatischen: es gibt wahr¬
scheinlich nur Krämpfe, die durch eine primäre pathologische Verände¬
rung erzeugt werden, daher ist der Begriff Eklampsie als
Krank heitsname aus den Lehrbüchern der Pathologie und
Therapie zu streichen, ebenso wie etwa Fieber, Erbrechen oder
Kopfschmerz. — Kurze Besprechung der Pathogenese der Convulsionen.
Anämie, aber auch venöse Hyperämie, ferner auch active Hyperämie,
vasomotorische Störungen sowohl, als auch Blutdruckschwankungen
im Gehirn, sollen Anfälle auslösen köunen. Die Annahme eines Krampf¬
centrums erscheint nicht mehr genügend haltbar, dagegen sind als Sitz
der Affection die motorischen Rindengebiote des Grosshirns zu ver-
muthen. Die wichtigen Arbeiten Soltmann’s erklären wohl die
Disposition der Zeit etwa vom vierten bis zwölften Lebensmonate für
ihr Auftreten, lassen aber die Ursachen dunkel, da nicht erklärlich,
warum von zwei Kindern unter ganz gleichen Verhältnissen eines
Krämpfe bekommt bei sonst harmlosen, sensiblen Reizen, das andere
nicht. Nach Ablehnung der „Zahnkrämpfe“ und kurzer Aufzählung
der sogenannten Reflexkrämpfe werden die initialen Krämpfe bei acuten
Lifectionen besprochen und gegenüber dem unhaltbaren Zusammenhänge
derselben mit dom plötzlich ansteigenden Fieber der viel wahrschein¬
lichere Einflüsse der betreffenden Toxine etc. betont. Hierauf wird die
Lehre von den Autointoxieationen und deren mögliche Beziehungen zur
Eklampsie erörtert. Thierversuche ergaben dem Vortragenden (allerdings
nur in zwei von elf Fällen) positive Resultate, doch ist zunächst nur
mit grosser Vorsicht ein Für oder Wider gestattet. — Die Grund¬
frage, wie wir uns das Entstehen der Krämpfe, abgesehen von der
Altersdisposition, erklären sollen, bleibt vorläufig noch offen, obwohl die
Autointoxicationsannahme auch für die Einwirkung der Rachitis ver-
werthbar wäre. Nach kurzer Erwähnung der Schwierigkeit, Eklampsie
und Epilepsie diagnostisch zu trennen, wird die Therapie besprochen,
und für die schweren acuten Fälle besonders die Chloroformnarkose
(Troussea u) und für alle dringend der Phosphor — auch unabhängig
von etwaiger Rachitis — empfohlen.
II. Martin T hi mich (Breslau), Correferent :
Vortragender, der sich gleichfalls nur mit der sogenannten
„Eclampsia infantum“, d. h. den „functionellen“, nicht durch eine
anatomisch nachweisbare Erkrankung des Centralnervensystems be¬
dingten Krämpfen beschäftigt, geht nach kurzen differentialdiagnosti¬
schen Bemerkungen zu einer Schilderung des klinischen Bildes über,
wobei er besonders auf das sonstige Verhalten der Kinder Werth legt.
Er unterscheidet danach zwischen den schwer magen-darmkranken
Kindern, bei denen die Krämpfe mit anderen centralen Reiz- und
Lähmungserscheinungen vergesellschaftet sind, und zwischen den schein¬
bar nicht kranken Kindern. Bei diesen findet er entweder die Symptome
einer latenten Tetanie oder den Bestand einer lang dauernden Ueber-
ernährung. Völlig gesunde Kinder werden niemals von Krämpfen
befallen.
Im Folgenden erwähnt Vortragender die bisher weniger bedeut¬
samen Ergebnisse der pathologischen Anatomie und geht dann in einem
sehr umfangreichen Capitel auf die Theorien über das Zustandekommen
der Krämpfe ein. Eine ausführliche Besprechung und Ablehnung er¬
fährt die S o 1 1 m a n n’sche Reflextheorie, welche zu der Aufstellung
einer im Säuglingsalter physiologischen „Spasmophilie“ oder „erhöhten
Reflexdisposition“ führt, welche mit den klinischen Thatsachen nicht
vereinbar ist. Wenn es überhaupt eine „Spasmophilie“ zu irgend einer
Zeit des Säuglingsalters gibt, so muss dieselbe als pithologisch be¬
zeichnet werden, und zwar scheint sie abhängig zu sein von dem Be¬
stehen eines tetanoiden Zustandes oder einer durch Ueberernährung
hervorgerufenen Stoffwechselanomalie. (Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag, den 27. April 1900, 7 Uhr Abends,
unter dem Vorsitze des Herrn Prof. Csokor
stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Oberstabsarzt Docent Dr. Habart : Der gegenwärtige Stand der
Verwundungsfrage im Kriege und die Wechselbeziehungen derselben zum
Sanitätsdienste im Felde. (Mit Demonstrationen.)
2. Dr. C. Sternberg: Demonstration anaerober Actinomycesculturen.
3. Dr. Alexander: Ein nettes zerlegbares Mittelohrmodell zu Unter¬
richtszwecken.
Vorträge haben angemeldet die Herren Professoren: A. Politzer,
Weinlechner, Schnabel, A. Jolles, Retlii, Fein, Englisch und
Wertlieim.
Bergmeister, Paltauf.
Wiener laryngologische Gesellschaft.
Programm
der am
Donnerstag, den 3. Mai 1900, 7 Uhr Abends,
im Hörsaale der laryngologiscben Klinik unter dem Vorsitze des Herrn
Prof. Cliiari
stattfindenden Sitzung.
Demonstrationen.
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, O. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner,
M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann,
R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt, A. v. Vogl,
J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gussenbaner, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigirt von Br. Alexander Fraenkel.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VI 1 1/1, Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang. Wien, 3. Mai ISOO. Hr. 18.
Abonnementspreis
jährlich 20 K = 20 Mark.
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tions-Aufträge für das Iti-
und Ausland werden von
allen Buchhandlungen und
Postämtern, sowie auch von
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zeile berechnet. Grössere
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Verlägshandlung :
Telephon Nr. 60U4.
Die „Wiener klinische
Wochenschrift“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von minde¬
stens zwei Bogen Gross¬
quart.
Zuschriften für die Redac¬
tion sind zu richten an
Dr. Alexander Fraenkel,
IX, 3, Maximilianplatz,
Günthergasse 1 . Bestellun¬
gen und Geldsendungen an
die Verlagshandlung.
Redaction:
Telephon Nr. 3373.
X IST ZK ALT:
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel : 1. Meine Operationserfolge bei Reetumcarcinoni. Von
Prof. Julius H o c h e n e g g, Wien.
2. Aus der k. k. chirurgischen Universitätsklinik Hofrath Professor
N i c o 1 a d o n i’s, Graz. Zur Technik der keilförmigen Osteotomie
der Tibia (M eyer-Schede). Von Dr. Ludw, Luksc h,
Assistenten der Klinik.
3. Ueber die Nachkommenschaft der Hereditärsyphilitischen. Von
Prof. E. Finge r. (Fortsetzung.)
II. Referate: Pathologie und Therapie der Erkrankungen des peripheri¬
schen Nervensystems. Von Privatdocent Dr. Franz Wind¬
scheid. Eef. Hermann Schlesinger. — Der anatomische
Bau des Unterkiefers als Grundlage der Extractionsmechanik. Von
Dr. Rudolf Loos. Ref. I s o o. — Grundriss der organischen
Chemie. Von Karl Oppenheime r. Ref. R. v. Z e y n e k,
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Therapeutische Notizen.
V. Vermischte Nachrichten.
VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
Meine Operationserfolge bei Rectumcarcinorn.
Von Prof. Julius Hochenegg, Wien.
Auszugsweise vorgetragen am 18. April 1900, am ersten Sitzungstage des
XXIX. Congresses der deutschen Gesellschaft für Chirurgie ia Berlin.
Meine Herren! Ich begrüsse die Anregung, die uns
durch den Vortrag Herrn Krönlei n’s (»Darm- und Mastdarm-
carcinom und die Resultate ihrer operativen Behandlung«) ge¬
bracht wurde und halte es für sehr zeitgemäss, wieder einmal an
dieser geweihten Stätte im gegenseitigen Austausche unserer Er¬
fahrungen fragliche Punkte in der Behandlung eines so häufigen
Leidens, wie dies das Darm- und speciell das Mastdarmcarcinom
darstellt, der Erledigung näher zu bringen.
Herrn Krön lei n’s klarer, auf genauer statistischer Ver-
werthung des bisher in der Literatur niedergelegten dies¬
bezüglichen Materiales basirter Vortrag überhebt mich der
Mühe, Ihnen eine historische Darlegung der gegen das Rectum-
carcinom ins Feld geführten Methoden zu geben. Wir ersahen
aber aus den von Krönlein zusammengestellten Zahlen und aus
Krönleins persönlichen Ansichten, dass in wichtigen Puncten,
ja selbst in der Indicationsstellung noch keine Einigkeit unter
den C hirurgen herrscht und ich bin der Meinung, dass auch das,
was wir heute von den Fachgenossen über die Behandlung des
Rectumcarcinoms zu hören bekommen werden, zu keiner Ent¬
scheidung führen wird, dass aber dennoch wichtige Argumente
und Anregungen für diese oder jene Methode zur allgemeinen
Kenntniss kommen werden, die vielleicht in späteren Tagen
eine einheitliche Indicationsstellung für die Operabilität der
vectumcarcinome überhaupt, sowie für die AVahrung der ver-
schiedenen Methoden anbahnen dürften.
•Ii C^esem Sinne fasse ich meine heutige Aufgabe auf; ich
will durch Vorführung meiner Erfahrungen über Rectum-
carcinom zur Klärung beitragen und Ihnen nur meine per¬
sönlichen Ansichten zur Prüfung vorlegen. Dies erkläre das
rein subjective Gepräge meines Vortrages.
Von den Rectumcarcinomen, die mir im Laufe meiner
selbstständigen chirurgischen Thätigkeit zur Beobachtung vor¬
kamen, ging vor Allem ein nicht unbeträchtlicher Bruchtheil
für die weitere Beobachtung und Behandlung durch mich ver¬
loren, da sich die Patienten nicht zu der von mir empfohlenen
Art der Behandlung verstehen wollten, ein weiterer, bedeutend
grösserer Antheil kam in einer Zeit zur Beobachtung, in welcher
wegen der Ausbreitung der Erkrankung nicht mehr an den
Versuch einer radicalen Heilung gedacht werden konnte und
bei denen deshalb nur palliative Methoden in Anwendung
gebracht werden konnten (55 Colostomien nach May dl, drei
Excoclileationen, vier Versuche mit Dilatation und Tubage). Iu
129 Fällen wurde die Exstirpation des Mastdarmkrebses ge¬
macht, und zwar bei nur acht Fällen nach der sogenannten
perinealen Methode, bei 121 Fällen jedoch nach der sacralen
Methode.
Die Erfahrungen, die ich bei diesen 121 nach der
sacralen Methode operirten Fällen zu sammeln Gelegenheit hatte,
gaben für mich den Grund ab, um mich zum Worte zu melden,
und ich will dieselbe Ihnen darlegen, wobei es mich freuen
würde, wenn ich neue Anhänger für eine Methode gewinnen
würde, der, wie mir K r ö n 1 e i n’s Ausführungen aufs Neue be¬
weisen, meiner Meinung nach noch immer zu wenig Bedeutung
entgegengebracht wird.
Meinem Vorsatze entsprechend will ich es vermeiden, die
Ansichten anderer Chirurgen kritisch zu beleuchten oder noch¬
mals des Längeren das Wesen der sacralen Methode, die ich
ja auf Grund der zahlreichen diesbezüglichen Arbeiten als
selbst in ihren Details allgemein bekannt voraussetzen darf, zu
schildern. Ich werde mich, wie gesagt, darauf beschränken, Ihnen
nur meine persönlichen Ansichten mitzutheilen, Ihnen nur über
meine eigenen Operations- und Dauererfolge zu berichten und
die Technik nur in jenen Punkten zu s'kizziren, welche von
mir angegebene und noch geübte Modifieationen betreffen und
meine Art des Operirens von anderen Chirurgen unterscheidet.
400
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 18
Schon in der Indicationsstellung für die sacrale Methode
unterscheide ich mich sehr wesentlich von so manchen anderen
Chirurgen.
Da ich von Anfang an der Ansicht war, dass Rectum-
carcinome auf sacralem Wege sicherer für den Patienten und
bequemer für den Operateur entfernt werden können als mit
den alten perinealen Methoden, da ich ferner auf Grund unserer
Operationserfolge die Ueberzeugung gewann, dass diese Form
der Exstirpation auch nicht gefährlicher sei als die alten
perinealen Methoden schlug ich schon in meiner ersten dies¬
bezüglichen Publication *), also vor zwölf Jahren, vor, die sacrale
Exstirpation als Normalverfahren für die Entfernung des
krebsigen Mastdarmes zu acceptiren und nur in den an und
für sich ziemlich seltenen, ganz tiefsitzenden Carcinomen der
Analportion nach den bisher üblichen perinealen Methoden vor-
zugehen.
Dazu kam in consequenter Verfolgung dieser Auffassung
als weiteres wichtiges Argument noch für mich in Betracht:
ich habe den Eindruck, dass auch die Dauerresultate seither
bessere geworden sind. Ich kann zwar diese Ansicht nicht mit
eigenen Zahlen belegen, indem mir selbst Erfahrungen von einer
grösseren Anzahl perineal durchgeführter Operationen fehlen,
aber der Vergleich meiner Dauerresultate mit den Statistiken
über perineal operirte Fälle lässt mich dies doch sicher an¬
nehmen, besonders wenn berücksichtigt wird, dass jetzt viel
weiter vorgeschrittenere Carcinome zur Operation gelangen.
Von vielen, und darunter sehr massgebenden Seiten wurde
und wird noch gegen die Verallgemeinerung der sacralen
Methode und Nonnirung derselben zum Normalverfahren
energischer Einspruch erhoben, indem hervorgehoben wurde,
dass die zum Wesen der sacralen Methode gehörige Vor¬
operation einen an und für sich schweren Eingriff darstelle.
Die Gefahr der Blutung, die Schädigung der Nerven, die
Gefahr der Eröffnung des Canalis spinalis und endlich nicht
näher definirte Beschwerden für die Zukunft wurden von den
Gegnern gegen die Methode ins Feld geführt, und ich als
Schwärmer hingestellt, der in seinem übertriebenen Enthusiasmus
weit über das Ziel schiesst.
Ich verfüge heute über ein Material von 121 sacralen
Rectum-Exstirpationen und 50 diversen anderen sacralen Ein¬
griffen, also zusammen über 171 sacrale Operationen 2) und ich
habe in keinem einzigen Falle den Eindruck gewinnen können,
als ob durch die Voroperation jemals dem Patienten irgend¬
welcher Schaden erwachsen wäre, und es war auch in den
18 tödtlich endigenden Fällen niemals auch nur in entfernter
Hinsicht die Todesursache mit der Voroperation in Zusammen¬
hang zu bringen.
Auch für den weiteren Lebensverlauf meiner Patienten
waren keine wesentlich schädigenden Folgen aus der Vor-
') Hochenegg, Die sacrale Methode der Exstirpation von Mast-
darmcarcinomen nach Prof. K r a s k e. Wiener klinische Wochenschrift. 1888,
Nr. 11—16.
2) Folgende Tabelle gibt einen Ueberblick über die Fälle, in welchen
ich sacral operirte; sie sind theil weise wenigstens publicirt in der Wiener
klinischen Wochenschrift. 1888, Nr. 11 — 16; 1889, Nr. 26 — 30; 1897, Nr. 32;
1900, Nr. 3, und: Frank, Wiener klinische Wochenschrift. Nr. 43 — 48.
Indication
Anzahl
der
Fälle
Geschlecht
Ausgang
Männer
Weiber
geheilt
gestorben
Missbildungen des Rectums
5
2
3
3
2
Rectumcarcinome .
121
74
47
111
10
Kectumprolaps .
1
—
1
1
—
Rectumstrictur . . .
8
1
7
7
1
Retroflexio uteri fixata . . .
1
—
1
1
_
Cystischer Tumor im Parametrium .
1
—
1
1
—
Myoma uteri .
1
—
1
1
—
Carcinoma uteri .
28
—
28
24
4
Sacraltumor .
1
—
1
—
1
Beckeneiterung (Perity pliilitis) . .
3
1
2
3
—
Dystopie der Niere .
1
—
1
1
—
Summe der sacral operirten Fälle
171
78
93
153
18
operation abzuleiten. Die anfänglich häufig zu beobachtenden,
übrigens vorübergehenden Schmerzen beim Stehen und Gehen,
die ich auf eine Lockerung in der Symphysis sacro-iliaca zurück¬
führte, vermied ich, indem ich die Ligamente in später zu
schildernder Weise schone. Ernstere Störungen in der Harn¬
entleerung finde ich im Ganzen nur zehnmal während des
Wundverlaufes verzeichnet, dieselben schwanden aber immer
vollständig, wenn die Patienten sich zum Uriniren aufknien
durften und selbst auf den Geburtsact hat die Entfernung des
Steisskreuzbeines keinen störenden Einfluss, wie die Beob¬
achtung von drei meiner Patientinnen lehrt, welche nach sacraler
Rectumexstirpation anstandslos, die eine sogar zweimal, aus¬
getragene Kinder zur Welt brachten.
Wenn ich Ihnen nun weiters ausführe, dass ich nach
meiner letzten Berechnung für die sacrale Rectumoperation eine
Mortalität von nicht ganz 5 °/0 erzielte, so werden Sie mir wohl
zugestehcn, dass ich für meine schon vor zwölf Jahren ge-
äusserte Ansicht, dass durch die Voroperation keine Gefahr für
unsere Patienten erwächst, auch den Beweis erbracht habe.
Als Grenzen der Operabilität eines Mastdarmcarcinoms
gelten für mich nebst constatirbaren inneren Metastasen einzig
und allein die starre carcinomatöse Fixation im Beckenzell
gewebe und weit verbreitete Drüsenerkrankung. Bei Fixation
gegen Prostata und Blase, gegen Vagina und Uterus versuche
ich immer noch die Exstirpation, indem ich Stücke des secundär
erkrankten Organes nach Bedarf mit resecire.
Ich ging in der Beurtheilung der Operationsmöglichkeit
bedeutend weiter als andere Chirurgen nach ihren Publica-
tionen zu thun scheinen. Für mich ist eigentlich nur die einzige
Erwägung massgebend, ob die Entfernung des Neu¬
gebildes überhaupt technisch ohne Gefährdung
der Function der übrigen Beckenorgane durch¬
führbar sei oder nicht.
So operirte ich eine Anzahl von Carcinomen, die nach
den gewöhnlich geltenden Regeln nur mehr für Palliativopera¬
tionen geeignet gewesen wären, und hatte dabei zweimal die
Freude, an selbst bei der Operation fast aussichtslos erscheinen¬
den Fällen Dauerheilungen zu erzielen; allerdings geschah es
mir aber andererseits dreimal, dass ich nach sacraler Frei¬
legung des Tumors und dadurch ermöglichter directer Explora¬
tion von der Operation abstehen und eine Palliativoperation
machen musste.
Die Indication für Colostomie ist somit wesentlich für
mich eingeschränkt und bleibt nur für die absolut unexstirpir-
baren Carcinome Vorbehalten.
Ich empfahl früher immer, den sacralen Rectumexstirpa-
tionen sowie man das auch bei andern Operationen am Rectum
zu thun pflegt, eine möglichst gründliche, also energische
Entleerungscur vorauszuschicken, damit womöglich durch Ab¬
führmittel und Irrigationen die ober dem Neoplasma ange¬
häuften Kothmassen zur Erweichung und Ausscheidung ge¬
bracht werden. Durch diese Vorbereitungscur verzögerte sich
die Operation manchmal durch Wochen; durch die quälenden
Proceduren dieser Cur, sowie durch die Angst vor der Opera¬
tion und durch die geringe Nahrungsaufnahme während der
Zeit der Vorbereitung kamen manche Patienten stark herunter
und was war meist das Resultat? Nach der Operation gingen
trotzdem Unmassen von Kotli ab. Diese Erfahrung veranlasste
mich, allmälig ganz von dieser Vorbereitungscur, die bei wand¬
ständigen Carcinomen ohne wesentliche Verengerung unnöthig,
bei circulären mit stärkerer Stenose unwirksam ist, abzukommen.
Seither fand ich dann auch, das der geformte dicke Koth, den
man ohne Abführmittel immer ober der Stenose antrifft, für
die ganzen Wundverhältnisse viel weniger störend ist als die
künstlich erweichten dünnflüssigen Massen, die, wenn einmal die
Stenose durch die Operation behoben ist, unter lebhafter
Peristaltik gegen die Naht getrieben werden, und diese meist
zerreissen, worauf dann viel eher durch dieselben eine Wund-
infection zu Stande kommt, als durch den eventuell austreten¬
den geformten Koth. Nur bei absoluter Stuhlverhaltung und
Ileussymptomen entleere ich per colostomiam den Darm.
Als Voroperation halte ich noch immer mit wenig
Abänderungen an den ursprünglich gegebenen Vorschlägen
Beilage zur „Wiener klinische Wochenschrift
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bei verschiedenen klinischen Versuchen n
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Als Injektion : 2 Pravaz'sehe :
von J cc. Raum.
Musterflacons ’stehen den P. T. Herrei
toren stets freundlichst zur Verfn»i.no
auch besonders in
erlauben wir uns.
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
401
fest und konnte mich für keine der zahlreichen vorgeschlagenen
Modificationen erwärmen.
Dass ich meine Patienten in der linken Seitenlage operire,
dass ich statt des geradlinigen Hautschnittes einen nach rechts
convexen Bogenschnitt mache, sind nebensächliche Abänderungen.
Im Bezug auf die Knochenoperation wäre zu erwähnen,
dass ich mich ganz nach den Verhältnissen richte, unter allen
Umständen das Steissbein enucleire, vom Kreuzbein aber nach
Bedarf bald mehr, bald weniger entferne. Beim weiten weib¬
lichen Becken kam ich in der Regel der Fälle mit einem Ab¬
kneipen des freien Antheiles des Kreuzbeins aus. Um die
Ligamente wenigstens theilweise zu erhalten und die nach
der vollkommenen Durchschneidung manchmal beobachtete
Lockerung der Symphysen zwischen Becken und Kreuzbein
zu vermeiden, dabei aber doch nicht an Manipulationsraum
einzubüssen, empfahl sich mir eine bogenförmige Abtragung
des Kreuzbeins, wodurch die lateralen Insertionsstellen der
Ligamente wenigstens grösstentheils geschont bleiben.
Nach gemachter Voroperation unterscheidet sich, wie Sie
wissen, der weitere Operationsverlauf sehr wesentlich nach der
Localisation und Ausbreitung des Neoplasmas, je nachdem man
nämlich die Analportion mit entfernen muss oder ob diese mit
ihrem Sphinkter erhaltbar ist.
Während die erste Eventualität keine wesentlichen
Schwierigkeiten bietet, indem hiebei einfach der Anus Um¬
schnitten und der Darm aus seinem Bette von unten nach
aufwärts langsam präparirend ausgelöst wird, bildet bei erhalt¬
barer Analportion und vorzunehmender Continuitätsresection
die vollständige Isolirung des Tumors namentlich an der
vorderen Wand für mich noch immer den schwierigsten Theil
der ganzen Operation.
Ich vollführe dieselbe meist stumpf, indem ich von beiden
Seiten um den Mastdarm herum das Gewebe durchtrenne, bis
ich einen Canal formirt habe, der die doppelte Abbindung des
Darmes ermöglicht. Zwischen diesen Ligaturen durchtrenne
ich den Darm, ohne fürchten zu müssen, dass irgend etwas
von seinem Inhalte gegen die Wundhöhle austreten kann.
Wenn die Isolirung aber gar nicht gelingen wollte, und
ich mich fürchten musste, in falsche Schichten gerathen zu
sein, so half ich mir so, dass ich das Rectum unter dem Tumor
knapp ober dem Sphinkter durchschnitt, dann das zuführende
Darmlumen mit Klemmen abschloss und jetzt, unter constantem
Zug den Darm nach hinten und oben vorziehend, von unten
nach aufwärts bis zur gewünschten Höhe isolirte. Auch schlug
ich manchmal bei tieferem Sitz der Neubildung den umge¬
kehrten Weg ein, indem ich zunächst ober dem Neoplasma
den Darm isolirte, durchtrennte und dann von oben nach ab¬
wärts die Auslösung vornahm. Unter allen Umständen wird
durch eingelegte Tupfer die Wunde vor jeder Verunreinigung
exact geschützt.
Principiell eröffne ich das Peritoneum, da ich den Ein¬
druck gewonnen habe, dass nur nach Eröffnung, respective
Abtrennung des peritonealen Ansatzes das obere Darmstück
so mobil gemacht werden kann, wie man es braucht, um es
dann bequem ohne zu grosse Zerrung nach einer der später
zu erörternden Arten versorgen zu können. Nach der voll¬
ständigen genügenden Mobilmachung des Darmes schliesse ich
sofort die Peritoneallücke mit Seidennähten und trage erst
dann den carcinomatösen Darm ab.
Von der Peritonealeröffnung erlebte ich nur ein einziges
Mal bei den von mir operirten Patienten eine gefährliche Com¬
plication. Es war das jener Fall, den ich in der Provinz
operirte und nicht selbst nachbehandeln konnte, und bei
welchem es in Folge heftigen Narkoseerbrechens zur Ruptur
der Peritonealnaht, zum Prolaps und zur Incarceration von
Dünndarmschlingen im Wundcavum gekommen war. Sonst
halte ich die Peritonealeröffnung für belanglos, den Vortheil
durch dieselbe aber für sehr bedeutend, da, wie gesagt, nur
nach dieser der Darm ordentlich vorgezogen werden kann.
Vollkommen gleichgiltig ist ferner der bei allen meinen Patienten
zu constatirende Lufteintritt in das Peritonealcavum, welches
Ereigniss uns das jedes Mal constatirbare Verschwinden der
Leberdämpfung erklärt. In ein bis zwei Tagen ist die Luft
wieder resorbirt, die Leberdämpfung wieder constatirbar.
War nun die Analportion mit erkrankt, die Pars sphincte-
rica also nicht zu erhalten, so nähte ich den Darm knapp unter
dem abgetragenen Kreuzbein ein. Der so entstandene Anus
praeternaturalis sacralis wird nach vollendeter Heilung mit der
von mir angegebenen Pelotte verschlossen oder aber der
Verschluss durch einen mittelst Gummiband angedrückten
Schwamm bewerkstelligt.
Bei erhaltungsfähiger Analportion, also in den Fällen,
wo der Operateur mit Continuitätsresection sein Auskommen
findet, wird nach vollendeter Resection das obere Darmstück
an das untere angenäht, um so, wo möglich, nach erzielter
Heilung vollkommene Continenz dem Patienten zu sichern.
Dieses ideale Resultat, das mit keiner der früheren Methoden
erreichbar war und uns erst durch die saci-alen Methoden er¬
möglicht wurde, hat so viel Bestechendes, dass es begreiflich
erscheint,* wenn es, wo überhaupt durchführbar, angestrebt
wird. Doch darf man in der Schonung der Analportion, längs
welcher bekanntlich ein grosser Theil der Lymphgefässe ver¬
läuft, nicht zu weit gehen. Ich verfiel früher häufig in diesen
Fehler und habe so manchen Fall von Localrecidive auf den¬
selben zurückzuführen.
Bisher hafteten aber der Resection mit Naht grössere
Gefahren an als der einfachen Amputation des Darmes. Meist
riss durch die nachrückenden Fäcalmassen die Naht irgendwo
ein, der Kothaustritt hatte dann Kothinfiltration und stercorale
Phlegmone, die in vielen Fällen den Tod herbeiführte, zur
Folge. Auch war die Anlegung der Naht sehr schwierig und
niemals so exact wie an andern Darmpartien durchführbar.
Ich erkannte sehr bald, dass hierin ein wunder Punkt
der Methode liege und war seit Langem bestrebt, die Naht
zu verbessern, um dieser Gefahr möglichst auszuweichen.
Um zu verhindern, dass Koth gegen die Wunde aus¬
treten könne, zog ich einfach den oberen Darm, also meist
das untere Ende der Flexur durch die Pars sphincterica durch,
und fixirte den Darm aussen vor dem Anus. Zur grösseren
Sicherheit legte ich dann von der Wunde aus eine zweite
Nahtreihe an. Wenn nun vorzeitig Kothabgang erfolgte, wurde
der Koth ohne Gefährdung der Wunde direct nach aussen
entleert. Um weiters die Verwachsung im Bereiche des
Sphincters zu einer innigeren zu gestalten, excidirte ich aus
dem analen Stück die Schleimhaut, es berührten sich nun die
Wand des vorgezogenen Darmes, also meist Peritoneum mit
einer angefrischten Wundfläche, und beide konnten direct
breit mit einander verwachsen, wodurch auch das Einrollen
des durch den Anus durchgezogenen Darmes am besten ver¬
mieden wird (publicirt 1889).
Um ferner die in der Wunde immerhin schwer in der
ganzen Peripherie exact anzulegende Naht leichter,
sicherer und schneller durchführbar zu machen, ging ich in
Fällen, wo wegen zu starker Spannung die Durchziehmethode
unausführbar schien, so vor, dass ich für die Zeit der Naht¬
anlegung den Darm allerdings durchzog, nachdem ich vorher
den analen Antheil durch Klemmpincetten nach aussen umge¬
stülpt hatte, wodurch also eine Art Invagination erzeugt worden.
Jetzt konnte ich bequem vor dem Anus die exacte circuläre
Naht machen, worauf dann wieder der Darm von der Wunde aus zu¬
rückgezogen, also die Invagination behoben wurde (publicirt 1897).
Nur wenn auch diese Art der Nahtanlegung nicht durch¬
führbar ist, lege ich von der Wunde aus die circuläre Darm¬
naht an.
Trotz dieser Nahtverbesserungen geschieht es immer noch
in einzelnen Fällen, dass die Naht irgendwo einreisst und sich
dann Koth gegen die Wunde ergiesst. Meist jedoch trat dieses
früher so gefährliche Ereigniss erst nach einigen Tagen ein,
in einem Zeitpunkt, wo die Wunde bereits granulirt und so
eine Infection viel unwahrscheinlicher ist. Diesem Umstande
schreibe ich es auch zu, dass ich von meinen 62 Resections-
fällen mit Darmnaht nur einen einzigen Fall an stercoraler
Phlegmone verlor.
Seitdem ich gelernt habe, die Naht wenigstens für die
erste Zeit auf diese Weise zu sichern, habe ich nie mehr das
402
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 18
Verfahren der partiellen Naht unter Anlegung eines provi¬
sorischen Sacralafters bei meinen Fällen geübt, und habe da¬
durch die so lästige zweite, auf den Verschluss des künst¬
lichen Afters abzielende Operation bis auf wenige Fälle ver¬
mieden (2 Fälle).
Nach vollendeter Exstirpation mit Einnähung
des Darmes an sacraler Stelle oder nach gemachter Darmnaht ver¬
nähe ich die äussere Wunde immer nur in ihrem oberen und
unteren Winkel, in der Mitte lasse ich die Wunde weit offen
und drainire mit Drain und Jodoformgaze die ganze Höhle.
Dann verbinde ich mit einer breiten Taubinde, also auch lange
nicht mehr so vorsichtig und complieirt, wie ich das früher
zu thun gewohnt war.
In der Regel der Fälle ist nach diesen so ausgeführten
Operationen der Wundverlauf ein fast reactionsloser. Die Pa¬
tienten verbringen in abwechselnder Seitenlage die Zeit, die
sie gezwungen %sind, das Bett zu hüten. Wenn bis zum vierten
Tag nicht spontan Stuhl erfolgt ist, was jetzt, wo ich nur
ausnahmsweise Opium nach den Operationen reichen lasse,
immer seltener wird, erzwinge ich durch ausgiebige Dosen
von Ricinusöl breiige Entleerung. Erst nach erfolgter Defäcation
wird meist, der Verband zum ersten Male gewechselt und von
nun an ganz nach Bedarf täglich, so oft Beschmutzung dies
eben noting macht. Nur bei Austritt von Fäcalien in die Wund¬
höhle wird mit lauem Wasser irrigirt, sonst immer nur die
äusseren trockenen Gazelagen nach schonender Reinigung ge¬
wechselt.
Der kürzeste Wundverlauf bis zur erfolgten Entlassungs¬
fähigkeit betrug 14 Tage, in der Regel der Fälle sind aber die
Patienten doch drei Wochen spitalsbedürftig. Auf einige Details
der Nachbehandlung komme ich übrigens noch später zu
sprechen.
Was erreichen wir nun durch die sacrale Operation für
unsere Patienten?
Zur Beantwortung dieser Frage können die die Operation
zunächst überstehenden Patienten in folgende Gruppen ein-
getheilt werden :
1. Bei jenen Fällen, die mit Continuitätsresection be¬
handelt wurden, kann, wenn die nach einer der verschiedenen
Vorschläge ausgeführte Darmnaht hält und ausheilt, voll¬
ständige Continenz erzielt werden, also ein Resultat erreicht
werden, das als ideal zu bezeichnen ist und vollständig gleich-
werthig mit den gelungenen Fällen von Resectionen an anderen
Darmabschnitten vergleichbar ist.
Dabei kann, und das spielt für das zu erstrebende
Ziel keine wesentliche Rolle, die Heilung des Darmes per
primam erfolgen oder, was wohl oft der Fall ist, an Stelle der
Naht eine Zeit lang eine kleine Fistel bestehen, die dann ent¬
weder spontan oder nach Kauterisation mit Lapis ausheilt.
Die meisten dieser Patienten sind nach perfecter Heilung
körperlich vollkommen gesund und werden durch keinerlei
Störungen irgendwie an die überstandene Operation und das
durch dieselbe beseitigte Leiden erinnert. Ich habe als in diese
Kategorie gehörig zwei Frauen, welche anstandslos reife, die
eine ein 4200 schweres Kind gebaren. Einer meiner Patienten
betont mir jedes Mal, dass er sich erst seit der Operation über¬
haupt wohl fühle, indem er früher mit Defäcationsschwierig-
keiten zu laboriren hatte. Ein anderer wieder geht seinem
schweren Berufe als Forstmann nach, wieder ein andererfährt
ohne Beschwerden stundenlang Velociped u. s. w.; ich hebe
eben nur besonders markante Fälle hervor. Vollständige Con¬
tinenz erzielte ich
in 5 Fällen nach Naht in der Wunde,
»21 » » der Durchziehmethode,
* 3 » » Spontanheilung einer Fistel,
» nach plastischem Verschluss der Fistel.
Allerdings wird dann und wann selbst bei gelungener
Darmnaht die Freude am Erfolge durch allerhand Beschwerden
getrübt. Solche sind zunächst Incontinenz für dünnen Stuhl
trotz vollkommen erhaltenem Sphinkter und vollkommen ge¬
heilter Naht (3 Fälle). Ich beziehe diese Erscheinung auf
meine Gepflogenheit, bei vorzunehmender Darmnaht jedes Mal
den Sphinkter stumpf zu dehnen, ungefähr so, wie man dies
früher zur Behandlung von Fissuren und Hämorrhoiden an¬
gegeben hat. Ich time dies, um zu verhindern, dass Kothballen
ober dem Sphinkter sich während der Wundheilung anstauen
und so die Naht gefährden. Es hat mir dieser Usus so gute
Dienste geleistet, dass ich nicht davon abgehe, trotzdem mir
in zwei Fällen über die nur relative Continenz arg geklagt wird.
Eine weitere unangenehme Erscheinung nach gemachter
und gelungener Darmnaht wird duroh Stricturen an Stelle der
Naht erklärt. Der Patient hat dann den quälenden Eindruck,
dass er sich niemals vollkommen entleere; der Stuhl wird dabei
in kleinen Portionen abgesetzt; solche Patienten werden oft
psychisch sehr verstimmt, da sie meinen, dass ihr Carcinom
schon wieder in Entwicklung sei. Ich war in solchen Fällen
oft erstaunt, im Rectum bei der Digitaluntersuchung nur eine
feine, circuläre, gegen das Lumen zu vorspringende Leiste zu
finden, die den Querschnitt des Darmes scheinbar kaum ver¬
ändert. Uns wird aber das Unbehagen klar, wenn wir uns
vor Augen halten, dass ober dem Sphincter externus der
Mastdarm ampullenförmig erweiterungsfähig sein soll und wenn
j wir die Erfahrungen von anderen gutartigen Stricturen auf
unsere Fälle übertragen. Bei solchen Veränderungen sehen wir
dann im weiteren Verlaufe, dass ober der Naht sich der Darm
stark ausdehnt, was so weit gehen kann, dass selbst eine
Dehnung der äusseren Narbe entsprechend der sacralen Wunde
zu Stande kommt, die uns eine sacrale Hernie Vortäuschen
könnte. Instinctiv kommen solche Patienten darauf, dass dieser
Sack bei der Defäcation mit zu entleeren sei und gewöhnen
sich daran, denselben mit ihren Händen zu drücken, um ihn
so mechanisch auszuquetschen. Einer meiner Patienten liess
sich eine Art Bracherium construiren, um diese lästige Folge
der Stenose leichter ertragen zu können. Regelmässige Bougie¬
rungen und Nachhilfe mit Irrigationen werden hiedurch nöthig
und beheben mit der Zeit meist vollständig die Strictur.
Ein viel unangenehmeres Bild bieten uns jene Patienten,
bei denen die Naht versucht, also die Analportion erhalten
wurde, und bei denen es aus irgend einem Grunde zur breiten
Berstung und zur Entwicklung einer hinteren bleibenden, also
von Epithel überzogenen Rectalfistel gekommen war (27 Fälle).
Bei solchen Patienten bestehen für den Austritt des Stuhles
zwei Löcher, der erhaltene After und die neue sacrale Fistel.
Gewöhnlich verengert sich nun im Laufe der Zeit letztere
immer mehr und mehr, so dass nur in einer dünnen, band¬
förmigen Form der Kotli durchgepresst wird. Aber auch der
Weg durch den Auus leidet, sei es, dass narbige Schrumpfung
oder Verziehen mit winkeliger Knickung die Durchgängigkeit
beeinträchtigt. Für solche Fälle schlage ich die baldige pla¬
stische Deckung des hinteren Defectes, eventuell blosse An¬
frischung nach Spaltung der Pars sphincterica mittelst hinterem
Rhapheschnitt vor, was mir in zwei Fällen rasch die Beschwerden
behob und selbst gutes functionelles Resultat geliefert hat.
II. Die zweite Gruppe von sacral Operirten besitzen
nach der Amputation, respective Exstirpation des Rectums
einen sacralen After (50 Fälle), oder aber, wenn man den
Darm bis in die Gegend des ursprünglichen Afters vorzieht
und hier einnäht, hier den incontinenten neuen After (8 Fälle).
In der Regel der Fälle nähte ich den Darm knapp unter
der Abtragungsfläche des Os sacrum in die äussere Haut ein,
also etablirte einen sacralen After, da es mir den Eindruck
macht, dass dieser besser mit Pelotten verschlossen werden
kann als der perineale. Die von mir hiefür construirte Pelotte
(beschrieben in meiner ersten Publication) functionirt in
manchen Fällen so ausgezeichnet, dass selbst dünnflüssige
Kothmassen gut zurückgehalten werden können.
Allmälig kam ich namentlich bei meinen Spitalspatienten
von dieser doch immerhin kostspieligen Pelotte ab und lasse
nun folgende einfache Verschlussbandage tragen: Auf das Lumen
des sacralen Afters wird ein grösserer, feuchter, aber gut aus¬
gedrückter Schwamm aufgelegt und mit einem breiten Gummi¬
band in Form der Taubinde angedrückt erhalten.
Auch bei den Fällen von sacralem After sah ich, was
ich bei den Colostomien immer besonders hervörhebe, welch
grosse Bedeutung es hat, nach erfolgter Heilung zuerst eine
förmliche Abführcur einzuleiten, um so mit Abführmitteln und
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
403
Irrigationen alle angehäuften alten Kothmassen zu entfernen
und dann durch Regelung der Diät regelmässig geformte
Stühle zu erzwingen. Solche Patienten setzen des Morgens
ihren Stuhl ah, reinigen sich dann im Sitzbad, bleiben
tagsüber selbst ohne Pelotte vollkommen rein und können un¬
gestört ihrem Berufe nachgehen. Die grosse Angst vor Be¬
schmutzung, welche die Patienten nach der Operation mehr
quält, als ihr Rectumcarcinom vor der Operation, verschwindet
dann allmälig und ich konnte bei allen meinen Patienten
ein förmliches Aufblühen und rapide Gewichtszunahme con-
statiren.
Natürlich hat die Incontinenz trotz der besten Pelotten
immer viel Missliches, und es sind daher alle Bestrebungen,
welche dieselbe zu beheben und die Patienten von den Pelotten
unabhängig zu machen sich bemühen, vollständig gerechtfertigt
und zu begriissen.
So sehen wir denn auch, dass die Chirurgen in dieser
Hinsicht vielfach Versuche angestellt haben; Witzei ver¬
legte den widernatürlichen After in die Glutäalregion und
hoffte, von der vom Musculus glutaeus maximus dargestellten
Muskelklammer eine Art Sphinkter zu erzielen. Gersuny
torquirte vor der Einnähung den Darm und will, ähnlich wie
er es bei der weiblichen Urethra wegen Incontinenz mit gutem
Erfolg that, einen Abschluss, der nur den austreibenden Kräften
nachgibt, herstellen.
Ich versuchte beide Verfahren, hatte aber bei beiden
Malheur, indem sich bei der Patientin, bei der ich den After
in die Glutäalgegend verlegte, der Darm, wahrscheinlich beim
Umlagern, losriss und hinter die Musculatur zurückzog, wobei
Koth in die Wunde entleert wurde. Eine zum Verjauchen des
ganzen Beckens führende Phlegmone, der die Patientin auch
erlag, war die Folge davon; in dem Falle, wo ich nach dem
Rathe Gersuny’s die Drehung vornahm, wurde mir das ge¬
drehte Stück bis zum Ansätze des Peritoneums~gangränös; Patient
kam zwar mit dem Leben davon, doch dauerte es bis zur
definitiven Verheilung sehr lange.
Um einem gewissen Grad von Continenz zu erzielen, an¬
dererseits durch die Pelotte den Darm sicherer verschliessen
zu können, schlug Billroth eine, wie mir scheint, sehr
praktische Modification vor, die darin besteht, dass der Darm
unter der Haut des Kreuzbeines nach aufwärts geschlagen
wird, so dass der sacrale After ungefähr in der Mitte des
Kreuzbeines zu liegen kommt. Hiedurch kann leicht der Darm
gegen den Knochen gedrückt und so verschlossen erhalten
werden.
Ich protegirte dieses Verfahren in einigen Fällen, kam
aber gerade in letzterer Zeit wieder davon ab, da ich De¬
cubitus des Darmes an der Umbeugestelle durch Druck des
Knochens erlebte.
So bin icli denn auf dem Umwege einiger trauriger Er¬
fahrungen wieder zu der ursprünglichen Form des sacralen
Afters angelangt, und habe, wie gesagt, die Erfahrung ge¬
macht, dass bei einiger Intelligenz und sorgsamer Pflege die
Patienten endlich sich ganz gut mit ihrem Gebrechen abfinden
und selbst ohne Störungen ihrem Berufe nachkommen können.
Eine sehr quälende aber immerhin seltene Folge des
sacralen Afters ist der sich manchmal einstellende mächtige
Darmvorfall. Ich habe dieses Ereigniss aber nur in Fällen zu
beobachten Gelegenheit gehabt, bei welchen weder eine Binde,
noch eine Pelotte getragen wurde.
Die fast ausnahmslos zu constatirende Folge sacraler
Operationen (dabei bleibt es gleichgiltig, ob Darmnaht oder
künstlicher After angelegt wurde) ist eine rapide Gewichts¬
zunahme und ein förmliches Aufblühen unserer Patienten.
Das frische, gute Aussehen hält an, so lange die Patienten
recidivfrei sind, und schwindet sofort, wenn durch Recidive die
Detäcationsschwierigkeiten erneuert oder innere Metastasen
lebenswichtiger Organe eingetreten sind.
So traurig das Bild ist, unter welchem Recidive zum
Ende führt, so unterscheidet es sich doch wesentlich von dem
ausnahmslos noch viel qualvollerem Siechthum nach Colostomien.
Da in den weitaus meisten Fällen die Recidive, wenn man als
solche überhaupt das Weiterwuchern des Krebses in den
regionären Drüsen bezeichnen darf, nicht im Darm, sondern
ausserhalb dieses im periproktalen Zellgewebe abläuft, sind
Stenosenerscheinungen selten. Meist durchwuchert der Krebs,
hauptsächlich nach hinten wachsend, die sacrale Narbe und er¬
scheint vor dieser oft in Form grosser pilzförmiger Geschwülste.
Compression der Blase beobachtete ich nur einmal, Perforation
in die Blase jedoch niemals. In acht Fällen musste ich wegen
Compression des Darmes in späterem Verlauf colostomiren.
In einer auffallend grossen Anzahl von Fällen erlagen die
Patienten inneren Metastasen ohne dass irgend ein für Recidive
sprechendes Moment aufgefunden werden konnte.
Gänzlich bin. ich davon abgekommen, bei Recidiven nach
sacralen Operationen den Versuch radicaler Exstirpation zu
wiederholen. In den wenigen Fällen, bei welchen ich in früheren
Zeiten diese Versuche machte, kam ich jedes Mal nach opera¬
tiver Freilegung zur Einsicht, dass es ein absolut aussichts¬
loses Beginnen darstelle, den die ganze Narbenmasse durch¬
setzenden Krebs zu exstirpiren. Ich gehe eben schon bei der
ersten Operation so energisch als möglich vor, so dass eine
zweite Operation nichts mehr zu leisten im Stande ist.
Meine Herren, ich kommt nun zu meiner Statistik.
Ich werde bei der Darlegung derselben jedoch nur die Mor¬
talitätsstatistik und die der Dauerresultete entwickeln, indem
erst im vorigen Monat einer meiner Schüler eine diesbezüg¬
liche genaue statistische Arbeit im Lan ge n beck’schen Archive
erscheinen liess und ich somit in allen weiteren Punkten auf
dieselbe verweisen kann.2)
Seit dem 2. Mai 1887 vollführte ich bis zum heutigen
Tage, also in einem Zeiträume von fast 13 Jahren, 121 sacrale
Rectumexstirpationen.
Dabei will ich noch besonders hervorheben, dass ich diese
immerhin bedeutende Anzahl von Operationen durchaus selbst aus¬
geführt habe, und ich bin der Meinung, dass dieser Umstand
meinen Erfahrungen eine grössere Bedeutung zur Charakteristik
der Methode verleiht als dieselbe Statistiken verdienen, in
welchen Operationsresultate verschiedener und verschieden
qualificirter Operateure, wie z. B. bei allen klinischen Berichten
des Chefs und der Assistenten, niedergelegt sind.
Ich kenne keine Operation, bei der es so wie bei dei
sacralen Rectumexstirpation auf genaue anatomische Vorstellung
und auf chirurgische Erfahrung und Uebung ankommt. Ich
kenne aber auch weiter wenige Operationen, bei denen die
Nachbehandlung eine so grosse Rolle spielt.
In der Regel der Fälle ist das Schicksal eines Patienten
am Operationstische entschieden und die Nachbehandlung hat
nur die Aufgabe, zu verhindern, dass auf den durch die Ope¬
ration und Krankheit in seiner Widerstandskraft geschädigten
Patienten irgend eine neue Schädlichkeit einwirke.
In unseren Fällen ist das ganz anders. Hier hat der
nachbehandelnde Arzt lange Zeit auf gewissenhaftester Wacht
zu stehen, damit nichts zum Nachtheile des Patienten über¬
sehen werde. Nur einige Beispiele: Ich sah einen fremden
Patienten an acutester Peritonitis in wenigen Stunden zu
Grunde gesehen, den der verbindende Arzt beim Verband¬
wechsel in Knie Ellbogenlage gelagert hatte. Die Section zeigte,
dass ein zwischen Rectum und Blase zur Entwicklung ge¬
kommener Abscess, der sonst wahrscheinlich gegen die W unde
zu durchgebrochen wäre, in dieser fehlerhaften Lagerung gegen
das Peritonialcavum geplatzt war.
Bei einigen meiner Patienten kam es zu Fieber in Folge
Eiterverhaltung nur dadurch, dass der herabgezogene und ge¬
nähte Darm ampullenartig ober dem Sphinkter durch Koth er¬
weitert war und so den Abfluss aus dem Wundcavum voll¬
ständig verhinderte.
Wie eine Darmnaht gegen den anrückenden Stuhl zu
schützen ist, wann es besser ist, lieber die Naht nach hinten
zu öffnen und so, freie Passage zu gewähren als die ganze
Naht zu riskiren alles das sind Dinge, die genau überlegt
sein wollen und auf Erfahrung basirt sein müssen.
Bei der Beurtheilung meiner Resultate kommt also
weiters in Betracht, dass ich in allen Fällen mit Ausnahme
*) Dr. Josef Pichler, Zur Statistik und operativen Behandlung
der Rectumcarcinoine. Archiv für klinische Chirurgie. Bd. LKI, Heit 1.
404
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 18
eines, die Nachbehandlung selbst geführt oder doch wenigstens
mit besonderer Aufmerksamkeit überwacht habe.
Von meinen 121 Fällen verlor ich zehn Fälle in zeit¬
lichen Anschlüsse an die Operation, was ein Mortalitätsver-
hältniss von 8'2% ergibt.
Besehen wir uns aber die Todesursachen in diesen zehn
Fällen, so werden Sie mir wohl Recht geben, wenn ich vier
Fälle ausscheide, da bei diesen die Todesursache in keinem
directen Zusammenhänge mit der Operation und Wund¬
heilung stand.
Es starben au Sepsis, Peritonitis, respective stercoraler
Phlegmone vier Fälle (zwei Männer, zwei Weiber).
Bei einer Frau versuchte ich die Methode nach Witzei.
Durch Zurückgleiten des in die Glutäusmusculatur eingenähten
Darmes war es zu rapid tödtlich verlaufender Beckenphlegmone
gekommen. Eine Frau (Fall 44) erlag einer subacuten Sepsis am
22. Tage.
Bei einem stark herabgekommenen anämischen Manne
(Fall 36) musste eine Nachblutung aus der A. sacralis
gestillt werden, wobei eine Wundinfection stattfand. Bei einem
zweiten Manne (Fall 110), einem 62jährigen Herrn, versuchte
ich die Darmnaht. Wegen Spannung konnte ich dieselbe nur von
der Wunde aus machen; es kam zur Berstung und stercoraler
Phlegmone.
An Verblutung verlor ich zwei Fälle (zwei Weiber,
Fall 53 und 105).
Eine Frau erlag am dritten Tage einer inneren Verblutung.
Das Carcinom war mit der Scheide verwachsen, ich musste ein
thalergrosses Stück reseciren, und die daselbst befindlichen, enorm
varicös dilatirten Venen zahlreich ligiren. Nach einem Verband¬
wechsel und frischer Lagerung collabirte die Patientin plötzlich,
wurde pulslos und starb im Verlaufe einer Viertelstunde, noch
bevor ich wieder geholt werden konnte. Eine zweite Frau, bei der
ich ebenfalls wegen Uebergreifen auf die Vagina diese grössten-
theils reseciren musste, erlag am zweiten Tage trotz scheinbar ge¬
lungener Tamponade einer Blutung, die, wie die Section uns lehrte,
gegen die Bauchhöhle zu durch den geplatzten Peritonealschlitz
nach innen zu stattgefunden hatte.
Das sind die Fälle, die unbedingt für die Mortalitäts¬
berechnung in Betracht kommen; ausschalten möchte ich die
vier weiten Todesfälle, nämlich:
1. Einen Fall von capillärer B r o n c h i t i s. (Fall 20.
58jährige Frau, die nach der Durchziehmethode operirt wird.
Tod am 15. Tage. Section: Capilläre Bronchitis bei in Heilung
begriffener Wunde.)
2. Einen Fall (Fall 71. Mann 52 Jahre alt) von Dann¬
blutung in Folge eines Duodenalgeschwüres am achten Tage.
3. Eine 62jährige Frau (Fall 79) erlag am 18. Tage
nach vollkommen reactionslosem Wundverlauf und nahezu
geheilter Wunde beim Aufstehen (sie war bereits drei Tage
ausser Bett) einer Hirnembolie, und endlich
4. den Fall 52 von Incarceration gegen die Wundhöhle.
Der Patient erlag am zehnten Tage einer Incarceration, die
dadurch entstanden war, dass in Folge starken Erbrechens nach
der Narkose die Peritonealnaht riss und Dünndärme gegen die
Wundhöhle vortraten und sich hier allmälig einklemmten. Der Fall
wurde in der Provinz (21 Stunden Bahnfahrt von Wien) operirt
und konnte von mir nicht nachbehandelt werden.
Nach Abzug dieser vier Fälle gestaltet sich das Morta-
litätsverhältniss so, dass ich bei 121 Operationen 6 Todesfälle
in zeitlichem und causalem Zusammenhänge mit der Operation
zu verzeichnen habe. Dies gibt ein Mortalitätsprocent von nicht
ganz 5%.
(Also ich habe nicht 20% Mortalität bei den sacralen
Rectumexstirpationen, wie mir fast allgemein und bis in die
neueste Zeit, so auch in der jüngst erschienenen statistischen
Arbeit aus der Rostocker Klinik zugedacht werden, sondern
nur 5%.)
Für die Beurtheilung der Dauerheilungen, wozu ich jene
Fälle rechne, welche über drei Jahre nach der Operation leben
oder gelebt haben, kommen von meinen 121 Operationen nur
62 Fälle in Betracht, indem 59 Fälle in Abzug zu bringen
sind, und zwar die 10 Todesfälle, 22 Fälle, von denen keine
Nachricht zu erhalten war und von denen ich nach der Ope¬
ration nichts mehr erfuhr, ferner die 22 Fälle, die ich seit
April 1897 operirte, welche also noch nicht drei Jahre in Be¬
obachtung sind. Und endlich 5 Fälle, die an intercurrenten
Krankheiten vor Ablauf des dritten Jahres gestorben sind.
Von diesen 62 Fällen sind ohne Recidiv 21 Fälle länger
als drei Jahre am Leben geblieben, respective leben noch
(meine erste Patientin, die ich am 2. Mai 1887 operirte, ist
unter diesen, befindet sich vollständig wohl und sieht prächtig
aus). Ich halte es aber keineswegs für gerechtfertigt, so ohne
Weiteres diese Zahlen zur Berechnung herbeizuziehen, um
daraus den Procentsatz der Dauerheilungen zu berechnen, da
unter den 22 Fällen, von denen ich keine Nachricht erhalten
konnte, gewiss die meisten an Recidive gestorben sein dürfteu,
also füglich mit in die Berechnung einbezogen werden müssen.
Thut man dies, so erhalte ich 21 Dauerheilungen auf 84 Ope¬
rationen, was einen Prozentsatz von 25% ergibt. Abgesehen
von dieser Berechnung habe ich den persönlichen Eindruck,
dass die Dauerheilungen immer noch viel zu spärlich sind
gegenüber der Mühe und Sorge, die uns Chirurgen aus jedem
sacral zu operirenden Patienten erwachsen.
Wenn nicht die Totalexstirpation des ganzen unteren
Dickdarmstückes (Rectum und Flexur) auf dem combinirten
Wege der sacralen Methode und per laparotomiam einen totalen
Umschwung in der Therapie der Rectumcarcinome überhaupt
hervorzurufen im Stande ist, so können wir wohl annehmen,
dass wir an einem Grenzpunkte angelangt sind.
Viel mehr werden wir in nächster Zukunft wohl kaum
operativ für unsere Kranken leisten können. Der Fortschritt
muss zunächst in der Diagnosenstellung gemacht werden. Nur
Frühdiagnosen des Rectumcarcinoms würden uns in den Stand
setzen, im Berichte über die nächsten 100 Fälle mehr Dauer¬
heilungen zu verzeichnen.
Wenn der Chirurg den Internisten um Frühdiagnosen
bei schwierig zu diagnosticirenden, weil fast symptomlos ver¬
laufenden Leiden anderer innerer Organe angeht, so mag ja
das in vielen Fällen ein unerfüllbares Verlangen sein. Das
dürfen wir aber verlangen, dass bei allen Rectalbeschwerden
auch das Rectum digital untersucht werde, und dass so ver¬
hindert würde, dass noch so häufig ohne Untersuchung lange
Zeit hindurch mit falscher Diagnose ordinirt und hiebei die
beste Zeit für die Operation des carcinomatösen Mastdarmes
geopfert wird.
Aus der k. k. chirurgischen Universitätsklinik Hofrath
Prof. Nicoladoni’s, Graz.
Zur Technik der keilförmigen Osteotomie der
Tibia (Meyer-Schede).
Von Dr. Ludw. Luksch, Assistenten der Klinik.
Nach der Vorschrift von Meyer und Schede wird
die in der Ueberschrift genannte Operation bei Genu valgum
in der Weise ausgeführt, dass ein Keil aus der Tibia aus-
gemeisselt, resp. ausserdem die Fibula linear osteotomirt wird.
Alle späteren Autoren fügen nichts Neues hinzu. Nur König
betont in seinem Lehrbuche die Wichtigkeit, die laterale Wand
der Tibia ganz zu durchschlagen. Hier liegt, sagt König, die
scharfe Seite des Keiles. Thut man das, fährt König fort, so
hat man die Durchmeisselung der Fibula nicht noting, es corri-
giren sich auch die schlimmsten Genua valga leicht.
Ein Fehler dieser Methode liegt nun darin, dass der
Keil nur aus der Tibia ausgemeisselt wird, um die Difformität
des Unterschenkels, Tibia plus Fibula, zu corrigiren. Theoretisch
richtig wäre es, einen Keil aus dem ganzen Skelet des Unter¬
schenkels herauszunehmen, d. h. bei Genu valgum die Schneide
des Keiles an die laterale Seite der Fibula zu verlegen
(siehe Fig. 1). Es ergibt sich, dass dann aus der Tibia
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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ein recht winkeliges Prisma, dessen Basis ein
Trapez ist, a u s g e m e i s s e 1 1 werden muss.
Aus der Fibula sollte ein Keil mit ganz kleiner Höhe
des Keilrückens herausgenommen werden. Sobald aber die
Tibia in der angegebenen Weise osteotomirt ist, wird die
Trennung der Fibula (vielleicht nur die allerhochgradigsten
Fälle von Verkrümmung des Unterschenkels im Sinne eines
Genu valgum ausgenommen) unnothwendig. Die Difformität
lässt sich in Folge der Beweglichkeit zwischen Tibia und
Fibula in den beiden sie verbindenden Gelenken, ohne In¬
anspruchnahme der Elasticität der Fibula ausgleichen. ln
einigen Fällen, welche in der gedachten Weise operirt wurden,
konnte ich mich überzeugen, dass sich die Difformität leicht,
ohne Federung der Fibula corrigiren liess, und dass sich die
Meisseiflächen der Tibia genau aneinander legten.
Die Seiten des auszumeisselnden Prismas lassen sich aus
der Breite der Tibia, der Entfernung zwischen medialer Tibia
und lateraler Fibulakante und aus der Grösse des zur Cor¬
rectin' nothwendigen Winkels leicht berechnen.
Ausser dem genauen Aneinanderpassen der
Trennungsflächen der Tibia bietet die Ausführung
der Operation in der geschilderten Weise noch andere Vor¬
theile. Vor Allem ist es, wie erwähnt, kaum je nöthig, die
I ibula. zu osteotomiren. Es bleibt der Nerv, peroneus
vor jeder Verletzung bei der Operation, vor
einer Zerrung bei der Correctur der Difformität (Kocher)
und vor einer späteren Leitungsunterbrechung
durch die Weichtheilnarbe oder den Knochencallus sicher
bewahrt.
Die intacte Fibula bildet für die durchtrennte Tibia
gleichsam eine Schiene^ welche eine Beugestellung des
centralen Stückes der Tibia im Kniegelenke
verhindert. Eine Beugung im Kniegelenke kommt bei
Durchtrennung der Tibia und Fibula leicht zu Stande, weil
die kurzen centralen Fragmente der Unterschenkelknochen,
aut welche die. mächtigen Beuger des Kniegelenkes wirken,
nicht sicher fixirt werden können. Insbesondere dann, wenn
aus irgend einem Grunde nicht sogleich nach der Osteotomie
ein gut passender Gipsverband angelegt wird, stellt sich leicht
eine Beugecontractur im Kniegelenk ein. Eine Ausheilung
aber mit Abknickung des Unterschenkels nach rückwärts be¬
deutet eine schwere Beeinträchtigung der Gebrauchsfähigkeit.
Endlich ist für eine glatte und dauernde Heilung des
Genu yalgum von Wichtigkeit, dass bei der Correctur der
Difformität die Fibula nicht gebogen wird, wie es bei der
Keilosteotomie geschieht.
Die Federung der Fibula muss vom fixirten Verbände
überwunden werden. Der Verband drückt dann leicht, ver¬
ursacht Schmerzen eventuell sogar Decubitus. Wird dann
nach einer Reihe von Wochen der fixirende Verband weg¬
gelassen, so kann durch die elastische Spannung der Fibula
(die Beurtheilung, ob der Callus der Tibia bereits gehörig fest
geworden ist, ist schwierig) ein Recidiv der Difformität ver¬
anlasst werden. Bei Herausmeissein eines Prismas
aus der Tibia, wie oben angegeben, wird jede
Spannung der Fibula vermieden.
Das eingangs aufgestellte Princip über die Anlage des
Keiles lässt sich auch für die operative Beseitigung eines
Genu varum, sofern ein solches durch eine Verkrümmung
des Unterschenkels am oberen Ende bedingt ist, durchführen.
Die Schneide des Keiles muss an die Innenseite der Tibia,
der Keilrücken an die Aussenseite der Fibula verlegt werden
(Fig. 2). Aus der Tibia ist ein derartig angelegter Keil, dessen
Höhe leicht zu berechnen ist, unschwer auszumeisseln. Dagegen
ist es unmöglich, ohne Verletzung des Nervus peroneus bei
der Operation, und ohne spätere Gefährdung desselben, aus
der h ibula ein entsprechendes Prisma herauszunehmen. Die
Länge des aus der I ibula zu resecirenden Stückes würde z. B.
bei einem erwachsenen Individuum, bei einer beabsichtigten
Correctur um 20° schon circa 22 mm betragen.
Ich möchte nun vorschlagen, um die noth wendige Ver¬
kürzung der Fibula zu erreichen, an der Grenze des
mittleren und unteren Drittels der Fibula, wo
sie ohne Nebenverletzung leicht blosszulegen ist, eine schräge
Osteotomie auszuführen, und zwar schräg von aussen
oben nach innen unten. Durch Verschiebung der schrägen
Osteotomieflüchen aneinander ist, wie ich mich durch Leichen¬
versuche überzeugte, leicht die nothwendige Verkürzung der
Fibula zu erreichen.
Heber die Nachkommenschaft der Hereditär¬
syphilitischen.
Von Prof. E. Finger.
Referat, über Ersuchen des Organisationscomites erstattet für den IV. inter¬
nationalen Congress für Dermatologie und Syphilidologie in Paris vom
2. — 9. August 1900.
(Fortsetzung.)
II. Der zweite Punkt, den wir nun zu besprechen haben,
ist die Frage des degenerativen Einflusses der
Syphilis auf die Nachkommenschaft. Es ist ja eine
bekannte Thatsache, dass die hereditäre Syphilis, ganz ebenso
wie die acquirirte, zwei Reihen von Veränderungen setzt, ein¬
mal die specifisch syphilitischen Krankheitsherde, dann aber
eine Reihe schwerer allgemeiner und Ernährungsstörungen,
die sich als Lebensschwäche, Marasmus, Atrophie, allgemeine
Debilität bei dem hereditärsyphilitischen Neugeborenen äussern.
Sehr häufig sind diese allgemeinen Ernährungsstörungen,
häufiger ^ als eigentlich luetische Erkrankung, Ursache des
frühen Todes dieser Kinder. Ist die Ernährungsstörung nicht
so bedeutend, dann bleibt wohl das Kind am Leben, aber die
Erscheinungen gestörter Ernährung und Entwicklung bleiben
tortbestehen, sie beeinflussen die Entwicklung des kindlichen
Organismus noch lange Zeit, oft bis über die Pubertät
hinaus, sind Ursache, dass die physiologischen Entwick-
lungs- und Wachsthumsphänomene verspätet, inconstant, lang¬
sam, sich entwickeln. Das Kind bleibt in seiner ganzen Ent¬
wicklung, ^sowie in besonderen Aeusserungen derselben, Gang,
Sprache, Zahnungsprocess, Einsetzen der Pubertät zeitlich oder
dauernd zurück. Neben diesen allgemeinen dystrophischen
Störungen entwickeln sich auch partielle Dystrophien, als
deren erste ja die H u t c h i n s o n’sche Trias bekannt wurde.
Es ist insbesondere das grosse Verdienst französischer Autoren,
diese Frage des degenerativen Einflusses der Syphilis zunächst
auf die nächste Nachkommenschaft, die zweite Generation, zum
Gegenstände eingehender Studien gemacht zu haben, als deren
Zusammenfassung das neueste Buch von Edmund Four¬
nier, »Stigmates dystrophiques de THdr^dosyphilis«, Paris
1898, anzusehen ist.
406
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 18
Dass die Syphilis bei ihrer Vererbung diesen degeneriren-
den Einfluss übt, ist ja zweifellos sicher. Ja es bedarf
hiezu nicht der Vererbung. Es sind ja heute schon
nicht wenige Fälle bekannt, wo eine in frühester Jugend, dem
Säuglingsalter, acquirirte Syphilis auf die Entwicklung des er¬
krankten Kindes denselben »dystrophischen, degenerativen«
Einfluss hatte, so dass das Vorhandensein solcher »Stigmen«
für hereditäre Syphilis allein nicht mehr charakteristisch ist
Ich hatte seinerzeit in einer Abhandlung »Die Syphilis als
Infectionskrankheit« und in meiner Bearbeitung des A. F o u r-
n i e r'schen Werkes »Die Vererbung der Syphilis« auf
Analogieschlüsse, besonders auf die Verhältnisse fussend, dass
analoge »dystrophische« Erscheinungen bei den Kindern von
Alkoholisten beobachtet werden, die Auffassung dieser Dys¬
trophien als F olge einer durch die Syphilistoxine bedingten
»Depravation« des Sperma und Ovulum vertreten, eine An¬
sicht, die durch neuere französische Untersuchungen, die
hervorragenden Arbeiten von Fere, Char rin und G 1 e y
gestützt, heute insbesondere von französischen Autoren ziem¬
lich einstimmig angenommen ist. Dass also dieSyphilis
einen dystrophischen Einfluss auf den in Ent¬
wicklung begriffenen, kindlichen Organismus
a us übt, dessen physiologische Entwicklung
stört und hemmt, ist zweifellos, mag es sich da
um eine acquirirte oder ererbte Syphilis
handeln.
Wenn nun aber bei den Eltern die virulente, also auch
vererbbare Phase der Erkrankung abgelaufen ist, dieselben
dann also echte Syphilis nicht mehr vererben können, dann
kann die im elterlichen Organismus zurückbleibende toxische
Action des Syphilisvirus, als Depravation von Sperma und
Ovulum noch fortwirken, es können also dann Kinder zur
Welt kommen, die nur an »Dystrophien« nicht mehr an
echter Syphilis leiden. Auch diese theoretisch plausible An¬
nahme scheint durch Erfahrung als zweifellos berechtigt.
Aber dieser Gruppe von Kindern gegenüber begegnen wir
doch in der Praxis, mit Rücksicht auf die syphilitische Natur
der Dystrophien, deren Zusammenhang mit Lues der Eltern
einer Reihe grosser Schwierigkeiten. Ohne die grossen Ver¬
dienste Derjenigen, die gerade dieses schwierige Capitel zum
Gegenstände ihres eingehenden Studiums gemacht haben, irgend¬
wie schmälern zu wollen, möchte ich noch meine Ansicht
dahin präcisiren, dass diese Gruppe, was deren Ab¬
grenzung betrifft, was die Frage betrifft, inwie¬
weit die einzelne Form der Dystrophie de facto
von Syphilis ab hängt, noch weiterer eingehen¬
der Studien bedarf. Die Schwierigkeiten sind deshalb
so gross, weil : 1. die Dystrophien als syphilitische,
durch Syphilistoxine bedingte, gar nichts
Charakteristisches dar bieten, sondern dieselben
sind, wie sie durch Tuberculose, Alkoholismus, Bleisiechthum
etc. der Eltern auch erzeugt werden können, wie dies die
letzten Bearbeiter dieses Gegenstandes, Barasch und
E. Fournie r, besonders betonen ;
2. aber ganz analoge Dystrophien, Miss¬
bildungen, Hemmungsbildungen, körperliche und geistige,
auch in Familien Vorkommen, wo die genannten
ätiologischen Momente, Syphilis, Tuberculose, Alko¬
holismus, Bleiintoxication etc. zweifellos fehlen;
3. diese Dystrophien, auch bei Kindern
syphilitischer Eltern, insbesondere aber bei
hereditär syphilitischen Kindern relativ selten
und inconstant sind. A priori müsste man erwarten,
dass die echt hereditärsyphilitischen Kinder, die aus »depra-
virtem« Sperma oder Ovulum gezeugt, von ihren Eltern das
Syphilisvirus mit dessen Toxinwirkungen ererbten, häufiger
und intensiver, ja fast ausnahmslos an »Dystrophien« leiden
sollten, dieselben müssten neben den virulenten Symptomen
die meisten allgemeinen und partiellen Dystrophien zeigen.'
Für die allgemeine Dystrophie trifft dieses ja wohl zu, ihr
verdanken ja die meisten syphilitischen Kinder ihren Tod. Aber
bei den überlebenden hereditärsyphilitischen Kindern sind
doch partielle Dystrophien eine Seltenheit. So betrifft auch die
grosse Casuistik im Buche von E. Fournier der grössten
Zahl nach Kinder, die keine echte Syphilis hatten. Eine Um¬
frage, die ich bei einigen unserer bedeutensten und meist-
beschäftigtesten Gynäkologen und Pädiatern hielt, ergab, dass
bei uns hereditärsyphilitische Kinder durchaus nicht selten
sind, aber ausser der »allgemeinen Lebensschwäche«, der all-*
gemeinen Dystrophie, kaum je, insbesondere keine partiellen
Dystrophien bei denselben gefunden werden. Die zweite
Gruppe von Kindern, die nur an »Dystrophien« leiden, müsste
gegenüber der Gruppe von Kindern die an Erbsyphilis und
Dystrophien leiden, kleiner sein, während die bisherige Casuistik
sie als grösser als die erste ansehen lässt. Auch findet man in
der Casuistik nicht so selten Fälle, wo nur ein einziges Kind
an Dystrophie, besonders partieller leidet, die älteren und
jüngeren Geschwister keine solche zeigen, eine nicht recht
verständliche Beobachtung, da die syphilotoxische »Deprava¬
tion« des Sperma oder Ovulum doch eine constante, oder all-
mälig gleichmässig abnehmende sein müsste. Und so muss ich
gestehen, dass unter den bisherigen Beobachtun¬
gen, insbesondere, was besondere partielle
Dystrophien, wie Hasenscharte, Klumpfuss, Spina bifida,
die Hemmungs- und Missbildungen der Finger und Zehen,
die congenitalen Herzaffeetionen betrifft, sich nicht wenige
Beobachtungenfinden, denengegenüber uns vor¬
läufig noch die Frage erlaubt sein muss, ob die¬
selbe Dystrophie sich nicht auch dann ent¬
wickelt hätte, wenn in der Ascendenz keine
Syphilis Vorgelegen wäre. Dasselbe gilt für die von
Galezowski, Antonelli beschriebenen Dystrophien des
Auges und des Augenhintergrundes, wie auch für die ver¬
schiedenen Dystrophien der Zähne. Es gilt dieser Einwand ja
insbesondere für die ganze Gruppe jener Hemmungs- und
Missbildungen, wie die Klumpfüsse, die Entwicklungsstörungen
der Extremitätenenden, Polydaktylie, Syndaktylie, Brachy-
daktylie, Ektodaktylie Ektromelie und Hemimelie, congenitale
Amputationen etc., die in einer allen gemeinsamen mechanischen
Ursache ihre Erklärung finden, in der zu geringen Menge von
Fruchtwasser, als deren Consequenz ja dann auch die amnio¬
tischen Stränge anzusehen sind. Es könnte dann also die
Syphilis ihren Einfluss nur so üben, dass sie für das Zustande¬
kommen dieser mechanischen Momente, der geringen Frucht¬
wassermenge verantwortlich gemacht würde. Wenn wir
also auch unbedingt der Ueber zeugung sind,
dass die hereditäre Syphilis auf die von ihr be¬
fallene Generation einen intensiven dystrophi¬
schen, degenerativen Einfluss zu üben vermöge
und übe, so glauben wir doch, dass die Grenzen
bis wohin dieser degenerative Einfluss reicht,
bisher noch nicht festgestellt sind und erst
durch weitere Untersuchungen, weiteres Ma¬
terial werden festgesetzt und abgesteckt
werden können.
Sind wir uns aber so schon über den Einfluss der auf
die erste Generation vererbten Syphilis, respective den
degenerativen Einfluss, den eine Syphilis der Eltern auf die
Kinder übt, nicht völlig einig, so wachsen diese Schwierig¬
keiten bedeutend, wenn die Frage auftaucht, wie denn solche,
in Folge elterlicher Syphilis degenerirte Kinder sich ihren
Nachkommen gegenüber verhalten.
Dass schwächliche, kränkliche Eltern
meist wieder schwächliche kränkliche Kinder
zeugen, ist bekannt, ebenso aber ist bekannt, dass bei
Schwächlichkeit des einen Erzeugers und bei voller Gesund¬
heit des anderen ganz wohl gesunde, kräftige Kinder gezeugt
werden können. Dieser reparatorische Einfluss des
gesunden Zeugers ist in unserer Frage umso beachtens-
wertker, als es doch nur ein besonderer Zufall sein müsste,
dass von einem Ehepaare beide Tlieile an hereditärer Syphilis
leiden oder gelitten haben. Andererseits ist zu beachten,
dass der dystrophirende Einfluss der ererbten
Syphilis schon in der ersten Generation häufig
ein begrenzter ist, uns Allen wohl Beispiele bekannt sind
von Kindern, die an hereditärer Syphilis litten, eine recht
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
407
schwere Kinderzeit durchmachten, dann aber doch noch zu
kräftigen, gesunden Individuen heranwuchsen. Es ist aber
dann nicht gut denkbar, dass diese noch zu einer gesunden
Entwicklung gelangten Individuen die Dystrophie, die all¬
gemeine Ernährungsstörung, an der sie nur in der Kindheit
litten, ihren Nachkommen vererben könnten. Es muss aber
die Möglichkeit zugegeben werden, dass dieses dann geschieht,
wenn die Eltern oder einer der Erzeuger sich von den Ein¬
flüssen der hereditärsyphilitischen Degeneration nicht zu be¬
freien vermochte, sein Lebtag an denselben leidet.
Neben der Frage der Vererbung allgemeiner Dystrophie
auf die Nachkommenschaft, die ja, ohne mathematisch genau
erwiesen zu sein, wie ich erwähnte, schon von den älteren
Autoren, Rosen, Fahre, Parent-Duchatel angenommen
wurde, und die ja in dem oben angedeuteten Sinne, dass kränk¬
liche Eltern leicht wieder kränkliche Kinder zeugen, ohne
Weiteres zuzugeben ist, ist in neuester Zeit, insbesondere durch
die Arbeiten von E. Fournier, Barthelemy, Jullien
eine weitere Frage aDgeregt worden, ob denn nicht solche
Eltern, die in Folge hereditäi’-toxischer Einflüsse locale
Dystrophien, Stigmen darbieten, auch wieder ihrerseits Kinder
zeugen, die analoge, bald mehr, bald weniger intensive Dege¬
nerationszeichen, Stigmen aufweisen. Die bisherige Casuistik
in dieser Frage ist naturgemäss noch klein, die Schwierigkeiten,
die sich dem Forscher bieten, einwandsfreie solche Fälle zu
sammeln, sind ja begreiflicher Weise gross.
Um einwandfrei zu sein, muss ja der Fall,
gleich den Fällen der ersten Gruppe, drei Post u-
laten gerecht werden: 1. Die hereditäre Syphilis
bei den Eltern, in der zweiten Generation, muss
zweifellos sein. 2. Acquirirte Syphilis in der
zweiten Generation muss zweifellos sicher aus¬
geschlossensein. 3. Auch in der dritten Gene¬
ration muss acquirirte Syphilis ausgeschlossen
sein, da ja, wie wir besprachen, wenn die Acquisition in
frühester Kindheit erfolgte, eine solche sehr frühzeitig acqui¬
rirte Syphilis durch Erzeugung von Dystrophien leicht den
Eindruck hereditärer Beeinflussung hervorrufen kann. Nun ist
aber die Diagnose in dieser Gruppe von Fällen sehr schwierig,
weil auf noch nicht genügend definirte Symptome gestützt
und wenn wir in einem Falle bei den Grosseltern acquirirte
Syphilis, bei den Eltern, d. h. einem Erzeuger, gewisse partielle
Dystrophien, in der dritten Generation auch wieder partielle
Dystrophien finden, die Frage offen steht, wie viel
von diesem post hoc auch wirklich propter hoc
zu Stande kam.
Wir wollen nun zunächst die in dieser Frage vorhandene
Casuistik einer kurzen Prüfung unterziehen, besonders mit
Rücksicht auf die oben angegebenen Postulate.
1. Fall. (Gibert, Normandie medicale. 1890.)
Der Vater ist gesund, die Mutter hereditärsyphilitisch. Alle
vier Kinder der Ehe sind rachitisch, eines dabei auch idiotisch.
2. Fall. (Etienne, Heredite syphilitique ä la deuxieme
Generation. Annal. de Dermal, et de Syphiligr. 1894.)
Die Grossmutter war syphilitisch und starb an syphilitischer
Caries der Schädelknochen im Alter von 55 Jahren, deren Mann
56 Jahre alt an Hemiplegie.
Der Sohn dieser Eltern hatte im Alter von 34 Jahren eine
Aphasie, die auf Einreibungscur rasch heilte, seither psychische
Störungen, intensive Kopfschmerzen, starb durch einen Sturz, der
durch einen Schwindelanfall bedingt war. Dessen Frau gesund.
15 Graviditäten hatten den folgenden Ausgang: 1. Gesundes
Mädchen, das, sieben Jahre all, durch eine Verunglückung starb.
2. Abortus im dritten Monate. 3. Mädchen, gegenwärtig 18 Jahre
alt, hatte im Alter von elf Jahren eine Meningitis, die auf Ein¬
reibungen heilte, ebenso psychische Störungen. 4. Knabe. Mit drei
Jahren erst zu sprechen begonnen, hat dauernde Sprachstörung.
5. Mädchen, 16 Jahre alt. Mit sechs Monaten Abscess hinter dem
Ohr, mit elf Jahren intensive Kopfschmerzen, die auf Frictionen
ausheilten, mit 15 Jahren cerebrale Reizerscheinungen, die auf
Quecksilberinjeclionen heilten. 6. Knabe von 15 Jahren, leidet viel
an Kopfschmerz, der sich stets auf Jodkalium bessert. 7. Abortus.
8. Mädchen, starb, fünf Jahre alt, an foudroyanter Gangrän der
Wange. 9. Abortus mit drei Monaten. 10. Mädchen, elf Jahre all,
blind. 11. Mädchen, reif, aber mit universeller Hautexfoliation
»halb macerirt« geboren. Mit sechs Jahren Geschwüre ad nates.
Geschwür am harten Gaumen. Anomalien der Implantation der
Zähne und der Zahnbildung. 12. Abortus, sechs Monate. 13. Mäd¬
chen, sechs Jahre alt, viel Kopfschmerz. 14. Abortus mit drei
Monaten. 15. Mädchen, reif, abnorme Zahnbildung.
Epikrise: Der Fall wäre sehr auffällig, wenn die heredi¬
täre Syphilis des Vaters zweifellos wäre. Aber aus den Angaben
erhellt nicht, wann die Grossmutter (oh vor oder nach Geburt des
Sohnes) inficirt wurde, ob der Sohn eine hereditäre, in der Kind¬
heit oder später acquirirte Syphilis darbot, deren späte Aeusserung
sein aphasischer Anfall war.
3. Fall. (Gaston, Syphilis here'ditaire de deuxieme Gene¬
ration. Annal. de Dermat. et de Syphiligr. 1895.)
Die Grossmutter hatte im Alter von 53 Jahren ein serpigi-
nöses gummöses Syphilid. Alter der Syphilis konnte nicht eruirt
werden. Deren Mann soll viel an »Ausschlägen« gelitten und oft
Jodkali genommen haben. Das Ehepaar hat nur ein Kind, eine
Tochter, die in der Kindheit viel an Augen- und Ohrenkrankheiten
litt, neun Jahre alt Plaques muqueuses am Mund, 16 Jahre alt
eine Perforation des harten Gaumens hatte, die auf antiluetische
Cur heilte. Dieselbe zeigt Depression der Nase, Hutchinson-
sche Zähne. Sie heiratete einen angeblich gesunden Mann und hatte
mit demselben ein Kind, das reif und gut entwickelt ist, aber am
linken Arme unter dem Ellbogen eine congenitale Amputation, vor¬
springende Stirnhöcker zeigt.
Epikrise: Auch in dem Falle ist die hereditäre Lues der
zweiten Generation, der Mutter, fraglich, aber wegen des Auftretens
von Papeln im neunten Lebensjahre sehr zweifelhaft.
4. Fall. (Jacquet, Annal. de Dermat. et de Syphiligr.
1895.)
Die Mutter hat Zeichen hereditärer Lues, Arthropathien, ge¬
kerbte Zähne, Narben an Mund und Nase, Exostosen an der Rhaphe
des Gaumens. Zwei Kinder derselben zeigen gekrümmte säbel¬
förmige Tibien, Schädeldifformitäten, gekerbte Zähne, Exostosen in
der Rhaphe des Gaumens.
Epikrise: Nachdem über den Vater nichts bekannt ist,
erscheint es nicht ausgeschlossen, dass die Syphilis der Kinder
von diesem als Vererbung auf die erste Generation herstammt.
5. Fall. (v. Düring, Weitere Beiträge zur Lehre von der
hereditären Syphilis. Deutsche medicinische Wochenschrift. 1897.)
Grossvater, 60 Jahre alt, hatte in seiner Jugend Syphilis.
Sein Sohn und dessen Frau sollen Syphilis haben. Deren Kind,
ein acht Jahre alter Knabe, hat Leukoplakien der Mundschleimhaut,
H u t c h i n s o n’sche Zähne, Schädeldeformation.
6. Fall. (v. Düring, ibidem.)
Grossvater, 53 Jahre alt, in Jugend inficirt, zeigt Narben mit
Zerstörung des weichen Gaumens. Dessen Sohn hat, 30 Jahre alt,
Narben auf der Schleimhaut des Rachens, Leukoplakie. Dessen
Sohn, acht Jahre alt, hat vorgewölbte Stirnhöcker, mangelhaft ent¬
wickelte Zähne.
Epikrise: Die ungenügende Anamnese in beiden Fällen
lässt acquirirte Syphilis in der zweiten Generation nicht mit Sicher¬
heit ausschliessen.
7. Fall. (Tarnowsky, Prostitution und Abolitionismus.
1890.)
Der Grossvater hatte in früher Jugend eine leichte Syphilis,
der Sohn eine hereditäre Syphilis und noch mit 23 Jahren ein
serpiginöses tuberculoses Syphilid. Dessen Frau ist ganz gesund.
Von elf Schwangerschaften derselben endeten acht mit Geburt
todter Kinder; von den drei lebend geborenen starb eines an
Tuberculose, eines ist hystero-epilep tisch, eines hat eine Struma.
Epikrise: Die Bedeutung des Falles hängt davon ab, ob
in der zweiten Generation acquirirte Lues auszuschliessen ist, was
nach Verfasser sicher zu sein scheint.
8. Fall. (Tarnowsky, ibidem.)
Ein verheirateter Mann inficirt sich mit Syphilis, inficirt seine
Frau und stirbt. Die Frau verheiratet sich wieder, bringt nach
einigen Fehlgeburten ein hereditärsyphilitisches Mädchen zur Welt,
das besonders verschiedene Knochenprocesse zeigt. Dieses Mädchen
verheiratet sich, 19 Jahre alt, mit einem gesunden, kräftigen Manne.
408
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 18
Das erste Kind dieser Ehe ist taubstumm, das zweite leidet an
Moral insanity.
9. Fall. (Gilles de la Tourette, La syphilis hereditaire
de la moelle. Nouv. Iconogr. de la Salpetriere. 1896.)
Der Vater ist hereditär-syphilitisch, die Mutter gesund. Sechs
Kinder: 1. Tochter, stirbt an Meningitis im Alter von l'/2 Jahren.
2. Knabe, stirbt ein Jahr alt. 8. Abortus mit fünf Monaten.
4. Knabe, stirbt an Peritonitis, 12 Jahre alt. 5. Abortus im sechsten
Monate. 6. Tochter lebt, sehr nervös.
10. Fall. (Barthel e m y, Essai sur les stigmates de para-
heredosyphilis de seconde generation. Annal. de Dermat. et de
Syphil. 1897.)
Der Grossvater war sicher syphilitisch und starb an einer
Ostitis der Nasen- und Schädelknochen mit consecutiver Meningo¬
encephalitis. Dessen Tochter ist hereditärsyphilitisch, zeigt retardirte
Dentition, Infantilismus, verspätete Menses, interstitielle Keratitis,
Osteoarthropathien, Hypertrophie der Leber, Albuminurie. Mit
19 Jahren an einen gesunden Mann verheiratet, hatte sie zuerst
drei Abortus mit drei, fünf und sieben Monaten, dann ein Kind,
das jetzt fünf Jahre alt ist, spät gehen und sprechen lernte,
anämisch ist, grossen, verbildeten Schädel, verkümmerte Zähne,
grosse Leber hat.
11. Fall. (Barthelemy, ibidem.)
Grossvater sechs Jahre vor der Ehe inficirt, hat noch Narben
nach Gummen. Ein Kind starb, 13 Monate alt, an Meningitis. Das
zweite Kind, eine Frühgeburt, Mädchen, blieb im Wachsthum
zurück, erste Zahnung verlief schlecht, wird skoliotisch, hat mit
17 Jahren einen chronischen Rheumatismus, hat psychische
Störungen, Melancholie, Angstgefühle. Verheiratet hat sie ein Kind,
das bis zum Alter von zehn Jahren an Drüsenschwellungen leidet,
mager, disproportionirt ist, an Cyanose und Hyperidrose der Ex¬
tremitäten leidet.
12. Fall. (Barthelemy, ibidem.)
Die Mutter zeigt typische hereditäre Syphilis. Die Tochter
von 16 Jahren ist gross, mager, lymphatisch, die Zähne unregel¬
mässig gestellt, chronischer Ohrenfluss. Chronischer Nasen-Rachen-
katarrh und Bronchitis.
13. Fall. (Barthelemy, ibidem.)
Die Mutter ist sicher hereditärsyphilitisch, im Wachsthum
zurückgeblieben, hat deformirte unregelmässig gestellte Zähne,
Narben nach syphilitischen Ulcerationen, polyarticulären Pseudo¬
rheumatismus. Die Tochter, vier Jahre alt, ist Idiotin.
14. Fall. (Barthelemy, ibidem.)
Der Grossvater war sicher syphilitisch. Der Vater hatte keine
Symptome von Syphilis, starb aber an progressiver Paralyse. Dessen
Sohn ist epileptisch.
Epikrise: Die fünf Fälle von Barthelemy, so interes¬
sant und beachtenswerth sie sind, erscheinen doch nicht unbedingt
beweisend. Insbesondere ist die acquirirte Syphilis in der zweiten
Generation, mit Ausnahme des Falles 10, in den anderen Fällen
nicht ausgeschlossen.
15. Fall. (Caubet, Arch. d'Obstetr. et de Gynecol. 1894.)
Die Grossmulter wurde mit Syphilis inficirt, hatte ein todtes
Kind, drei Frühgeburten, die rasch starben, zwei überlebende
Kinder. Von diesen eines, ein Mädchen, hatte von Jugend auf Er¬
scheinungen tertiärer Syphilis, mit 15 Jahren ulcerirtes Gumma
auf dem Malleolus. Mit 19 Jahren Ehe mit einem gesunden Manne.
Drei Schwangerschaften, die mit Geburt todter, macerirter Kinder
enden. Dann Gumma der Nase, Jodbehandlung, bald darauf Geburt
eines monströsen Kindes, das eine Hasenscharte, einen Pes varo-
equinus, verschiedene Finger- und Zehenmissbildungen darbietet und
nach drei Tagen stirbt.
Epikrise: Die Echtheit des Falles hängt davon ab, ob die
acquirirte Syphilis des Vaters, zweite Generation, mit Sicherheit
ausgeschlossen wurde.
16. Fall. (A. Fournier, citirt in: E. Fournier, Stigmates
dystrophiques de l’heredite syphil. Paris 1898.)
Die Grosseltern mütterlicherseits sollen sicher syphilitisch ge¬
wesen sein. Von zehn Graviditäten drei Abortus oder Geburt
lebensschwacher Kinder. Die Tochter klein, schlecht entwickelt, mit
asymmetrischem Gesichte, abnormer Zahnbildung, Keratitisnarben,
hat mit 43 Jahren eine spastische spinale Paraplegie. Ihr Mann,
untersucht und befragt, leugnet Infection. Deren Kind, Mädchen,
14 Jahren alt, infantil, zeigt vorgewölbte Stirnhöcker, asymmetrischen
Schädel, Strabismus, Dystrophie der Zähne, Narben um den Mund.
17. Fall. (A. Fournier, ibidem.)
Die Mutter ist hereditärsyphilitisch, der Vater gesund. Drei
Schwangerschaften enden mit Abortus ohne bekannte Ursache.
18. Fall. (A. Fournier, ibidem.)
Die Mutter, zweifellos hereditärsyphilitisch, zeigt noch zahl¬
reiche syphilitische Veränderungen. Deren Mann untersucht und
gesund befunden. Von vier Graviditäten zwei Abortus, ein Kind,
das, einen Monat alt, starb, ein lebendes gesundes Kind. Die Mutter
hatte fünf Geschwister. Von diesen starb ein Bruder jung. Ein
zweiter Bruder hinkt und hatte ein Kind, das, einen Monat alt, an
Lebensschwäche starb. Eine Schwester, die gesund ist, hatte drei
Kinder, von denen zwei früh starben.
19. Fall. (A. Fournier, ibidem.)
Der Grossvater war syphilitisch, zwei ältere Kinder starben
im Alter von vier bis sechs Wochen. Das jüngste Kind ist hereditär¬
syphilitisch, hat vorgewölbte Stirne, platte Nase, Narben am
Schenkel, Exostosen der Tibia, frische gummöse Peritonitis. Mit
einem gesunden Manne verheiratet, hatte sie zwei reife Kinder,
deren eines, einen Monat alt, an Convulsionen, das andere, 3l/2 Mo-
nate alt, an Bronchitis starb. Beide Kinder waren welk und
lebensschwach.
20. Fall. (E. Fournier, ibidem.)
Zustand der Grosseltern ist unbekannt, ein Kind derselben
starb, 18 Monate alt, an Meningitis, das zweite, ein Mädchen, war
bis zum Alter von neun Jahren stets krank, elend, hatte, fünf
Jahre alt, eine Koryza mit Einsinken der Nase, mit 18 Jahren den
Beginn von tabischen Symptomen. Dieselbe war dreimal verheiratet.
Nur aus der zweiten Ehe sind zwei Kinder, deren älteres gesund
war, sechs Jahre alt an Meningitis starb, das jüngere, drei Jahre
alte, ist welk, hat grossen Kopf mit vorspringenden Stirnhöckern,
gekerbte Zähne und allgemeine angeborene Cyanose der Haut in
Folge angeborener Enge der Pulmonalarterien. Die Fingerphalangen
sind kolbig aufgetrieben.
21. Fall. (L an n e lo n g u e, ibidem.)
Der Grossvater mutterseits hatte mit 21 Jahren Syphilis
acquirirt und wiederholt Erscheinungen. Dessen Tochter gesund,
frei von Stigmen, ebenso deren Mann gesund, soll nie inficirt ge¬
wesen sein. Von drei Graviditäten zwei Abortus, ein elendes Kind,
das ausgesprochene Mikrocephalie und Idiotie, zahlreiche Difformitäten
der Zähne, Kerbungen, unregelmässige Stellung, sowie ungleiche
Entwicklung beider Körperhälften zeigt.
22. Fall. (I c tarn an off, persönliche Mittheilung.)
Der Grossvater acquirirte Syphilis im Jahre 1854, hatte drei
Söhne, die alle mit hereditärer Syphilis behaftet waren. Zwei
blieben unverheiratet, der dritte heiratete 1887. Die erste Geburt
war ein Abortus, die zweite normal, das Kind, jetzt sieben Jahre
alt, leidet an Epilepsie.
23. Fall. (Ictamanoff, persönliche Mittheilung.)
Der Grossvater wurde im Jahre 1866 inficirt. Ein Sohn, mit
hereditärer Syphilis behaftet, heiratet 1890. Ein Kind, jetzt sieben
Jahre alt, leidet an hochgradiger Rachitis.
Epikrise: In beiden Fällen fehlen leider alle Daten, die
uns die acquirirte Syphilis in der zweiten Generation, sei es Vater
oder Mutier, ausschliessen lassen.
Ausser den eben mitgetheilten Fällen finden wir noch
acht Fälle von Vererbung von rudimentären Stigmen angeblich
hereditärer Syphilis in einer Arbeit von Antonelli (Les
stigmates ophthalmoscopiques rudimentaires de la Syphilis
hereditaire. Paris 1897). Ganz abgesehen davon, ob die von
Antonelli beobachteten und studirten rudimentären oph¬
thalmoskopisch constatirbaren Veränderungen am Augenhinter¬
grund wirklich mit Syphilis Zusammenhängen, sind diese Fälle
für den Nachweis der Vererbung solcher Degenerationszeichen
auf die zweite Degeneration deshalb nicht beweisend, weil die
Daten über die vorangegangene Syphilis der Grosseltern,
hereditäre Syphilis der Eltern tlieils sehr mangelhaft sind,
theils fehlen. Insbesondere fehlt aber in allen Fällen der Nach¬
weis, dass in der zweiten Generation bei den Eltern, dem
Vater, keine acquirirte Syphilis vorlag; über den Vater sind
überhaupt keine Daten vorhanden.
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Ueberblicken wir die eben mitgetheilte Casuistik, so
müssen wir sagen, so interessant lind auffallend die darin ent¬
haltenen Thatsachen auch sind, so ist dieselbe doch wissen¬
schaftlich exact nicht beweisend. Ganz abgesehen davon, dass
in manchen Fällen, wie wir auseinandergesetzt, der Zusammen¬
hang der dystrophischen, degenerativen Erscheinungen mit
Syphilis doch noch nicht erwiesen ist, werden wir, auch wenn
wir a priori diese Dystrophien als syphilitische zugeben und
ansehen wollen, doch sagen müssen, dass der exacte Beweis,
es handle sich um eine Vererbung solcher Dystrophien auf
die zweite Generation, nicht erbracht ist. Prüfen wir die
Fälle auf die eingangs aufgestellten Postulate,
so müssenwir vor Allem betonen, dass dieselben
in dieser Beziehung meist lückenhaft sind, dass
der sichere Ausschluss der acquirirten Syphilis
in der zweiten Generation — Infection des gesunden,
Reinfection des hereditärsyphilitischen Zeugers — in keinem
Falle zweifellos ist. Scheiden wir jene Fälle, in denen
die Daten über die zweite Generation lückenhaft sind, aus, so
bleiben die Fälle von Tarnowsky (7, 8), Gilles dela
Tourette (9), Barthelemy (10, 11), Caubet (15),
A. Fournier (16, 17, 18), E. Fournier (19), Lanne-
longue (21) übrig. In zwei dieser Fälle (7, 9) war der Vater
hereditärsyphilitisch, die Mutter gesund, in den übrigen Fällen
die Mutter hereditärsyphilitiscb, der Vater gesund. Lassen wir
die Frage der Reinfection des hereditärsyphilitischen Theiles,
als doch relativ selten, ganz bei Seite, so gilt jenen Fällen
gegenüber, in denen die Mutter hereditärsyphilitisch, der Vater
angeblich gesund war, doch der Einwand, ob die Gesundheit
des Vaters zweifellos sicher erwiesen ist, ob nicht alle jene
Erscheinungen, die sich in der dritten Generation einstellten,
nicht mit der hereditären Syphilis der Mutter, sondern mit
einer acquirirten, geleugneten, zur Zeit der Untersuchung
latenten, nicht kenntlichen Syphilis des Vaters zusammen¬
hingen. Wir befinden uns hier wieder in demselben Dilemma,
wie in der vorhergehenden Gruppe, und es besteht für
den einzelnen Beobachter die unüberbrückbare
Schwierigkeit, seine auf Grund genauer Kennt¬
nis» des Falles feststehende subjective Ueber-
zeugung in eine objectiv unangreifbare Form
zu bringen.
Objectiv exact werden hier auch wieder nur solche
Beobachtungen sein, in denen die hereditärsyphilitische Mutter
ein oder einige mit auffallenden Dystrophien behaftete Kinder
zur Welt bringt und der Vater bald nach der Geburt dieser
Kinder seine bisherige Syphilisfreiheit durch eine syphilitische
Infection documentirt.
Bezüglich der Aeusserungen dieser Dystrophie bei der
dritten Generation können wir, da deren Grenzen noch nicht
umschrieben sind, uns nicht in Details einlassen. Eines möchten
wir betonen: Dass einmal die Intensität und Fre¬
quenz derselben doch bei der dritten Generation
abzunehmen scheint, wie dies ja auch Antonelli für
seine ophthalmoskopischen Stigmen behauptet, dass also, wenn
wirklich der Einfluss der Syphilis auf mehrere Generationen
erwiesen wäre, dies doch nur in einem von Generation
zu Generation abnehmenden Grade der Fall sein
dürfte, also eine dauernde Degeneration der Race doch nicht
zu befürchten ist, das Correctiv des gesunden anderen Er¬
zeugers neben dem hereditärsyphilitisch Belasteten also von
Generation zu Generation mächtiger wird. Gefährlicher
für die Race als durch Degeneration, scheint
hingegen die Erbsyphilis durch Entvölkerung
zu sein, denn das einzige, wohl zweifellos zuzugebende
Symptom der Erbsyphilis auch in der zweiten Generation
scheint die Polyletalität, die Zeugung lebensun-
fähigerKinder zu sein. Inden am meisten einwandfreien
Fällen ist dieses Symptom hervorstehend; es ist auffällig, in
einer Statistik A. Fournier’s, die von 33 Kindern in Ehen,
in denen ein Theil (meist der Vater) hereditärluetisch wax’,
10 Abortus, 3 Frühgeburten, 4 lebensschwache, 16 überlebende
Kinder ergibt, so dass wir den Gesammteindruck des bis¬
herigen Materiales dahin formuliren möchten , dass die
Syphilis in ihrer Einwirkung auf die Nach¬
kommenschaft weniger die Degeneration, als
die Verminderung, die Decimirung der Race
bedeute. (Schluss folgt.)
REFERATE.
Pathologie und Therapie der Erkrankungen des peri¬
pherischen Nervensystems.
Von Privatdocent Dr. Franz Wiiulsclieid.
Medicinische Bibliothek für praktische Aerzte. Nr. 157 — 161.
244 Seiten und 44 Abbildungen im Text.
Leipzig 1899, C. G. Naumann.
Referent hat mit Vergnügen das Büchlein durchblättert,
welches in erster Linie für den praktischen Arzt bestimmt ist. In
klarer, conciser Weise ist der heutige Stand der Pathologie des
peripheren Nervensystems dargestellt.
Der Therapie sind zumeist etwas grössere Ahschnitte gewidmet,
in welchen Verfasser sich ebensosehr vom therapeutischen Nihilis¬
mus, als auch vom therapeutischen Zuviel fernhält. Speciell sei
hervorgehoben, dass Windscheid der elektrischen Behandlung
von peripheren Nervenei'krankungen sympathisch gegenübersteht,
ohne auf die Erörterung der Art der Heilwirkung einzugehen. Ent¬
sprechend der gebräuchlichen Eintheilung zerfällt das Buch in zwei
Hauptabschnitte: Erkrankungen der peripherischen sensiblen und
peripherischen motorischen Nerven (Krämpfe, Lähmungen). Die
Lähmung des N. cutaneus femoris lateralis wäre wohl besser im
ersten Abschnitte untergebracht.
Eine grössere Zahl recht instructiver, zumeist schematischer
Abbildungen erläutern gut den Text.
Das Werk wird von den Praktikern zweifellos viel benützt
werden. Hermann Schlesinger.
Der anatomische Bau des Unterkiefers als Grundlage
der Extractionsmechanik.
Von Dr. Rudolf Loos.
Wien 1899, Alfred Holder.
Von den 67 Octavseiten des vorliegenden Büchleins entfallen
28 auf den anatomischen Theil, der Rest auf die Extractions¬
mechanik. Zahlreiche gelungene schematische Darstellungen sind dem
Texte eingestreut und 5 Tafeln hintangefügt.
Trotz so bescheidenen Umfanges erfährt sowohl die Anatomie,
als auch der physikalische Theil eine sorgfältige, seriöse und er¬
schöpfende Behandlung in so klarer, präciser und anregender Dar¬
stellung, dass sich hiedurch die Arbeit in die Reihe der
gelungensten Monographien auf dem Gebiete der Zahnheilkunde
erhebt.
Die Ausstattung ist tadellos. I s o o.
Grundriss der organischen Chemie.
Von Karl Oppenheimer.
Berlin 1899, Boas & Heffe.
2. Auflage.
Der Verfasser möchte mit diesem Grundrisse dem Lernenden
»die harte und lange Arbeit, die meist nöthig ist, um sich in diesem
Labyrinthe (der organischen Chemie) zurechtzufinden« ersparen. Ob
dies überhaupt, auch durch das beste sogenannte Paukbüchlein
erreichbar ist, muss wohl dahingestellt bleiben.
Das vorliegende Büchlein ist mit Fleiss und mit Geschick
gearbeitet, so dass es zur Recapitulation von Namen und Formeln
gut verwendbar ist. In diesem Sinne wird hier auf dasselbe
aufmerksam gemacht, da Manchem eine rasche, wenn auch nur
oberflächliche Orientirung über die wichtigsten chemischen Sub¬
stanzen erwünscht sein dürfte. R. v. Zeynek.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 18
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
120. Bemerkungen über Erinnerungsfälschun¬
gen und pathologische Traum zustande. Von Doctor
Albert B e h r, praktischer Arzt in Riga. Die Treue der Erinne¬
rung kann hei Geisteskranken mannigfaltige und erhebliche Störungen
darhieten. Es handelt sich hei diesen Störungen, welche man
nach Kräpelin als Erinnerungsfälschungen bezeichnet, entweder
um theilweise Vermischung wirklicher Erlebnisse mit eigenen Zu-
thaten, oder um völlig freie Erfindung scheinbarer Reminiscenzen.
In manchen Fällen werden die Erinnerungsfälschungen nicht frei
erzeugt, sondern schliessen sich an irgendwelche zufällige äussere
Eindrücke an (associirende Form), in anderen Fällen wird der gegen¬
wärtige Eindruck mit einem Erinnerungsbilde identificirt (identifi-
cirende Form). Alle Formen von Erinnerungsfälschungen weisen
gemeinsame Züge auf und zeigen sich als Ermüdungssymptome bei
Gesunden und Kranken. Ihre Vorausbedingung ist eine entweder
erworbene oder ex origine bestehende Benommenheit, in ihrer
leichten Form ein Träumen oder Dämmern, bei schweren psychi¬
schen Erkrankungen ein pathologischer Traumzustand. Sie erwecken
im Leben der Gesunden phantastische, abergläubische Combinationen,
im Leben Kranker (zumal Paranoischer) beeinflussen sie das Denken
und Trachten in der Richtung des vorhandenen Wahnes. Gewissen
Paranoiaformen und einzelnen destructiven psychischen Erkrankun¬
gen drücken die Erinnerungsfälschungen den Charakter auf. Häufig
begleiten Erinnerungsfälschungen das Erwachen und tragen alsdann
einen hallucinatorischen Charakter. Behr ist der Ansicht, dass
durch ein genaues Studium der pathologischen Schlaf- und Traum-
zustände das Wesen der Erinnerungsfälschungen erforscht werden
wird. Die experimentelle Psychologie sei dazu berufen, diese Be¬
wusstseinszustände unserem Verständnisse näher zu bringen. —
(Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. LVII, Heft 6.) S.
*
121. (Aus dem hygienischen Institute in Würzburg.) lieber
locale Disposition, Erkältung und Abhärtung. Von
Dr. Kisskalt. Der gewöhnliche Vorgang bei der Erkältung, und
zwar nicht nur bei der am stärksten ausgesprochenen Form der¬
selben, wie sie z. B. durch vollständige Durchnässung der Kleider
hervorgerufen wird, ist der, dass die Hautgefässe contrahirt werden,
wodurch es zu einer auch arteriellen Hyperämie der inneren Or¬
gane einschliesslich der Athemwege kommt, wodurch diese zur An¬
siedlung, beziehungsweise Vermehrung der Bacterien disponirt
werden. Bei dieser inneren Hyperämie wird die Circulation des
Blutes in den Capillaren eine raschere und das Blut kommt arte¬
rieller als normal in den Venen an. Wie aber das venöse Blut
infectiöse Processe günstig zu beeinflussen im Stande ist, ebenso
vermehrt die arterielle Hyperämie die Disposition der Gewebe für
die Ansiedlung pathogener Keime. Die Hautgefässe conlrahiren sich
aber nicht an allen Körperstellen mit gleicher Promptheit; Stellen,
die oft der kalten Luft ausgesetzt sind, wie die Hände, reagiren
nicht so stark darauf, wie z. B. die Haut des Rückens. Ebenso
bestehen auch zwischen den einzelnen Personen Unterschiede.
Solche, die sich z. B. durch tägliche kalte Waschungen am ganzen
Körper gegen die Einflüsse der Kälte abgehärtet haben, d. h. die
ihre Hautgefässe gewöhnt haben, nicht mehr so stark auf Kälte¬
reize zu reagiren, erkälten sich erfahrungsgemäss viel seltener, als
verweichlichte Menschen. Die Abhärtung gegen Einwirkungen der
Kälte hat also zur Folge, dass die Gefässe der Haut nicht mehr
so prompt auf jeden Kältereiz durch Contraction antworten, eine
innere arterielle Hyperämie nicht so leicht zu Stande kommt, und
daher auch keine Disposition zur Erkrankung geschaffen wird. —
(Münchener medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 4.) Pi.
*
1 22. Fragen aus dem Gebiete der Erblichkeit.
Von Dr. Kirchhof f, Neustadt in Holstein. Kirchhoff publicirt
unter obigem Titel einen am 3. August 1899 in der Versammlung
norddeutscher Irrenärzte in Schleswig gehaltenen Vortrag. Er nimmt
in demselben zu den verschiedenen Fragen der Erblichkeit und
deren Bedeutung für pathologische Untersuchungen Stellung. Die
Betrachtungen Kirchhoff’s machen wahrscheinlich, dass eine
Ueberschätzung des Einflusses und der Gefahren der Erblichkeit
stattfindet. Ein Vererbungsvorgang wird jedoch von Kirchhoff
besonders hervorgehoben, nämlich die Gefahr der Zeuo-un» im
Rausche mit ihren vergiftenden Wirkungen auf das Keimplasma.
Mit dem Zurücktreten der Erblichkeit als Ursache geistiger Störungen
treten natürlich andere Ursachen der letzteren mehr in den Vorder¬
grund. Unter diesen verdienen spätere Entwicklungsstörungen, be¬
sonders die grosse Gruppe der infantilen Cerebralstörungen Beach¬
tung, welche — scheinbar ausgebeilt — die Anlage zu späterer
Verletzlichkeit verbergen. — (Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie.
Bd. LVI, Heft 6.) ‘ S.
*
123. Zur Behandlung der chronischen Obsti¬
pation im Kindesalter. Von Dr. D o e r f 1 e r (Regensburg).
Verfasser legt dar, dass die in Form von Kuhmilch-Wassermengen
beliebiger Provenienz eingeführte Nahrung zu wasserreich und
voluminös, zu fettarm ist, und dass das Casein, von welchem
Heubner bewiesen hat, dass das Kuhmilchcasein geradeso leicht
verdaulich ist, wie das 'Frauenmilchcasein, im Kinderdarm in Folge
der übermässigen Verdünnung des Magen- und Darmsaftes und
wohl auch der Galle durch die wässerige Milch, schlecht verdaut
wird. Die daraus hervorgehende chronische Obstipation ist kein
eigentlicher Krankheitszustand, sondern ein Hemmungsvorgang und
Autor glaubt, sie durch Zusatz frischer süsser Butter zur gewöhn¬
lichen Milchnahrung sicher verhüten und heilen zu können. Die
Butter muss stets frisch und bester Qualität sein, die Einzelgabe
muss streng individualisirt, und anfangs stets vom Arzte gegeben
werden. Hiefür hat sich folgendes Schema als besonders geeignet
erwiesen: Im ersten Lebensmonat kann, da die Verstopfung nicht
hartnäckig ist, Klysmabehandlung durchgeführt werden ; im zweiten
und dritten Monat ist täglich Früh und Abends ein halber bis ein
Kaffeelöffel voll zu geben, und zwar so lange, bis normaler Stuhl¬
gang erfolgt, dann nur jeden zweiten Tag diese Dosis; im dritten
und vierten Monate zwei bis drei Kaffeelöffel täglich; ist der Stuhl¬
gang geregelt, dann wird Butter nur im Bedarfsfälle in derselben
Menge alle zwei bis drei Tage gegeben. Vom fünften Monate an
bis zu einem Jahre alle zwei bis drei Tage ein bis drei Esslöffel
durch längere Zeit. Die Butter darf nur im Naturzustände, nie mit
Milch oder anderen Vehikeln verrührt gegeben werden; sie darf auch
nicht schon mehrere Tage alt sein. Der Stuhl tritt meist nach
vier bis fünt Stunden in breiiger Consistenz auf. Auch bei anämi¬
schen, rachitischen Kindern scheint die Butter das Befinden günstig
zu beeinflussen. Zu betonen ist noch Folgendes: Die Kinder dürfen
nur dann Butter bekommen, wenn sie nur an Verstopfung und
deren Folgen leiden. Es darf kein Magenkatarrh, kein Dünn- oder
Dickdarmkatarrh etc. bestehen, die Ernährung muss einigermassen
rationell durchgeführt worden sein, die Kinder müssen ihre bis¬
herige Nahrung vertragen haben. Nach Verfasser steht fest, dass
durch frische Kuhbutter die hartnäckigste Obstipation mit ihren
Folgen bei sonst nicht kranken Kindern spielend beseitigt und
dauernd geheilt werden kann, und dass die bisherigen Heilmethoden,
Klysma, Abführmittel, Massage ruhig verlassen werden können. —
(Münchener medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 4 ) Pi.
*
1 24. Temperaturbeobachtungen bei weiblichen
Geisteskranken mit besonderer Berücksichtigung
der physiologischen Wellenbewegung. Von Doctor
August He gar in Tllenau. Dass eine Wechselwirkung zwischen
dem psychischen Leben des Weibes und dem Menstruationsvor-
gange bestehe, ist längst bekannt. Diese Erscheinung ist nach Unter¬
suchungen verschiedener Autoren (Reinl, Goodmann u. A.)
auf die wie Ebbe und Fluth sich steigernde und vermindernde In¬
tensität der Lebensprocesse beim Weibe zurückzuführen. Das Leben
des Weibes verläuft gewissermassen in Stadien, die einer Men¬
struationsepoche entsprechen. In jedem Stadium erfahren die Lebens¬
processe eine Steigerung und Verminderung der Intensität. Diese
verlaufen mithin in Form einer Wellenlinie. Auf den Uebergang
der ersten Hälfte in die zweite dieser Linie fällt die menstruelle
Blutung. Diese Erscheinung fand Reinl in seinen an gesunden
und pathologischen Fällen angestellten Temperaturmessungen be¬
stätigt und Hegar fand die Temperaturwelle bei Geisteskranken
erhalten. Die praktische Verwerthung der Beobachtungen Hegar’s
liegt darin, dass unsere therapeutischen und Vorsichtsmassregeln
umso weiter nach dem Intermenstruum vorgreifen müssen, je stärker
sich die Störungen in der prämenstruellen und menstruellen Zeit
ausprägen. Durch rechtzeitige Anordnung der Bettruhe, Fernhalten
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
411
aller Aufregung, Vermeiden aller eingreifenden Aenderungen in der
Therapie und Lebenshaltung, vermehrte Sorge für das regelmässige
Functioniren der Verdauungsorgane Hessen sich manche Erregungs¬
zustände unschädlich machen und vermeiden. — (Zeitschrift für
Psychiatrie. Bd. LVI, Heft 6.) S.
*
125. Ein Fall von Lepra in England. Von Ross
Mac Mahon. Verfasser behandelt einen 35jährigen Leprakranken,
der aus einer Familie stammt, in der kein Leprafall vorgekommen,
der angeblich nie mit einem Leprösen zusammengetroffen und der
niemals England verlassen hat. Die Infectionsquelle muss demnach
im Bereiche des Landes liegen. Verfasser erklärt, selbst acht oder
neun Lepröse in London zu kennen. — (The Lancet. 1899, Vol. II,
Nr. 12.) Pi-
*
126. Zur B ehandlung acuter Erregungszustände.
Von Dr. Adolf Gross in Alt-Scherbitz. Gross sucht in der
vorliegenden Arbeit eingehend, und zwar vorwiegend an Beispielen
darzulegen, wie in der Provincial-Irrenanstalt Alt-Scherbitz die bei
der Behandlung acuter Erregungszustände in Betracht kommenden
therapeutischen Eingriffe: Bettbehandlung, Isolirung, Badehehandlung
und arzneiliche Verordnungen, und zwar in planmässiger Combi¬
nation gehandhabt werden. Da die Arbeit auch das Ziel verfolgt,
die Zweckmässigkeit der Alt-Scherbitzer Wachabtheilungen nach¬
zuweisen, wird deren Construction einleitend klargelegt. Vielleicht
wären die Behandlungsresultate des Verfassers weniger glänzende,
wenn er alle Arten von acuten Erregungszuständen Geisteskranker
seinen combinirten therapeutischen Massnahmen zu unterziehen
Gelegenheit hätte. — (Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. LVI,
Heft 6.) s-
*
127. Endresultate nach totaler, wegen Tum oren
ausgeführter Mammaexstirpation. Von Dr. Simpson
(London). Der Verfasser hat 100 in der Zeit von 1877 — 1898
durch Prof. Barker operirte Fälle von Mammatumoren in ihrem
weiteren Verlaufe verfolgt und dabei folgendes Ergebniss erhalten.
Mit Ausnahme von fünf Fällen, in denen der Tod mehr oder minder
unmittelbar als eine Folge der Operation aufzufassen ist und
solchen, bei denen die weitere Untersuchung den Tumor als einen
gutartigen erkennen Hess, blieben 90 Fälle für die weitere Beob¬
achtung übrig. Von vier Fällen von »Duct cancer« sind zwei jetzt
nach 7V2, beziehungsweise 10 '/4 Jahren noch ohne Recidive ge¬
blieben, eine Frau ist nach 33/4 Jahren recidivefrei an Pyelitis ge¬
storben: von der vierten Frau konnte nur in Erfahrung gebracht
werden, dass sie nach drei Jahren noch ohne Recidive war. Von
den weiteren 86 Operirten leben zur Zeit sicher noch 23, von
welchen nur zwei eine Recidive bis jetzt bekommen haben, während
die übrigen zur Zeit, und zwar je eine durch elf Jahre und sieben
Monate, zehn Jahre und vier Monate, 6V2 Jahre, drei über fünf
Jahre, die anderen durch eine geringe Zeit noch vollkommen gesund
erscheinen. Neun weitere Fälle waren drei bis elf Jahre gesund,
doch konnte über deren weiteres Schicksal nichts Sicheres erfahren
werden. Die übrigen 54 sind durchschnittlich nach 28 Monaten in
Folge Recidive gestorben. In sechs Fällen war ein zweites, bezie¬
hungsweise in einem Falle ein drittes Mal operirt worden. Die
durchschnittliche Lebensdauer betrug nach der zweiten Operation
noch 18 Monate. Barker schliesst sich der Ansicht Jener an,
welche den Krebs für eine Constitutionskrankheit halten; nichts¬
destoweniger soll der locale Herd entfernt werden, da zweifellos
das Lehen hiedurch verlängert werden könne. — (Lancet. 1899,
Vol. II, ' Nr. 2.)
*
128. Sequeira beschreibt einen zum Tode führenden Fall
von Diabetes bei einem drei Jahre und zwei Monate
alten Mädchen. Der Zuckergehalt vor der antidiabetischen
Diät hatte 11% bei einer Harnabsonderung von 2500 cw’’ inner¬
halb 24 Stunden betragen. Besonders erwähnenswerth ist, dass
während des Bestandes eines Icterus catarrhalis der Zuckergehalt
bis auf 0‘7% heruntergegangen war. — (Lancet. 1899, Vol. II,
Nr. 3.) ° Pi-
THERAPEUTISCHE NOTIZEN.
(Aus der I. Klinik für Syphilis von Hofrath Neumann in
Wien.) Das Quecksilberresorbin, hergestellt aus einer Com¬
bination von Quecksilber und Resorbin, das ist einer hauptsächlich
aus Mandelöl, Wachs und Wasser bestehenden Salbengrundlage, ent¬
hält ebenso wie das officinelle Unguentum cinereum 3o'/3°/o Queck¬
silber, wird in Glastuben ä 30 cj dispensirt und kommt etwas billiger
als die gewöhnliche graue Salbe zu stehen. Das Ergebniss der mit
dieser Salbe an der Klinik angestellten Versuche war folgendes : „Das
Quecksilberresorbin hat in keinem der behandelten Fälle versagt .
Gegenüber der grauen Salbe besitzt es folgendo Vortheile: Verkürzung
und Erleichterung der Einreibung, besseres Eindringen in die Epi¬
dermis, angenehmer Geruch und Herabsetzung der Behandlungsdauer.
Es ist daher geeignet, die graue Salbe in der Therapie der Syphilis
vollständig zu ersetzen. — (Sonderabdruck aus der Wiener mediciui-
scben Wochenschrift. 1900, Nr. 8.)
*
Zu den Eisenpräparaten, welche den bekannten Indicationen
entsprechen, gehört nach Dr. Gold mann auch das Ilaemato-
genum siccum Schneider, kurz „Sicco“ benannt, welches
aus Rinderblut hergestellt wird, 89'5o/0 Eiweiss, 0'33o/0 organisches
Eisen und 2'60/0 Mineralsalze enthält und in kaltem Wasser voll¬
kommen löslich ist. Es wird in Form von Chocoladepastillen, Pulver,
Lösung, Biscuits etc. angewendet. — (Deutsche medicinische Presse.
1900, Nr. 5.)
*
In der poliklinischen Abtheilung für Kinderkrankheiten des
Prof. Frühwald in Wien wurde das Tannopin, eine Tannin-
UrotropinverbinduDg als Adstringens bei einer grossen Zahl von Darm¬
katarrhen verschiedenen Ursprunges und, wie Tittel berichtet, mit
gutem Erfolge angewendet. Die Verabreichung geschah in Pulvern zu
0-1 — o-3— 0'5 pro dosi und bis 2'0 pro die bei grösseren Kindern.
Die Wirkung ist jener des Tannalbin etc. ähnlich, doch soll das
Mittel noch weniger ungünstig als die sonstigen Tanninpräparate auf
Magenverdauung einwirken. — (Therapeutische Monatshefte. 1900,
Nr. 2.)
*
Die Behandlung des Unterschenkelgeschwüres
mit „C rurin“. Von Dr. M. Joseph. Das Mittel ist eine Chinolin-
Wismuth Rhodanverbindung und wird rein oder zu gleichen Theilen mit
Amylum vermischt auf das Geschwür aufgetragen. Es soll in sein
guter Weise die Granulirung und Ueberhäutung der Wundfläche
befördern. — (Dermatologisches Centralblatt. 3. Jahrgang, Nr. 5.)
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Auszeichnung: Dem Marine-Oberstabsarzte Dr. Emil
Dery wurde der Ausdruck der Allerhöchsten Zufriedenheit bekannt
gegeben.
*
Ernannt: Zum Generalstabsarzt: Dr. Jul. Pildner v. Stein¬
burg. — Zu Oberstabsärzten I. CI. die Doctoren: Ignaz Ivopfiva,
Dominik Linardic, Karl Nusko, Adalb. Korbelaf, Joh. Müller,
Jos. Ulrich, Arthur v. Wagner, Ferd. Sounewend, Alfred Haw-
ranek, Jos. Urban, Eugen Leibnitz, Eduard Matschnig und
Alois Brutmann. — Zu Oberstabsärzten II. CI. die Doctoren: Ignaz
Hermann, Friedr. Dfevikovsky, Emanuel Emmer, Heinr. Hart¬
mann, Ludw. Zweythurm, Jul. Schulbaum, Friedr. Vorbuchner,
Joh. Pavlik, Franz Witek, Karl Mayer, Joh. Wenzl, Flor.
Eberle, Coloman Svehla, Joh. Popp, Friedr. Gooss, Salomon
Kirchenberger, lg. Link und Heinrich Kowalski. — Zu Stabs¬
ärzten die Doctoren: Ferd. Böhm, Jak. Ellbogen, Jak. Rabl, Karl
Baumann, Jak. Fried, lg. Weiss, Karl Marusin, Edmund Ge¬
duldiger, Alkmund Grossmann, Emil Blasius, Willi. Dietl,
Ludw. Pick, Joh. Wolter, Mich. Schwarzkopf, Jonas Reiss,
Sigm. Gero, Simon Ziehn, Coloman Gömöry, Heinr. Otto, Altr.
Schücking, Sigm. Dynes und Erich Kunze. — Im marineärztlichen
Officierscorps : Zum Marinestabsarzt: Dr. Lud. Fischer. — Im land¬
wehrärztlichen Officierscorps: Zu Oberstabsärzten I. CI. die Doctoren:
Anton Stenzl und Joh. Plahl. — Zu Stabsärzten die Doctoren.
Arthur Perlsee, Liborius Stefan und Anton Fischer.
*
Verliehen: Dem Assistenzarzt-Stellvertreter Dr. Karl P r e-
leitner in Wien das goldene Verdienstkreuz. Dem Badeaizte
Dr. Ignaz Kraus sen. in Karlsbad
königlich sächsischen Albrecht-Ordens.
das Ritterkreuz I. CI. des
Dem Stadtarzte Dr. Georg
412
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 18
Marie in Cetinje der kaiserlich ottomanische Osmanje-Orden
IV. CI.
*
Habilitirt: Dr. Mladejovski an der böhmischen rnedi-
cinischen Facultät in Prag für Balneologie und Klimatologie.
*
Gestorben: S. A. Douglas Maclagan, ehemaliger
Professor der Hygiene und gerichtlichen Medicin zu Edinburgh. —
Regimentsarzt Dr. Heinrich Fritsch in Wien.
*
In der am 23. April d. J. abgehaltenen Sitzung des nieder¬
österreichischen Landes-Sanitätsrathes machte der
Landes-Sanitäts-Referent Statthaltereirath Dr. Netolitzky dem
Sanitätsrathe die Mittheilung von der weiteren Abnahme der
Typhuserkrankungen i n W i e n. In der Woche vom 8. bis
14. April wurden im ganzen Gemeindegebiete Wiens nur 12, in der
nächstfolgenden Woche vom 15. bis 21. April insgesammt 15 Typhus¬
fälle neu gemeldet, welche Zahlen auch unter normalen Verhältnissen
beobachtet werden. Die Gefahr der weiteren Ausbreitung
des Abdominaltyphus kann demnach als beseitigt
bezeichnet werden. Ferner wurde in der Sitzung der Vorschlag
für die Besetzung mehrerer in den k. k. Krankenanstalten Wiens er¬
ledigter Primararztesstellen erstattet und über die in zwei Privatheil¬
anstalten Wiens beabsichtigten Aenderungen, beziehungsweise Erweite¬
rungen das Gutachten abgegeben.
*
Verein zur Errichtung und Förde rung von See¬
hospizen und Asylen. Am 21. April um 11 Uhr Vormittags
fand im Rathhause in Anwesenheit der hohen Protectorin, der Frau
Erzherzogin Maria Theresia die 15. Generalversammlung des
Vereines unter dem Vorsitze des Fürsten Johann zu Schwarzen¬
berg statt. Prof. M o n t i erstattet den Rechenschaftsbericht, weicht m
zu entnehmen ist, dass der Verein bereits 5274 kranke Kinder in
seinen beiden Anstalten, dem „Erzherzogin Maria Theresia-Seehospiz
zu S. Pelagio bei Rovigno“ und dem „Kaiser Franz Josef-Kinder¬
hospiz zu Sulzbach bei Ischl“ verpflegt und behandelt hat, von denen
3073 volle Genesung gefunden haben. Im Jahre 1899 wurden in beiden
Anstalten 599 Kinder verpflegt und ärztlich behandelt. Davon blieben
am Schlüsse des Jahres 200 noch in Behandlung. Von den übrigen
wurden in Abgang gebracht: als geheilt 286 = 71%, als gebessert
54=13%, ungeheilt 38 = 8% und gestorben an den Folgen der
Scrophulose 24 = 6%. Beiden Anstalten sind viele hochherzige Spenden
zugekommen, wofür der Berichterstatter dankt. Weiters berührt Hof¬
rath Albert, welche Anschauungen der Aerzte vor 15 Jahren zur
Gründung der genannten Hospize, als Ausdruck des Bestrebens, die
Scrophulose conservativ zu behandeln, geführt haben und gedenkt
des verstorbenen Präsidenten Grafen Falken hayn, sowie der werk-
thätigen Hilfe von Seite der Wiener Gemeindevertretung und der
Wiener Gesellschaft. Nach einer Erwiderung des Bürgermeisters
Dr. Lueger, der Erstattung des Cassaberichtes und Ergänzungswahl
einiger Functionäre wurde die Versammlung geschlossen.
*
Vom Jahrgange 1900 des von Dr. J. Schwalbe in Berlin
herausgegebenen „Jahrbuches der praktischen Medicin“,
verlegt bei Enke, Stuttgart, ist das zweite Heft erschienen. Dasselbe
bringt die Besprechung der Krankheiten der Athmungsorgane von
Hochhaus (Fortsetzung), der Verdauungsorgane von Rosenheim
(Berlin), der llarnorgane von Für bringe r und Stettiner (Berlin)
und der acuten allgemeinen Infectionskraukheiten und Zoonosen von
Dr. Freyhan (Berlin).
*
SanitätsverhältnissebeiderMannschaftdesk.u.k.Heeres
im Monat Januar 1900. Mit Ende December 1899 waren krank ver¬
blieben bei der Truppe 1623, in Heilanstalten 7317 Mann. Kranken¬
zugang im Monat Januar 1900 18.595 Mann, entsprechend pro Mille
der durchschnittlichen Kopfstärke 66. Im Monat Januar 1900 wurden
an Heilanstalten abgegeben 8782 Mann, entsprechend pro Mille der
durchschnittlichen Koplstärke 31. Im Monat Januar 1900 sind vom
Gesammtkrankenstande in Abgang gekommen 17.354 Mann, darunter als
diensttauglich (genesen) 15.808 Mann, entsprechend pro Mille des
Abganges 911, durch Tod 59 Mann, entsprechend pro Mille des Ab¬
ganges 3'40, beziehungsweise pro Mille der durchschnittlichen Kopf¬
stärke 0‘2 1. Am Monatsschlusse sind krank verblieben bei der Truppe
1954, in Heilanstalten 8227 Mann.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 15. Jahreswoche (vom 8. April
bis 14. April 1900). Lebend geboren : ehelich 619, unehelich 310, zusammen
929. Todt geboren: ehelich 49, unehelich 24, zusammen 73. Gesammtzahl
der Todesfälle 854 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
26 8 Todesfälle), darunter an Tuberculose 161, Blattern 0, Masern 16,
Scharlach 3, Diphtherie und Croup 7, Pertussis 5, Typhus abdominalis 4,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 0, Neu¬
bildungen 44. Angezeigte Iufectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
42 ( — 56), Masern 216 ( — 50j, Scharlach 35 ( — 11, Typbus abdominalis
12 ( — 15), Typhus exanthematicus 0 (=), Erysipel 19 ( — 18), Croup und
Diphtherie 37 ( — 6). Pertussis 35 (=), Dysenterie 0 (=), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 2 ( — 2), Trachom 2 ( — 2), Influenza 41 ( — 9).
Bei der Redaction eingelangte Bücher.
(Mit Vorbehalt weiterer Besprechung.)
Netter, La peste et son microbe. Carre & Naud, Paris. 121 S.
Peter, Organische und anorganische Chemie. Calvary, Berlin. Preis
M. 3.60.
Temesväry. Volksbräuche und Aberglauben in der Geburtshilfe und
der Pflege der Neugeborenen in Ungarn. Grieben, Leipzig. Preis
M. 2.80.
Forster, Ueber nervöse Leberkolik. Vogel, Leipzig. Preis M. 1. — .
Friedlaender, Die Krankheiten der männlichen Harnorgane. Marcus, Berlin.
Preis M. 6. — .
Bergmann, Bruns und Mikulicz. Handbuch der praktischen Chirurgie.
Enke, Stuttgart. Lieferung 7 — 10. Preis ä Lieferung M. 4. — .
Ebstein und Schwalbe, Handbuch der praktischen Medicin. Ibidem.
Lieferung 14 — 19. Preis ä Lieferung M. 4. — .
Jessner, Pathologie und Therapie der Hautjuckens. Stüber, Würzburg.
1. Theil. Preis M. 0'90.
Peters, Der Arzt und die Heilkunst in der deutschen Vergangenheit.
Diederichs, Leipzig 1900. Preis M. 4. — .
Seifert und Müller, Taschenbuch der medicinisch-klinischen Diagnostik.
10. Auflage. Bergmann, Wiesbaden Preis M. 4. — .
Fraenkel E , Mikrophotographisclier Atlas. Lieferung 1. Tuberkelbacillus.
Gräfe & Sillem, Hamburg. Preis M. 6. — .
Bericht über den Congress zur Bekämpfung der Tuberculose, redigirt
von Dr. Pannwitz, Berlin. Centralcomite zur Errichtung von
Heilstätten. 855 S.
Stumpf, Der Entwicklungsgedanke in der gegenwärtigen Philosophie. Barth,
Leipzig. Preis M. 0.80.
Dieudonnf', Schutzimpfung und Serumtherapie. 2. Auflage. Ibidem. Preis
M. 5.—.
Leudesdorf, Aus der Praxis eines alten Arztes. Ibidem. Preis M. 1. — .
Parreidt, Zahnheilkunde. 3. Auflage. Ibidem. Preis M. 6.75.
Kl’Üche, Allgemeine Chirurgie. 7. Auflage. Ibidem. Preis M. 6.75.
Schmidt, Friedheim, Lamhofer, Donat, Diagnostisch - therapeutisches
Vademecum. 4. Auflage. Ibidem. Preis M. 6. — .
Zelis, Die medicinischen Verbandmaterialien. Springer, Berlin. Preis
M. 6.—.
Dommer, Vorsichtsmassregeln beim Selbstkatheterismus zur Vertheilung an
Blasenkranke. Seitz & Schauer, München 1900.
Hoffa, Die moderne Behandlung der Spondylitis. Ibidem. 28 S.
Goldschmidt, Weitere Beiträge zum nervösen Asthma. Ibidem. 26 S.
Joseph, Die Prophylaxe bei Haut- und Geschlechtskrankheiten. Ibidem.
Schaeffer, Die Prophylaxe in der Geburtshilfe. Ibidem.
Wegele, Die diätetische Küche für Magen- und Darmkranke. Fischer, Jena.
Preis M. 1.60.
Monti, Die Kinderheilkunde in Einzeldarstellungen. Heft 10: Diphtherie,
Heft 11 : Rachitis. Urban & Schwarzenberg, Wien. Preis ä Heft
M. 2.—.
Celli, Die Malaria nach den neuesten Forschungen. Deutsch von Doctor
Kerschbaume r. Ibidem.
Vogl V., Bernatzik-Vogl’s Lehrbuch der Arzneimittellehre. 3. Auflage.
Ibidem. Preis M. 20. — . (Erschienen 1. Abtheilung.)
Jonas, Symptomatologie und Therapie der vasogenen Keflexneurosen und
Organerkrankunger. Seyffartli, Liegnitz. Preis M. 5. — .
Leo, Ueber Wesen und Ursache der Zuckerkrankheit. Hirschwald, Berlin.
109 S.
Ellgler, Warum werden die Nervenkranken nicht gesund? 2. Auflage.
Selbstverlag, Landsberg 1900. 47 S.
Hofmann, Die paroxysmale Tachycardie. Bergmann, Wiesbaden. Preis
M. 4.—.
Grätipuer, Ueber Bädercuren in Bad Nauheim bei Herzkranken. Ibidem.
Preis M. 1. — .
Putiata-Kersclibaumer, Das Sarkom des Auges. Ibidem. Preis M. 16. — .
Löwit, Die Leukämie als Protozoeninfection. Ibidem. Preis M. 14.60.
Bickel, Experimentelle Untersuchungen über die Pathogenese der Cholämie.
Ibidem. Preis M. 3. — .
Freie Stellen.
Districtsarztess teile in dem subventionirten Sanitätsdistricte
O b er- K aunitz-Tai ko witz, Mähren, politischer Bezirk Mähriscli-Kromau;
der District umfasst 67'64 km- mit 12 Gemeinden und 3630 Ein¬
wohnern böhmischer Nationalität. Jahresgehalt 800 K, Fahrpau¬
schale 394 K 90 h. Der bisherige Sitz des Arztes ist Taikowitz;
wegen Verlegung des ärztlichen Sitzes von Taikowitz nach Biharowitz
sind die Verhandlungen im Zuge. In diesem Falle würde sich das Fahr¬
pauschale noch um einige Kronen erhöhen. Die im Sinne des § 11 des
mährischen Landessanitätsgesetzes vom 10. Februar 1884, L. G. Bl. Nr. 28,
belegten Gesuche sind bis zum 10. Mai 1. J. an den Obmann der Dele-
girtenversammlung, Franz Hruza in Biharowitz, zu richten.
Nr. 18
413
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
INHALT:
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 27. April 1900.
18. Congress für innere Medicin in Wiesbaden. Vom 18.— 21. April 1900.
29. Congress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. (18. bis
21. April.) (Fortsetzung.)
2. Oesterreichiscber Balneologen- Congress zu Ragusa und Ilidze.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in München.
Vom 17. — 22. September 1899. (Fortsetzung.)
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
Sitzung vom 27. April 1900.
Vorsitzender: Prof. Dr. Csokor.
Schriftführer : Docent Dr. Alt.
Prof. Johann Csokor spricht seinen verbindlichsten Dank
aus für die ehrende Wahl zum Vorsitzenden der Verhandlungen.
Prof. Albert demonstrirt Serien von Knochen¬
schnitten des Menschen, von einzelnen Säuget liieren
und Röntgen-Bilder von Knochen vor weltlicher
T h i e r e (Ursus speleus und Hippopotamus von Madagascar).
Dr. Föderl referirt aus Hofrath Güssen baue r’s Klink über
zwölf Fälle von Caput obstipum, welche nach einer an dieser
Klinik seit drei Jahren geübten plastischen Methode operirt
worden sind.
Von einem zwischen beiden Köpfen des M. sterno-eleido-mastoid.
gelegenen, 3 cm langen Schnitt aus werden die einzelnen Antheile des
Muskels durch Verschiebung der Wundränder zugänglich gemacht, die
claviculare Portion wird von ihrem Ansätze und ihrer Unterlage bis
zum gemeinsamen Kopfe freipräparirt, und in dieser Höhe die sternale Portion
quer durchtrennt, so dass bei der folgenden Stellungscorectur die ge¬
lösten Muskelköpfe verschoben und ihre Querschnitte durch Catgut¬
nähte vereinigt werden können.
Dadurch wird eine Verlängerung des Sterno-cleido-mast. um die
Länge der clavicularen Portion erzielt. Sich spannende Stränge des
Platysmas, des Cucullaris und der Fascie werden eingekerbt, respec¬
tive excidirt.
Bei dem ersten Fall, den Föderl im Juli 1897 operirt hatte,
war eine vorausgängige Behandlung ohne Erfolg, so dass der Versuch
gemacht wurde, die 4 cm betragende Verkürzung des M. sterno-eleido-
mastoid. auf plastischen Wege zu beheben. Das Resultat war ein der¬
artiges, dass es zur Wiederholung des Verfahrens in anderen Fällen
aufforderte, um so mehr, als wenige Monate später, im November 1897,
Bayer in Prag seine Erfahrungen über die plastische Achillotenotomie,
mit welcher er sehr günstige Erfolge bei Spitzfuss erzielt hat, in
einer Publication niedergelegt hatte.
Bei dem oben erwähnten Falle, kam es bei der Uebercorrectur
des Schiefhalses zu Collaps, welcher wohl auf die bei dem Redressement
erfolgte Compression der Gefässe und Zerrung der Nerven zurückzu¬
führen ist. Diesbezüglich sei auf eine Publication Rainer’s aus Hof¬
rath A 1 b e r t’s Klinik, einen Exitus während des modellirenden Redres¬
sements eines Caput obstipum betreffend, verwiesen.
In den folgenden elf Fällen fixirte man daher den Kopf in
einer leicht redressirten Stellung und nahm die Uebercorrectur in den
nächsten Tagen durch elastischen Zug entsprechend der Wirkung des
contralateralen Muskels vor.
Der erste Verbandwechsel wird Ende der zweiten Woche vor¬
genommen, und mit dem Spitalsaustritte, der gewöhnlich 14 Tage
post operationem erfolgt, ist die Nachbehandlung abgeschlossen. Die Ver¬
krümmungen der Wirbelsäule bilden sich zurück, weniger beeinflusst
wird das N i k o 1 a d o n i’sche Phänomen, die extramediane Verlagerung
des Kopfes nach der gesunden Seite, und störend bleibt die Asymmetria
faciei .
Dr. Losdorfer: Durch zahlreiche und eingehende mikroskopische
Blutuntersuchungen bin ich in die Lage gekommen, heute eine vor¬
läufige Mittheilung zu machen über einen neuen eigenthümlichen Befund
im Blute Syphiliskranker.
Als ich vor mehr als 1 1/2 Jahren meine Untersuchungen auf¬
nahm, habe ich mir die Frage vorgelegt: Gibt es mikroskopisch
wahrnehmbare Veränderungen im Blute Syphilitischer und welches sind
dieselben?
Von der Erwägung ausgehend, dass solche Veränderungen durch¬
aus nicht an alle Phasen der Syphilis gebunden sein müssten, beschloss
ich, diese Untersuchungen gleich bei Beginn des Leidens, also unmittelbar
nach dem Auftreten des Initialaffectes, anzufangen und parallel mit dem
Fortschreiten der Krankheit möglichst lange fortzusetzen und auf diese
Weise bin ich zu dem Befunde gekommen, welchen ich jetzt mittlieilen
und durch Vorlage von Photogrammen, Zeichnungen und Demon¬
stration frischer Präparate bekräftigen werde. Zur letzteren haben mir
Herr Professor P a 1 1 a u f , der seit einem Jahre mich mit Rath und
That aufs Freundlichste unterstützt und dadurch die Sache wesentlich
gefördert hat, sowie Herr Dr. Sternberg ihre Beihilfe zugesagt,
wofür ich beiden Herren, besonders aber für ihre bisherige Unter¬
stützung, meinem verbindlichsten Dank ausspreche.
Untersucht man das Blut eines an einer frischen Induration er¬
krankten Individuums mikroskopisch, so unterscheidet sich dieses vom
Blute eines Gesunden in keinerlei Weise. Durch vier bis fünf Wochen
ergibt sich derselbe Befund.
Wenn aber die Krankheit weiter vorschreitet, wenn die vom
Infectionsherde entfernt gelegenen Lymphdrüsen schwellen, das Allge¬
meinbefinden sich trübt, jedoch oft bevor noch die geringste Spur
eines Exanthemes vorhanden, da ändert sich dieses Verhalten.
Untersucht man ein in diesem Krankheitsstadium entnommenes
Bluttröpfchen auf dem planen Objectträger bei starker Vergrösserung,
Hartnack Ocular 3, Object. 10 (Wasserimmersion) oder Zeiss
ein Zwölftel, so findet man ausnahmsweise gleich, meist aber erst nach
mehreren Stunden, besonders in den von rothen Blutkörperchen freien
Serumflächen kleine, länglichrunde, mattglänzende Körperchen von der
beiläufigen GrÖ3se eines Granulums eines grobgranulirten Leukocyten,
jedoch lange nicht so scharf contourirt und nicht so glänzend
wie dieses.
Anfänglich sieht man diese Körperchen, besonders wo sie in
den dichten Maschen der Fibrinnetze liegen, im Zustande der Ruhe.
Bald aber beginnt eines um das andere, und zwar ruckweise,
sich zu bewegen, verlässt seinen Standort, taucht im Serum bald auf
bald unter, vereinigt sich mit einem zweiten Körperchen, wobei die
rollenden und tanzenden Bewegungen noch deutlicher hervortreten, um
sich von diesem wieder zu trennen, oder mit ihm vereint zu bleiben.
Sind beide Körperchen von gleicher Grösse, so sind sie vereint einem
Bacterium sehr ähnlich, meist sind jedoch die beiden Körperchen so¬
wohl an Grösse, als auch an Glanz verschieden.
Nach einiger Zeit gewahrt man drei- und viergliederige Kettchen,
und zeigen diese die Eigentümlichkeit, dass die Glieder heinahe nie¬
mals in einer geraden Linie liegen, sondern meist nach Kleeblattform
aneinander gereiht sind. Die Anzahl der zu einer Gruppe vereinigten
Körperchen wird successive grösser und erreicht nach etwa acht Stunden
die Zahl von 6 — 10.
Bei Wiederaufnahme der durch die Nacht unterbrochenen Beob¬
achtung haben sich diese Gruppen noch mehr vergrössert und finden
sieh Kettchen und Gruppen von 12 — 20 Gliedern, wobei die einzelnen
Körperchen theil weise neben- und übereinander zu liegen kommen.
Dabei sind die grösseren Kettchen zur Ruhe gekommen, während
kleinere, obschon minder lebhaft als am ersten Tage, vereinzelte Kör¬
perchen aber gerade so wie zu Beginn sich bewegen.
Weit über diese Entwicklung hinaus findet eine solche im
hängenden Tropfen am hohlen Objectträger statt. Hier findet man nach
24 und mehr Stunden Gruppen in zierlichen Formen auch von 100
und mehr Körnchen. Dank dem Umstande, dass diese Gebilde als
specifisch leichter über die Blutkörperchen emporsteigen, ist der
hängende Tropfen zu ihrer Beobachtung besonders geeignet.
Nebst der eben beschriebenen Form begegnet man häufig einer
zweiten. Bei dieser finden sich wesentlich grössere Körperchen vereinigt
zu lappenförmigen Gebilden. Bei continuirlicher Beobachtung sieht man
zuweilen das Hervorgehen dieser grösseren Körperchen aus Aneinander¬
lagerung von kleineren Körnchen, und zeigen dann die grossen lappen¬
förmigen Gebilde deutlich eine körnige Structur.
In manchen Fällen kommen die beiden Gruppentypen neben¬
einander, in anderen nur eine von beiden vor. Am dritten, manchmal
schon am zweiten Tage scheint die Entwicklung der Gruppen abge-
414
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 18
schlossen, man kann sie noch durch mehrere Tage deutlich unter den
auftretenden Ausscheidungen erkennen, dann aber gehen sie im allge¬
meinen Detritus unter.
Ob diese Kettchen und Gruppen durch Vermehrung der Glieder
aus sich selbst heraus, d. h. durch Theilung oder Sprossenbildung, ob
durch Aneinanderlagerung der einzelnen Körperchen entstehen, ist bisher
nicht entschieden.
Die Anzahl der in den einzelnen Fällen vorkommenden Gruppen
ist äusserst verschieden, in manchen finden sie sich nur vereinzelt,
während sie in anderen so zahlreich sind, dass man in jedem Seh¬
felde eine grössere Anzahl vorfindet und dass im Stadium der Be¬
wegung das ganze Blutpräparat zu leben scheint.
Von Einfluss auf ihr Auftreten ist die Temperatur und wird
diesbezüglich Herr Prof. Pal tauf Mittheilung über eine interessante
Beobachtung machen. Eine mässige Zimmertemperatur scheint ihrer
Entwicklung am günstigsten zu sein.
Bemerkenswerth ist der Einfluss einer mercuriellen Behandlung.
Ich beobachtete eine auffallende Abnahme etwa bei der 10. bis 15.
Einreibung, ihr Verschwinden nach der 20. bis 25., in einem Falle
nach dreimonatlichem Gebrauch von Sublimatpillen.
Das Vorkommen ist an eine bestimmte Phase oder Form der
Syphilis nicht gebunden, am sichersten trifft man sie an unmittelbar
vor oder bei dem Auftreten des Exanthems.
Ich habe sie bisher in 120 — 125 Fällen gesehen, von denen die
meisten zu wiederholten Malen, eine grössere Anzahl durch Monate
untersucht wurden. Von diesen entfallen 110 auf frische Formen, die
übrigen auf Recidive und Spätformen : Rupia, Gumma, Geschwüre, ein
Fall auf hereditäre Lues.
Zur Controle habe ich selbstverständlich auch Blut von Gesunden
oder Nichtsyphiliskranken untersucht und über G0 Fälle, von denen
ebenfalls die mir leichter zu Gebote stehenden mehrmals in Anspruch
genommen wurden, verzeichnet. Ich habe hiebei bisher niemals dieselben
Gebilde, niemals den kleinkörnigen Kettchen auffallend Aehnliches
gefunden, wohl aber habe ich zuweilen beobachtet, dass jene sowohl
im frischen gesunden als auch im pathologischen Blute vorkommenden
kugelförmigen glänzenden Körperchen mit lebhafter Molecularbewegung,
die Hermann Müller als Homokonien (Blutstäubchen) beschrieben
hat, oder auch jene runden oder unregelmässig geformten, mehr oder
weniger lichtbrechenden Körperchen, von denen viele ebenfalls Mole¬
cularbewegung zeigen und im Laufe mehrtägiger Beobachtung an
Volumen wesentlich zunehmen und von einzelnen Autoren als Fett¬
kügelchen, Elementarkörperchen, Zerfallskörperchen bezeichnet werden,
sich derartig aneinander lagern können, dass sie liantel-, wurmförmige
oder kleine lappige Klümpchen bilden, jedoch so, dass die einzelnen
Glieder zusammenzufliessen scheinen.
Auf die wichtige Frage nach dem Wesen der im Syphilisblute
vorkommenden Gebilde bin ich vorläufig noch nicht in der
Lage, eine befriedigende Antwort zu ertheilen. Alle Versuche, die
nebst mir in ausgedehntem Masse Herr Prof. Pal tauf unternommen,
um sie zu färben und dadurch über ihre Natur Aufschluss zu erhalten,
sind erfolglos geblieben.
Fest steht heute der Befund ihres Vorkommens im Blute. Wir
kennen ihre früher erwähnten morphologischen Eigenschaften, die Be¬
wegung der einzelnen Körperchen und kleinen Gruppen derselben und
endlich ihre Eigentümlichkeit, in Form grösserer Kettchen und
Gruppen über alle im Blute befindlichen Formelemente empor¬
zusteigen.
Weitere hoffentlich zahlreiche Untersuchungen werden w'ohl auch
weitere Aufschlüsse bringen.
Discussion zum Vortrage Dr. Losdorfe r’s.
Prof. R. Pal tauf: Herr Dr. Losdorf er hat mir im ver¬
gangenen Sommer zum ersten Male seine Präparate gezeigt und im
Verlaufe des Winters diese Demonstration oftmals wiederholt; ich habe
ihn auf die Verwendung des hohlen Objecttuigers aufmerksam gemacht
und an seinen Präparaten und an solchen von Patienten der Ab¬
theilung Prof. Mraöek’s einige Reactionen gemacht. Die Bewegung
der Körnchen halte ich für Molecularbewegung; es schien mir auch,
dass bei den einzelnen Kranken die Grösse der Körnchen eine ge¬
wisse Constanz habe, dass bei dem einen die kleineren, bei dem
anderen die grösseren Formen sich finden. Die Körnchen sind ange¬
trocknet, mit den basischen Anilinfarben nicht färbbar, im nativen
Präparate nehmen einzelne Methylenblau an, andere, die Mehrzahl,
bleiben ungefärbt, so dass nicht alle Körnchen derselben Dignität zu
sein scheinen; mit Osmiumsäure konnte einige Male stellenweise eine
leicht graue Färbung wahrgenommen werden; verdünnte Essigsäure
macht die Körnchenhaufen deutlicher, 10°/0ige Natronlauge löst die¬
selben. Bemerkenswerth ist die Eigenschaft der Körnchenhaufen, in
der Höhe des Bluttropfens sich anzusammeln. Auffallend ist die Er¬
scheinung, dass ihr Auftreten im Thermostaten ausbleibt, während
es bei gewöhnlicher Tempeiatur, auch an Präparaten, die im Thermo¬
staten bereits über Nacht gewesen waren, ausserhalb desselben zu¬
stande kommt. Ich habe den Eindruck, dass die Körnchen und die
aus ihnen zusammengesetzten Aggregate Zerfalls- oder Gerinnungs-
producte sind.
Wir haben im Spitale nur zu besagten Untersuchungen bei
sechs bis sieben Patienten diese Blutuntersuchung vorgenommen, meist
an Leuten mit frischen Exanthemen ; bei diesen fanden sie sich; Control¬
untersuchungen haben wir nicht vorgenommen, da mir Kranken¬
material ja nicht zur Verfügung steht.
Ich kann daher über die Specifität des Befundes nichts sagen;
wie gesagt habe ich den Eindruck von Zerfalls- oder Ge-
rinnungsproducten, die vielleicht mit einer Veränderung der Blut¬
beschaffenheit in Zusammenhang stehen, wie ja eine solche bei Lues,
namentlich zur Zeit des Ausbruches des Exanthems häufig zu bestehen
scheint; ob der Befund aber für die Lues speeifisch und charakteristisch
ist, kann ich nicht sagen.
Hofrath Kaposi: College Los dorfer war so freundlich,
mir vor einigen Tagen die in Rede stehenden Präparate zu demon-
striren und ich constatire ebenfalls den thatsächlichen Befund als
solchen. Wenn aber Losdorf er keine weiter Schlussfolgerungen
aus demselben zunächst gezogen hat, so scheint es mir doch nicht
überflüssig, sogleich und an dieser Stelle Einiges dazu zu bemerken, be¬
sonders in Rücksicht auf zwei Gedanken, die, wenn auch nicht aus¬
gesprochen, sich unmittelber Vielen aufdrängen könnten.
Erstens in Bezug auf eine ätiologische Bedeutung der demon-
strirten Körperchen für Lues. Und da muss besonders betont werden,
dass Losdorfer eine solche den Körperchen nicht zugesprochen hat
und das war ganz recht von ihm. Denn er muss sich ja dessen be¬
wusst sein, dass seine Controluntersuchungen (Untersuchungen von
Blut Nichtsyphilitischer und von allerlei Krankheiten) denn doch zu
wenige sind und in Anbetracht der vielerlei Körperchen unklarer Natur,
welche die Hämatologie in den letzten Jahren im Blute entdeckt hat.
Aber auch mit dieser Einschränkung wäre der Befund von Losdorfer
noch sehr interessant, woferne die zu erwartenden weiteren Unter¬
suchungen ergeben würden, dass diese Körperchen thatsächlich nur
im Blute Syphilitischkranker vorkämen, also ein specifisclies und für
Lues charakteristisches Vorkommniss darstellen würden.
Zweitens, bezüglich, der biologischen Bedeutung dieser Gebilde.
Losdorfer hat sich an diesem Orte darüber nicht geäussert. Aber
aus den mündlichen Besprechungen scheint hervorzugehen, dass er
geneigt ist, denselben die Bedeutung von den pflanzlichen Mikro¬
organismen zugehörigen Gebilden zu vindiciren, während, wie wir
gehört haben, Pal tauf schon andeutet, dass ihre Derivation von
Formelementen des Blutes nicht undenkbar wäre.
In Anbetracht gewisser Reminiscenzen, die sich uns natur-
gemäss aufdrängen, ist diese Meinung, die auch ich von Anbeginn an
hege, nicht zu unterdrücken und mit Rücksicht darauf, dass auch von
anderer Seite schon (Fünfter Congress der Deutschen dermatologischen
Gesellschaft 1895 in Graz) biochemische Eigen thiimlichkeiten des
syphilitischen Blutes behauptet worden sind.
Endlich ist aber auch grösste Vorsicht bezüglich der Deutung
des Losdorfe r’schen Befundes vorläufig geboten in Erinnerung
daran, wie einmal schon von einer unseren Kreisen seinerzeit sehr
nahegestandenen Seite die Untersuchung des Blutes Syphilitischer und
SyphilitischGewesener behufs angeblicher Constatirung von Andauer oder
Heilung der specifischen Diathese ins sogenannte „Praktische“ inscenirt
worden ist. Es muss daher aufs Ernstlichste vor voreiligen und
weitergehenden Deutungen gewarnt werden und Losdorfer hat
ganz recht gethan, sich heute auf die blosse Mittheilung seines that¬
sächlichen Befundes zu beschränken.
Primarius Dr. Preindelsberger : Ueber eine Modifica¬
tion bei Dislocation der Struma. (Erscheint demnächst aus¬
führlich in dieser Wochenschrift.)
Oberstabsarzt Docent Dr. Habart: Der gegenwärtige
Stand der Verwundungsfrage im Kriege und die
Wechselbeziehungen derselben zum Sanitätsdienste
im Felde. (Erscheint demnächst ausführlich in dieser Wochen¬
schrift.)
18. Congress für innere Medicin in Wiesbaden.
Vom 18. bis 21. April 1900.
Referent Albu (Berlin).
1. Sitzung.
I. v. Kora n y i (Budapest; : DieBehandlungder acuten
Lu ngenentzündung.
Vortragender erörtert einleitend zunächst die Frage, auf welche
Krankheitsvorgänge der Begriff der croupösen Lungenentzündung aus¬
gedehnt werden darf. Durch Leich ten stern sind die von ihm als
primär asthenische Pneumonien bezeiehneten Formen allmälig immer
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
415
mehr von der einfachen croupösen Lungenentzündung abgetrennt
worden, weil sie ätiologisch als Streptococcenpneumonien, anatomisch
als Cellularpneumonien anzusehen seien. Dieser Lehre gegenüber beruft
sich v. Kora n y i auf die neueren Untersuchungen P e r t i k’s (Buda¬
pest), von Cruse und P a n s i n i und als gewichtigstes Zeugniss auf
die Arbeiten von Lu bar sch, durch die erwiesen wurde, dass der
F r ä n k e Fache Diplococcus lanceolatus und der Streptococcus nur
Racenverschiedenheiten derselben Mikrobenart bilden und je nach
ihrer verschiedenen Virulenz verschiedene Formen der Pneumonie be¬
dingen. Es gibt fibrinöse Streptococcen- und cellulare Diplococcen-
Pneumonien und auch die Verschiedenheit des Verlaufes der Krankheit
hängt nicht von der Racenverschiedenheit des Krankheitserregers ab,
so dass v. Kor any i weder einen ätiologischen, noch klinisch-anato¬
mischen Grund findet, um von seiner früheren Ansicht abzugehen,
dass die primären fibrinösen und asthenischen Pneumonien zu einer
Krankheitsgruppe gehören. Die Auffassung entspricht auch dem
praktischen Bedürfniss, nach dem die verschiedenen Formen der
Lungenentzündung nicht mit je entsprechenden specifischen Methoden,
sondern nach Indicationen, die allen gemeinschaftlich sind, behandelt
werden.
Zuerst bespricht v. Kor any i diejenigen Heilmittel und Ver
fahren, die der neueren Zeit angehören und aus neueren pathologi¬
schen Ansichten hervorgegangen sind. Dahin gehören diejenigen, die
an Blutuntersuchungen bei Pneumonie sich anlehnen. Die Erkennung
des Bacterien- und Toxinengehaltes im Pneumonieblut führte zu Ver¬
suchen mit Pneumonieserum, die von Klemperer, Cruse, P a n-
sini und Emmerich angebahnt, zu einer methodischen Behandlung
ausgebildet wurden und namentlich in Italien, aber auch in England,
Frankreich und anderen Ländern angewendet wurden. Aus den zur
Verfügung stehenden Daten kommt Referent zum Schluss, dass die
gegenwärtig angewendete Serumtherapie auf den pneumoniekranken
Menschen keine schädliche Nebenwirkung ausübt und einer Anzahl von
Fällen nützlich zu sein schien, aber eine specifische oder die Krankheit
abkürzende Wirkung ist nicht bewiesen. Es werden dann die Verän¬
derungen besprochen, die in den Blutzellen der Pneumoniker nach¬
weisbar sind, namentlich die Leukocytose, die vielfach, als einem na¬
türlichem Heilbestreben des Organismus entstammend betrachtet wurde
und zur künstlich therapeutischen Erzeugung von Leukocytose mittelst
Pilocarpin, Antipyrin, Antifebrin, Nuclein und hydropathischer Proceduren
Veranlassung gab, die aber alle als für die Behandlung der Pneumonie
unwesentlich erkannt wurden.
Vortragender berichtet weiter über die neuerdings auf seiner
Klinik angestellten Untersuchungen über das specifische Gewicht des
Pneumonieblutes. Es ergab sich, dass der Kochsalzgehalt des Blutes
vermindert, der Gefrierpunkt erhöht ist. Um die normalen Verhältnisse
wieder herzustellen, empfiehlt sich die Oxygendurchströmung des
Blutes, welche den Gehalt an Chloriden im Blutserum erhöht. Von
der Anwendung von Oxigeninhalationen hat v. Koranyi ebenso
wie Douglas-Powell und Grey und Andere in der Praxis
Vortheilhaftes gesehen. Den Aderlass verwirft v. Koranyi als
antipneumonisches Heilverfahren, da durch die jetzt übliche Art
der Aderlässe das Blut nicht entgiftet werden könnte, er hält ihn
aber für geradezu lebensrettend bei hochgradiger Hyperämie der Lunge
ohne oder mit bereits entwickeltem Oedem, lebhafter Ilerzbewegung
und angestrengter Thätigkeit der Respirationsmuskeln; der Puls, der
vor der Venäsection schwächer war, wird nach derselben oft stärker
und voller.
Bezüglich der Kochsalzinfusionen für sich oder in Verbindung
mit dem Aderlass kommt Referent zu dem Schluss, dass solche der
Icbämie des linken Pierzen zu Gute kommen, andererseits die Diurese
und damit die Excretion toxischer Stoffe befördern können. Referent
streift dann kurz die Pneumoniebehandlung mit Digitalis, Antipyreticis,
Alkohol, Opium, Eis und vielen anderen Mitteln, deren Werth dadurch
sehr fraglich wird, dass die Ansichten der erfahrensten Aerzte darüber
weit auseinander gehen.
Ein Vergleich der Erfolge der verschiedenen Behandlungsmethoden
ist unmöglich wegen der Unzuverlässigkeit aller vorhandenen statisti¬
schen Ausweise, auf die schon vor 25 Jahren Jürgengen hinge¬
wiesen hat. Das ist heute noch dasselbe.
Vortragender schliesst: Die moderne Pneumonietherapie ist eine
gesunde und viel vermögende, indem sie die Bekämpfung bedrohlicher
Symptome sich angelegen sein lässt, die den Arzt in den Stand setzen,
manches gefährdete Menschenleben zu retten, aber es ist keine solche
therapeutische Errungenschaft zu verzeichnen, die die Krankheit in
specifischer Weise abzukürzen, die Mortalitätsstatistik in merkbarer
Weise zu beeinflussen vermag. Die Serotherapie ist noch wenig ver¬
lässlich.
Um die gründliche Durchforschung der einzelnen Mitteln und
Methoden der Behandlung zu befördern und zu concentriren, glaubt
v. Koranyi, dass es zweckmässig wäre, wenn eine Gruppe von be¬
rufenen Fachmännern sich vereinigte, um in durchdachter Arbeitsein-
theilung vorzugehen, und unterbreitet diese in mehrfachen anderen
Fragen als zweckmässig erwiesene Idee dom Congresse.
(Fortsetzung folgt.)
29. Congress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie.
18.— 21. April.
(Fortsetzung.)
Referent: Dr. Heinz Wohlgemuth (Berlin).
I. Sitzungstag: Vormittagssitzung.
III. R e h n (Frankfurt a. M.) : Die Verbesserungen in
der Technik der Mastdarmamputation und Re¬
section.
Vortragender hält es für fraglich, ob die Verbesserung der ope¬
rativen Resultate in der Frühdiagnose zu suchen ist. Er glaubt viel¬
mehr, dass der Methode viel Gewicht beizumessen ist. Als Kraske
seine Methode angab, da bemächtigte sich der Chirurgen anfangs ein
grosser Enthusiasmus, allein der Rückschlag, die schlimmen Erfahrungen
in Bezug auf Mortalität und die functionellen Resultate blieben nicht
lange aus. Viele hatten sogar vor der Methode gewarnt. Sie schafft in
der That schlechte Wundverhältnisse. Seit einiger Zeit mehren sich
die Stimmen für die perineale Operation, besondex-s seitdem aus dem
W a 1 d e y e r’schen Institute J erotha seine Untersuchungen über die
sacralen und rectalen Lymphgefässe veröffentlicht hat. Redner demon-
strirt diese anatomischen Studien an Zeichnungen aus dem Wal¬
de y e r’schen Institute und schlägt vor, die von Waldeyer einge¬
führten Benennungen zu acceptiren. Seine anatomischen Studien führten
ihn nun zu folgenden Schlüssen: 1. Die Exstirpation eines Carcinoms
vom Darmlumen aus ist unstatthaft. 2. Das Rectum ist extrafascial
auszulösen. 3. Die Methoden sind vorzuziehen, die einmal den grössten
Ueberblick bei den geringsten Veidetzungen gewähren, ferner acute
Wundverhältnisse, guten Schluss und Function gewährleisten, und die
schliesslich annähernd normale Verhältnisse herstellen.
Die Gefahren der Operation sind im Wesentlichen Infection und
Blutungen. Wo das Carcinom über die Fascien hinausgewuchert ist,
da soll man nicht operiren. Er empfiehlt eine Methode, die im Wesent¬
lichen der Dieffenbac h’schen ähnlich ist. Schnitt in der vorderen
Rhaphe perinealis. Wenn keine Verwachsungen da sind, dann kann man
ausserordentlich leicht weiter Vorgehen. Der Vorzug dieses Schnittes
ist, dass man die Verhältnisse gleich beim Beginn der Operation über¬
schauen kann. Dann wird tamponirt und ein hinterer Schnitt neben
dem Kreuzbein angelegt. Nach Spaltung der Sphinkteren wird die
Schleimhaut des unteren Mastdarmabschnittes exstirpirt und dann die
Resection des oberen Endes möglichst gross vorgenommen. Auch die
Drüsen sollen berücksichtigt werden. Das centrale Ende wird erst
nach Durchscheidung der A. haemorrhoidalis posterior heruntergezogen
und perineal angenäht. Bei möglichst vollkommenem Schlüsse Drainage
vorn und hinten. Die Nachbehandlung ist so viel einfacher als boi der
sacralen Methode, die Secrete können nicht an den steilen Wänden des
Beckens haften, brauchen nicht erst durch Bindegewebe und Knochen
zu gehen. Bei der Fraxx sind die Verhältnisse natürlich noch viel ein¬
facher. Die Frage, wie man sich zu der combinirten Methode vom
Bauche aus und von hinten stellen soll, ist theoretisch wohl klar, aber
in praxi sind die Schwierigkeiten, Unterbindungen der Arterien, nicht
ungefährlich. Doch ist ein Hauptmoment, die Herstellung natürlicher
Verhältnisse, wegen des nothwendigen Anus praeternatiu-alis hier nicht
möglich. Soll man nun, um normale Verhältnisse zu erreichen, exstir-
piren oder amputiren? Die rohe Amputation hat manchmal, wie bekannt,
Gangrän zur Folge durch zu grossen Zug an der A. mesenterica in¬
ferior, die dadurch an ihrem Abgang von der Aorta spitzwinkelig ab¬
geknickt wird. Daher soll man bei hoher Amputation die Durchtrennung
des A. haemorrhoidalis posterior vorausschicken. Das Peritoneum ist
möglichst zu schliessen, trotzdem es manchmal nicht ungefährlich ist-
Vortragender zeigt dann noch Injeetionspräparate der Arterienver¬
zweigungen.
IV. Hochenegg (Wien): Bericht über 121 eigene
sacrale Mastdarmoperationen wegen Carcinom und
über die durch die Operation erzielten Resultate.
Hochenegg hält das sacrale für das Normalverfahren und
will die jxerineale Methode nur dann angewendet wissen, wenn das
Carcinom höchstens bis über den Sphinkter hinaufreicht. Der Vor¬
operation bei dem sacralen Verfahren will er keine grosse Gefahr bei¬
messen. Er hat jetzt 121 Fälle in 13 Jahren mit nur 10 Todesfällen,
das sind 8'2 °/0, so operirt. Die Vortheile der Methode sieht er in
der Schnelligkeit, der exacten Blutstillung und der im Gegensatz
zu R e h n recht exacten Drainage nach hinten. Contraindicationen sind
416
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 18
nur absolut starre Verwachsungen im Becken. Perineale Exstirpationen
hat er im Ganzen 8 gemacht. Die Vorbereitungscur zur Ausscheidung
der harten Ivothmassen hat er früher auf 10 — 14 Tage ausgedehnt,
doch ist er davon zurückgekommen, ja er glaubt sogar, dass die Ope¬
rationsresultate dadurch in manchen Fällen verschlechtert worden sind.
Was nun die Operationstechnik anlangt, so macht er einen linkscon¬
vexen Bogenschnitt, entfernt das Steissbein und, je nachdem es
nöthig ist, geht er höher hinauf. Der Tumor wird extrafascial heraus-
präparirt. Schwierig ist es, wenn es sich um eine Continuitätsresection
handelt und der Analtheil erhalten werden soll. Er eröffnet principiell
das Peritoneum, weil nur so der Darm absolut mobil gemacht werden
kann, schliesst es aber vor der Durchschneidung des Darmes wieder.
Die Analportion wird nach seiner Meinung viel zu häufig erhalten.
Er hat häufig beobachtet, dass die Recidiven gerade von hier ausgehen,
daher soll man sie nur dann erhalten, wenn man ihrer ganz sicher
ist. Eine grosse Gefahr ist auch der zu frühe Ivothabgang wegen der
eventuellen stercoralen Phlegmone. Seitdem er nun Versuche gemacht
hat, das centrale Ende in den Anus herabzuziehen nach der Ablösung
der Schleimhaut des analen Endes, hat er von 62 Fällen nur einen
an stercoraler Phlegmone verloren. Der Abfluss ist absolut gewährleistet
durch ausgiebige Drainage vorn und hinten und zu beiden Seiten. Ein
Stuhl geht gewöhnlich am vierten oder fünften Tage von selbst ab.
Dann wird der erste Verbandwechsel vorgenommen. Bei stehenbleibendem
Sphinkter tritt nicht selten eine Dehnung der Naht auf, eine Erweiterung
oberhalb des Sphinkter mit dem Gefühl der Stuhlverbaltung, oder die
Naht platzt gar an einer Stelle und es tritt eine Analfistel mit ihren
Unaunehmlichkeiteu auf. Bei einer Mortalität von 8% verlor er nach
Sepsis 4 Fälle, an Blutungen 2 Frauen, bei denen er Stücke der
Vagina und des Uterus mitentfernen musste, 1 Fall ging an Embolie,
1 an Incarceration zu Grunde.
V. Schucha r d (Stettin) : Zur Technik der Exstir¬
pation des Rectum und des Colon sigmoideum.
Nach Resection des Steissbeins hält er den Darm bis ganz
zuletzt geschlossen. Bei hochsitzendem Carcinom wird natürlich das
Mesocolon eingeschnitten. Auf diesem Wege kann man theoretisch,
wie es bei Leichenversuchen geschehen, 45 cm Darm entfernen, dann
allerdings hat das Herabziehen ein Ende, sobald nämlich das S romanum
gestreckt ist. Aber in praxi ist dies Herabziehen doch lange nicht so
weit möglich, da in den Beckenorganen durch die Geschwulst eine
Menge Veränderungen und Verwachsungen entstanden sind. Was die
hochsitzenden Mastdarmcarcinome anlangt, die nicht abzutasten sind,
so gehören diese überhaupt nicht mehr zum Mastdarm, sondern zum
Colon pelvinum nach Waldeyer. Grosses Gewicht ist auf die
Schrumpfungen des Mastdarmes und des Colons zu legen, die nicht
nur bei Carcinom, sondern auch bei Tuberculose und Syphilis ent¬
stehen. Hier ist es oft nicht möglich, das centrale Ende genügend
hei abzll ziehen . (Fortsetzung folgt.)
2. Oesterreichischer Balneologen-Congress zu Ragusa
und Ilidze.
Es sei hier gestattet, in Kürze die allgemeinen Eindrücke wieder¬
zugeben, welche der Besucher dieses Congresses gewonnen.
Schon die Reise per terram et mare verlief in grösster Ordnung
und mit solcher Präcision, dass es unter der stattlichen Zahl der
Congressreisenden keinen einzigen Unzufriedenen gab. Die Versamm¬
lung selbst war in ausgezeichneter Weise organisirt. Die Sitzungen
waren in Bezug auf die Wahl der Locale und hinsichtlich der Auf¬
stellung der Tagesordnungen in eminenter Weise vorbereitet, so dass
sämmtliclie Theilnehmer in bequemer Weise aller Anregungen und
Belehrungen sich zu erfreuen in der Lage waren. Trotz der zahl¬
reichen Festlichkeiten und Excursionen, welche sowohl in Ragusa als
auch in Ilidze seitens der bezüglichen Vertretungen und Localcomites
in unübertrefflicher Liebenswürdigkeit veranstaltet wurden, bewahrte
die Versammlung im Wesentlichen den Charakter ernster Arbeit. Mit
Eifer wurde in den Sitzungen vorgetragen und discutirt ; es dürfte
kaum Jemand den Congress verlassen haben, ohne nachhaltige wissen¬
schaftliche Anregung. Hervorgehoben zu werden verdienen auch die
Festbanquete an beiden Congressorten, welche durch vortreffliche Tisch¬
reden gewürzt waren. Für die musterhafte Aufbereitung und Organi¬
sation des Congresses sei auch an dieser Stelle dem Secretär des
Centralverbandes der Balneologen Oesterreichs, Herrn Dr. AVetten-
d o r f e r, der Dank geziemend ausgesprochen.
Aus den Sitzungen:
Prof. Kisch: Balneotherapie der Fettleibigkeit.
Die Erfordernisse einer rationellen Entfettungsmethode im All¬
gemeinen erörternd, bespricht Referent speciell die Brunnen- und Bade-
curen als Mittel gegen die Fettleibigkeit. In erster Linie stehen hiebei
die an Natriumsulfat und Kohlensäure reichen Mineralwässer, bei
denen sich die Wirkung auf Fettzersetzung mit einer bedeutenden
Beeinflussung des Circulationsapparates verbindet. Der durch Trink-
curen mit den alkalisch-salinischen AA^ässern herbeige¬
führte gesteigerte Fettverbrauch muss sich aber unter Leitung des
Arztes derart vollziehen, dass hiebei die Behauptung des Eiweiss-
bestandes erzielt wird, es also wohl zum Verluste an Fett, jedoch
nicht zur Einbusse an Körpereiweiss kommt. Die kalten Quellen
sind den Thermen schon wegen der wesentlich stärkeren diu-
retischen AVirkung vorzuziehen. Aehnlich der Wirkung der
Glaubersalzwässer aber weitaus unzureichender bezüglich der Ent¬
fettung sind die Kochsalzwässer; die Bitterwässer können
zu demselben Zwecke wegen ihrer heftig purgirenden und hiemit
nahrungsentziehenden Eigenschaft nur in discreter AA7eise und durch
ganz kurze Zeit gebraucht werden; die Verwendung der Jod wässer
ist gleichfalls, weil sie eine allgemeine depotenzirende Unterernährung
zuWege bringen, nicht empfehlenswerth. AVährend Trinkeuren mit den
bezeichneten Quellgruppen nur für die plethorische Form der Fett¬
leibigkeit zur Anwendung kommen, eignet sich für anämische Fettleibige
fast ausschliesslich der innerliche Gebrauch der reinen Eisen¬
wässer und der an Eisencarbonat sehr reichen alkalischen Säuerlinge,
welche geeignet sind, die änämisclie oder chlorotische Blutbeschaffen-
zu verbessern und so den günstigen Nährboden dieser Art der
Fettentwicklung zu entziehen. Die ärztliche Ueberwachung der Brunnen-
curen der Fettleibigen darf sich nicht blos auf die nothwendigen
körperlichen Wägungen beschränken, sondern hat eine sorgfältige
Controle der Muskelkraft des Individuums, speciell der Kraft des
Herzmuskels zu üben, dabei genaue Differenzbestimmungen über
Flüssigkeitsaufnahme und Harnausscheidung zu führen und endlich
durch Stoffwechselbestimmungen eine Feststellung der Stickstoff1- Ein- und
Ausfuhr vorzunehmen.
Nur auf solche AVeise ist eine Schädigung des Organismus durch
forcirte Brunneneuren zu vermeiden.
Zur Unterstützung der Trinkcur mit den Mineralwässern dient
die systematische Anwendung heisser mineral- und kohlensäurereicher
Bäder. Heisse Bäder von 40 — 45° C. befördern die Fettabgabe durch
die Haut und wirken hiedurch auf den Fettverbrauch steigernd ein,
besonders dann, wenn in Folge nachhaltiger Erwärmung des Körpers
nach dem Bade durch Bewegung oder Einwicklung zum Schwitzen
Anlass gegeben wird. Bei der bedeutenden Steigerung der Körper¬
temperatur, welche die schweissproducirenden Badeformen verursachen,
bei der grossen Vermehrung der Pulsfrequenz und Erhöhung der Zahl
der Athemzüge, welche sie bewirken, vor Allem aber bei dem über¬
aus raschen und mächtigen Anstiege des Blutdruckes, welchen sie
hervorbringen, dürfen solche Bäder nur jenen Fettleibigen gestattet
werden, deren Herzmuskel noch vollkommen intact ist und deren Ar¬
terien sich nicht sklerosirt erweisen. Die kohlensäurereichen Bäder
sind besonders mit Rücksicht auf das in seiner Function mehr minder
geschwächte Herz der Fettleibigen empfehlenswerth, indem ein solches Bad
den Blutdruck steigert, den Puls verlangsamt, ihn voller und kräftiger
gestaltet, das Volumen jeder einzelnen Herzsystole erhöht, den Tonus
des Herzmuskels stärkt und die Herzarbeit erleichtert. Nicht so mächtig
wirksam, wie die kohlensäurereicheu Mineralbäder, aber immerhin als
den Stoffwechsel beeinflussend, kommen auch salzhaltige und hiedurch
stark hautreizende Bäder zur Verwendung; denn ihr Haupteffect liegt
wesentlich in dem beschleunigten Umsätze stickstoffloser Verbindungen,
deren Endresultat vermehrte Kohlensäureausscheidung ist.
Zum Schlüsse betont Referent, dass alle die verschiedenen
Brunnen- und Badecuren durchaus keine specifischen Mittel gegen die
in Rede stehende Stoffwechselerkrankung bilden, und dass sie nur als
günstige und förderliche Unterstützung des einzigen wirklichen
Arcanums gegen Fettleibigkeit zu betrachten sind, das da heisst:
Regelung der Ernährung und der Muskelarbeit.
Docent Dr. A. Strasse r: Die diätetische und hydro¬
therapeutische Behandlung der Fettleibigkeit. Am
Anfänge des Referates bespricht Verfasser die Classification, respective
die zu Grunde liegenden Auffassungen der Fettleibigkeit und be¬
tont, dass keine der bestehenden Classificationen unbedingt acceptirt
werden kann, sie bezeichnen gerade nur extreme Fälle und haben für
die grosse Ueberzahl der Uebergangsfälle keinen AArerth. Insbesondere
betont er, dass die meisten sogenannten plethorischen Fettleibigen nicht
als rein Fettleibige zu betrachten seien, sie leiden vielmehr an einer
combinirten Allgemeinerkrankung, bei welcher gichtische, neurastheni-
sche Zustände und oft Anfänge einer Arteriosklerose neben der äusser-
lich hervorragenden Fettleibigkeit sich gleichzeitig entwickeln. Es
wäre dieser Zustand vielmehr als eine Plethora der überladenen Zelle
anzusehen. Rein plethorische Fettleibige existiren wohl, jedoch wenige;
als Typus seien die jungen Alkoholiker anzusehen.
Auf die diätetische Behandlung übergehend, bespricht S t r a s s er
die bestehenden hervorragenden Kostvorschriften, insbesondere die
Banting- und Oertel-Schweninger- Cur. Er verurtheilt jede
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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einseitige Kostordnung, beleuchtet die Nachtheile der Eiweissüber-
fütteruug, die gar nicht die Vortlieile hat, die man ihr ursprünglich
zugedacht hat. Den bei Mastfetten oft hervortretenden Zustand nach
jahrelang fortgesetztem excessivem Fleischgenuss nennt er einen
„azotoxischen“ Zustand, der durch B a n t i n g’sche Vorschriften eher
verschärft werden kann. Auch bietet die B a n t i n g - Cur, und mit ihr
alle, die so viel Eiweiss zuführen wollen, nicht einmal den erwünsch¬
ten Schutz für das Organeiweiss. Bei 0 e r t e 1 und Schweninger
beleuchtet Strass er nach Besprechung der experimentellen Durst-
curen an Thieren, die Haltlosigkeit und mangelhafte Begründung der
Vorschriften, insbesondere bei Schweninger; 0 er t el’s Ideen
sind auf das mechanische Moment der geschwächten Herzkraft ge¬
gründet und wenigstens für die hydrämischen Fälle mit stark ge¬
sunkener Herzkraft und mit etwas Erleichterung anzuwenden. IJebri-
gens betonte Winter nitz schon auf Grund seiner und vieler
Anderer Beobachtungen, dass reichliches Wassertrinken auch Körper¬
gewichtsabnahme bewirken kann, den vegetabilischen Curen oder
wenigstens der weitgehendsten Berücksichtigung der pflanzlichen
Nahrungsmittel, sowie der Milchcuren steht Strass er sehr freundlich
gegenüber; die letzteren glaubt er als Einleitung einer Entfettungscur
sehr gut gebrauchen zu können, die früheren insbesondere bei gichti¬
schen Complicationen. Die sonstigen Modificationen, mit Zugabe von
Fett oder Kohlehydraten, sind alle brauchbar. Strasser plaidirt
sogar, man solle zumindest eine gute Erhaltungskost geben und sogar
ab und zu etwas Luxuszugabe, aber man solle andererseits trachten
durch verschiedene Vorschriften, unter welchen er die Hydrotherapie
hervorhebt, die Leistungsfähigkeit des Organismus in der Richtung
der Fettspaltung zu erhöhen. Die Hydrotherapie, wie überhaupt die
physikalischen Methoden, sind in der Behandlung der Fettleibigkeit die
wichtigsten. Strasser bespricht die physiologische Begründung,
dann die Methodik der Hydrotherapie der Fettleibigkeit; so die
intensiven Wärmeentziehungen, wie die Wärmezufuhrs-(Schweiss-)pro-
ceduren und die Lichtschwitzbäder, deren specifische Wirkung er
durchaus nicht für bewiesen erachtet, wiewohl sie technisch ausser¬
ordentlich gut verwerthbar sind. Die Eigenschaft der Lichtbäder, das
Herz mehr zu schonen als andere Schwitzbäder ist nur dann hervor¬
ragend, wenn man die Bäder technisch vollständig beherrscht und mit
der Temperatur nicht über 50<> C. geht. Beide Abtheilungen schliessen
mit scharfer Präcisirung des therapeutischen Vorgehens bei Complica¬
tionen. In der ersten Abtheilung findet sich ausserdem eine scharfe
Kritik der Calorienberechnung der Nahrung.
(Fortsetzung folgt.)
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
in München.
Vom 17. bis 22. September 1899.
(Fortsetzung.)
Section für Kinderheilkunde.
Referent Dr. B. Bend ix (Berlin).
II. Sitzung, Dienstag, den 19. September 1899.
Vorsitzender: Heubner.
II. M. Thimich (Breslau), Correferent: Des Weiteren werden mehr
oder minder eingehend die Hypothesen erörtert, welche eine Autointoxi¬
cation theils vom Darme aus, theils im intermediären Stoffwechsel sich ab¬
spielend (Störungen der Leber- und Nierenfunction) annehmen, wobei
Vortragender besonders auf die in der Literatur nirgends erwähnte
Möglichkeit hinweist, dass Störungen der auf Osmose beruhenden engen
Wechselbeziehungen des Wassers, der Salze und Eiweisskörper im Blut
und Geweben (Gehirn) die Ursache für Krämpfe abgeben können, wie
sich dies durch Thierversuche zeigen lässt. In manchen Fällen ist
eine acute Ueberladung des Blutes mit Kohlensäure aus den mannig¬
faltigsten Gründen als ätiologischer Factor zu erkennen.
Schliesslich erwähnt Verfasser die Theorie von K a s s o w i t z,
dass die chronische Hyperämie der rachitischen Schädelknochen einen
Reizzustaud der Hirnrinde schaffe und dadurch zu Krämpfen führe.
Diese Hypothese ist in keiner Weise mit den anatomischen und klini¬
schen Thatsachen in Einklang zu bringen und muss deshalb abge¬
lehnt werden.
III. Ganghof n er (Prag) : Ueber Spasmus glottidis
bei Tetanie der Kinder.
Der Vortragende führt aus, dass ihm verhältnissmässig nur
wenige Fälle von Laryngospasmus vorgekommen sind, bei welchen
Latenzsymptome der Tetanie andauernd gefehlt haben. Diese Differenz
gegenüber den Beobachtungen mancher anderer Beobachter sei wohl
nur eiue scheinbare und erkläre sich durch die verschiedene Auffassung
über die diagnostische Verwerthbarkeit der einzelnen Latenzsymptome.
Ganghofner erörtert die Umstände, welche es, namentlich
bei ambulatorischer Behandlung, oft unmöglich machen, das Vorhanden¬
sein des T r o u s s e a u’schen Phänomens und der Steigerung der elek¬
trischen Erregbarkeit zu constatiren, auch wenn diese als obligat an¬
gesehenen Latenzsymptome vorhanden sind. Werden nun derartige
Fälle von Stimmritzenkrampf aus der Gruppe der Tetanie ausgeschieden
und als besondere Form des Laryngospasmus aufgestellt, so verkleinert
sich das Gebiet der kindlichen Tetanie in einer den thatsächlichen
Verhältnissen nicht entsprechenden Weise. Ganghofner hält es mit
Rücksicht auf den Umstand, dass nach seinen Untersuchungen bei
Kindern der zwei ersten Lebensjahre eine erhebliche Steigerung
der mechanischen Nervenerregbarkeit ohne Vorhandensein von Tetanie
nicht leicht vorkommt, für zulässig, die Diagnose „Tetanie“ bei Laryngo¬
spasmus zu stellen, wenn eine beträchtliche Steigerung der mechani¬
schen Erregbarkeit der peripheren Nerven vorhanden ist, auch bei
Fehlen des T r o u s s e a u’schen Phänomens. Auf die Prüfung der gal¬
vanischen Erregbarkeit muss ja bei ambulatorischem Material aus
äusseren Gründen häufig verzichtet werden. Wohl liege hier in der
Abschätzung des Grades der Erregbarkeitssteigerung ein subjectives
Moment, welches eine gewisse Fehlerquelle involvirt, aber diese ist
gewiss nicht hoch anzuschlagen, wenn man in der Untersuchung
tetaniekranker Kinder geübt ist.
Ganghofner analysirt diesbezüglich 105 Fälle von Stimm'
ritzenkrampf, die im Laufe der letzten drei Jahre von ihm beobachtet
wurden. Davon zeigten 61 = 58% manifeste Tetanie (spontane carpo-
pedale Spasmen) oder doch sogenannte obligate Latenzsymptome
(Trousseau), während bei den anderen 44 Fällen von Laryngo¬
spasmus = 42°/o theils nur Steigerung der mechanischen Nervenerreg¬
barkeit constatirt werden konnte (bei 38 Fällen = 36%), theils über¬
haupt kein Zeichen der Tetanie zur Zeit der Untersuchung sich vor¬
fand; diese letzte Gruppe umfasste nur 6 Fälle = 5'7 % aller Fälle
von Stimmritzenkrampf. Ganghofner weist darauf hin, dass an
der von ihm geleiteten Anstalt auch in den vorangegangenen Jahren
ganz ähnliche Verhältnisse bezüglich des Laryngospasmus und der
Tetanie sich ergeben haben. Nach seiner Auffassung seien jedoch die
38 Fälle mit blosser Steigerung der mechanischen Erregbarkeit auch
der Tetanie zuzuzählen, so dass dann von 105 Fällen von Laryngo¬
spasmus 99 = 94% Tetaniesymptome aufweisen, beziehungsweise zur
Tetanie gehören.
Aus der Publication von Loos schliesst Ganghofner, dass
in Graz bezüglich des ambulatorischen Materiales ähnliche Verhältnisse
bestehen.
Ganghofner will keineswegs behaupten, dass es bei Kindern
keinen Laryngospasmus ohne Tetauie gibt, oder dass gelegentlich der
Stimmvitzenkrampf nicht auch aus anderen Ursachen zu Stande kommt;
doch muss er nach seiner Erfahrung die Coincidenz von Stimmritzen¬
krampf und Tetanie als Regel ansehen und das Vorkommen von
Stimmritzenkrampf ohne Zeichen von Tetanie als seltene Ausnahme.
Die innige Beziehung dos Stimmritzenkrampfes zur Tetanie zeigt sich
auch, wenn man die Frage umkehrt und fragt, wie oft findet sich
Laryngospasmus bei Kindern der ersten Lebensjahre, die irgendwelche
Symptome der Tetanie aufweisen. Ganghofner zählt unter
130 Fällen von Tetanie der letzten Jahre an seiner Anstalt 99 Fälle
von Laryngospasmus = 76%, in früheren Jahren ergaben sich für die¬
selbe Anstalt 63—76%. Bei dem Grazer Materiale scheinen sich
Laryngospasmus und Tetanie fast vollständig zu decken.
Unter Hinweis auf den Umstand, dass auch Eklampsie den
Stimmritzenkrampf häufig begleitet, vertritt Ganghofner die auch
von Esche rieh acceptirte Auffassung, dass es sich bei all diesen
zur Tetanie gehörigen Krampfformen um Abstufungen ein und desselben
Krankheitszustandes handelt.
Fast alle Kinder mit Laryngospasmus waren rachitisch, nämlich
96%, bei der Mehrzahl wurde ein guter Ernährungszustand, häufig
jedoch pastöser Habitus, bleiche Gesichtsfarbe und Status lymphatiers
constatirt und in 81 % der Fälle fanden sich — im Gegensatz zu den
Beobachtungen der Grazer Schule — mehr weniger ausgesprochene
gastro-intestinale Störungen. Diätetische Behandlung hatte häutig
einen günstigen Einfluss auf die Anfälle von Stimmritzenkrampf, doch
versagte sie in anderen Fällen. Bei gleichzeitiger Phosphor behänd -
lung wurden anscheinend bessere Resultate erzielt, obgleich es auch da
Misserfolge gab und bei einem neuerlichen Auftreten von Diarrhöen
recidivirten die Stimmritzenkrämpfe trotz fortgesetzter Phosphordai-
reichung.
Wenn auch die gastrointestinalen Störungen als auslösendes
Moment wirken können, so erscheinen sie doch nicht als das 1 litnni'
in dem ganzen Krankheitszustand, als die eigentliche Krankheitsursache,
sie stellen sich vielmehr dar als eine Begleiterscheinung der schon vor¬
handenen Krankheit, deren Wesen wohl als eine Art von Intoxieutn n
418
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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aufzufassen ist, wahrscheinlich zusammenhängend mit Anomalien des
Stoffwechsels.
IV. Ilochsinger (Wien) : U e b e r Tetanie und t e ta¬
li ie ähnliche Zustände bei Kindern der ersten Lebeus-
woche n.
Eigentümliche Veränderungen im Tonus der Extremitätenmus-
culatur kranker, insbesondere schwer darmkranker Säuglinge früher
Lebensperioden waren schon älteren Autoren bekannt, aber erst von
Zappe rt — wenigstens anatomisch — etwas eingehender gewürdigt
worden. Hie meisten pädiatrischen Forscher subsumirten das dabei
zu beobachtende Krankheitsbild — krankhafte Faustbildung
un d eine der Tetaniestellung der Hand ähnliche
permanente Flexion derselben — unter den Begriff der
Tet anie (Arthrogryposis), wiewohl mit Ausnahme des letzt¬
erwähnten Symptomes, der Contracturstellung der Hand, auch nicht
einmal die allergeringste Aehulichkeit zwischen der zu erörternden
Säuglingskrankheit und der Tetanie besteht.
Die permanenten tonischen Extremitätenkrämpfe, das Hauptsym¬
ptom der Erkrankung, sind nach Meinung des Vortragenden nichts
Anderes als die höchste Steigerung einer auch im physiologischen Zu¬
stande der Neugeborenen vorliegenden Flexorenhypertonie. Beim Neu¬
geborenen und jungen Säugling besteht eine gewisse Neigung zu
tonisch enBeugespasmen, die bereits bei einfachen psychischen
Erregungen zum Vorschein kommen kann und zahlreiche Uebergänge
zur pathologischen Myotonie der Neugeborenen, wie Hoch singer
sie nennt, aufweist.
Die pathologische Myotonie der Neugeboren Hoch singer’s
Nomenclatur ist in vielen Fällen charakterisirt durch ein dem Trous-
s e a u’schen Symptom der Tetanie ähnliches, durch Compression des
Sulcus bicip. int. hervorrufbares Krampfphänomen — das Faust¬
phänomen — , das alle Grade von der halben Faustbildung mit
eingeschlagenem Daumen bis zur completen tonischen Faustcontractur
mit vollständig flectirtem, opponirtem, senkrecht eingeschlagenem oder
zwischen zweitem und drittem Finger durchgepresstem Daumen zeigen
kann. Es findet sich am häufigsten bei Kindern der ersten
Lebens Wochen mit gastrointestinalen Störungen, lange dauernden
entzündlichen Dermatosen und Congenitalsyphilis.
Die betreffenden Kinder zeigen meist schon im Ruhezustände
eine intensivere Flexorenhypertonie, nicht selten starre spastische
Extremitätenhaltungen (Dauerspasmen), wobei die Handstellung den
Typus des Faustphänomens (Schreibfederhaltung, Tetaniestellung)
zeigte. Die Dauerspasmen sind schmerzlos, permanent und unver¬
ändert fortbestehend; die befallenen Kinder zeigen kein Facialis*
phänomen.
Escherich’s Pseudotetanus zählt Hochsinger unbe¬
dingt der von ihm sogenannten Myotonie zu. Dieselbe ist kein primäres
Leiden, sondern nur der Ausdruck einer erhöhten Vulnerabilität des
Rückenmarkes. Ihre Entwicklung wird begünstigt durch die ange¬
borene Muskelhypertonie und Krampftendenz des Neugeborenen. Ihre
Contracturen sind persistent, schmerzlos, treten niemals attaquenweise
auf, die Muskelsteifigkeit entwickelt sich allmälig. Sie recidivirt nicht,
beruht nie auf Rachitis, wie die echte Kindertetanie, florirt daher auch
nicht im Frühling, ist vielmehr in der heissen Sommerszeit, ent¬
sprechend der llauptfrequenz der Darmkatarrhe, am häufigsten.
Das Faustphänomen ist ein directer Rückenmarksreflex,
steht in inniger Beziehung zu der erwähnten physiologischen Flexoren¬
hypertonie und ist genetisch gleichzuhalten dem Trousseau’schen
Phänomen, dessen Beweiskraft in Bezug auf Tetanie
für die ersten Lebensmonate nun eine erhebliche
Einschränkung erfahren dürfte. Das Faustphänomen kommt
niemals bei vollkommen normalen Neugeborenen oder Säug¬
lingen zum Vorschein, liess sich an dem von Ilochsinger im dies¬
jährigen Sommer beobachteten Materiale bei circa 60% der kranken
Kinder des ersten Lebensquartales hervorrufen, tritt nie bei älteren
Säuglingen auf, ist — immer gleich den Myotonien — weder an die
Jahreszeit noch an rachitische Veränderungen des Skeletes gebunden.
Bei den erkrankten Kindern zeigte sich kein Facialphänomen, sowie
keine mechanische oder galvanische Uebererregbarkeit. Laryngospasmus
und Eklampsie fehlen stets.
Die Reflexe erscheinen nur in schweren Fällen von Dauerspasmen
bedeutend herabgesetzt.
Ein gewisser Grad von pathologischer Myotonie, sowie die Er-
i egbarkeit des Faustphänomens sind fast regelmässige Begleiterschei¬
nungen der congenitalen Frühsyphilis der Neugeborenen und jener
Säuglinge, welche den dritten Lebensmonat noch nicht überschritten
haben. Die directe Abhängigkeit der Myotonie von der Syphilis wird
durch die prompte Wirkung der antiluetischen Therapie erwiesen.
Die anatomische Grundlage der Myotonie dürfte in den
zuerst von Zapp er t gefundenen M a r c h i- und Nissel’schen De¬
generationen des Säuglingsrückenmarkes liegen, welche die Vorder¬
wurzeln und Vorderhornzellen betreffen und wohl in Folge toxischer
oder nutritiver Störungen des Nervengewebes im Verlaufe schwerer
Krankheiten entstanden siud. Das anatomische Bild deckt sich voll¬
ständig mit den von Ilochsinger beobachteten klinischen Er¬
scheinungen.
Die Myotonien Hochsinger's können in vier Gruppen ein-
getheilt werden:
1. Die Myotonia physiologica neonatorum: leichte
Rigidität der Extremitätenbeuger, Tendenz zu flectirter Finger- und
Zehenhaltung. Vollkommenes Wohlbefinden des Säuglings.
II. Die pathologische Myotonie ersten Grades:
Erregbarkeit des Faustphänomens, Flexorenhypertonie.
III. Die Myotonie zweiten Grades (M. spastica perstans) :
Faustphänomen, permanente Flexionskrämpfe der Hände und Fiisse
(Arthrogryposis, Spasmus carpopedalis perstans), Versteifungen ver¬
schiedener Extremitätenbeuger. Bei schweren Darm- und Hautkrank¬
heiten, hereditärer Lues, Verbrennungen.
IV. Pseudotetanus: Uebergreifen des myotonischen Pro¬
cesses auf Rumpf-, eventuell Gesichtsmusculatur. Sonst wie III.
Discussion: 1. Esche rich (Graz) : In dem unklaren Krank¬
heitsbilde der Krämpfe sondert sich eine Gruppe, bei welcher sich
tetanische Symptome finden. Wir sind daran gewöhnt, bei jedem mit
Eklampsie eingebrachten Kinde darauf zu prüfen und finden dieselben
recht häufig. Die eklamptischen Zufälle alterniren mit laryngospastischen
Anfällen. Sie kommen zu gewissen Zeiten besonders häufig vor. Betreffs
der Aetiologie steht Esche rieh auf dem Standpunkt, dass eine
Stoffwechselalteration zu Grunde liegt, und weist auf das häufige Vor¬
handensein des Status thymicus hin, bei dem ja wohl das Substrat einer
Stoffwechselanomalie angenommen werden darf.
2. Soltmann (Leipzig) hält an der von ihm erwiesenen
(v. Trschanoff, M a r c a c c i, V a c i g n i) erhöhten Reflexdisposition
der Neugeborenen bei Abwesenheit der corticalen Centren und physio¬
logischen Spasmophilie fest. Das ist die Causa physiologica int., aber
zum Zustandekommen des Krampfes, der Eklampsie selbst, gehört noch
eine Causa pathologica. Der H e n o c h’sche von T h i e m i c h angeführte
Fall beweist für die Erregbarkeit der Rinde und Ausgang des Krampfes
von dort nichts, da bei der Aetiologie des Falles subcorticale Blutungen
die Ursache sein können. Für die Tetanie hat physiologisch aller¬
dings das physiologische Verhalten der Muskeln der Neugeborenen auch
ihre Wichtigkeit, da das Myogramm des Muskels sich bei geringem
Erhebungsmaximum durch die Abflachung des Gipfels der Curve und
zunehmende Streckung auszeichnet, und der Muskel länger im Maxi¬
mum seiner Contraction verharrt. So kommen klonisch-tonische Krämpfe
so häufig vor, natürlich auch bei der Tetanie stets auf Grund eines
pathologischen Momentes, welches infectiös die Tetanie bedingt. Aber
wenn aus dem Laryngospasmus eine Tetanie entsteht, so ist dies nur
als eine Steigerung des Krampfes unter dem Einfluss
der Apnoe bei Glottisverschluss durch die Stauung im
Lungenkreislauf und Gehirn und als eine C02-Anhäufung entsprechend
den Experimenten von L a n d o i s, Hermann, Nasse u. A. auf¬
zufassen.
3. Pott (Halle) hat bei der Aetiologie der Krämpfe des Kindes¬
alters in den Vorträgen den Hinweis auf die hereditäre Belastung ver¬
misst. Nach seiner Beobachtung entstammen die mit Tetanie behafteten
Kinder recht häufig Eltern, wo psychische, epileptische Belastung oder
Alkoholmissbrauch vorhanden war.
(Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag, den 4. Mai 1900, 7 Uhr Abends,
unter dem Vorsitze des Herrn Hofr. Chrobak
staUfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Prof. Winternitz: Demonstration.
2. Dr. C. Sternberg: Demonstration anaerober Aktinomycesculturen.
3. Dr. R. Kienböck: Demonstration mehrerer Fälle von mittelst
Röntgen-Strahlen entdeckten und zum Theil daraufhin operativ ent¬
fernten Fremdkörpern.
4. Dr. Alexander: Ein neues zerlegbares Mittelohrmodell zu Unter¬
richtszwecken.
Vorträge haben angemeldet die Herren Professoren: A. Politzer,
Weinlechner, Schnabel, A. Julies, Röthi, Fein, Englisch und
Wertheim.
Bergmeister, Pal tauf.
Verantwortlicher Redaeteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumiiller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
. -■ ®
Die „Wiener klinische
Wochenschrift“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von minde¬
stens zwei Bogen Gross¬
quart.
Zuschriften für die Redac¬
tion sind zu richten an
Dr. Alexander Fraenkel,
IX/3, Maximilianplatz,
Günthergassei. Bestellun¬
gen und Geldsendungen an
die Verlagshandlung.
4 . - ■■■■ - — ©
Redaction :
Telephon Nr. 3373.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, O. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner,
M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann,
R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt, A. v. Vogl,
J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gussenbauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Rediffirt von Dr. Alexander Fraenkel.
Abonnementspreis
jährlich 20 K = 20 Mark.
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tions-Aufträge für das In-
und Ausland werden von
allen Buchhandlungen und
Postämtern, sowie auch von
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nommen. — Abonnements,
deren Abbestellung nicht
erfolgt ist, gelten als er¬
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XIXI. Jahrgang.
Wien, 10. Mai 1900.
Mr. 19.
I IST 33! -A. X-. T :
I. Originalartikel : 1. Ueber endemischen und sporadischen Cretinismus
und dessen Behandlung. Von Prof. Wagner v. Jauregg.
2. Aus dem Ospedale Civico in Triest. Ein Fall von cerebraler
Kinderlähmung mit wechselständiger Abducensparalyse. Von Dr.
Eduard M e n z.
3. Ueber die Nachkommenschaft der Hereditärsyphilitischen. Von
Prof. E. Finge r. (Schluss.)
4. Zur Frage des Bacteriengehaltes der Harnröhre. Replik von Dr.
Schenk und Dr. Auster liz, Assistenten der Klinik Säuger.
5. Bemerkungen zu vorstehender Replik. Von Dr. Rudolf Savor.
II. Feuilleton: Creirung vou Zahnärzten durch das k. k. Ministerium des
Innern. Von Dr. Rudolf Weiser.
(Alle Rechte Vorbehalten.)
III. Referate: I. Die Localisation der psychischen Thätigkeiten im Gehirn.
Von Dr. Bernli. H o 1 1 ä n d e r. II. Vorlesungen über den Bau
der nervösen Centralorgane des Mensclieu und der Thiere. Von
L. E d i n g e r. HI. Die Rückenmarksnerven und ihre Segment¬
bezüge. Von Dr. R. Wich mann. IV. Atlas des gesunden und
kranken Nervensystems nebst Grundriss der Anatomie, Pathologie
und Therapie desselben. Von C h r i s t f r. Jakob. V. Die psychi¬
atrischen Aufgaben des Staates. Von Dr. Emil Kr ä pel in.
Ref. Obersteiner.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
Ueber endemischen und sporadischen Cretinis¬
mus und dessen Behandlung.
Von Prof. Wagner v. Jauregg.
Eine der glänzendsten Errungenschaften auf dem Ge¬
biete der Therapie war in neuerer Zeit unleugbar die Schild¬
drüsenbehandlung, nämlich die Methode, Krankheiten, die auf
mangelhafter Function der Schilddrüse beruhen, durch Fütte¬
rung mit Schilddrüsensubstanz zu bekämpfen. Mit Befriedigung
können wir auf die Entstehungsgeschichte dieser Entdeckung
zurückblicken. Wir sehen, wie von experimentellen Ergeb¬
nissen ausgehend, eine Reihe von Forschern in folgerichtigem
Denken einen Schritt um den anderen vorwärts machte, bis
wir den dermaligen Stand der Scliilddrüsenbehandlung er¬
reichten. Ja man kann jetzt schon sagen, dass der heutige,
keineswegs unbefriedigende Stand der Frage gewiss nicht der
definitive bleiben wird, indem durch das Eingreifen der Chemie
ein weiterer Fortschritt zum Mindesten schon an gebahnt ist.
Ueberblicken wir einmal kurz die Entwicklung der
Schilddrüsentherapie, so ergibt sich Folgendes. An den von
Schiff und Anderen gelieferten Nachweis von den schädlichen
Folgen der Schilddrüsenexstirpation schloss sieh bald die Vor¬
stellung, dass es der Ausfall der Schilddrüsenfunction sei, der
diese Störungen bedinge. Die Richtigkeit dieser Vorstellung
war als bewiesen anzusehen, als es gelang, die schädlichen
Folgen der Schilddrüsenexstirpation zu bannen dadurch, dass
man die au eine andere Körperstelle transplantirte Schilddrüse
zur Finheilung und Vascularisation brachte, ein Versuch, den
schon Schiff angestrebt und den zuerst Eiseisberg1) in
einwandfreier Weise ausgeführt hat.
Die Vermuthung, dass dabei gewisse, in der Schilddrüse
erzeugte und in den Kreislauf gelangende Stoffe das Wirk¬
same sein dürften, veranlasste hierauf andere Forscher
dazu, die schädlichen Folgen der Schilddrüsenexstirpation
durch subcutane oder intravenöse Injectionen von Schilddrüsen-
extracten zu bekämpfen, ein Versuch, den zuerst Murray2)
am Menschen machte.
Den nächsten Schritt that Mackenzie3), indem er
mit Erfolg versuchte, die subcutane Einverleibung von Scliild-
drüsensubstanz durch die per os erfolgende zu ersetzen '), bis
die Anfertigung von trockenen, aus Schilddrüsensubstanz her¬
gestellten Präparaten (Tabletten) dieser Behandlungsmethode
ihre heutige Gestalt gab.
Die Zukunft endlich gehört den Versuchen der Chemiker,,
die, wie Baum an n, Fraenkel, Notlcin u. A., bestrebt
waren, die wirksame Substanz aus der Drüse isolirt darzu¬
stellen. Wenn auch über die bisherigen Resultate dieser
Forscher derzeit ein endgiltiges Urtheil nicht gefällt werden
kann, so ist doch sicher, dass der von ihnen eingeschlagene
Weg der richtige ist und voraussichtlich bald vou Erfolg ge¬
krönt sein wird.
Die ersten Triumphe feierte diese Behandlungsmethode
bei jener Erkrankung, als deren Grundlage Ausfall der Schild-
drüsenf unction durch Erkrankung dieses Organs (meist Schwund)
ausser allen Zweifel gestellt ist, beim Myxödem der Erwachsenen,
der Cachexie pachydermique der französischen Schriftsteller.
Die Anzahl der mit Erfolg behandelten Fälle dieser Er¬
krankung ist eine sehr bedeutende^ schon 1S95 konnte Heins-
heimer5) aus der Literatur 150 Fälle zusammenstellen. Es
ist die Wirksamkeit der Schilddrüsenbehandlung hei dieser
2 ) Brit. med. Journ. 1891.
:i) Brit. med. Journ. 1892.
4) Dass das Secret der Schilddrüse vom Magen und Darin aus wnK-
sam bleibt, wird uns umsoweniger wundern, wenn wir sehen, dass bei ge¬
wissen Wirbelthieren (Amphioxus, Fischen) die Schilddrüse einen Aus¬
führungsgang besitzt, durch den sie ihr Secret in den Verdauungstract ent¬
leert (M u r r a y). ...
5) Heins heimer, Entwicklung und gegenwärtiger
Schilddrüsenbehandlung. München 1895.
Stand der
') Wiener klinische Wochenschrift. 1892.
420
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 19
Erkrankung schon eine so anerkannte, dass es sich kaum mehr
verlohnt, gewöhnliche Fälle der Art mitzutheilen.
Dem Myxödem am nächsten steht die Cachexia strumi-
priva. auch operatives Myxödem genannt, und der sporadische
Cretinismus, der ziemlich allgemein als infantiles Myxödem
aufgefasst wird. Es ist daher erklärlich, dass auch bei diesen
Krankheiten günstige Erfolge der Schilddrüsentherapie beob¬
achtet und mitgetheilt wurden. Eine ausführliche Schilderung
>ler Behandlungserfolge bei diesen Erkrankungen folgt später.
Dem gegenüber muss es befremden, dass von einem
Leiden, das dieser Krankheitsgruppe so nahe steht, von dem
endemischen Cretinismus bisher fast keine Erfolge der Schild¬
drüsentherapie gemeldet wurden.
Ich habe vor zwei Jahren in einem Vorträge 6) den Vor¬
schlag gemacht, in Gegenden, die vom endemischen Cretinis¬
mus heimgesucht sind, systematische Versuche mit Schild¬
drüsenfütterung anzustellen ; es ist mir aber weder aus früherer,
noch aus späterer Zeit bekannt geworden, dass ein solcher
Versuch in umfänglicherem Masse wirklich gemacht worden
wäre. Dieser Umstand mag es rechtfertigen, dass ich in Folgen¬
dem nochmals auf diesen Gegenstand zurückkomme.
Bezüglich der Auffassung des endemischen Cretinismus
stehen sich derzeit noch zwei Anschauungen gegenüber. Nach
der einen wäre der endemische Cretinismus nichts Anderes als
infantiles Myxödem. Eine ihrem Wesen nach allerdings noch
unbekannte endemische Schädlichkeit bringt nach dieser An¬
schauung in früher Kindheit eine Erkrankung der Schilddrüse
hervor, die deren Function hochgradig beeinträchtigt oder sogar
aufhebt; die Folge davon ist der Cretinismus. Nach dieser
Theorie wären also aus der Erkrankung der Schilddrüse alle
weiteren Symptome des endemischen Cretinismus, so z. B. auch
der Blödsinn, abzuleiten.
Nach einer anderen Anschauung würde die endemische
Schädlichkeit eine Erkrankung des ganzen Organismus, vor
Allem auch des Gehirns hervorrufen, und die Erkrankung der
Schilddrüse mit ihren Consequenzen wäre nur eine Theil-
erscheinung des Krankheitsbildes.
Dass die Erkrankung der Schilddrüse mit ihrer Con-
sequenz, dem infantilen Myxödem, beim endemischen Creti¬
nismus eine grosse Rolle spielt, kann natürlich auch von den
Verfechtern dieser Theorie nicht in Abrede gestellt werden.
Die ersterwähnte Auffassung wird, wenn ich zunächst
nur die deutsche Literatur berücksichtige, von Kocher7) und
mir8) vertreten; zur zweiten bekennen sich Birch er9) und
Ewald.10 *) Sehen wir, auf welche Argumente sich die eine
und die andere Ansicht stützt.
Die ersterwähnte Theorie des endemischen Cretinismus,
die ich in der Folge kurz die thyreoidale nennen will, gründet
sich vor Allem darauf, dass alle wesentlichen Symptome des
endemischen Cretinismus durch die Beeinträchtigung, respec¬
tive den Ausfall der Schilddrüsenfunction erklärt werden können.
Es ergibt sich das, wenn man die Erscheinungen des endemi¬
schen Cretinismus und jener Erkrankungen, die zweifellos auf
einer Störung der Schilddrüsenfunction beruhen, nämlich des
operativen Myxödems und des spontanen Myxödems der Er¬
wachsenen miteinander vergleicht.
Die wichtigsten Erscheinungen des endemischen Cretinis¬
mus sind:
6) Ueber den Cretinismus. Monatshefte für Gesundheitspflege. 1898,
Bd. XVI. Es hat übrigens diesen Vorschlag unter Anderen auch Ewald
(Die Erkrankungen der Schilddrüse, Myxödem und Cretinismus. Wien 189(5)
gemacht, obwohl er sich gegen die Wirksamkeit dieser Behandlung beim
endemischen Cretinismus skeptisch verhält, was bei seiner Auffassung dieser
Erkrankung nicht anders zu erwarten ist.
7) Zur Verhütung des Cretinismus etc. Deutsche Zeitschrift für Chirur¬
gie. Bd. XXXIV.
8) Ueber den Cretinismus. Mittbeilungen des Vereines der Aeizte in
Steiermark. 1893.
9) Der endemische Kropf und seine Beziehungen zur Taubstummheit
und zum Cretinismus. Basel 1883; ferner: Volkmanu’s klinische Vorträge.
1890, Nr. 357, und: Ergebnisse der allgemeinen Aetiologie, herausgegeben
von Lubarsch und Ostertag. Wiesbaden 1896.
!0) Die Erkrankungen der Schilddrüse, Myxödem und Cretinismus.
Wien 1896.
1. Der Blödsinn.
2. Die Wachsthumsstörung.
3. Die Störung der geschlechtlichen Entwicklung.
4. Die Sprachstörung.
5. Die Gehörsstörung.
6. Die Erkrankung der Schilddrüse.
Prüfen wir nun die einzelnen Symptome der Reihe nach,
ob sie nach der thyreoidalen Theorie erklärt werden können.
1. Der Blödsinn. Dass dem Myxödem der Erwach¬
senen geistige Störungen eigen sind, wird allgemein anerkannt.
Eine Verlangsamung aller psychischen und psychomotorischen
Functionen, ein geistiger Torpor, eine Abnahme des Gedächt¬
nisses und der Aufmerksamkeit ist diesen Kranken eigen, und
dieselben Züge finden wir auch im Blödsinn der Cretins wieder.
Sind es doch ausschliesslich apathische, torpide Formen des
Blödsinns, die wir beim Cretinismus an treffen. Dass beim Myx¬
ödem der Erwachsenen nicht das volle Bild des cretinischen
Blödsinns auftritt, wird uns nicht verwundern können, wenn
wir bedenken, dass in dem einen Falle die Störung der Gehirn¬
function eine bereits entwickelte Psyche trifft, während sie im
anderen Falle schon im Beginne aller psychischen Entwicklung
sich geltend macht.
Der Unterschied schwindet auch sofort, wenn wir, den
sporadischen Cretinismus vorläufig ganz bei Seite lassend, jene
Fälle des operativen Myxödems berücksichtigen, bei denen die
Operation in eine frühe Lebensphase fällt. In derartigen Fällen
entwickelt sich häufig ein Blödsinn, der dem cretinischen von
den Beschreibern vollständig gleich geachtet wird.
2. Die Wachsthumsstörung. Dieselbekommt natür¬
lich beim Myxödem der Erwachsenen nicht zur Beobachtung.
Dagegen finden wir sie beim operativen Myxödem, wenn die
Exstirpation des Kropfes in einer Lebensepoche vorgenommen
wird, in der das Wachsthum noch in vollem Gange ist. Solche
Fälle sind beschrieben worden von Kocher n), Grundier 12),
H. Schmid13), B a i 1 1 a r g e r 14) und Anderen.
Die Wachsthumsstörung beim operativen Myxödem hat
auch ganz dieselben Charaktere, wie beim Cretinismus. Sie
betrifft nicht nur das Längen wachsthum, sondern es kommt
auch durch mangelhafte Entwicklung der knorpelig angelegten
Theile des Schädelskeletes jene den Cretins eigene physio-
gnomische Bildung zu Stande, die durch eine abgeflachte, ein¬
gedrückte Nasenwurzel und durch einen niedrigen Oberkiefer,
also kurze Nase gekennzeichnet ist.
Zudem ist durch Hofmeister15), Eiseisberg16) und
Andere nachgewiesen worden, dass gewisse Thiere, die in neu¬
geborenem Zustande die Exstirpation der Schilddrüse überleben,
wie Lämmer und Ziegen, eine Wachsthumsstörung zeigen, die
der bei den Cretins beobachteten vollständig analog ist.
3. Die Störung der geschlechtlichen Ent¬
wicklung. Auch diese kann beim Myxödem der Erwach¬
senen nicht mehr Vorkommen; immerhin wird bei dieser Er¬
krankung von Störungen der Genitalfunction berichtet, z. B.
Erlöschen des Geschlechtstriebes; bei Frauen vorzeitiges Ein¬
treten der Menopause. Dagegen wird mangelhafte geschlecht¬
liche Entwicklung, auch auf die secundären Geschlechts¬
charaktere sich erstreckend, beim operativen Myxödem beob¬
achtet, wenn die Operation in die Zeit vor der geschlechtlichen
Reife fällt. Mangelhafte Entwicklung der Geschlechtsorgane
konnte ferner auch Eiseisberg bei seinen operirten Thieren
beobachten.
4. und 5. Sprachstörung und Gehörsstörung.
Am wenigsten aufgeklärt ist noch die Beziehung der cretini¬
schen Sprachstörung und der cretinischen Gehörsstörung, die
zusammen den Begriff der endemischen Taubstumm¬
heit ausmachen, zur Erkrankung der Schilddrüse. Die Sprach¬
störung hat man früher meist auf die mangelhafte Gehirnent¬
wicklung der Cretins bezogen (auch Kocher thut dies) und
”) Archiv für klinische Chirurgie. Bd. XXIX.
Beiträge zur klinischen Chirurgie. 1885.
13) Berliner klinische Wochenschrift. 1886.
!4) Annales medico-psych. 1884.
15) Beiträge zur klinischen Chirurgie. 1894.
16) Archiv für klinische Chirurgie. Bd. XLIX.
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
421
sich dieselbe ebenso erklärt, wie die mangelhafte oder fehlende
Entwieklung des Sprachvermögens bei anderen Formen der
Idiotie.
Es soll nun nicht geleugnet werden, dass der Gehirndefect,
der Blödsinn des Cretins auch einen Antheil an seinem Sprach-
defecte habe. Aber der Hauptsache nach ist die Sprachstörung
des Cretins bedingt durch seine Gehörsstörung. Wir finden
bei den Cretins alle möglichen Abstufungen von Gehörs¬
störung bis zur vollständigen Taubheit, und wir finden bei
jenen Cretins, bei denen überhaupt ein Grad von Sprachent¬
wicklung vorhanden ist, ganz dieselbe auf mangelhafter Arti¬
culation beruhende Sprachstörung, wie bei nicht cretinischen
Taubstummen, bei Taubstummen, die nur in Folge localer Er¬
krankung des Gehörorganes nicht ordentlich sprechen gelernt
haben.
Welcher Zusammenhang besteht nun zwischen Erkrankung
der Schilddrüse und des Gehörorganes? Sicherlich ist nicht der
Blödsinn als das Mittelglied anzusehen, wie manche Autoren
meinen, welche die Schwerhörigkeit des Cretins als mangel¬
hafte Sinnesfunction in Folge des Blödsinns auffassen wollen,
denn andere Sinnesfunctionen, z. B. der Gesichtssinn, zeigen,
wie Hitschmann t7) nachgewiesen hat, bei den Cretins keines¬
wegs ebensolche Störungen.
Leider bestehen ähnliche systematische Untersuchungen
am Lebenden, wie sie Hitschmann über den Gesichtssinn
der Cretins angestellt hat, nicht auch bezüglich des Gehörs¬
sinnes. Ebensowenig liegen ausreichende anatomische Unter¬
suchungen über das Gehörorgan bei Cretinismus, Myxödem
und verwandten Zuständen vor. Man kann sich daher vorläufig
über den Zusammenhang zwischen Gehörsstörung und Er¬
krankung der Schilddrüse nur hypothetische Urtheile bilden.
Da sei zunächst darauf hingewiesen, dass auch beim
Myxödem der Erwachsenen Gehörsstörungen eine recht häufige
Erscheinung sind. So berichtet das Myxödem-Comite der
Londoner Clinical Society, dass unter 109 von Myxödem be¬
fallenen Erwachsenen bei mehr als der Hälfte eine Abnahme
des Gehörs verzeichnet war. Dazu kommt noch, dass der Defect
bei einer beträchtlichen Zahl von Fällen ein einseitiger war,
was auf eine periphere Ursache hinweist. Der ursächliche Zu¬
sammenhang zwischen Myxödem und Ohrenerkrankung wird
auch noch dadurch nachgewiesen, dass diese Schwerhörigkeit
auf eine Behandlung mit Schilddrüse ebenso wie die anderen
Symptome des Myxödems zur Heilung kommt. I8) Es ist also
anzunehmen, dass der dem Myxödem zu Grunde liegende
Process selbst eine Beeinträchtigung der Gehörsfunction, und
zwar durch eine Schädigung der peripheren Apparate
herbeiführt.
Aber eben um zu ergründen, auf welchem Wege das
geschieht, wäre eine gründliche, fachmännische, an grosssem
Materiale durchgeführte Untersuchung der Gehörsfunction sowohl
beim Myxödem der Erwachsenen, als auch beim endemischen
Cretinismus wünschenswerth. Da eine solche nicht vorliegt,
stehen uns nur Hypothesen zur Erklärung der cretinischen
Taubheit zu Gebote.
Eine solche habe ich schon ausgesprochen in einem 1893
in Graz gehaltenen Vortrage, 19) Die oft zu hörende Angabe,
dass die Schwerhörigkeit des Cretins starke Intensitäts-
schwankungen zeigt, brachte mich auf die Vermuthung, dass
eine Wucherung des adenoiden Gewebes in der Rachenhöhle
der Schwerhörigheit zu Grunde liegen könnte. Es wurde dieser
Befund auch von Professor Habermann in Graz, der auf
meine Bitte zwei Cretins untersuchte, bestätiget; ausserdem fand er
aber in dem einen Falle eine eigentümliche Verfärbung und Ver¬
dickung der ganzen Nasen- und Rachenschleimhaut, so dass er die
Vermuthung aussprach, es könnte eine den äusseren Haut¬
schwellungen analoge Schwellung der Mucosa und Submucosa
im Nasenrachenraume dem Myxödem eigen sein und in ihrer
1 ') Augenuntersuchungen bei Cretinismus, Zwergwuchs und verwandten
Zuständen. Wiener klinische Wochenschrift. 1898.
Kinnicut, New York Med. Record. 1893. — Allen Starr,
Ibidem. — Vulpius, Archiv für Ohrenheilkunde, ßd. XLI.
19) Ueber den Cretinismus, Mittheilungen des Vereines der Aerzte in
Steiermark. 1893.
Fortsetzung auf die Tuben- und vielleicht auch Paukenhöhlen¬
schleimhaut die Schwerhörigkeit verursachen. Es wird übrigens
auch in Fällen von Myxödem Erwachsener eine Schwellung
der Gebilde der hinteren Rachenwand und der Uvula-0), sowie
eine chronische hypertrophische Rhinitis21) beschrieben.22) Aehn-
liche Processe könnten also die cretinische Schwerhörigkeit
verursachen.
Es wäre aber auch möglich,, dass in Veränderungen der
knöchernen Theile des Gehörorganes die Schwerhörigkeit der
Cretins begründet ist. Das Felsenbein entsteht nämlich, wie
die anderen Knochen der Schädelbasis aus einer knorpeligen
Grundlage, und wir wissen bereits, dass bei der cretinischen
Wachsthumsstörung vorwiegend die Bildung von Knochen aus
Knorpelsubstanz beeinträchtigt ist. Es könnte also auch das
im Felsenbein eingeschlossene Gehörorgan in seinen knöchernen
Theilen einer Entwicklungsstörung unterliegen.
Diese Hypothese wird mir nahegelegt durch einen Befund
von Moos und S t e i n br üg g e23), die bei einem cretinösen
Taubstummen im Gehörorgan schwere Veränderungen fanden,
die sie theils für angeboren, theils für erworben halten; unter
den ersteren auch solche, die in Störungen der Knochenbildung
bestehen, z. B. unvollkommene Verknöcherung des Steig¬
bügels und des Canalis Faliopiae. (Dass unvollkommene Ver¬
knöcherungen bei Cretins häufig Vorkommen, werden wir bald
hören.) Uebrigens schreibt auch N i e p c e fils 24) in der pathologi¬
schen Anatomie des Cretinismus: »L’oreille moyenne est atrophiee;
les osselets sont de nature spongieuse«, ohne näher anzugeben,
auf wessen Untersuchungen er sich stützt.
6. Was endlich die Erkrankung derSchilddrüse
anbelangt, finden wir beim Cretinismus zwei anscheinend ein¬
ander entgegengesetzte Zustände, kropfige Entartung des
Organes und Atrophie desselben. Den früheren Autoren (vor
Schiff und Kocher) machte gerade die Erklärung des Um¬
standes, dass zwar bei vielen Fällen Kropf vorhanden ist, bei
anderen aber, und zwar oft sehr ausgesprochenen Fällen von
Cretinismus Kropf fehlt, grosse Schwierigkeiten (dass in diesen
letzteren Fällen nicht blos der Kropf, sondern die Schilddrüse
überhaupt fehlt, hatte man damals nicht genügend beachtet).
Aus diesem Grunde waren manche Autoren geneigt, den Zu¬
sammenhang von Kropf und Cretinismus überhaupt in Zweifel
zu ziehen.25)
Heute wissen wir aber, dass es nur auf die Functions¬
störung der Schilddrüse ankommt, und die kann bei kropfiger
Entartung des Organes ebenso Schaden leiden, wie bei Atrophie
desselben. Ein Mittelding aber, eine nicht atrophische und
nicht strumöse Schilddrüse scheint, nach meinen Erfahrungen
wenigstens, die sich auf mehr als 200 Cretins erstrecken, nicht
vorzukommen.
Wohl aber können Atrophie und Kropf an einem und
demselben Individuum nebeneinander Vorkommen, indem die
Schilddrüse selbst atrophirt ist, während einzelne accessorische
Schilddrüsenläppchen kropfig entartet sind.
In neuerer Zeit sind auch histologische Untersuchungen
der Schilddrüsen von Cretins angestellt worden26), deren Re¬
sultate mit der thyreoidalen Theorie des Cretinismus vollständig
übereinstimmen. Speciell Coulon sagt: »Bei vier Cretinen
20) Middleton, Glasgow, med. Journ. 1894.
21) Kinnicut, Philadelphia med. news. 1893.
23) Nach Hertoghe (Bullet, de l’academie royale des medecines de
Belgique. 1898, XII) sollen sogar alle Myxödem-Kranken adenoide Vege¬
tationen und eine hypertrophische Rhinitis haben, und sollen das sehr früh¬
zeitig auftretende Symptome dieser Erkrankung sein.
23) Zeitschrift für Ohrenheilkunde, Bd. XI.
24) These. Paris 1871.
25) Immerhin hat ein erleuchteter Geist wie Virchow schon tiiih
den wahren Zusammenhang geahnt. Er schreibt in den gesammelten Ab¬
handlungen (pag. 930) nach Erwähnung des Falles von B 1 i z a r d C u r 1 i n g
(des ersten Cretins, bei dem die Ohduction ein vollständiges leiden dei
Schilddrüse ergab): »Gesetzt, dies sei ganz richtig, so folgt doch daraus noch
nichts für die Zufälligkeit der territorialen Combination von Kropf und
Cretinismus, ja man könnte aus dem letzteren Falle eher etwas dagegen a >
leiten,- indem die Function der Schilddrüse bei uns
gedehnter Erkrankung ebenso defect sein könnte, als
beivollkommenemMangel«. . . „
86) Han au, Verhandlungen des X. internationalen medicinnschen Con¬
gresses. Berlin 1891, Bd. II; Coulon, Virchow’s Archiv. Bd. CXLVil.
422
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 19
und einem geistig gut entwickelten Individuum mit körperlich
cretinischcm Habitus ist also die Schilddrüse nicht vollständig
zu Grunde gegangen, aber ihr Gewebe zeigt Veränderungen,
die alle darauf hindeuten, dass sie ihre Function eingestellt oder
wenigstens nur auf ein äusserst geringes Mass eingeschränkt hat.«
Gegen die thyreoidale Theorie des Cretinismus kann es
nicht als Beweis angeführt werden, wie dies B i r c h e r 27) that,
dass in einzelnen obducirten Fällen noch normales, anscheinend
functionsfähiges Schilddrüsengewebe vorhanden war. Es gibt
ja die verschiedensten Intensitätsstufen des Cretinismus, wobei
ich als Gradmesser nicht den Blödsinn gelten lassen kann, denn
derselbe geht den übrigen Symptomen des Cretinismus nicht
vollkommen parallel; zudem hängt er auch theilweise von er¬
ziehlichen Einflüssen ab.
Als massgebende Gradmesser des Cretinismus sehe ich
vielmehr die Wachsthumsstörung, die Störung der Geschlechts¬
entwicklung und das Myxödem an. Man findet nun gerade in
den höchsten Graden des Cretinismus ausnahmslos Fehlen,
respective hochgradige Atrophie der Schilddrüse. Wenn aber in
leichteren Fällen von Cretinismus neben entarteten Theilen der
Schilddrüse auch noch normales, anscheinend functionsfähiges
Schilddrüsengewebe gefunden wird, so erklärt das nur, warum
der Cretinismus in dem betreffenden Falle nicht höhere Grade
erreicht hat. Gegen die thyreoidale Theorie des Cretinismus
würde nur ein Befund einer in toto normalen, weder kropfig
entarteten, noch atrophirten Drüse sprechen. Ein solcher Befund
ist aber bisher nicht erhoben worden.
Wir haben also gesehen, dass alle wesentlichen Symptome
des Cretinismus aus der Erkrankung der Schilddrüse erklärt
werden können, vorausgesetzt, dass diese Erkrankung zu einer
hochgradigen Functionsstörung der Drüse führt.
Den im gegebenen Falle vorhandenen Grad der Functions¬
störung können wir allerdings nicht direct nachweisen, da uns
das Secret der Schilddrüse nicht zugänglich und daher auch
nicht quantitativ bestimmbar ist, wir können ihn aber nur aus
dem Auftreten und der Intensität der Symptome, von denen
die Functionsstörung der Schilddrüse gefolgt ist, erschliessen.
Sehen wir nun die Einwände an, die gegen diese thyreoidale
Theorie des Cretinismus gemacht worden sind.
Ewald28) gibt die Identität von sporadischem Cretinismus
und infantilem Myxödem zu; er stellt aber in Abrede, dass sich
endemischer Cretinismus und infantiles Myxödem vollständig
decken. Er ist daher bemüssigt, Unterscheidungsmerkmale
zwischen sporadischem und endemischem Cretinismus anzugeben.
Es lässt sich aber nachweisen, dass diese Unterscheidungs¬
merkmale nicht zutreffen.
Ewald statuirt in erster Linie einen durchgreifenden
Unterschied im Knochenwachsthum, vor Allem im Wachsthum
der Schädelknochen (prämature Synostose); der rasche Aufbruch
der Knorpel- Matrix beim endemischen Cretinismus, das lange
Offenbleiben der Fontanellen und der Nähte beim sporadischen
Cretinismus. Dieser von Ewald angegebene Unterschied
besteht thatsächlich nicht. Nachdem schon früher vielfach gegen
die nicht von Virchow selber verschuldete aber durch seinen
Befund einer prämaturen Tribasilarsynostose veranlasste Lehre
von der frühzeitigen Nahtverknöcherung beim endemischen
Cretinismus Bedenken geäussert worden waren, hat neuerlich
Langhans29) auf Grund eingehender Untersuchungen fest¬
gestellt, dass Ausbleiben von physiologischen Verknöcherungen,
abnorm langes Offenbleiben von Nähten beim endemischen
Cretinismus ein sehr häufiger Befund sei. Dagegen bezweifelt
er, dass die beschriebenen Fälle prämaturer Naht- Synostose,
die beschrieben wurden und die nur bei Neugeborenen vor¬
kamen, überhaupt dem endemischen Cretinismus angehören.
Er weist diese Fälle vielmehr der Chondrodystrophie zu
und resumirt: »Bis jetzt ist bei keinem Cretin die vorzeitige
Verknöcherung irgend einer Knorpelfuge nachgewiesen. Die
knorpelig vorgebildeten Knochen wachsen sehr langsam in die
2 ') Lubarsch und Ostertag-, I. c.
' 3 ) Die Erkrankungen der Schilddrüse, Myxödem und Cretinismus.
NothnageTs Handbuch. "Wien 1896.
29) Virchow’s Archiv, Bd. CXLIX.
Länge, die Epiphysen bleiben niedrig. Die Ossificationsgrenze
schreitet sehr langsam vor, die Ossificationskei ne in den Epi¬
physen treten spät auf und die Epiphysenscheiben erhalten sich
lange über den normalen Termin hinaus. Reste derselben sind
noch im 45. Jahre nachzuweisen.«
Ich möchte das Vorkommen prämaturer Synostosen beim
Cretin nicht so bestimmt in Abrede stellen wie Langhans;
denn ich halte die Frage der Zugehörigkeit der Chondro¬
dystrophie (Rachitis foetalis), der solche prämature Synostosen
eigen sind, zum Cretinismus für eine offene. Ich halte es für
möglich, dass wir in der Chondrodystrophie nur eine Varietät
der thyreopriven Wachsthumsstörung vor uns haben, respective
dass wenigstens ein Theil der .als Chondrodystrophie be-
sclniebenen Fälle auf Grundlage des Athyreoidismus zuStande
kommt. Es ist möglicher Weise nicht von entscheidender Be¬
deutung, ob die Naht, früh verknöchert oder lange persistirt;
für das Wesentliche des Processes möchte ich vielmehr in
beiden Fällen die mangelhafte Bildung von Knochen aus
Knorpel, das mangelhafte Wachsthum des Knochens ansehen.
Aber sei dem wie immer, soviel ist sicher, dass dieses
erste von Ewald angeführte Unterscheidungsmerkmal zwischen
sporadischem und endemischem Cretinismus nicht zu Recht
besteht.
Viel Aufklärung ist in dieser Frage von der Untersuchung
lebender Cretins mittelst Röntgen-Strahlen zu erwarten und
thatsächlich ist dieser Weg schon betreten worden* So hat
Hofmeister30) einen Fall von Cretinismus beschrieben,
bei dem sich mangelhafte Verknöcherung an den untersuchten
Skelettheilen nachweisen liess. Kürzlich hat ferner Wyss31)
eine grössere Anzahl von Cretins mit Röntgen-Strahlen unter¬
sucht und fasst seine Resultate in folgende Punkte zusammen:
»1. Bei allen beobachteten Cretinen und Cretinoiden von
den verschiedensten Altern und Graden ist nirgends eine An¬
deutung von vorzeitiger Verknöcherung zu bemerken, weder
von vorzeitigem Auftreten von Knochenkernen, noch von früh¬
zeitiger Synostose.
2. Alle Individuen, die nach Herkunft und körperlichem
und geistigem Befund zweifellos als Cretinen oder Cretinoide
zu betrachten sind und die noch im Entwicklungsalter oder
wenige Jahre darüber stehen, zeigen eine Hemmung in der
Verknöcherung des knorpligen Skeletes, die sich in späterem
Auftreten der Knochenkerne und in langsamerem Verschwinden
der Epiphysenfugen äusserte.
3. Der Unterschied in der Ossification gegenüber der
Norm beträgt in der Regel nur wenige Jahre, wenigstens für
die makroskopische Untersuchung und die noch gröbere
Methode der Röntgen-Strahlen, es ist somit nur ausnahmsweise
nach 25 Jahren noch ein abnormer Befund zu erwarten.«
Durch das häufige Ausbleiben der Verknöcherungen bei
den Cretins wird es auch erklärlich, dass, wie ich schon in
einem früheren Aufsatze 32) mittheilte, und wie später noch
erörtert werden wird, bei Cretins häufig noch ein merkliches
Längenwachsthum der Knochen stattfindet in einem Lebens¬
alter, in dem das Längenwachsthum normaler Menschen schon
lange abgeschlossen zu sein pflegt.
In schöner Uebereinstimmung mit den eben angeführten
Forschungsresultaten steht die Thatsache, dass dieselbe Störung,
mangelhafte Verknöcherung und abnorm lange Persistenz der
Knorpelfugen bei zweifellosen Fällen von thyreopriver Wachs¬
thumsstörung sich vorfindet. So hat Nauwerck33) bei einem
28jährigen Manne, dem im zehnten Lebensjahre die Schild¬
drüse entfernt worden war und dessen Wachsthum seither
still gestanden hatte, im Humerus sowie im oberen Femurkopfe
und an dessen Trochanteren die Epiphysenscheiben noch vor¬
gefunden. Ebenso hat Hofmeister34) nach Schilddrüsen¬
exstirpationen an neugeborenen Kaninchen mangelhaftes Längen¬
wachsthum mit Erhaltenbleiben der Epiphysenscheiben con-
statirt.
30) Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgen-Strahlen. Bd. I.
31) Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgen Strahlen. Bd. III.
32) Mittheilungen des Vereines der Aerzte in Steiermark. 1893.
33) Mittheilungen aus der chirurgischen Klinik zu Tübingen. I.
34) Beiträge zur klinischen Chirurgie. 1894, Bd. XI.
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
423
Ewald führt ferner als Unterschied an das fehlende
oder wenigstens nicht besonders ausgesprochene Myxödem beim
endemischen Cretinismus im Gegensätze zu den sporadischen
Fällen.
Auch dieses Unterscheidungsmerkmal existirt thatsächlich
nicht. Jeder wirkliche Kenner des endemischen Cretinismus
wird zugeben, dass man bei dieser Erkrankung Fälle von so
vollkommen ausgebildetem Myxödem sehen kann, wie man es
beim sporadischen nur je zu Gesicht bekommt. Freilich findet
man es nicht in allen Fällen so ausgesprochen ; das hat aber
einen zweifachen Grund. Erstens gibt es beim Cretinismus die
verschiedensten Abstufungen der Intensität, Fälle, in denen
die Folgen des Athyreoidismus aufs Höchste entwickelt sind,
und solche, in denen dieselben nur angedeutet sind. Bei den
letzteren wird natürlich auch das Myxödem nicht in so präg¬
nanter Ausbildung vorgefunden. Zweitens habe ich schon in
meinem mehrmals erwähnten Vortrage35) hervorgehoben, dass
man das Myxödem in voller Ausprägung nur bei jugendlichen
Cretins findet; dies scheint darin begründet zu sein, dass im
späteren Alter die Hautschwellungen schwinden, wie ja auch
beim Myxödem der Erwachsenen ein späteres, atrophisches
Stadium beschrieben wird.
Ewald führt ferner als Unterschied an den Verlauf der
Erkrankung, die beim endemischen Cretinismus nach einer
gewissen Zeit stationär bleibt, mit langer Lebensdauer einher¬
gehen kann, während sie beim sporadischen Cretinismus pro¬
gredient ist und meistens zu frühem Tode führt. So soll kein
in den letzten Jahren bekannt gewordener Fall das dritte
Lebensdecennium überschritten haben.
Es ist das erstens nicht ganz richtig, denn es sind auch
Fälle von sporadischem Cretinismus beschrieben worden, die
ein höheres Alter als 30 Jahre erreicht haben, so von Bour¬
neville, Cousot, Bramwell, Thomson, Rushton Parker,
Osler und Anderen.
Ferner ist aber noch ein anderer Umstand in Betracht
zu ziehen. Die beschriebenen Fälle von sporadischem Cretinis¬
mus sind fast ausschliesslich solche, bei denen die Folgen des
Ausfalles der Schilddrüsen function hochgradige, wo also der
Athyreoidismus ein möglichst completer war. Das ist, wie schon
erwähnt, beim endemischen Cretinismus nicht immer der Fall.
Wenn wir aber nur jene Fälle von endemischem Cretinismus
berücksichtigen würden, bei denen der Athyreoidismus ein
ebenso vollständiger ist, wie bei den Fällen von sporadischem
Cretinismus, so würde der von Ewald angegebene Unter¬
schied in der Lebensdauer der Erkrankten schwinden, denn
diese Cretinismen höchsten Grades (den höchsten Grad auf die
Erscheinungen des Athyreoidismus bezogen, nicht auf den Blöd¬
sinn, denn die beiden Symptome gehen, wie gesagt, nicht immer
parallel) scheinen auch keine lange Lebensdauer zu haben,
da die Vorgefundenen meist auch im jugendlichen Alter stehen.
Es ist ja allerdings eine Erscheinung, die einer Erklärung
bedarf, dass vom sporadischen Cretinismus immer nur Fälle
mit hochentwickeltem Athyreoidismus beschrieben werden. Es
ist aber nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich, dass
der uns unbekannte, die Schilddrüsenfunction schädigende
Process beim sporadischen Cretinismus ein anderer ist, als beim
endemischen: dass er bei ersterem immer eine hochgradige
Functionsstörung der Schilddrüse setzt, während bei letzterem
vielfach auch leichtere Grade Vorkommen. Es dürfte also ein
Unterschied in der Aetiologie der Schilddrüsen¬
erkrankung bei den beiden Formen des Cretinismus vor¬
handen sein; dagegen besteht kein Unterschied im Sym-
ptomenbild, das eben das des Athyreoidismus in seinen
verschiedenen Graden ist.
Auf ein Argument E w a 1 d’s endlich, dass sich beim
endemischen Cretinismus bisher, die beim sporadischen erfolg¬
reiche specifiscke Therapie unwirksam erwiesen habe, werden
wir bald zurückkommen. Man sucht übrigens in Ew aid’s
Werke vergeblich nach einer Begründung dieser Behauptung.
Von B i r c h e r 3ß), dessen Darstellung Ewald in manchen
Punkten gefolgt ist, sind noch einige andere Argumente gegen
die Identificirung von endemischem Cretinismus mit dem in¬
fantilen Athyreoidismus angeführt worden, wobei B i r c h e r
sich über die Stellung des sporadischen Cretinismus zum ende¬
mischen und zum Athyreoidismus nicht deutlich ausspricht.
Zunächst muss auffallen, dass B i r c h e r die Fälle von
Zwergwuchs mit mangelhafter oder ausbleibender Verknöcherung
der Knorpelfugen, selbst wenn dieselben sonst alle Charaktere
des Cretinismus darbieten, von demselben abtrennen und der
Chondrodystrophia foetalis zuw'eisen will. Er geht darin so
weit, dass er einen Fall, den er selbst in vivo für einen Cretin
gehalten hatte, nach dem Tode wegen des Befundes persi-
stirender Knorpelfugen der Chondrodystrophie zurechnete. Dem
Cretinismus schreibt er die Tendenz zur vorzeitigen Ver¬
knöcherung von Knorpelfugen zu. Er befindet sich da in
einem auffallenden Gegensätze zuLanghan s, der, wie schon
erwähnt, auf Grund eigener und fremder Beobachtungen gerade
das Ausbleiben der Verknöcherung von Epiphysenknorpeln
als charakteristisch für die cretinische Wachsthumsstörung er¬
klärte. Er befindet sich in einem ebensolchen Gegensätze
zu den neuesten Bearbeitern dieses Gebietes, Breus und
K o 1 i s k o 37), die sich in der Auffassung der cretinischen
Wachsthumsstörung vollständig Langhaus anschliessen und
gerade die Fälle mit frühzeitiger Verknöcherung der Knorpel¬
fugen, im Gegensätze zuBircker, der Chondrodystrophie zu¬
weisen.
Die Entscheidung dieser Frage wird aber durch die
Möglichkeit, das Skelet zahlreicher Cretins in vivo mit Röntgen-
Strahlen zu untersuchen, bald gebracht werden oder ist eigent¬
lich durch die citirten Untersuchungen von Hofmeister und
W y s s bereits gebracht.
Will Bi r eher alle diese aus einem Centrum des epide¬
mischen Cretinismus stammenden Fälle, die Wyss untersucht
hat und bei denen er abnormes Persistiren der Knorpelfugen
beobachtet hat, der Chondrodystrophie zuweisen, so habe ich
nichts dagegen. Man wird aber dann, um den Thatsachen
Rechnung zu tragen, die Chondrodystrophie als eine Varietät
des Cretinismus ansehen müssen; wie ich schon früher an¬
deutete, glaube ich, dass sich der ganze Streit um prämature
Synostose und abnorme Persistenz der Knorpelfugen als ein
müssiger herausstellen wird; dass sich vielmehr als das Wesent¬
liche die Wachsthumsstörung, die mangelhafte Entwicklung
von Knochen aus Knorpel ergeben wird, bei der die oben er¬
wähnten Differenzen von secundärer Bedeutung sein dürften.
Jedenfalls kann man das Eine schon jetzt mit Bestimmt¬
heit sagen, dass das Studium der Wachsthumsstörung keinen
Einwand gegen die thyreoidale Theorie des Cretinismus er¬
geben hat.
Birch er38) führt ferner als Argument gegen diese
Theorie den Erfolg an, den die von ihm in zwei Fällen von
Cretinismus ausgeführte Kropfexstirpation hatte. Die eine
Kranke bekam nach dem Verluste ihrer Struma Tetanie und
Myxödem, die nach zweimaliger Implantation von Stücken
menschlicher Schilddrüse (bei einer Kropfexstirpation gewonnen)
in die Bauchhöhle sich jedes Mal besserte. Endlich ging aber
die Operirte doch mit Tod ab.
Es wird, um diesen Fall von Cretinismus etwas näher
zu charakterisiren, zweckmässig sein, einige vonBircker ge¬
lieferten Daten über diese Cretine zu reproduciren.
»Marie B., 33 Jahre alt, ledig, Landarbeiterin, geboren und
auferzogen auf der Meermolasse, später wohnhaft auf Trias. Kräftiges,
mittelgrosses Individuum mit plumpem, schwerfälligem Körper
und deutlich ausgeprägter cretinischer Degeneration mittleren Grades.
Der Kopf ist oben etwas ausgeweitet, die Nase an der Wurzel
breit, dick, etwas aufgeworfen; die Augen etwas weit von einander
entfernt; die Lippen dick, wulstig, aber nicht hängend. Der Miltel-
36) Ergebnisse der allgemeinen Pathologie und pathologischen Ana¬
tomie etc. Herausgegeben von Lubarsch und Ostertag. 1896, 1. Ab¬
theilung.
37) Die pathologischen Beckenformen. Leipzig und IVien 1900, Bd. I,
1. Theil.
38) V o 1 k in a n n’s Sammlung klinischer Vorträge. Nr. 357.
35) Mittheilungen des Vereines der Aerzte in Steiermark. 1893.
424
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 19
und rechte Seitenlappen der Schilddrüse sind stark, der linke
Seitenlappen mässig vergrössert, so dass Athemnoth mit etwas
Stridor besteht.
Der Gang ist schwankend und schleppend, das Hörvermögen
ist vermindert und die Sprache schwerfällig, lallend.
Die geistige Function ist beschränkt und etwas verlangsamt.
Hau sge schäfte, Garten- und Feldarbeiten besorgt
sie jedoch richtig und ist sehr fleissig. Sie liest
auch Gedrucktes und Geschriebenes ganz ordent¬
lich und schreibt Briefe. Wenn ihrldeenkreisauch
ein beschränkter ist, so fasst sie doch das, wassie
percipirt und was sie interessirt, klar auf und
gibt klaren Bescheid. Sie wünscht die Kropfex-
stirpation nicht nur wegen der Athemnoth, son¬
dern auch aus kosmetischen Gründen, »um nach
Amerika zu ihren Angehörigen auszuwandern«.
Ferner heisst es in der Krankengeschichte nach der ersten
Operation:
»Die Patientin ist geistig sehr munter und
fröhlicher Laune. Die Wiederherstellung ihres
Intellectes erhellt am Besten daraus, dass sie ein
beliebtes Spiel (neun Steine) nicht etwa nur me¬
chanisch, sondern recht raffinirt spielt.«
Die Cretine, welche Briefe schreibt, die Operation der
Struma aus kosmetischen Gründen wünscht und nach Amerika
auswandern will, dürfte ein Fall sein, in dem der Cretinismus
nur eine sehr geringe Intensitätsstufe erreicht hatte, umsomehr
als auch die körperliche Degeneration gering gewesen zu sein
scheint; zum Mindesten fehlte eine Wachsthumsstörung, ln
diesem Falle war auch nach der thyreoidalen Theorie des
Cretinismus eine vollständige Aufhebung der Schilddrüsen¬
function nicht anzunehmen, und daher waren schwere Aus¬
fallserscheinungen nach Totalexstirpation ganz wohl zu erwarten.
Mit diesem Falle wird also Bircher die thyreoidale Theorie
nicht aus den Angeln heben. Schade, dass Bircher den
zweiten Fall, in dem nach Entfernung des grössten Theiles
der kropfigen Schilddrüse bei einem Cretin letale Tetanie ein¬
trat, nicht ebenso ausführlich beschrieben hat!
Hanau 39) hat übrigens schon gegen diese Bi r ch er’schen
Experimente sehr treffend eingewendet, dass deren Resultat
ebenso verständlich ist, wie, dass ein Individuum mit chroni¬
scher Nephritis urämisch wird, wenn man es doppelseitig
nephrotomirt.
Von französischen Autoren ist es besonders Bourne¬
ville-10), der sieh eingehend mit dem Studium des sporadischen
Cretinismus befasst und eine grössere Anzahl von Fällen unter
dem Namen Idiotie avec Cachexie pachydermique beschrieben
hat. Bourneville führt den sporadischen Cretinismus auf
Athyreoidismus zurück; dagegen will er den endemischen
Cretinismus (den er übrigens, wie er selbst zugibt, nicht aus
eigener Anschauung kennt) streng vom sporadischen getrennt
wissen. Er ist daher bemüssigt, unterscheidende Merkmale
zwischen beiden Krankheiten anzugeben. Von diesen Merk¬
malen bedürfen mehrere keiner eingehenden Widerlegung; sie
entspringen einfach einer mangelhaften Kenntniss des endemi¬
schen Cretinismus. So, wenn Bourneville den Cretins
häufigen Strabismus, Unempfindlichkeit der Retina, das Fehlen
der Pseudolipome und der Cachexie pachydermique überhaupt
zuschreibt, ferner eine Neigung zu convulsiven Erkrankungen.
Pseudolipome und die Cachexie pachydermique kommen beim
endemischen Cretinismus ebenso vor, wie beim sporadischen;
Strabismus, Unempfindlichkeit der Retina, sowie Convulsionen
fehlen auch dem endemischen Cretinismus, d. h. sie können
ja ein oder das andere Mal vorhanden sein, aber sie sind
selten, ungemein viel seltener als bei den anderen Formen
der Idiotie; und wenn sie Vorkommen, haben sie mit dem
Cretinismus als solchem nichts zu thun, sondern sind rein zu¬
fällige Complicationen.
39) Verhandlungen des X. internationalen medicini, sehen Congresses.
Berlin 1891.
4") Archiv, de Neurologie. XVI, XVII. Progres med. 1880, 1890, 1895.
Wenn Bourneville, ferner auch B a i 1 1 a r g e r 4I)
einige pathologisch-anatomische Charaktere des Cretinismus an¬
führt, die das Gehirn betreffen, wie Vermehrung des Liquor
cerebrospinalis, Asymmetrie des Grosshirns, Kleinheit und
Asymmetrie des Kleinhirns, so entspringt das wieder nur einer
mangelhaften Kenntniss des endemischen Cretinismus. Die patho¬
logische Anatomie des Cretinengehirns ist noch ausständig;
die meisten Befunde, welche beschrieben wurden, beziehen sich
gar nicht auf Fälle von Cretinismus, sondern auf andere Fälle
von Idiotie; und aus den wenigen Sectionsbefunden wirklicher
Cretins ist höchstens das Fehlen charakteristischer Veränderungen
am Gehirn zu entnehmen.
Nicht mehr Werth hat es, wenn Bourneville den
sporadischen und endemischen Cretinismus nach der Schädel-
form unterscheiden will. Beim Ersteren soll sich Dolichocephalic,
beim Letzteren Brackycephalie finden. Es ist aber vorerst zu
bemerken, dass die Dolichocephalie der von Bourneville
beobachteten Fälle möglicher Weise Race-Eigenthtimlichkeit
sein könnte, und in der übrigen Literatur des sporadischen
Cretinismus findet man den Längen-Breiten-Index des Schädels
nur selten angegeben. Ausserdem sind auch Fälle von spora¬
dischem Cretinismus mit Brackycephalie beschrieben worden
(Rail ton42), und beim endemischen Cretinismus habe ich
selbst, wenn auch in der Minderzahl der Fälle, Dolichocephalie
beobachtet.
In der englischen Literatur ist am frühesten die Identität
von sporadischem, endemischem Cretinismus und infantilem
Myxödem anerkannt und als das Gemeinsame dieser Er¬
krankungen der Athyreoidismus hingestellt worden, ein Stand¬
punkt, den zuerst S e m o n 43) eingenommen hat und den alle
englischen Autoren, welche dieses Thema behandeln, theilen,
so neuestens Murray44). Es fehlt daher an Versuchen,
symptomatologische Differenzen zwischen sporadischem und
endemischem Cretinismus aufzustellen; im Gegentheile haben
solche Versuche in der englischen Literatur wiederholt Wider¬
spruch erfahren 45).
Die englische Literatur ist ungemein reich an Fällen von
Cretinismus, die zwar häufig als sporadischer Cretinismus, oft
genug aber auch als Cretinismus schlechtweg bezeichnet
werden.
Wenn man übrigens sieht, wie nicht selten mehrfache
Fälle von Cretinismus in einer Familie beschrieben werden,
wie ein oder das andere Mal bei den Eltern Kropf verzeichnet
wird, wie die Mehrzahl der Fälle aus gewissen Gegenden her-
rühren, ein Umstand, auf den einzelne Autoren auch aufmerk¬
sam machen46), so wird man sich des Verdachtes nicht er¬
wehren können, dass einzelne dieser Fälle thatsächlich dem
endemischen Cretinismus angehören dürften.
Kehren wir nun zu der Eingangs berührten Frage zurück,
zur Behandlung des endemischen Cretinismus. Wenn man auf
dem Standpunkte steht, dass das Wesentliche des Cretinismus
ein in früher Kindheit eintretender Ausfall der Schilddrüsen¬
function ist, so muss man erwarten, dass das Mittel, welches
sich in anderen Fällen von mangelnder Schilddrüsenfunction
wirksam erwiesen hat, nämlich die Schilddrüsenfütterung, auch
in der Behandlung des Cretinismus Erfolg haben werde. Ja
man kann selbst von dem Standpunkte Ew aid’s aus diese
Therapie beim Cretinismus nicht ganz verwerfen, da dieser
Autor den Athyreoidismus zwar nicht als das Wesen, aber als
eine wichtige Begleiterscheinung des endemischen Cretinismus
ansielit. Man musste also von diesem Standpunkte aus zwar
nicht eine Heilung aber doch eine wesentliche Besserung des
Cretinismus von der Schilddrüsentherapie erwarten.
Die Erfolge, die nun beim sporadischen Cretinismus mit
der Schilddrüsenbehandlung erzielt wurden, sind sehr be-
41) Dictionnaire encyclopedique des siences medicales, articles: Cretin,
Cretinisme. Paris 1879.
42) Brit. med. Journ. 1891.
43) Brit. med. Journ. 1883.
44) Lancet. 1899.
4o) Railton, Brit. med. Journ. 1891; Rushton Parker, Brit. med.
Journ. 1896; Kirk, Lancet. 1884.
4G) Stevenson, Brit. med. Journ. 1896. OliphantNicholson,
ibidem. Byron-Bram well, Brit. med. Journ. 1894.
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
425
merkenswerthe. Schon im Jahre 1895, also vier Jahre nach
Murray’s erster Veröffentlichung Liber die Injectionen von
Schilddrüsenextract, drei Jahre nach Einführung der Schild¬
drüsenfütterung, konnte H § i n s h e i m e r 47) 39 Fälle von
sporadischem Cretinismus zusammenstellen, die theils mit sub-
cutaner Implantation von Schilddrüse, theils mit subcutaner
Injection von Extracten, theils mit Schilddrüsenfütterung be¬
handelt worden waren, darunter viele mit ausgezeichnetem
Erfolge.
Seither haben sich die Berichte über die Behandlung des
sporadischen Cretinismus mit Schilddrüsenfütterung noch be¬
deutend vermehrt. Es sind besonders die englischen Zeitungen
British medical Journal und Lancet, die zahlreiche
einschlägige Berichte enthalten. II u s h to n Parker 48) konnte
1896 in der British medical Association Photographien von
40 Cretins vor und nach der Behandlung vorzeigen. Aus der
deutschen Literatur konnte S k 1 a c e k49) ausser seinen eigenen,
11 Fälle anführen. Wiederholt hat Bourneville50) über
die günstigen Erfolge berichtet, die er bei seinen Fällen von
sporadischem Cretinismus mit Schilddrüsenfütterung erzielt hat.
Aus Belgien berichtet Hertoghe51) über viele bemerkens-
werthe Erfolge. Auch die amerikanischen Zeitungen enthalten
hieher gehörige Fälle; so konnte 0 s 1 e r 52) 1897 über 60 theils
behandelte, theils nicht behandelte Fälle von Cretinismus aus
Amerika berichten.
Die Erfolge, die mit der Schilddrüsenbehandlung erzielt
wurden, stellen sich, wenn wir zunächst die einzelnen Sym¬
ptome berücksichtigen wollen, folgendermassen dar :
1. Myxödem. Eine Wirkung, die in allen erfolgreich
behandelten Fällen auftrat, und zwar sehr frühzeitig, so dass
sie schon in den ersten Wochen, ja Tagen der Behandlung
sichtbar wurde, war das Schwinden des Myxödems. Die ge¬
schwollenen Lider, Lippen, Wangen fallen ab und nehmen
normale Beschaffenheit an, die Pseudolipome schwinden, die
gedunsene Haut an Rumpf und Extremitäten schwillt ab; die
Haut verliert ihre bleiche, wachsartige Färbung und bekommt
eine gesunde Farbe; ebenso verliert die Haut ihre trockene,
rauhe Oberfläche. Die bei Cretins meist fehlende Schweiss-
secretion stellt sich ein und die Haut wird weich und ge¬
schmeidig.
2. Steigerung des Längenwachsthums. Die¬
selbe äussert sich darin, dass die Zunahme im Längenwachs¬
thum in einem ganz anderen Massstabe vor sich geht, als vor
der Behandlung, respective dass das Längenwachsthum, das
vor der Behandlung ganz still gestanden hatte, wieder an¬
geregt wird.
Die Zunahmen der Körperlänge, die so erreicht wurden,
sind oft recht bedeutende. So wuchs der 10]/‘>jährige Patient
Russel R e n d 1 e’s53) in 18 Monaten um 23 cm ;; ein 14jähriger
Patient Hertogh e’s 54) wuchs in zwei Jahren und 19 Monaten
von 74 auf 115cm, also um 41cm; der Fall Lockhart
Gibson’s55) wuchs vom 6. bis zum 11. Jahre von 84 auf
1 06 5 cm, also um 22'5 cm; der 14jährige Patient R a i 1 1 o n’s 56)
wuchs in einem Jahre um 10 cm, zehnmal mehr, als er in den
vorangegangenen Jahren gewachsen war; Carmichael’s57)
Fall, dreijährig, wuchs in neun Monaten um 10 cm, während
er vorher nur um 2‘5 cm im Jahre zugenommen hatte.
Ein Mädchen, das ich seit dem 20. April 1895 behandle,
das, damals 1 1 jährig, 96 cm gemessen hatte und in den letzten
Jahren kaum gewachsen war, misst heute, 16jährig, nach
fünfjähriger ununterbrochener Behandlung mit frischer Schild¬
drüse und Tabletten 132 cm, hat also in dieser Zeit um 36 cm
n) Entwicklung und jetziger Stand der Schilddrüsenbehandlung.
München 1895.
48) Brit. med. Journ. 1896.
49) Berliner klinische Wochenschrift. 1899.
’") Proges med. 1896 und 1897. Arch, de Neurologie. 1896.
Jl) Bulletin de l’academie royale Belgique. 1895, 1896 und 1899.
°~) Amer. Journ. of. med. Sciences. 1897.
M) Lancet. 1899.
'4) Bulletin de l’Academie royale Belgique. 1895 und 1899.
5D) Brit. med. Journ. 1897.
:’6) Brit. med. Journ. 1894.
57) Lancet. 1893.
zugenommen. Ich konnte mich in diesem Falle überzeugen,
dass durch das gesteigerte Knochen wachsthum auch die Ver¬
kürzung der Schädelbasis ausgeglichen wird und daher der
cretinische Charakter des knöchernen Gesichtsskeletes, die ein¬
gedrückte flache Nasenwurzel und kurze Nase (niedriger Ober¬
kiefer) vollständig verloren gehen kann.
Dieses durch die Behandlung angeregte Wachsthum er¬
folgt noch in Lebensaltern, in denen das Längenwachsthum
normaler Weise nur mehr in ganz geringem Masse vor sich
geht oder selbst längst abgeschlossen ist. So wuchs Schmidt’s58)
20jährige Cretine, die seit fünf Jahren nicht mehr gewachsen
war, während eines Jahres um 5 cm; ein ebenfalls 20jähriger
Fall Hertoghe’s 59) in lVg Jahren von 1215 auf 133 cm;
eine 27jährige Patientin Murray’s60) wuchs während vier
Jahren von 87'5 auf 97'5 cm; ein ebenfalls 27jähriger Fall
Hertoghe’s61) in einem Jahre von 137 — 140 cm; auch die
30jährige Patientin Wharton S i n k 1 e i’s 62) wuchs noch im
Laufe von drei Jahren um 8 cm. Das Aeusserste dürfte der
fast 40jährige Patient Thomso n’s 63) geleistet haben, der in
zwei Jahren noch um 6 cm wuchs.
Das Wiedererwachen der Wachsthumsenergie erfolgt
manchmal in sehr stürmischer Weise; so beobachtete Hertoghe64)
in sechs Wochen eine Zunahme um 10cm; Abrams65) in
sechs Wochen um 3cm; Rehn66) sah einen seiner Kranken
in acht Tagen um 1 cm zunehmen.
3. Verkleinerung und endliche Schliessung
der bis dahin offen gebliebenen grossen Fonta¬
nelle. Eine Theilerscheinung der cretinischen Wachsthums¬
störung ist das abnorm lange, oft bis weit ins zweite, ja ins
dritte Decennium reichende Offenbleiben der Fontanelle. Unter
der Schilddrüsenbehandlung verkleinert sich die Fontanelle
rasch und hat sich in mehreren Fällen noch während der
Dauer der Beobachtung vollständig geschlossen.
4. Beschleunigung der Zahnentwicklung.
Der Zahndurchbruch erfolgt beim Cretin meist sehr verspätet;
ebenso lässt der Ersatz der Milchzähne durch die bleibenden
Zähne meist lange auf sich warten; die ersteren bleiben oft
bis gegen das Ende des zweiten Decenniums und länger. Unter
der Schilddrüsenbehandlung wird das Versäumniss rasch nach¬
geholt; ein Zahn nach dem anderen bricht durch, und wenn
die Patienten schon in dem betreffenden Alter sind, erfolgt
rasch der Ersatz der Milchzähne durch die bleibenden Zähne.
Auch dieser Process vollzieht sich noch über die normale
Altersgrenze hinaus; so bekam z. B. Wharton Sinklei’s
30jährige Patientin in drei Jahren noch vier neue Zähne.
5. Die ausgebliebene Entwicklung der Genitalien,
der Geschlechtsfunction und der secundären Geschlechts-
Charaktere stellt sich ein, oder, wenn dieselbe nur zurück¬
geblieben war, wird sie gefördert.
Es liegen darüber hauptsächlich Berichte von weiblichen
Kranken vor. Bei denselben tritt die bisher ausgebliebene
Menstruation ein (z. B. bei einer 26jährigen Patientin Lunn’s),
oder sie wird im Gegensatz zu früher reichlich und regel¬
mässig. Bei der 27jährigen Patientin Murray’s67) z. B., bei
der vor der Behandlung die Brustdrüsen ganz unentwickelt ge¬
wesen waren, sind nach vier Jahren, wie auch aus einer der
Krankengeschichte beigegebenen Photographie zu ersehen, recht
gut entwickelte Brustdrüsen vorhanden. Auch vom ersten Auf¬
treten von Schamhaaren während der Behandlung wird be¬
richtet.
6. Die bei Cretins oft vorhandene Makroglossie, in
Folge deren die Zunge aus dem geöffneten Munde herausragt
und sogar manchmal die Zahnstellung eine abnorme wird, geht
r>8) Deutsche medicinisehe Wochenschrift. 1894.
59) Bulletin de l’Academie royale Belgique. 1896.
co) Lancet 1899.
61) Bulletin de l’Academie royale Belgique. 1896.
G~) Philadelph. med. Journ. 1898.
G'4) Brit. med. Journ. 1896.
64) Bulletin de l’Academie royale Belgique. 1895.
G5) Brit. med. Journ. 1897.
GG) Verhandlungen des XIV. Congresses für innere Medicin.
G7) Lancet. 1899.
420
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 19
während der Behandlung zurück; die Zunge verkleinert sich,
tritt hinter die Zahnreihen zurück und der Mund schliesst sich.
7. Schwinden des N a b e 1 b r u c h e s. Sehr viele
Cretins haben neben einem sehr ausgedehnten Abdomen einen
Nabelbruch. Unter der Behandlung verkleinert sich das Ab¬
domen. der Nabelbruch geht zurück und schwindet end¬
lich ganz.
8. Haarwachsthum. In vielen Fällen wird berichtet,
dass das Kopfhaar der Kranken während der Behandlung auf¬
fallend gewachsen sei, fein, weich und reichlich geworden sei.
ln manchen Fällen wird hiezu berichtet, dass erst das grobe,
struppige, kurze Haar, das den Cretins eigen ist, ausgefallen
und dann erst neues Haar nachgewachsen sei.
9. Steigerung der Körpertemperatur. Die ge¬
wöhnlich subnormalen Temperaturen der Cretins erhöhen sich
in Folge der Behandlung zu Normal-Temperaturen, ja bei
reichlicher Schilddrüsenzufuhr treten sogar vorübergehend
febrile Temperaturen auf.
10. Die Harnstoffaussc hei dung der Kranken wird
entsprechend ihrem durch die Behandlung gesteigerten Stoff¬
wechsel vermehrt.
1 1. Was endlich die Besserung der psychischen
und nervösen Functionen anbelangt, so ist zunächst
ein Erfolg schon frühzeitig zu bemerken und sehr auffallend.
Die behandelten Individuen verlieren die für den Cretin
charakteristische Apathie und Bewegungsunlust; sie werden
lebhaft, aufgeweckt, fangen an Interesse zu zeigen, sind den
ganzen Tag auf den Beinen und werden, wenn überhaupt
sprachfähig, sehr gesprächig.
In Bezug auf den wichtigsten Punkt, die Besserung der
Intelligenz, sind die bisherigen Versuche, wie zugestanden
werden muss, noch nicht ausreichend, um ein abschliessendes
Urtheil zu fällen. Nicht als ob keine Fortschritte auf intel-
lectuellem Gebiete in Folge der Behandlung zu verzeichnen
wären; im Gegentheile, fast in allen Fällen wird die auffallende
Besserung im günstigen Zustande der Behandelten hervor¬
gehoben. Aber das Endergebniss lässt sich heute noch nicht
fixiren, es lässt sich nicht bestimmen, wie nahe dem Normal¬
zustände man durch eine consequent fortgesetzte Behandlung
wird kommen können. Es ist das in der Natur des vor¬
liegenden Materiales begründet. Die meisten der bis jetzt be¬
handelten Cretins standen im zweiten Decennium, mehrere im
dritten, vereinzelte sogar im vierten, nur eine Minderzahl be¬
fand sich noch im ersten Decennium. [Es ist aber von vorne-
lierein kaum zu erwarten, dass ein durch den Athyreoidismus
10, 20 und mehr Jahre schwer geschädigtes Gehirn nach
Behebung dieser chronischen Vergiftung die Fähigkeit haben
sollte, den seinem Alter entsprechenden Normalzustand binnen
Kurzem zu erreichen. Ist doch der geistige Zustand eines
10 — 20 — 80jährigen nicht blos das Product von Vorgängen,
deren Bedingungen im Gehirn selbst gegeben sind, sondern
auch von einer Unsumme von äusseren Einwirkungen (Er¬
ziehung, Unterricht, individuelle Lebenserfahrung), denen sein
Gehirn während der ganzen Lebenszeit ausgesetzt war und
deren Ausbleiben beim Cretin durch die Schilddrüsenfütterung
allein nicht wettgemacht werden kann. Es kann dadurch
das Gehirn höchstens aufnahmsfähig gemacht werden für
diese äusseren Einwirkungen; die letzteren selbst können aber
gewiss nur ganz unvollkommen, und das erst im Laufe der
Zeit nachgeholt werden. Dazu kommt, dass die vorliegenden
Berichte meist nur kurze Zeiträume umfassen, oft nur Monate,
selten mehr als zwei Jahre, was ja bei der Neuheit der Methode
ganz selbstverständlich ist.
Man würde darum ganz Unrecht tlmn, wenn man die
bereits nachgewiesenen Erfolge mit pessimistischen Augen an-
selien würde; sie sind auch in einzelnen Fällen, wo die Be¬
dingungen günstige waren, erfreulich genug, um uns mit
Hoffnung für die Zukunft zu erfüllen. Wenn z. B. Thomson68)
berichtet, dass eine Cretine, bei der die Behandlung bereits im
fünften Lebensjahre eingeleitet wurde, mit acht Jahren so weit
war, dass sie die Schule besuchen konnte und nicht schlechter
6S) Brit. med. Journ. 1896.
war, als die anderen Kinder, so ist das das Aeusserste dessen,
was man erwarten konnte. Ebenso, wenn man von Rehn69)
hört, dass sein mit 61/., Jahren in Behandlung gekommener
Fall nach einjähriger Behandlung mit Erfolg in die Schule
eintreten konnte, und dass ein zweiter von 4l/2 Jahren ab be¬
handelter Fall nach dreijähriger Cur als geistig hoffnungsvoll
bezeichnet werden konnte. Solche und ähnliche Fälle sind aber
doch noch vereinzelt. Man ward daher mit dem Urtheile über
den Grad der möglichen Besserung auf intellectuellem Gebiete
zurückhalten müssen, bis eine genügende Anzahl von Fällen
vorliegen wird, bei denen die Behandlung in frühem Lebens¬
alter begonnen und hinlänglich lang fortgesetzt worden
sein wird.
Nochmals möchte ich aber betonen, dass nur der Grad
der erreichbaren Besserung noch fraglich sein kann; dass über¬
haupt eine auffallende Besserung auch, auf geistigem Gebiete
erzielt wird, beweisen schon die bisherigen Berichte zur Genüge.
Nicht selten sind unter anderen auch die Fälle, in denen Cretins
weit über das dem Auftreten dieser Leistungen entsprechende
Alter nicht sprachen, ja selbst nicht gehen konnten und diese
Fähigkeiten unter Schilddrüsenbehandlung rasch erlangten.
So viel über die Wandlungen, welche das Krankheitsbild
in seinen einzelnen Symptomen erfährt. Fassen wir Alles noch¬
mals zusammen, so haben wir vor der Behandlung ein Geschöpf,
das in seiner plumpen Unförmlichkeit und Hässlichkeit nicht blos
Mitleid, sondern auch Abscheu erweckt, theilnahmslos vor
sich hin brütet und in einem Zustand mangelhafter körper¬
licher und geistiger Entwicklung zeitlebens verharrt; nach der
Behandlung ein dem normalen menschlichen Typus ent¬
sprechendes, manchmal sogar höheren ästhetischen Anforderungen
genügendes70) wenn auch etwas hinter seinen Jahren zurück¬
gebliebenes W esen, das in seiner Lebhaftigkeit und erwachen¬
den Intelligenz frohe Hoffnungen für die Zukunft erweckt.
Für die Methode der Behandlung ergaben sich nach den
bisherigen Erfahrungen, die sich ja allerdings bei der Neuheit
der Methode erst über einige Jahre erstrecken, einige wichtige
Anhaltspunkte.
Vor Allem muss die Behandlung voraussichtlich lebens¬
länglich fortgesetzt werden. Die verabreichte Schilddrüsen¬
substanz soll ja bei dem Kranken den Mangel oder das Deficit
seiner eigenen Schilddrüsenfunction ersetzen. Thatsächlieh be¬
richten mehrere Autoren, dass mit dem Aussetzen der Behand¬
lung auch die erreichten Erfolge theilweise wieder verloren
gehen. Die Kranken verlieren ihre Lebhaftigkeit und verfallen
wieder in Torpor, die Hautschwellungen treten wieder auf, die
Körpertemperatur sinkt u. s. w. Es muss also immer wieder
neue Schilddrüsensubstanz zugeführt werden, um die erreichten
Erfolge festzuhalten.
Ferner geben unsere Autoren an, dass man bezüglich
der Dosirung zwei Stadien unterscheiden muss: In dem ersten
Stadium handelt es sich darum, die vorhandenen Schäden des
Athyreoidismus zu beseitigen und dazu sind grössere Dosen
nothwendig, die allerdings für jedes einzelne Individuum be¬
stimmt werden müssen, denn bei zu grossen Dosen können
auch unangenehme Erscheinungen, wie Schwächezustände,
Zittern, Pulsbeschleunigung, Fieber, Erbrechen, Durchfall etc.
eintreten. In dem zweiten Stadium, in dem es sich darum
handelt, die erreichten Erfolge festzuhalten, kommt man mit
geringeren Dosen aus, oder es genügt, die anfänglichen Dosen
nicht täglich, sondern ein bis zweimal wöchentlich zu geben.
Ferner sind die Erfolge um so grösser und treten um so
rascher auf, in je früherem Alter die Behandlung begonnen
wird. Dass bei den bis jetzt mitgetheilten Fällen die Behandlung
erst in einem mehr weniger vorgeschrittenen Alter begonnen
wurde, hängt damit zusammen, dass die Methode erst vor
Kurzem gefunden wurde. Man wird aber in Zukunft einen
69) 1. c.
70) Viele Autoren haben ihre Mittheilungen mit Photographien der
Behandelten aus verschiedenen Stadien der Cur ausgestattet. Gegenüber¬
stellungen von Bildern vor und nach der Behandlung, wie sie z. B.
Hertoghe (Bulletin de l’Academie royale Belgique. 1899, Fig. 10 und 11)
und Lock hart Gibson (Brit med. Journ. 1897, pag. 1341, Fig. 1, 2, 3)
bringen, haben geradezu etwas Rührendes an sich.
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
427
Cretinismus nicht 10, 20 Jahre und länger bestehen lassen,
sondern mit der Behandlung beginnen, sobald die Diagnose
feststeht. Die Diagnose des Cretinismus in den frühesten
Lebensaltern ist aber eine unsichere, weil der Grad der Ent¬
wicklungshemmung erst aus dem Vergleiche der zu erwartenden
und der thatsächlich erfolgten Entwicklung bemessen werden
kann. Murray71) empfiehlt daher, bei allen Kindern, die in der
Entwicklung auffällig zurückblieben, versuchsweise durch
einige Monate Schilddrüsenfütterung durchzuführen. Macht die
Entwicklung unter dieser Behandlung merkliche Fortschritte,
so kann dies als Beweis angesehen werden, dass die Ent¬
wicklungshemmung durch Athyreoidismus bedingt war, und
damit ist die Indication für die Fortsetzung der Behandlung-
gegeben.
Nach dem Gesagten wird man das Verlangen, dass solche
Versuche auch beim endemischen Cretinismus in umfänglichem
Masse angestellt werden sollen, kaum weiter zu rechtfertigen
brauchen. Bei der Eigenart der Verhältnisse, unter denen die
Opfer des endemischen Cretinismus leben, könnten solche Ver¬
suche nur von der staatlichen Sanitätsverwaltung ausgehen.
Die Wichtigkeit der Sache erhellt wohl sofort, wenn man be¬
denkt, dass der endemische Cretinismus in unseren Alpenländern
und auch noch in anderen Gegenden der Monarchie (z. B. ge¬
wisse Theile von Ungarn und Galizien) eine Seuche darstellt,
die nach der Tuberculose und Syphilis die meisten Opfer
fordert.
Aus dem Ospedale Civico in Triest.
Ein Fall von cerebraler Kinderlähmung mit
wechselständiger Abducensparalyse.
Von Dr. Eduard Menz.
Im Jahre 1892 brachte ich in dieser Zeitschrift einen
Fall von cerebraler infantiler Hemiplegie mit doppelseitiger
Oculomotoriuslähmung zur Veröffentlichung, den ich auf der
Klinik weiland Hofrath Kahler’s zu beobachten Gelegenheit
hatte. Seither bin ich der Literatur über diesen Gegenstand
aufmerksam gefolgt, konnte jedoch keiner weiteren in das
engere Gebiet der Augenmuskellähmungen einschlägigen Publi¬
cation begegnen. Derartige Befunde scheinen somit zum Unter¬
schiede von jenen bei der diplegischen Cerebrallähmung
(Freu d), oder der L i 1 1 1 e’schen Krankheit schlechtweg, nach
wie vor sehr selten zu sein. In der im Jahre 1896 erschienenen
ungemein gewissenhaften Zusammenstellung Marina’s1) werden
im betreffenden Capitel nur zwei Fälle ausgeführt: der meinige,
und der auch schon von mir in meiner früheren Arbeit citirte
Fall W allenber g’s.2) Sigmund Freud erwähnt in seiner
Monographie aus dem Jahre 1897 3) nur noch zweier minder
ausgesprochener älterer Falle; bei dem einen fanden sich »Reste
einer wechselständigen Oculomotoriuslähmung (Ptosis)«; bei dem
anderen »trat nach einem neuen Krankheitsschub (mit Fieber
und Convulsionen) eine vorher gewiss nicht vorhandene
Lähmung des wechselständigen Abducens auf, die sich nach
kurzer Zeit zurückbildete.4)«
Demnach können Augenmuskellähmungen, was sowohl
I r e u d und R i e 5) als auch Seeligmüller6) ausdrück¬
lich hervorheben, nicht als Theilerscheinung der infantilen
cerebralen Hemiplegie aufgefasst, müssen dagegen im Einzel¬
falle als Complicationen oder als Zeichen einer Localerkrankung
gedeutet werden.
In diesem letzteren Sinne bietet der im Nachstehenden
mitgetheilte Fall, den mir ein glücklicher Zufall wieder in die
Hände spielte, einiges Interesse.
71) Lancet. 1899.
') lieber multiple AugeDmuskellähmungen etc. Wien 1896. Franz
Deuticke.
~) Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. 1888, Bd. XIX.
J) Die infantile Cerebrallähmung'. Wien 1897. Holder.
4) I reud und Rie, Klinische Studie über die halbseitige Cerebral¬
lähmung der Kinder. 1891, Fall 33 und 19.
5) 1. c.
6) Realencyklopädie der gesamraten Heilkunde. 3. Auflage, Bd. XII.
E. D., 10 Jahre alt, wurde im Februar 1900 auf der Ab¬
theilung des Primararztes Dr. G e r m o n i g, dem ich hiemit für die
Ueberlassung des Falles meinen besonderen Dank ausspreche, wegen
Schwäche und Bewegungsstörungen der rechten oberen und unteren
Extremität aufgenommen.
Es ist das zweitgeborene Kind gesunder Eltern, kam ohne
ärztliche Hilfe auf die Welt. Vier Geschwister leben und sind ge¬
sund. Im Alter von sechs Monaten erkrankte es an Fieber, das
wenige Tage anhielt; am dritten Krankheitstage fanden es die
Eltern regungslos im Bette liegen. Bei der näheren Untersuchung
wurden sie gewahr, dass das Kind schielte und rechtseitig gelähmt
war. Die Lähmung ging in der Folge bedeutend zurück, das Schielen
blieb bestehen. Das Kind lernte mit drei Jahren gehen und ist
seither nicht mehr krank gewesen. Geistig soll es normal entwickelt
sein. Es leidet an keinerlei convulsiven Anfällen.
Status praesens: Dem Alter entsprechend, gut entwickeltes
Mädchen von kräftigem Knochenbau, gut entwickelter Musculatur.
Haut elastisch, sichtbare Schleimhäute gut gefärbt. Puls 76, rhyth¬
misch, Arterie weich, Pulswelle normal. Respiration 16, thorako-
abdominal. Die Untersuchung der Brust- und Unterleibsorgane er¬
gibt normalen Befund.
Die Untersuchung des Schädels ergibt keine auffallende Asym¬
metrie. Grösste Peripherie 50 cm. In der Mitte der Stirne, knapp
am Haarrande eine etwa fingernagelgrosse frei bewegliche Narbe.
Keine sichtbaren Degenerationszeichen am Schädel und im Gesichte.
Bei Betrachtung desselben fällt, abgesehen von dem später zu be¬
schreibenden Strabismus, eine gewisse mimische Unruhe auf, die
sofort an Chorea erinnert und sich in zuckenden Bewegungen der
Stirnhaut, der Nasenflügel und der Lippen äussert. Auf besondere
Aufforderung hin vermag Patientin nur mangelhaft diese Bewegungen
zu unterdrücken. Hiebei verräth sie eine enorme Emotivität und
beginnt, trotz guter Worte, zu weinen.
Ptosis besteht nicht. Die Bewegungen des rechten Bulbus
sind frei : er folgt dem vorgehaltenen Finger nach allen Richtungen
bis in die Extreme. Der linke Bulbus ist dagegen für gewöhnlich
im Canthus internus eingestellt ; er kann zwar normal gehoben und
gesenkt werden, vermag jedoch nicht beim Blicke nach aussen die
Mittellinie der Rima zu überschreiten ; es geschieht höchstens ruck¬
weise, bei sichtlich äusserster Anstrengung der kleinen Patientin.
Beide Pupillen reagiren prompt auf Licht; die Accommodation ist
vollkommen erhalten. Bei gewöhnlicher Einstellung des linken Bulbus
im Canthus internus erscheint die linke Pupille etwas weiter. Doppel¬
bilder bestehen nicht. Die Sehkraft des rechten Auges ist normal.
Mit dem linken gelingt Fingerzählen kaum auf 1 m Distanz. Von der
Untersuchung des Augenhintergrundes wurde wegen Ungeberdigkeit
der kleinen Patientin abgesehen.
Beim Stirnrunzeln legt sich die Haut links in deutlichere
Falte, denn rechts, die rechte Augenbraue bleibt hiebei etwas gegen
die linke zurück. Der Lidschluss erfolgt beiderseits kräftig, jedoch
mit überwiegender Energie auf der linken Seite. Beim Runzeln der
Nasenhaut und beim Zähnezeigen erweist sich der rechte VII.
ebenfalls als der schwächere, auch die rechte Nasolabialfalte ist
weniger ausgesprochen als die linke. Bei mimischer Ruhe steht
jedoch eher der rechte Mundwinkel höher und der rechts von der
Medianlinie liegende Theil der Lippenspalte erscheint um ein Geringes
kleiner (Contractur).
Die Zunge wird gerade vorgestreckt, die Uvula weicht nicht
ab. Die Wirbelsäule weist eine geringe sinistroconvexe statische
Skoliose auf: besonders auffällig ist dagegen die Haltung der rechten
oberen und unteren Extremität und der Gang der Patientin.
Der rechte Oberarm wird gegen den Thorax in Adduction,
der Vorderarm in einem rechten Winkel zum Oberarm in pronirter
Stellung, die Hand in extremster Volarflexion unter Zuhilfenahme
der anderen Hand ruhig erhalten. Dies ist das gewöhnliche Auf¬
treten der Patientin. Lässt sie auf Aufforderung hin die rechte
Hand frei, so schnappt geradezu der rechte Vorderarm mit der
Hand in Supination, die Finger ballen sich fast zur Faust, und es
treten die früher unterdrückten Zuckungen im Schulter- und im
Ellbogengelenke auf, welche gleichzeitig mit athetoseartigem Heben
und Senken einzelner Finger einhergehen.
Die active Beweglichkeit der oberen rechten Extremität ist
ausserordentlich beschränkt, was nicht blos auf Rechnung der vor¬
handenen Parese, sondern auch, und nicht zum geringsten Theile,
428
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 19
auf jene der vorhandenen Muskelcontracturen und der choreo-athe-
tolischen Bewegungen zu setzen ist. Dieselben Contract uren sind
es, die den passiven Bewegungen nur einen sehr beschränkten
Spielraum lassen.
Im Knochenwachsthum weisen die beiden oberen Extremitäten
kaum merkliche Unterschiede auf. Die Musculatur ist rechts eher
kräftiger denn links, was wohl als eine Arbeitshypertrophie auf¬
gefasst werden muss. So hat beispielsweise der rechte Oberarm
über den Biceps 20 cm, der linke 19 cm Umfang.
Auch die untere rechte Extremität weist in der Ruhe unwill¬
kürliche Bewegungen choreatisch-athetoti sehen Charakters auf: sie
fühlt sich hart an, und wir finden auch hier wieder Muskelrigidität
und Contracturen. Der Kuss wird in Equinostellung gehalten, die
weder activ noch passiv wesentlich corrigirbar ist. Der Gang der
Patientin ist deutlich hemiparetisch, wird jedoch überdies durch
die choreatischen Zuckungen noch beeinflusst.
Die Untersuchung der Sensibilität ergibt am ganzen Körper
normale Befunde. Auch die elektrische Prüfung bot bezüglich der
erkrankten Extremitätenmusculatur nichts Wesentliches.
Die Haut- und Sehnenreflexe sind beiderseits erhalten. Rechts
sind sie wegen der steten Muskelspasmen nur mit Mühe auszulösen,
Der oben beschriebene Fall bedarf eigentlich kaum einer
weiteren Erörterung. Wir haben es mit den Folgezuständen
einer bei einem sechsmonatlichen .Kinde acut aufgetretenen
halbseitigen Lähmung zu thun, die sich heute als rechtsseitige
Hemiparese mit Contracturen und Muskelspasmen in den be¬
troffenen Gliedern äussert: das gewöhnliche, bekannte Bild der
cerebralen Hemiplegie. Aus dem Rahmen desselben tritt nur
die wecliselständige Abducenslähmung. Die Deutung dieser
letzteren unterliegt jedoch keiner weiteren Schwierigkeit —
ist doch die alternirende Sextuslähmung erfahrungsgemäss
ebenso ein klinischer Hinweis für die topische Diagnose eines
Herdes im Pons Varoli, wie die wechselständige Tertiuslähmung
auf eine Läsion des Hirnschenkelfusses hindeutet. Folgen wir
noch, behufs näherer Localisation den Ausführungen Gowers7),
so können wir vielleicht auch behaupten, dass mit Rücksicht
auf das Erhaltensein der conjugirten Bewegungen beider Augen
nach links, die Integrität des linken Abducenskernes selbst
gewährleistet ist, da ja der letztere mit den Fasern des III.
für den Rectus medialis der anderen Seite in Verbindung steht.
Bei dieser Auffassung des Falles braucht die Einheitlich¬
keit der Läsion, für die übrigens die Anamnese ja deutlich
spricht, gar nicht in Frage zu kommen; der Fall selbst reiht
sich aber trotz mangelnden Sectionsbefundes ebenbürtig neben
den Fall Wallenberg’s, bei dem thatsächlich ein Herd in
dem Hirnstamme gefunden wurde.
Ueber die Nachkommenschaft der Hereditär¬
syphilitischen.
Von Prof. E. Finger.
Referat, über Ersuchen des Organisationscomites erstattet für den IV. inter¬
nationalen Congress für Dermatologie und Syphilidologie in Paris vom
2.-9. August 1900.
(Schluss.)
III. Der letzte Punkt, den wir nun noch zu besprechen
haben, ist die Frage der Vererbung der Immunität
auf die Nachkommen Syphilitischer auch dann,
wenn denselben Syphilis als solche nicht vererbt wird.
Diese Ansicht von der Vererbung der Immunität hat
sich allmälig ausgebildet und ist schon sehr alt. Schon Fra-
c a st or, Brassavolus, Fallopius, Tomitanus, ins¬
besondere Alex. T r a j. Petronius nehmen eine solche
Vererbung der Immunität an und seither hat sich diese An¬
nahme eigentlich unwidersprochen in unserer Literatur er¬
halten.
Zwei Momente stützen diese Ansicht. Einmal dieThat-
saclie, dass die Syphilis im V erlaufe der letzten
7) Citirt aus: Sckmidt-Rimpler, Die Erkrankungen des Auges im
Zusammenhänge mit anderen Krankheiten. 1898, Holder.
vier Jahr hunderte einen wesentlich milderen Ver¬
lauf angenommen hat. Mag es auch richtig sein, was
Proksch und Buret historisch feststellten, dass die Syphilis
zur Zeit ihrer grossen ersten Epidemie nicht durchwegs bös¬
artig auftrat, nur maligne Formen producirte, auch damals
schon neben dem bösartigen ein milder Verlauf bekannt war.
Eines scheint doch zweifellos, dass zur Zeit der ersten Epidemie
die relative Zahl maligner Fälle eine weitaus grössere war, als
heute. Wohl haben verschiedene Factoren, die genauere Kennt-
niss der Krankheit, richtigere Behandlung, Besserung der
hygienisch-diätetischen Verhältnisse etc. dazu beigetragen, den
Verlauf der Syphilis zu mildern. Eines bleibt doch auffallend,
dass schon die Zeitgenossen der ersten Epidemie unter jenen
Momenten, die milderen Verlauf der Syphilis bedingten, die
vererbte relative Immunität anführen. Besonders thut dieses
Petro n ins, der ausdrücklich betont, durch den wiederholten
Uebergang von einer Generation auf die andere sei das syphi¬
litische Gift von dem menschlichen Organismus allmälig assi-
milirt worden und eine neue Infection vermöge deshalb gegen¬
wärtig keineswegs mehr die Wirkungen wie in der ersten
Periode der Krankheit zu erzielen. Es ist dies eine Ansicht,
die noch in unserem Jahrhunderte von D i d ay, L a n g 1 e b e r t
etc. wieder aufgenommen wurde. Können wir auch die hier
gegebene Erklärung von der allmäligen, durch Assimilirung
erfolgten Abschwächung des Virus als solchen nicht accep
tiren, da ja sonst unter dem Einflüsse des durchwegs abge¬
schwächten Virus nur durchwegs leichte Formen auftreten
könnten, wir aber im Gegentheil stets die Beobachtung
machen, dass das Virus in manchen Organismen auch heute
noch bösartige Formen der Syphilis hervorzurufen vermag,
der mildere Verlauf der Syphilis also nicht dem Virus, sondern
dem Organismus, dem Boden, zuzuschreiben ist, so bleibt
durch diese Ueberlegungen doch die Thatsache des progressiven
Milderwerdens der Syphilis nicht tangirt, ja die Thatsache,
dass der mildere Verlauf der Syphilis nicht dem Virus, sondern
dem inficirten Organismus entstammt, also der Organismus als
solcher sich geändert hat. im Laufe der Zeit gegen das Virus
refraetärer geworden ist, im Zusammenhalt mit der Lehre von
der erworbenen Immunität der Syphilis, führte dazu, diese
grössere Widerstandsfähigkeit des Organismus auf ererbte Ein¬
flüsse, ererbte Immunität zurückzuführen. Diese Lehre
fand auf der anderen Seite ihre Stütze an Be¬
obachtungen, die man an bisher von Syphilis
verschonten Völkern, sobald zu denselben
Syphilis i m p o r t i r t wurde, und bei der soge¬
nannten Syphilis maligna machte. Schon Petro¬
nius betonte, dass schon zu seiner Zeit die Syphilis, wenn
sie bei völlig gesunden, von ererbter Einwirkung völlig freien
Personen auftrat, im vollsten Masse die Bösartigkeit der ersten
Periode darbot. Nachdem aber bei Völkern und Stämmen, die
von Syphilis verschont blieben, diese ererbte Einwirkung fehlt,
muss, falls eine solche Menschengruppe an Syphilis erkrankt,
die Syphilis zuerst in bösartiger Form auftreten und erst im
Verlaufe der Zeit, wenn die hereditären immunisirenden Ein¬
flüsse sich geltend zu machen beginnen, mildere Allüren an¬
nehmen. In der That liegen nun solche Berichte vor. Die
älteren derselben, die Sandwichinseln, Mauritius, Haiti, die
brasilianischen Indianer betreffend, finden wir bei Hirsch
(Historisch-geographische Pathologie. 1860), Berichte analogen
Inhaltes bezüglich Schweden und Norwegen, Jütland, Oceanien
bringt R e y (La syphilis suivant les races et les climats.
Annales de Dermat. et de syphiligr. 1880). Einen Bericht aus
neuester Zeit bezüglich der Syphilis der Cattarunga-Indianer
bringt das Philadelphia Register 1888, dahingehend, die
Syphilis sei bei diesem Indianerstamme vor etwa 50 Jahien
eingeschleppt worden, sei damals in den nächsten 10 — 15 Jahren
epidemisch aufgetreten, mit schweren Formen und so allge¬
meiner Verbreitung, dass kaum eine Familie der Infection
entging. Seither sei die Syphilis mild und selten geworden,
so dass in den letzten fünf Jahren nur zwei Fälle zur Beob¬
achtung kamen.
Es wird also so der milde Verlauf der Syphilis bei
ganzen Völkern und Volksstämmen auf hereditär-immunisirende
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
429
Einflüsse zurückgeführt, wie dies für Portugal durch Lee
und Fergusson schon Anfangs des Jahrhundertes geschah.
Dieselbe Auffassung über das Milder¬
werden der Syphilis durch he reditär - immun i-
sirende Einflüsse, deren schwerer Verlauf dort,
wo diese Einflüsse fehlen, bei ganzen Völkerstämmen,
hat man in der letzten Zeit auch dem einzelnen
Individuum gegenüber, falls dasselbe an
schwerer, sogenannter maligner Syphilis er¬
krankte, zur Geltung gebracht, es gilt also auch .
wieder die schon vor 400 Jahren aufgestellte Ansicht von
Petr on ins. So wird ja das Auftreten maligner Syphilis bei
ganz kräftigen, gesunden Individuen, bei denen die bekannten
ätiologischen Momente, wie Tuberculose, Alkoholismus, Malaria¬
siechthum, depotenzirende Krankheiten, fehlen, von zahlreichen
Autoren, Ne iss er, Lesser, Haslund, Ko pp etc. darauf
zurückgeführt, dass in der Ascendenz des betreffenden Indi¬
viduums durch lange Zeit keine syphilitische Infection vorkam,
das Individuum also keine kereditär-immunisirenden Eigen¬
schaften erworben hat, eine Ansicht, die wohl recht plausibel
ist, aber kaum je streng wissenschaftlich bewiesen werden
dürfte.
Als Gegenstück dieser Fälle wären jene
Beobachtungen anzuführen, die dafür sprechen,
dass bei Individuen, in deren Ascendenz lueti¬
sche Infection erst vor Kurzem v o r f i e 1, die
Syphilis auffällig milde verlief. So sprechen
Hutchinson, M a j e w, N e i s s e r davon, dass in solchen
Fällen sich nur eine typische Initialsklerose, aber ohne Con-
secutivis, entwickeln könne. Tarnowsky erwähnt 30, M o 1 o-
denkow 20, C. Paul zwei Fälle, in denen bei Nachkommen
syphilitischer Eltern wohl eine syphilitische Infection zu Stande
kam, dieselbe aber einen auffällig milden, nahezu abortiven
Verlauf nahm. Tarnowsky hebt die gewiss auffällige That
Sache hervor, dass unter den gesund eingetragenen Peters¬
burger Prostituirten nur jene von syphilitischer Infection ver¬
schont sind, die Anzeichen hereditärer Syphilis darbieten.
Als eine kieker gehörige Thatsache ist auch die von
P r o f e t a, vor ihm aber schon von B ehrend hervorgehobene
Beobachtung zu erwähnen, die seither als P r o f e t a’s Gesetz
bekannt ist, dahin gehend, dass ein gesundes Kind einer im
contagiösen Stadium der Syphilis befindlichen Mutter von
dieser durch das Stillen und Warten nicht inficirt werde.
Allerdings fügt Profeta weiter hinzu, das Kind könne
später, sobald dessen Organismus erneuert ist, syphilitischer
Infection wieder zugänglich werden. Durch eine Verallgemei¬
nerung auf alle Kinder syphilitischer Eltern wurde diese Be¬
obachtung auch als P r o f e t a’ s c h e s Gesetz bezeichnet,
besagt dann also eigentlich mehr, als Profeta selbst aus-
drücken wollte.
Es haben also mehrfache Beobachtungen,
die Beobachtungen, dass die Syphilis im Laufe der Zeiten
milderen Verlauf angenommen habe, dass bei Kindern syphi¬
litischer Eltern die Syphilis mild oder abortiv verlaufe, here¬
ditär-syphilitische Individuen sich gegen Syphilisinfection re-
fractär verhalten, die Beobachtung, dass secundär-syphilitische
Mütter ihre gesunden Kinder nicht zu inficiren pflegen, endlich
die Auffassung der sporadischen Fälle von maligner Syphilis
gesunder Individuen schon seit langer Zeit dahin
geführt, anzunehmen, dass ein I n d i v i d u u m, d a s
durch acquirirte Syphilis gegen Neuin fection
immun geworden sei, diese Immunität, als ab¬
solute oder relative, auf seine Nachkommen zu
vererben vermöge. Prüft man aber die Stützeu dieser
Ansicht, dann muss man zugeben, dass sie nicht absolut sicher
sind, nicht den Werth wissenschaftlicher Beweise beanspruchen
können. So hat der mildere Verlauf der Syphilis bei durch¬
seuchten Völkern möglicher Weise ganz andere Ursachen, die
in besserer Hygiene, Diät, Therapie etc. zu suchen sind; auch
die sporadisch auftretende maligne Lues kann anderen uns
unbekannten Factoren und nicht dem Fehlen ererbter Im¬
munität ihre Entstehung verdanken; die Immunität der ge
sunden Kinder syphilitischer Eltern, die sogenannte Pro-
feta’sche Immunität, ist bisher durch Impfung nicht erprobt,
also wissenschaftlich nicht erwiesen. Es hat ja Neisser erst
neulich, und gewiss mit Recht darauf hingewiesen, dass die
Lehre von der Immunität bei Syphilis einer
gründlichen Revision bedarf, die bisher gelten¬
den Ansichten mehr traditionell als wissen¬
schaftlich begründet seien. In der That kennen wir
eigentlich für die Annahme der Vererbung der Immunität bis¬
her keine zwingenden Beweise, wir kennen aber eine
Reihe von Thatsachen, die, wenn auch nicht
direct dagegen, so doch dafür sprechen, dass
eine solche Vererbung der Immunität nur in
beschränktem Masse vorkomme, zum mindesten in
einer nicht geringen Zahl von Fällen ausbleibe. Solche That¬
sachen, die uns in unserem Glauben an die Vererbung der
Immunität wanken machen müssen, sind : 1. Die Thatsache,
dass bei acquirirter Syphilis selbst die Im¬
munität oft eine zeitlich begrenzteist, Reinfectionen
nach nicht so langer Zeit, ja wenn auch in seltenen Fällen
schon zur Zeit noch bestehender Erscheinungen von der ersten
Infection her zur Beobachtung kommen. Hiebei müssen wir
uns noch von der Erwägung leiten lassen, dass solche Re¬
infectionen vielleicht noch h ä u fi g e r wären, wenn
nicht sociale Momente, Vorsicht, Routine, Ehe und deren
Surrogate, weiters Alter, Impotenz etc. der Häufigkeit der¬
selben entgegenarbeiten würden. 2. Die Thatsache, dass
nicht wenige Fälle bekannt sind, in denen
zweifellos he reditär syphilitische Individuen
sich reinficiren. 3. Die Thatsache, dass nicht
wenigeFälle bekannt sind, dass gesunde Kinder
syphilitischer Eltern sich inficiren und deren
Syphilis durchaus nicht immer einen milden
Verlauf nim m t.
Die Frage der Reinfection nach acquirirter Syphilis hier
eingehend zu erörtern, würde den Rahmen dieses Referates
überschreiten, ich begnüge mich damit, die grosse Zahl zweifel¬
loser Fälle zu constatiren und hervorzuheben, dass in einem
Theile derselben die zweite Infection durchaus nicht jenen
milden Verlauf darbot, den man auf Basis einer zurück¬
bleibenden, wenigstens relativen Immunität erwarten sollte.
Dagegen möchte ich in die Besprechung der beiden
anderen Punkte etwas näher eingehen. Wohl betrifft die hier
niedergelegte Casuistik nur die zweite Generation, die un¬
mittelbaren Nachkommen von Eltern mit acquirirter Syphilis,
gehört also, strenge genommen, nicht in ein Referat, das sich
mit den Nachkommen Hereditärsyphilitischer zu befassen hat,
aber über die Immunität dieser liegt uns zur Zeit keine
Casuistik vor, andererseits wrerden die an der zweiten Gene¬
ration gemachten und vorliegenden Beobachtungen uns manche
Rückschlüsse auf die dritte und die weiteren Generationen g-e-
O
statten.
A. Wras die Reinfection hereditärsyphiliti¬
scher Individuen betrifft, so möchte ich dieselben in zwei
Gruppen theilen, in deren erste jene Individuen gehören, die
echte, ererbte Syphilis durchmachten, während in der zweiten
Gruppe jene Fälle zusammengefasst sind, bei denen die Kinder
keine Zeichen echter congenitaler Syphilis darboten, der Ein¬
fluss der elterlichen Syphilis sich nur durch die bekannten
Degenerationserscheinungen, Stigmen, äusserte.
T. Grupp e. Hieher gehören:
1. Fall. (Hutchinson, Medical Times and Gazette. 1863;
Syphilis. 1887.) Beide Eltern acquirirten Syphilis etwa sechs Jahre
vor Geburt des Kindes. Drei ältere Kinder starben früh. Der Patient
hatte in der Kindheit ein luetisches Exanthem, mit 15 Jahren eine
Keratitis punctata, Iridochorioiditis, die auf Quecksilber heilte.
20 Jahre alt acquirirte derselbe Syphilis, hatte eine Roseola, Ge¬
schwüre im Rachen und wurde mit Quecksilber behandelt.
2. Fall. (Merkel, Baierisehes Intelligenzblatt., 1869.) Ver¬
fasser berichtet über einen Fall, ein Mädchen betreffend, das als
Kind eine Perforation des harten Gaumens durch Syphilis erlitten
batte, strahlige Narben am Mund darbot, mit 19 Jahren aber Er-
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 19
scheinungen frischer, secundärer Syphilis, maculo-papulöses Exanthem,
Plaques an der Vulva darbot.
3. Fall. (R i n e c k e r, Ueber Scrophulose und Syphilis. Sitzungs¬
berichte der physiologisch-medicinisehen Gesellschaft in Würzburg.
1881.) Verfasser stellt einen kräftig gebauten, 29 Jahre alten Mann
vor, der im Alter von zehn Jahren nach vorausgegangenem Schar¬
lach eine Syphilis hereditaria tarda unter der Form von Ulcerationen
im Nasen-Rachenraum darbot, die mit beträchtlicher Deformation
der äusseren Nase heilten. Vor einem Jahre acquirirte derselbe
einen phagedänischen Initialaffect, an den sich ein ulceröses Haut¬
syphilid anschloss.
4. Fall. (Wolff, Syphilis hereditaria tarda. Volkmanri’s
Vorträge. 1886.) Wolff berichtet über ein Mädchen, dessen ältere
Geschwister unter einem Jahre gestorben waren. Dieselbe zeigte,
16 Jahre alt, Virgo, körperlich sehr mangelhaft entwickelt, ein
luberculo-ulceröses Syphilid am Rücken, das auf antiluetische Be¬
handlung heilte. Sechs Jahre später hatte dieselbe einen syphiliti¬
schen Initialaffect am Labium mit secundär-syphilitischen Con-
secutivis.
5. Fall. (Hutchinson, Syphilis. 1887.) Ein Mann mit
typischen Symptomen hereditärer Syphilis, verbildeten Gesichts¬
skelet, Narben nach interstitieller Keratitis, erodirlen Zähnen, ac¬
quirirte eine ulcerirte Sklerose, die von disseminirtem, ulcerösem
Hautsyphilide gefolgt war.
6. Fall. (Hutchinson, ibidem.) 22 Jahre alter Patient mit
typisch hereditär-syphilitischer Gesichtsbildung, erodirten Zähnen,
Narben nach Keratitis interstitialis, acquirirte Sklerose, die drei
Monate später von Ecthyma syphiliticum gefolgt war.
7. Fall. (Dieulafov, Syphilis du poumon. Gaz. hebdom.
de med. et de Chirurg. 1889.) Ein Patient, dessen Anamnese
hereditäre Lues ergab, der Hutchinso n’sche Zähne darbot, vor
Jahren ein Gumma an der Tibia hatte, das auf antiluetische Be¬
handlung heilte, reinficirt sich mit einer Sklerose, die von secundär-
syphilitischen Gonsecutivis gefolgt war.
8. Fall. (H ö n n, Ueber hereditäre Syphilis. Inaugural-Disser¬
tation. Würzburg 1890.) Als kleines Kind hatte die nun 18 Jahre
alte M. K. ein luetisches Exanthem durchgemacht, mit zwölf Jahren
Ulcerationen am weichen Gaumen und der Nase. Jetzt ist die Nase
eingesunken, Vomer und Os nasale theilweise zerstört, im rechten
Nasengange oberflächliche Ulcerationen, geheilte Perforation der
Nasenscheidewand und des harten Gaumens. Ausserdem hat das
Mädchen eine frische Initialsklerose in der Fossa navicularis.
9. Fall. (Taylor, A case of syphilitic Infection in a Person
hereditary syphilitic. Journ. of cutan. and genit.-urin. dis. 1890.)
Der Vater war syphilitisch gewesen, die Mutter hatte drei
Fehlgeburten, dann kam es zur Geburt eines Mädchens, das bald
nach der Geburt Roseola, Koryza darbot, sehr schwächlich und
kränklich war. Mit 19 Jahren verheiratet und Mutter eines ge¬
sunden Knaben hatte die Betreffende ein syphilitisches Gumma am
Nasenflügeln, das auf antiluetische Behandlung heilte. Sieben Jahre
später, im Alter von 26 Jahren wurde dieselbe von ihrem Manne
mit Sklerose, auf die Roseola und Plaques folgten, inficirt.
10. Fall. (Hutchinson, Acquiret Syphilis in a subject
of inherited Taint. Medical Journ. 1894.)
Ein 25 Jahre alter Mann mit Residuen hereditärer Syphilis,
Keratitis interstitialis, Narben an den Mundwinkeln, eingesunkener
Nase, dessen Bruder an einer chronischen Knochenerkrankung leidet,
acquirirt eine Sklerose, die von Gonsecutivis und nach einem Jahr
von syphilitischer Dactylitis gefolgt war.
11. Fall. (Lang, Vorlesungen über Pathologie uud Therapie
der Syphilis. 1896.)
Der Vater war luetisch, mehrere ältere Geschwister starben
bald nach der Geburt, der Patient, das jüngste Kind, war gesund,
bis es im 16. Lebensjahre Gummen am Unterschenkel und im
Rachen darbot. 25 Jahre alt, acquirirte derselbe eine typische
Sklerose mit Skleradenitis.
Lang fügt hinzu, er habe seither mehrere analoge Fälle be¬
obachtet.
12. Fall. (Desnos, Societe medic, de l’Elysee. 1. Februar
1897.)
Der Vater inficirte sich drei Jahre vor der Verehelichung. In
den ersten drei Jahren der Ehe erfolgte die Geburt von zwei
hereditär-syphilitischen Kindern. Das eine derselben inficirte sich
als Student der Medicin mit Syphilis.
1 3. Fall. (Hochsinger, Studien über die hereditäre Syphilis.
Wien 1898.)
Vater und Mutter syphilitisch. Die Tochter hat bald nach
der Geburt Symptome hereditärer Syphilis. Koryza, syphilitisches
Exanthem, heilt auf antiluetische Cur. Im elften Jahre zeigt sie
eine gummöse Periostitis tibiae. Mit 21 Jahren heiratet sie einen
Mann, der durch seine hartnäckige Weigerung, sich untersuchen zu
. lassen den Verdacht auf Syphilis erweckt, hat mit diesem zwei
hereditärluetische Kinder und zeigt zur Zeit, als sie das zweite
Kind stillte, Papeln am Munde und dem Genitale. (Infection vom
Kinde?)
14. Fall. (Emery, citirt E. Fournier, Stigmates dystro-
phiques de l’Heredo-Syphilis. Paris 1898.)
Von elf Geschwistern des Patienten sind sechs gestorben.
Der Patient selbst zeigt Erosion der Zähne, Keratitisnarben,
Zerstörung der Nase durch eine ulceröse Affection im Alter von
elf Jahren.
Mit 20 Jahren acquirirt derselbe eine Sklerose, papulöses
Syphilid, Papeln im Munde und am Genitale.
II. Gruppe.
15. Fall. (Dowse, Medical Times and Gazette. 1877.)
Die Mutter hatte acht Abortus. Die Tochter zeigte typische
H u t ch i n s o n’sche Zähne, inficirte sich von einen syphilitischen
Kinde mit einer Sklerose am Arme, zeigte Exanthem, später
schwere ulceröse Syphilide, Destruction der Nase, Larynx, Trachea,
Rupia syphilitica.
1 6. Fall. Tavernier, Considerations ä propos de trois cas de
Syphilis acquise, chez des sujets porteur de stigmates de la
Syphilis hereditaire tardive. Annales de Dermatologie et de Syphiligr.
1887.)
Patientin klein, schwächlich, mit Hutchinso n’schen Zähnen,
Narben ad nates. Ein Bruder aus unbekannter Ursache gestorben,
acquirirt drei ekthymaähnliche Schanker am Genitale, Skleradenitis,
Roseola.
17. Fall. (Tavernier, ibidem.)
Von neun Geschwistern des Patienten sind vier gestorben.
Der Patient sehr schwach, zurückgeblieben, mit vorgewölbten Stirn¬
höckern, erodirten Zähnen, Narben ad nates hat Phimose, Sklerose,
luxurirende Papeln ad anum, Leucoderma syphiliticum.
18. Fall. (Tavernier, ibidem.)
Von zwölf Geschwistern vier gestorben. Patient mit erodirten
Zähnen, Keratitisnarben, Narben ad nates, hat Phimose, Sklerose,
Roseola, Plaques im Munde und ad anum.
19. Fall. (Wickham, Soc. franyaise de Dermat. et de
Syphiligr. 12. November 1896.)
Ein Mädchen mit typischen Hu t ch i n s o n’schen Zähnen
acquirirt Sclerose, Roseola und zeigt später eine ganze Reihe
schwerer Syphiliserscheinungen.
20. Fall. (Le Pile ur, Syphilis acquise eher un sujet
considere comme heredosyphilitique. Annal. de Dermat. et de
Syphil. 1896.)
Der Vater mit 30 Jahren syphilitisch inficirt, heiratet fünf
Jahre später, erkrankt während der Ehe an Gummen am Unter¬
schenkel und cerebralen Erscheinungen. Mutter bleibt gesund. Ein
Abortus, ein Kind (Sohn), das keine Syphilissymptome, wohl aber
Mikrodontismus, erodirte Zähne zeigt, geistig sehr zurück, zornmüthig
ist, viel an Kopfschmerz leidet. 29 Jahre alt, inficirt sich derselbe
mit Sklerose, Roseola, Papeln ad anum und genitale.
21. Fall. (Cooper and Gottereil, Syphilitic Reinfection.
Bericht des III. internationalen dermatologischen Congresses. London
1896.)
Ein 20 Jahre altes Mädchen mit syphilitischen Schneide¬
zähnen, alten Keratitisnarben, hat eine frische Sklerose, secundäre
Symptome.
22. Fall. (E. F o u r n i e r, Stigmates dystrophiques de l’Heredo-
Syphilis. Paris 1898.)
Ein Mann mit typischen Hutchinso n’schen Zähnen,
acquirirt, 18 Jahre alt, eine Initialsklerose mit Consecutivis und
zeigt, 29 Jahre alt, tertiäre Symptome.
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900
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23. Fall. (E. Fournier, ibidem.)
Eine Frau von 23 Jahren, von deren 10 Geschwistern sechs
bald nach der Geburt oder in frühester Jugend gestorben waren,
die selbst Infantilismus, Dystrophien der Zähne, Keratitisnarben
nach einer schweren in der Kindheit durchgemachten Augen¬
erkrankung darbietet, zeigt eine Sklerose des linken Labium,
Roseola, Papeln der Mundschleimhaut; Genitale, Anus, Alopekie,
Fieber, Kopfschmerz.
24. Fall. (E. Fournier, ibidem.)
Ein junger Mann mit ausgesprochenem Infantilismus, Dys¬
trophien der Zähne, Ektopie der Hoden zeigt Sklerose des Präputiums,
Skleradenitis, Roseola, Papeln der Mundschleimhaut, Alopekie.
25. Fall. (E. Fournier, ibidem.)
Der Vater, nun 67 Jahre alt, litt im Alter von 20 Jahren
an Sklerose, Consecutivis, Periostitis tibiae. Von 13 Kindern sind
sechs früh verstorben. Von den überlebenden zeigt ein 21 Jahre
alter Sohn, der dystrophische Zähne darbietet, Sklerose am Frenulum,
maculo-papulöses Exanthem.
26. Fall. (Jul lien und Thuvien, Contribution de la
reinfection chez les heredo-syphilitiques. Annal. de Derm, et de
Syphil. 1899.)
Der Vater inficirte sich sechs Monate vor der Ehe und be¬
handelte sich schlecht, die Mutter bleibt gesund. Der Sohn, im
erster Jahre der Ehe geboren, hat keine Syphilissymptome, bleibt
aber geistig und körperlich zurück, seine Haut ist atrophisch, dys-
und achromatisch, die Nägel fehlen, an den unteren Extremitäten
Narben, Narben von Keratitis. Mit 22 Jahren zeigt dieser Sohn
Sklerose, papulo-pustulöses Syphilid, das hämorrhagisch wird,
schwere denutritive Allgemeinerscheinungen, Tod an Pneumonie.
27. Fall. (Rendu, Progres medical. 1899, Nr. 29) stellte
in der Academie de medecine ein 19 Jahre altes Mädchen vor,
das alle Zeichen hereditärer Syphilis darbot, dabei aber an einer
echten, frischen acquirirten Lues litt. Diese letztere war gutartig.
Ueberblicken wir die eben mitgetheilten Fälle, so erhellt
aus dem Studium der ersten Gruppe derselben die Thatsache,
dass Individuen, die in ihrer Kindheit eine er¬
erbte Syphilis durch machten, durch diese
gegen Neuinfection, Reinfection nicht immun
zu werden brauchen, sondern im weiteren Verlaufe des
Lebens ganz wohl noch an acquirirter Lues erkranken können.
Ja nicht einmal ein wesentlich milderer Ver¬
lauf der Syphilis lässt sich in diesen Fällen
constatiren.
Wohl führt Majew an, er hätte in zwei Fällen bei
heredosyphilitischen Individuen einen abortiven Verlauf der
Syphilis beobachtet, derart, dass sich bei diesen Individuen
nur eine Initialsklerose ohne Consecutivis entwickelte, aber in
den oben angeführten in extenso in der Literatur nieder¬
gelegten Fällen sehen wir nichts derartiges. Die Syphilis hat,
so weit die Beobachtung reichte, in den meisten Fällen den¬
selben Durchschnittsverlauf, wie wir ihn in der Mehrzahl der
Fälle syphilitischer Infection überhaupt heutzutage beobachten.
In drei Fällen (Rinecker 3, Hutchinson 5, 6, 10) da¬
gegen war der Verlauf der Syphilis ein direct schwerer.
Die Zeit zwischen dem Ablauf der ersten Infection, d. h. dem
Ausheilen der letzten Aeusserungen derselben und dem Auf¬
treten der zweiten Infection betrug, so weit dies aus den
Krankengeschichten ersichtlich, 5 Jahre (Hutchinson 1),
6 Jahre (Wolff 4), 7 Jahre (Taylor 9), 9 Jahre (Emmery 14),
also durchaus keine auffällig lange Zeit, ja in einem Falle
(Hönn 8), der leider nur fragmentarisch vorliegt, hatte das
Mädchen zur Zeit der Reinfection noch ulceröse Processe, die
von der hereditären Syphilis herstammten.
Zugegeben muss werden, dass nicht in allen Fällen die
erste Syphilis als hereditäre zweifellos erwiesen ist. Sicher ist
dies nur für die Fälle: Hutchinson (1), Hönn (8), Taylor (9),
Desnos (12), Hochsinger (13). Für die anderen Fälle der
ersten Gruppe könnte ganz wohl der Einwand erhoben werden,
dass ein oder der andere derselben keine hereditäre sondern
eine in frühester Jugend erworbene Syphilis darstelle. Der
Einwand ist, vom principiellen Standpunkte der
Dauer der Immunität, und nur diesen nehme ich hier
ein, gleichgiltig. Es geht ja wohl nicht an, der acquirirten
Syphilis die Fähigkeit zuzuschreiben, das Individuum gegen
Reinfection widerstandsfähiger zu machen, als die ererbte Sy¬
philis, wie Hutchinson dies (1863) that. Aus dieser
Gruppe von Fällen ist ja nur der Schluss zu
ziehen, dass eine in frühester Kindheit durch¬
gemachte (hereditäre oder acquirirte) Syphilis eine Im¬
munität bedingt, die zur Zeit der Pubertät, also
in den für dielnfection gefährlichsten Jahren, für
viele Individuen schon erloschen ist, Reinfectionen
um diese Zeit also nicht mehr zu verhindern ver¬
mag. Wenn Hutchinson schon im Jahre 1863 den Eindruck
hatte, dass hereditäre Syphilis gegen Reinfectionen weniger
schütze als acquirirte Syphilis, ein Eindruck, den man fast
zu theilen geneigt wäre, so kann die Beobachtung nur in der
Art erklärt werden, dass man annimmt, beiden Formen der
Infection komme nur eine zeitlich begrenzte Im¬
munität zu, deren Dauer sich auf 10 — 15 Jahre etwa er¬
strecken könnte. Individuen nun, die sich im Alter zwischen
20 und 30 Jahren einer Infection mit acquirirter Syphilis aus¬
setzen, geniessen diese Immunität bis in ihr 40. — 45. Lebens¬
jahr, also bis zu einer Zeit, in der die Gefahr von Infection,
also auch Reinfection, für sie wesentlich abnahm. Dieselbe
Dauer der Immunität für hereditäre oder in früher Kindheit
acquirirte Syphilis findet aber die betreffenden Individuen in
dem Alter von 20 — 30 Jahren, das bekanntlich für die In¬
fection das gefährlichste ist, schon frei von dieser Immunität,
schütze sie also nicht mehr vor Reinfection.
Aus der zweiten Gruppe von Fällen würde sich weiters
der Schluss ergeben, dass auch jene Kinder, die, wenn auch
nicht mehr das syphilitische Virus von den Eltern übernahmen,
durch die syphilitische Intoxication der Eltern aber in ihrer
Entwicklung und ihrem Gedeihen sowohl im intrauterinen, als
extrauterinen Leben wesentlich nachtheilig beeinflusst werden,
eine Immunität gegen syphilitische Infection
nicht unbedingt zu besitzen brauchen. Ja selbst
von einer relativen Immunität kann in diesen Fällen kaum
die Rede sein. Wohl gibt Tarnowsky an, 30 Fälle leichten
und abortiven Verlaufes der Syphilis bei Individuen beobachtet
zu haben, die selbst schwächlich, neuropathisch, viele Degene-
nerationszeichen an sich tragen, bei denen meist eine Syphilis
der Eltern oder Vater oder Mutter allein nachzuweisen war.
Moloden kow sammelte 20 Fälle von Infectionen bei jungen
Männern, die alle Hu t c h i n so n ’sehe Zähne darboten und
alle leichten, abortiven Verlauf der Syphilis darboten, unsere
hier gesammelten Beobachtungen zeigen aber, dass dem nicht
immer so sein müsse, die Vererbung einer selbst relativen
dauernden Immunität ausbleiben könne. Die Mehrzahl der
Fälle zeigt Durchschnittsverlauf, die Fälle von Dowse (15),
Wickham (22), E. Fournier (26), Jullien und Thuvien
(27) schweren Verlauf der acquirirten Syphilis. Das Alter, in
dem die Infection stattfand, 29 Jahre (20), 20 Jahre (21),
19 Jahre (22), 23 Jahre (24), 21 Jahre (25), 22 Jahre (27)
ist stets ein jugendliches, vor, oder zwischen 20—30 Jahren,
was beweist, dass in diesen Fällen, wenn überhaupt
je eine Immunität bestand, diese zur Zeit der Pu¬
bertät bereits erloschen war.
Gewiss wird in manchen dieser Fälle, in denen von den
Antecedentien der Ascendenz nichts bekannt ist, bei dem in-
ficirten Individuum nur geringe Degenerationserscheinungen
nur Hutchinson’sche Zähne, Keratitisnarben etc. sich vor¬
fanden, es dem Zweifler fraglich bleiben, ob das Individuum
überhaupt unter dem Einflüsse syphilitischer Intoxication
stand, bei den Eltern de facto Syphilis vorhanden war. Doch
ist dieser Einwand nur für die Minderzahl der Fälle der
zweiten Gruppe am Platze. In der Mehrzahl der Fälle
Dowse (15), Tavernier (17, 18), Le Pileur (20), E. Four¬
nier (23, 24, 25), Jullien und Thuvien (27), sind über
die Syphilis der Eltern directe Nachweise, oder machen andere
Momente, die Polyletalität der Geschwister des Patienten
im Zusammenhalt mit den Degenerationserscheinungen dieselbe
zum Mindesten im höchsten Grade wahrscheinlich.
492
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 19
»Sehen wir nun so, dass Kinder, die unter dem Einflüsse
des ererbten Leidens standen, oder zum mindesten durch dessen
Toxine in nachtheiliger Weise beeinflusst wurden, doch keine
(o ler nur eine kurz dauernde) Immunität gegen Syphilisinfection
zu besitzen brauchen, so wird es uns kein Wunder . nehmen,
zu sehen, dass die gesunden Kinder syphilitischer Eltern keine
solche Immunität darzubieten brauchen, wie die nächste Gruppe
von Fällen beweist.
B. In der Frage der Infection gesunder Kinder
syphilitischer Eltern ist nämlich eine, wenn auch nicht
grosse Casuistik vorhanden, Fälle, die beweisen, dass solche
Kinder in den verschiedenen Lebensaltern Syphilis zu acqui-
riren vermögen. Hierher gehören folgende Fälle:
1. Fall. (Bärensprung, Die hereditäre Syphilis. Berlin
1864.)
Die Mutter, die bereits früher ein gesundes Kind geboren
hatte,' wurde im letzten Monate der Gravidität inficirt, hatte ihre
secundären Symptome etwa sechs Wochen nach der Entbindung
und zeigte später mehrere Recidiven. Ihr Kind, reif geboren und
gut entwickelt, das mit der Mutier in demselben Bette schlief,
zeigte, elf Monate alt, die Erscheinungen einer circa drei Monate
alten, acquirirten Syphilis, Reste von Roseola, papulöses Exanthem,
luxurirende Papeln ad anum et genitale, sowie am Munde, den
Tonsillen.
2. Fall. (Mireur, Essai sur l’heredite syphilitique. Paris
1 867.)
Der Vater hatte sich mit Syphilis als Junggeselle inficirt und
nach Abheilung der ersten Symptome verehelicht. Dessen Frau
blieb gesund und gebar 22 Monate nach der Infection des Mannes
ein gesundes reifes Kind, das, zwei Jahre alt, durch Kuss vom
eigenen Vater, der damals erodirte Papeln an den Mundlippen dar¬
bot, mit einer Lippensklerose inficirt wurde, auf die typische Allge¬
meinsymptome folgten.
3. Fall. (Bo eck, Erfahrungen über Syphilis. 1875.)
Die Mutter wurde im Alter von zehn Jahren mit Syphilis
inficirt, behandelt und hatte später zwei tertiäre Recidiven. Mit
27 Jahren verheiratet, batte die Frau zuerst ein Kind, das zwei
Jahre alt starb, dann drei gesunde Kinder, welche drei in kind¬
lichem Aller sämmtlich von einem syphilitischen Dienstmädchen
inficirt wurden.
4. Fall. (Obtulowicz, Ein Fall von Syphilis. Gesellschaft
der Aerzte. Krakau 1876.)
Die Mutter wurde etwa im siebenten Monate der Gravidität
inficirt, hatte im achten Monate eine Sklerose, auf die eine Roseola
folgte, gebar ein reifes, kräftiges Kind, das während sechsmonat-
licher ärztlicher Beobachtung keine Syphiliserscheinungen darbot;
zehn Monate alt — die Mutter batte zu dieser Zeit eine Recidive
von ulcerösen Papeln an Mund und Zunge — zeigte das Kind
Symptome acquirirter Lues, Roseola, bedeutende Drüsenschwellungen,
Papeln an Mundschleimhaut und Anus.
5. Fall. (Weil, lieber syphilitische Infection der Kinder
nach der Geburt. Zeitschrift für praktische Medicin. 1877.)
Der Vater acquirirte Syphilis, als dessen Frau im dritten
Monate der Gravidität stand, inficirte dieselbe etwa im siebenten
Monate. Zur Zeit der Entbindung hatte die Frau Papeln am Geni¬
tale und Anus. Das Kind, reif, gesund geboren, zeigte in der
vierten Woche nach der Geburt eine Sklerose an der Nasenwurzel,
eit V ochen alt ein ausgebreitetes maculo-papulöses Exanthem,
Psoriasis palmae et plantae.
6. Fall. (Grün fold, Ueber Vererbung der Syphilis bei Neu¬
geborenen. Wiener medicinische Presse. 1879.)
Die Mutter wurde Mitte der Gravidität von ihrem recent
syphilitischen Manne inficirt, hatte zur Zeit der Entbindung Papeln
am Genitale und ein papulöses Syphilid, gebar ein gesundes Kind,
das, acht Wochen alt, eine charakteristische Sklerose am behaarten
Kopfe und ein recentes syphilitisches Exanthem darbot.
7. lall. (Arning, Fall von syphilitischer Infection einer
graviden Mutter seitens des recent luetischen Ehemannes. Gesundes
Kind. Spätere Infection desselben durch die Mutter. Vierteljahres¬
schrift für Dermatologie und Syphilis. 1883.)
Die Mutter wurde von dem recent-svphilitiscben Manne im
vierten Monate der Gravidität inficirt. Gebar ein gesundes Kind,
das sie zunächst an beiden Brüsten, dann wegen Rhagaden der
linken nur an der rechten Brust stillte. Zehn Wochen alt hatte
das Kind eine Sklerose an der Oberlippe, 17 Wochen alt ein aus-
gebreitetes papulöses Syphilid am Stamme, Papeln an Mundschleim¬
haut und Anus, die auf antiluetische Behandlung heilten. Einen
Monat später trat Periostitis am Zeigefinger auf und fünf \VTochen
später starb das Kind marascirend an Convulsionen. Die Section
ergab einen Erweichungsherd am Schläfelappen.
8. Fall. (Neumann, Zur Lehre von der congenitalen Lues.
Wiener medicinisches Jahrbuch. 1885.)
Die Mutter wurde im siebenten Monate der Gravidität von
ihrem frisch inficirten Manne mit Syphilis inficirt, hatte im neunten
Monate der Gravidität ihre secundären Symptome und gebar einen
gesunden reifen Knaben, der, sieben Monate alt, wahrscheinlich von
nässenden Papeln am Genitale der Mutter, mit der er im selben
Bette schlief, eine Sklerose am Genitale mit consecutivem syphiliti¬
schem Exanthem darbot.
9. Fall. (B a r t h e 1 e m y, eil. Riocreux, Syphilis. Heredite
paternelle. Paris 1888.)
Der Vater hatte eine schwere Syphilis mit mehreren tertiären
Recidiven. Der Sohn, vier Jahre nach der Infection des Vaters
geboren, acquirirte, 24 Jahre alt, Syphilis, die von ziemlich schweren
Erscheinungen nervöser und tertiärer Natur gefolgt war.
10. Fall. (Esow, II. Congress russischer Aerzte. Monatshefte
für praktische Dermatologie. 1889.)
Der Vater hatte eine schwere Syphilis durchgemacht, der
Sohn, gesund geboren, acquirirte Syphilis, die auch schweren Ver¬
lauf nahm.
11. Fall. (Gold flamm, Klinischer Beitrag zur Aetiologie
der Tabes dorsalis. Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde.
1892.)
Der Vater hatte mit 20 Jahren eine, syphilitische Infection
durchgemacht, die 20 Jahre später von Tabes gefolgt war. Der
Sohn acquirirte im Alter von 23 Jahren Syphilis und zeigte elf
Jahre später die ersten Symptome von Tabes.
12. Fall. (C. Paul, De la Syphilis attenue. Memoire de la
Soc. de Therap. 1893.)
Der Vater inficirte sich acht Jahre vor der Ehe und machte
eine schwere, noch in der Ehe von tertiären Symptomen gefolgte
Syphilis mit. Von zwei gesunden Söhnen acquirirte der jüngere
zwölf Jahre nach der Infection des Vaters geborene Sohn im Alter
von 22 Jahren eine mild verlaufende Syphilis.
13. Fall. (C. Paul, ibidem.)
Der Vater inficirte sich acht Jahre vor der Ehe und machte
eine hartnäckige Syphilis durch, die noch in der Ehe sich durch
tertiäre Symptome äusserte. Ein gesunder Sohn inficirte sich,
18 Jahre alt, mit Syphilis, die milden Verlauf nahm.
14. Fall. (v. Düring, Ueber einige Fragen aus der Lehre
von der Vererbung der Syphilis. Monatshefte für praktische Dermato¬
logie. 1895.)
Beide Eltern batten Syphilis. Auf eine Frühgeburt folgte die
Geburt mehrerer syphilitischer Kinder, dann die Geburt eines
Sohnes, der von hereditärer Syphilis frei blieb, aber im Alter von
21 Jahren Syphilis acquirirte, die wohl nicht schwer, aber hart¬
näckig war, erst nach dreijähriger Behandlung ausheilte.
15. Fall. (Harding, A case of Syphilis in Mother and
child with unusual History. Boston med. and surg. Journal. 1896.)
Die Mutter wurde zur Zeit der Conception von ihrem recent
syphilitischen Manne inficirt, hatte im zweiten Monate der Gravi¬
dität ein Exanthem, das antiluetisch behandelt wurde. Sie gebar
ein gesundes, reifes Kind, das sie selbst — sie war zu dieser
Zeit symptomenfrei — stillte und das gesund blieb. Drei Jahre
später, die Mutter hatte eben ein pustuloses Syphilid, zeigte das
Kind, das mit der Mutter im selben Bette schlief, an einer Stelle
am rechten Arm, an der es durch eine Nadel geritzt worden war,
eine typische Sklerose, multiple Drüsenschwellung, Roseola, Plaques
an Mund und Genitale.
16. Fall. (Wickham, Societe franyaise de Dermal et de
Syphiligr. 10. December 1896.)
Der Vater war vor der Ehe syphilitisch. Der Sohn, gesund
geboren, acquirirte eine Syphilis, die sehr schweren Verlauf nahm.
17. Fall. (v. Düring, Weitere Beiträge zur Lehre von der
hereditären Syphilis. Deutsche medicinische Wochenschrift. 1897.)
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Dor Vater zeigt tertiäre Symptome einer vor vierzig Jahren
acquirirten Syphilis. Zwei Söhne, 32 und 28 Jahre alt, leiden an
aequirirter Syphilis.
18. Fall. (v. Düring, ibidem.)
Vater 60 Jahre alt, Mutter 40 Jahre alt, haben beide ulceröse
Nasen-Rachensyphilis, letztere auch ein serpiginöses ulceröses
Syphilid der Brust. Eine 20jährige Tochter hat Gumma der Zunge,
serpiginöses Syphilid der Haut, ein 17jähriger Sohn ulcerirtes
Gumma der Rachenwand. Das jüngste, drei Jahre alte Kind, ein
kräftiges, gesundes Mädchen, hat luxurirende Papeln an Mundschleim¬
haut und ad anum. Wurde angeblich durch Kuss inficirt.
19. Fall. (v. Düring, ibidem.)
Vater 50 Jahre alt, vor etwa 25 Jahren inficirt, zeigt narbige
Zerstörung des weichen Gaumen, interstitielle Glossitis, Leuko¬
plakie. Dessen 20 Jahre alter Sohn hat einen Primäraffect am
Penis, syphilitisches Exanthem, wuchernde Papeln circa anum und
dem Genitale.
20. Fall. (v. D firing, ibidem.)
Vater 60 Jahre alt, vor etwa 25 Jahren inficirt, hat Narben
nach gummösen Hautsyphiliden. Dessen lo Jahre alte lochter mit
natiformer Stirne, welkem Aussehen, hat ein papulöses Syphilid am
Körper, grosse, ulcerirte Papel (Primäraffect r1) aui der rechten
Tonsille.
21. Fall. (v. Düring, ibidem.)
Vater 45 Jahre alt, vor circa 20 Jahren inficirt, hat Glossitis
und Narben am Gaumen. Dessen Frau, die gestorben ist, war an¬
geblich sicher syphilitisch. Ein 13 Jahre alter Sohn leidet seil
sieben Jahren an ulcerösem Hautsyphilide, ein jüngerer Sohn,
sieben Jahre alt, hat ein frisches papulo-ulceröses Exanthem, Papeln
am Munde und ad anum.
22. Fall. (Thibierge, Soc. medic, de l’Elysee. 1. Februar
1897. )
Der Sohn eines syphilitischen Vaters, der nie Zeichen er¬
erbter Syphilis dargeboten hatte, acquirirte im Alter von 20 Jahren
eine Sklerose mit Consecutivis.
23. Fall. (T h i b ie r ge, ibidem.)
Die Tochter eines Vaters, der als Junggeselle Syphilis durch¬
gemacht hatte, wird von ihrem syphilitischen Manne mit Sklerose
an der Zunge und Consecutivis inficirt.
24. Fall. (Tarnowsky, Reinfectio syphilitica. Wratsch.
1898. )
Die Mutter war syphilitisch und starb an Dementia syphilitica.
Deren Sohn, gesund geboren, acquirirte, 30 Jahre alt, eine leicht
verlaufende Syphilis und reinficirte sich zehn Jahre später mit
einer zweiten, etwas schwerer verlaufenden Syphilis.
25. Fall. (Jul lien, L’heredite seconde en Syphilis. Journ.
des mal. cutanees et syphil. 1898.)
Der Vater war vor der Ehe syphilitisch, der Sohn, gesund
geboren, acquirirt als junger Mann Syphilis.
26. Fall. (Jul lien, ibidem.)
Die Mutter wurde vor 24 Jahren inficirt. Der Sohn, 21 Jahre
alt, drei Jahre nach der Infection der Mutter gesund geboren,
acquirirte, 19 Jahre alt, eine Sklerose, auf die sofort eine von
Beginn an schwere Syphilis folgte.
27. Fall. (A n z a, Appunti di sifilide. Giornal. ital. di malattie
ven. e dclla pelle. 1898.)
Die Mutter wurde zur Zeit der Conception inficirt, batte im
dritten Monate der Gravidität sec-undäre Symptome, gebar einen
gesunden und reifen Knaben, den sie mit ihrem gleichalterigen
Neffen gleichzeitig stillte. Der Neffe wurde beim Säugen inficirt,
der Sohn nicht. Letzterer acquirirte, 23 Jahre alt, Sklerose mit
Consecutivis von normalem Verlauf.
28. Fall. (0 g i 1 v i e, Congenital Immunity to Syphilis. British
Journal of Dermatology. 1899.)
Der Vater acquirirte fünf Jahre vor der Ehe Syphilis, hatte
zwei gesunde Söhne. Von diesen acquirirte der eine, 18 Jahre alt,
Sklerose und Consecutiva.
29. Fall. (Ogilvie, ibidem.)
Der Vater acquirirte Syphilis fünf Jahre vor der Ehe, hatte
vier gesunde Kinder; von diesen das älteste, ein Sohn, inficirtc
sich, 21 Jahre alt, mit Sklerose, auf die eine hartnäckige, drei
Jahre recidivirende Syphilis folgte.
Die hier angeführte Casuistik könnte gewiss noch ver¬
mehrt werden. Mit Recht führen v. Düring und Jullien
an, dass jedem beschäftigteren Specialisten Fälle Vorkommen,
dass Söhne syphilitisch gewesener Väter selbst an aequirirter
Syphilis erkranken. Ich verfüge aus den letzten Jahren über
zwei solche Beobachtungen. Gewiss können die vorliegenden
Beobachtungen, von denen einige, wie die v. D firing’s, die
sich nur auf unsichere Anamnese stützen, nicht ganz einwand¬
frei sein mögen, (denn um einwandfrei zu sein, muss in jedem
Falle sichergestellt sein, dass die Eltern ihre Syphilis vor der
Geburt der betreffenden, später inficirten Kinder acquirirten)
nicht dazu benützt werden, die Lehre von der Vererbung der
Immunität zu widerlegen, sie können a priori nur als Aus¬
nahmen dieser Lehre gelten.
Sehen wir uns die Fälle genauer an, so finden wir, was
die Syphilis des Vaters betrifft, zunächst einige Fälle, wo
einerseits zwischen der Geburt des Kindes und der Infection
des Vaters ein relativ kurzer Zeitraum, zwei Jahre, drei Jahre,
fünf Jahre verstrich, andererseits die Infection des Kindes re¬
lativ rasch nach der Geburt (zwei Jahre im Falle Bar the-
1 e m y ’s) erfolgte, die Immunität also trotz für die¬
selbe günstiger Bedingungen nicht, o d e r v i ei¬
le i c h t nicht mehr vorhanden war. Die Mehrzahl
sind allerdings Fälle, wo einmal zwischen der Infection
des Vaters und der Geburt des fraglichen Kindes, dann aber
zwischen der Geburt des Kindes und dessen Infection eine
lange Reihe von Jahren verstrich, so dass man das Fehlen
der Immunität des Kindes erklären kann entweder daraus,
dass der Vater lange Zeit, viele Jahre vor der Zeugung des
Kindes inficirt, seine erworbene Immunität zur Zeit der
Zeugung des Kindes verloren hatte, also unter dafür gün¬
stigen Bedingungen auch reinficirbar gewesen wäre, diese
Immunität also nicht vererben konnte, oder dass das Kind
wohl eine Immunität vererbt erhielt, derselben aber in dem
langen Intervall von rund 20 Jahren, die zwischen Geburt und
Infection lagen, wieder verlustig wurde. Für unsere F rage
nach der Vererbung der Immunität auf die
Nachkommenschaftbleibt sich dies wohl gleich.
Denn wenn die Verhältnisse einmal so liegen,
dass, wenn der V a t e r fünf bis sechs Jahre voi¬
der Ehe inficirt wurde, der Sohn im 18. oder
20. Lebensjahre seinerseits Syphilis zu acqui-
riren vermag, also keine Immunität gegen Infection mehr
zu besitzen braucht, so ist es uns gleich giltig, ob der
Vater die acquirirte Immunität bereits verlor,
also nicht vererbte, oder ob eine Immunität von
begrenzter Dauer auf den Sohn vererbt jvurd e,
die aber zur Zeit der Pubertät
bereits wieder geschwunden
bleibt für uns, dass der Sohn eines syphiliti¬
schen Vaters zur Zeit seiner Pubertät keine
Immunität mehr besitzt, die er auf die zweite
Generation vererben könnte.
Was die Frage der Vererbung der Immunität gegen
Syphilis seitens der Mutter betrifft, so enthält die oben ange¬
führte Casuistik auffallend viele Fälle, die sich als Ausnahmen
vom Profetaschen Gesetz darstellen. Diese Ausnahmen
gehören wieder alle einer Gruppe an, in der die Mutter post
conceptionem inficirt wird. Von Fällen, wo die Mutter vor der
Conception des Kindes inficirt wurde, haben wir nur einen,
den Fall Jullien’s (26), und die Zahl dieser Fälle ist wohl
vor allem deshalb so gering, weil, wenn die Mutter zur Zeit
der Conception recent syphilitisch ist, die Geburt eines gesunden
Kindes ja zu den Seltenheiten gehört.
Die Fälle postconceptioneller Infection der Mutter gehören
nun gerade zu denjenigen, wo vom bacteriellen Standpunkte
aus die Verhältnisse für die Immunisirung des Kindes am
günstigsten liegen. Das Kind, durch die placentare Scheidewand
geschützt, erhält von der Mutter kein Virus, aber durch den
placentaren Stoffwechsel entweder direct Antitoxine, odei
Toxine, die im kindlichen Organismus Antitoxinbildung anregen
sollen. Und doch kann unter solchen Umständen die Immunität
des Kindes ausbleiben. Sehen wir von jenen Fällen ab in
des Sohnes
war, das F a c i t
434
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 19
denen die Infection der Mutter spät in der Gravidität erfolgte,
die Zeit zur Immunisirung des Kindes also vielleicht zu kurz
war, so bleiben noch einige Fälle, in denen die Infection der
Mutter früh, spätestens in der Mitte der Gravidität erfolgte,
das Kind aber nicht immun wurde, denn die Infection der
Kinder erfolgte in den meisten dieser Fälle sehr rasch.
So wurde im Falle Grün fei d’s (6) die Mutter Mitte
der Gravidität, das Kind sub partu inficirt. Im Falle Ar-
n i n g (7) die Mutter im vierten Monate der Gravidität, das
Kind sieben Wochen alt inficirt. Eine kurz dauernde Immu¬
nität würde nur durch die Fälle von Neumann (8), Har¬
ding (15) und An za (27) plausibel gemacht, wo die Kinder,
trotz der Gelegenheit dazu, in den ersten Lebensmonaten nicht
inficirt wurden, ihre Infection erst später erlitten. Wie barock
übrigens die Verhältnisse der Immunität sich gestalten können,
zeigt der Fall Tarnowsky’s (24), den Sohn einer syphiliti¬
schen Mutter betreffend, der sich zweimal im Leben, im Alter
von 30 und 40 Jahren mit acquirirter Syphilis inficirte.
Aber auch von einer relativen ererbten Im¬
munität gestatten uns diese Fälle nicht zu
sprechen. Von 29 Kindern syphilitischer Eltern machten
8 eine schwere aquirirte Syphilis durch, ein Verhältniss, das
sehr zu Ungunsten der von den Eltern ererbten Einflüsse
sprechen würde.
Ich habe die hier angeführten Thatsachen dass, 1. here¬
ditärsyphilitische Individuen sich zu reinficiren vermögen,
2. die durch die Syphilis der Eltern »stigmatisirten«, degene-
rirten Kinder Syphilis zu acquiriren vermögen, 8. die gesunden
Kinder syphilitischer Eltern der Infection zugänglich sind,
bisher als Ausnahmen vom Gesetz der Vererbung der Immu¬
nität bezeichnet. Diese Auffassung würde passen, wenn die
Thatsache der Vererbung der Immunität in wissenschaftlicher
Weise exact bewiesen wäre. Doch dem ist nicht so. Die Ver¬
erbung der Immunität ist bisher erschlossen,
supponirt, aber nicht bewiesen worden, gestützt
wurde sie nur durch die, auf verschiedene Weise zu erklärende
Beobachtung von dem Milderwerden der Syphilis bei durch¬
seuchten Völkern, sowie durch die Beobachtung, dass recent
syphilitische Mütter ihre gesunden Kinder nicht zu inficiren
pflegen. In der That scheint auch Manches dafür zu sprechen,
dass solche Kinder sich einer kurz dauernden Immunität zu
erfreuen haben. Aber die ganze Lehre von der Ver¬
erbung der Immunität auf die erste Generation
ist eine so wenig gestützte, dass man wohl angesichts
der zahlreichen Ausnahmen von dem supponirten Gesetze sich
fragen muss, ob denn das Gesetz selbst zu Recht besteht,
dass wir uns fragen müssen, ob denn wirklich eine
Vererbung der Immunität in diesem Sinne be¬
steht.
Ueber eine Vererbung der von den Eltern überkommenen
Immunität auf die Kinder und weitere Nachkommen ist nichts
bekannt, sie wird angenommen, ist aber nicht bewiesen, aber
auch nicht widerlegt. Würden die v. Düring’schen Fälle
von Vererbung der Syphilis auf die zweite Generation, die
leider alle nur auf einer, wie derselbe selbst betont, unver¬
lässlichen Anamnese basiren, verlässlich sein, dann würden
sie eher gegen die Vererbung einer Immunität sprechen, auch
eine relative Immunität nicht annehmen lassen, denn in diesen
Fällen sehen wir, wie bei drei Generationen, deren Syphilis
unter gleichen äusseren Verhältnissen verläuft, von Hygiene,
Therapie nicht beeinflusst ist, die Syphilis in allen drei Gene¬
rationen unter schweren, tertiären Symptomen verläuft, eine
Milderung des Verlaufes durch vererbte Immunität, weder in
der zweiten noch dritten Generation kenntlich ist. W i r
können also die Frage der Vererbung der Im¬
munität auf die Nachkommen Syphilitischer
heute nur dahin beantworten, dass für deren
Stattfinden keine Beweise erbracht sind, gegen
deren regelmässiges, ausnahmsloses Stattfinden
zahlreiche Fälle sprechen, die bisher mehr
supponirte, als erwiesene Vererbung der Im¬
munität also, wie auch Neisser betont, dringend
der Revision bedarf.
Insbesondere möchten wir betonen, dass heute bereits
eine nicht geringe Zahl von Fällen vorliegt, in denen die
directen Nachkommen syphilitischer Eltern,
gleichgiltig ob dieselben durch die elterliche Syphilis beein¬
flusst werden oder nicht, in der Pubertätszeit sich
mit Syphilis inficirte n, also zu dieser Zeit keine
oder keine Immunität mehr besassen, die sie
auf ihreNach kommen weiter vererben könnten.
Ueberblicken wir alles das eben Gesagte, so ergeben
sich aus demselben die folgenden Sätze:
1. Es muss theoretisch als möglich zugegeben werden,
dass ebenso wie auf die erste, auch auf die zweite und viel¬
leicht auch weitere Generationen eine Vererbung der Syphilis
in der Weise erfolgen kann, dass drei Aeusserungen elterlicher
Syphilis, a ) die echte virulente Syphilis, b) syphilotoxische,
dystrophische Störungen, c) Immunität, sich selbstständig und
unabhängig von einander vererben.
A. Vererbung echter, virulenter Syphilis
auf die zweite Generation.
2. Wenn dieser Modus der Vererbung auch theoretisch
als möglich zugegeben werden muss, so muss doch andererseits
hervorgehoben werden, dass derselbe bisher nicht einwandfrei
nachgewiesen ist.
3. Um für die Vererbung in die zweite Generation be¬
weisend zu sein, müssen die betreffenden Fälle folgenden
Postulaten entsprechen: d) Die hereditäre Syphilis eines der
Zeuger muss zweifellos erwiesen sein, b) Acquirirte Syphilis
in der zweiten Generation muss sicher auszuschliessen sein,
c) Die Natur der Syphilis in der dritten Generation, als er¬
erbte, muss zweifellos sein.
4. Damit die Erbsyphilis in der zweiten und dritten
Generation ausser Zweifel sei, müssen die Erscheinungen der¬
selben bei oder bald nach der Geburt auftreten. Fälle tardiver
tertiärer Syphilis sind nicht beweiskräftig, da hier immer die
Frage, ob hereditäre, oder frühzeitig acquirirte Syphilis, offen
bleiben wird.
5. Die Frage des Ausschlusses acquirirter Syphilis in der
zweiten Generation (Infection der gesunden, Reinfection des
hereditärsyphilitischen Zeugers) ist eine schwierige, da sie sich
nur auf negative Momente stützt, kaum exact wissenschaft¬
lich zu lösende, da es in jedem einzelnen Falle dem gewissen¬
haftesten Beobachter unmöglich ist, seine durch genaue Kennt-
niss des Einzelfalles gewonnene subjective Ueberzeugung in
eine objectiv unanfechtbare Form zu bringen.
6. Vom Standpunkte der eben gegebenen Postulate sind
die meisten der bisher bekannten (24) Beobachtungen ein¬
wandfähig, einige aber doch (Nunn, Mensinga, Hutchinson)
im höchsten Grade auffällig. Beweisend sind dieselben nicht,
und wäre als absolut beweisend nur ein Fall anzusehen, der
nach dem folgenden Typus verliefe: Die Mutter ist hereditär¬
syphilitisch und gebärt ein hereditärsyphilitisches Kind. Sehr
bald nach der Geburt desselben inficirt sich der Mann, der
Vater des Kindes, ausserehelich mit Syphilis.
B. Vererbung syphilotoxischer dystro¬
phischer Störungen auf die zweite Generation.
7. Diese Frage ist deshalb noch schwieriger zu beant¬
worten, als die erste, da der Begriff der syphilotoxischen dys¬
trophischen Störung, auch bei der Vererbung auf die erste
Generation bisher nicht genau präcisirt und umschrieben ist.
8. Trotz hervorragender Arbeiten auf diesem Gebiete,
ist diese Frage bisher noch nicht geklärt, weil:
d) diese Dystrophien als syphilitische gar nichts Cha¬
rakteristisches darbieten ;
b) analoge Dystrophien auch in Familien zur Beobach¬
tung kommen, wo alle bekannten ätiologischen Momente, be¬
sonders Syphilis, Tuberculose, Alkoholismus, Bleiintoxication etc.
fehlen;
c) solche Dystrophien, wenn syphilitischer Natur, bei den
echt hereditär- syphilitischen Kindern am häufigsten Vorkommen
sollten, bisher aber im Gegentheil eine kleine Gruppe von
Kindern, die neben echter Erbsyphilis Dystrophien darbieten,
einer bedeutend grösseren Gruppe von Kindern gegenüber¬
steht, die nur Dystrophien, keine echte Erbsyphilis zeigen.
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
435
9. Wenn auch zweifellos allgemeine Ernährungsstörungen
Debilität, Lebensschwäche, Infantilismus, als Folge syphilo-
toxischer Einwirkung bei Kindern syphilitischer Eltern sich
vorfinden, so muss bei der Auffassung gewisser, besonders
partieller seltener Dystrophien als syphilotoxischer, doch die
Erwägung Platz greifen, wie weit wir, aus dem post hoc auf
ein propter hoc schliessen dürfen, ist die Frage angezeigt, ob
solche Veränderungen nicht auch dann zur Entwicklung ge¬
kommen wären, wenn Syphilis bei der Ascendenz gefehlt hätte.
10. Bezüglich der Frage der Vererbung von Dystrophien
auf die zweite Generation müssen, bei Beurtheilung des Einzel¬
falles, dieselben Gesichtspunkte im Auge behalten werden, wie
bei Beurtheilung der vorhandenen Gruppe: 1. Es muss here¬
ditäre Syphilis in der zweiten Generation zweifellos erwiesen
sein. 2. Acquirirte Syphilis in der zweiten Generation (In¬
fection des gesunden, Reinfection des syphilitischen Theiles)
muss sicher ausgeschlossen sein. 3. Auch in der dritten
Generation muss eine frühzeitig acquirirte Syphilis aus¬
geschlossen sein.
11. Letztere Bedingung, Ausschluss acquirirter Syphilis
in der dritten Generation ist deshalb nothwendig, weil heute
schon durch eine Reihe von Beobachtungen festzustehen
scheint, dass dystrophische Störungen beim Kinde sich nicht
nur in Folge hereditärer, sondern auch frühzeitig im Säuglings¬
alter acquirirter Syphilis entwickeln und dadurch eine here¬
ditäre Dystrophie vorgetäuscht werden kann.
12. Von diesem Standpunkte betrachtet, ist die bisherige
Casuistik (31 Fälle) wohl sehr beachtens werth, aber nicht
völlig beweisend. Insbesondere der Ausschluss acquirirter
Syphilis in der zweiten Generation stösst auf dieselben
Schwierigkeiten, wie bei der ersten Gruppe, der Vererbung
echter Syphilis auf die zweite Generation.
13. Bezüglich der Vererbung der Dystrophien, dieselbe
als syphilotoxische vorausgesetzt, auf die Nachkommenschaft
scheint aus dem bisher Bekannten doch die Thatsache zu
resultiren, dass diese Dystrophien von Generation zu Gene¬
ration seltener und milder werden. Dagegen scheint die Poly¬
letalität, die Zeugung lebensunfähiger Kinder, sich auch in
der zweiten und dritten Generation ziemlich unvermindert zu
erhalten.
14. Daraus würde folgen, dass die Syphilis in ihrer Ein¬
wirkung auf die Nachkommenschaft weniger zu einer Degene¬
ration, als zur Verminderung, zur Decimirung der Race führt.
G. Vererbung absoluter und relativer Im¬
munität auf die Nachkommen Syphilitischer.
15. Schon seit alter Zeit wird angenommen, dass die
Nachkommen syphilitischer Eltern sich einer absoluten oder
relativen Immunität gegen Syphilisinfection erfreuen. Diese
Annahme basirt auf mehreren Beobachtungen: a ) Auf der Be¬
obachtung, dass die Syphilis dort, wo sie schon längere Zeit,
endemisch herrscht, einen wesentlich milderen Verlauf darbietet.
b) Die Beobachtung, dass die Syphilis, zu bis dahin syphi¬
lisfreien Völkern gebracht, dortselbst im Beginne unter schweren
Erscheinungen auftritt. c ) Auf die Erklärung und Auffassung
der sporadischen Fälle von maligner Syphilis als Syphilis bei
Individuen, deren Ascendenz durch mehrere Generationen
syphilisfrei war. d ) Durch die Beobachtung, dass Mütter im
contagiösen Stadium der Syphilis ihre gesunden Neugeborenen
nicht inficiren (P r o f e t a’s Gesetz).
16. Diese Beobachtungen, so beachtenswerth sie sind,
sind doch keine unantastbaren wissenschaftlichen Beweise von
der Vererbung der Immunität und können auch in anderer
Weise eine befriedigende Erklärung finden.
17. Dem gegenüber kennen wir eine Reihe von That-
sachen, welche Beweise abgeben, dass die Vererbung der Im¬
munität, wenn sie überhaupt stattfindet, doch nur inconstant
und im beschränktem Masse erfolgt, Thatsachen, die uns auf
den Gedanken bringen müssen, die Lehre von der ererbten
Immunität der Syphilis sei mehr traditonell als wissenschaftlich
begründet und bedürfe einer gründlichen Revision.
18. Diese Thatsachen sind: a ) Die Thatsache, dass bei
acquirirter Syphilis selbst die Immunität oft eine zeitlich be¬
grenzte ist, Reinfectionen zur Beobachtung kommen, im Ver¬
eine mit der Erwägung, dass solche Reinfectionen vielleicht
noch häufiger wären, wenn nicht sociale und andere Momente,
Vorsicht, Routine, Ehe und deren Surrogate, Alter, Impotenz,
der Reinfection hindernd im Wege stünden, b) Die Thatsache,
dass nicht wenige Fälle bekannt sind, in denen hereditär¬
syphilitische (14 Fälle) oder syphilitoxisch-dystrophische (137
Fälle) oder ganz gesunde Kinder (29 Fälle) syphilitischer Eltern
sich mit Syphilis inficiren. c) Die Thatsache, dass in diesen
Fällen nicht nur absolute, sondern theilweise auch relative
Immunität, ein besonders milder Verlauf der Syphilis, oft nicht
zu constatiren ist.
19. Die Thatsache, dass bei einer Zahl von Kindern
syphilitischer Eltern eine Immunität, wenn überhaupt vor¬
handen, doch in der Pubertät, im zeugungsfähigen Alter, be¬
reits erloschen war, ist für uns ein Beweis, dass diese Indi¬
viduen also eine Immunität auf ihre Kinder und Nachkommen
nicht weiter vererben können, die Nachkommen syphilitischer
Eltern also eine Immunität, absolut oder relativ, nicht zu be¬
sitzen brauchen.
20. Aber die oben gegebenen Thatsachen, den Beweisen
für die Vererbung der Immunität gegen Syphilis gegenüber
gestellt, müssen uns zum Nachdenken darüber veranlassen,
ob wir denn das Recht haben, an dem Lehrsätze von der
unbegrenzten, d. h. lebenslänglichen Dauer der Immunität bei
acquirirter Syphilis, an der These von der Vererbung der Im¬
munität noch weiter festzuhalten.
Zur Frage des Bacteriengehaltes der Harnröhre.
Replik, von Dr. Schenk und Dr. Austerlitz, Assistenten der Klinik
Sänger.
Die Erwiderung S a v o r’s !) auf unsere in dieser Zeitschrift
(1900, Nr. 14) erschienene Publication gibt uns nochmals Veran¬
lassung, auf einige von Savor unberücksichtigt gelassene, uns jedoch
sehr wichtig erscheinende Punkte kurz einzugehen :
1. Haben wir durch Untersuchung von zehn Fällen von Cystitis
und identischem bacteriologischen Befund in Urethra und Blase den
Nachweis geliefert, dass bei unserer Methode der Secretabnahme aus
der Urethra die Keime in derselben nicht vernichtet werden.
2. Vermissen wir in der Erwiderung S a v o r’s die Beantwortung
der uns besonders wichtig erscheinenden Frage nach der Bestimmung
der Pathogenität seiner häufig gefundenen Staphylococcen.
3. Lässt Savor die von anderen Autoren und uns angestellten
Untersuchungen des Keimgehaltes der Blase und des Vestibulum-
secretes unberücksichtigt. Das seltene Vorkommen von pathogenen Keimen
in der Blase und im Vestibulum macht das häufige Vorkommen solcher
Mikroorganismen in der Urethra unwahrscheinlich.
4. Wenn sich auch die Untersuchungen Savor’s über ein
grösseres Material, als es das unsere war, erstreckten, so müssen wir
trotzdem sagen, dass, so lange wir nicht vollständig überzeugt sind,
dass die Prüfung der gefundenen Keime in jedem einzelnen Falle,
speciell auf Pathogenität, exact vorgenommen wurde, unsere 25 Fälle
beweiskräftiger sind, als die 93 Fälle von Savor.
Im Uebrigen wollen wir die Resultate der von Savor beab¬
sichtigten weiteren diesbezüglichen Untersuchungen, die gewiss besonders
die Pathogenität der gefundenen Keime berücksichtigen werden,
abwarten und glauben, dass dann trotz des Unterschiedes der
Methoden in dieser Frage eine Einigung leicht zu erzielen sein wird.
Bemerkungen zu vorstehender Replik.
Von Dr. Rudolf Savor.
Es sei mir gestattet, an vorstehende Replik von Schenk und
Austerlitz einige Bemerkungen knüpfen zu dürfen.
Vor Allem habe ich nicht behauptet, dass durch die Methode
der Secretentnahme von Schenk und Austerlitz die Keime in
der Urethra vernichtet werden, sondern habe nur der Vermuthung
Ausdruck gegeben, dass bei dieser Methode Reste des zur Infection
verwendeten Sublimates mit überimpft werden und auf dem Nährboden
ihre entwicklungshemmende Wirkung entfaltet haben könnten, was im
Vereine mit der Verwendung einer Impfnadel (Sehe n k und Auster¬
litz) statt einer Oese (Savor) vielleicht Ursache war, dass mancher
Keim in der Urethra der Impfnadel entging. Dagegen können auch
q Diese Zeitschrift. 1900, Nr. 15.
WIENEK KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 19(X).
Nr. 19
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die von Schenk und Austerlitz angezogenen Untersuchungs¬
resultate bei Cystitis wohl kaum als Einwand angeführt werden, da
doch bei dieser durch jede Harnentleerung die Harnröhre mit bacterien-
hältigem Harn überschwemmt wird und der Nachweis anderer, als der
im Blasenharn gefundenen Mikroorganismen sehr auffällig erscheinen
würde.
Was weiterhin die Pathogenität der von mir gefundenen Staphylo-
coccen betiiffr, so wurde dieselbe nicht geprüft; leider schliessen die
Verhältnisse der Klinik solche Prüfungen in grösserem Massstabe, wie
sie noting gewesen wären, aus, aber da diese Verhältnisse derzeit nicht
zu ändern sind, so kann auch bei weiteren Untersuchungen eine solche
Prüfung in ausgedehnterer Weise nicht statthaben. Wo ich in meiner
Publication von pathogenen“ Staphylococcen sprach, ist dies in dem
wohl allgemein gütigen Sinne zu verstehen, dass darunter die pyo¬
genen Staphylococcen gemeint sind; beim Staphylococcus non pyo¬
genes wurde ausdrücklich das difFerentialdiagnostische Merkmal des
Nichtverflüssigens der Gelatine betont.
Endlich fehlte mangels eigener Untersuchungen jede Veran¬
lassung, sich über die Ergebnisse der Untersuchung des Vcstibulum-
secretes zu äussein.
Eine weitere Aufklärung ist durch noch anzustellende Unter¬
suchungen zu erwarten.
FEUILLETON.
Creirung von Zahnärzten durch das k. k. Ministe¬
rium des Innern.
Ein Appell an die Professor en-Collegien der öster¬
reichischen Universitäten.
Wer das Parteileben der ärztlichen Corporationen in den
letzten Jahren aufmerksamer verfolgt hat, wird sich nicht ver¬
hehlen, dass es den Zahnärzten nicht immer gelungen ist, bei
Vertretung ihrer Interessen zu verhüten, dass sie in Collegen-
kreisen missverstanden werden.
Man darf wohl annehmen, dass die Zeit, wo die Zahn¬
heilkunde als ein Stiefkind der Chirurgie betrachtet wurde,
bereits mehr als drei Decennien hinter uns liegt; nur für jene
Aerzte, welche die Entwicklung der modernen Zabnheilkunde
nicht zu verfolgen in der Lage waren, sei flüchtig erwähnt,
dass ihr wissenschaftlicher Aufbau sich auf die Werke eines
W e d 1, H e i d e r, Salter, Heath, Tomes, Albrecht,
Leber und Kottenstein, Mühlreiter, Garretson,
Taft, Bonwill, Essig, Magitot, Malassez, der Bacterio-
logen Miller, Mills, Underwood, auf die topographisch¬
anatomischen Forschungen Zuckerkandl’s auf die Werke
Arkövy's. Scheff’s, v. Metnitz’, Kot hm aim’s, Witz el’s,
auf mannigfache Arbeiten B er ten’s, Rose’s, S t er nf eld’s,
Zsigmondy’s, Claude Martin’s und vieler Anderer stützt.
Aut solchem Unterbaue fussend, hat sich die Zabnheilkunde
trotz des etwas befremdlichen Gepräges, das ihr unvermeidliche
enge Beziehungen zu kunstgewerblichen ^Tätigkeiten verleihen
mussten, zu einem Zweige der Chirurgie emporgeschwungen,
dessen sich die anderen ärztlichen Specialfächer nicht zu
schämen brauchen.
Mochten auch vor zehn und fünfzehn Jahren die über¬
raschende Ausbildung der Prothese und der Orthodontie den
Anschein erwecken, dass die moderne Zahnheilkunde mehr und
mehr auf das Gebiet rein mechanischer Routine abschwenke,
so sind, Dank der liebevollen Hingabe, mit welcher neben
anderen allgemein ausgebildeten Aerzten insbesondere der
geniale Breslauer Chirurge Professor Part sch die Errungen¬
schaften der allgemeinen Chirurgie für die Zwecke der Zahn¬
ärzte dienstbar gemacht hat, die Beziehungen der Tochter-
disciplin Zahnheilkunde zu dem Mutterfaelie Chirurgie wieder
äusserst intime geworden und führen die erstere ihrem Ziele:
dem Aushaue zur Stomatologie, immer näher und
näher!
Jene Aerzte, welche als Zahnpatienten oder durch einen
anderen Zufall in nähere Fühlung mit tüchtigen Vertretern
des zahnärztlichen Standes gekommen sind, werden zugehen,
dass die moderne Zahnheilkunde wie wenige praktische Fächer
in gleichem Masse mit erstaunlicher Präcision und Positivität
des Erfolges ihre wissenschaftlichen Wert he aus der Theorie
in praktische Verwendung umsetzen kann.
Trotz der Geneigtheit, auf welche die Zahnärzte bei
dieser letzteren Gruppe von Collegen wohl rechnen dürften,
wäre es ein gewagtes Unternehmen, an irgend eine einflussreiche
ärztliche Corporation mit dem Ansinnen heranzutreten, dass
Letztere gerade für die Zahnärzte speeiell eine Lanze ein¬
lege, wenn sie wieder im Begriffe sind, ihre Standesinteressen
zu verfechten.
Im Folgenden soll aber gezeigt werden, dass es sich bei
der diesmaligen Action der organisirten Zahnärzte nicht so
sehr um die Beschiitzung einer allerdings sehr erheblichen
Anzahl von jungen Collegen handelt, welche durch das von
Seite der Behörden geradezu favorisirteE m p o r-
wuchern der Curpfu scherei materiellem Ruine ent¬
gegengeführt werden, als vielmehr um die allgemeine Bedeutung,
welche der zahnärztlichen Praxis als Placirungsgebiet
für die durch allerlei Factoren wirthschaftlich
sosehwerbedrängteAerzteschaft zufällt, und endlich
soll ganz besonders die Aufmerksamkeit des ärztlichen Standes
auf ein Vorgehen von Seite des Ministeriums
desinner n gelenkt werden, welches eine Hintan¬
set z u n g der verbrieften Rechte und Institu¬
tionen der österreichischen Universitäten in-
v o 1 v i r t.
Namentlich von dem letzten dieser drei Gesichtspunkte
ausgehend, wird es nicht als vordringlich oder unbe¬
scheiden angesehen werden, wenn die Zahnärzte Oesterreichs,
welche ja seit fünfzig Jahren selbstständig, d. h. ohne An¬
lehnung an eine grössere ärztliche Corporation den Kampf
gegen ihre Schädiger fast vergeblich führen, endlich jetzt in
ihrer Stellungnahme gegen die von Seite des Ministeriums des
Innern geübte »ausnahmsweise Berechtigung« von
in Oesterreich zur Ausübung der zahnärztlichen
Praxis nicht Befugten auch an die Professor en-
Collegien der österreichischen Universitäten mit der Bitte
herantreten, sie mit ihrer Autorität zu unterstützen.
Die sich vollkommen correct verhaltende überwiegende
Majorität der Zahnärzte Wiens, War sich stets und ist sich
heute mehr denn je vollkommen darüber klar, dass drei
Factoren das Ueberhandnehmen der Curpfuscherei auf zahn¬
ärztlichem Gebiete und die Lahmlegung der Abwehrmittel
gegen dieselbe verschuldet haben:
1. Die Verwendung von Personen, welche zur Ausübung
der zahnärztlichen Praxis in Oesterreich nicht berechtigt
sind, als Assistenten von Seite einer Anzahl von österreichischen
Zahnärzten; die Zahl der Letzteren soll dermalen in Wien
elf betragen.
2. Die — seit 1885 bis heute die erstaunliche Anzahl
von zehn* 1) Fällen in Wien allein betragenden, an Zahn¬
techniker oder andere den gesetztliclien Anforderungen nicht
entsprechende Personen von Seite des Ministeriums des Innern
ertheilten »Erweiterungen der Befugnisse«.
3. Die schamlose Rolle, zu welcher zahlreiche ehrver¬
gessene Aerzte, fast ausschliesslich Nicht-Zahnärzte, sich her¬
gehen, indem sie sich Zahntechnikern oder anderen zur Aus¬
übung der Zahnheilkunde in Oesterreich nicht Berechtigten
gegen Zusicherung von Tantiemen oder gegen fixen Gehalt
als »Schutz-Doctoren« (»Strohmänner«) verdingen, um so die
Uehergriffe der Letzteren auf das operative Gebiet der Zahn¬
heilkunde gegen gesetzliche Ahndung zu decken; 27 davon
sind sogar heim Physieate — nicht etwa »an gezeigt« — ,
sondern amtlich »angemeldet«, obwohl beim Stadtphysicate
sehr wold bekannt ist, dass diese Aerzte von Zahnheilkunde
nahezu oder überhaupt nichts verstehen und, wenn es gut geht,
täglich eine Stunde pro forma die den ganzen Tag währende
curpfuscherische Thätigkeit ihren Lohnherrn oder mitunter
ihrer zwei bis vier Lohnherren »beaufsichtigen«.
Es sei hier gleich vorweg der Meinung Ausdruck gegeben,
dass gegen diese corrumpirten Auswürflinge des ärztlichen
') Zwei weitere Fälle sind hier nicht mit einbezogen, weil in diesen
die ministerielle Bewilligung auf Grund einer Allerhöchsten Entschliessung
I ertheilt worden ist. — — —
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
437
Standes, zumal die Behörden nicht anstehen, sie sogar ofticiell
zu registriren und zu toleriren, einzig und allein eine princi-
pielle Erhöhung der Disciplinargewalt der Aerztekammern
(nicht Geldstrafen, sondern selbst Entziehung des Diploms, wie
bei den Advocatenkammern) Abhilfe schaffen kann.
Gegen die sub numero 1 angeführte Gesetzesübertretung
hofft die organisirte Zahnärzteschaft, welche in einer freien
Versammlung beschlossen hat, Collegen, welche sich dieser
Uebertretung schuldig gemacht haben, dahin zu beeinflussen,
dass sie sich ehrenwörtlich zur Abstellung dieser Unzukömm-
lichkeit verpflichten, allein Herr zu werden.
Eine eingehendere Besprechung erheischt
aber die im zweiten Punkte angeführteCreirung
von Sanitätspersonen im Wege einerCompetenz-
Überschreitung v o n S e i t e n d e s k. k. M i n i s t e r i u m s
des Innern.
Der in einem Rechtsstaate ganz einzig dastehende Vor¬
gang besteht in Folgendem:
Das Ministerium des Innern er tlieilt in diesen Fällen
seinen Schützlingen »erweiterte gewerbliche Befugnisse« als
Zahntechniker, und gestattet ihnen, unter diesem Titel ärzt¬
liche Eingriffe, obwohl »nach Artikel V des Einführungsgesetzes
der Gewerbe-Ordnung die Ausübung der Heilkunde nicht unter
die Bestimmung der letzteren gehört«. — Das Ministerium
deslnnern über sc hr eitet hie mit seine Competenz,
indem es Personen die ärztliche venia practi-
candi ganz oder verstümmelt ert heilt, während
diese letztere dem Gesetze nach nur von den
Professor en-Collegien der Universitäten ver¬
liehen werden kann.
Noch auf ein zweites ähnliches Factum sei hier nach-
drücklichst hingewiesen.
Das Erscheinen des Erlasses der niederösterreichischen
Statthalterei vom 17. November 1899, Z. 102.049, worin auf¬
merksam gemacht wird, »dass zur Ausübung der zahnärztlichen
Praxis jeder Art im Inlande lediglich inländi sehe
Doctor en der gesammten Heilkunde berechtigt
sind«, wurde von der überwiegenden Majorität der Zahnärzte
Wiens mit wahrer Begeisterung aufgenommen.
Hingegen liefert der Schlusssatz des eben
citirten Erlasses einen deprimirenden Beweis
dafür, wie leicht man sich im Ministerium des Innern
über die Patente der Universitäten und die
Rechte der Professor en-Collegien hinwegsetzt,
wenn es sich darum handelt, eine genügend protegirte Person,
auch wenn sie die gesetzlichen Qualifieationen hieftir durch¬
aus nicht besitzt, »ausnahmsweise zu berechtigen« (?) das
zu thun, was sonst nur Doctoren der gesammten Heilkunde
gestattet ist.
Dieser Schlusssatz besagt : »dass die Anstellung
von im Inlande zur zahnärztlichen Praxis nicht
berechtigten ausländischen Staatsangehörigen
als Hilfsärzte — ohne besondere Bewilligung des
k. k. Ministeriums des Innern unzulässig ist«.
Also in einem und demselben Erlasse das,
wie gesagt, von den Aerzten wärmstens be-
grüsste Verbot des Haltens gesetzlich nicht
qualificirter Assistenten und — die Clausel,
durch welche sich das Ministerium vermuth-
lich im Zuge befindliche C o m p e t e n z ü ber¬
sch reit ungen vor behält!
Man halte sich gefälligst vor Augen: Auf der einen Seite die
Forderung, acht Jahre Gymnasium zustudiren, Maturitätsprüfung
abzulegen, medicinische Studien zu treiben, sich den Rigorosen
zu unterziehen; wie viel Zeit und fleissiges, angestrengtes Lernen
erfordert dies, wie viel Capital haben insbesondere Eltern
investirt, deren Söhne von ihnen in eine grössere Stadt ge¬
schickt werden mussten; dazu kommen dann noch die specielle
Ausbildung für das zahnärztliche Fach und die Beschaffung
eines ungewöhnlich kostspieligen Instrumentariums! Auf der
anderen Seite wird an Zahntechniker, welche ganz gewöhnlich
nicht mehr als Volksschulbildung aufweisen können, wenn es
hoch hergeht, eine halbe Mittelschule, oder gar als ausser¬
ordentlicher Hörer einige Curse an einer Universität absolvirt
haben, oder an nicht graduirte Mediciner, oder an ausländische
Zahnärzte, deren Vorbildung durchaus nicht an eine öster¬
reichische oder deutsche Mittelschulbildung heranreicht, deren
Ausbildung in der Zahnheilkunde mit einem medicinischen
Studiengange keineswegs verglichen werden kann durch
das Ministerium des Innern die venia practicandi ver¬
liehen !
Ob diese venia practicandi ganz oder verstümmelt
er theilt wird, ist an sich ganz irrelevant und überhaupt auch
schon deshalb, weil in beiden Fällen sie so ausgedehnt als
irgend möglich benützt wird, zumal ja von Seiten der Regierung
keine Controle ausgeübt werden kann. Oder sollten die Herren
Referenten im Sanitätsdepartement in der That selbst daran
glauben können, dass der durch den Ministerialerlass vom
11. Juli 1893, Z. 16.706 Gewappnete mit Pulpitis behaftete
Zähne nur mit Hochquellenwasser besänftigen und die bei
einem Falle von Perforation des Gaumens durch Gumma ver¬
wendeten Abdrucklöffel mit Eau de Cologne desinficiren kann,
weil er zwar »zum Zahn- und Wurzelziehen und zum Plom-
biren, sowie Feilen (?!) und Reinigen der Zähne« — jedoch
»ohne Anwendung von Medicamenten« berechtigt ist? Sollten
diese Herren wirklich ob ihrer Bureauthätigkeit die Medicin
so vollständig vergessen haben, dass es ihnen, wenn sie im
Ministerialerlasse vom 29. März 1897, Z. 4064, einen Zahntechniker
vorsichtshalber nur dazu »berechtigen«, »dem Zahnersatz hinder¬
liche, lockere Zähne und Zahnpartikel aus dem vollkomm en
gesundem Munde« zu entfernen, nicht einfällt, dass in
einem vollkommen gesunden Munde weder lockere Zahnpartikel
Vorkommen, noch ein Zahnersatz nothwendig ist, weil Mutter
Natur — ohne vom Ministerium »ausnahmsweise zu einem
Theile der zahnärztlichen Praxis berechtigt zu sein«, die Kiefer
mit 32 Zähnen ganz ausgefüllt hat? In Anbetracht der armen
»Patienten« oder vielleicht »Kunden« eines »ausnahmsweise
zur Ausübung eines Theiles der zahnärztlichen Praxis be-
] rechtigten« Zahntechnikers (Ministerialerlass vom 15. Juli 1896,
Z. 22.417) ist man übrigens in der Verstümmelung der venia
practicandi zu weit gegangen, denn dieser Unglückliche
darf nur »dem Zahnersätze hinderliche, lockere, nicht
schmerzende Zähne« entfernen und muss sich somit jeden¬
falls hüten, schmerzhafte Zähne zu extrahiren! \ on der
Erlaubniss, nur bis zur Pulpa plombiren zu dürfen, aber ja nicht
weiter, soll an einem anderen Orte die Rede sein. Sapienti sat!
Angesichts solcher Ausseraehtlassung der Gesetze von
Seite einer k. k. Behörde ist wohl d i e F r a g e berechtigt:
was würden die Juristen dazu sagen, wenn man dem Richte r-
oder Advocatenstande so ziemlich alljährlich einen
»Collegen«, der weder die gesetzlich fixirte Vorbildung, noch
die entsprechenden Studien, noch die verlangten Prüfungen
aufzuweisen hat, einschieben wollte?! — —
Die zahnärztliche Praxis galt vor wenigen Jahren noch
als ein Gebiet ärztlichen Wirkens, für welches aut Seite des
Publicums ein grosser Bedarf, auf Seite der mcdicinisch
vorgebildeten Beflissenen der Zahnheilkunde die Chance vor¬
lag, nach rund drei Jahren specieller Ausbildung einen
zwar mühevollen, aber sicheren Erwerb zu finden.
Wie liegt die Sache aber heute? —
Auf Grund glaubwürdiger Informationen lässt sich die er¬
staunliche Thatsache constatiren, dass diese bisher reichliche
Quelle für eine standesgemässe Versorgung arbeits¬
lustiger, sich für chirurgische Fächer gut qualificirender junger
Aerzte fast schon im Begriffe ist, wieder zu versiegen — dass
eine ganz erschreckende Anzahl junger Collegen, welche erst
in den letzten drei bis vier Jahren sich voll berechtigter Hoff¬
nungen diesem Fache zugewendet haben, weil sie in anderen
Zweigen der Heilkunde gar keine Aperturen finden konnten
— grausam enttäuscht wurde.
Dass eine Weltstadt vom Range Wiens immerhin 25 30
sehr gut situirte und eine vielleicht doppelt so grosse Anzahl
von Zahnärzten zählt, welchen es leidlich gut geht, ändert an
dieser soeben beklagten Thatsache nichts.
Die Ursache dieser rapiden Einschränkung dieses nicht
zu unterschätzenden Placirungsgebietes für junge Aerzte liegt
438
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 19
darin, dass sich heute in Wien in die zahnärztliche Praxis
ausser 236 Zahnärzten noch mindestens 150 andere Personen
theilen :
1. Ueber hundert mit einer Concession zur selbstständigen
Ausübung des zahntechnischen Gewerbes ausgestattete Zahn¬
techniker, welche mit wenigen Ausnahmen alle in operativer
Zahnheilkunde curpfuschen, und zwar entweder o) unter dem
»Schutze« eines ärztlichen Strohmannes oder b) ohne sich
dieses von den Behörden officiell tolerirten Schutz¬
mittels zu bedienen.
2. Eine grosse Anzahl von nicht concessionirten, theils
bei Zahnärzten, theils bei Zahntechnikern angestellten zahn¬
technischen Gehilfen, von welchen nur wenige in ihren freien
Stunden der Verlockung widerstehen, dasselbe zu thun, was
die Concessionirten im grossen Stile betreiben.
3. Die oben erwähnten, vom Ministerium des Innern mit
einer »erweiterten gewerblichen Befugniss« ausgestatteten
> Sanitätspersonen«.
Für die ökonomische Seite der Schädigung des Aerzte-
standes kommen alle diese drei Kategorien von Concurrenten
in gleichem Masse in Betracht.
Für die andere, die Aerzteschaft im Allgemeinen und
insbesondere auch die Universitäten weit mehr interessirende
Seite, für die Schädigung des Ansehens besonders gefährlich
ist die zweite Kategorie.
Diese Leute haben ihre »ausnahmsweisen Berechtigungen«
auf Grund von Zeugnissen hochgestellter, einflussreicher Persön¬
lichkeiten. unter Anrühmung ihrer angeblich exorbitanten
Leistungen, unter Hinweis auf die Nothwendigkeit, in Oester¬
reich der Zahnheilkunde auf die Beine zu helfen, zu erlangen
verstanden; — alles Erdenkliche wird aufgebauscht und her¬
vorgehoben, nur über den Mangel des Nachweises der
wissenschaftlichen Befähigung und den Mangel
des Rechtes setzt sich das Ministerium des Innern hinweg!
Das Publicum aber wird irre und hält vielfach diese
Gattung »Zahnärzte« für die auf der Höhe der Zeit stehenden
Fachleute, es wird nicht müde, sie »Doctor« zu nennen, wenn
sie nicht gar zum Lohne für zielbewusste Humanitätsheuchelei
schon mit anderen Titeln versorgt worden sind, unter welchen
»Landesgerichtszahnarzt« (in Graz), »Zahnarzt der k. k. Sicher¬
heitswache«, »Zahnarzt der Marine-Section« nur die minder-
werthigen sind.
Hochansehnliche Professoren- Collegien!
In diesen Zuständen liegt weit mehr als etwa nur eine
materielle Schädigung eines Theiles von praktischen Aerzten,
— es liegt darin eine tiefe Beschämung des ärztlichen Standes
überhaupt !
Es ist auch nicht zu übersehen, dass es in unserer Aera
der Naturheilkünstler auch für andere Zweige der Heilkunde
(für die Chirurgie, Geburtshilfe, Augenheilkunde, für die Hydro¬
therapie, Massage, Orthopädie etc.) ein umso gefahrbringenderes
Präjudiz schaffen muss, je länger die oben angeführten Ausser-
achtlassungen des Gesetzes von Seite einer hohen Behörde auf
keinen Widerstand seitens der durch sie Geschädigten zu
stossen scheinen.
Die Zahnärzte haben sich seitens ihrer Vereine an den
»Verband der Aerzte Wiens« gewendet und die deputative
Ueberreichung einer Resolution bei Sr. Excellenz dem Minister
des Innern beschlossen, sie haben sich in einer »freien Ver¬
sammlung« organisirt und suchen im Wege einer Beschwerde
die Wahrung ihrer Rechte.
Das wirksamste Mittel aber, ihr Ziel zu erreichen, wäre
eine Aeusserung von Seite der medicinischen Professoren-
Collegien der österreichischen Universitäten!
Fine Gruppe von Aerzten, welche sich einem jung-auf¬
strebenden, erstaunlich sich entwickelnden Zweige der Chirurgie
zugewendet haben und ihren Stolz darein setzen, die moderne
Zahnheilkunde mit den von der Universität mitgenommenen
Lehren und Anregungen der allgemeinen Medicin zu befruchten.
auf dass sie rasch zur Stomatologie sich entfalte, hofft, dass
ihr Appell an die vornehmste Vertretung der Interessen des
Aerztestandes nicht wirkungslos verhallen wird!
Med. univ. Dr. Rudolf Weiser,
Vorstand-Stellvertreter des Executiv-Comites
der »Freien Versammlung der Zahnärzte«.
REFERATE.
I. Die Localisation der psychischen Thätigkeiten im
Gehirn.
Von Dr. Bernli. Holländer, London.
32 S.
Berlin 1900, Hirschwald.
II. Vorlesungen über den Bau der nervösen Central¬
organe des Menschen und der Thiere.
Von L. Edinger.
Sechste umgeai beitete und vermehrte Auflage. 430 S., 2 Tafeln.
Leipzig 1900, F. C. W. Vogel.
III. Die Rückenmarksnerven und ihre Segmentbezüge.
Ein Lehrbuch der Segmentaldiagnostik der
Rückenmarkskrankheiten.
Von Dr. R. Wichmann.
280 Seiten mit 76 Abbildungen und 7 farbigen Tafeln.
Berlin 1 900, O. Salle.
IV. Atlas des gesunden und kranken Nervensystems
nebst Grundriss der Anatomie, Pathologie und Therapie
desselben.
Von Christfr. Jakob, Buenos Aires.
Mit einem Vorworte von Prof. A. v. Strümpell.
Zweite Auflage. 208 Seiten und 84 Tafeln.
München 1899, F. Lehmann.
V. Die psychiatrischen Aufgaben des Staates.
Von Dr. Emil Kröpelin, Professor in Heidelberg.
52 Seiten.
Jena 1900, G. Fischer.
I. In der jüngsten Zeit finden die Lehren des genialen Gail
wieder ihre wärmsten Vertreter. Viel weiter als Möbius (Fünfte
Versammlung der vereinigten mitteldeutschen Psychiater und Neuro¬
logen. 23. October 1899) geht in dieser Beziehung Holländer,
welcher in seiner kleinen Schrift geradezu eine Apologie der ab¬
sonderlichsten phrenologischen Theorien bietet — »es ist der
Gail, den er kennt, den er entdeckt hat, welchen er der heutigen
Gelehrtenwelt vorführt«, während der andere Gail mit seinem
phrenologischen Unsinn nur in der Einbildungskraft seiner Gegner
existirt.
An einer ganzen Reihe von Beispielen wird nachgewiesen,
wie richtig Gail seine Seelenkräfte localisirt hat; z. B. in der
oberen Gegend der vorderen Centralwindung ist der »Sinn der
Beharrlichkeit« vertreten; man stellt sich fest auf die Beine (gegen¬
wärtig nachgewiesenes motorisches Centrum der Unterextremität)
u. s. w.
G all’s Auffassung vom Kleinhirn als Sitz des Geschlechts¬
triebes wird auch wieder neu aufgenommen. Den Tonsinn verlegt
Holländer »zwischen obere und untere Schläfenwindung un¬
mittelbar zwischen die Lappen der Fissura Sylvii« (wo mag dies
sein ?).
Als wahrscheinlich sei ferner anzunehmen: 1. dass der Ur¬
sprung des Krankheitsherdes der Monomanie gaie vor der Central¬
furche im rückwärtigen Theil des Stirnlappens zu suchen sei,
2. jener der Monomanie triste, der deprimirenden Gefühlszustände,
der Melancholie, hinter der Centralfurche in der untersten Hälfte
des Scheitellappens, 3. dass der ursprüngliche Krankheitsherd der
Folie furieuse, der erhöhten Reizbarkeit, der Manie und Tobsucht,
im basalen Theile des Schläfelappens seine Localisation habe und
von da sich ausdehne.
Es Hesse sich noch mancherlei anführen, das bei der Lecture
des Werkchens auffällt, doch dürften die wenigen Beispiele für
eine Charakteristik des vom Verfasser eingenommenen Standpunktes
genügen.
*
II. Es erscheint wrohl überflüssig, auf die Vorzüge dieses aus¬
gezeichneten Werkes, das in 15 Jahren sechs Auflagen erlebt hat,
nochmals speciell hinzuweisen.
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
439
Die vorliegende Ausgabe ist mehr als 40 Seiten und zwei Tafeln
stärker als ihre Vorgängerin. Im Capitel der vergleichenden Ana¬
tomie sind das Gehirn des Haies und das Vogelgehirn vollständig
neu dar«estellt und durch sehr instructive Abbildungen dem Ver-
ständnisse näher gerückt. Aber auch die anderen Abschnitte sind
textlich und illustrativ erweitert und verbessert worden.
Ein Eingehen in die Details der Ausführungen E dingers
wäre hier nicht am Platze ; es muss hinreichen, zu erwähnen dass
er nicht blos ein vorzügliches Lehrbuch, sondern auch dem Fac i-
manrie ein ganz unentbehrliches Hilfswerk darhietet.
*
Ilf Das Buch ist aus einer von dem verstorbenen Professor
Renz begonnenen, aber 1888 aufgegebenen Arbeit hervorgewachsen.
Der Verfasser gibt nun mit Benützung der hmterlassenen Notizen
von Renz und der seitherigen Literatur eine sehr eingehende,
ausführliche Darstellung der peripheren Verkeilung der Rucken-
marksnerven in Muskeln und Haut. Während der erste Theil die
aus der Anatomie und Physiologie bei Mensch und Thier gewonnenen
Ergebnisse über die Projection der einzelnen Nervengebiete in
Muskeln und Haut bringt, dient der zweite Theil dazu, zu prüfen,
inwieweit diese Ergebnisse mit den pathologischen Erfahrungen heim
Menschen im Einklang stehen. Es wird hier vom Ruckenmarke
ausgehend untersucht, welche Muskeln und welche Hautflachen von
jedem einzelnen Segmente versorgt werden; es wird mit dem ersten
Cervicalsegmente begonnen und in absteigender Reihe jedes einzelne
Segment durch das ganze Rückenmark hindurch verfolgt. Von be¬
sonderer Wichtigkeit sind hier die zahlreichen, von Renz gesam¬
melten, in Abbildungen wiedergegebenen Fälle, die die betreffenden
Hautzonen erkennen lassen. Der dritte Theil endlich betitelt sich:
»Die Ausfallssymptome bei den Querschnitterkrankungen dei ein¬
zelnen Rückenmarksegmente« ; ihm kommt jedenfalls zusammen mi
den farbigen Tafeln bei der Segmentdiagnostik die grösste praktische
Bedeutung zu. ... , ,
Obwohl nur elf Seiten umfassend, gibt dieser Abschnitt doch
eine zwar gedrängte, aber sehr übersichtliche Darstellung der mo¬
torischen und sensiblen Ausfallserscheinungen bei Querlasionen in
jedem einzelnen Rückenmarkssegmente.
Den Beschluss bilden zwei Literaturverzeichnisse; das erste
enthält die von Renz benützten Schriften bis zum Jahre 1888,
das zweite die neueren Arbeiten nebst einigen Nachträgen.
Das Buch strebt nicht an, * durchgelesen« zu werden aber
es gibt eine äusserst eingehende und dabei sehr klare Anleitung
bei der Feststellung der Segmentdiagnose ab und wird wohl m
jedem solchen Falle mit grösstem Nutzen zu Rathe gezogen werden
können, da es in bisher noch nicht erreichter Vollständigkeit alle
auf diesem Gebiete gesammelten Erfahrungen in geordneter Weise
vorführt.
IV. Wenn schon die erste Auflage dieses Handatlasses vielen
Beifall gefunden hat — sie wurde in vier Sprachen übersetzt — ,
so verdient die neue »umgearbeitete« Auflage einen solchen in
noch weit höherem Masse.
Die Zahl der Tafeln und der Textabbildungen ist vermehrt,
insbesondere aber erscheinen viele Tafeln der ersten Auflage (so
z. B. manche unklare Bilder, ferner die durch ihre grelle Färbung
unangenehm auffallenden Tafeln) durch neuere, weitaus bessere
ersetzt; manche von ihnen zeichnen sich durch ihre künstlerische
Ausführung besonders vortheilhaft aus. In der Reihe der berien-
schnitte, Tafeln 40—50, könnten manche Bilder lichter gehalten
sein; es würden dann nicht blos die verschiedenen Faserbundei,
sondern auch die blau eingezeichneten Nervenzellen besser zui
Geltung kommen. . , . , r ,
58 Tafeln sind der normalen Anatomie, Histologie und Ent¬
wicklungsgeschichte des Nervensystems gewidmet, die folBenden
26 Tafeln führen eine Anzahl pathologisch-anatomischer Processe
in ihrem makro- oder mikroskopischen Bilde voi. _ .
In dem folgenden textlichen Theile werden die Grundzuge
der Anatomie und Physiologie des Centralnervensystems kurz aus¬
einandergesetzt, woran sich eine allgemeine und specielle Patho¬
logie und Therapie des Nervensystems schliesst.
Das Inhaltsverzeichnis führt am Schlüsse noch einen A -
schnitt über das Sectionsverfahren und die mikroskopische Techm c,
Literaturverzeichniss u. A. m. an; doch fehlt, wenigstens in dem
eingesandten Recensionsexemplar, dieser Abschnitt
Das ganze Werk zeichnet sich durch seine *Uebersichtlichkeit
und Klarheit der Darstellung aus.
Der praktische Arzt, der nicht Zeit und Gelegenheit — oder
auch Lust — hat, sich eingehender mit dem Studium der Nerven¬
krankheiten und speciell mit den so schwierigen theoretischen Vor¬
studien dazu zu befassen, wird an dem Jak ob sehen Handatlas
einen getreuen und sicheren Führer finden. Es mag gerade für
solche Zwecke als werthvoll hervorgehoben werden, dass trotz dei
gebotenen Kürze immer der neueste Standpunkt festgehaUen er¬
scheint. In erster Linie aber muss der eminent praktische Werth
des Büches rühmend betont werden.
*
V. Die vorliegende Schrift ist aus einem Vortrage auf der Ver¬
sammlung südwestdeutscher Irrenärzte in Frankfurt hervorgegangen
und wendet sich in ihrer erweiterten Form keineswegs an die
engeren Fachgenossen allein.
Der Autor fasst sein Thema im weitesten Sinne auf, und be¬
spricht daher in erster Linie, inwieweit dem Staate eine Einfluss¬
nahme auf die Verhütung von Geisteskrankheiten zukomme; es
kann sich dabei wohl fast nur um die Bekämpfung des Alkohol¬
missbrauches und die Einschränkung der Syphilis handeln.
Der weitaus grössere Theil der Auseinandersetzungen ist den
Einrichtungen gewidmet, die zur Versorgung der Geisteskranken ge¬
troffen worden sind. Obwohl der Verfasser sich lediglich auf die
diesbezüglichen Verhältnisse in Deutschland, insbesondere im Gross-
herzogthume Baden, beschränkt, sind seine Darstellungen auch für
uns von grossem Interesse; sie zeigen aber, dass gerade bei uns
in Oesterreich viele Einrichtungen keineswegs hinter denen in
Deutschland zurückstehen, ja manche sogar entschieden vorzu-
Dem Grundsätze, dass die beste Gewähr für den Schutz des
Geisteskranken in der Vertrauenswürdigkeit und gründlichen
psychiatrischen Bildung des Arztes gelegen sind, kann man nui
1 J . . flhprs diner.
unbedingt zustimmen.
Am 3 d M. in seinem 38. Lebensjahre wurde der a. o. Pro¬
fessor und Primararzt am Rudolf-Spitale Ritter v. L i m b e c k das
Opfer einer schweren Erkrankung, welche ihn schon in den letzten
Jahren in seiner Schaffenskraft gelähmt und an der Ausübung seines
Beiufejngek*meyersctiedenen hatte sich eine glückliche, theoretische
Vorbildung mit der praktischen Schulung vereinigt. Semem Lerngange
nach gehörte Limbeck der Prager deutschen Universität an. Im
JahreS 1884 zum Doctor promovirt, war Limbeck nacheinandei
Assistent bei Hering, hierauf am Institute für pathologische Anatom.e
und schliesslich an der I. medicinischen Klinik. Den grössten Einfluss
auf seine Entwicklung hat zweifellos Hofmeister genommen, um
welchen sich damals alle talentirten und strebsamen jungen Leute dei
Universität schaarten. Aus dessen Laboratorium veröffentlichte L m-
beck eine Reihe vortrefflicher Arbeiten (Ueber die diuretisclie Wnku g
der Salze; Ueber die Giftwirkung der Chlorate u s. w.), die An¬
regungen Hof m ei st er’ s wurden bestimmend für die Richtung,
der sich Limbeck selbstständig fernerhin bethätigte.
Im Jahre 1893 habilitirte sich Limbeck als Pnvatdocent tu.
innere Medicin auf Grund seiner Arbeit „Ueber entzündliche Leu o-
evtose“, in welcher neben seither oft bestätigten klinischen Beob¬
achtungen zum ersten Male experimentelle Untersuchungen " ei '
Entstehung dieser bedeutungsvollen Blutveränderung ausg
Nüt dieser Studie hatte Limbeck das Gebiet betreten , - -Idiem
er von da ab oft zurückkehrte, der sich rasch entfaltenden Blut
Pathologie stets neue und interessante Thatsachen hinzufugend Senn
Sen8Kenntnisse auf diesem Arbeitsfelde hat « be, ^btanng
des Buches „Grundriss einer klinischen Pathologie des Blut« gewährt
dessen erweiterte zweite Auflage (1896) ein beliebtes Handbuch de.
Khniker^gewordeUs ist wurde Limbeck als Abtheilungsvorstand der
IV. medicinischen Abtheilung an das Rudolf-Spital nac 1 ien -
und nun begann für ihn eine glückliche Zeit da
und experimentell forschend, zugleich eine Reihe jung.
440
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 19
wissenschaftlicher Thätigkeit aneifern konnte. Hier versuchte er sich
auch erfolgreich in Fragen der Stoffwechselpathologie (Stoffwechsel im
Greisenalter, Säurewirkung auf den Stoffwechsel und Anderes) bis der
Ausbruch seiner Erkrankung die glücklich aufsteigende Laufbahn, des
noch jungen Forschers jäh unterbrach. Im Jahie 189S hatte er den
Professor titel erhalten.
Limbeck war ein lauterer, aufrichtiger Charakter, von vor¬
nehmer und freier Gesinnung. Von einer seltenen reinen Freude an
der Wissenschaft beseelt, nahm er auch freudigen Antheil an jeder
wissenschaftlichen Leistung Anderer. Jeder Stellungsdünkel war ihm
tief verhasst.
Seine kräftige Initiative beim Suchen nach neuen Methoden und
Thatsachen, eine unermüdliche Arbeitskraft charakterisiren den Ver¬
storbenen als Forscher.
Die zahlreichen Arbeiten voll wichtigen, thatsächlichen Materiales
werden seinen Namen in der Wissenschaft erhalten, Alle, die ihm
näher gestanden, werden sein Bild aus den Tagen seiner ungebrochenen
Kraft treu bewahren; unsere Facultät hat einen tüchtigen, hoffnungs¬
vollen Gelehrten und gesinnungsfesten Mann lange vor der Zeit ver¬
loren. Pauli.
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Am 3. d. M. feierte Hofrath Karl T o 1 d t, Professor der
Anatomie in Wien, seinen GO. Geburtstag. Obwohl die aus
diesem Anlasse geplante Huldigung abgelehnt worden war, Hessen es
sich die Studenten nicht nehmen, ihrem Lehrer eine herzliche Ovation
zu bereiten.
*
Ernannt: Hofrath Prof. R. Chrobak zum Ehrenbürger
von Bad Hall in Oberösterreich. — Dr. H. Cameron in Glas¬
gow zum Professor der chirurgischen Klinik. — Dr. Schömberg
zum Professor der Dermatologie in Philadelphia.
*
Verliehen: Dem Sanitätsrathe und Primarärzte im städtischen
allgemeinen Krankenhause zu Linz, Dr. Alexander Brenner,
das Ritterkreuz des Franz Josef - Ordens. — Dem Regimentsarzte
Dr. StanislausBalko des Ruhestandes der Stabsarztens-Charakter
ad honores.
*
Habilitirt: Dr. med. Ignaz Lemberger, Magister der
Pharmacie, als Privatdocent für Pharmakognosie und Mikroskopie der
Nahrungs- und Genussmittel an der medicinischen Facultät in Krakau.
— Dr. Hartmann für Chirurgie in Jen a. — In Padu a :
Dr. Viola für medicinische Pathologie und Dr. G a n g i t a n o für
chirurgische Pathologie. — In Palermo: Dr. Pollaci und
Dr. Scagliosi für pathologische Anatomie. — Dr. Crespi in
Pavia für Chirurgie, Dr. Voinitch-Sianochentski in Peters¬
burg für dasselbe Fach.
*
Gestorben: Der Geheime Medicinalrath und ehemalige
Director der chirurgischen Klinik in Giessen, Prof. Bose.
*
Zufolge Beschlusses des Wiener Apothoker-IIauptgremiums wird
von nun an in allen Apotheken Wiens bei Recepten, welche
die Bezeichnung „pro paupe r e“ seitens des betreffenden
ordinirenden Herrn Arztes tragen, die 'Faxe für die billigste Ex¬
pedition in Rechnung gebracht, wogegen eine weitere Gewährung eines
Procentnachlasses selbstverständlich entfällt.
*
Im Verlage von W. Brau mü 11 er in Wien ist die Brochure:
„Zwischen Aerzten und Clienten“, herausgegeben von Prof.
Ughetti, ins Deutsche übertragen von Dr. G a 1 1 i, welche bereits
in Nr. 22, 1899, dieser Wochenschrift eine eingehende Besprechung
erfahren hat, in zweiter Auflage erschienen.
*
Wie der achte Jahresbericht des Vereines „Heil¬
anstalt A 1 1 a n d“ ausweist, waren daselbst im Jahre 1899
293 Patienten aufgenommen worden. Aus dem ärztlichen Berichte —
erstattet vom Director der Anstalt Dr. A. v. Weismayr — ist zu
entnehmen, dass weitaus die meisten dir Kranken (178 = 5G%) im
dritten Lebensdecenium standen, dass von der Gesammtsumme 12 5
(50 9 7«) als wesentlich gebessert, 57 (23 3%) als gebessert, 44 (17 5%)
ungeheilt entlassen wurden, während IG für die Anstaltsbehandlung
überhaupt ungeeignet waren und 4 gestorben sind. Die Bedeulung
der Anstalt liegt aber nicht nur in der Behandlung Tuberculüser,
sondern noch auf einem anderen Gebiete, das kaum unwesentliche r
ist als das erstere und dessen der Bericht mit folgenden Worten ge¬
denkt : „Die Anstalt muss und wird auf diese Art das
Centrum sein, von dem aus die Belehrung des
Volkes sich in immer weitere Kreise verbreiten
wird; jeder Wieder her gestellte wird a 1 s L e h r e r der
hygienischen Lebensweise wirken, so dass die Seg¬
nungen, die von der Heilanstalt ausgehen, nicht an
den Grenzen unseres Gebietes Halt machen, sondern
weitere Volksschichten durchdringen werden“.
*
A ti 8 dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 16. Jahreswoche (vom 15. April
bis 21, April 1900). Lebend geboren : ehelich 739, unehelich 338, zusammen
1077. Todt geboren: ehelich 32, unehelich 19, zusammen 51. Gesammtzahl
der Todesfälle 802 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
25 2 Todesfälle), darunter an Tuberculose 156, Blattern 0, Masern 16,
Scharlach 4, Diphtherie und Croup 3, Pertussis 4, Typhus abdominalis 6,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 2, Neu¬
bildungen 47. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
80 (-j- 38), Masern 221 (-j- 5), Scharlach 41 (-|- 6), Typhus abdominalis
15 (-(- 3), Typbus exanthematicus 0 (=), Erysipel 30 (-|- 11), Croup und
Diphtherie 48 (-(- 11), Pertussis 58 (-j- 23), Dysenterie 0 (=), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 2 (=), Trachom 5 (-|- 3 1, Influenza 13 ( — 2).
Freie Stellen.
Districtsarztesstelle für den Sauitätsdistrict Albrechtsdorf
in Bö h m e n, mit Marienberg und Dessendorf, mit 4332 Einwohnern.
Mit diesem Posten ist ein jährlicher Gehalt von 800 K und ein jährliches
Reisepauschale von 300 K verbunden. Die Anstellung erfolgt provisorisch
für ein Jahr. Bewerber deutscher Nationalität wollen ihre mit den im Ge-
seize vom 23. Februar 1888, L. G. Bl. Nr. 9, geforderten Nachweisen
belegten Gesuche bis 15. Mai 1900 beim Bezirksausschüsse in Tannwald
einbringen.
Distr ictsarztelle in dem neu errichteten, aus 3 Gemeinden mit
3090 Einwohnern bestehenden Sanitätsdistricte Mutönitz, Mähren. Mit
dieser »Stelle ist ein Jahresgehalt von 800 K und ein Reisepauschale
von 100 K verbunden. Die im Sinne des § 1 1 des mährischen Landes-
Sanitätsgesetzes vom 10. Februar 1884, L. G. Bl. Nr. 28, belegten Gesuche
sind bis zum 15. Mai 1. J. an den Obmann der Delegirtenversammlung
des Sanitätsdistrictes zu richten.
Eine eventuell mehrere städtische Arztesstellen
II. Classe der VII. städtischen Rangsclasse im Status des Stadt-
pbysicates der Stadt W i e n, mit dem Jahresgehalte von 2000 K, dem
Quartiergelde von 800 K und zwei Triennien von je 200 K. Bewerber
um diese Stellen haben den Nachweis des an einer inländischen Universität
erlangten akademischen Grades eines Doctors der gesummten Heilkunde,
ferner einer mindestens zweijährigen spitalsärztlichen Dienstleistung nach
der Promotion und einer gründlichen, in allen Zweigen der medicinischen
Wissenschaften erworbenen Ausbildung, eventuell der Verwendung im
staatlichen Sanitätsdienste zu liefern, endlich den Heimatschein und den
Taufschein oder ein Geburtszeugniss beizubririgen. Nicht in Wien wohnende
Bewerber haben ausserdem ihrem Gesuche ein amtsärztliches Zeugniss
über die physische Eignung zur Verseilung des städtischen Dienstes, sowie
ein Leumundszeugniss beizuschliessen. Auf diese Anstellung finden weiters
die §§ 1 — 3 der Dienstpragmatik für die Gemeindebeamten Anwendung.
Bemerkt wird, dass diese Stellen für das ganze Gemeindegebiet von Wien
ausgeschrieben sind, daher die Competenz unter Einschränkung auf einen
bestimmten Bezirk oder Bezirkstheil unstatthaft ist. Die Ernennung erfolgt
provisorisch und gegen Widerruf auf ein Jahr mit dem Beisatze, dass dieselbe
nach zufriedenstellender einjähriger Verwendung vom Wiener Stadtrathe in
eine definitive umgewandelt werden kann. Die Gesuche um diese Stellen
sind, vorscliriftsmässig gestempelt, bis längstens 31. Mai 1900, 12 UhrMittags
im Einreichungsprotokolle des Wiener Magistrates zu überreichen. Auf
später einlangende und ebenso auf nicht gehörig belegte Gesuche wird keine
Rücksicht genommen.
Gemeindearztesstelle für die aus den Gemeinden Gerasdorf
und Süssenbrunn bestehende Sanitätsgemeindengrnppe Gerasdorf an der
Staatsbahn, im politischen Bezii ke Floridsdorf, Niederösterreich. Dienst¬
antritt am 1. Juli 1900. Fixe Bezüge : Gemeindebeiträge 600 K, Landessubvention
690 K. Haltung einer Hausapotheke erforderlich. Mit dem Taufscheine,
Heimatscheine, Sittenzeugnisse, amtsärztlichen Gesundheitszeugnisse, Diplome
und dem Nachweise spitalsärztlicher Praxis belegte Gesuche sind bis
spätestens 1. Juni 1. J. an den Gemeindevorsteher in Süssenbrunn zu
richten.
Gemeindearztesstelle in der Sanitätsgemeindegruppe Göttles-
lirunn- Arb esthal mit dem Wohnsitze des Arztes in Göttlesbrnnn (politischer
Bezirk Bruck an der Leitha, Niede rösterreicli.) Der Gemeindearzt
bezieht von den beiden Gemeinden einen .Jahresbeitrag von 600 7v und
eine Landessubvention von 800 Kt zusammen also 1400 K, Ve> pflichtung
zur Fiilnung einer Hausapotheke. Bewerber um diese am 1. Juli 1. J. zu
besetzende Stelle wollen ihre mit dem Tauf-, respective Geburtsscheine,
dem Heimatsscheine dem ärztlichen Diplome, dem Sittenzeugnisse und dem
von einem k. k. Amtsärzte ausgestellten Gesundheits- und Tauglichkeits¬
zeugnisse sowie etwaigen Nachweisen über ihre bi.-herige Verwendung be¬
legten Gesuche an den Gemeindevorsteher Paul Giasl in Göttlesbrnnn bis
längstens 26. Mai I960 einsenden. Persönliche Vorstellung erwünscht.
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
441
V erhandlungen ärztlicher
IONnEi-A-ILT:
Of ficielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 4. Mai 1900. , .
29. Congress der Deutschen Gesellschaft filr Chirurgie. (IS. Ins
21. April.) (Fortsetzung.)
18. Congress für innere Medicin in Wiesbaden. Vom 18.— 21. April 190J.
(Fortsetzung.)
2. Oesterreichischer Balneologen Congress zu Ragusa und llul/.e.
(Fortsetzung.)
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
Sitzung vom 4. Mai 1900.
Vorsitzender: Präsident R. Chrobak,
Schriftführer: R. Paltauf.
Der Präsident macht Mittheilung von dem Ableben ^ des noch
vor wenigen Jahren so thätigen Mitgliedes, des Herrn Prof. R. v. L i m-
beck. Die Mitglieder erheben sich zur Bekundung der 1 rauer von
den Sl^iegll'Del irten der k. k. Gesellschaft der Aerzte in das vor¬
bereitende Comite für den im Jahre 1901 in Wien tagenden inter¬
nationalen Congress gegen den Alkoholismus hat der Verwaltungsrath
Herrn Obersanitätsrath Prof. v. Wagner gewählt und schlagt den¬
selben dem Plenum vor; das Plenum stimmt per acclamationem zu.
Die k. k. geologische Reichsanstalt hat eine Einladung zu ei
am 9. Juni stattfindenden Jubiläumssitzung anlässlich ihres 90jährigen
Bestandes Glax ,„ld Prof. K„.l. haben Dankschreiben
für ihre Wahl zu correspondirenden Mitgliedern an die k. k. G^sel -
schaft gerichtet. t . , ... „ Tvnil„i10.
Prof. Winternitz demonstrirt einen eompendiosen Douc
a p para t, welcher die Anwendung kohlensäurehältiger Douchen jeder¬
zeit auch auf Reisen, gestattet. _
’ Discussion: Prof. Lang hat vor mehreren Jahren in der
Wiener dermatologischen Gesellschaft eine Syphonbrause demonstrirt,
worüber auch in der Wiener medicimschen Wochenschrift, 1895,
pag 220, eine Notiz erschienen ist. Für Pruritus am, Eczema chron.
auf Genitale, Pityriasis capitis etc. eignet sich diese Syphonbrause
sehr gut und ist leicht herzustellen, wenn man einen etwa 1 m langen
Kaütsoh..k»chlauch, der mit einer Brause von etwa 2 Heller im Durch-
messet- versehen ist, an einen Syphon steckt.
Da Syphons fast überall zu haben sind, braucht der Betreffende
nur das Stück Kautschuk mit der Brause in seiner Handtasche mit¬
zunehmen. Der starke Druck, unter welchem der Strahl hervorsturzt,
verlangt, dass der Schlauch festsitzt. Prof. Lang ersucht, aus obiger
Notiz Folgendes anführen zu dürfen: „Da nach physiologischen Ver¬
suchen die Kohlensäure einen Hautreiz abgibt, so erscheint die Syphon¬
brause bei Alopecia praematura, Seborrhoea sicca, chronischem trockenen
Ekzem mit verdickter Haut indicirt. Will man einen intensiven Haut¬
reiz erzeugen (wie bei Neuralgien, Parästhesien etc.), so steckt man
statt der Brause einen sehr dünnen Irrigatoransatz an. De. f«
stechende, Kohlensäure führende Wasserstrahl kann, auf einen Punkt
conceutrirt, längs des Verlaufes von Nerven verthei t oder innerhalb
einer bestimmten Fläche zur Wirkung gebracht werden.
Prof. Gärtner: Es ist auch vorgekommen, dass Syphons tm
die Application von Klysmen verwendet worden sind; in der Kohlen¬
säure-Industrie wurden gewisse Ansätze construct, die eine Einführung
derselben in den Anus nicht gestatten.
Dr. C. Sternberg : Demonstration anaorobei
tinomy’eesculturen. (Erscheint demnächst ausführlich in dieser
Wochen sc ^ Kienböck demonstrirt mehrere Fälle von Fremd
körpern im menschlichen O r gani b m u b, die mit mRe
des Röntgen-Verfahrens constatirt wurden, und auf ver seine
dene Weise den Körper verbessern , F«b,nar
1. Fall. Ich erlaube mir zunächst, Sie an eine am .
d. J. von Herrn Primarius Schnitzler hier gehaltene Demon¬
stration zu erinnern; es handelte sich um einen achtjährigen Knaben
der seit 2V, Jahren eine unaufgeklärte recdivir ende
Entzündung des linken Kniegelenkes hatte. Diese Ent
ziindungsprocess war vielfach von Chirurgen für Fung™ i geha ten
worden? während die von mir angestollte Ron t ge n -Untosuchnjsg
überraschender Weise das Vorhandensein eines fast 2 cm lan,
Nadel Stückes im kranken Gelenke ergab.
Zum Beweise, dass dieses Ergebnis und die Bestimmung des
Sitzes der Nadel richtig war, demonstrire ich Ihnen heute den genannten
Fremdkörper; er wurde auf operativem Wege aus dem Meniscus
lateralis entfernt. Der Patient befindet sich wohl und ist von seinem
Leiden dauernd geheilt.
2. Fall. Ich zeige nun zwei metallene Fremdkörper vor, welche
von Kindern beim Spielen geschluckt wurden; zunächst ein 2 cm
langes, spitziges Bruchstück eines silbernen U hr a n h ä n g s e 1 s. lc i
sah es im Abdomen eines neun Monate alten Knaben durch Radio¬
skopie, einige Stunden nachdem das Kind den Gegenstand geschluckt
hatte. Nach der Lage schien der Fremdkörper im Duodenum fest zu
stecken.
Sechs Stunden später zeigte eine zweite Durchleuchtung, dass
der Fremdkörper wahrscheinlich bis in den Mastdarm gewandert war.
Derselbe verliess nach zwei Tagen mit dem Stuhle den Darm.
3. Fall. Hier zeige ich eine Spielmarke aus Messing, etwas
grösser als ein Zwanzighellerstück, welches einige Stunden vor der
Untersuchung von einem zweijährigen Knaben verschluckt worden
war. Kurze Zeit nach diesem Ereigniss fand ich Zeichen von O e so¬
ph a g u s s t e n o s e vor und sah in der That auf dem Ron t g e n-
Schirme den bezeichneten Gegenstand in der Speiseröhre des Kindes
in der Höhe des zweiten und dritten Brustwirbels. Nach
Tage zeigte sieh die Spielmarke an derselben Stelle,
der Gegenstand vom Chirurgen mittelst Münzenfängers
festgeklemmt,
einem halben
daher wurde
extraliirt. . . . .
4. Fall. Nun will ich ganz kurz über drei lalle von
Projection im Schädel berichten. Zunächst über einen Fall,
den ich an anderer Stelle eingehender besprochen habe. Der Patient
hatte vor sieben Jahren mehrere Schüsse gegen seinen Kopt abge¬
feuert, zeigte jedoch erst in der letzten Zeit Störungen des Nerven¬
systems. Ich fand mittelst des R ö n t g e n -Verfahrens, dass vier kleine
Geschosse platt gedrückt an der Oberfläche des knöchernen Hirn¬
schädels sassen,
also nicht in das Innere der Schädelhöhle ein ge¬
drungen waren.
Auf gewisse Indicationen hin wurde eines der Projectile an dei
von mir bezeichneten Stelle, in der rechten Schläfengrube in dem
Knochen deprimirt, von chirurgischer Hand aufgesucht, gefunden und
extrahirt. (Demonstration.) Q , ,
5. Fall. Hier demonstrire ich die Radiographie des bcnaaels
eines 30jährigen Mannes, der sich vor drei Jahren ein grosses Pro-
jectil in die rechte Schläfengegend gejagt hatte. Ich bestimmte den
Tiefensitz des Fremdkörpers als
keine Ursache vor, die Kugel zu
1 ]l2cm unter
entfernen.
dem Hautniveau. Es
lag
6. Fall. Schliesslich gestatten Sie mir, ganz kurz über einen
dritten Fall von Schussverletzung des Kopfes zu berichten und zu
demonstriren, der ebenfalls in der letzten Zeit im Sanatorium Furth
in meine Beobachtung kam.
Ein 30jähriger Mann hatte sich vor einem halben Jahre auf
dieselbe Weise zu entleiben versucht, wie der letzterwähnte Patient.
Die Folge war eine nach mehreren Stunden plötzlich auftretende links¬
seitige Hemiplegie, mit allmäliger Besserung. Die R ö n t g e n- Unter¬
suchung lehrte; dass in der That ein grosses Projectil in die Schade 1-
höhle selbst eingedrungen war — was in den früheren lallen meb
der Fall war — und weit entfernt vom Einschuss im rechten Hintei-
hauptlappen sass. , , _
zur operativen Entfernung war durch heftige
rechten Kopfhälfte gegeben. Es soll hier über
v _ _ von mir nichts weiter erzählt werden; ich be¬
schränke mich darauf, das Geschoss zu demonstriren. Fs wurde von
Herrn Primarius Schnitzler von jenem Punkte der Schadelobei-
fläche aus aufgesucht, den ich radioskopisch ermittelt und maiki.
hatte. Unter dieser Stelle des Hautniveaus wurde das Geschoss »
senkrechtem Vordringen in die Tiefe, 3 cm weit, vorgefunden, wie ich
es vorher genau angegeben hatte.
Die Indication
Schmerzanfälle in der
die Operation selbst
442
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 19
Zum Schlüsse möchte ich an den besprochenen Fällen kurz er¬
örtern, welche Bedeutung die Constatirung von Fremdkörpern im Or¬
ganismus durch das R ö n t g e n - Verfahren für die Patienten hatte.
Was den an erster Stelle besprochenen Knaben betrifft, wäre er
wahrscheinlich zeitlebens durch Entzündungsprocesse im linken Knie
am Gebrauche dieser Extremität gehindert gewesen. Sogar gesetzt den
Fall, dass ein Chirurg auf den äusseren klinischen Befund allein hin
eine Eröffnung des Gelenkes vorgenommen hätte, um nach einem
Krankheitsherde zu suchen, ist es höchst unwahrscheinlich, dass er
dabei auf die kleine versteckte Nadel gestossen wäre.
Ueber den zweiten Fall ist zu sagen, dass die Eltern jenes
Kindes, welches das silberne Anhängsel verschluckt hatte, durch
mehrere Tage, nämlich bis zum Abgänge mit dem Stuhl, in grösster
Sorge gewesen waren, ob der spitzige Gegenstand nicht vielleicht eine
Verletzung des Darmes und die Noth wendigkeit einer Operation herbei¬
führen würde.
Da wir aber radioskopisch sahen, dass sich der Fremdkörper
durch den ganzen Darm bis in das Rectum fortbewegt hatte, konnten
wir schon am ersten Tage die geängsteten Eltern vollkommen be¬
ruhigen.
Betreffend die Extraction der Spielmarke mittelst Münzenfänger
ist zu betonen, dass dieser Eingriff dadurch ungemein erleichtert und
vereinfacht wurde, dass die Lage und Orientirung des Fremdkörpers
genau bestimmt worden war.
Ueber die Bedeutung der Extraction der Projectile aus dem
Kopfe für den Zustand des Kranken steht uns derzeit kein Urtheil
zu, da der Verlauf durch zu kurze Zeit beobachtet wurde.
Prof. W einlechner macht mit Bezug auf die Mittheilung
des Herrn Vorredners und mit Rückblick auf die Demonstration von
Seite des Herrn Primararztes Dr. Schnitzler in dieser Gesellschaft
vom 16. Februar d. J. folgende Bemerkung:
Im Ganzen habe er die Vortheile der Röntgenisirung in seiner
Praxis hochschätzen gelernt; jedoch dürfe man nicht glauben, dass
man früherer Zeit Fremdkörper, zumal im Kniegelenke, nicht
gefunden und entfernt habe. Er erwähnt mehrere derartige Fälle aus
seiner Erfahrung, in welchen ihm die Auffindung und Entfernung ge¬
lang, ohne anamnestisch auf die Anwesenheit von Nadeln geführt
worden zu sein. Genaue Untersuchung und das Darandenken an die
Möglichkeit der Existenz eines Fremdkörpers seien äusserst noth-
wendig. In dem Falle von Primarius Schnitzler sei dies nicht der
Fall gewesen, daher das Kind von verschiedenen Aerzten in ver¬
schiedenen Ländern vergeblich mit Gypsverbänden unter zeitweiliger
Besserung behandelt worden ist.
Sonderbar finde W einlechner, dass für die Erkrankung
durch Fremdkörper ein eigener griechisch lateinischer Name erfunden
worden sei.
Hierauf stellt sich W einlechner selbst als Demonstrations¬
object wegen einer Nadel zur Verfügung, welche vor mehreren Wochen
von ihm unter der Haut in der Gegend des rechten Condylus femoris
internus wahrgenommen werden konnte und von Dr. Stöckel, Leiter
des Röntgen-Institutes im allgemeinen Krankenhause, als solche
constatirt wurde. Diese Nadel hat sich W einlechner gelegentlich
einer Krankenuntersuchung beim Niederknien auf ein Kissen, wie er
vermuthete, vor etwa 15 Jahren eingestochen. Der mässige Schmerz
im Knie war nach einigen Tagen verschwunden. Die Nadel wurde
damals von Weinlechner nur vermuthet und bis auf die letzte
Zeit nie gefühlt. In Folge des Radfahrens mag sie aus der Tiefe
unter die Haut gewandert sein.
Primarius Dr. Schnitzler kommt zunächst mit einigen
Worten auf den von Dr. Kienböck erwähnten Fall von Fremd¬
körper im Kniegelenk zurück, der ein prägnantes Beispiel für die
von Riedel als Perixenitis bezeichnete Krankheitsform darstellt. Be¬
züglich des von Dr. Kienböck zuletzt erwähnten Falles, in
welchem Schnitzler das Projectil aus dem Occipitallappen entfernt
hat, bemerkt Schnitzler, dass die Indication zur Operation durch
die quälenden Kopfschmerzen gegeben war. Es wurde zunächst an der
Einschussstelle — über dem rechten Scheitelbein — eingegangen und
eine unter dem leicht deprimirten Knochen gelegene traumatische Cyste
entfernt und dann über dem rechten Hinterhaupthöcker eine zweite
Trepanation vorgenommen und von hier aus in der von Dr. Kien¬
böck geschilderten Weise das Projectil nicht ohne Schwierigkeiten
entfernt. Der Kranke ist von seinen Kopfschmerzen seit der Operation
befreit; doch bleibt es unbestimmt, ob diese Kopfschmerzen durch die
erwähnte intracranielle Cyste oder durch das Projectil bedingt waren.
Auf die Replik des Herrn Primarius Schnitzler erwidert
Weinlechner, Schnitzler hätte nicht nöthig gehabt, sich
weiss zu waschen, da ja ein Vorwurf ihm gegenüber ferne lag. Vom
Vorwurfe der Behandlung des geschwollenen Kniegelenkes mit Gyps¬
verbänden sei er vollkommen frei, da er sie nicht angelegt habe,
ebenso von der Bereicherung der chirurgischen Nomenclatur. Von dem
dritten Punkte jedoch, dem Nichtdarandenken, könne er nicht frei¬
gesprochen werden, da er den Röntgenisator nöthig hatte.
Dr. Alexander : Ueber ein neues, zerlegbares Mitte 1-
ohrmodell zu Unterrichtszwecken (mit Demonstrationen).
Das Modell, das in 30facher Vergrösserung des natürlichen
Präparates angefertigt ist, stellt das Mittelohr der rechten Körperseite
eines erwachsenen Menschen in der Ansicht von innen nach gedachter
Wegnahme der Labyrinth wand der Paukenhöhle dar und umfasst das
Trommelfell, den oberen Trommelhöhlenraum, die Trommelfell- und
die Taschenfalten, die Corda tympani und die Gehörknöchelchen mit
ihren Muskeln und Bändern. Ausserdem sind die Tuba auditiva, das
Antrum tympanicum, die Pars tegmentosa oss. temp., der Recessus
jugularis und die Eminentia pyramidalis theil weise ersichtlich.
Die Herstellung des Modelles, das von Herrn Bildhauer Tag¬
lang nach meinen Angaben und Präparaten gefertigt worden ist,
wurde durch die Schwierigkeit veranlasst, einem Auditorium das Ver¬
halten der an der Innenseite des Trommelfelles gelegenen Falten und
Taschen am natürlichen Object mit genügender Deutlichkeit vor Augen
zu führen. Der Erreichung des beabsichtigten Zweckes dienen:
1. Die verhältnissmässig hohe Vergrösserung, in welcher das
Modell angefertigt ist.
2. Seine Zerlegbarkeit.
3. Die genaue Nachbildung der Gestalt- und Formenverhältnisse
des natürlichen Präparates.
29. Congress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie.
18. — 21. April.
(Fortsetzung.)
Referent: Dr. Heinz Wohlgemut h (Berlin).
I. Sitzungstag. Nachmittagssitzung.
VI. Körte (Berlin): Erfahrungen über die operative
Behandlung der malignen Dickdarmtumoren.
Körte stellt eine Reihe von Patienten vor und demonstrirt die
Präparate von Dickdarmcarcinomen, die er diesen entfernt hat. Er
hat im Ganzen 54 Fälle aufzuweisen, von denen er 43 mit 51 Ein¬
griffen operirt hat. Der älteste Fall war 84 Jahre alt, 9 standen im
dritten Decennium. Der Hauptsitz des Tumors war die Flexura sig-
moidea, 19mal, dann die Ileocöcalgegend mit 15 Fällen. Als wichtige
Symptome bezeichnet er den Abgang von Blut und blutigem Schleim.
Am wichtigsten sind natürlich die Stenosenerscheinungen, die am
frühesten bei ringförmigen Tumoren auftreten, während ganz grosse
wandständige Tumoren lange Zeit ohne dieselben bleiben. Die Laparo¬
tomie ist auch daun gerechtfertigt, wenn diese Stenosenerscheinuugen,
durch tuberculöse oder narbige Tumoren verursacht sind. Sichtbar,
durch das Bestreben, durch den engen Theil den Koth zu entleeren,
ist in vielen Fällen die Hypertrophie des centralen Darmabschnittes.
Von grösster Wichtigkeit ist natürlich die Differential-Diagnose und
wenn diese festgestellt ist, die Beurtheilung, ob der Fall operirbar ist,
oder nicht. Da kann man nun bei den Tumoren der Ileocöcalgegend
nach seinen Erfahrungen bedeutend weiter gehen, als am beweglichen
Darm. Bestehender Ileus beeinflusst das Resultat der Operation natür¬
lich sehr. Von 25 derartigen Fällen hat er 15 geheilt, 10 sind ge¬
storben. Die Radicaloperation konnte er bei seinen 54 Patienten nur
19mal machen, und zwar 6mal in der Ileocöcalgegend, 6mal in der
Flexura hepatica, am Colon ascendens und an der Flexura sigmoidea
7mal. Die 5 vorgestellten Fälle sind von 3 bis 8 V2 Jahren gesund.
Als Palliativoperation ist der Enterostomie die Entoroanastomose natür¬
lich vorzuziehen. Er hat sie 12mal gemacht, mit 9 Erfolgen und
3 Todesfällen, 3 mal zwischnn Colon transversum und Flexura
sigmoidea, 5mal zwischen Ileum und Flexura sigmoidea und 4mal
zwischen Ileum und Colon transversum. Die Enterostomie hat er 20mal
ausgeführt, 2mal die Ileostomie, 8mal die Cöcostomie, lOmal die
Colostomie, die natürlich wegen der geeigneteren Stuhlverhältnisse bei
Weitem vorzuziehen ist. Die letzteren Patienten können durch gute
Pelotte und Regelung der Diät eine genügende Continenz haben und
ein erträgliches Dasein führen.
Discussion: Ivraske (Freiburg) glaubt, dass die von ihm
inaugurate sacrale Methode der Mastdarmexstirpation Alles leistet, was
man von ihr erwarten kann, besonders im Hinblicke auf die func-
tionellen Resultate. Zwar wenn man auf die Erhaltung des unteren
Mastdarmabschnittes kein Gewicht legt, kommt sie wenig in Betracht.
Aber auch bei ihr sind Recidive nicht ausgeschlossen. Er hat solche
auch nach fünf und mehr Jahren gesehen. Was die Frage anlangt,
ob man überhaupt von Recidiven oder neuen Carcinomen sprechen
kann, so glaubt er, dass die schnell folgenden Tumoren neu, die
später auftretenden von zurückgelassenen Keimen entstanden sind. Um
dies nach Möglichkeit zu vermeiden, schlägt er die combinirte Ope-
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
443
ration vor, und zwar soll man, wenn man mit der abdominalen Art
combiniren will, diese zuerst machen. Man kann dann schnell zu der
eventuellen Ueberzeugung gelangen, dass die Exstirpation unmöglich
ist und dann gleich den Schnitt zur Anlegung eines Anus praeterna¬
turalis benützen. Hat man sich aber von der Möglichkeit der Exstir¬
pation vergewissert, dann wird zuerst die A. haemonhoidalis post,
unterbunden, die Operation wird so gut wie blutlos dadurch, und man
kann auch so die Lymphdrüsen die im Mesorectum sitzen, vollkommen
entfernen und eine grosse Gefahr für Recidive vermeiden. Die Gefahr
der Gangrän des heruntergezogenen Darmes hält er nicht für so be¬
deutend. , „ .
Henle (Breslau) empfiehlt das N i c o 1 a d o n i sehe Vorfahren,
welches eine Sepsis durch den Kothabgang möglichst verhütet, Nach¬
operationen von Fisteln etc. weniger häufig erforderlich, wenn aber
solche nöthig sind, etwa in ein Drittel der Fälle, weniger umfangreich
und leichter macht. Im Uebrigen hat in der Breslauer Klinik die
sacrale Methode bessere Resultate geliefert als die perineale.
Steinthal (Stuttgart) hat in einem Falle ein 5cm über dem
Anus sitzendes Carcinom (?), welches sich vor den Mastdarm herunter¬
ziehen liess, nach dem Vorgänge von Mikulicz bei Mastdarmprolaps
amputirt. In einem ähnlichen hat er hinter dem Tumor nach Ein¬
führung eines Dittel’schen Mastdarmrohres eine elastische Schlinge
umgelegt, die nach acht Tagen durchschnitt. Der Fall war in fünf
Wochen geheilt mit völliger Functionsfähigkeit. Nach 2'j2 Jahren
Recidiv, welches er durch Kauterisation geheilt hat. Auf die combimrte
Art hat er einen Fall operirt, eine 52jährige Kranke mit hoch¬
sitzendem Carcinom. Nach dem medianen Bauchschnitt fand er ein so
kurzes, fettreiches Mesocolon, dass eine Invagination nicht möglich
erschien. Daher hat er oberhalb der Neubildung durchschnitten, das
periphere Ende vernäht und versenkt, das centrale Ende im unteren
Wundwinkel eingenäht. Dann hat er in einer zweiten Sitzung das
Rectum von unten herausgeholt. Die Verwundung war keine so
grosse wie bei der sacralen Methode, doch war der Ueberblick nicht
so gut.
Güssen baue r (Wien) : Dass er in der K r ö n 1 e l n sehen
Tabelle trotz der grössten Zahl der Operationen (144) in den Dauer¬
heilungen nicht figurirt, liegt daran, dass er in Böhmen nur von einigen
wenigen Patienten weitere Nachricht bekommen hat. Er steht auf dem
Standpunkt, die Indicationen zur Operation sehr weit anzunehmen.
Was nun die Methode anlangt, so ist beim Weibe die sacrale Methode
nicht nöthig, sie ist dagegen beim Manne in Combination mit der
osteoplastischen Kreuzbeinresection vorzuziehen. Für die Bestimmung
der Dauerresultate hält er drei Jahre für eine zu kurze Zeit, als dass
eine symptomlose Heilung schon als Dauerresultat zu betrachten sei.
Nach sieben Jahren können noch Recidive auftreten.
VII. v. Mangold (Dresden) stellt einen durch U e b e r-
tragung von Rückenknorpel geheilten Fall von Kehl¬
kopfstenose nach Typhus und einen ebenfalls duich Uebei-
tragung von Rückenknorpel geheilten Fall ■son
Sattelnase vor. Er hat im Ganzen fünf solche Uebertragungen
bisher gemacht, drei am Kehlkopf, zwei an der Nase.
Discussion: v. Bergmann (Berlin) bemerkt, dass das
Knorpelstück am Kehlkopf unter der Haut auffällig deutlich veischieb-
lich ist.
VIII. v. Stubenrauch (München): Die Veränderungen
des wachsenden Knochens unter dem Einflüsse des
Phosphors.
Redner hat Versuche mit Phosphor an Hühnern, Tauben und
Meerschweinchen angestellt und gefunden, dass am Epiphysemknorpel
an der Stelle der Spongiosa eine etwas dichtere Substanz entsteht, die
abhängig ist von der Dosis, der Dauer der Fütterung und von den
Wachsthumsvorgängen. Diese Schicht war besonders an dei obeien
Humerus-, unteren Femur-, Radius und Ulnaepiphyse zu sehen. Sie
konnte bei rasch wachsenden Thieren am besten beobachtet werden.
Zu einem vollständigen Verschluss der Markhöhle konnte er es jedoch
nicht bringen. Er muss anerkennen, dass die Wirkung des Phorphois
auf die rachitischen Knochen, so lange nicht das Wesen der Rachitis
selbst festgestellt, nicht zu entscheiden ist. Die Beobachtung jedoch,
dass Kinder, die sich in Phosphorfabriken aufhalten, sich kräftig ent¬
wickeln sollen, fordert zur Nachprüfung auf. Man fand auch bei Sec
tionen von in Zündholzfabriken beschäftigt gewesenen Arbeitern con-
centrische Knochenauflagerungen mit Verschluss der Markhöhle. Re nei
zeigt dann noch Röntgen-Photographien von solchen Arbeitern, die
an den Epiphysengrenzen deutliche bis grosse Knochenauflagei ungen
aufwiesen. .
IX. Franz Koenig (Berlin) : Wandlungen in der
chirurgischen Technik der Gelenkoperationen.
Bei der Frage der Sicherheit der Operationen der Gelenker
krankungen kommt es darauf an, ob sie septischei odei aseptisc lei
Art sind. Bei den aseptischen Gelenkresectionen, der Patellarnaht
Fremdkörperentfernung hat Koenig sich eine besondere lechmk
ohne Fingergebrauch“ ausgebildet und stellt als Forderung auf bei
diesen Operationen: 1. nie die Hand in das Gelenk hineinzubringen,
2 nie ohne Blutleere zu operiren, nicht nur wegen des besseren Ueber-
blickes, sondern auch wegen der Asepsis, 3. Drainage möglichst zu
vermeiden. Man hat geglaubt, dass die R ö n t g e n- Strahlen, besonders
bei Fremdkörpern, viel Aufschluss geben würden. Er ist sehr enttausc i
worden. Man macht durch die R ö n t g e n - Strahlen oft die Diagnose
des Fremdkörpers, wo keiner ist, wenn Verknöcherungen im Knorpel
und ähnliche Vorkommnisse Schatten geben. Bei eiterigen Gelenken
macht er möglichst grosse Schnitte, beiderseits 8—10 cm lang an dei
tiefsten Stelle des Synovialumschlages. So heilen besonders die Gono-
coccengelenke ohne erhebliche functioneile Störungen vorzüglich aus
Wenn Seitenschnitte, grosse Incisionen nichts mehr helfen, dann tnlt
die quere Auftrennung des Gelenkes mit Ablösung der Patella in ihr
Recht: so kann man nicht selten noch die Amputation vermeiden.
(Vorstellung eines solchen Patienten, bei dem eine Amputation in trage
kam.) Was nun die schweren Formen von Arthritis deformans, be¬
sonders im Hüftgelenk, anlangt, so hält er es für richtiger, den kranken
Kopf vorzunehmen, als die Patienten mit einem H e s s i n g sehen lutor
herumgehen zu lassen. . . , . ,
Discussion: Franke (Braunschweig) bemerkt, dass ei
das von Koenig vorgeschlagene Verfahren der operativen Behandlung
der Arthritis deformans schon 1894 ausgeübt und vorgeschlagen hat.
Auch die Ausspülung der Gelenke hält er von Werth.
Schede (Bonn) glaubt, dass viele gonorrhoische Gelenke mit
antiseptischer Ausspülung ohne Drainage und Incision heilen. Noth-
wendig bei den Spülungen sind Bewegungen im Gelenk. Man soll zu¬
erst mit indifferenten Flüssigkeiten : Bor , Salicylwasser, dann mit
Sublimat, ln/00, spülen, vorausgesetzt muss natürlich werden, dass die
Kapsel intact ist.
Koenig: Schlusswort. . .
X v Eiseisberg (Königsberg) stellt einen Patienten mit
Verlust des rechten Zeigefingers vor, auf den er die
zweite Zehe aufgepflanzt hat. _ . .
XI. Bunge (Königsberg) : Demonstration einiger
nach Bier’scher Methode amputirter Patienten.
XII. Hirsch (Köln): Vorstellung einer Unter¬
schenkelamputation mit tragfähigem Stumpfe und
neuer Prothese. , _
Die Tragfähigkeit des Stumpfes hat er ohne Knochenunteil age
durch Massage” und Tretübungen erreicht. Die Prothese trügt an einer
einfachen Seitenschiene zwei breite eiserne gepolsterte Klammern zur
'^Discussion: Nötzel (Frankfurt a. M.) berichtet über die
Resultate des B i e r’schen Verfahrens im Krankenhause zu Frankfurt a. M.
lobt die Unempfindlichkeit des Stumpfes und hält die Methode für eine
entschiedene Verbesserung. , _
Bunge (Königsberg) redet den einfachen Gypsprothesen, beson¬
ders für arme Patienten, das Wort, die auf einen einfachen Holzpflock
über dem Strumpf aufgegypst und mit Bändern versehen werden, damit
sie nicht abgeschleudert werden können.
Bier (Greifswald) weist darauf hin, dass man die Tretubungen
der Kranken sehr vorsichtig vornehmen lassen soll, und dass der Vor¬
theil der tragfähigen Stümpfe nach seiner Methode darin liegt, dass
Periostwucherungen, die immer schmerzhaft sind, ausgeschaltet werden.
XIII. Reichel (Chemnitz): Ueber Chondromatose des
Kniegelenkes. _ „ ,
Vortragender berichtet über einen sehr seltenen Fall von wahrer
intraarticulärer Knorpelgeschwulst der Synovialis des Kniegelenkes bei
einem 35jährigen Patienten, die sich innerhalb fünf Jahren zu bedeu¬
tender Grösse entwickelt hat, eine nahezu faustgrosse, anscheinend
knochenharte Geschwulst, welche nach aussen oben von der Kniescheibe
dem Knochen unverschieblich aufzusitzen schien. Ein Flussigkeitserguss
fehlte. Die Function des Beines war trotz der grossen Geschwulst nur
wenig gestört. Die Synovialkapsel zeigte sich in ihrer ganzen Ausdehnung
erkrankt. Da wo der Process am wenigsten vorgeschritten, war ihre
Oberfläche durch eine Unzahl gewucherter, derber, knorpelhaltiger
Synovialzotten bis Erbsengrösse höckerig und rauh, an anderer Stelle
war sie in eine 1-3 cm dicke, knorpelige Geschwulstmasse von
6 _ 8 — 11 cm Länge, beziehungsweise Breite umgewandelt. Die Gelen v-
knorpel selbst, die Menisken und die knöchernen Gelenkenden waren
frei Die mikroskopische Untersuchung bestätigte, dass es sich um ein
wahres Enchodrom handelte. Die mit der Gelenkhöhle commumcirende
Bursa poplitea enthielt eine gleichartige Geschwulst von Huhnereigrosse,
noch innig mit der Wand verbunden. Im Gelenk einige freiknorpe ige
Gelenkkörper, augenscheinlich von der Hauptgeschwulstmasse abge¬
brochen. Für einen chronisch entzündlichen 1 iocess, ins esoiueit
Arthritis deformans, gab weder der makro-, noch miki os opisc u,
fund Anhalt.
Demonstration des Präparates.
44 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 19
Abendsitzung, 10 Uhr Abends bis 11 '/9 Uhr Nachts.
1. Immelmann (Berlin) zeigt die Röntgogramme verschiedener
Knochengeschwulstformen, Tuberculose, Syphilis, Echinococcus, ferner
Lungentuberculose und anderer Erkrankungen.
2. Joachimsthal (Berlin) demonstrirt eino Anzahl von Bil¬
dern, die die hohe Bedeutung des Röntgen-Verfahrens für die Erforschung
der angeborenen Deformitäten vor Augen führen. Zur Be¬
sprechung kommen dabei unter Anderem der angeborene Hockstand
des Schulterblattes, die fötalen Amputationen, Defectbildungen an den
langen Röhrenknochen, an Händen und Füssen, die angeborene Skoliose.
3. Derselbe spricht zur diagnostischen Verwerthung
des Röntgen -Verfahrens und projicirt im Aufträge eiuer Anzahl
von Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, sowie aus
seiner eigenen Sammlung Röntgen-Bilder, die die diagnostische Bedeutung
der Durchleuchtung darthun. Von Interesse sind namentlich die von Küm
mell (Hamburg) stammenden Bilder von Patienten mit Fisteln, deren
Ursprungsherd nach vorheriger Einspritzung von Jodoformemulsion sich
auf den Skiagrammen in Folge der schweren Durchlässigkeit des Jodo¬
forms für die X-Strahlen ergab. In einem Fall von Fistelbildung in
der lleocöcalgegend, bei der man eine perityphlitische Erkrankung
annehmen zu müssen geglaubt hatte, führt der auf dem Skiagramm
sich deutlich markirende, mit Jodoformemulsion gefüllte Fistelgang zur
rechten Niere. Es hat demnach eine paranephritische Eiterung Vorge¬
legen. Andere Bilder zeigen seltene Fracturen, Kugeln im Gehirn,
syphilitische Erkrankungen des Skeletes, die Entstehung der Zehen¬
deformitäten unter dem Einfluss unzweckmässigen Schuhwerkes u. A. m.
4. L au e n s te i n (Hamburg): Demonstration von Röntgen-
Bild e r n und Präparaten eines Falles von Spontan-
fractur des Oberschenkels durch Tumor.
5. Sadeck (Hamburg) demonstrirt Röntgen-Bilder von Knochen¬
atrophie und deren Rückbildung.
G. P o e 1 e h e n (Zeitz) zeigt das Röntgen - Bild eines von
ihm operirten Oesophagusdive rtik eis.
7. Holländer (Berlin) : Resultate der II e i s s 1 u f t be¬
ll a n d 1 u n g bei Lupus und Angiosarkomen. Redner demon¬
strirt zunächst einen extremen Fall von diffusem Angiocavernom
des Gesichtes vor und nach der Behandlung — die blaurotke, beim
Schwein erectile Blutgeschwulst war durch zweimalige Heissluftkauteri¬
sation in eine glatte, weisse, bewegliche Narbe verwandelt. Sodann
projicirt derselbe eine Serie von Dauerresultaten von Lupus, welche
durch seine Ileissluftkauterisation länger als drei Jahre geheilt waren.
(Fortsetzung folgt.)
18. Congress für innere Medicin in Wiesbaden,
Vom 18. bis 21. April 1900.
Referent Allm (Berlin).
(Fortsetzung.)
1. Sitzung.
P e 1 (Amsterdam) : Die Behandlung der croupösen
Pneumoni e.
Spou tane Schwankungen und unerwartete Wendungen des Krank¬
heitsverlaufes, locale, epidemische und Alterseinflüsse, der individuelle
Unterschied des Krankenmateriales, unzuverlässige anamnestisclie An¬
gaben, zufällige Coincidenzen und Launen des Zufalles erschweren im
hohen Grade die richtige Werthschätzung der Heilerfolge bei der Pneu¬
monie. Die ungenügende Beachtung dieser Quellen der Täuschung hat
manche falsche therapeutische Schlüsse gezeitigt. Der einzige
Weg, der zur Wahrheit führt, ist die genaue nüchterne,
objective Beobachtung am Krankenbette. In den meisten
Fällen besorgt die Natur auch ohne ärztliche Dazwisckenkunft die
Heilung, da auch hier, wie überall bei krankhaften Vorgängen, die
com pensatorische Kraft zur Ausgleichung pathologischer Zu¬
stände eintreten. Vielfältig sind die Schutzmittel, mittelst welcher der
ergriffene Organismus sich zur Wehr setzt und eine Entgiftung des
Blutes und der Körperorgane anstrebt: Welche grosse Rolle hiebei
die Leukocyten und das Fibrin spielen, beweist schon die
häufig vorkommende Hyperleukocytose und Hyper fibri¬
nöse des Blutes. Möglicher Weise ist die Erhöhung der
T e m p erat u r ein treuer Bundesgenosse der beiden eben genannten
Factoren. Ueber das Schicksal des Pneumonikers wird
denn auch nicht in der Lunge, sondern in erster
Reihe in den Säften des Körpers entschieden. Die
Constitution, respective die Individualität des Erkrankten, welche
in erster Reihe die Intensität der Antitoxinbildung überhaupt, sowie
die Kraft an Abwehrmitteln überhaupt, bedingt, ist hiebei von ent¬
scheidender Bedeutung. Für die Pneumonien, welche weniger günstig
für den Kranken verlaufen, sind es auch wieder gewisse Anomalien
der Constitution, welche den abnormalen, unregelmässigen Ver¬
lauf beeinflussen. Das Leben der Emphysematiker und Bronchitiker,
der Brightiker und Diabetiker, der Bejahrten und Heruntergekommenen,
der Nervös-Ueberreizten und besonders der Alkoholiker wird mehr als
das der Gesunden gefährdet, wenn sie von einer Pneumonie ergriffen
werden. Hier fände ein Heilmittel, das die drohenden Gefahren des
Lebens aufzuheben oder zu veringern vermöchte, seinen rechten Platz.
Die objective Beobachtung hat nun gezeigt, dass wir bis
jetzt über kein einziges Mittel verfügen, mittelst welchem wir im
Stande sind, den pneumonischen Process abzukürzen
oder direct günstig zu beeinflussen. Von keiner der als solche
anempfohlenen Heilmethoden ist die coupirende Wirkung genügend
fundirt (Heroica, als: grosse Gaben Tinet. stibiatus, Veratrin und
Mercur, Aderlass, Natron salicylium, Pilocarpin, Jodsalze, leukoeytäre
Mittel, Chinin, Digitalis, kalte Bäder etc.). Der Werth der Serum¬
therapie steht noch nicht fest. Bewiesen ist nur, dass die Pneumonie
bei Anwendung oben genannter Heilmittel günstig verlaufen kann, aber
nicht, dass es die Verabreichung dieser Arzneien gewesen ist, welche
zu dem guten Ausgang geführt hat. Iudessen können einzelne dieser
Mittel als Symptomatica sich nützlich erweisen. So kann z. B.
der Aderlass auch jetzt noch indicirt sein bei schwerer Dyspnoe,
Cyanose und unterdrücktem Puls, wie bei beginnendem Lungenödem.
Er kann dann sogar von lobensrettender Bedeutung sein. Als Nervinum
und Euphoricum kann das Chinin vielleicht nützlich sein, obwohl
die ihm von Aufrecht zugedachte specifische Wirkung auf die
Pneumotoxine auf schwachen Füssen steht. Die Digitalis kann in
kleinen Dosen als Cardiotonicum verwandt werden, obwohl die
Stimulantia bei der Herzschwäche acuter Iufectionskrankheiten
besser und schneller wirken. Die Digitalis ist nur indicirt, wenn ein
Herzkranker von einer Pneumonie ergriffen wird und eine Herz¬
schwäche auftritt oder die Herzinsufffcienz sich wie bei einem Herz¬
kranken (mit arythimer Stauung des Blutes) in den Vordergrund
schiebt. Dagegen sind grosse Gaben, wie siePetruscu befürwortet,
nicht zu empfehlen. Die Verehrer dieser Methode haben nur leichtere
Fälle behandelt und gerade die schweren Fälle (mit Herz¬
schwäche) ausgeschlossen, und es wären gerade diese Fälle, an welchen
sie die Behandlungsweise hätten erproben müssen, weil die leichteren
Fälle gewiss auch ohne sie zur Heilung gelangt wären. Je weniger
der Arzt bei den regulär verlaufenden Pneumonien
eingreift, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit
eines glücklichen Ausganges. Nicht eing reifen heisst
aber nicht: Nichts thun. Dem Arzt bleibt die wichtige Aufgabe
übrig, dem Kranken die Wohlthat einer gut verstandenen Hygiene,
den Segen einer sorgfältigen Pflege, den Nutzen einer zweckmässigen
Ernährung und die Linderung der meist quälenden Erscheinung zu
Theil werden zu lassen, damit die Verhältnisse für die natürliche
Heilung sich um so günstiger gestalten. Ganz mit Unrecht ist diese
symptomatische Therapie oft als „exspectative1, bezeichnet
und mit Geringschätzung angesehen. Der Arzt erachte auch Nichts zu
gering, Nichts zu unbedeutend, weil es ja öfter auf die Summe
von Kleinigkeiten ankommt. Gerade die genaue Berücksichti¬
gung aller Verhältnisse, die für den Kranken von Werth sein können,
verräth den einsichtigen und gewissenhaften Arzt. Das Grosse be¬
sorgt schon die Natur, der Arzt besorge das Kleine.
Gegen den quälenden Husten und die erschwerte Expectoration sind
die altehrwürdigen Dove r’schen Pulver, gegen das heftige Seiten¬
stechen nöthigenfalls kleine Morphiumeinspritzungen und
später gegen die erschwerte Expectoration ein Expectorans empfehlens-
werth, ohne dass sich gerade behaupten lässt, dass man auch ohne
diese Mittel nicht auskäme. Die unregelmässigen atypischen
Fälle erfordern im Grossen und Ganzen ein stimulirendes Ver¬
fahren. Es ist hier fast immer die Herzschwäche, sowie die
Körperschwäche überhaupt, welche die Lebensgefahr bedingt. So sehr
eine zu frühe und übertriebene Anwendung der Reizmittel zu
fürchten ist, kann doch andererseits das Leben eines Pneumonikers
durch ein zur rechten Zeit verabreichtes Reizmittel gerettet werden.
In erster Linie steht der Alkohol. Obgleich es mit der theoretischen
Begründung schlecht bestellt ist und die ihm zugeschriebene eiweiss-
sparende Wirkung nicht genügend fundirt ist, bekommt man doch am
Krankenbette des Fiebernden den festen Eindruck, dass der Alkohol
Stimuli rend und kräftigend wirkt. — Aber hier ist
vor einem Ueber mass zu warnen. Vorsichtig und zurück¬
haltend sei man namentlich bei jugendlichen Personen. Als
das zuverlässigste Analepticum muss der lvampher gelten: Anfangs
in kleinen Dosen und bei stärker drohenden Lebensgefahr in hohen
Dosen, und besonders subeutan in Verbindung mit Aether. Das Leben
mancher Pneumoniker, welches durch Collapse und Herzschwäche be¬
droht ist, wird dadurch gerettet, dass man ihnen über den kritischen
Augenblick durch Kampher hinweghilft. Regelmässige Abwaschungen
. der Haut sind für den Kranken höchst angenehm und zugleich wohl-
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
445
thuend. Dagegen erfordert die erhöhte Körperwärme durchaus nicht
die Anwendung von Fiebermitteln, sie bringt dem Körper keine Gefahr.
Man vergleiche die auffallende Euphorie und das verhältnismässig gute
Allgemeinbefinden des Pneumonikers, dessen Temperatur bis auf 42"
gestiegen ist, mit dem somnolenten Zustand des Typhuskranken, der
bei niedriger Körperwärme phantasirend, schläfrig, mit zitternden
Gliedmassen ans Bett gefesselt ist! Es ist sehr wahrscheinlich, dass
das Fieber eine zweckmässige Reaction des inficirten
Organismus ist, die ihm nützt. Bei der Pneumonie liegt
umsoweniger Grund für eine antipyretische Behandlung vor, weil der
Krankheitsprocess sich schnell verläuft. Der Arzt hat aber auch die
Pflicht prophylaktisch thätig zu sein. Er muss, so viel wie
möglich dafür sorgen, dass die C o n s t i t u t i o n der ihn anvertrauten
Menschen möglichst intact bleibt, damit, wenn sie trotzdem einmal
von einer Pneumonie befallen werden, die natürlichen Abwehrmittel
in voller, ungeschwächter Stärke zur Wirkung gelangen können. Die
Hauptsache ist und bleibt hiebei, stets Excesse in Ueber¬
au st r e n g u n g e n nach jeder Richtung hin schon in ge¬
sunden Tagen zu vermeiden. ........ , „
Discussion: Stabsarzt Müller berichtet über das Er¬
gebnis der Statistik der preussischen, sächsischen und wiirtembergi-
schen Armee der letzten 20 Jahre. Sie weist 85.000 Fälle auf, jährlich
im Durchschnitte 4100 Fälle. Im Verhältnisse zur Kopfzahl des Heeres
ist eine Abnahme von 12-7 auf 6-8<>/00 allmälig eingetreten.
Diese Verminderung der Morbidität ist bedingt durch die Verbesserung
der sanitären Verhältnisse und die sorgfältigere Rekrutirung. Die
Mortalität beträgt im Durchschnitt jährlich 106 ; die Pneumonie ist
nach wie vor die tödtlichste Krankheit im Heere, feie macht 15-7 /„
der Gesammtsterblichkeit aus, bei Ausschluss der Phthise. Sie schwankt
von 4i/2 _ 8 °/0, keine Behandlungsmethode hat vor der anderen einen
Vorzug erwiesen. Man muss auch heute noch in jedem einzelnen
Falle die geeignete Methode suchen. Den Cassenkranken sollte wie
den Soldaten nach überstandener Krankheit vier Wochen Urlaub ge¬
währt werden. „
Jürgenseil (Tübingen) hält die hydriatische Behandlung zur
Bekämpfung der Herzschwäche gerade für das geeignetste Mittel; im
Uebrigen habe er dieselben Grundsätze in der Behandlung wie die
Herren Referenten. , . . . .... „....
Rumpf (Hamburg) hat die Kochsalzinfusionen in zwölf lallen
von grosser Herzschwäche in Folge von Blutverarmung angewendet.
Davon sind vier Kranke genesen, indem sich eine bessere Diurese ein-
stellte. Es ist also ein Mittel von beschränktem Werth.
Rosenstein (Leyden) : Man muss stets die Grenzen des
Herzens von vorneherein beobachten. Sobald die Zunahme der
Dämpfung nach rechts mit gleichzeitiger Steigerung der Pulsfrequenz
manifest wird, ist die Prognose schlecht und man muss rechtzeitig
Reizmittel anwenden. „ . . „ .... , .
Smith (Schloss Marbach) warnt vor dem Alkohol. Er gefährdet
das Herz, weil er es erweitert.
Paessler (Leipzig) warnt vor der Anwendung von Lhloral-
hydrat als Beruhigungsmittel, weil es eine Gefässlähmung hervorruft
und so die Wirkung der Pneumococcen noch steigern kann.
Schnitze (Bonn) wendet den Alkohol nur bei Trinkern an.
Wo man zweifelhaft ist, dient der Muskelschmerz auf Druck als Kenn¬
zeichen. Sonst empfehlen sich als Analeptica Kaffee und Kamphei. Von
der Digitalis macht er keinen Gebrauch.
Naunyn (Strasburg) hält doch noch an dem Werth der Expec¬
torants fest. Namentlich Jodkali hat auf der Höhe oft eine gute Wir¬
kung. Ferner empfiehlt Naunyn das Ergotin als Mittel gegen den
Collaps, 4—5 dg einer 10%igen Lösung subcutan. Es wirkt auf die
Gefässe blutdrucksteigernd.
Lenhartz (Hamburg) : Die Pneumoniker sterben nicht nur an
ihren Herzen und den Gefässnerven, sondern auch an Bacteriämie.
Die Blutuntersuchung hat daher sogar prognostischen Werth. Die Digi¬
talis in kleinen Dosen hält Lenhartz für das beste Herztomcum
nach dem 40. Lebensjahre, indem es die Elasticität des Herzmuskels
verstärkt.
Nothnagel (Wien) empfiehlt nachdrücklich die Hydro¬
therapie, die da, wo andere Behandlungsmethoden versagen, oft
prompt wirkt. ,
Senator (Berlin) rätli die Anwendung von alkalischen und
alkalisch-muriatisclien Mineralwässern, weil sie durch Steigei ung des
Affluxus bei allen Bronchitiden die Expectoration erleichtern.
F r i e d e 1 Pick (Prag) macht darauf aufmerksam, dass ein
Thierversuch das Ergotin nur am Uterus eine gefässverengernde Wirkung
zeigt, sonst nirgends. . , .
Bäumler (Freiburg): In einzelnen Fällen tritt der Tod vom
Gehirn aus ein durch Psychosen oder plötzliche Hyperpyrexie. Die
Hydrotherapie ist keine Antipyrese, sondern eine Einwirkung aut die
Gefässnerven.
2. Sitzung.
I. Neusaer (Wien) : Zur Klinik des M a 1 1 a f i e b e r s.
Mit diesem Namen bezeichnet man eine an den Küste 11 u n d
auf den Inseln des Mittelländischen Meeres vorkom¬
mende Infectionskrankkeit : Malta, C y p e r n, den Balearen, im
griechischen Archipel, in K 1 e i 11 a s i e n, Gibraltar,
Sicilieu, Sardinien, Corsica, Genua, Neapel, Dal¬
matien, auf den br ionischen Inseln, Alexandrien,
Tunis, Algier. Das geographische Verbreitungsgebiet dieser
Krankheit umfasst aber auch die Inseln und die amerikani¬
sche Westseite des Atlantischen Oceans. Erreger der
Krankheit ist der von Bruce 1897 entdeckte Mikrococcus
melitensis, der für Affen pathogen ist. Die Incubation schwankt
zwischen 8 — 20 Tagen. Der Maltacoccus wird durch das Blutserum
von Maltakranken agglutinirt. Die Krankheit beginnt mit Fieber, das
bis 40-5° C. steigen kann; Kopf-, Glieder- und Lendeuschmerzen,
Schlaf- und Appetitlosigkeit, verbunden mit Brechreiz und manchmal
Erbrechen gesellen sich hinzu. Gewöhnlich bestehen auch Obstipation
und profuse Schweisse, weshalb die Krankheit bei acutem Ver¬
lauf als F e b r i s sudor alis uud bei chronischem als Phthisis
mediterranea bezeichnet wurde. Der Fieberanfall dauert eine bis
fünf Wochen. Im weiteren Verlaufe und als Nachkrankheiten kommen
rheumatische Aflfectionen der Gelenke, Orchitis, Mastitis und Neuralgien
vor. Tödtlicher Ausgang ist selten, die Sterblichkeit beträgt 2%. Die
Leichenbefunde ergaben Hyperämie der Lungen und der Leber, Milz-
vergrösserung, Röthung und Schwellung der Dünndarmschleimhaut, im
Dickdarme finden sich noch Geschwüre.
Charakteristisch für das Maltafieber sind die in unregelmässigen
Intervallen auftretenden Rückfälle, welche die Krankheit über
Monate, ja selbst Jahre hinziehen können. Einen solchen Fall, der
sich durch eine lange Dauer (acht Jahre) charakterisirt, stellt der
Vortragende vor.
Der Vortragende macht auf die verschiedenen klinischen Bilder
dieser Krankheit und die Schwierigkeit der Diagnose aufmerksam. Die
acuten Fälle können unter dem Bilde einer schweren Malaria auftreten,
die subacuten intermittirenden wurden thatsächlich schon mit Typhus,
subacuter Tuberculose oder Endocarditis verwechselt, letzteres besonders
bei gleichzeitigen Gelenkafifectionen, die chronischen Formen mit inter-
mittirendem Fieber führten zur Verwechslung mit Tuberculose oder
reeurrirender Pseudoleukämie. Die als Nachkrankheiten des Maltafiebers
auftretenden Störungen seitens des Nervensystemes können sehr viel¬
gestaltig sein, und theils die sensible, theils die motorische Sphäre be¬
treffen. Eine wirksame Therapie des Maltafiebers ist unbekannt. Die
Bekämpfung dieser für das Militär und die Marine so wichtigen Krank¬
heit, die nach englischen und amerikanischen Statistiken die Erkrankten
durchschnittlich 90 Tage und darüber an das Bett fesselt und sie durch
die oft jeder Behandlung trotzenden Recidive in ihrer Leistungsfähigkeit
herabsetzt, wäre nicht nur eine Errungenschaft der Medicin, sondern
hätte auch staatswirthschaftliche Bedeutung. Bei der zunehmenden Aus¬
dehnung der deutschen Colonialpolitik zweifelt der Vortragende nicht,
dass die deutsche Marine in kurzer Zeit die Herde dieser Krankheit be¬
treten wird, insbesondere bei dem bevorstehenden Bau der Eisenbahn in
Kleinasien.
II. Wenckebach (Utrecht) : Die physiologische Er¬
klärung der Arhythmie des Herzens.
Die drei Hauptfunctionen, welche wir als Bedingung der regel
mässigen Herzthätigkeit haben kennen gelernt, sind 1. die automatische
Reizbarkeit des Herzmuskels, 2. das Vermögen, die motorischen
Reize von Muskelzelle auf Muskelzelle weiter zu leiten, 3. die C011-
tractilität. Das Nervensystem ist im Stande, in diese drei fundamen¬
talen Eigenschaften ändernd einzugreifen. Störungen in jeder dieser
Functionen sind im Stande, eine besondere Form der Arhythmien her¬
vorzurufen.
Die automatische Reizbarkeit ist sehr oft erhöht. Es treten daher
überzählige Extra-Systolae auf. Diese entsprechen in den meisten Fällen
den sogenannten frustranen Contractioneu und rufen den Pulsus trige¬
minus, das Intermittiren und verwandte Pulsformen hervor.
Das motorische Leistungsvermögen des Herzmuskels kann ge¬
schwächt und erhöht sein. Im ersten Falle kann es zu regelmässigem
Intermittiren kommen, wobei keine Extra-Systolae stattfinden und
eine eigenthümliche Allorhythmie auttritt. Dieses regelmässige Intm
mittiren kann durch allerlei Uebergangsformen so weit gehen, dass
schliesslich eine Bradycardie entsteht, wobei nur jeder zweite Reiz eine
Systole hervorruft. Leitungshemmung ist auch die Ursache der fetokes-
A d a m’schen Krankheit.
Wenn die Leitungsfähigkeit aber normal erhöht und da jei
das Herz stark gereizt wird, kommt es zum Delirium cordis.
Digitalis wirkt hier günstig, durch Vagusreizung, welche die Leitung
erschwert. . , ,
Die typische Arhythmie durch geschwächte Contractilitat ist uei
Pulsus alternans.
446
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT, 1900.
Nr. 19
Diese Störungen der drei Hauptfunctionen können einzeln und
combinirt auftreten ; von functioneller Störung des Herzmuskels und
dann mehr ständig, von Nerveneinfluss abhängig und dann mehr vor¬
übergehend sich kundgebend.
Discussion: Rosenstein (Leiden).
III. Grube (Neuenahr): Ueber gichtische Erkran¬
kungen des Magens und Darms.
Vortragender betont das Vorkommen ätiologischen Zusammen¬
hanges von Verdauungsstörungen der Gichtiker mit der Grundkrankheit.
Es kommen sowohl seitens des Magens wie des Darms mannigfache
Krankheitsbilder vor, die nur die Existenz von Gährungs- und Fäulniss-
processen gemeinsam haben. Bald besteht nur das Symptomenbild der
Dyspepsia nervosa, in anderen Fällen sind Abnormitäten des Magen¬
chemismus (auch Milchsäuregährung) oder Störungen der Motilität vor¬
handen. Charakteristisch ist das Erhaltensein des Appetits. Die Darm¬
störungen sind hauptsächlich Verstopfung, Flatulenz, stinkende Fäces.
In Folge dessen auch grosse Mengen Indican im Harn. Bemerkens¬
werth ist der häufige Abgang bedeutender Schleimmassen mit dem
Stuhl, oft unter Koliken. Vortragender neigt der Ansicht zu, dass die
Magen- und Darmstörungen das Primäre sind und den acuten Gicht¬
anfall auslösen. Zur Annahme gichtischer Erkrankungen des Magens
und Darms sind drei Voraussetzungen nöthig: 1. Frühere Anfälle von
acuter Gicht oder noch jetzt Erscheinungen von solcher; 2. andere
Symptome chronischer Gicht; 3. Vorkommen hereditärer Gicht in der
Familie.
Discussion: Minkowski (Strassburg): Die häufigen Ver¬
dauungsstörungen bei Gichtikern sind nicht zu leugnen und ein ätio¬
logischer Zusammenhang nicht unmöglich. Zumeist werden sie aber
durch die bei diesen Kranken oft ganz falsche Ernährung und den
Missbrauch von Medicamenten hervorgerufen. Klinisch haben sie nichts
Charakteristisches. Harnsäureablagerungen sind im Verdauungstractus
niemals gefunden worden.
v. No orden (Frankfurt a. M.): Die Verdauungsstörungen
kommen fast immer nur bei wohlhabenden Gichtikern vor, die durch
die oft wechselnde Diät den Magen belasten. Sie sind keine directe
Consequenz des gichtischen Processes.
His (Leipzig) macht darauf aufmerksam, dass man selten Ge¬
legenheit hat, in Fällen frischer Harnsäureablagerungen auf den serösen
Häuten die Section zu machen. Sie verschwinden immer nach kurzer
Zeit. Die Peritonealablagerungen könnten doch Ursache der Darm-
stürungen sein.
IV. Grube (Neuenahr): Ueber ein dem Coma dia-
beticum analoges künstlich her vor gerufenes Coma.
Vortragender hat mit der ß-Amido-Buttersäure, die von
W. Sternberg (Berlin) unlängst als Ursache des Coma diabeticum
beim Menschen angegeben worden ist, zur Prüfung ihrer Giftigkeit
Injectionsversuche an Katzen gemacht und stets einen positiven Ausfall
gehabt; es entstand die charakteristische Veränderung der Respiration
unter Eintritt tiefen Comas. Die Zuckerausscheidung im Harn bei den
Thieren ist nur als Folge der Operation anzusehen, dagegen ist das
häufige Auftreten von Aceton und Acetessigsäure bemerkenswert!). In
einigen Fällen wurde die Athmung nach Injection von Natr. bicarb,
wieder normal.
Discussion: Magnus-Levy (Strassburg): Die Entstehung
der ß-Oxy-Buttersäure im menschlichen Körper kann nicht, wie S tern-
borg behauptet hat, auf eine Amidosäure zurückgeführt werden.
Schon die quantitativen Verhältnisse sprechen gegen eine solche Ab¬
stammung vom Körpereiweiss. Die Hypothese ist deshalb abzuweisen.
Löwit (Innsbruck) hält die Methode der Versuchsanordnung
des Vortragenden (Registrirung der Athmungsphasen von der Tracheal-
wunde aus) nicht für einwandfrei. Auch zeigen die Curven nichts
anderes .als die gewöhnliche Form tiefer Dyspnoe, wie sie nach mannig¬
fachen Vergiftungen bei Thieren zu beobachten sind.
Biedl (Wien) hält gleichfalls die Schlussfolgerungen des Vor¬
tragenden für nicht berechtigt, auch die Uebertragung auf den Menschen
nicht für statthaft.
V. Schott (Nauheim): Influenza und chronische
Herzkrankheiten.
1. Vortragender weist darauf hin, dass die Influenza auch das
Herz ergreift, und zwar derart, dass durch die cardialen Erkrankungen
nicht nur die Morbiditäts-, sondern auch die Mortalitätsziffer bedeutend
beeinflusst wird. Redner erörtert dann die drei Gruppen von Herz-
afleetionen, welche entweder durch die Influenza direct hervorgerufen
oder durch sie verschlimmert werden, nämlich 1. primäre Herzerkran¬
kungen, 2. Herzleiden, secundär entstanden in Folge anderer durch
Influenza hervorgerufener Erkrankungen, 3. Einwirkung der Influenza
auf bestehende Herzaflectionen.
Von den primären, durch die Influenza hervorgerufenen Herz¬
leiden sind in erster Linie die nervösen Herzaflectionen zu nennen.
Bei den motorischen Neurosen überwiegt zwar die Tachycardie, auf¬
fallend ist aber gerade hier die Häufigkeit der Bradycardien, welche
in solcher Zahl wohl kaum bei einer anderen Infectionskrankheit ge¬
funden wurden. Pseudangina wie auch Angina pectoris vera und Neu¬
rasthenia cordis sind bei Patienten, die an Influenza litten, gar nicht
selten die Folge. Ganz besonders häufig sind die llerzmuskelaffectionen,
die zum Theile rein, zum Theile in Folge von Herzneurosen zur Be¬
obachtung gelaugen.
Den schlimmsten Gefahren sind solche Patienten durch die In-
fluenzaerkrankung ausgesetzt, welche bereits an endo- oder myocardi-
schen Processen vorher litten. Ein grosser Procentsatz der congenitalen
Herzleiden endigt durch die Influenza letal, und myocarditische Pro-
cesse werden oft rapid verschlimmert. Starke Herzausdehnungen kommen
schon bei einfacher musculärer Debilitas vor, und früher bestandene
Herzneurosen werden durch die epidemische Grippe nicht nur leicht
wieder wachgerufen, sondern durch ihre Verschlimmerung wird secundär
der Herzmuskel auch leicht mitafficirt.
VI. Weint raud (Wiesbaden): Ueber den Abbau des
Nucleins im Stoffwechsel.
Obwohl die beträchtliche Vermehrung der Harnsäure- Ausscheidung
nach Verabreichung nucleinhaltiger Kost für eine directe Entstehung
der Harnsäure aus den Nahrungsmitteln spricht, ist neuerdings be¬
stritten worden, dass das Nahrungsnuclein die Quelle der Harnsäure
sei, weil man glaubte, analoge Harnsäurevermehrung auch nach Ver¬
einbarung nucleinfreier Extracte aus Kalbsthymus constatirt zu haben
und weil die Harnsäurevermehrung nach Thymusgenuss schon in so
frühen Verdauungsstunden einsetzt, in denen man eine Resorption von
Nuclein aus dem Darmcanale noch kaum voraussetzen darf.
Genaue Bestimmungen der stündlichen Stickstoffharnsäure und
Phosphorsäure- Ausscheidung nach Thymusnahrung und Verabreichung
von nucleinfreien Extracten aus Thymus haben indessen ergeben, dass
im unmittelbaren Anschlüsse an die Verabreichung eine mit der Ver-
dauungs-Leukocytose im Zusammenhänge stehende Vermehrung der
Harnsäure-Ausscheidung eintritt, dass aber ausserdem unzweifelhaft
auch eine von der Verdauungs-Leukocytose unabhängige Harnsäure¬
vermehrung nach Thymuskost sich einstellt, die nur mit der Resorption
von Nahrungsnuclein sich erklären lässt.
Bei der gelegentlich zu beobachtenden Vermehrung der Hippur¬
säure Ausscheidung bei Nucleinnahrung ist es nicht das Glykokoll,
sondern vielmehr der aromatische Paarling der Hippursäure, die Benzoe¬
säure, die, und zwar in Folge vermehrter Darmfäulniss, als Material
für die Hippursäurebildung bei der Nuclein-Verdauung verfügbar wird.
Ein Antagonismus zwischen Hippursäure- und Harnsäurebildung in der
Art, als ob für Beide das Glykokoll als ein gemeinsames Bindungs¬
material in Betracht komme und dementsprechend bei vermehrter
Hippursäurebildung die Harnsäureausscheidung herabgesetzt sein müsse,
existirt nicht. Für die Harnsäurebildung ist das beim Nucleinabbau,
wie bei der Eiweisszersetung überhaupt verfügbar werdende Glykokoll
nicht heranzuziehen. Hippursäure- und Harnsäurebildung sind zwei
von einander ganz unabhängige Processe, und eine Therapie der
Gicht und harnsauren Diathese, die sich auf die Annahme stützt, dass
die Hippursäure bildenden Mittel die Harnsäure vermindern, ist wenig
aussichtsvoll.
VII. K. Hildebrandt (Berlin): Ueber eine Synthese
im Thierkörper.
Bei der Condensation von Piperistin und Phenolen mittelst
Formaldehyd entstehen neue Basen, die dadurch charakterisirt sind,
dass das Phenolhydroxil des Benzolkernes in die Reaction nicht ein¬
tritt. Im Organismus des Kaninchens gehen diese Basen Paarungen
mit Glykuronsäure, einige gleichzeitig eine Methylirung am N des
Piperistinvinges ein.
Die nach Einführung des Condensatiousproductes aus Piperistin,
Thymol, Formaldehyd im Organismus erzeugte Verbindung fällt aus
dem Harne krystallinisch aus; ihre Lösung zeigt entsprechend ihrer
Constitution neutrale Reaction und Linksdrehung.
Die Aldehydgruppe der Glykuronsäure paart sich mit dem Phenol-
hydroxyl des Benzolrings, ihre Carboxylgruppe spaltet mit der durch
die Methylirung entstandenen Ammoniumhzdroxylbase Wasser ab. Im
Organismus des Hundes tritt die Synthese nicht ein.
Beim Frosch ist die für das Kaninchen ungiftige Harnverbindung
different, wenn auch nicht in dem Masse, wie die primäre Base.
VIII. Moritz (München): Ueber eine einfache Methode,
um beim Röntgen - Verfahren mit Hilfe der Schatte n-
projectionen die wahre Grösse der Gegenstände zu
ermitteln.
Die Schattenprojectionen, die man beim Röntgen-Verfahren von
den Gegenständen bekommt, sind wegen der Divergenz der Strahlen
immer vergrössert, ohne dass der Grad der Vergrösserung bei Gegen¬
ständen, deren Entfernung von der Röhre und dem Projectionsschirm
nicht genau bekannt ist, in einfacher Weise zu bestimmen wäre. Man
kann jedoch die wahre Grösse eines Gegenstandes in der Weise er¬
mitteln, dass man die Röntgen- Röhre genau senkrecht unter seinem Um¬
riss hinbewegt und nacheinander die einzelnen Punkte des Umrisses
Nr. 19
447
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
markirt. Nach diesem Princip hat der Vortragende einen Apparat con¬
struct, der es gestattet, den Umriss, z. B. des Herzens, in wenig mehr
als einer halben Minute aufzunehmen. Diese Bestimmung ist der Herz¬
percussion an Zuverlässigkeit überlegen und daher als Controle für
letztere von Bedeutung. (Demonstration des Apparates.)
(Fortsetzung folgt.)
2. Oesterreichischer Balneologen-Congress zu Ragusa
und Ilidze.
(Fortsetzung.)
Dr. Wendzilo wicz, Bezirksarzt in Ragusa: Ragusa als
klimatische Winter station und als Seebad.
Wendzilowicz schildert in anschaulicherWeise die Lage und die
subtropische Vegetation Ragusas, erörtert die klimatischen und Salubritäts-
verhältnisse, weist procentuell die Erkrankungen und die Sterblichkeit
nach; von Epidemien trat vor 17 Jahren die Variola auf, eiugeschleppt
durch einen Matrosen (von 23 Erkrankten starben neun), und in
manchen Jahren die Morbiden, sonst gab es seit 22 Jahren keine
Epidemie. Diphtheritis kommt nur sporadisch vor, nie über drei Fälle
pro Jahr. Ragusa hat ein mittelfeuchtwarmes Klima, dessen charakteri¬
stische Eigenschaften sind:
1. Ein relativ hoher Gehalt an Sauerstoff und ein geringer
Gehalt an Kohlensäure, beträchtlicher Ozonreichthum und ziemlicher
Salzgehalt der Atmosphäre, überdies ist die Luft staub -und keimfrei;
2. Geringe Temperaturschwankungen;
3. Von der Wasserfläche ausgehende starke Lichtreflexe, deien
hygienischer Vortheil in der Zerstörung der Mikroorganismen besteht;
4. Hohe Feuchtigkeit und geringe Feuchtigkeitsschwankungen;
5. Hoher Luftdruck und ausgiebige Luftströmungen.
Die Einwirkung dieses Klimas besteht:
a) in Verlangsamung und Kräftigung der Herzthätigkeit;
h) in Verminderung der Athemzüge und Vertiefung der In¬
spiration ; *■ .
c) in Erhöhung der Schweiss- und Harnabsonderung, Steigerung
des Stoffwechsels, Anregung des Appetites und Vermehrung des Körper¬
gewichtes. # .
Zum Schlüsse gibt W endzilowicz eine historische Dar¬
stellung Ragusas und hebt die Vorzüge dieser Stadt als klimatische
Winterstation und als Seebad hervor.
Primarius Dr. G. Kobler, Sarajevo : Zur W a s s e r-
behandlung des Ileotyphus.
Der Vortragende betont die Umwandlung, welche die Prognose des
Ileotyphus durch die in den letzten Decennien eingetretene Verringerung der
Mortalität erfahren hat, und beleuchtet die hiebei in Betracht kommenden
Momente, von welchen er als das wichtigste die allgemein zur Geltung ge¬
kommene Wasserbehandlung bezeichnet. Er geht sodann zur Besprechung
der in seiner Abtheilung im Landesspitale zu Sarajevo erzielten Resultate
über. Er hat innerhalb 5 l/a Jahren bei 391 Ileotyphuskranken eine
Mortalität von blos 6 6% zu verzeichnen gehabt, ein Procentver-
hältniss, welches zu den denkbar günstigsten zu rechnen ist. Kobler
verwendet blos sehr selten die eigentliche Bäderbehandlung, sondern
regelmässige und consequent durchgeführte kalte Waschungen, wobei
eine ausreichende Wärmeabgabe, energische Lageveränderungen, dadurch
kräftige Inspirationen, Vermeidung von Lungenhypostasen und eine
gute Hautpflege erzielt wurden. Ebenso wird hiebei in ausreichendem
Masse den wichtigen, insbesondere von Winter nitz ausgesprochenen
Anforderungen in Bezug auf Verbesserung der Blutcirculation (Con¬
traction der G^fässe mit nachfolgender Reaction), sowie Blutregeneration
entsprochen.
Als besonders wichtig stellt der Vortragende hin, dass diese
Proceduren weitaus geringere Anforderungen an das Wartepersonale
stellen als die Bäderbehandlung, wodurch sie sich insbesondere für
das Spital eignen, in welchem, namentlich im Falle von Epidemien,
nicht für jeden Einzelfall eine Pflegeperson zur Verfügung steht,
während bei den Abreibungen eine Wärterin auch sechs bis acht
Typhuskranke besorgen kann. Nicht nur die Mortalitätsstatistik,
sondern auch die Erfahrungen in Bezug auf Lungencomplicationen
(3 8% der Todesfälle) und Decubitus (3'7% sämmtlicher Erkrankungs¬
fälle) sprechen für die Güte des Verfahrens, welches der Vortragende
nicht als ein exspectatives, sondern als ein im besten Sinne des Wortes
QptivPQ hpzpipnnpt
Sanitätsratli Dr. D u 1 1 e r in D.-Tuzla: DieGuber - Quellen
in Srebrenica. #
Verfasser schildert die topographischen Verhältnisse des Quellen¬
gebietes und seiner Umgebung und liefert ein anschauliches Bild
der Landschaft; er beschreibt die Vitriolquellen, die volksthüm-
lichen Sitten und Gebräuche an den Quellen und gibt historische
Daten über die Stadt Srebrenica und ihre Umgebung aus der Römer¬
zeit und dem Mittelalter. Nach der Darstellung der geologischen Ver¬
hältnisse des Bezirkes beschreibt derselbe das Gestein, die Entstehungs¬
weise der Vitriolquellen und des von ihnen produeirten Ockers. Er
schliesst mit der Analyse der Quellen, vergleicht dieselben mit den
Vitriolquellen von Levico und spricht von der therapeutischen Ver¬
wendung des Guber-Wassers im Allgemeinen.
L. G 1 ü c k, Sarajevo : Ueber die Bedeutung des
Srebrenicaer Arsen-Eisenwassers in der Therapie
der Hautkrankheiten.
Anknüpfend an die von Duller gegebene Beschreibung
des Srebrenicaer Mineralquellengebietes, theilt Glück seine mit
dem Hauptrepräsentanten dieser Wässer, und zwar mit arsen-
eisenhältigem „Crni Guber“ -Wasser bei einer grossen Anzahl von
Hautkranken gewonnenen Erfahrungen mit. Als directes Heilmittel
verwendete er dasselbe gegen Psoriasis vulgaris, Lichen ruber, chro¬
nische Ekzeme bei Kindern, Neuralgien nach Herpes zoster und bei
den symmetrischen localen Asphyxien der Hände und Füsse, wie sie
nicht selten bei jugendlichen, etwas blutarmen Personen beobachtet
werden können.
Nachdem Glück bereits im Jahre 1890 an Sträflingen die
blutbildende Eigenschaft des Guberwassers geprüft hatte, versuchte
er es bei der Acne cachecticorum, in leichteren Fällen von Acne
rosacea, weiters bei der Urticaria chronica, dem Pemphigus vulgaris
und mehrfach auch gegen chronische Furunculose. Schliesslich bildeten
mehrere Fälle von Lupus vulgaris, Lichen scrophulosorum und eine
nicht unbeträchtliche Anzahl blutarmer Lueskranker, die sich zeitweise
gegen Quecksilber und Jod refraetär zeigten, die Prüfungsobjecte für
die Beurtheilung des therapeutischen Werthes des Guber-Wassers in
der Dermatologie.
Nachdem G 1 ii c k die leichte Resorbirbarkeit und die absolute
Unschädlichkeit des Mittels, das er vielfach in bedeutenden, höheren
als den üblichen Tagesgaben ordinirt, hervorgehoben hat, gelangt er
zu dem Resultate, dass das Arsen-Eisenwasser der Crni-Guber-Quelle
bei Srebrenica in der Therapie einer bedeutenden Anzahl chronischer
Hautkrankheiten nicht nur als blutbildendes und tonisireudes, sondern
geradezu auch als heilendes Mittel eine hervorragende Bedeutung hat.
Ueberall da, wo Arsen oder Eisen, beziehungsweise beide combinirt,
indicirt sind, wird das Guber-Wasser, in geeigneter Weise und Menge
ordinirt, den günstigsten Einfluss ausüben und das möglichst beste
Resultat herbeiführen. .
Primarius Dr. Gr. K o b 1 0 r, S&rajovo \ Die Anwendung
des Srebrenicaer Guber-Wassers bei i n n e r e n Krank¬
heiten. , . . , ,
Der Vortragende entwickelt die Indicationen, bei welchen das
zu so rascher Popularität gelangte Arsen Eisenwasser von Srebrenica
Anwendung findet: bei Anämieen, die verschiedensten Nervenkrank¬
heiten, Frauenleiden, Drüsenerkrankungen u. s. w. Das Srebrenicaer
Guber-Wasser verdankt seine Erfolge nicht blos dem reichem Gehalte
an eigentlich wirksamen Bestandtheilen , sondern in ebenso hohem
Masse° dem Vorhandensein von Componenten, welche einen günstigen
Einfluss auf den Magen-Darmtract und damit auch eine besonders leichte
Verträglichkeit und gute Verdaulichkeit bedingen. Die hervorragendsten
Eigenschaften des Guber-Wassers, den Magen-Darmtract nicht zu schädigen,
ja sogar durch Hebung des Allgemeinzustandes günstig zu beeinflussen,
bestimmte den Vortragenden, das genannte Mineralwasser auch bei
Herzkrankheiten, also bei Erkrankungen, bei welchen bisher weder
Arsen noch Eisen verwendet wurden, zur Anwendung zu bringen.
-Die Erfolge sind so befriedigend, dass Kobler es als ein sehr be-
achtenswerthes blutregenerirendes, tonisirendes und die Herzaction re-
gulirendes Mittel bei der Behandlung der „blassen“ Form des Vitium
cordis bezeichnet. Jedenfalls gelten für das genannte Mineralwasser die
Contraindicationen, wie sie sonst für die Martialien und Arsenpräparate
bestehen, in weitaus geringerem Grade.
Dr. A. Bum (Wien) : Die mechanische Behandlung
der Fettleibigkeit. .
Der Einfluss der Körperbewegung auf den Organismus ist wohl-
studirt. Mehr als die Hälfte des gesammten Körpergewichtes beträgt
die durch zahllose, viel verzweigte Gefässe ernährte Skeletmusculatur,
und einwandfreie Thierversuche lehren uns, dass die in der Musculatur
enthaltenen, ein Drittel des Gesammtblutes repräsentirende Blut¬
menge während der Muskelarbeit auf 66% gesteigert wird. Die Arbeits¬
hyperämie der Musculatur hat gleichzeitig einen erhöhten Gaswechsel
zur Folge Mehrverbrauch an Sauerstoff, Mehrbildung von Kohlensäure,
Steigerung der Kohlenstoffverbrennung. Auf der Steigerung der Oxy¬
dationsvorgänge bei der Muskelcontraction, deren Wirkung durch methodi¬
sches Tiefathmen erhöht wird, beruht die vermehrte Fettverbrennung
durch methodische Muskelarbeit. .
Neben der Steigerung der Kohlenstoffverbrennung erfolgt bei
Muskelarbeit, zumal bei anstrengender, ungewohnter Körperbewegung,
Eiweisszerfall, der jedoch nach Krummacher zur Deckung der ge¬
leisteten Arbeit nicht hinreicht und durch Zufuhr stickstottieic >
Nahrung unschwer ersetzt werden kann.
448
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
Nr. 10
Von minderer Bedeutung sind hier die Wirkungen der Massage,
die jedoch sowohl als Abdomenmassage (Anregung der Darmperistaltik),
wie als allgemeine Körpermassage (Begünstigung der Perspiratio inten-
sibilis, Depletion der Gewebe, Anregung der Diurese) in der Therapie
der Obesitas immerhin eine bemerkenswerthe Rolle spielt und in ein¬
zelnen Fällen (Fettleibigkeit gelähmter, schwerer Arthritiker etc.) die
Gymnastik zu ersetzen berufen ist. Bezüglich der Leistungen der
mechanischen Behandlung der Fettleibigkeit ist nicht die Wage allein
massgebend, sondern das Messband und Dynamometer.
Betreffs der speciellen Indicationsstellung der Mechanotherapie
bei Lipomatosis verweist Vortragender zunächst auf die prophy¬
laktische Bedeutung mechanischer Entfettung bei hereditär belasteten
Individuen, bei welcher schon in früher Jugend methodische Bewegungs¬
behandlung geboten sei, ferner auf den Werth der Vorbeugung von
Fettansatz bei jungen Leuten mit frühzeitig erworbenem Vitium.
Die therapeutischen Massnahmen variiren nach der Art der vor¬
liegenden Fälle, für deren Gruppirung Bum die klinische Ein-
theilung Noorden’s in sonst gesunde und in mit Complicationen seitens
lebenswichtiger Organe behaftete Fette acceptirt. Nach Besprechung
der erstgenannten Gruppe, die, je nach der Differenz zwischen Mittel¬
gewicht und thatsächlich vorhandenem Gewichte in drei Stufen zu
theilen sind, wobei Vortragender vor rascher Entfettung der gering¬
gradigen, aus kosmetischen Gründen Abnahme verlangenden Fälle unter
Hinweis auf die Gefahren des Schwindens des mesenterialen und peri¬
visceralen Fettes (Lageveränderungen der Organe) warnt und nach
Betonung des intermittirenden combinirten Verfahrens (Balneo-, Hydro-
und Mechanotherapie) bei sonst gesunden Fettleibigen, geht Bum zur
Erörterung des Werthes mechanischer Behandlung der wichtigsten
Complicationen der Fettleibigkeit über, diejenigen zumal für
die mechanische Behandlung reclamirend, die auch als selbstständige
Erkrankungen zunächst diese Therapie beanspruchen (Anämie, Diabetes,
Arthritiden, functioneile Neurosen). Eingehende Besprechung erfahren
die Circulationsstör ungen Fettleibiger, die Arteriosklerose
und die Ilerzadynamie. Was die Freiluftbehandlung in der Therapie
der Phthise, ist die mechanische Behandlung der Herzschwäche Lipo-
matöser. Dieselbe hat einerseits der Mehrbelastung des Herzens mit
Arbeit entgegenzutreten, andererseits den Herzmuskel selbst zu kräftigen.
Der erstgenannten Indication wird die Gymnastik gerecht durch Er¬
weiterung der Stromgebiete und hiedurch bewirkte Herabsetzung der
peripheren Widerstände durch die Arbeitshyperämie der Musculatur,
andererseits durch Erleichterung der Saugarbeit des Herzens in Folge
Beschleunigung des Rückflusses des venösen Blutes durch Vertiefung
der Respiration, durch Ausnützung des „Fasciensaugapparates“ bei
passiven und Rollbewegungen des Rumpfes und der Extremitäten und
durch Verbesserung der B'ut- und Lymphbewegung mittelst Massage
der Extremitäten und des Halses. Die Kräftigung des Herzmuskels
durch Erschütterung und Klopfung der Herzgegend und des Rückens,
die den schwedischen Aerzten seit Decennien bekannt ist, hat durch
II c i 1 1 e r’s Arbeiten in jüngster Zeit eine dankenswerthe Bestätigung
und Deutung erfahren.
Zum Schlüsse bespricht Vortragender die Technik der gym¬
nastischen Behandlung der Fettleibigkeit, für welche zunächst genauest
zu dosirende, alle Muskelgruppen abwechselnd und gleichmässig in An¬
spruch nehmende, bezüglich der Athmung, des Tempos und der Zahl
vorgeschriebene Widerstandsbewegungen in Frage kommen, welche,
Dank den in neuester Zeit nach den Principien der physiologischen
Schwankungen des Kraftmomentes construirten Präcisionsapparaten von
M a x He r z, welche die Muskelarbeit in Kilogrammmeter minutiös
dosiren, eine den anderen physikalischen Heilmethoden adäquate,
durchaus exacte Methode darstellen, ferner „Förderungsbewegungen“
in Form von Rollungen und anderen Bewegungen der Gelenke und
des Rumpfes von genau präcisirter Excursion und Dauer, endlich
Apparate, die passive Eingriffe, zumal Erschütterungen und Klopfungen
des Thorax, vermitteln. Auch die Selbsthommungsgymnastik (Schott),
welche der Herz- und Gefässinnervation dient, findet durch entsprechende
Apparate fachgemässe Anwendung. Von allergrösstem Werthe, besonders
für die mechanische Behandlung von Complicationen der Fettleibigkeit
mit Störungen der Circulation, ist die exacte Do sir bark eit der
Methode, die bei Sportbewegungen undurchführbar ist. Seinen Stand¬
punkt in der praktisch wichtigen^ Frage der Anwendung von Sport¬
bewegungen seitens Fettleibiger präcisirt Vortragender, wie folgt:
\ 011 der Anschauung geleitet, dass jedes, nicht genau dosirbare und
vom Arzte controlirbare Agens von der Anwendung in der exacten
Methodik auszuschliessen sei, kann Bum dem Sport einen Platz unter
den therapeutischen Methoden der Obesitas nicht einräumen.
Bei intactem Circulationsapparate und bei Fehlen sonstiger Complica¬
tionen ist derselbe jedoch immerhin als häufig wünsclienswerthes
Surrogat streng methodischer, mechanischer Behandlung zu be¬
trachten und unter entsprechenden, gegen jede Uebertreibung gerichteten
Cautelen auch ärztlich zu empfehlen. Bei Complicationen der Fettsucht
seitens des Circulationsapparates ist von den Sportbewegungen lediglich
das bezügliche Tempo und Arbeitspausen entsprechend modificirte
Bergsteigen in der guten Jahreszeit (Oertel) als die sonstigen
mechanischen Applicationen zeitweilig ablösendes Verfahren zu betrachten
und unter sorgfältiger Beobachtung des Patienten zu gestatten, jede
andere Art der sportlichen Bewegung aber zu untersagen.
Docent Dr. D. K u t h y, Budapest : Beitrag zur C u r o r t e-
hygiene.
Die Heilstättenbewegung der civilisirten Erde bringt das Volk
einer hygienischen Denkweise immer näher. Das fortwährende Predigen
über Luft, Licht, Sauberkeit verfehlt seine Wirkung auf das Publicum
nicht und wird noch in absehbarer Zeit die weitesten Folgen haben.
Die Ansprüche der Culturmenschen sind zwar heute schon genügend
gross und vielfältig, in hygienischer Beziehung aber werden sich die¬
selben erst jetzt, in dem heissen Kampfe gegen die „menschliche Phyl¬
loxera“ entwickeln.
Die hygienischen Forderungen der Curorte werden par excellence
stets rigoroser. Wenn dem Laien einmal die Begriffe über Contact-,
Inhalations- und Fütterungstuberculose geläufig werden, so wird er
in den Curstationen, welche er nun zu seiner Erholung besucht,
die peinlichste Fürsorge bezüglich der Vermeidung von Gesundheits¬
schädlichkeiten auffindeu wollen.
Ein hochwichtiger Theil dieser Fürsorge ist die zweckdienliche
Vorkehrung behufs Sammeln und Vernichten des Sputums. Zur Ver¬
nichtung des Auswurfes haben wir einfache Wege einzuschlagen, zum
Sammeln desselben dienen die verschiedenen Spucknäpfe, Spuckfläsch¬
chen, Crachoirs, Sputum- Bottles.
Wie wir wissen, sind die letzteren portable, die ersteren fixe
Apparate. Unter den Taschen-Sputumsammlern befindet sich ein Modell,
das Dettweile r’sche, welches den Zweckmässigkeitsforderungen sehr
gut genügt. Ich muss aber gestehen, dass mir ein allen Ansprüchen
genügender stabiler Spucknapf bisher nicht bekannt gewesen ist. Ent¬
weder kann das Gefäss nur schwer gereinigt werden, oder es steht
der Auswurf darin sehr zur Schau getragen, dann sind die Trichter
der Apparate weit zu wenig steil, das gute Hinabgleiten des Sputums
zu ermöglichen, dann können auch vielfach bezüglich des Materiales
Einwände gemacht werden.
Ich erlaubte mir nun, einen Spucknapf einfachster Form zu
construiren, von dessen Eigenschaften ich hoffe, dass sie sich sowohl
am Krankenbette, als in den Zimmern, in Gesellschaftsräumen,
au den Corridoren und Promenaden etc. wohl bewähren werden.
Dem Congresse sollen die betreffenden Modelle zur gütigen Be-
urtheilung vorgelegt werden.
Dr. Josef Schwarz, Baden bei Wien: Ueber das Ver¬
schicken keuchhustenkranker Kinder.
Allgemein wird bei Keuchhusten Luftveränderung als das sicherste
Mittel zur raschen Abkürzung des Verlaufes gehalten; und da zu
diesem Zwecke die Kinder gewöhnlich in Curorte und Sommer¬
frischen verschickt werden, sind letztere bei dieser Frage in hohem
Masse tangirt.
Vortragender erörtert den Gegenstand vom Standpunkte der
Prophylaxis, der Therapie und dem der Curorte. ,
Vom Standpunkte der Prophylaxis wird auf das Schlagendste
gezeigt, dass das Verschicken keuchhustenkranker Kinder im crassesten
Widerspruche zu allen bei Infectionskrankheiten gebotenen prophy¬
laktischen Massregeln steht. In therapeutischer Beziehung leugnet Vor¬
tragender den der Luftveränderung zugeschriebenen grossen Werth,
behauptete vielmehr auf Grund seiner Erfahrung, dass die Luftverän¬
derung von einem ganz untergeordneten minimalen Einfluss sei. Und
die Curorte werden durch das Verschicken keuchhustenkranker Kinder
in mitunter sehr empfindlicher Weise geschädigt. Vortragender gelangt
daher zu dem Resultate, dass solche Kinder, analog dem Vorgehen
bei anderen Infectionskrankheiten, zu Hause zu behalten seien, und
beruft sich, bezüglich der Ausführbarkeit dessen, sowohl auf die Aus¬
sprüche Anderer, als auch auf eigene diesbezüglich gemachte Er¬
fahrung. Der Congress sei schliesslich berufen, zu dieser Frage Stellung
ZU nehmen. (Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag, den 11. Mai 1900, 7 Uhr Abends,
unter dem Vorsitze des Herrn Oberstabsarztes Docent Dr. Habart
stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Dr. H. Benedikt: Demonstration von R ö n t g e n - Bildern.
2. Hofratli Prof. Schnabel: Die glaukomatöse Sehnervenatrophie.
Vorträge haben angemeldet die Herren Professoren: A. Politzer,
Weinlecliner, A. Jolles, llöthi, Fein, Englisch und Wertheim.
Bergmeister, Paltauf.
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900. Nr. 19.
Qollarcjolum.
(Crede’s wasserlösliches Silbermetall). Augezeigt bei Lymph¬
angitis, Phlegmonen, allen septischen Erkrankungen (reinen
und gemischten), bei infectiösen Magen- und Darmerkrankungen,
sowie bei den Leiden des Nervensystems, wo Arg. nitr. an¬
gezeigt ist. (Anwendungsform : In Lösung, innerlich als Zusatz
zu Getränken, als Salbe (Unguentum Crede) zur Silberschmier-
cur, als Pillen, Stäbchen etc.)
c lircl.
Stark antiseptisches, reiz- und geruchloses, ungiftiges Silber¬
präparat für Crede’s Silberwundbehandlung, für die Augen¬
therapie (speciell Hornhautgeschwüre), sowie für die Behand¬
lung der Blasen- und Geschlechtskrankheiten.
dCyrgolutn.
Wasserlösliches metallisches Quecksilber; wirksames, mildes
Antisyphiliticum, besonders in Form der 10°/o igen colloidalen
Quecksilbersalbe.
QrystallosQ.
Ein verbesserter, leicht löslicher Süssstoii in Krystallform ;
absolut rein, daher vorzüglich für Diabetiker, Magenkranke etc.
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rendus de l’Academie des Sciences, Bd. CXV, pag. 286.) Begründet wurde seine thera¬
peutische Wirkungsweise wissenschaftlich (M. Laffont, Bulletin de l’Aeademie de Mede-
cine, 14. Juni 1892) und klinisch (Societe de Therapeutique : Constantin Paul; Dujardin-
Beaumetz, Medications nouvelles, 2. Serie ; Bibliotheque Charcot-Debove, Purgatifs,
pag. 104 ; Prof. Lemoine in Lille. Therapeutique clinique, pag. 305 ; Tison, Höpital
St. -Joseph und Congres pour l’avancement des Sciences, Bordeaux, 1895, 1. Theil,
pag. 963 , Prof. Charles in Lüttich, Cours d’accouchements u. s. w.)
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1. A reo von Dr. O. Gerke. 1 fl. 20 kr. — 2 M.
92. Arco von Dr. J. Schreiber. 1 fl. — 2 M.
22. Arco von Dr. G. v. Kottowitz. 70 kr. — 1 M. 40 Pf.
25. Atterseo, Mondsee und Wolfgangsee von E. Keiter.
60 kr. — 1 M. 20 Pf.
31. Aussee von V. Konschegg. 2. Aufl. 80 kr. — 1 M. 60 Pf.
90. Aussee, Karte von. 3. Aufl. 50 kr. — 1 M.
6. Baden bei Wien von Dr. J. Hoffmann. 1 fl. — 2 M.
24. Baden von Dr. J. Schwarz. 3. Aufl. 80 kr.
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„ 107. Baden bei Wien von Dr. A. W ettendor fer. 2. Aufl. 90 kr.
— 1 M. 50 Pf.
„ 102. Baden pres de Vienne par le Dr. Wettendorfer. 1 fl. — 2 M.
„ 38. Baden-Baden und seine Thermen von Dr. W. II. Gilbert.
2. Aufl. 1 fl. 50 1er. — 2 M. 50 Pf.
„ 108. Bartfeld von Dr. H. Hintz. 80 kr. — 1 M. 40 Pf. —
„ 93. Böhmens Heilquellen von Dr. H. Kisch. 2 fl. 50 kr. — 5 M.
„ 84. Cannstatt von Dr. A. Loh. 80 kr. — 1 M. 60 Pf.
„ 94. Carlsbad von Dr. Hertzka. 2. Aufl. 1 fl. 20 kr. — 2 M.
„ 77. Carlsbad (in rumänischer Sprache) von Dr. Popper. 80 kr.
— 1 M. 40 Pf.
„ 58. Catania von Dr. Joris. 40 kr. — 80 Pf.
„ 82. Cilli von Dr. J. Hoisel. 50 kr. — 1 M.
„ 85. Dobelbad v. Dr. Ign. v. Waldhäusl. 1 fl. 20 kr. — 2 M. 40 Pf.
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„ 19. Füred von Dr. H. Mangold. 5. Aufl. 1 fl. 20 kr. — 2 M.
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80 kr. — 1 M. 40 Pf.
„ 5. Gastein von Dr. G. Pröll. 5. Aufl. 1 fl. 20 kr. — 2 M.
„ 44. Gastein von Dr. E. Bunzel. 7. Aufl. 1 fl. 20 kr. — 2 M.
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Gastl. 13. Aufl. 80 kr. — 1 M. 60 Pf.
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„ 8. Gleichenberg von Dr. C. Clar. 60 kr. — 1 M. 20 Pf.
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1 M. 20 Pf.
„ 87. Goisern. 2. Aufl. 40 kr. — 80 Pf.
„ 42. Görz von Dr. Schatzmeyer. 80 kr. — 1 M. 60 Pf.
„ 53. Gräfenberg von Dr. Kutschera. 1 fl. — 2 M.
y, 79. G räfenberg von Dr. C.Anjel. 2. Aufl. 60 kr. — 1 M. 20 Pf.
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,. 89. II all-les-bains par le Dr. J. Rabl. 40 kr. — 80 Pf.
,, 17. Herkulesbad von Dr. A. Popov iciu. 70 kr. — 1 M. 40 Pf.
„ 99. Johannisbad von Dr. Fr. Knaur. 80 kr. — 1 M. 40 Pf.
„ 11. Ischl von Dr. H. Kaan. 3. Aufl. 60 kr. — 1 M. 20 Pf.
„ 95. Ischl et ses environs par le Dr. H. Kaan. 80 kr. — 1 M. 60 Pf.
„ 106. Italiens Thermen von Dr. W. II. Gilbert. 60 kr. — 1 M.
„ 59. Kalsdorfer Sauerbrunn von J. Karner. 40 kr. — 80 Pf.
„ 30. Kaltenl eutgeben von Dr. W. Winternitz. 2. Aufl.
„ 60 kr. — 1 M. 20 Pf.
„ 67. Karlsbrunn von Dr. J. Steinschneider. 40 kr. — 80 Pf.
„ 12. Kärnten von P. v. Radies. 1 fl. 40 kr. — 2 M. 80 Pf.
„ 51. Königswart von Dr. A. Kohn. 1 fl. 20 kr. — 2 M. 40
» 75. Korytnica von Dr. G. Vogel. 80 kr. — 1 M. 60 Pf.
» 73. K rapina-Töplitz von Dr. J. Weingerl. 60 kr. — 1 M. 20 Pf.
Nr. 65. Kreuzen von Dr. 0. Fleischander 1. 1 fl. — 2 M.
„ 23. Krynica von Dr. M. Zieleniewsky. 40 kr. — 80 Pf.
„ 18. Leukerbad von Dr. Jos. v. Werra. 60 kr. — 1 M. 20 Pf.
„ 57. Levico von J. Pacher. 50 kr. — 1 M.
„ 55. Lipik von Dr. II. Kern. 2. Aufl. 70 kr. — 1 M. 40 Pf.
„ 41. Loeche-les-bains von Dr. Jos. de Werra. 50 kr. — 1 M.
„ 70. Luhatschowitz v. Dr. F. Küchler. 2. Aufl. 70kr. — 1M.40PL
„ 109. Luhatschowitz von Dr. Spielmann. 70 kr. — 1 M. 40 Pf.
„ 10. Lussin von E. Gelcich und Dr. Ghersa. 50 kr. — 1 M.
„ 35. Marienbad von Dr. Jul. Sterk. 2. Aufl. 80 kr. — 1 M. 60 Pf.
„ 97. Mattigbad von Dr. C. Staininger. 50 kr. — 1 M.
„ 2. Meran von Dr. J. Pircher. 4. Aufl. 80 kr. — 1 M. 60 Pf.
„ 50. Meran von Dr. F. Kuhn. 60 kr. — 1 M. 20 Pf.
„ 91. Millstatt von Dr. F. Pichler. 60 kr. — 1 M. 20 Pf.
„ 81. Monsummano von Dr. F. Daubrawa. 40 kr. — 80 Pf.
„ 20. Montecatini und Monsummano von Dr. W. H. Gilbert.
70 kr. — 1 M. 20 Pf.
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„ 39. Neuhaus von Dr. C. Paltauf. 3. Aufl. 80 kr. — 1 M. 40 Pf.
„ 21. Ost- u. Nordseebäder v. 0. v. Balten. 1 fl. 50kr. — 2M.50Pf.
„ 76. Pfäfers-Ragaz von Dr. F. Daffner. 50 kr. — 1 M.
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„ 63? Pistyan von Dr. v. Fodor. 3. Aufl. 50 kr. — 90 Pf.
„ 71. Pistjän von Dr. S. Weinberger. 2. Aufl. 50 kr. — 1 M.
„ 105. Plattensee-Bäder (in englischer Sprache) von Dr. C.
Prey sz. 30 kr. — 50 Pf.
„ 66. Pöstjeni iszafürdö irta Dr. Fodor. 40 kr. — 80 Pf.
„ 9. Pyrawarth von Dr. M. Bree. 40 kr. — 80 Pf.
„ 101. Radein von Dr. J. Höhn und Prof. Reibenschuh.
80 kr. — 1 M. 60 Pf.
Reichenhall von Dr. Goldschmidt. 1 fl. 20 kr. — 2 M.
Rohitsch-Sauerbrunn von Dr. J. Hoisel. 4. Aufl. 80 kr.
— 1 M. 40 Pf.
Römerbad von Dr. II. Mayrhofer. 3. Aufl. 70kr. — 1 M. 40 Pf.
„ 32. Roncegno von Dr. C. Goldwurm 80 kr. — 1 M. 60 Pf.
„ 104. Ronneburg von Dr. W. H. Gilbert. 70 kr. — 1 M. 20 Pf.
„ 69. Roznau von Dr. F. Koblovsky. 70 kr. — 1 M. 40 Pf.
„ 16. Roznauer Führer von Dr. F. P olansky. 3. Aufl. 50 kr. — 1 M.
„ 86. Sangerberg von Dr. H. Penn. 60 kr. — 1 M. 20 Pf.
„ 15. Schweizer Curorte v. Dr. A. Feierabend. 2. Aufl. 2fl. — 4M.
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„ 7. Tepl itz- Schön au von Dr. Samuely. 60 kr. — 1 M. 20 Pf.
„ 48. Thüringens Badeorte von Dr. L. Pfeiffer. 2. Aufl.
1 fl. 50 kr. — 3 M.
„ 88. Töplitz inUnterkraiu von P. v. Radies. 1 fl. — 2 M.
„ 56. Trenchin-Teplitz von Dr. S. Ventura. 7. Aufl.
1 fl. 20 kr. — 2 M. 40 Pf.
„ 72. Ungarn. Les eaux minerales par Dr. J. Hirschfeld.
1 fl. 20 kr. — 2 M. 40 Pf.
„ 46. Veldes von Dr. L. Germonik. 2. Aufl. 1 fl. — 2 M.
„ 96. Vihnye von Dr. S. v. Bole man. 60 kr. — 1 M. 20 Pf.
„ 27. Vöslau von Dr. S. Friedmann. 60 kr. — 1 M. 20 Pf.
„ 3. Wörthersee von E. Tullinger. 60 kr. — 1 M. 20 Pf.
83.
68.
62.
Nr. 26. „Quellenstudien“ von P. v. Radies. 1 fl. 40 kr. — 2 M. 80 Pf.
„ 40. Anleitung zur Wahl der Curorte von Dr. J. Meyr.
2. Aufl. 2 fl. — 4 M.
„ 74. Klimatische Curen bei Lungenkranken. Von Dr. J.
Schreiber. 80 kr. — 1 M. 60 Pf.
„ 78. Wintercuren an Schwefelthermen von Dr. A. Reumont.
40 kr. — 80 Pf.
„ 100. Heilquellen u. Curorte Mitteleuropas. 80 kr. — 1M.60PL
Höffinger, Dr. Karl, kaiserl. Rath, Curarzt in Gleichenberg und Gries bei Bozen. Gries-Bozen als klimatischer, Terrain -Curort
und Touristenstation. Ein Begleiter für Gurgäste, Reisende und Touristen. Zweite, ergänzte Auflage. Mit Illustrationen und
Karten. (Bade-Bibliothek.) 8L 1895. Cart. 2 fl. — 3 M. 60 Pf.
Lang, Melchior. Ajaccio als klimatischer Curortund die Insel Corsica. Mit einem Lichtdruck und einer Karte. 8°. 1895. 1 fl. 20 kr. — 2 M.
bchwetter, Anton, städt. Lehrer in Wien. Der klimatische Höhencurort Neumarkt in Steiermark. Führer für Curgäste und Touristen.
Zweite, gänzlich umgearbeitete und verbesserte Auflage. Mit einer Abhandlung: Ueber den Einfluss des Höhenklimas auf die Tuber-
_ culose von Dr. Friedrich Gauster. Mit 20 Illustrationen, Situationsplänen und 2 Karten. 8°. 1893. 1 fl. — 2 M.
Die „Wiener klinische
Wochenschrift“
erscheint jeden Donnerstag
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stens zwei Bogen Gross-
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tion sind zn richten an
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unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
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M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Kraflft-Ebing, L Neumann,
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J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Grussenbauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel.
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Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/1, Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang.
Wien, 17. Mai 1900.
Nr. 20.
IITHALT:
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel : 1. Ueber eine psychisch bedingte Störung der Defäca-
tion. Von A. Pick, Prag.
2. Ueber die Wiederbelebung in Todesfällen in Folge von Erstickung,
Chloroformvergiftung und elektrischem Schlage. Von Prof. Dr. J.
P r u s, Director des Institutes für allgemeine und experimentelle
Pathologie an der k. k. Universität zu Lemberg.
3. Aus der chirurgischen Abtheilung des Erzherzogin Sophien-Spitales
in Wien. Beitrag zur Technik der A 1 e x a n d e r’schen Operation.
Vom Abtheilungsvorstande Primararzt Dr. Guido v. Török.
II. Referate: Handbuch der praktischen Mediciu. Von W. Ebstein und
J. Schwalbe. Ref. v. Weismayr. — I. Bericht über den Congress
zur Bekämpfung der Tuberculose als Volkskrankheit. Berlin, 24. bis
27. Mai 1899. Herausgegeben von der Congressleitung.
n. Les Sanatoria. Von J. A. Knopf. Ref. v. W e i s m a y r.
III. Ans verschiedenen Zeitschriften.
IV. Therapeutische Notizen.
V. Eingesendet.
VI. Vermischte Nachrichten.
VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
Ueber eine psychisch bedingte Störung der
Defäcation.
Von A. Pick, Prag.
Mitgetheilt auf der Versammlung ostdeutscher Irrenärzte in Breslau am
24. Februar 1900.
Die wesentlichen Analogieen zwischen den Functionen
der Sphinkteren der unteren Leibesöffnungen, des Sphincter
ani et vesicae, legen die Erwartung nahe, dass die Pathologie
beider die gleichen functionellen Störungen in die Erscheinung
treten lassen müsste; das ist jedoch nicht allgemein der Fall,
und gerade für diejenige Form functioneller Störung des Harn¬
lassens, welche, seitdem J am e s P a g e t sie als »Harnstottern«,
Guyon als »timidite urinaire« beschrieben, den Urologen und
Neurologen ganz geläufig ist, bietet die bisherige Literatur,
soweit ich sie überblicken kann, nichts Analoges im Gebiete
der Störungen der Defäcation; dass das Analogon dazu in
der That vorhanden, glaube ich durch die nachstehende Mit¬
theilung erweisen zu können Der Beweis ist übrigens um so
leichter, als die beiden analogen Erscheinungen im Gebiete des
Harnlassens und der Defäcation bei demselben Individuum
nebeneinander vorhanden sind.
Die erwähnte, namentlich bei Neurasthenischen vor¬
kommende Störung der Harnentleerung, mit der sich noch
vor Kurzem neuerlich Guyon in den Annales des mal. des
Organes genito-urin. 1893, pag. 644, beschäftigt hat1), besteht
bekanntlich darin, dass die davon Befallenen nicht blos in
Gegenwart irgend einer Person nicht uriniren können, sondern
dass sogar die dem Kranken sich blos durch ein Geräusch
verrathende Anwesenheit einer Person im Nebenzimmer, ja
selbst der hlose Gedanke an eine solche Nähe genügt, um das
Harnlassen unmöglich zu machen.
9 Vgl. auch die zusammenfassende Darstellung von v. Frankl-
Hochwart und Zuckerkandl in: Nothnagel’s Specielle Pathologie und
Therapie. 1898, XXX, II, 1, pag. 82.
Die klinische Analyse der Erscheinung 2) ergibt, dass die
Störung darin besteht, dass die zur Entleerung der Blase
nöthige Erschlaffung des Sphinkter nicht in normaler Weise
eintritt, weil die auf den Act gerichtete Aufmerksamkeit diese
Erschlaffung verhindert. Bei den in Rede stehenden Kranken
ist dieses, bekanntlich auch in der Norm wirksame Moment in
krankhafter Weise gesteigert und dadurch die sonst unbe¬
hinderte Harnentleerung nicht selten hochgradig, selbst bis zu
langdauernder Retention gestört. Der nachstehende Fall soll
nun zeigen, dass auch der Act der Defäcation in der
gleichen Weise, also in Folge psychischen Einflusses gestört
sein kann.
Patient ist ein in den Fünfziger- Jahren stehender pensionirter
Steuerexecutor, der wegen in der letzten Zeit autgetretener, von
Suicidideen begleiteter hypochondrischer Erregung zur Klinik gebracht
worden war. Den kurzen ärztlichen Angaben ist zu entnehmen,
dass er schon seit mehr als 20 Jahren wegen Neurasthenie in
Behandlung steht und alle möglichen Aerzte consultirt hat; die
Hauptklagen beziehen sich auf Schlaflosigkeit und Stuhlverstopiung,
in der letzten Zeit auch Ohrensausen, psychische Hyperästhesie,
die ihm jeden Umgang unmöglich mache und letztlich auch zu
Zornesausbrüchen, selbst gegen die Frau, geführt hatte.
Bei der Aufnahme erweist sich der Kranke völlig klar und
gibt folgende eingehende Anamnese:
Ueber Heredität weiss er nur anzugeben, dass seine Mutter
etwas nervös gewesen; sie hätte an Stuhlbeschwerden gelitten, sei
von einem Arzte zum andern gelaufen, aber so wie er sei sie nicht
krank gewesen. Sein Hauptleiden bestehe darin, dass er nicht blos
ganz allein sein müsse, sondern auch Niemanden in der Nähe
wissen dürfe, wenn er Urin lassen oder Stuhl ahsetzen solle.
Dieses Leiden gehe schon in seine Jugend zurück und zwar
begann es zuerst mit Schwierigkeiten beim Absetzen des Stuhles;
2) Aus der Specialliteratur ist besonders heranzuziehen : Jules
Janet, Troubles psychopathiques de la mictiou. Essai de psycho-physio-
logie normale et pathologique. 1890.
450
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
schon als 14jähriger Junge, erinnere er sich, durfte Niemand in
der Nähe sein, wenn er Stuhl haben sollte; sowie er allein war,
stellte sich der Stuhl sofort ein; er hatte immer Angst, dass er
zufällig von Jemandem auf dem Abort getroffen würde, »sonst geht
die Geschichte sofort zurück; war die Geschichte heraus, dann
war mir immer ganz wohl«. Auf die Frage, was denn die Ursache
war, dass er, wenn Jemand dabei war, keinen Stuhl absetzen
konnte, sagt er: »Weil ich daran gedacht habe«. Er
erzählt dann ausführlich, unter welch schwierigen Umständen, da
er damals als Sattlergehilfe in Arbeit stand, er oft dazu kam, allein
und ungestört den Stuhl absetzen zu können. Erst wesentlich
später, seiner Angabe nach erst etwa zu 26 Jahren, stellte sich
die gleiche Erscheinung beim Urinlassen ein; er musste dann auch
dabei allein sein; »so wie Jemand dazu kam, war es schon weg«.
Er vermied deshalb möglichst die Benützung öffentlicher Pissoirs,
die er nur benützen konnte, nachdem er abgewartet, dass niemand
Anderer in denselben war; er regelte deshalb auch seine diesbezüg¬
lichen Bedürfnisse in genau von ihm detaillirter Weise möglichst
so, dass er dieselben zu Hause befriedigen konnte.
Beide Erscheinungen hätten sich allmälig immer mehr ver¬
schlimmert und seien später andere Störungen hinzugetreten; einer¬
seits leide er an ausserordentlich häufig auftretendem Harndrange;
je mehr er daran denke, umso ärger ist es: es tritt Harnträufeln
ein, was der Patient einmal als »tripperartig« bezeichnet (also ein
wirkliches »Harnstottern«); andererseits leide er an permanentem
Stuhldrange mit hartnäckiger Stuhlverstopfung, gegen die er alles
Mögliche schon angewendet habe und die auch die Ursache sei,
dass er jetzt, auch allein, lange Zeit auf dem Gloset sitzen müsse,
ehe Stuhl erfolge.
Das eigentliche Leiden habe sich überdies noch hinsichtlich
der Defäcation in anderer Weise verschlimmert; seit dem Jahre 1887,
also seit zwölf Jahren, trage er einen grossen Zettel mit sich, auf
dem alle möglichen Lotteriecombinatiouen verzeichnet sind; wenn
er während des Versuches zum Stuhlabsetzen diese Nummern lese,
dann komme der Stuhl. Auf die Frage, wieso er darauf gekommen,
sagt er: »Wenn ich mich mit den Nummern beschäftigte, ver-
g a s s ich auf den Stuhl und er kam gleich«; der von
ihm producirte Zettel stellt sich als ein altes unterklebtes Ziffern¬
tableau dar, das deutliche Spuren langjährigen Gebrauches an
sich trägt.
ln den letzten Jahren sei es überdies noch in der Weise
schlimmer, dass schon die Vorstellung, dass Jemand in der Nähe
sei, ihn am Absetzen des Stuhles hindere und er habe deshalb
auch schon die Wohnung wechseln müssen; selbst wenn Jemand
in der Nebenwohnung Violine spiele, könne »die Geschichte nicht
heraus«. Ausserdem klagt er über Unruhe in den Därmen; der
Darm ist wie verengt; früher hatte er »grossen, offenen« Stuhl oder
keinen, jetzt sei er nicht, wie er sein solle; er komme nur in
kleinen Stückchen oder schütter, und dieser »schüttere« Stuhl ist
am ärgsten, da ziehen sich die Därme immer zusammen. Alle die
erzählten Umstände werden von seiner Frau bestätigt und noch
berichtet, dass, als Patient vor vielen Jahren mit Variola krank
lag, er nur mit Mühe vermocht werden konnte, die Leibschüssel
in Gegenwart der Frau zu benützen.
Im Uebrigen gibt Patient an, dass er im Alter von 24 Jahren
eine Gonorrhoe gehabt, von der, was richtig, nichts zurückgeblieben,
auch keine Strictur, auf die er seines Harnleidens wegen von ver¬
schiedenen Specialisten untersucht worden sei; weiter gibt er zu,
dass er in den letzten Jahren fortwährend über sein Leiden spe-
culire; früher wäre das nicht der Fall gewesen. Damals habe er,
nachdem er sich wegen Nervosität und Rheumatismus pensioniren
liess, Spaziergänge gemacht, Kaffeehaus besucht; in der letzten Zeit
habe er das Alles aufgegeben und sei zu Hause fortwährend mit
seinem Leiden beschäftigt gewesen.
Die somatische Untersuchung ergibt keinerlei Abnormität;
eine freie Leistenhernie hat er erst später acquirirt, dieselbe hat
nichts mit seinem Leiden zu thun. Besonders sei noch hervor¬
gehoben, dass local weder am Darm, noch an Blase oder Urethra
etwas Abnormes zu finden ist und dass auch der Urin sich als
vollständig normal erweist.
und der Defäcation ebenso wie die Obstipation in der gleichen
Weise an ihn beobachtet; das Closet benützt er nur, wenn er
dort ganz allein sein kanu und Niemanden in der Nähe ver-
muthet; deshalb benützt er es auch am liebsten Morgens oder
Abends, wo auch der anstossende Gang von Kranken frei
ist. Nachts lässt er den Harn am liebsten, wenn die Umgebung
schläft; ausserdem, klagt er über alles Mögliche: über Stuhl¬
verstopfung oder zu wenig Stuhl, über fortwährenden Harn¬
drang, auch bei nachweislich leerer Blase, über angebliche
Schlaflosigkeit, über Appetitlosigkeit und Blähungen. Im Mittel¬
punkte seines ganzen Denkens stehen aber die zuvor ausführ¬
lich beschriebenen Erscheinungen.
Was diese nun betrifft, so kann es wohl keinem Zweifel
unterliegen, dass dieselben, insoweit sie das Uriniren betreffen,
völlig mit dem übereinstimmen, was Paget zuerst als Harn¬
stottern beschrieben; der psychische Factor der Störung, das
Fehlen jeder somatischen Grundlage sind zu offenbar, als dass
es noch weiterer Beweise bedürfte; überdies finden wir bei
unserem Kranken die auch von Guyon von solchen Kranken
berichteten Schmerzen, die wie er als differentialdiagnostisch
hervorhebt, nicht mit dem Harnlassen im Zusammenhänge
stehen, vielmehr neben demselben bestehen; weiter finden wir
bei ihm das von J. Janet3) erwähnte Symptom des gestei¬
gerten Harndranges; aber im vorliegenden Falle wenigstens
ist die von Janet gegebene Deutung, Angst vor unwillkür¬
lichem Harnabgänge und dadurch veranlasste Sphinkter-
contraction, offenbar nicht aeceptabel, vielmehr möchte ich
auch dieses Symptom als ein psychisches deuten, bedingt durch
die fortdauernd auf den Act des Harnlassens gerichtete Auf¬
merksamkeit.
Ebenso psychisch bedingt erscheint nun bei unserem
Kranken auch die andere Störung, die der Defäcation; die
völlige Analogie mit derjenigen, wie sie unser Patient hin¬
sichtlich des Urinirens zeigt und wie sie seit Paget bekannt
ist, springt zu deutlich in die Augen, als dass es auch da
erst vieler Worte bedurfte; dass diese Analogie selbst bis auf
scheinbar nebensächliche Details sich erstreckt, möge Nach¬
stehendes beweisen. Raymond berichtet (1. c. pag. 750), dass
Patienten mit »timidite urinaire« aus offenbarem Verständniss
für die Grundlage der Störung beim Versuche zu uriniren,
daran gehen, etwas zu lesen oder zu zählen, und dass damit
zu ihrer Befriedigung die Urinentleerung sich vollzieht; und
nun sehen wir auch bei unserem Kranken dieses interessante
psychische Moment zur Erleichterung der Defäcation in der
gleichen Weise herangezogen. Analysiren wir die die Defäcation
betreffenden Erscheinungen, so handelt es sich hier um eine
durch die Aufmerksamkeit auf den Act erfolgende Störung
in der dazu nothwendigen Relaxation der Sphinkteren, also um
eine der Störungen, die We i r-M i t c h e 1 1 4) im Allgemeinen
als bedingt bezeichnet durch »a want of coordination of the
various muscles used in defecation«. Doch macht der genannte
Autor von der hier beschriebenen Störung keine Erwähnung
und sagt nur (1. c. pag. 262) »Hysterical cases in which the
extrusive muscles act, but the anal opening declines to yield
are most rare«.
Im vorliegenden Falle ist nun die Störung dieser Coor¬
dination durch ein psychisches Moment bedingt (nur zur Vor¬
sicht sei speciell das Fehlen jedes Zeichens von Hysterie
hervorgehoben), das wir ganz in der gleichen Weise auch
beim Acte des Harnlassens wirksam sehen; erscheint uns da¬
durch das Nebeneinandervorkommen der beiden Störungen bei
unserem Patienten ohne Weiteres verständlich, so wirft sich da¬
gegen die Frage auf, woraus sich das bekanntlich so häufige
Vorkommen der einen Erscheinung, die Seltenheit der anderen
erklären; man wird als Antwort dafür jedenfalls vor Allem die
differenten psychologischen Bedingungen heranziehen dürfen,
unter denen die beiden in Betracht kommenden Acte sich ge¬
wöhnlich vollziehen; dass diese äusseren Bedingungen dabei
eine entscheidende Rolle spielen, geht schon daraus hervor,
dass das »Harnstottern« ganz vorwiegend, wenn nicht aus-
3) Nach: Raymond, Clinique des mal. du syst. nerv. 2. Serie.
1897, pag. 751.
4) Lectures on dis. of the nerv. syst. 2. ed. 1885, pag. 258 und 261.
Während seines kurzen Aufenthaltes auf der Klinik
werden die von ihm mitgetheilten Störungen des Urinlassens
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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schliesslich bei Männern vorkommt. Im Uebrigen möchte ich
gerade mit Rücksicht darauf bemerken, dass ich gelegentlichen
Aeusserungen von Damen entnehmen möchte, dass die hier
beschriebene Erscheinung doch nicht so selten ist, wie es
nach dem bisherigen Fehlen einer Beschreibung derselben in
der medicinischen Literatur den Anschein hat, und dass
namentlich die so häufig aus dem jugendlichen Alter stammende
habituelle Obstipation durch jene Störung zuweilen bedingt
sein dürfte.
Ueber die Wiederbelebung in Todesfällen in
Folge von Erstickung, Chloroformvergiftung und
elektrischem Schlage.
Von Prof. Dr. J. Prus, Director des Institutes für allgemeine und experimentelle
Pathologie an der k. k. Universität zu Lemberg.
(Nach einem am 11, November 1899 in der Gesellschaft der Aerzte in
Lemberg abgehaltenen Vortrage.)
Wie es schon bekannt ist, folgt mit der Sistirung der
Athmung und der Herzbewegungen der Tod des einzelnen
Individuums. Von dieser Zeit an greift in dem todten Organismus
eine Reihe von Veränderungen Platz, welche vor Allem zur
vollkommenen Vernichtung jeglicher Erregbarkeit der Gewebe
führen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass von dem Momente
des eingetretenen Todes an gerechnet, die einzelnen Gewebe
ihre Erregbarkeit in verhältnissmässig ungleicher Zeit ver¬
lieren. Am frühesten erlischt die Erregbarkeit des Nerven-
und Drüsengewebes, dann des Muskelgewebes, am spätesten
die Erregbarkeit des Bindegewebes. Die dem lebenden Or¬
ganismus entnommenen Gewebe behalten ihre Erregbarkeit
ebenfalls durch gewisse Zeit und zwar: Nerven und Muskeln
bleiben unter geeigneten Bedingungen mehrere Stunden erreg¬
bar; das einem Hunde ausgeschnittene Herz, behält seine
Erregbarkeit bis 96 Stunden, am längsten aber das Knoipel-
gewebe, welches seine Lebensfähigkeit sogar 30 Tage be¬
wahren kann.
Gestiizt auf das Princip, dass in dem Momente des ein¬
getretenen Todes eines Individuums die einzelnen Gewebe
ihre Erregbarkeit gewisse Zeit noch aufbewahren, bin ich auf
die Idee gekommen, ob man nicht in jenen Fällen, in
welchen der gesunde menschliche Organismus
aus irgend welchen Gründen dem plötzlichen
Tode erlegen ist, sei es durch Erstickung,
elektrischen Schlag, Chloroformvergiftung,
oder durch andere Gifte zur Wiederbelebung
schreiten sollte, und zwar durch künstliche
Herstellung jener Bedingungen, unter welchen
höhere Organismen zu leben gewohnt sind.
Diese Bedingungen wären gegeben durch:
d) Künstliche Athmung, b) künstliche Circulation
des Blutes; doch beide wären nur dann von Erfolg, wenn
man zum Acte der Wiederbelebung zu einer Zeit schreiten
würde, in welcher die Erregbarkeit der Gewebe, wenn auch
minimal, noch erhalten ist.
Dies vorausgesetzt, muss man jetzt die Frage aufwerfen,
wie diese Bedingungen erfüllt werden müssen,
damit sie uns im Nothfalle ja nicht im Stiche lassen?
Um der Bedingung d) vollkommen zu entsprechen, genügt
nicht die Methode von Sylvester, Pazini, Howard und
ähnliche Verfahren, deren wir uns gewöhnlich in Fällen des
Scheintodes bedienen, ich meine in Fällen, in welchen die Herz-
und Lungenthätigkeit für unsere Sinne nicht wahrnehmbar ist.
sondern es wäre in solchen Fällen vor Allem die Tracheotomie
auszuführen und die Trachea mittelst entsprechender Canule
mit einem Blasebalg zu verbinden, um mit Hilfe des letzteren,
ein entsprechendes Luftquantum in die Lunge treiben zu
können.
Was die Bedingung b ) anbelangt, so habe ich nach
vielen experimentellen Untersuchungen die Ueberzeugung ge¬
wonnen, dass man die künstliche Blutcirculation
noch am ehesten und sichersten durch rhythmi¬
schen Fingerdruck auf das blossgelegte Herz ein¬
leiten kann, denn nur auf diese Weise ist es möglich, die
Systole und Diastole des Herzens künstlich zu erzielen, somit
die Bedingungen zu schaffen, von welchen eben die Circulation
des Blutes in erster Reihe abhängig ist.
Mit Nachdruck muss ich hier erwähnen, dass die schon
früher von Prof. Boehm angegebene Methode1), welche auf
der rhythmischen Compression des unversehrten Brustkorbes
beruht, in Todesfällen zur künstlichen Circulation des Blutes
weder bei Menschen noch bei Thieren mit wenig elastischem
Thorax führen kann, und zwar aus diesem Grunde, weil die
Compressibilität des Brustkorbes meistens viel zu gering ist.
Die Experimente, die Prof. Boehm zum grössten
Theile an jungen Katzen unternahm, die er durch Kalisalze,
Chloroform oder Verschluss der Trachea zuerst scheintodt
machte, haben meistens durch die Anwendung künstlicher
Athmung und der rythmischen Compression des unversehrten
Brustkorbes wohl zu einem positiven Resultate geführt; bedenkt
man aber, dass Prof. Boehm die Versuche entweder sofort,
oder höchstens einige Minuten nach dem Verschwinden der
Pulswelle am Kymographion machte, also zu einer Zeit, in
welcher die Herzbewegungen noch erhalten waren, wenn auch
das Manometer in Folge deren Schwäche sie nicht mehr
zeichnen konnte, so unterliegt es keinem Zweifel, was übri¬
gens Prof. Boehm selbst betont, dass man bei seinen Ver¬
suchen nicht von einer Wiederbelebung nach dem
wirklichen Tode, sondern nur von einem Erwachen aus dem
Scheintode sprechen kann. Indem ich mir die specielle
Besprechung der Experimente Prof. B o e h m’s Vorbehalte, will
ich noch einmal ausdrücklich betonen, dass man bei einem
todten Individuum die künstliche Circulation des Blutes nur
durch directe Compression des freigelegten Herzens hervor-
rufen kann, wozu natürlich die Eröffnung des Brustkorbes in
der Herzgegend, mit Intactlassung der Pleuren noth-
wendig ist.
Es drängt sich nun die Frage auf, wie man sich
am leichtesten den Weg bahnen könnte, um zum mensch¬
lichen Herzen zu gelangen? Auf diese Frage kommt uns die
Chirurgie zu Hilfe, indem sie uns Methoden angibt, mittelst
welcher wir das menschliche Herz freilegen, ohne die Pleuren
zu verletzen. Es ist nicht meine Aufgabe, hier die einzelnen
Methoden aufzuzählen, es genügt mir, nur deren zwei be¬
sonders zu erwähnen, nämlich die 1. von Hofrath Professor
Dr. R y d y g i e r 2) und 2. von Docent Dr. Wehr.3) Beide
diese bewährten Methoden gestatten uns, die Herzgegend rasch,
sicher und ausgiebig zu eröffnen, so dass man das mensch¬
liche Herz dann bequem mit einer Hand ergreifen und
rhythmisch comprimiren kann.
Um mich zu überzeugen, ob die Idee betreffs der
Wiederbelebung eines todten Individuums mit Hilfe künst¬
licher Athmung und künstlicher Blutcirculation sich einmal
verwirklichen kann, habe ich eine Reihe von Experimenten
ausgeführt, bei welchen ich bestrebt war, H liiere, die durch
Erstickung, Chloroformvergiftung, oder durch elektrischen
Schlag des Lebens beraubt waren, wiederzubeleben, indem ich
in verschiedenen Perioden des wirklichen Todes, künstliche
Athmung und die rhythmische Herzcompression einleitete.
1. Wiederbelebung nach Erstickung.
Die Versuche führte ich in folgender Weise aus:
An einem lebenden, vollkommen gesunden, entsprechend
narkotisirten und am Klebs’schen Tischchen befestigten Thiere,
führte ich zuerst die Tracheotomie aus; die Halsschlagader
(Carotis) vereinigte ich mit einem Quecksilbermanometer. An der
rechten Thoraxseite befestigte ich ein Gummipolsterchen, das mil
>) Prof. Dr. R. Boehm, Ueber Wiederbelebung nach Vergiftungen
und Asphyxie. Archiv für experimenteile Pathologie und Pharmakologie.
1877, Bd. VIII. , ,
•) Hofrath Prof. Rydygier, Ueber Herzwunden. Wiener klinische
Wochenschrift. 1898, Nr. 47.
3) Docent Wehr, Ueber eine neue Methode der Brustkorberüitming
zur Blosslegung des Herzens. Archiv für klinische Chirurgie. Bd LIX,
Heft 4.
452
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. BKIO.
Nr. 20
der M a re y’ sehen Trommel verbunden war, um die Athembewe-
gungen zu registriren. Sämmtliche Blutdruck- und Respirations-
schwankungen wurden auf einen breiten, berussten Papierstreifen
notirt.
Derselbe 4 m lang und 25— Stic?« breit, bewegte sich am
Cylinder meines Kymograph ions, der nach dem Muster des
Her i ng’schen construirt ist, da das Ludwig’sche Kymographion
zu derartigen Versuchen wenig geeignet ist. Sowohl das Kymo¬
graphion, als der zur künstlichen Athmung dienende Blasebalg,
wurden mittelst kleiner elektrischer Motoren in Betrieb gesetzt.
Nachdem ich vorerst an dem Kymographion die normalen Respira¬
tionen und den normalen Blutdruck notiren Hess, verschloss ich
hermetisch das Gummiröhrchen, das mit der in der Luftröhre be¬
findlichen Canute vereinigt war. Von da an begann das Ersticken
des Thieres und das Manometer zeigte eine Blutdrucksteigerung,
worauf in kurzer Zeit bedeutende Druckschwankungen, sowie der
sogenannte Vaguspuls, ferner Athemnoth (Dyspnoe) und Krämpfe
auftraten. Nachdem letztere sistirten, verminderten sich allmälig die
Respirationen, der Blutdruck fiel langsam ab, endlich hörte das
Athmen gänzlich auf und gewöhnlich war 2' — 3' später der Blut¬
druck auf Null gefallen und an der betreffenden Curve fehlte jede
Spur der durch die Herzthätigkeit bedingten Schwankungen.
Die Zeit, die seit dem Tracheaverschluss bis zum Sistiren
der Herzbewegungen verstrich, das ist die Zeitdauer des Erstickens
betrug im Minimum 4', das Maximum 20'. Die Erstickungsdauer er¬
streckte sich in den Einzelversuchen auf: 4‘, 4' 7", 4' 20", 5'
in drei Fällen; 5' 21", 5'30" 5' 45" in zwei Fällen; 5' 55"
6' in drei Fällen; 6' 25", 6' 30" in zwei Fällen; 7' in sechs
Fällen; 7' 20", 7' 30", 8' in sechs Fällen; 8' 17" in zwei
Fällen; 8' 38", 9' in drei Fällen; 9' 40" in zwei Fällen; 10',
10' 34", 11', 13', 20'.
Die seit Aufhören der Athmung bis zur Sistirung der Herz¬
thätigkeit verstrichene Zeit betrug im Maximum 5'. ln den Einzel¬
versuchen währte diese Zeit 1' (in sieben Fällen); 1 ' 7", 1 ' 17",
1‘ 20", 1' 24", 1 ' 30", 1 ' 40", 1 ' 50", 1' 55" 2' (in vier Fällen);
2'8", 2' 10" (in drei Fällen); 2' 20", 2'25", 2' 30", 2'40" (in
vier Fällen); 2' 50", 3' (in zwei Fällen); 3' 10" (in zwei Fällen);
3' 17", 3' 24", 3' 50", 5'. In zwei Fällen hörte die Herzaction
früher auf, als die Respiration, und zwar in einem Falle um 15",
im zweiten um 2 33" früher als der letzte Athemzug.
Nachdem die Athem- und die Herzbewegungen sistirt haften,
eröffnete ich den Brustkorb, und zwar entweder in der Mittellinie
des Körpers nach Durchsägen des Brustbeines, oder aber an der
linken Seite nach Durchschneidung des zweiten bis dritten Rippen¬
knorpels, dort, wo sie sich an den Rippen anheften.
Das erstere Verfahren wendete ich in den Fällen an, wo es
mir nicht an der Erhaltung des Thieres nach dessen Wieder¬
belebung gelegen war; des zweiten Verfahrens bediente ich mich
hingegen dort, wo die Thiere nach dem Experimente noch längere
Zeit leben sollten. Nach sorgfältiger Besichtigung des blossgelegten
Herzens und nachdem ich mich überzeugt habe, dass weder die
Kammern noch die Vorkammern eine Spur einer Bewegung ver-
rathen, dass also das Thier unzweifelhaft todt ist, wartete ich
ruhig einige bis 10 und 45 ja sogar bis 60', wobei ich stets das
freipräparirte Herz betrachtete und die Wartezeit im Protokolle
notirte. Nachher schritt ich an die eigentliche Wiederbelebungs-
action. Nachdem ich die Verschlusskappe, die den Luftzutritt in
die Lunge hinderte, entfernt habe, vereinigte ich das Gummi¬
röhrchen der Trachealcanule mit dem für künstliche Athmung be¬
stimmten Blasebalg. Hinzufügen will ich noch, dass ich im Gummi¬
rohr — wie es gewöhnlich zu geschehen pflegt — durch An¬
sohneiden desselben in schieier Richtung eine Oeffnung geschaffen,
durch welche sowohl die überschüssig eingepumpte als auch die
ausgeathmete Luft frei entweichen konnte.
Nachdem ich nun das freigelegte Herz mit der rechten
Hand derart umklammert habe, dass der Daumen an der
rechten Kammer ruhte, die übrigen Finger die linke be¬
rührten, begann ich beide Kammern mit massiger Kraft
rhythmisch zu comprimiren, und zwar so, dass ich Systole und
Diastole nachahmte.
Sehr oft setzte ich gleichzeitig mit Beginn der Herz-
compressionen den Blasebalg in Bewegung.
In einigen Fällen begann jedoch das künstliche Athmen
etwas später namentlich um 10", 15" in zwei Fällen, um
39", 3' 20" oder aber auch früher als die Herzmassage um
30", 50", 3'.
Bei jeder Herzcompression stieg die Quecksilbersäule im
Manometer um einige oder auch mehr Millimeter. Nach etlichen
30 — 60 Compressionen ruhte ich eine kleine Weile aus, be¬
obachtete dabei aufmerksam das blossliegende Herz, worauf
ich von Neuem beide Kammern gleichmässig zu comprimiren
begann, bis mich die Ermüdung der Hand die Massage auszu¬
setzen veranlasst hatte.
In Ausnahmsfällen traten schon nach 14" in Folge der
Massage selbstständige energische Herzbewegungen auf; in
der Regel musste man längere Zeit fortsetzen bis man solche
Bewegungen erzielte.
Unter dem Einflüsse der Massage begannen gewöhnlich
die Ventrikel straffer zu werden, sowie eine hellere Farbe an¬
zunehmen, worauf in kurzer Zeit schwache selbstständige Be¬
wegungen der Vorhöfe und dann erst schwache Ventrikel-
contractionen bemerkbar waren. In diesem Momente begann
das Manometer die Drucksteigerung anzuzeigen, welche auch
dann nicht bis auf Null zurückging, als man für eine Weile
die Massage aussetzte, sondern sie verblieb bei einer gewissen
Höhe. Kurz darauf trat wärend der Massage die erste ener¬
gische Herzsystole auf; selbe war nicht nur für den Finger
deutlich fühlbar, sondern auch an der Curve durch einen be¬
deutenden Anstieg notirt. Unter dem Einflüsse einer noch
längeren Massage potenzirte sich die Energie der Kammer¬
systolen noch mehr, so dass die anfangs langsamen und un¬
regelmässigen Herzschläge immer frequenter und rhythmischer
wurden und endlich kam es dazu — dies ist wohl aas Wich¬
tigste an der Sache — dass die kräftigen Contractionen auch
in den Massagepausen ihre Energie nicht einbüssten.
Sobald nach länger dauernder Sistirung der Herz-
compressionen der Energie der Herzbewegungen nicht nach-
liess und der Blutdruck immer mehr anstieg, da war jede
weitere Massage gänzlich überflüssig; sobald aber in den
Pausen die Herzcontractionen nicht nur nicht stärker, sondern
vielmehr schwächer wurden, musste ich natürlich die Massage
fortsetzen, da sonst früher oder später die Herzthätigkeit völlig
sistirte, während ein unverdrossenes F ortsetzen der Com¬
pressionen die Energie der Herzschläge vergrösserte, so dass
es fast immer gelang, das Herz zur normalen selbstständigen
Action zu bringen. Nachdem die Herzthätigkeit einige Zeit
selbstständig angehalten und der Blutdruck allmälig angestiegen
war, trat die erste selbstständige Inspiration auf; diese war
jedoch so schwach, dass die Feder der M a r ey’schen Trommel,
welche die durch die künstliche Athmung bedingten Thorax¬
schwankungen registriren sollte, sie gar nicht verzeichnete.
Deutlich jedoch war diese Inspiration sichtbar gemacht auf
der Blutdruckcurve; dieselbe war nämlich etwas niedriger
während der Inspiration, um bald darauf ein wenig über das
frühere Niveau zu steigen. Sodann kam die zweite Inspiration,
diese war an der Curve noch kenntlicher durch ein momen¬
tanes Sinken des Blutdruckes während der Inspiration und
dai’auf folgendes deutlicheres Ansteigen.
Der dritte Athemzug war nicht blos an der Blutdruck¬
curve, sondern auch an der Respiration zum Ausdruck ge¬
bracht, man konnte überdies die Thoraxbewegung mit freiem
Auge sehen.
Jede folgende Respiration war immer deutlicher an der
Respirations- und Blutdruckcurve notirt.
Die ersten Athembewegungen kamen lediglich durch
Zwerchfellwirkung zu Stande an den späteren hingegen be¬
theiligten sich auch die Thoraxmuskeln.
Sobald die Respirationen einige Zeit selbstständig ange¬
halten haben, war das künstliche Athmen überflüssig, natürlich
nur in den Fällen, wo der Brustkorb links eröffnet wurde,
also bei einseitigem Pneumothorax.
Im weiteren Verlauf der Wiederbelebung beginnt das
Thier auf unsere Reize zu reagiren, die Augenlider schliessen
sich reflectorisch bei Berührung der Cornea, die Pfote wird
Nr. 20
453
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
bewegt beim Stechen der Solllengegend und die Pupille con-
trahirt sich auf grellen Lichtreiz.
Hierauf beginnt das Thier diverse Bewegungen auszu¬
führen und das Bewusstsein wieder zu erlangen. In den Fällen,
bei denen seit Sistirung der Herzaction bis zu Beginn der
Herzmassage eine längere Frist verstreicht, müssen wir
manchmal das Herz 1 — 2h massiren, um hinreichend kräftige
und selbstständige Bewegungen zu erzielen, wenn auch die
ersten Spuren solcher Bewegungen — besonders an den Vor¬
höfen — sehr früh zum Vorschein kommen.
Am schwierigsten ist das Herz zu einer selbstständigen
Function zu bewegeD, sobald in Folge der Massage fibrilläre
der peristaltischen ähnliche Zuckungen (Delirium cordis) auf-
treten.
Die Zeitdauer, welche seit Sistirung der
Herzaction, also seit dem Eintritte des Todes
bis zum Beginne der directen Herzmassage ver¬
strich, betrug in den 44 Versuchsfällen im Mini¬
mum F, im Maximum lh . Und zwar dauerte es: in drei
I ällen je 1', F 30", 2'; in acht Fällen je 3', 3' 20"; in zwei
Fällen 3' 30", 3' 49", 4' 30", 4' 40"; in vier Fällen 5', 5' 30",
5' 50"; in drei Fällen 6', 7' 27", 8'; in fünf Fällen je 10'; in
zwei Fällen je 15', 16', 30', 40', 45', 50', lh (in zwei Fällen).
Die Zeit, die erforderlich war, vom Beginn der Massage
bis zu den ersten selbstständigen Contractionsspuren betrug
im Minimum 14", im Maximum lh 47', und zwar: 14", 30"
(in zwei Fällen), 35", 45" (in zwei Fällen), 50", 53", 55",
56", 58", F (in zwei Fällen), 1'30" (in vier Fällen), 1 ' 47",
2', 2' 30" (in zwei Fällen), 2' 34, 2' 35", 2' 40", 2' 51", 3',
5', 6', 10' (in zwei Fällen), 11' 34", 12', 13' 30", 13' 41", 15',
36', 51' 30", lh , lh 34', lh 47". In einem Falle erschien
nicht die leiseste Spur einer Herzcontraction, ungeachtet dessen,
dass die Herzmassage lange Zeit fortgesetzt wurde. In drei
Fällen sind nur fibrilläre Zuckungen aufgetreten.
Die selbstständige, regelmässige und energische Herz¬
action ist in 32 Fällen in einer Versuchsreihe von 44 Ex¬
perimenten aufgetreten — in acht Fällen dagegen konnte man
die energische Herzthätigkeit nicht erwecken, obwohl schwache
rythmische Contractionen des Herzens zum Vorschein kamen,
während in vier Fällen (wie ich schon oben erwähnt habe)
überhaupt keine Spur von rhythmischen Herzbewegungen er¬
schienen ist.
Die Z 'it, die erforderlich war bis zum Auftreten der
regelmässigen energischen Herzthätigkeit, schwankte zwischen
14" bis lh 50', und zwar dauerte es: 14", 30" (in zwei Fällen),
45", 50", 55", F (in zwei Fällen), 1' 10", F 15", F30", 2' (in
drei Fällen), 2' 30". 2' 35", 2' 51", 3' 2", 6', 7', 10', 12',
13' 41", 14'. 16', 24' 47", 26', 51' 30", 58'/ lh 1' 17",
lh 40", lh 50'.
Die Zeit, die verflossen seit dem Auftreten der ersten
Herzcontractionen bis zum Eintreten der selbstständigen,
vollkommen regelmässigen Herzthätigkeit, betrug in diesen
32 Fällen im Minimum 0, im Maximum lb 26' 30", und zwar
in 14 Fällen war diese Zeit gleich Null, das heisst mit dem
Auftreten der ersten Bewegungsspuren begann auch die regel¬
mässige Herzaction, während es in anderen Fällen dauerte:
12", 28", 30", 40", F4", 1' 15", 2', 4', 5'7", 6', 8', 8' 30". 11',
16', 22', 23', 49' 17", lh26'30".
Die Zeit, die verflossen seit dem Auftreten der ersten
Herzcontractionen bis zum ersten selbstständigen Athemzug
betrug in Minimum 0 (das heisst die Inspiration trat gleich¬
zeitig mit der ersten Herzsystole auf) im Maximum lh 46' 43",
und zwar dauerte es: 0" (in zwei Fällen), 10", 30", 1' 19",
F 25", F 26", 1' 30", 2', 2‘30" (in zwei Fällen), 2'43", 2' 55",
3', 3' 5", 3' 15", 3' 30" (in zwei Fällen), 3' 45", 4', 4' 4", 5' 1", 9'.
10', 10' 20", 1F, 12' 7", 13', 24', 35' 25", 37', lh46'43.
In manchen Fällen kehrte die erste Inspiration wieder
vor der selbstständigen Herzaction, und zwar um 10", 7' 56",
28', lh 28".
In jenen Fällen, wo es mir darum zu thun war, das
Thier nach der Wiederbelebung weiter am
Leben zu erhalten, machte ich alle operativen
Eingriffe unter aseptischen Cautelen. Nachdem
ich zwei bis drei Rippenknorpel an der Stelle ihres Ansatzes
an die eigentlichen Rippen durchschnitten und hiedurch den
Brustkorb eröffnet hatte, legte ich sowohl an jedem Rippen¬
knorpel als auch an jeder zugehörigen Rippe eine feste Seiden -
ligatur an, einerseits um die Intercostalarterien zu unterbinden,
andererseits um nach der Wiederbelebung des Thieres die
Rippen und deren entsprechende Knorpel vermittelst dieser
Seidenfaden miteinander zu verbinden. Mit besonderem Nach¬
drucke muss ich erwähnen, dass bei dieser Methode
der Thoraxöffnung die Herzmassage schwieri¬
ger ist, indem man hiebei nicht die ganze Hand, sondern
blos den Zeige- und Mittelfinger, höchstens den vierten und
den kleinen Finger in das Innere des Brustkorbes einführen
kann, während der Daumen ausserhalb desselben, und zwar
auf das Brustblatt gestützt, sich befinden muss. Unter solchen
Umständen kann die Herzmassage nur so vor sich gehen, dass
man nur die linke Kammer mit den Fingern comprimirt und
gleichzeitig bestrebt ist, die rechte an das Brustblatt anzu¬
drücken. Trotz dieser Schwierigkeiten ist mir häufig die
Wiederbelebung gelungen.
Sobald die selbstständige Lungen- und Herzthätigkeit
regelrecht vor sich ging, nähte ich zuerst die Wunde am
Brustkorb, hierauf entfernte ich die Trachealcanule und nach
Anlegung einer exacten Naht an der Trachea unterband ich
die Halsarterie, um das Manometer beseitigen zu können.
Nachdem ich die Wunde am Halse sorgfältig zugenäht,
habe ich das Thier vom Tischchen losgebunden und es
freigelassen, indem ich dafür sorgte, dass das Thier eine ge¬
wisse Zeit in einem gut gewärmten Zimmer sich befinde. In
Ausnahmsfällen hat sich das Thier nach der Wiederbelebung
sehr rasch erholt, und zwar so, dass es schon einige Minuten
nach dem Abbinden herumlaufen konnte.
Meistens ist aber vorgekommen, dass das Thier innerhalb
der ersten Stunde nach der Wiederbelebung kaum den Kopf
zu erheben oder von einer liegenden in sitzende Position über¬
zugehen vermochte.
Erst später konnte das Thier sich auf die vorderen,
schliesslich auch auf die Hinterpfoten stellen. Der Gang
des Thieres war anfangs wankend, es ist leicht umgefallen,
beim kleinsten Hinderniss stolperte es, später aber hat
es schon alle Bewegungen ohne Mühe ausgeführt.
Bei 44 Experimenten ist die Wiederbelebung
in 31 Fällen gelungen, also in 70ü/o aller Ver¬
suche. Bedenkt man, dass in 13 Fällen, bei welchen die
Wiederbelebung misslang, die Eröffnung des Brustkorbes seit¬
wärts durch den Schnitt der Rippenknorpel geschah, so kann
man zugeben, dass der Procentsatz der günstigen Fälle viel
höher wäre, wenn ich in jenen Fällen die Herzmassage so ener¬
gisch hätte anwenden können, wie in den Fällen der Eröffnung
des Brustkorbes mit dem Durchsägen des Brustbeines. Be¬
züglich dieser 13 Versuche, bei welchen die Wiederbelebung
misslang, muss ich wohl bemerken: dass 1. in sechs Fällen
die selbstständige Athmung, nicht aber die selbstständige
reguläre Herzaction, dass 2. bei einem Falle in Folge der
Herzmassage und künstlicher Athmung nur die selbstständige
reguläre Herzaction nicht aber die selbstständige Athmung
wiederkehrte, dass 3. bei zwei Fällen mir nicht gelungen ist
weder selbstständige Alhembewegungen noch die reguläre
Herzaction zu erregen, wiewohl beide Vorhöfe und beide
Kammern in schwacher rhythmischer Systole begriffen waren,
dass 4. in drei Fällen nur fibrilläre Zuckungen des Herz¬
muskels und kein selbstständiges Athmen aufgetreten ist und
dass 5. in einem Falle weder der Athem noch irgend welche
Bewegungen, wie fibrilläre Zuckungen des Herzens er¬
schienen sind.
Von 31 wiederbelebten Hunden, tödtete ich
19 nach Beendigung des Experimentes, und zwar
deshalb, weil ich in diesen Fällen den Brustkorb mittelst
Durchsägen des Sternums in der Mittellinie eröffnet habe und
durch den so entstandenen beiderseitigen Pneumothorax die
Möglichkeit, das Thier längere Zeit beim Leben zu erhalten,
ausgeschlossen habe; denn, wenn auch das Thier nach der
Wiederbelebung eine selbstständige energische Herzaction hatte
454
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 20
und auch sehr energische selbstständige Athembevvegungen
ausführte, musste es nach Sistirung künstlicher Athmung in
kurzer Zeit wieder zu Grunde gehen, und zwar durch Er¬
stickung in Folge des beiderseitigen Pneumothorax.
Der Zweck dieser Experimente war vor Allem d i e B e-
stimmung derZeitdauer, welche man von dem
Momente des eingetretenen Todes eines Thieres
ab warten kann, um die erfolgreiche Action der
Wiede rbelebung vorzu nehmen.
Als ich am 11. November 1899 in der Lemberger Aerzte-
Gesellschaft über meine Experimente Bericht erstattete, konnte
ich bestimmt sagen, dass man ein Thier sogar noch
15 Minuten nach dem Tode mittelst meiner Me¬
thode wieder beleben kann.
Wenn diese Worte motivirt durch eine Reihe specieller
Untersuchungen und gestützt auf entsprechende Demonstrationen,
damals das ganze Auditorium in Staunen gesetzt haben, so
fühle ich heute umso grössere innere Befriedigung von meiner
Arbeit, da ich das Resultat meiner weiteren Experimente mit¬
theilen kann, welche erwiesen haben, dass sogar noch
eine Stunde nach dem eingetretenen Tode eines
Thieres man es noch wieder beleben kann, und
zwar mit Hilfe der Massage des freigelegten
Herzens, der künstlichen Athmung und der In¬
fusion von Kochsalzlösung. In diesen Fällen führte
ich sowohl die Herzmassage, wie auch die künstliche Athmung,
beständig längere Zeit aus, ausserdem aber injicirte ich in das
centripetale Ende der Arteria femoralis in gewissen Zeit¬
abschnitten 50— 100 cm3 physiologischer Kochsalzlösung aus
der Burette, um die künstliche Circulation desto sicherer zu
erhalten.
Hier muss ich erwähnen, dass die Indication zur Koch¬
salzinfusion der Grad der Blutfüllung des Herzens ist.
Je weniger Blut das Herz enthält, umso eher müssen wir
die Kochsalzinfusion vornehmen, denn es ist klar, dass auch
die stärkste Massage eines mit einem winzigen Blutquantum
gefüllten Herzens die Circulation des Blutes nicht im Gang
erhalten kann.
Weiters muss ich erwähnen, dass die Kochsalzinfusion in
die Halsvene viel weniger zum Ziele führt, als die Infusion in
das centripetale Ende der Femoralarterie, von wo aus die
Kochsalzlösung gemischt mit Arterienblute leicht in den An¬
fang der Aorta und dann in die Kranzarterien des Herzens
gelangt; die Erhaltung der Circulation in den Kranzarterien
hingegen hat für die Erregung der selbstständigen Herzaction
die grösste Bedeutung.
Die Erfahrung hat mich ausserdem gelehrt, dass die
Kochsalzinfusionen in die Halsvene sogar mit einer gewissen
Gefahr verbunden sind, denn sie geben sichtlich den Grund
zur Entstehung des intensiven Lungenödems.
Endlich muss ich hervorheben, dass ich, gestützt auf die
Experimente Sch ticking’s (Therapeutische Monatshefte.
1899, Nr. 12), bei Kochsalzinfusionen den Zusatz von 0 03%
Natrium saccharatum für vortheilhaft halte, das im Blute unter
dem Einflüsse der Kohlensäure sich in Natron carbon, und
Zucker spaltet und die Kohlensäure, ohne gleichzeitig das
Leben der Gewebe zu gefährden, bindet.
Also bei der Anwendung dieser Methode der Wiederbe¬
lebung erhielt ich ein positives Resultat sogar in jenem Falle,
bei welchem von dem Momente der Sistirung jeder Herzbe¬
wegung in Folge der Erstickung des Thieres bis zur Vor¬
nahme der Herzmassage und künstlicher Athmung eine volle
Stunde verstrich. In diesem Falle eben trat nach einstündiger
(genau lh P 17") Massage die selbstständige reguläre energische
Herzaction auf, worauf mehr weniger in einer Stunde (57' 26")
unter dem Einflüsse fortdauernder künstlicher Athmung und
immer energischerer selbstständigerer Herzaction die selbst¬
ständige regelmässige Respiration auftrat. Im Laufe der nächsten
(also der dritten) Stunde kehrten die Haut- und Cornealreflexe
und zuletzt auch die spontanen Bewegungen wieder. Nachher
wurde der Hund getödtet, weil der Brustkorb in der Mittel¬
linie geöffnet worden war.
Von zwölf Hunden, welche ich nach der
Wiederbelebung beim Leben liess und bei
welchen ich den Brustkorb seitwärts er öffnete,
lebt bis jetzt einer, dagegen sind neun Hunde
in Folge der Infection, zwei in Folge des inten¬
siven Lungenödems zu Grunde gegangen.
Jener Hund, welcher nach der W i e d e r b e 1 e b u n g
bis jetzt lebt und welchen ich in der Sitzung der Aerzte-
gesellschaft am 11. November 1899 demonstrirt habe, wurde
am 14. Juni 1899 durch Erstickung getödtet. Von dem Mo¬
mente des Verschlusses der Trachea bis zum letzten Athem-
zuge sind 3' 15", bis zur Sistirung der Herzbewegungen 5' 45"
verflossen, das Herz hat somit zu schlagen aufgehört 2' 30"
später als die Athmung. Die Frist des Todes, oder mit
anderen Worten die Zeit, welche verstrich seit Sistirung der
Herzthätigkeit bis zum Beginne der Massage und künstlichen
Athmung am Versuchsthiere betrug 6'. Nach 2x/% lang
dauernder Massage und künstlicher Respiration erschienen die
ersten Herzcontractionen und eine halbe Minute später der
erste selbstständige Athemzug; nach weiteren 5' wurde die
Thoraxwunde zugenäht, eine Viertelstunde hierauf die Tracheal-
canule entfernt und die Trachea geschlossen, worauf nach
weiteren 5' die Halsarterie unterbunden, das Manometer be¬
seitigt, die Hals wunde vernäht und der Hund vom Operations¬
tisch losgebunden. Die Untersuchung des Hundes ergab: Die
Athmung, der Puls, Cornea- und Hautreflexe, sowie die Reaction
der Pupillen auf Licht normal, hingegen eine Steigerung der
Sehnenreflexe; der Hund liegt im Allgemeinen ruhig, nur von
Zeit zu Zeit bewegt er schwach den Kopf oder die Pfoten.
Die Körpertemperatur, die eine halbe Stunde nach dem Los¬
binden im Mastdarm gemessen wurde, belief sich auf 3P5°C.
Im Laufe des ersten Tages nach der Operation pflegte
das Thier vorwiegend zu schlafen, nur traten zeitweise leichte
Zuckungen klonischer Natur auf und zwar überwiegend in
den Vorderbeinen. Diese Zuckungen ähneln besonders den
Schüttelfrösten. Das Seh- und Hörvermögen sind in hohem
Grade beeinträchtigt. Am zweiten Tage verlässt wohl das Thier
seinen Käfig, allein der Gang ist noch langsam und unsicher,
die Hinterpfoten sind wesentlich schwächer als die vorderen.
Im Urin war eine grosse Menge von Uraten und eine Spur
von Albumen und Zucker. Die Temperatur betrug 32'5° C.
Am dritten Tage traten blutige Stühle auf, sonst verhielten
sich die Hunde ruhig, der Gang sowie das Gehör sind regel¬
recht, nur das Sehvermögen ist noch etwas beschränkt. Während
am sechsten Tage die Wunde am Halse fast verheilt war,
eiterte die am Thorax recht stark, so dass man sie mit Bor¬
wasser ausspritzen und mit Gaze tamponiren musste; nach
drei Wochen war sie endlich ganz zugeheilt. Am 16. Juli 1899,
also genau einen Monat nach dem vorgenommenen Experi¬
mente, warf die Hündin vier gesunde Junge. Sie lebt übrigens
bis heute (d. i. also über acht Monate) und ist vollkommen
gesund.
Von den neun Hunden, welche nach der
Wiederbelebung an der Infection zu Grunde
gingen, lebte einer fünf, drei je drei, einer einen
Tag, zwei je einen halben Tag, zwei lebten blos
je einige Stunden. Zwei Hunde sind unter den
Erscheinungen eines acuten Lungenödems im
Laufe der ersten Stunden nach dem Losbinden
vom Klebs’schen Tisch gestorben.
Wenn auch von den zwölf Hunden, an deren Erhaltung
mir gelegen war, derzeit nur einer lebt, verliert meine Methode
der Wiederbelebung trotz dieses geringen Procentsatzes (d. i.
8'33%) nichts an ihrer Bedeutung. Erwägt man nämlich, dass
die Todesursache der wiederbelebten Thiere die Infection war,
so muss man zugestehen, dass der Procentsatz auf 83'33%
gestiegen wäre, sobald man jener irgendwie Einhalt gethan
hätte. Auf der beiliegenden Tafel I sind Experimente über die
Wiederbelebung nach Erstickung zusammengestellt.
Meine Experimente beweisen, dass man
durch Erstickung getödtete Thiere wieder
beleben kann, und zwar auch dann, wenn der Tod
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
455
Tafel I. Wiederbelebung nach Erstickung.
Laufende Zahl
Zeitdauer des
Erstickens
bis zum
Beginn der
directen Herz¬
massage
seit dem
Beginn der künst¬
lichen Respiration
Die ersten selbst¬
ständigen Herzcon-
tractionen sind
zurückgekehrt
Die regelmässige
und energische
Herzaction ist
zurückgekehrt
Die natürliche
Respiration ist
zurückgekehrt
Ist die Wiederbelebung
gelungen?
Eröffnung des Brustkorbes iu der
Mittellinie (M), von der Seite (8)
Das Thier lebte nach der
Wiederbelebung
Anmerkung
Aufhören der
Athmung
Aufhören der
Herzthätigkeit
Aufhören der
Herzbewegungen
- 1
Aufhören der
Athmung
seit dem Auf¬
hören der
Herzbewegungen
—
seit dem Auf¬
hören der
Athmung
seit dem Be¬
ginne der
Herzmassage
nach dem Be¬
ginne der Herz¬
massage
nach dem
Wiederbeginne
der Herz¬
thätigkeit
nach dem Beginne
der Herzmassage
1
7'
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Getödtet.
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2'
1'
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4'
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—
Getödtet.
zeitig
4
7' 10"
9'
1' 30"
3' 20"
1' 30"
3' 20"
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55"
55"
4'
3' 5"
ja
s
—
Getödtet.
zeitig
5
7'
8'
2'
3'
2' 30"
3' 30"
30"
50"
50"
2' 15"
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ja
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3 Tage
Infection.
6
7' 30"
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1'
1' 10"
10"
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3 Tage
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7
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7'
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12'
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zeitig
zeitig
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12
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12
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Stunden
13
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3'
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3'
6' 50"
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45"
45"
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zeitig
zeitig
14
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8'
3' 20"
6' 47"
3' 20"
6' 47"
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13' 41"
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7' 56"
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3 7,
Infection.
zeitig
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Stunden
15
3' 47"
5' 55
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3' 30"
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5' 17"
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M
Getödtet.
zeitig
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3' 15"
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30"
30"
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Infection.
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38' 47"
37'
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ja
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—
Getödtet.
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18
5'
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4' 30"
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6'
gleich-
1'
1' 30"
2' i 0"
1' 30"
ja
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19
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5'
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14"
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M
—
Getödtet.
zeitig
22
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6'
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3' 25"
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Getödtet.
zeitig
23
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2' 30'
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ja
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zeitig
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1 Jahr
27
7'
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6'
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12' ?0"
10'
nein
s
_
—
nicht
zurück
466
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 20
Zeitdauer des
Erstickens
bis zum
Beginn der directen
Herzmassage seit
Beginn der künstlichen
Respiration
in selbst-
in Herz¬
men sind
gekehrt
Die regelmässige
und energische Herz¬
action ist zurück¬
gekehrt
Die natürliche
Respiration ist
zurückgekehrt
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kehrte
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51' 30"
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—
Getödtet.
43
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lh 46' 43"
ja
M
Getödtet..
des Tliieres selbst eine Stunde dauerte, wenn
l i
man sicli meiner Methode bedient.
Dieselbe beruht darauf, dass man 1. künst¬
lich den Kreislauf wieder her stellt a ) mit Hilfe
der Herzmassage nach vorausgegangener Thorax¬
eröffnung und entsprechender Blosslegung des
Herzens, b) mit Injection einer entsprechenden
Menge physiologischer Kochsalzlösung in das
centripetale Ende der Cruralarterie; 2. ferner
darauf, dass man künstliche Respiration ver¬
mittelst eines mit der Luftröhre verbundenen
Blasebalges einleitet.
2. Wiederbelebung nach Chloroformtod.
Die Versuche führte ich in .ähnlicher Art und Weise aus, wie
die früheren, nur mit dem Unterschiede, dass ich das Thier zwang,
eine mit Chloroformdämpfen geschwängerte Luft einzuathmen, um
so dessen Tod herbeizuführen. Da das Chloroformiren der Thiere
mit Hilfe der sogenannten Maske zu viel Zeit beansprucht, bis der
Tod derselben eintritt, bediente ich mich in der Regel einer bis zu
einem gewissen Theilstriche mit reinem Chloroform gefüllten
W u 1 f sehen Flasche, die mit zwei Glasröhren versehen war. Eine
derselben reichte fast bis auf den Boden des Gefässes, während die
andere, die mit der Trachealcanule verbunden war, kaum um Weniges
den Flaschenstöpsel überragte.
Mit jedem Athemzuge wurde den Lungen ein gewisses Luft¬
quantum zugeführt, das mit Chloroformdämpfen gesättigt war, hin¬
gegen konnte mit der Exspiration blos eine geringe Kohlensäure¬
menge durch das Chloroform in die Flasche durchdringen. In Folge
dieses Verfahrens hat sich eine bedeutendere Kohlensäuremenge in
den Lungen angesammelt, so zwar, dass man stricte genommen
behaupten kann, das Thier sei nicht nur durch das Chloroform,
sondern auch durch die Kohlensäure wie bei der Erstickung ver¬
giftet worden.
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
457
Tafel II. Wiederbelebung nach Chloroformtod.
3
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Das Chloro-
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Beginn der directen
Herzmassage seit
dem Aufhören
Beginn der künstlichen
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nein
s
—
zeitig
nicht
nicht
zurück
zurück
3
6'
6' 30"
1' 30"
2'
1' 30"
2'
gleich-
2'
2'
2'
2'
ja
M
Getödtet.
zeitig
4
2' 30"
6' 40"
3' 50"
8'
3' 50"
8'
gleich-
1' 15"
2' 30"
9'
7' 45"
ja
S
_
Getödtet.
zeitig
5
U 40"
1' 30"
4'
3' 50"
4'
3' 50"
gleich
5'
5'
4'
1'
ja
s
8 Monate
8 Monate nach der
Wiederbelebung getödtet
zeitig
vor
durch Vernichten der
Medulla oblongata.
6
50"
50"
5'
5'
6' 40"
6' 40"
1' 40"
2' 50"
2' 50"
8'
5' 10"
ja
M
—
Getödtet.
7
6'
6'
5'
5'
4' 10"
4' 10"
50"
30"
33"
2' 36"
2' 6"
ja
M
_
Getödtet.
vor
8
9'
13'
5' 14"
9' 14"
5' 14"
9' 14"
gleich-
1' 40"
2'
30'
28' 20"
ja
M
Getödtet.
zeitig
9
2'
1' 40"
5' 20"
5'
40"
20"
4' 10"
V 30"
1' 30"
2'
30"
ja
M
—
Getödtet.
vor
10
4' 6"
4' 30"
5' 30"
5' 54"
5' 30"
5' 54"
gleich-
34"
34"
1' 36"
1' 2"
ja
S
Getödtet.
zeitig
11
8'
12' 30"
10'
14' 30"
10'
14' 30"
gleich-
1' 12"
12' 20"
45' 30"
44' 18"
ja
S
3 Stunden
Bluterguss in die
zeitig
linke Pleurahöhle.
12
1' 30"
2' 8"
11'
11' 38"
7'
7' 38"
4'
6'
9'
3' 50"
2' 10"
ja
s
—
Getödtet.
vor
vor
13
3' 20"
5' 30"
12'
14' 10"
12'
14' 10"
gleich-
kehrte
kehrte
kehrte
—
nein
s
—
zeitig
nicht
nicht
nicht
zurück
zurück
zurück
14
1 1' 20"
16' 50"
15'
20' 30"
15'
20' 30"
gleich-
14'
20'
27' 10"
13' 10"
ja
M
—
—
zeitig
15
3' 10"
5' 40"
15'
17' 30"
15'
17' 30"
gleich-
1' 45"
29' 20"
28' 20"
26' 35"
ja
M
2 Stunden
Getödtet.
zeitig
16
20'
20'
16'
16'
19'
19'
3'
11' 26"
25'
27'
15' 39"
ja
M
1 Stunde
Getödtet.
17
3' 10"
5' 45"
16'
18' 35"
16'
1 8' 35"
gleich-
kehrte
kehrte
kehrte
—
nein
S
—
—
zeitig
nicht
nicht
nicht
zurück
zurück
zurück
18
U 50"
2'
30'
30' 10"
30'
30' 10"
gleich
10' 30"
16' 30"
kehrte
—
nein
M
—
Oedema pulmonum
zeitig
nicht
zurück
acutum.
19
15'
14' 20"
47'
46' 20"
47'
46' 20"
gleich-
11'
23'
11» 12' 30"
lh 1' 30"
ja
M
—
Getödtet.
zeitig
20
6' 10"
8' 20"
D>
lfa 2' 10"
u*
lii 2' 10'
gleich-
14'
58'
lh 31'
lh 17'
ja
M
—
Getödtet.
zeitig
21
2' 10"
6' 30"
lh
li» 4' 20"
lh
l'i 4' 20'
(gleich-
20'
lh
in 42'
lh 22'
ja
M
Getödtet.
1
zeitig
Um die gleichzeitige Kohlensäurevergiftung auszuschallen,
habe ich zwischen W u 1 f’sche Flasche und Luftröhre noch ein
Glasrohr von T- oder U-Form eingeschoben und das freie Ende
desselben durch ein entsprechendes Ventil geschlossen; letzteres
öffnete sich im Momente der Exspiration, wodurch die ausgeath-
mete Luft sammt der Kohlensäure entweichen konnte. Unter dem
Einflüsse der allmäligen Chloroformvergiftung hörte bald die Athmung
auf, der Blutdruck sank ziemlich schnell bis auf Null und das
Herz hörte zu schlagen auf. Nach Eröffnung des Brustkorbes, sei
es mittelst Durchsägung des Sternums, oder aber mittelst Durch¬
schneidung mehrerer Kippen links, besichtigte ich sorgfältig das
blossgelegte Herz, und nachdem ich gesehen, dass es nicht eine
Spur irgend einer Bewegung verrieth, wartete ich noch wenige oder
auch 10 — 20 und mehr Minuten, entfernte hierauf dieWull'sche
Flasche, und nach Vereinigung der Luftröhre mit einem Blasebalg
begann ich das Herz mit den Fingern zu comprimiren, wobei
gleichzeitig der für den Blasebalg bestimmte Motor zu functioniren
begann.
Einige Zeit nach der begonnenen Massage erschienen gewöhn¬
lich die ersten selbstständigen Herzcontractionon, später kehrten die
Respiration und schliesslich auch die anderen Functionen wieder.
Die Zeitdauer, die nöthig war vom Anbeginn des (Jhloro-
formirens bis zur Sistirung der Athmung, schwankte zwischen
4 58
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 11)00.
Ni. 20
50" — 20'. Insbesondere betrug diese Frist 50", 1' 30" (in zwei
Fällen), 1' 40", 1/50", 2', 2' 10", 2'30". 3' 10" (in zwei Fällen),
3' 20", 4' 6", 6' (in zwei Fällen), 6' 10", 7' 10", 8', 9', 11' 20",
15% 20'.
Die Zeitdauer seit Beginn der Chloroformnarkose bis zur
Sistirung der Herzbewegung schwankte gleichfalls zwischen
50" und 20', und zwar betrug sie in den einzelnen Fällen:
50", 1' 20", 1' 30", 1' 40", 2', 2' 8", 4' 30", 5' 30", 5' 40",
5' 45", 6', 6' 30" (in zwei Fällen), 6' 40", 8' 20", 11' 20",
12' 30", 13', 14' 20", 16' 50", 20'.
Von dem Momente der Sistirung der Respiration bis
zum Aufhören der Herzthätigkeit verflossen: 10", 24", 30",
38", 2' 10" (in zwei Fällen), 2' 30", 2' 35", 4', 4' 10" (in zwei
Fällen), 4' 20", 4' 30", 5' 10".
ln drei Fällen hörten die Athembewegungen gleichzeitig
mit denen des Herzens auf, hingegen sistirten in vier Fällen
die Herzcontractionen vor der Respiration, und zwar in zwei
Fällen um 10", in einem um 20" und in einem Falle um
40" früher.
Die vom Momente des eingetretenen Todes
bis zum Beginne der Herzmassage verstrichene
Zeit betrug im Minimum 55", im Maximum eine
Stunde, und zwar 55", 1'30" (in zwei Fällen), 3'2", 3’ 50",
5' (bei zwei Thieren), 5' 14", 5' 20", 5' 30", 10', 11', 12', 15'
(in zwei Fällen), 16' (in zwei Fällen), 30', 47', lh (in zwei
Fällen).
Die künstliche Athmung begann in 16 Fällen gleichzeitig
mit der Herzmassage, in drei Fällen hingegen begann sie
früher, und zwar um 50", 4', 4' 10" vor letzterer. In zwei
Fällen wieder wurde sie später begonnen (1' 40", 3').
Die ersten selbstständigen Herzcontractionen kehrten
wieder, nachdem die Herzmassage 30", 34", 1' 12", 1' 15",
1 ' 30", 1'40", 1' 45", 2', 2' 50", 5', 6', 10' 15", 10' 30", 11',
11' 26", 14' (in zwei Fällen), 20' andauerte. In drei Fällen
sind selbstständige rhythmische Herzbewegungen nicht er¬
schienen.
Die regelmässige energische Herzthätigkeit kehrte wieder,
nachdem die Herzmassage 33", 34", 1' 30", 2' (in zwei
Fällen), 2'30", 2' 50", 5', 9% 11' 15", 12'20", 16'30", 20',
23', 25', 29' 20", 58', lh andauerte.
Die selbstständige Respirationsthätigkeit trat wieder auf
in Folge Herzmassage von nachstehender Dauer: 1 ' 36", 2'
(in zwei Fällen), 2' 36", 3' 50", 4', 5' 48", 8', 9', 27', 27' 10",
29' 20", 30', 45' 30", 1“ 12' 30", lu 31', lh 42'. In vier Fällen
kehrte der selbstständige Athem nicht wieder.
Die Zeit, die verstrichen seit dem Auftreten der ersten
selbstständigen Herzbewegungen bis zum Erscheinen des ersten
selbstständigen Athemzuges betrug: 30", 1' 2", 2', 2' 6",
5' 10", 7' 45", 13' 10", 15' 34", 26' 35", 28' 20", 44' 18",
lh 1' 30 ', l1' 17', lh 22'. In einem Falle trat der erste Athem-
zug 1', in einem anderen Falle 2' 10" vor der ersten selbst¬
ständige Herzcontractionen auf.
Die Wiederbelebung gelang bei 21 Ver¬
suchen 16 m a 1, d. i. in 76% aller Fälle.
In den fünf Fällen, wo die Wiederbelebung misslang,
kehrte zweimal die selbstständige Herzaction, nicht aber die
Respiration wieder, in einem Falle trat Respiration und keine
Herzthätigkeit auf, in zwei Fällen kehrte weder die Herzaction,
noch die selbstständige Athmung zurück.
Von den 15 wiederbelebten Hunden liess
ich einen, und zwar durch acht Monate, am
Leben, die anderen tödtete ich kurz nach der
Wiederbelebung.
Die Chloroformnarkose des acht Monate nach
dem \ ersuche am Leben gebliebenen Hundes
hatte 1'40" gedauert.
Die Herzcontractionen hörten in diesem Falle 10" vor
den Athembewegungen auf. Die Wiederbelebung begann 4'
nach dem constatirten Tode des Thieres. Nach 2' lang an¬
dauernder Massage und eingeleiteter künstlicher Athmung
kehrte der erste selbstständige Athemzug wieder und nach
einer weiteren Minute und 10" die ersten rhythmischen Herz¬
bewegungen.
Nachdem die Wunden genäht und der Hund vom Ope¬
rationstisch losgebunden, begann er schon nach wenigen Minuten
ziemlich rasch zu laufen und am Abend desselben Tages frass
er recht gierig. Trotz der Eiterung heilten beide Wunden im
Laufe von sechs Wochen; seitdem war am Thiere nichts Ab¬
normes wahrnehmbar.. Diesen Hund demonstrirte ich in der
Aerztegesellschaft am 11. November 1899.
Nach acht Monaten wurde das Thier durch Durch¬
schneidung der Medulla oblongata getödtet. Die Nekroskopie
ergab bis auf geringe Adhäsionen des äusseren Pericards mit
der Thoraxwand keine wesentlichen Veränderungen.
Beigeschlossene Tafel IT gibt die Zusammenstellung von
Experimenten über die Wiederbelebung nach Chloroformtod.
Auf Grund der ausgeführten Versuche be¬
hau p t e i c h, dass man die durch Chloroform ge-
tödteten Thiere auch dann wiederbeleben kann,
wenn vom Momente des Todes (d. i. nach Sisti¬
rung der Herz- und Respirationsthätigkeit) bis
zum Beginne der Herzmassage sogar eine
Stunde verflossen ist. (Schluss folgt.)
Aus der chirurgischen Abtheilung des Erzherzogin
Sophien-Spitales in Wien.
Beitrag zur Technik der Alexander’schen
Operation.
Vom Abtheilung-svorstande Primararzt Dr. Guido v. Török.
Anknüpfend an die in Nr. 14 dieser Zeitschrift publicirte
Abhandlung Prof. Ehrendorfer’s in Innsbruck über die
nach Alexander ausgeführte inguinale Verkürzung und
Befestigung der runden Mutterbänder bei Rückwärtslagerung
des Uterus, erlaube ich mir, über einen Fall zu berichten, bei
welchem die vorne über der Symphyse durchgeführte subcutane
Verknüpfung der Ligamenta rotunda nach Gardener ein
ganz vorzügliches Resultat zur Folge hatte.
Die Krankengeschichte dieses Falles ist kurz folgende:
E. K., 19 Jahre alt, hat niemals geboren und war bis zu ihrem
Eintritte in das Spital (16. Januar 1900) niemals bettlägerig. Patientin
soll aber seit vier Jahren an einem Ausfluss aus dem Genitale leiden
und muss angeblich sehr oft uriniren. Dabei sind zeitweilig Stuhl¬
verstopfung und Kreuzschmerzen vorhanden. Diese Schmerzen haben
in den letzten fünf Wochen bedeutend zugenommen und sind weiters
ischiadische Schmerzen im rechten Beine hinzugetreten, welche die
Kranke dermalen zwingen, eine Spitalspllege in Anspruch zu
nehmen.
Bei der auf die medicinische Abtheilung erfolgten Aufnahme
fand sich an den Brust- und Bauchorganen nichts Abnormes.
Die Untersuchung des Genitales ergab einen geringgradigen
katarrhalischen Fluor. Im Secret sind keine Gonococcen nachzu¬
weisen. An den Adnexen keine krankhafte Veränderung. Uterus
etwas vergrössert, nach allen Seiten leicht beweglich, jedoch in
starker Retroversionsstellung und etwas herabgesenkt. Portio dem¬
entsprechend knapp hinter dem Introitus mit dem Finger tastbar,
nach vorne gelagert. Im hinteren Scheidengewölbe fühlt man den
nach hinten verlagerten Uteruskörper. Derselbe kann leicht nach
vorne aufgerichtet werden.
Harn klar, keine abnormen Bestandtheile enthaltend.
Nachdem die Kranke wegen ihrer ischiadischcn Schmerzen
eine Zeit lang mit Salicyl, warmen Bädern und Faradisationen be¬
handelt worden war, ohne dass eine wesentliche Besserung des
Leidens constatirt werden konnte, so erfolgte am 12. Februar ihre
Transferirung auf die chirurgische Abtheilung behufs Heilung der
Uelroversio uteri durch Operation.
Da nun einerseits die dienende Berufsstellung der Patientin
das Tragen eines Pessariums nicht rathsam erscheinen liess, anderer¬
seits die Jugend der Kranken und die ganz freie Beweglichkeit des
Uterus (bei verhältnissmässiger Enge der Vagina) die Ausführung der
Alexander’schen Operation ermöglichten, so entschloss ich mich,
im letztgenannten Sinne vorzugehen.
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
453
12. Februar. Nach Rasirung dc'r Haare am Mons veneris und
nach gründlicher Reinigung und Desinfeclion der Ilaut wurde in
Narkose (mit B i 1 1 r o t h’scher Mischung) je ein Schnitt über beide
Leistencanäle ausgeführt. Es erfolgte dann die Spaltung der Apo-
neurose dos Musculus obliquus externus auf der Ilohlsondc bis zur
Höhe des inneren Leistenringes, worauf die Ligamenta rotunda
beiderseits bis zur Plica peritonealis freipräparirt und hervor¬
gezogen werden konnten. Diese Plica wurde auf 2 cm Distanz nach
oben hin stumpf abgelöst. Die Ligamenta rotunda sind jetzt vom
Tuberculum pubicum abgetrennt und am peripheren Ende mit
Klemmen fixirt worden ; sie liessen sich ohne Schwierigkeit vorziehen,
wobei eine Aufrichtung des Uterus constatirt werden konnte.
Hierauf machte ich einen kleinen, etwa 2 cm langen Schnitt in
der Linea alba unmittelbar über der Symphysis pubica, und führte
beiderseits eine Kornzange subcutan von hier aus bis in beide seit¬
lichen Operationswunden durch. Mit diesen Kornzangen wurden die
bisher mit Klemmen fixirt gewesenen peripheren Stümpfe der Liga¬
menta rotunda gefasst und bei der mittleren Incisionswunde über
die Insertion der Recti hinweggehend, subcutan herausgeleitet. Nun
erfolgte das kräftige Anziehen und die Knotung der Mutterbänder im
Bereiche dieser mittleren Schnittwunde in einem solchen Masse, bis
der in die Vagina eingeführte Finger eines Assistenten die vollstän¬
dige Hebung und Geraderichtung des Uterus erkennen liess. Jetzt
wurde der, beide Ligamenta verknüpfende, doppelte Knoten in sich
mit Seidennähten fixirt, durch Abschneiden von je etwa Sem langen
Ligamentstücken adjustirt und in der mittleren Incisionswunde ver¬
senkt. Die Befestigung der runden Mutterbänder wurde ferner auch
in den beiden seitlichen Operationswmnden entsprechend den Leisten¬
canälen durch je fünf tiefgreifende Nähte vorgenommen, wobei die
Inguinalcanäle in exacter Weise verschlossen werden konnten. Diese
Nähte fassten:
1. die Aponeurose des Obliquus externus,
2. die tiefe Muskelschichte,
3. das Ligamentum rotundum,
4. einen Theil des P o u p a r t’schen Bandes und des Cre¬
masters,
5. nochmals die Aponeurose des Obliquus externus.
Darüber erfolgte an allen drei Wunden die exacte Vernähung
der Haut. Verband mit Jodoformgaze.
Vollkommen reactionslose Verheilung. Patientin bleibt drei
Wochen im Bette und verlässt erst am 17. März 1. J. das Spital als
geheilt.
Die Untersuchung per vaginam ergibt bei der Entlassung der
Kranken, dass der Uterus sich in tadelloser Lage befindet.
Die Beschw'erden des Mädchens sind ebenfalls vollkommen
verschwunden und erscheint dasselbe wieder normal, arbeitsfähig.
Wie schon oft, so hat auch hier die Beseitigung der Lageverände¬
rung des Uterus der Patientin die normale Arbeitskraft wieder ver¬
liehen.
Es ist nicht beabsichtigt, hier auf die Indicationsstellung
und die erzielten Erfolge bei der A 1 e x an d e Eschen Operation
einzugehen. Die Operation hat sich bekanntlich in den letzten
Jahren immer mehr Anhänger erworben und wird in den ge¬
eigneten Fällen sicher Vorzügliches leisten. Nur bezüglich der
Technik der Operation möchte ich mir erlauben, überein¬
stimmend mit Prof. Ehrendorfer, J. Fabricius1),
Erlach u. A. zu bemerken, dass es in allen Fällen rathsam
ist, den ganzen Leistencanal in der oben beschriebenen Weise
freizulegen, auch wenn das Ligamentum rotundum noch vor
der Spaltung der Aponeurose des Musculus obliquus externus
vorne exact isolirt werden könnte; denn erst durch die Los¬
trennung des Ligamentes bis hinauf zur Ansatzstelle des Peri¬
tonealkegels erreicht das runde Mutterband eine genügende
Motilität, um in entsprechender Weise hervorgezogen werden
zu können. Auf letzteren Umstand ist das Hauptgewicht bei
Ausführung der Operation zu legen.
Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft nun die Fixirung
der Ligamenta rotunda. Bekanntlich erfolgt diese gewöhnlich
durch einfache Festnähung der runden Mutterbänder an die
Schichten des Leistencanales. In den meisten Fällen wird ja
diese Methode genügen; sie bietet jedoch bei etwas schlafferen
!) J. Fabricius, Centralblatt für Gynäkologie. 1895, Nr. 29.
Bauchdecken eine nur geringere Garantie gegen Recidive, denn
es erscheint dabei am Ligamentum rotundum nur ein seit¬
lich wirkender fixirender Zug angebracht. Es ist aber ein¬
leuchtend, dass dieser Zug viel intensiver und sicherer in
seiner Wirkung ist, wenn er vorne in der Längsrichtung des
runden Mutterbandes eingreift.
Aus diesem Grunde ist den Modificationen der A 1 e-
x a n d e Eschen Operation, w ie sie von Kocher, S e g o n d,
C a s a t i, D o 1 e r i s angegeben wurden, ein sichererer Erfolg
zuzusprechen.
Unter allen Methoden bietet aber die oben geschilderte
subcutane Zusammenknüpfung beider Ligamenta rotunda über
der Symphyse die grösste Garantie gegen Recidiven, denn es
bilden dabei der Musculus rectus abdominis dexter und sinister
das am wenigsten nachgiebige Postament, auf welchem die
Knotung zu ruhen kommt. Diese Methode Hesse sich nur dann
nicht ausführen, wenn man nicht genügend lange und kräftige
Stücke der L’gamente freipräpariren kann.
Es ist selbstverständlich, dass man bei allen Methoden
besonders darauf achten wird, den Leistencanal wieder exact
mit B a s s i n i’schen Nähten zu verschliessen, um ein even¬
tuelles Auftreten von Hernien zu vermeiden.
REFERATE.
Handbuch der praktischen Medicin.
Herausgegeben von W. Ebstein und J. Schwalbe.
Fünf Bände.
Stutt gart 1899, Enke.
Fünftes Referat (vide Nr. 6, 12, 42, 51, Jahrgang 1899 dieser Zeitschrift).
I. F. Kraus: Krankheiten der sogenannten Blut¬
drüsen.
II. H. Braun: Chirurgie der Blutgefässdrüsen.
III. G. Sticker: Krankheiten der Lippen, der Mund¬
höhle und der Speiseröhre.
IV. S. S c h e f f : Zahnkrankheiten.
V. P. K. P e h 1 : Krankheiten des Magens.
VI. A. Pribram: Krankheiten des Darmes.
VII. A. Epstein: Verdaungsstörungen im Säuglings¬
alter.
VIII. Die Krankheiten des Nervensystems. (IV. Band.j
Von Eulenburg, Kölliker, Nicolaie r, Obersteiner,
Redlich, Schmidt-Rimpler, Steinbrügge, Ziehen.
I. Mit dem Schlüsse der vierten und dem Anfänge der siebenten
Lieferung ist der dritte Abschnitt des Handbuches, die Erkrankungen
des Blutes und der blutbereitenden Organe, abgeschlossen. Der
Zweck des Werkes, Anhaltspunkte für die Praxis zu geben, der
bisher immer consequent zum Ausdruck gekommen, ist auch das
Leitmotiv der Krau s’schen Bearbeitung der Erkrankungen
der Blutdrüsen. Gerade hier wäre ja die Verlockung zu rein
wissenschaftlich-theoretischen Digressionen gewiss recht gross ge¬
wesen. Und doch geht schon aus einem flüchtigen Ueberblick die
Tendenz hervor, die der Autor befolgte, für die Praxis zu
schreiben.
Dementsprechend ist schon der Umfang der einzelnen Capitel
ein sehr verschiedener, besonderes Gewicht auf die praktisch wich¬
tigsten Erkrankungen, so z. B. die Scrophulose (diese aus der Feder
von T o b e i t z), verschiedene andere häufigere Lymphdrüsenkrank-
heiten und pathologische Zustände der Milz gelegt, während die
Erkrankungen der Thymus, der Hypophysis, der Carotisdrüse sich
auf die Erwähnung des Thymustodes, der Akromegalie etc. be¬
schränken.
Gelegentlich der Besprechung der Nebennieren und der
Thyreoidea sind vor Allem die A dd i s o n’sche und B a s e d o w’sche
Erkrankung mit jener Genauigkeit besprochen, die sie für die Praxis
verdienen. Wenn auch die orga notherapeutischen Prä¬
parate nicht einfach mit Stillschweigen übergangen sind, so zeigt
der Autor wohl schon durch den Kleindruck und die Knappheit
der Darstellung, dass er ihnen keine besondere Bedeutung vindi-
cirt. Eine Ausnahme machen natürlich die Präparate, die aus der
Thyreoidea gewonnen sind.
*
460
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 20
II. Wie schon bei anderen Gelegenheiten, so ist auch hier
der für den Praktiker so wichtige Zusammenhang der Chirurgie
mit der internen Medicin durch das eigene Capitel über die chi¬
rurgische Behandlung der Blutdrüsen (H. Braun)
zum Ausdruck gebracht.
*
III. Den Schluss der siebenten, sowie die achte, neunte und
elfte Lieferung des Werkes nimmt die Besprechung der Krank¬
heiten der Verdauungsorgane ein, ein Abschnitt, der
noch nicht complet vorliegt, sondern mit dem Beginn der Be¬
schreibung der Leberkrankheiten schliesst, die deshalb einer späteren
Besprechung Vorbehalten bleiben müssen.
Wie angegeben, vertheilt sich dev bisher erschienene Theil
dieses Capitels auf fünf Autoren. Die Einleitung bilden die Krank¬
heiten der Lippen, der Mundhöhle und der Speise¬
röhre (Sticker).
Der Verfasser beschränkt sich nicht auf die dem Gebiete des
Internisten im strengsten Wortsinne zukommenden pathologischen
Erscheinungen, sondern streift auch kurz die Neoplasmen, syphiliti¬
schen Affectionen und Wunden der Lippen und ist ganz besonders
bei den Mund- und Speiseröhrenkrankheiten, um die Darstellung
möglichst vollständig zu gestalten, oft gezwungen, sich auf das
Gebiet der Chirurgie zu begeben. Ausser den verschiedenen Formen
der Stomatitis interessiren vor Allem die Krankheiten der Speise¬
röhre, die umfassend, durch einige Illustrationen unterstützt, dar¬
gestellt sind.
*
IV. Wenn auch die Behandlung der Zähne — von der Land¬
praxis abgesehen, wo Extractionen oft nicht zu umgehen sind —
kaum je dem praktischen Arzte zufällt, so ist die Aufnahme des
äusserst knapp gehaltenen Capitels Zahnkrankheiten von
Sehe ff insoferne doch ganz zweckmässig, als ja die Hygiene der Mund¬
höhle, somit auch der Zähne so innig mit den Verdauungszu¬
ständen zusammenhängt, dass der Praktiker wenigstens oberflächlich
darüber orientirt sein sollte. Die Darstellung des Gegenstandes ist
in der That eine solche, dass sie nur für den praktischen Arzt
bestimmt erscheint, weit entfernt, jene Kunststücke und Feinheiten
in der conservativen und operativen Zahnheilkunde zu berühren,
die ja doch immer nur Domäne des Zahnarztes bleiben werden.
Der Autor beschränkt sich daher auf einige Worte über die Caries,
die Krankheiten der Pulpa und des Periosts, über die Extraction,
die Reinigung der Zähne und die Hygiene und Kosmetik der
Mundhöhle.
*
V. Hierauf folgt das umfangreiche Capitel über die Krank¬
heiten des Magens von P. K. P e h 1. In einer kurzen Einleitung
weist der Verfasser auf die Wichtigkeit der Kenntniss der Magen¬
krankheiten hin, jener Leiden, »die die Lebensfreude der damit
Behafteten in hohem Grade verbittern .... Jeder praktische
Arzt soll deshalb Magenarzt sein.«
Und noch eine Forderung stellt er auf: Individual i-
siren. Jeder Magen habe seine eigenen Capricen, man müsse
daher stets das kranke Individuum ebenso vor Augen haben,
wie die Krankheit als solche. Der »Allgemeine Theil« der Arbeit,
der in gleich ausführlicher Weise die Symptome, die Diagnose und
Behandlung der Magenkrankheiten im Allgemeinen bespricht, ist so
umfassend, dass sich der Verfasser im speciellen Theil umso kürzer
fassen konnte, ohne dass dadurch die Klarheit irgendwie gelitten
hätte. Auf Grund reichster eigener Erfahrung und ausführlicher
literarischer Angaben construirt er ein klares Gesammtbild und zeigt
dem Praktiker den oft so schwer zu findenden Weg zur richtigen
Erkenntniss der einschlägigen Krankheiten. Ein umfangreiches Lite-
raturverzeichniss beschliesst jeden der beiden Theile. Nicht so ganz
aut der Höhe wie die eigene Leistung des Autors stehen die Ab¬
bildungen, fast durchwegs dem C r u v ei 1 h i e r'schen Atlas ent¬
nommen. Wenn wir auch heute gerade in dieser Hinsicht etwas
verwöhnt, also schärfer im Urtheil sind, so wäre es doch mit
Rücksicht auf die Höhe, auf der die Reproductionstechnik heute
steht, lebhaft zu wünschen, dass diese Bilder in einer eventuellen
Neuauflage durch technisch vollkommenere ersetzt werden. Dann
ist an P e h l’s Arbeit gar Nichts auszusetzen!
*
VI. An sie reiht sich, die neunte und einen Theil der elften
Lieferung einnehmend, die eingehende Bearbeitung der Krank¬
heiten des Darmes von Pribram. Auch hier finden wir
wieder dieselbe Eintheilung, zuerst die allgemeine Symptomatologie
und Therapie, dann erst die specielle Pathologie des Darmes. Gerade
diese Gleichmässigkeit der Behandlung des Stoffes, die in jedem
Abschnitt wieder zu finden ist, erweckt den Eindruck einer ein¬
heitlichen, aus der Feder eines Autors stammenden Arbeit
und gibt Zeugniss von der trefflichen Redigirung des
ganzen Werkes.
Auf die einzelnen Capitel der P r i b r a nf sehen Arbeit einzu¬
gehen, verbietet sich von selbst. Ganz besonders fällt die Dar¬
stellung der verschiedenen Arten der Darmverengerung und Ver-
schliessung in die Augen, die nach jeder Richtung, vor Allem be¬
züglich der Diagnose und Behandlung, den Bedürfnissen des Prak¬
tikers vollkommen gerecht wird. Ebenso sind die entzündlichen
Krankheiten, besonders die verschiedenen pathologischen Zustände
des Cöcums und dessen Umgebung ausserordentlich umfassend dar¬
gestellt und zeugen von der reichen Erfahrung und eingehendsten
Literaturkenntniss des Verfassers. Eine nur flüchtige Beleuchtung
erfahren jene infectiösen Erkrankungen, die, wie die Amöbendysenterie,
die bacterielle Form der Ruhr u. dgl. von geringerer praktischer Be¬
deutung sind. Zu cursorisch vielleicht ist die Besprechung der
Geschwürsprocesse, vor Allem der Tuberculose des Darmes, die ja
gerade für den praktischen Arzt von so enormer Wichtigkeit sind.
Nach kurzer Erwähnung der Darmneurosen und der Erkrankungen
der Darmgefässe, besonders der Hämorrhoiden, schliesst die lesens-
werthe, umfassende Bearbeitung des so wichtigen Stoffes mit der
Besprechung der Darmschmarotzer und deren Behandlung.
*
VII. Die letzte der complet vorliegenden Arbeiten ist die über
die Verdauungsstörungen im Säuglingsalter von
Epstein. Gewiss wird jeder Praktiker die Aufnahme dieses eigent¬
lich der Kinderheilkunde angehörigen Capitels mit grosser Freude
begrüssen, da es wohl keinem erspart bleibt, in diesbezüglichen
Fragen sein Votum als Hausarzt abzugeben. Der Autor sagt denn
auch in der Einleitung ausdrücklich, dass er, dem Zweck des »Hand¬
buches « entsprechend, »das Bedürfniss des ausübenden
Arztes im Auge behalten und demselben einen
Leitfaden zu geben versuchen« wolle. Wiederum ist es
der allgemeine Theil, in dem der Leser alles Wissenswerthe über
die Untersuchung der Kinder, die Diagnose aus den Excreten, über
die natürliche und künstliche Ernährung, die Diätetik der Stillenden
und über die Behandlung der Verdauungskrankheiten so genau er¬
fährt, dass die Besprechung der einzelnen Krankheitsformen eine
relativ cursorische sein konnte, ohne dass der Verfasser dadurch
irgend etwas schuldig geblieben wäre. Sehr ausführlich ist das der
Arbeit angehängte Literaturverzeichniss.
Was weiter von den Erkrankungen der Verdauungsorgane
vorliegt (Krankheiten der Leber von Epstein) ist noch nicht
vollständig erschienen; ebenso liegen die Capitel: Krankheiten der
Harnblase von K ü m m e 1 und Gehirnkrankheiten von Ziehen
erst theilweise vor. Hoffentlich gelangen die noch fehlenden
Lieferungen recht bald in unsere Hände, da sich gewiss jeder Leser
des Handbuches schon wünscht, das Werk recht bald vollständig
in Händen zu haben. J)
*
VIII. Mit dem vorliegenden IV. Band des Handbuches nähert
sich das schöne Unternehmen seinem Abschluss, nachdem es vor
kaum zwei Jahren begonnen hat. Ein Blick auf die Namen der
Autoren dieses Bandes, unter denen wir auch zwei Vertreter der
Wiener Schule finden, lässt von vorneherein das Beste erwarten.
Und in der That ist es den Verfassern gelungen, den schwierigen
Gegenstand in einer so zusammenhängenden, einheitlichen und
klaren Weise zur Darstellung zu bringen, dass auch der von den
wissenschaftlichen Centralstellen fern lebende Praktiker an der Hand
solcher Führer relativ leicht den Weg durch die oft recht schwierigen
Gebiete findet. Dadurch ist auch in diesem Bande der Zweck des
Handbuches vollkommen erreicht: der praktische Arzt findet darin
Nach Drucklegung dieses Referates sind sechs weitere Lieferungen
erschienen, so dass nur mehr drei Hefte ausständig sind,
Anmerkung des Referenten.
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
461
gerade das, was er für die Praxis braucht, ohne gezwungen zu
sein, aus specialistischen Detailfragen und complicirten Einzelheiten
selbst die praktischen Consequenzen zu ziehen. Alles das haben
ihm die Verfasser erspart, indem nur das gebracht ist, was zum
Verstündniss des Ganzen nothwendig ist und Gemeingut aller Aerzte
sein soll.
Ausser den Krankheiten des Hirns und der Hirnhäute, des
Rückenmarks, der peripheren Nerven und allgemeinen Neurosen
sind eigene Abschnitte auch den pathologischen Zuständen des
Auges und des Ohres in ihren Beziehungen zur inneren Medicin,
sowie eine compendiöse Darstellung der Chirurgie des Central¬
nervensystems und der peripheren Nerven in den Kreis der Be¬
trachtungen aufgenommen .
Die ganze 10. und der Anfang der 15. Lieferung ist durch
die Besprechung der Krankheiten des Hirns und der Hirnhäute von
Ziehen (Jena) eingenommen. Wie überall, so ist auch hier wieder
ganz besonders auf den allgemeinen Tlieil Rücksicht genommen,
der einerseits die anatomischen und physiologischen Verhältnisse
des Gehirns, zum Theil durch Zeichnungen und Schemen illustrirt,
anderseits die pathologischen Vorbemerkungen, die Untersuchungs¬
methoden etc. auseinandersetzt. Den speciellen Theil sucht der Ver¬
fasser aus Gründen der Uebersicht in ein System zu bringen, in¬
dem er von den Hirnkrankheiten die circulatorischen, entzündlichen,
neoplastischen, traumatischen, primär- parenchymatösen und die
Wachsthumsstörungen unterscheidet, während er bei den Erkran¬
kungen der Meninx sich an die Eintheilung in die der Dura und
der Arachnoidea und Pia hält. Ein ausführliches Literaturverzeich-
niss folgt jedem einzelnen Capitel.
Die hierauf folgende Besprechung der Krankheiten des Auges
von Schmid t-Rimpler (Göttingen) beschränkt sich, dem Zweck
des Buches folgend, auf die Anführung jener Leiden des Sehorganes,
die für den praktischen Arzt durch ihren Zusammenhang mit inneren
Krankheiten von Wichtigkeit sind. In erster Linie sind es die bei
Nervenerkrankungen zur Beobachtung kommenden Störungen, z. B.
die Stauungspapille, Augenmuskellähmungen, Veränderungen der
Pupille etc., ferner Augenleiden, die als Begleiterscheinungen bei
Krankheiten der Respirations- und Circulationsorgane (Embolie u. dgl.),
bei Leukämie, Morbus Basedowii, Nephritis (Retinitis), Tuberculose,
Diabetes, Hautkrankheiten Vorkommen und als Folge von Intoxica-
tionen auftreten.
Ganz analog ist das nächste Capitel, die Krankheiten des
Ohres in ihren Beziehungen zur inneren Medicin von Steinbrügge
(Giessen) durchgeführt. Auch hier finden wir alle jene Erkrankungen
des Gehörorganes kurz erwähnt, die mit inneren Leiden in einem
Causalnexus stehen. Ausführlicher als die übrigen Zustände ist die
Darstellung des unter dem Namen der M e n i e r e’schen Krankheit
bekannten Symptomencomplexes.
Weiter folgen die Erkrankungen des Rückenmarks von Ob er¬
st ein er und Redlich (Wien). Einige Bilder von Querschnitten
der Medulla spinalis, Radiographien (Syringomyelie) erleichtern das
Verständniss wesentlich. Wenn auch jede der einschlägigen Krank¬
heiten Erwähnung findet, so Lessen sich die Verfasser in Bezug
auf die Ausführlichkeit der Darstellung einzig und allein von der
praktischen Wichtigkeit der verschiedenen Erkrankungen leiten. Es
sind daher in erster Linie die acute und chronische Myelitis, die
diversen Formen der Poliomyelitis, ferner die Syringomyelie und
Tabes, die entsprechend ihrer Bedeutung für den praktischen Arzt
eine eingehende Besprechung erfahren. Jeder wird den beiden
Autoren Dank wissen für die treffliche, klare Bearbeitung des com¬
plicirten Stoffes.
Fast die ganze 18. Lieferung des Handbuches ist von dem
die Krankheiten der peripheren Nerven behandelnden Abschnitte
eingenommen; er stammt aus der Feder Eulenburg’s (Berlin).
Nach kurzen physiologischen Vorbemerkungen, Schilderung der
Untersuchungsmethoden u. dgl. wird das wichtige Krankheitsbild
der Neuritis schon im allgemeinen Theile ausführlich besprochen,
während der specielle Theil den Erkrankungen der einzelnen Nerven,
deren Darstellung dadurch entsprechend oberflächlicher sein kann,
Vorbehalten ist. Aus jedem Abschnitte spricht das Bestreben, für
die Praxis zu schreiben; dementsprechend sind gerade jene Leiden,
die den Praktiker so oft beschäftigen, wie z. B. Neuralgien im
Trigeminusgebiete, Lähmung des Facialis, Ischias etc. in den
Vordergrund gerückt, ganz besonders auch in Bezug auf die
Therapie sehr ausführlich besprochen, während andere Krankheiten
wegen ihrer geringen praktischen Bedeutung eine nur oberfläch¬
liche Darstellung erfahren.
Von den allgemeinen Neurosen sind in erster Linie die um¬
fangreichen Capitel über die Neurasthenie, Hysterie, Hypochondrie,
ferner Chorea, Epilepsie, Paramyoclonus u. A. m. von Jolly (Berlin)
sehr ausführlich bearbeitet. Audi der Diabetes insipidus und die
Seekrankheit werden in diesem Abschnitte besprochen. Die Be¬
arbeitung des Tetanus aus der Feder von Nicolai er (Göttingen),
sowie einiger funclioneller Sprachstörungen (Stottern, Taubstumm¬
heit etc.) von Ziehen (Jena) beschliessen diesen Abschnitt. Als
letztes Capitel des vierten Bandes ist die Besprechung der Chirurgie
des Nervensystems von Kölliker (Leipzig) mit kurzer Beschreibung
der Operationen und deren Indicationen angereiht. Wenn auch der
Praktiker niemals Gelegenheit haben wird, eine solche Operation
selbst auszuführen, so ist es doch andererseits von der grössten Be¬
deutung, über die Indicationen zur Ausführung einer chirurgischen
Behandlung genau orientirt zu sein, um kein Mittel unversucht zu
lassen, wenn es sich um die Genesung seines Kranken handelt.
Gerade dieses Hinübergreifen auf andere Gebiete, die Be¬
sprechung der Chirurgie in ihrem Zusammenhang mit der internen
Medicin, der Erkrankungen des Auges und Ohres, so weit sie von
inneren Krankheiten abhängig sind, ist es, was das vorliegende
Handbuch ganz besonders auszeichnet. Nicht minder bestechend
wirkt die schon wiederholt erwähnte einheitliche Darstellung
des Stoffes, die thatsächlich den Eindruck erweckt, als hätte das
ganze Werk einen Verfasser. Auch äusserlich kommt diese Ein¬
heitlichkeit schon durch die Eintheilung der einzelnen Bände und
das jeweilige Sachregister zum Ausdruck. Es fehlen nur noch wenige
Lieferungen und das Handbuch wird complet vorliegen. Bleiben die
noch ausständigen Theile, woran wohl kaum zu zweifeln ist, auf
der Höhe der bisher erschienenen, so wird jeder objectiv urtheilende
Leser das Werk als eine erfreuliche Bereicherung der Literatur an¬
erkennen. v. Weismayr.
I. Bericht über den Congress zur Bekämpfung der Tuber¬
culose als Volkskrankheit. Berlin, 24. bis 27. Mai 1899.
Herausgegeben von der C'ongressleitung. Unter Mitwirkung der Abtheilungs-
vorstände, redigirt von Dr. Pannwitz.
Deutsches Centralcomite zur Errichtung von Heilstätten für Lungen¬
kranke.
Berlin 1899.
II. Les Sanatoria.
Traitement et Prophylaxie de la Phthisie pulmo-
n a i r e.
Von J. A. Knopf.
Paris 1900, Carre & N a u d.
I. Ein umfangreicher, schön ausgestatteter Band, das officielle
Protokoll über den im Mai v. J. stattgehabten Congress zur Be¬
kämpfung der Tuberculose in Berlin, von Pannwitz in kurzer
Frist zusammengestellt, gibt Zeugniss von der Fülle der Arbeit, die
damals in der deutschen Metropole bewältigt wurde.
Nicht nur die Referate und Vorträge die wirklich gehalten
worden sind, sondern auch die sehr zahlreichen zur Discussion an¬
gemeldeten Themen, die wegen Mangel an Zeit nicht zur Sprache
kommen konnten, sind im vorliegenden Berichte abgedruckt; ebenso
die Eröffnungs- und Schlussreden, die Verzeichnisse der Mitglieder
und Delegirten der verschiedenen Länder, die zur Vertheilung ge¬
langten Druckschriften, die ausgestellten Heilstättenpläne u. dgl. m.
Darum wird dieser Bericht, den das Centralcomite allen Delegirten
auf dem Wege der Regierungen zukommen lässt, der auf diese Art
in aller Herren Länder gelangt, nicht nur jedem Congresstheilnehmer
ein erwünschtes Andenken sein, sondern auch Jeder der den Con¬
gress nicht besucht hat, wird aus der grossen Menge der Vorträge
und Referate Nutzen ziehen können, da wohl die Prophylaxe und
Therapie der Tuberculose kaum irgendwo eingehender behandelt,
von mehr Seiten beleuchtet sein kann, als es in diesem Berichte
der Fall ist. Deshalb ist dem Werke die weiteste Verbreitung leb¬
haft zu wünschen.
*
II. Eine ausführliche Wiedergabe der Geschichte der Tuberculose
und deren Behandlung, die mit Hippo k rates beginnt und mit
402
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 20
dem Congress zur Bekämpfung der Tuberculose in Berlin (1899)
sehliesst, eröffnet das stattliche Werk des Verfassers. Gelegentlich
der Erwähnung der Opposition mancher Gemeinden gegen die
Gründung von Heilanstalten, erzählt Knopf auch von den Kämpfen,
die hei uns stattfanden, ehe man in Alland den definitiven Platz
gefunden. In recht ironisch-witziger Weise schildert er die Furcht
der Einwohner des zuerst gewählten Ortes, dahin gehend, die reichen
Kranken würden ausbleiben, wenn die Anstalt für die Armen einmal
dastehen werde. So entschied man sich für einen anderen Ort
.... et au grand etonnement des bons viilageois de la place designee
auparavant, les clients du grand professeur (des Gründers der An¬
stalt) vont a present dans le voisinage du sanatorium erige pour
les pauvres«.
Die zunächst folgenden Capitel bringen statistische Daten über
die Sterblichkeit in Folge von Tuberculose, sowie über die ana-
lomischen und klinischen Beweise der Heilbarkeit dieses Leidens
und die Dauer der Heilung. In der Form eines Sammelreferates
werden ferner die verschiedenen Infeclionsmöglichkeiten und deren
Abwehr auseinandergesetzt. Das nächste Capitel zeigt uns den Kampf
der verschiedenen Länder gegen die Schwindsucht; der Verfasser
citirt die eventuellen Gesetze und Verhaltungsmassregeln bezüglich
der allgemeinen Prophylaxe. Oesterreich kommt dabei ziemlich
schlecht weg, ohne dass dem Autor daraus ein Vorwurf gemacht
werden könnte; er anerkennt die Thätigkeit des Vereines »Heilanstalt
Alland«, der ja in Cisleithanien bis nun einzig und allein die Be¬
kämpfung der Tuberculose sich zur Aufgabe gemacht hat.
Interessant sind die Vorkehrungen in anderen Ländern, so
z. B. in Australien. In Sydney ist es bei Strafe von 25 Francs unter¬
sagt, in einem öffentlichen Local oder auf der Strasse auf den Boden
zu spucken. Auch die Gesetze zur Bekämpfung der Viehtuherculose
und deren Uehertragung auf den Menschen sind dort streng ge¬
regelt. Ganz besonders aber stehen in dieser Hinsicht Frankreich
und die Vereinigten Staaten von Nordamerika obenan. Eine auch
nur cursorischc Wiedergabe der betreffenden Gesetze und Vorschriften
verbietet sich von selbst.
Die folgenden Capitel besprechen von rein ärztlichen Stand¬
punkt alle zur Verhütung der menschlichen und thierischen Tuber¬
culose nöthigen Massregeln, sowie die Behandlung der Krankheit
und bilden auf diese Weise den Uebergang zu dem Ilaupttheil des
Werkes, der Beschreibung der bestehenden Sanatorien und Heilstätten
für Tuberculose. In alphabetischer Reihenfolge der einzelnen Länder
zählt der Verfasser einen grossen Theil der zur Zeit der Heraus¬
gabe des Buches schon belegten Heilstätten für Arme und Sana¬
torien für Reiche nicht nur auf, sondern bringt von jeder einzelnen
Anstalt eine eingehende Beschreibung und Bilder, die eine klare
Vorstellung gestatten. Dass in dieses Capitel nicht alle bestehenden
Anstalten aufgenommen werden konnten, ohne den Umfang des
Werkes über Mass zu vergrössern, geht schon aus der darauf¬
folgenden Tabelle hervor, in der der Verfasser die sämmtlichen Heil¬
stätten übersichtlich aufzählt, im Ganzen über 160, darunter an 50
in Deutschland, 26 in Grossbrilannien, 33 in Amerika u. dgl. m.
In einem kürzeren Capitel beschreibt Knopf ein »ideales Sana¬
torium«; »ideal« nicht in der bekannten Bedeutung, dass wir es so nie
erreichen können, sondern vielmehr nur im Sinne des »Mustergültigen«
in Bezug auf Lage, Bau und Einrichtung. Die Forderungen, die er
ausspricht, sind durchwegs zu unterschreiben; wenn die Anstalt
aber so wird, wie er sie in Fig. 63 abbildet, so mag sie sehr
praktisch sein, aber schön ist sie gewiss nicht. Dieses nur im Mittel-
tract mehrstöckige, in den langen Flügeln aber einstöckige Gebäude
sieht, auf dem Bilde wenigstens, einem Eisenbahnperron ähnlicher
als einem Sanatorium. Das ist übrigens eine Frage, die der Architekt
zu lösen hat: vom hygienischen Standpunkte kann gegen Knopf’s
Musteranstalt nichts eingewendet werden.
In ausführlicher Weise bespricht der Verfasser die in den An¬
stalten gebräuchlichen und zweckmässigsten Gefässe zum Auffangen
des Sputums. Die Schrotte r’sche Papier-mache-Schale scheint
ihm nicht bekannt zu sein, dagegen bildet er eine »tasse-crachoir
bygienicjue« ab, ein Aluminiumgefäss, das mit undurchlässigem Papier
ausgelegt ist. Dieses wird sammt dem Sputum leicht heraus
genommen — es ist in Form einer Tasche gefaltet — und ins
Feuer geworfen. Nicht uninteressant ist es, zu erfahren, dass im
Sanatorium von Dr. Trudeau (Saranac Lake) die Kranken statt
der Taschentücher — japanisches Papier verwenden, das nach der
Benützung ins Feuer geworfen wird; eine Idee, die entschieden Be¬
achtung verdient, da ja Taschentücher stets als inficirt zu be¬
trachten sind.
Die folgenden Capitel beschäftigen sich mit der hygienisch¬
diätetischen Behandlung der Tuberculose in und ausser der Anstalt;
der Verfasser bespricht eingehend die medicamentöse und sympto¬
matische Therapie, die Behandlung etwaiger Coinplicationen, der
Larynxtuherculose, sowie die Behandlung in Specialanstalten in
Städten. Wir müssen, sagt er zum Schluss, dahin kommen, die
Tuberculose verschwinden zu machen; aus vollem Herzen sehliesst
er sich der Meinung des unsterblichen Pasteur an: »II est
dans le pouvoir de l’homme de faire disparaitre
to utes les maladies parasitaires du monde«.
Mit Rücksicht darauf, dass bisher keine ähnliche Arbeit
existirt, die in so eingehender Weise über die Sanatorienbehandlung
der Tuberculose Aufschluss gibt, wie gerade die vorliegende, ist die
Lecture Jedem wärmstens zu empfehlen. Die Ausstattung des an
500 Seiten starken Werkes ist in jeder Hinsicht tadellos.
v. Weis m a y r.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
129. Ueber die Vererbung der Agglutinin e bei
choleraimmunisirten Meerschweinchen. Von Doctor
Dieudonne (Würzburg). Bis jetzt sind im Blutserum drei
Gruppen von Schutzstoffen entdeckt worden, die im Kampfe des
Organismus mit den Bacterien sonder Zweifel eine wichtige Rolle
spielen. In die erste Gruppe gehören die Antitoxine, deren
Wirksamkeit darin besteht, die von gewissen Bacterien (besonders
Diphtherie und Tetanus) gebildeten, giftig wirkenden Stoffwechscl-
producte (Toxine) unschädlich zu machen. Sie finden sich bei vielen
gesunden Menschen, hei Neugeborenen, besonders aber nach er¬
worbener Immunität und bei künstlich immunisirten Thieren. Diese
Antitoxine wirken auch, wenn sie einem fremden Körper einverleibt
werden (Serumtherapie). Die zweite Gruppe bilden die bacterio-
lytischen Schutzstoffe, welche die lebenden Bacterien direct
tödten und namentlich bei Individuen Vorkommen, welche eine
natürliche oder künstliche Cholera- oder Typhusinfection durchge¬
macht haben. Sie verleihen demnach eine Bacterienimmunität und
wirken in der Weise, dass sie die Bacterien zur Auflösung bringen.
Diese bacterioly tischen Stoffe entfalten ihre Wirksamkeit im Wesent¬
lichen nur i m Thierkörper. Wurden in derselben Richtung Thiere
künstlich immunisirt, so besitzt das Serum dieser Thiere noch die
Fähigkeit, ausserhalb des Thierkörpers die entsprechenden
Bacterien in eigenthümlicher Weise zu beeinflussen: Die vorher be¬
weglichen Bacterien werden unbeweglich und kleben zu Häufchen
zusammen. Dies wird durch die dritte Art der Schutzstoffe bedingt,
welche von Gruber und Durham als A g glutinine he-
zeichnet werden. Bis jetzt ist weiters bekannt, dass die Antitoxine
durch die Milch — nicht durch Samen oder Eizelle — auf den
Säugling übertragen werden können. Hinsichtlich der anderen Schutz¬
körper ist in dieser Beziehung noch wenig bekannt geworden.
Dieudonne hat in zahlreichen Meerschweinchenversuchen ge¬
funden, dass die Agglutinine von den Eltern auf die Nachkommen
vererbt werden, und zwar in so höherem Masse, je hochgradiger
die Eltern immunisirt sind. Der Vater spielt dabei gar keine Rolle,
sondern ausschliesslich die Mutter. Diese Agglutinationswirkung
nimmt rasch ab und ist innerhalb von l'/2 — 2 Monaten völlig
verschwunden. Eine Vererbung der Agglutinine auf die Enkelgene¬
ration findet nicht statt. Eine Uebertragung der Agglutinine durch
die Säugung findet beim Meerschweinchen nicht statt. — (Fest¬
schrift zum 50jährigen Jubiläum der physikalisch-medicinischen
Gesellschaft zu Würzburg. Stüber, Würzburg 1899.)
*
130. (Aus dem pathologischen Institute zu Königsberg.)
Ueber chronische Myocarditis mit Ilerzaneu-
rysma im Kindesalter, zugleich ein Beitrag zur
Aetiologie derselben. Von Dr. Rosenstein. Ein elf¬
jähriger Knabe, dem in Narkose ein vom Becken ausgehender kalter
Abscess eröffnet worden war, starb zwei Tage nachher. Bei der Ob-
duction wurde, abgesehen von tuberculösen Herden in verschiedenen
Organen, an der Spitze des linken Ventrikels eine ausgebuchtete,
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
endocarditische Schwiele gefunden. Trotzdem die mikroskopische
Untersuchung .keine tuherculösen Herde an dieser Stelle finden
liess, glaubte man doch annehmen zu müssen, dass von einer ur¬
sprünglich vorhandenen chronischen — wahrscheinlich tubor-
culösen — Pericarditis der tuberculöse Entzündungsprocess auf das
Mvo- und Endocard übergegriffen, zur Schwielenbildung und damit
zur Entstehung eines Aneurysmas an der Herzspitze geführt habe.
Ueber Herzbeschwerden hatte der Knabe nie geklagt gehabt. —
(Zeitschrift für klinische Medicin. Bd. XXXIX, Heft 1 und 2.)
*
131. Ueber einen Fall von Jodkalium parotitis.
Von Dr. Trautmann (München). Ein 32jähriger kräftiger Mann
hatte innerhalb 15 Tagen 12 g Jodkali, beziehungsweise 0'26 pro
dosi und 0'8 pro die genommen. Darauf trat eine heftige Entzün¬
dung der rechten Parotis auf, die spontan zurückging, als das Medi¬
cament ausgesetzt wurde. — (Münchener medicinische Wochen¬
schrift. 1899, Nr. 4.)
*
132. Zur Therapie und Aetiologie der Hals¬
lymphome. Von Dr. Jessen (Hamburg). Verfasser ist nach
seinen Erfahrungen überzeugt, dass die sogenannten Halslymphome
der Kinder fast immer von der Rachentonsille ausgehen; in zweiter
Linie kommen die Gaumentonsillen und weiterhin cariöse Zähne
als Eingangspforten für die jeweiligen Mikroben in Betracht. Ebenso
wie nun an anderen Körperstellen die regionären Drüsen nach Ent-
ternung des primären Krankheitsherdes abschwellen, ebenso soll
auch das hier der Fall sein. Zum Beweise dafür, dass nach ope¬
rativer Entfernung der Rachentonsille selbst lange, aber erfolglos
behandelte Halslymphome zurückgehen, werden sechs Krankenge¬
schichten vorgelegt, darunter zwei, in denen berichtet wird, dass
Fisteln, welche nach operativer Entfernung der Drüsenpakete zurück¬
geblieben waren und sich trotz aller Behandlung nicht schlossen,
in 8 — 14 Tagen verheilten, nachdem die Rachentonsille entfernt
worden war. — (Centralblatt für innere Medicin. 1899, Nr. 35.)
*
133. (Aus der inneren Abtheilung des Geh. R. B u rk a r t am
St. Johannes-Hospital zu Bonn.) Ein Fall von chronischer
Trionalvergiftung. Die 28jährige Dame hatte zur Bekämpfung
ihrer Schlaflosigkeit vom 15. Januar bis 3. Juni 1898 in regel¬
mässigen Zwischenräumen Trional genommen und davon während
der genannten Zeit 127 <7 verbraucht. Ende März fiel es den An¬
gehörigen der Patientin auf, dass diese schlecht aussehe, das linke
Bein beim Gehen etwas nachschleppte und neben einer zunehmenden
Mattigkeit eine gewisse psychische Depression zeigte. Von Ende
April ab wurden die Stühle dünn, fleischwasserähnlich und waren
mit viel Schleim vermengt; vom 11. Mai an bestanden Verstopfung,
kolikartige Schmerzen und einige Tage lang soll fast gar kein Urin
entleert worden sein. Der erste hernach unter grossen Schmerzen
gelassene Harn war burgunderroth. Dieser Farbstoff war nicht —
wie hei Salolvergiftung — durch Hämatoporphyrin, sondern durch
einen noch unbekannten Körper bedingt. Die weitere Untersuchung
des Harnes ergab das Bestehen einer Nephritis. Aus dem weiteren
Verlaufe der Krankheit, die einen Spitalsaufenthalt von vier Monaten
nöthig gemacht hatte, sind die oft auftretende Herzschwäche (Tachy-
cardie, Beklemmung, Blässe der Haut), die Sensibilitätsstörung im
Gebiete der Kreuzbeingegend und der unteren Extremitäten, die
motorischen Störungen in den letzteren besonders bemerkenswert!!.
Die Therapie hatte im Aussetzen des Medicamentes, Erhöhung der
Alkalescenz des Blutes (Natr. bicarb, und sulf.) und in allgemein
roborirender Diät bestanden. — (Berliner klinische Wochenschrift.
1899, Nr. 40.)
*
134. Dr. Schultz (Berlin) berichtet, dass in jüngster Zeit
in einem Monate 18 frische Trachomfälle beobachtet
werden konnten, was hei der relativen Seltenheit derselben in Berlin
recht auffallend war. Weitere Nachforschungen ergaben mit grosser
Wahrscheinlichkeit, dass die Infection in einem Badebassin ge¬
schehen und durch das Wasser vermittelt worden war. — (Berliner
klinische Wochenschrift. 1899, Nr. 39.)
*
135. Ist Chloroform ein Bandwurmmittel? Von
0. Leichtenstern (Köln). Dasselbe wurde von amerikanischen,
englischen und französischen Antoren, schliesslich von Graescr
4(13
in Bonn in folgender Form empfohlen: Rp. Ghlorof. 4-0, 01. croton,
gtt. I, Glyc. 300. S. auf einmal zu nehmen. Leichtenstern
hat es in 13 Fällen von Taenia saginata versucht, wobei nur
ein einziges Mal der Kopf mit abging; ja sogar als proglottiden-
treibendes Mittel hatte es sich schlecht bewährt. G r a e s e r hatte
mit dem Mittel in 37 Fällen von Taenia solium, die leichter
abzutreiben ist, einen vollkommenen Erfolg erreicht. Doch ist es
sehr fraglich, ob man gegen die letztere Bandwurmart das Mittel
anwenden solle, da nach dieser grossen Chloroformdosis Schlafsucht,
Sopor, selbst schwerer Gollaps beobachtet worden sind, andererseits
hiezu das gänzlich gefahrlose Koso vollkommen ausreicht. — (Die
Therapie der Gegenwart. 1899, Nr. 9.)
*
136. (Aus dem Augusta-Hospital in Köln.) Ueber Venen¬
thrombose bei Chlorose. Von Leichtenstern. Es wird
auf die Häufigkeit der Venenthrombose bei Chlorose hingewiesen.
Leichtenstern hat in einem Halbjahre acht Fälle constatirt
und aus der Literatur 86 derartige Fälle gesammelt. Sie betraf die
Venen der Unterextremitäten 48mal und die Gehirnsinus 29mal.
Oedem kann fehlen, manchmal auch der Schmerz! Es ist das
therapeutisch sehr wichtig, da die Thrombose übersehen und
Massage, Spazirengehen, Gymnastik etc. verordnet und die Gefahr
einer »Pulmonalembolie« provocirt werden könnte, und zwar um so
mehr, als die chlorotischen Thromben durch ihr lockeres Gefüge
— vielleicht in Folge des Reichtumes an Blutplättchen — aus¬
gezeichnet sind. Die Ursachen der Thrombcnbildung bei Chlorose
sind noch nicht ganz aufgeklärt. In Betracht kommen wohl die
geschwächte Triebkraft des chlorotischen Herzmuskels, Veränderun¬
gen an der Intima der Gefässwände und eine Veränderung der
Blutbeschaffenheit. — - (Münchener medicinische Wochenschrift.
1899, Nr. 48.)
*
137. Ueber das Vorkommen von Talgdrüsen in
der Schleimhaut des Mundes. Von Dr. D e 1 b a n c 0
(Hamburg). Es wurden zwei Fälle genauer beobachtet, in welchen,
wahrscheinlich in Folge einer entzündlichen Reizung, auf der
Wangenschleimhaut eine Menge gelb durchscheinender miliarer
Körner auftreten, die über die Oberfläche nicht oder nur ein
weniges emporragten, und von welchen die grössten Stecknadelkopf¬
grösse erreichten. Die mikroskopische Untersuchung erwies sie als
Talgdrüsen, als welche sie sich anderen von Haaren unabhängigen
Schleimhauttalgdrüsen anreihen dürften, wie den M e i h 0 nr sehen,
Tys on’schen, den Talgdrüsen im Bereiche des rothen Lippen¬
randes und jenen der kleinen Labien. — (Monatshefte für praktische
Dermatologie. Bd. XXIX, Nr. 8.)
*
138. Dass die Gonoccen die Ursachen verschieden localisirter
Entzündungsprocesse sein können, ist bekannt. Sie wurden als Er¬
reger von Salpingitis, von Endocarditis und ebenso in der Gelenk¬
flüssigkeit bei Tripperrheumatismus nachgewiesen, v. Leyden be¬
richtete im Vereine für innere Medicin zu Berlin über einen Fall
von diffuser eiterig-fibrinöser Peritonitis, welche
ausschliesslich durch Gonoccen hervorgerufen worden
war. — (Deutsche medicinische Wochenschrift. 1899, Nr. 52.)
*
139- Ein casuistischer Beitrag zur Schularzt-
fr age. Von Dr. Lohnstein (Berlin). Die Bestrebungen auf Ein¬
führung der Institution der Schulärzte wird von einem Theile der
Lehrerschaft mit der Motivirung bekämpft, dass sie für alle schul¬
hygienischen Fragen selbst genügend competent sei. Im Gegensätze
hiezu steht der hier mitgetheilte Fall, in dem ein wegen seines
Schichtstaares mit Erfolg operirter Knabe, der mit entsprechenden
Convexgläsern feine Druckschrift (Sn. (47) ziemlich fliessend lesen
konnte, auf blosse Anordnung des Schulrectors einer Blindenschule
überwiesen wird, dort mit der Erlernung der Blindenschrift sich
abquälen, trotz eines abgegebenen ärztlichen Attestes daselbst bleiben
muss und seine Entlassung erst nach Beschreiten eines langwierigen
Instanzenzuges erfolgen kann. — (Deutsche medicinische Wochen¬
schrift. 1899, Nr. 52.)
*
140. Drei Gastroenterostomien, eine Darm-
resection und zwei Enteroenterostomien an einer
Kranken mit Ausgang in Heilung. Von Prof. Kehr in
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 20
Halberstadt. Wegen eines alten Ulcusleidens wurde bei der 20jähri-
gen Kranken zuerst die Gastroenterostomie nach Hacker, wegen
des Auftretens der alten Symptome sechs Wochen später die
Enteroenterostomie nach Braun, aus gleicher Ursache etwa ein
halbes Jahr später die Gastroenterostomia antecolica anterior nach
W ö 1 f 1 e r ausgeführt. Trotz der vier Löcher im Magen, worunter
drei dem Abfluss dienten, kehrten die Beschwerden wieder, so dass
die Patientin nach drei Vierteljahren abermals laparotomirt wurde,
wobei constatirt werden konnte, dass die anfangs gut functionirende
Gastroenterostomieöffnung vollständig verschwunden war. Die
Wölfler'sche Schlinge wurde ahgelöst, resecirt, die abführende
Schlinge in den Magen eingenäht, die zuführende in den abführen¬
den Darmtheil eingefügt. Vorläufig befindet sich die Operirte wohl.
Kehr bevorzugt die Hacke r’sche Methode. — (Münchener medi-
cinische Wochenschrift. 1899, Nr. 49.)
*
141. (Aus der chirurgischen Privatklinik des Prof. Kehr in
Halberstadt.) Erster Fall von erfolgreicher Gastro¬
enterostomie wegen angeborener stenosirender
Pylorushypertrophie bei einem achtwöchigen
Säuglinge. Von W. Abel. Die ersten vier Wochen hatten keine
auffälligen Krankheitserscheinungen bestanden; erst nachher führten
das hartnäckige, niemals gallige Erbrechen nach der Nahrungs¬
aufnahme, der spärliche Stuhlgang, die Abmagerung, die peristalti¬
schen Bewegungen des dilatirten Magens, die Resistenz in der
Pylorusgegend zur Diagnose eines stenosirenden Tumors der
Pylorusgegend. Bei der glatt verlaufenen Operation nach W ö 1 f 1 e r
erwies sich der Pförtner nicht einmal für eine 3 mm dicke Sonde
durchgängig. Das Kind nahm gleich in der ersten Woche um 450 g
zu. — (Münchener medicinische Wochenschrift. 1899, Nr. 48.)
*
142. Ueber die Wirkung des Morphins und
einiger seiner Abkömmlinge auf die Athmung. Von
Dr. Impens (Brüssel). Aus sehr zahlreichen Thierversuchen er¬
geben sich folgende Schlüsse: Unter allen Substanzen der Morphin¬
gruppe wirkt Heroin mit der geringsten Dosis auf die Athmung.
Morphin fordert eine fünffache Gabe, Dionin eine zwölffache, Codein
eine 20fache, um einen noch nicht annähernden Effect zu erreichen.
Peronin hat nach einer 2 — 30fachen Dosis nur eine sehr geringe
Wirkung. Die Gefahr beim Gebrauche des Heroin ist eine viel
kleinere wie bei den anderen Präparaten, ist 2,5mal so gross heim
Morphin, zwölfmal beim Dionin, 20mal beim Codein. Stellt man
den Effect beim Peronin gleich 1, so ist er mit Dionin D4,
Codein 2, Morphin 2'5, Heroin 3'7. Die Energie jedes Athemzuges
wird heim Heroin erhöht, was zum Beispiel besonders für die
Phthise von Wichtigkeit ist, bei den anderen dagegen meist ver¬
mindert; Heroin ist nach Autor ein specifisches energisches Seda¬
tivum in Bezug auf die Athmung. Für den Menschen sollen die¬
selben Schlüsse gelten. — (Pflüger’s Archiv für Physiologie.
Bd. LXXVIII, Heft 11 und 12.)
*
143. Ein mit grossen Carboldosen behandelter
und geheilter Pestfall. Von M. A t k i n s o n. Es handelte
sich um einen Schotten mit Bubo der Inguinaldrüsen, bei dem
durch den Befund von Bacillen im Blute die Pest festgestellt
worden war. Derselbe bekam durch drei Tage vierstündlich
0 2 Carbolsäure in Pillen, von da ab etwas weniger. Carbolharn
war erst am 15. Tage aufgetreten, von welcher Zeit mit der Ver¬
abreichung des Medicamentes aufgehört wurde, zumal alle Er¬
scheinungen der Krankheit bis auf einen für die Incision reifen Bubo
nachgelassen hatten. (Lancet. 9. December 1899.)
*
144. Ueber einen Fall von milchweis sem Asci¬
tes hei syphilitischer Lebercirrhose. Von Dr. Pol¬
jak off (Moskau). Der Fall ist besonders im Hinblicke auf die
Arbeit aus der Klinik von Prof. B o z z o 1 o in Nr. 3 dieser
Wochenschrift von besonderem Interesse. Es handelte sich um eine
Irau mit syphilitischer Lebercirrhose und parenchymatöser Nephritis.
Bei der Punction des Ascites waren 9 Liter einer milchweissen
Flüssigkeit, dessen Farbe nicht erklärt werden konnte, da die Unter¬
suchung für Fett und Extractivstoffe nur 0'26% ergab. - — (Ber¬
liner klinische Wochenschrift. 1900, Nr. 1.)
*
145. (Aus dem pharmakologischen Institute in Bonn.)
Ueber das Kohlenoxyd im Tabak rauche. Von Pro¬
fessor Binz (Bonn). Es gibt dreierlei Gifte im Tabakrauche:
1. Das Nicotin, 2. die durch langsames Verbrennen entstehenden
Brenzkörper (Pyridin u. s. w.) und 3. das durch denselben Vor¬
gang entstehende Kohlenoxyd. Die Menge des letzteren Stoffes im
Rauche schwankte zwischen 0'6 bis 7‘6% unc^ ist umso grösser
je weniger Luft durch den Tabak durchgesaugt wird, beziehungs¬
weise je langsamer er verbrennt. Erst der Rauch von 600 Cigarren
würde in einem Zimmer von 64 m3 Rauminhalt den für einen
Menschen tödtlichen Procentsatz von 05 Kohlenoxyd erreichen.
Eine noch so geringe acute Vergiftung durch das Kohlenoxyd des
Tabakrauches ist demnach schwerlich zu befürchten; ob aber nicht
dadurch, dass jahrelang kleine Mengen von Kohlenoxyd ins Blut
des Rauchers übergehen, eine chronische Schädigung herbeigeführt
werden kann, wäre erst zu untersuchen. — (Deutsche Aerzte-
Zeitung. 1900, Nr. 1.)
*
146. (Aus der poliklinischen Abtheilung des Prof. Boas in
Berlin.) Der Einfluss der Menstruation auf die Thä-
tigkeit des Magens. Von Dr. Elsner. Verfasser hatte Ge¬
legenheit bei 14 menstruirenden Frauen mehrmals deren Magen¬
function zu prüfen. Dabei ergaben sich folgende Befunde: Geringe
Blutungen waren ohne Einfluss auf die Acidität des Magensaftes;
bei stärkeren Blutungen kann Hyperacidität auftreten, welche ent¬
weder die Folge eines von den Genitalien ausgehenden vasomotori¬
schen Reflexes oder einer directen Uebertragung des Genitalreizes
auf die Nervenbahnen des Magens ist. Bei noch stärkeren Blutungen
kann eine Verminderung der Magensaftabscheidung und damit
zugleich eine Hypacidität auftreten. — (Archiv für Verdauungs¬
krankheiten. Bd. V, Heft 4.)
*
147. Ein mit intracerebraler Injection behan¬
delter Tetanusfall. Von Gimlette (London). Der Fall
betraf einen 23jährigen gesunden Mann, welcher eine Woche nach
der Infection mit beginnenden Tetanussymptomen ins königliche
Seehospital aufgenommen worden war. Die beiden ersten Tage
wurden Brom und Chloral versucht, am dritten Tage jedoch zwei
intracerebrale Injectionen von concentrirtem Serum, und zwar von
je 2 5 cm3 in jede Schädelhälfte ausgeführt. Dazu kam ausserdem
noch eine Injection von 10 cm3 gewöhnlichen Serums, welch letztere
noch durch weitere zehn Tage wiederholt wurde. Irgendwelche Er¬
scheinungen von Seite des Gehirnes in Folge des Eingriffes waren
nicht beobachtet worden. Der Fall endete mit Heilung, welche
Verfasser vollständig der Wirksamkeit des Antitoxins zuschreibt.
— (Lancet. 1899, Vol. II, Nr. 2.)
*
148. Endemische Bad- Conjunctivitis. Von Doctor
Fe hr (Berlin). In Nr. 39, 1899 der Berliner klinischen Wochen¬
schrift hat Schulz über 18 junge Leute berichtet, welche mit
echtem Trachom an die Poliklinik zur Beobachtung gekommen
waren und die im vergangenen Sommer eine bestimmte Badeanstalt
besucht hatten. In derselben Zeit kamen an der Augenheilanstalt
des Prof. Hirschherg 40 Fälle von Augenbindehauterkrankungen
zur Beobachtung, welche anfangs auch für Trachom gehalten
wurden, aber erst durch den Verlauf als gutartige Conjunctivitiden
erkannt worden waren. Die betreffenden Personen hatten alle das¬
selbe Bad besucht gehabt wie jene, über welche Schulz be¬
richtet hatte. — (Berliner klinische Wochenschrift. 1900, Nr. 1.)
Pi.
THERAPEUTISCHE NOTIZEN.
Für die im Haushalte schwierig herzustellenden Fleischsäfte
werden solche fabriksmässig bereitet und in den Handel gebracht. Zu
diesen gehört auch der von Dr. Scholl in Thalkirchen bei München
hergestellte F 1 e i s c h s a f t Puro, dessen Darreichung von Prof.
Mendelsohn bei Anorexie, unstillbarem Erbrechen, Ulcus ventriculi,
überhaupt bei verschiedenen Zuständen, welche eine Schonung des
Darmes beanspruchen, als sehr werthvoll bezeichnet ward. — (Wiener
medicinische Presse. 1900, Nr. 9.)
*
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
465
Dr. Beuttner in Genf bait das Salipyrin für angezeigt
bei den Meno- und Metrorrhagien verschiedenster Art und ganz be¬
sonders bei den prämenstruellen und menstruellen psychischen
Depressionszuständen. — (Correspondenzblatt für Schweizer Aerzte.
1900, Nr. 2.)
*
Dr. R i e c k in Bassum äussert sich über das Ge o s o t
(Valeriansäureester des Guajacols), dass dasselbe nicht nur ein sonst
brauchbares, ungiftiges Antisepticum sei, sondern ein Tuberculose-
Heilmittel mit geradezu „specifisch“ zu nennender Wirkung. Das
Beispiel einer Anwendung bei Erwachsenen wäre folgendes: Rp.
Geosot (Dr. Wendt) 10 0, Tinct. gentian. 20 0. D. S. drei- bis viermal
täglich 15 — 30 T ropfen.
*
Buchanan (Bengalien) berichtet, dass er in 555 Fällen von
Dysenterie Magnesium- beziehungsweise später Natriumsulfat mit sein-
gutem Erfolge angewendet habe: es waren im Ganzen nur fünf Todes¬
fälle zu verzeichnen gewesen. — (Brit. med. Journ. 10. Feb. 1900.)
Pi.
EINGESENDET.
Hochgeehrter Herr Redacteur!
Die neueste Wendung in dem Sensationsprocesse Hilsner muss
jedem Arzte, dem die Ehre seines Standes am Herzen liegt, eine pein¬
liche Empfindung verursachen; sind doch die meisten Conclusionen,
die die Gerichtsärzte aus der Autopsie gezogen hatten, durch ein
Facultätsgutachten als unrichtig oder unerwiesen dargestellt worden.
Wenn wir nach dem jüngsten, die Bevölkerung aufregenden und auf¬
reizenden Processe uns mit gutem Gewissen sagen durften, wir Aerzte
haben unter schwierigen Verhältnissen unsere Pflicht gethan, so gut
wir es konnten, und so gut, wie jeder andere Stand, so muss diesmal
leider eingestanden werden, dass in einer Capitalaffaire in relativ ein¬
fachen Fragen zwei Gutachten sich diametral entgegenstehen. Ist das
nicht für das Ansehen des Standes schlimmer als der Process Stell¬
bogen, als Meisterkrankencassen etc., muss das nicht Hunderte in die
Hände der Homöopathen und Naturheilkünstler treiben? Und doch
kann die Desavouirung des ersten Gutachten durch die Facultät nicht
Wunder nehmen.
Wer viele Sectionen gesehen hat, der kennt auch die Schwierig¬
keit der Beurtheilung, er weiss, dass selbst Derjenige, der sein Leben
der pathologischen Anatomie gewidmet hat, nicht allzu selten vor un¬
lösbaren Räthseln das Messer niederlegen muss. Ist die Natur doch
nicht nur im Schaffen, sondern auch im Zerstören unerschöpflich
mannigfaltig.
Und die gerichtlichen Sectionen bieten zwar theilweise andere,
gewiss aber nicht leichtere Aufgaben.
Was soll diesem Reichthum gegenüber die Erfahrung des Land¬
arztes, der die Zahl der Sectionen, die er seit seiner Studienzeit aus¬
geführt hat, vielleicht an den Fingern abzählen kann? von dem weder
zu verlangen ist, dass er die nöthige Uebung sich erhalten noch den
Fortschritten der Wissenschaft folgen kann? Freilich bleibt die Ueber-
prüfung durch die Facultätsgutachten; diese können logische Fehler
aufdecken, das Object aber ist verloren ; neue Beobachtungen können
in der Regel nicht mehr gemacht, fehlerhafte nicht corrigirt werden.
Wer Sectionen auf dem Lande mitgemacht hat, kennt die
mangelhaften Hilfsmittel, die ungenügende Technik, die Zweifel, die
verlegenen Gesichter; schliesslich das Protokoll, es muss ja sein und
wem Gott ein Amt gibt, u. s. w.
Eine Abhilfe schiene mir nun durchaus nicht schwer. Denken
wir uns z. B. jedem der niederösterreichischen Kreisgerichte einen
vollkommen ausgebildeten pathologischen Anatomen zugetheilt; ein
Mangel an solchen kann, da im pathologischen Institute, an den
Prosecturen der grossen Wiener Krankenhäuser, am gerichtlich-medi-
cinischen Institute und endlich an den entsprechenden Anstalten der
übrigen Universitäten eine grosse Zahl von tüchtigen Assistenten
herangebildet wird, nicht bestehen. Würden nun die modernen Ver-
ständigungs- und Communicationsmittel ohne bureaukratische Hinder¬
nisse gebraucht, so dürfte kaum ein Ort im Lande sein, an welchem
nicht vierundzwanzig Stunden nach der Meldung eine von sach¬
verständiger Hand ausgeführte Section zu erzielen wäre.
Aehnlich dürfte es in anderen Ländern, vielleicht mit Ausnahme
ganz entlegener Gebirgsgegenden, von Galizien und Dalmatien sein.
Sache der Justizverwaltung wäre es, diese provinciellen Verschieden¬
heiten zu berücksichtigen, Instructionen zu geben, in welchen Fällen
der Anatom zuzuziehen sei etc. Ueberhaupt sollen diese Zeilen nur
eine Anregung geben. Da am Sitze der Kreisgerichte heute vielfach
nicht unbedeutende Spitäler bestehen, so würde für den betreffenden
pathologischen Anatomen sich die Uebernahme der Prosectur dieses
Spitales naturgemäss ergeben. Bei gutem Willen von allen Seiten
könnte ein strebsamer Mann, der sein Leben der Wissenschaft widmen
will, ein, wenn auch nicht reichliches, so doch mögliches Auskommen
und eine angesehene sociale Stellung finden. Das Leichenmaterial des
Krankenhauses, die Untersuchungen, die dieses seihst verlangt, würden
ihn nöthigen, in wissenschaftlicher Beziehung nicht zurückzubleiben;
vielleicht würden bacteriologische Untersuchungen bei Epidemien u. s. w.
ihm zugetheilt werden. So würden neue wissenschaftliche Centren ge¬
bildet, deren wir im Vergleiche zu dem mit Universitäten so reich
versorgten Deutschland leider so wenige besitzen.
Vor Allem aber ist die Justiz berufen für eine möglichst voll¬
kommene Ausführung der gerichtlichen Sectionen Sorge zu tragen. Die
unbedeutenden Kosten (würden doch auch manche Diäten entfallen)
dürften hier nicht in Frage kommen. Handelt es sich doch um nichts
Geringes — um Recht, Freiheit und Leben!
Die pathologische Anatomie bleibt nicht nur die Basis der
Medicin, sie liefert auch oft und gerade in den wichtigsten Fällen das
nothwendige Substrat der Rechtsprechung.
Ein alter Seci r saalbesuche r. *)
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Ernannt: Die Universitätsprofessoren Hofrath Dr. Ritter von
Schrotte r (Wien), Dr. B. F r ä n k e 1 und Dr. P. Heymann
(Berlin) auf dem Laryngologen-Congresse in Neapel, der gleichzeitig
dort mit dem Antituberculose-Congresse abgehalten wurde, zu Ehren¬
mitgliedern. — Der Privatdocent Dr. Stephan Bernheimer in
W i e n zum ordentlichen Professor der Augenheilkunde in Innsbruck.
*
Verliehen: Dem a. o. Professor der Augenheilkunde in
Graz, Dr. Alois Birnbacher, der Titel und Charakter eines
ordentlichen Universitätsprofessors-
*
In der Sitzung des Obersten Sanitätsrathes vom
5. Mai d. J. gelangten nach Mittheilung verschiedener Geschäftsange¬
legenheiten durch den Vorsitzenden Obersanitätsrath Hofrath v. V o g 1
die sanitätspolizeilichen Massnahmen zur Besprechung, welche
anlässlich des Auftretens der Pest in Port Said in Aegypten und an
den Küsten des Rothen Meeres, worüber Sectionschef Dr. Ritter
v. Kusji genaue Mittheilung machte, durchzuführen sind. Hierauf
wurden nachstehende Referate erledigt: 1. Gutachtliche Aeusserung
über die Qualification der Bewerber um die erledigte Stelle eines
Veterinärinspectors für Niederösterreich (Referent : Ministerialrath
B. Sperk). 2. Gutachten über die Zulässigkeit der Verwendung
galvanisirter und verzinkter schmiedeiserner Röhren bei Wasserleitungs¬
anlagen (Referent: Prof. L u d w i g). 3. Gutachten über die Errichtung
einer Privat-Heilanstalt mit Heissluftbehandlung (Referent: Professor
Wagner v. J a u r e g g).
*
Officieller Bericht über die Centralausschuss¬
sitzung des Verbandes der Aerzte Wiens vom
5. Mai 1900. 1. Kammerwahlen: Es wurde beschlossen, ein
Aerztekammer-Wahlcomite ins Leben zu rufen, welchem die Aufgabe
ertheilt wird, der nächsten Organisationssitzung einen Schlüssel für
die Kammerwahlen vorzulegen. In dieses Comite entsenden die Dele-
girten jedes dem Verbände angehörigen Vereines einen Vertreter aus
ihrer Mitte. Ausserdem wurde ein vom Vorstande vorgeschlagener
Modus für die Kammerwahlen mit geringen Aenderungen angenommen.
(Bericht darüber folgt nach der nächsten Sitzung.) 2. Die Lebens¬
versicherungsgesellschaften werden darauf aufmerksam
gemacht, dass die Todesfallparere nicht durch Vermittlung der ver¬
sicherten Partei, sondern durch die Gesellschaft direct an die Aerzte
zu leiten seien; Krankheits-, beziehungsweise Todesberichte werden in
Hinkunft seitens der Aerzte nur dann ausgefertigt, wenn sie dem Arzte
von der Gesellschaft direct abverlangt und mit mindestens sechs Kronen
honorirt werden. 3. Den Krakauer Spitalsärzten wurde an¬
lässlich ihres Kampfes um Verbesserung ihrer wirthschaftlichen Lage
die vollste Sympathie ausgedrückt. 4. Resolution: „Durch Beschluss
des Centralausschusses werden die Mitglieder desselben ersucht, bei
eventuellen, von ihnen ausgehenden Publicationen in den Journalen
den Anschein zu vermeiden, als ob sie im Namen oder im Aufträge
des Centralausschusses veröffentlichen, ausser wenn sie vom Central-
ausschusse ausdrücklich dazu ermächtigt wurden.“ 5. Meister-
krankencassen -Commission. Zur schleunigen Abwicklung
der Agenden in dieser Frage wurde eine eigene Commission gew’ählt.
6. Die freie Arztwahl betreffend wurde folgende Resolution be¬
schlossen: „Der Verband der Aerzte Wiens hält fest an der am
9. Februar 1897 in der allgemeinen Versammlung der Aerzte des
:':) Der Name des Herrn Einsenders ist der Redaction bekannt.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Wiener Kammersprengels einstimmig gefassten Resolution. Der Ver¬
band der Aerzte Wiens hält die freie Arztwahl bei geeigneter Durch¬
führung für das ideal der cassenärztlichen Institutionen und will an¬
streben, dass die Lassen gesetzlich verpflichtet werden, ihre Kranken
nach dem System der freien Arztwahl bei entsprechender Ilonorirung
der ärztlichen Leistungen behandeln zu lassen. Der Verein zur Ein¬
führung der freien Arztwahl wird entsprechende Vorschläge erstatten.“
7. Eine in den Tagesblättern erscheinende Ankündigung eines
Curpfuschers wurde behufs behördlicher Inhibirung angezeigt. Der
Schriftführer.
*
Pbarmakologen-Vereinigung. Eiuer auf der Natur¬
forscherversammlung zu München entstandenen Anregung folgend,
haben sich am 19. und 20. April im Anschlüsse an den Congress für innere
Medicin zu Wiesbaden eine grössere Anzahl deutscher Pharmakologen
und in deutscher Sprache publieirende auswärtige Faehgenossen zu¬
sammengefunden, um in ungezwungener Form Mittheilungen aus dem
Gebiete der experimentellen Pharmakologie auszutauschen. Es be¬
theiligten sich an der Versammlung die Herren: Binz (Bonn),
Dreser (Elberfeld), Falk (Kiel), Fessel (Würzburg), Geppert
(Giessen), Gott lieb (Heidelberg), Heinz (Erlangen), Heffter
(Bern), Hey mans (Gent), Jacobj (Göttingen), Jod 1 bau er
(München), Robert (Rostock), Kunkel (Würzburg), Lewin
(Berlin), Löwi (Marburg), Hans Meyer (Marburg), Santesson
(Stockholm), Straub (Leipzig), v. Tappeiner (München) und
Weiss (Basel). Am Vorabende der wissenschaftlichen Versammlung
wurde nach Begrüssung der Anwesenden durch Prof. v. T a p p e i n e r
die Begründung einer „Pharmakologen-Vereinigung“ beschlossen,
welche alle zwei Jahre zu einer wissenschaftlichen Tagung zusammen¬
treten soll. Alle deutsch publicirenden Pharmakologen von Fach sollen
zur Theilnahme eingeladen werden. Zur Vorbereitung der folgenden
Versammlungen wurde ein Comite gewählt, bestehend aus den Herren
Binz (Bonn), v. Tappeiner (München) und G o 1 1 1 i e b (Heidel¬
berg). Die künftigen Versammlungen sind je nach Vorschlag des
Comites bald im Anschlüsse an den Congress für innere Medicin, bald
im Anschlüsse an den internationalen Physiologencongress in Aussicht
genommen oder sollen auch völlig selbstständig in einem der deutschen
Universitätsinstitute abgehalten werden. Bei der diesjährigen Ver¬
sammlung fanden drei wissenschaftliche Sitzungen in dem freundlichst
zur Verfügung gestellten Hörsaale des chemischen Laboratoriums
Fresenius’ statt, in denen die Herren Falk (Kiel), Binz (Bonn)
und Hey mans (Gent) den Vorsitz führten. An diesen Sitzungen
nahmen auf Einladung durch den Präsidenten auch Mitglieder des
Congresses für innere Medicin theil, wie auch das Festmahl dieses
Congresses die Pharmakologen mit den Internisten gesellig vereinte.
In den wissenschaftlichen Sitzungen, die durch eine Ansprache Pro¬
fessor K unke l’s eingeleitet wurden, wurden folgende Vorträge ge¬
halten, an die sich eine zum Theile lebhafte Discussion anschloss.
Santesson: Hat der Gehalt an K e 1 1 e r’schem Cornutin im Secale
cornutum eine Bedeutung für die Werthbestimmung der Drogue? —
Dreser: Experimentelle Kritik eines Apparates zur Untersuchung
der Athmungsthätigkeit. — Falk: Demonstration eines Apparates
zum Katheterisiren von Hündinnen. — Kunkel: Ueber die Eisen¬
frage. — Heffter: Verhalten der Kakodylsäure im Organismus. —
Santesson: Einiges über die Wirkung des Diphtherietoxins. —
Heinz: Experimentelles zur Digitalis Wirkung. — Straub: Zur
Theorie der Digitaliswirkung. — Robert: Ueber das Verhalten des
Jods und seiner Verbindungen zum Harn. — v. Tapp ein er:
Weitere Versuche über die Wirkung fluorescirender Stoffe. — Hilde-
b ran dt: Eine Synthese im Thierkörper.
*
In der Zeit vom 26. — 28. Juli wird in Paris der I. inter¬
nationale Congress der medicinischen Presse statt¬
finden, der sich besonders mit zwei Phagen, nämlich jener der
Gründung einer internationalen Vereinigung der medicinischen Presse,
sowie des Schutzes der Urheberrechte medicinisch-literarischer Arbeiten
beschäftigen soll. An der Spitze des Organitationscomitcs steht Pro¬
fessor C o r n i 1.
*
Vom „II a n d a 1 1 a s der Anatomie des Mensche n“,
herausgegeben mit Unterstützung von Prof. II is durch W. Spalte¬
holz bei Ilirzel in Leipzig, ist der dritte Band, erste Abtheilung
erschienen. Derselbe enthält die anatomischen Abbildungen des Ver-
dauungstractes, der Organe der Bauch- und Beckenhöhle, der Gebilde
des Dammes, sowie der weiblichen Brustdrüse. Auch in diesem Bande
sind, wie in den früheren, die Abbildungen in ein- und mehrfarbiger
Autotypie hergestellt.
*
Von Hofrath D rase he’s (Wien) „Bibliothek der ge¬
summten medicinischen Wisseuschafte n“, herausgegeben
bei K. Prochaska in Wien, sind die Lieferungen 188 — 193, das
ist das zweite bis fünfte Heft Chirurgie (Atherom — Extremitäten), sowie
14. und 15. Heft der Abtheilung: Venerische und Hautkrankheiten
(Pankreassyphilis— Schanker) erschienen.
*
Sanitätsverhältnissebei der Mannschaft des k.u.k. Heer es
im Monat Februar 1900. Mit Ende Januar 1900 waren krank ver¬
blieben bei der Truppe 1954, in Heilanstalten 8227 Mann. Kranken¬
zugang im Monat Februar 1900 15.558 Mann, entsprechend pro Mille
der durchschnittlichen Kopfstärke 55. Im Monat Februar 1900 wurden
an Heilanstalten abgegeben 7100 Mann, entsprechend pro Mille der
durchschnittlichen Koplstärke 25. Im Monat Februar 1900 sind vom
Gesammtkrankenstande in Abgang gekommen 16.148 Mann, darunter als
diensttauglich (genesen) 14.526 Mann, entsprechend pro Mille des
Abganges 899, durch Tod 68 Mann, entsprechend pro Mille des Ab¬
ganges 4-21, beziehungsweise pro Mille der durchschnittlichen Kopf¬
stärke 0 24. Am Monatsschlusse sind krank verblieben bei der Truppe
1777, in Heilanstalten 7814 Mann.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten G e m e i u d e g e b i e t e. 17. Jahreswoche (vom 22. April
bis 28. April 1900). Lebend geboren : ehelich 665, unehelich 329, zusammen
994. Todt geboren: ehelich 52, unehelich 26, zusammen 78. Gesammtzahl
der Todesfälle 755 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
23 7 Todesfälle), darunter an Tuberculose 152, Blattern 0, Masern 14,
Scharlach 5, Diphtherie und Croup 5, Pertussis 4, Typhus abdominalis l,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 4, Neu¬
bildungen 32. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
70 ( — 10), Masern 281 (-j- 60), Scharlach 45 (-j- 4), Typhus abdominalis
13 ( — 2), Typhus exanthematicus 0 (=), Erysipel 29 ( — 1), Croup und
Diphtherie 33 ( — 15), Pertussis 65 (-}- 7), Dysenterie 0 (=), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 4 (-{- 2), Trachom 5 (=), Influenza 9 ( — 4).
Freie Stellen,
Sanitätsassistentenstelle mit dem Adjutum jährlicher 1000 K
bei der Statthalterei in Linz, eventuell bei einer Bezirkshauptmannschaft
in Ob er Österreich. Bewerber um diese Stelle haben ihre gehörig docu-
mentirten Gesuche mit den Nachweisen über Alter, Zuständigkeit und
den an einer inländischen Universität erlangten Grad eines Doctors der
gesammten Heilkunde, eventuell auch über die mit Erfolg abgelegte Prüfung
zur Erlangung einer bleibenden Anstellung im öffentlichen Sanitätsdienste
bei den politischen Behörden, sowie über ihre bisherige Verwendung bis
längstens 20. Mai 1900 entweder unmittelbar, oder, soferne sie bereits im
Dienste stehen, im Wege ihrer Vorgesetzten Behörde beim k. k. Statthalterei¬
präsidium in Linz einzubringen.
Stelle eines leitenden Arztes (Directors) der Landesirren¬
anstalt Valduna bei Rankvveil, Vorarlberg. Der Jahresgehalt beträgt
4800 K und wird in monatlichen Anticipandoraten ausbezahlf. Gleichzeitig
stehen dem Director eine Wohnung in der Anstalt und das erforderliche
Holz unentgeltlich zur Verfügung. Im Uebrigen wird sich auf die beste¬
henden Statuten und die Instruction berufen und nur noch bemerkt, dass
dem Director jederzeit ein sechsmonatliches Kündigungsrecht zusteht. Be¬
werber um diese Stelle haben ihre Gesuche mit dem ärztlichen Diplome,
den Belegen über Alter, Stand, Sprachkenntnisse und bisherige Verwen¬
dung, insbesondere über ihre Dienstleistung in Irrenanstalten, bis 31. Mai
d. J. beim Vorarlberger Landesausschusse in Bregenz zu überreichen.
Der »Oesterreichisch-ungarischen Consular-Correspondenz« ist folgende
Zuschrift des k. u. k. Consulates in Port- Said unterm 3. d. M. zu¬
gegangen :
Aerzte-Stellen in Suez.
Die »Administration Quarantenaire« des »Conseil Sanitaire Maritime
et Quarantenaire« schreibt folgende Stellen aus:
1. Eine A e r z t i n- S t e 1 1 e beim Amte in Suez. Monatliche
Bezüge 22 — 28 türkische Pfund Den Offerten sind beizuschliessen: a) Ori¬
ginal oder Copie des Doctordiploms; b) Zeugniss über gute Constitution;
c) formale Erklärung, dass der Dienst in dem der officiellen Ernennung
folgenden Monate angetreten wird. Ausserdem ist in dem Gesuche anzu¬
geben, welcher Sprachen Bewerberin mächtig ist.
2. Eine Stelle als Arzt zweiter Classe. Monatsgehalt wie
unter 1. Beizuschliessende Documente: «) Original oder Copie des Diploms
als Doctor der Medicin und Chirurgie; b) Certificat über abgelegte Studien
der Bacteriologie und Epidemiologie; c) Certificat über gute Constitution;
d ) formale Erklärung wie oben. Im Gesuche sind anzugeben: Alter und
Sprachkenntnisse.
3. Eine Arztes-Stelle für den Ueberwachungs- und
Desinfectionsdienst in Suez und bei den Moses-Quellen. Die auf
diese Stelle reflectirenden Aerzte müssen mit einem regulären Diplome ver¬
sehen sein. Den Vorzug erhalten jene, welche praktische Special¬
studien der Bacteriologie und Epidemiologie nachzu¬
weisen vermögen. Gehalt ursprünglich 8000 Frcs. pro Jahr, welcher sich
progressiv bis auf 12000 Frcs. erhöht. Offerte sind bis 31. Mai 1. J. an
die »Presidence du Conseil Quarantenaire ä Alexandrie« zu richten und zu
belegen mit: a) Copie des Doctordiplomes, ausgestellt von einer Universität
oder dem Staate; b) Certificat über praktische Studien der Bacteriologie;
c) Zeugnisse, welche die Specialkenntnisse in der Epidemiologie nachzu-
weistn vermögen; d ) ärztliches Zeugniss über gute Constitution; e) formale
Erklärung über den Amtsantritt wie oben.
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
467
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften
und Congressberichte.
INHALT:
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 11. Mai 1900.
Nachtrag zum Protokolle der Sitzung der k. k. Gesellschaft der
Aerzte vom 4. Mai 1900.
29. Congress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. (18. bis
21. April.) (Fortsetzung.)
18. Congress für innere Medicin in Wiesbaden. Vom 18.— 21. April 1900.
(Fortsetzung.)
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
Sitzung vom 11. Mai 1900.
Vorsitzender: Oberstabsarzt Habart.
Schriftführer : Dr. Föderl.
Habart dankt für die ehrende Wahl zum Vorsitzenden der
Gesellschaft.
Dr. Alfred Gleich demonstrirt einen vor sechs
Jahren operirten Fall von Caput obstipum.
Meine Herren! Gestatten Sie mir einen Fall von linksseitigem
Caput obstipum vorzustellen, welchen ich am 5. Februar 1894 an
einem siebzehnjährigen Jüngling operirte. Von einem etwa 10 cm. langen
Hautschnitte, welcher in der Richtung des normalen V erlaufes der
Sternalportion des Sternocleidomastoideus geführt wurde, excidirte ich
sämmtliche sich spannende Fascienzüge und präparirte beide Muskel¬
portionen bis auf die anscheinend normalen Muskelbündel frei. \ on
der Sternalportion blieb nur ein etwa federkieldicker Muskelstreif er¬
halten, welcher bei der weiteren Operation einriss, so dass am Sternum
nur ein etwa 5 cm langes Muskelbündel erhalten blieb, am gemein¬
samen Kopfe ein noch kleineres. Nach dem Redressement der Wirbel¬
säule wurden nun, da die Muskelenden nicht direct zu vereinigen
waren, dieselben bei der Hautnaht mit eingenäht. Die Nachbehandlung
war sehr einfach; am 13. Februar zeigte sich die Wunde per primam
geheilt und 17 Tage nach der Operation verliess Patient das Spital.
Die Skoliose der Halswirbelsäule ist vollkommen beseitigt, von der
Asymmetrie ist wenig zu bemerken. Bei der Betastung kann man wohl
das erhaltene Muskelbündel nachweisen, doch ist die Contour der
Sternalportion dadurch nicht wieder hergestellt; es ist dies ein Mangel,
welcher, wie Billroth öfters betonte, besonders bei Mädchen sehr
ins Gewicht fällt. Diesen Schönheitsfehler beseitigt zu haben, scheint
Föderl durch seine Operationsmethode gelungen zu sein. Lorenz
hat, wie ich glaube, zuerst zu der Anschauung hingeneigt, dass es
sich bei angeborenem Schiefhals um eine angeborene Skoliose der Hals¬
wirbelsäule handle, er legt daher der Nachbehandlung auch die dem¬
entsprechende Bedeutung bei. Eine Stütze für diese Anschauung ist in
einer Demonstration eines Pferdes mit angeborener Skoliose der Hals¬
wirbelsäule durch Herrn Prof. Beier der thierärztlichen Hochschule
zu finden; da ich glaube, dass diese Demonstration in ätiologischer
Beziehung werthvoll ist und ich selbe nirgends erwähnt finde, möchte
ich sie der Vergessenheit entreissen. An dieser Stelle sei noch zweier
Fälle aus der Klinik Billroth gedacht, eines Zwillingsbrüderpaares,
von welchen der eine, wie die Anamnese ergab, den Schiefhals mit
zur Welt brachte, der andere dadurch acquirirte, dass er den Kopf
constant so hielt wie sein Bruder. Es würde sich in diesen Fällen
einerseits um die angeborene, anderseits um die habituelle Skoliose der
Halswirbelsäule handeln. Nach der von v. M i k u 1 i c z angegebenen Radi-
caloperation, nämlich der Ausrottung des Sternocleido, fällt jedenfalls
der Mangel der Muekelcontour am meisten auf, so dass aus kosme¬
tischen Gründen eine Verlagerung eines Muskels an die genannte
Stelle am wiinschenswerthesten erscheinen dürfte. Durch Versuche an
der Leiche fand ich, dass dazu ein Theil des Pectoralis oder einfacher
noch ein Theil des anderen Sternocleido herangezogen werden könnte.
Da Thierversuche bewiesen haben, dass durch Unterbindung der Ca¬
rotis externa Wachsthumshemmung eintritt, wäre daran zu denken,
dieselbe zum Ausgleich der Asymmetrie bei Mädchen zu verwerthen.
Sollten sich die von Beier mit resorbirbaren Metallröhrchen ange-
stellten Versuche bewähren, so Hesse sich durch Anlegung eines zu¬
sammengedrückten Magnesiumringes an die Carotis die Wachsthum¬
hemmung auch dosiren.
Dr. Matzenauer macht eine vo r läufige Mittheilung
zur Aetiologie des Hospitalbrandes und demon¬
strirt mikroskopische Präparate und Abbildungen.
An der Klinik Hofrath Prof. Neumann kommen alljährlich
eine Reihe von Geschwürsprocessen zur Beobachtung, welche durch
ihr Aussehen, Form und Grösse, durch ihre rapide Progredienz und
Destructionskraft sofort als eine eigenartige, von den venerischen Ge¬
schwüren getrennte Affection auffällen, zumal sie nicht blos am Ge¬
nitale selbst, sondern häufig auch in der Umgebung desselben, in der
Genitocruralfurche, am Perineum, in der Crena ani u. s. w. bei
gleichzeitig intactem Genitale aultreten.
Sie charakterisiren sich insbesonders durch die Auflagerung
eines schmutzig-grauen, grau-grünlichen bis schwärzlichen Belages \on
variabler, manchmal mehrere Centimeter Dicke; der Belag ist gelatinös
pastös oder zunderartig zerfallen; die Geschwüre verbreiten einen
penetrant fauligen Geruch. Dabei bestehen zumeist 4 iebeieischei-
nungen.
In der Regel betrifft es unsauber gehaltene, schmutzige Indivi¬
duen; sie geben nahezu constant an, dass sie vor wenigen lagen
plötzlich unter Schmerzen und Fieber erkrankt seien, dass aber die
anfangs unscheinbare Wunde sich rapid, in beunruhigender A\ eise
vergrösserte, so dass sie bereits Kronen- bis Thaler- bis I laehhandgiüsse
erreicht hat.
Die anamnestischen Daten bezüglich der zuletzt stattgehabten
Cohabitation lassen häufig genug in Folge der langen, seither ver¬
strichenen Zeit eine Uebertragung durch Coitus ausgeschlossen ei-
scheinen.
Wir sahen im Verlaufe der letzten vier Jahre mehrfach Ge¬
schwüre von weit über Flachhandgrösse in der Crena ani und Kieuz-
beingegend, wobei in einem Falle der Process bis auf den Knochen
reichte, das Os sacrum blosslegte ; in einem anderen Falle, gleichfalls
von der Crena ani ausgehend, wurde innerhalb weniger Stunden der
Sphincter ani zerstört, so dass Incontinentia alvi eintrat und die
Analöffnung ein kindsfaustgrosses, trichterförmiges Loch bildete,
wobei die Gangrän etwa 4 — 5 cm hoch aufs Rectum selbst überge¬
griffen hatte. _ _
In wieder einem anderen Falle bestand bei einer \ irgo Intacta
in der Genitocruralfurche ein mehrere Querfinger breites und iatt
flachhandgrosses, gangränöses Geschwür, das bis zum folgenden Tag
die doppelte Dimension erreichte und die Muskelgruppe der Adductoien
des Oberschenkels blosslegte.
Derartige extragenitale Geschwüre waren es zuerst, welche mn
die Annahme gerechtfertigt erscheinen Hessen, dass dieser lapid foit-
schreitende gangänöse Zerstörungsprocess mit der angeblich heutzutage
so selten auftretenden Nosocomialgangrän zu identifieiren sei. Ein
Vergleich mit der von Rosenbach in seiner Monographie über
Hospitalbrand gegebenen Schilderung lässt wohl kaum einem Zweifel
Raum, dass wir in der That Nosocomialgangrän in der von älteien
Autoren sogenannten „pulpösen Formu vor uns hatten.
Die vergleichenden Beobachtungen dieser typischen formen mit
abortiv verlaufenden Fällen, sowie das gleichzeitige “Vorkommen aus¬
gebreiteter extragenitaler Gangränherde mit ähnlichen gangränösen
Geschwüren am Genitale lehrten erst im Verlaufe von Jahren das
Krankheitsbild in seinem ganzen Umfang kennen, so dass wir nun¬
mehr allmonatlich freilich meist leichtere und leichteste Fälle von
Nosocomialgangrän sehen, und zwar zumeist am Genitale, wo bisliei
das Vorkommen von Hospitalbrand nicht bekannt war. Es ergab sich
aus einer Reihe diesbezüglicher Uebergangsformen, dass die als
„diphtheritische“, als „phagedänische“ und „gangränöse Geschwüre“
bezeichneten Fälle dem Hospitalbrand zugerechnet werden müssen,
wobei das diphtheritische Geschwür die „pulpöse Form“, das phage¬
dänische die „ulceröse Form“ desselben repräsentirt.
Diese Geschwüre können am Genitale sowohl selbstständig und
primär als solche auftreten, oder sich zu einer bereits bestehenden
venerischen Affection hinzugesellen, wodurch diese letztere aber all-
sogleich ihren Charakter verliert und durch die Gangrän substi-
tuirt wird.
Die Zerstörungen sind auch hier oft furchtbare, namentlic .i
wenn eine das gangränöse Geschwür cachirende Phimose nicht recht¬
zeitig behoben wird. Von der Glans penis ist dann oft nur mein ein
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WEENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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rudimentärer Stummel vorhanden; in einem unserer Fälle war sie in
sagittaler Richtung wie mit dem Messer gespalten, die Urethra auf
2 cm Länge gespalten. In einem anderen Falle war die Harnröhre
von oben her durch den consumirten Schwellkörper als offene Rinne
blossgelegt vom Orificium bis zur Wurzel des Penisschaftes, ein
andermal war die Glans und der vordere Theil des Peuisschaftes
überhaupt eingeschmolzen, so dass der Rest des Penis einem Amputa¬
tionsstumpf glich.
Auf dem weit ulcerirten, oft schon papierdünnen und schwärz¬
lich verfärbten Präputium lagerte manchmal das Geflecht der Blut¬
gefässe, nett blossgelegt wie an einem anatomischen Präparat.
Gangränöse Geschwüre verursachen keine Bubonen.
Innerhalb der letzten drei Jahre habe ich von 22 Fällen immer
mehrere Gewebsstücke aus verschiedenen Geschwürspartien behufs
mikroskopischer Untersuchung excidirt, und davon einzelne vom
frühesten Stadium in zusammenhängender Serie geschnitten.
Herrn Prof. Weichselbaum bin ich für seine wiederholt
eingehende Prüfung meiner Präparate zu tiefstem Danke vei-
pflichtet.
Histologisch charakterisirt sich die Krankheit als ein Entzün-
dungsprocess, der frühzeitig durch Colliquation der zelligen Elemente
zur Coagulationsnekrose des Gewebes führt.
Die ersten Anfänge des Processes, welche klinisch noch nicht
als Geschwürsformen, sondern als dünne Auflagerungen weisslicher
Membranen erscheinen, zeigen auch mikroskopisch keinen Substanz¬
verlust. Die weisslichen Auflagerungen bestehen vielmehr aus den
zum Theile zu Grunde gegangenen Epithelien selbst, deren Proto¬
plasmaleib zuerst vacuolisirt und verflüssigt wird, so dass der Zell¬
kern in einer Höhle zu liegen scheint, die mit einer nicht färbbaren
aber von feinen Fibrinfäden durchzogenen Flüssigkeit erfüllt ist.
In den obersten Schichten sind die Epithelien kernlos und
hyalin geworden, und sind miteinander zu völlig homogen scholligen
Massen verschmolzen, in welchen Fibrinbröckel und reichlich ver¬
schiedenerlei Bacterien eingelagert sind. Die weisslichen Membranen
bestehen demnach aus dem zu Grunde gegangenen Epithel selbst und
aus ausgeschiedenen Fibrinmassen, sie sind dem Epithel nicht auf¬
gelagert, sondern liegen an Stelle derselben, sie stellen mithin eine
croupöse Membran dar.
Sehr rasch zerfällt so die ganze Epitheldecke, der darunter
liegende Papillarkörper wird durchsetzt und späterhin ersetzt durch
ein dichtes, theils aus emigrirten polynucleäreu Leukocyten, theils aus
den bereits nekrotischen Bindegewebszellen bestehendes Infiltrat; das¬
selbe ist oberflächlich mit einer Schichte vollständig nekrotischen Ge¬
webes bedeckt, in welcher nur vereinzelt Zellkerne, rothe Blutkörperchen
oder Fragmente derselben erkennbar sind. Die Ausscheidung eines
fibrinösen Exsudates lässt sich oft weit und bis tief ins Gewebe hinein
verfolgen, zumal um die Gefässe, die maximal erweitert und strotzend
mit Blut erfüllt sind. Die Wandungen desselben zeigen in der Um¬
gebung des Entzündungsherdes frühzeitig die Erscheinungen einer
Coagulationsnekrose, indem die Zellleiber durch eine serös-fibrinöse
Flüssigkeit aufquellen, von Fibrinfibrillen umscheidet werden, endlich
verflüssigen und mit einander zu homogen scholligen Balken ver¬
schmelzen. Die frühzeitige Coagulationsnekrose der Gefässwand bedingt
das Auftreten zahlreicher punktförmiger Hämorrhagien, die, wie
Rosenbach hervorhebt, zu den regelmässigen, oft frühesten Sym¬
ptomen des Hospitalbrandgeschwüres zählen, sie veranlasst aber zuweilen
auch die vehementen Blutungen aus grösseren Gefässen, welche
v. Pith a die Schreckensprärogative des Hospitalbrandes nennt. In
einem unserer Fälle kam es zur Blutung aus der Arteria dorsalis penis.
Da die nekrotischen Gewebspartien mit dem darunter liegenden
entzündlich infiltrirten oder noch normalen Gewebe in unmittelbarem,
untrennbarem Zusammenhang stehen, stellen sie klinisch einen nicht
abstreifbaren, pulpösen Belag dar und dürfen als diphtheritische Mem¬
branen bezeichnet werden.
Zur Aetiologie des Hospitalbrandes liegen nur spärliche An¬
gaben vor. Rappin fand 1895 in vier Fällen den Bacillus pyo-
cyaneus, Vincent 1896 dagegen in 47 Fällen, die er in Algier zu
beobachten Gelegenheit hatte, in dem nekrotischen Gewebe einen
Gram negativen Bacillus, der sonst in seinem morphologischen Ver¬
halten mit meinem Bacillus übereinzustimmen scheint. Endlich be¬
schreiben Favre und Barbezat 1896 bei hospitalbrandigen Ge¬
schwüren im Mund einen Bacillus, der sich leicht auf den gewöhn¬
lichen Nährboden züchten liess.
Ich fand in allen Fällen als constanten Befund einen Bacillus,
in manchen Präparaten ausschliesslich, in den meisten in so über¬
wiegender Zahl und in solcher Lage im Gewebe selbst, dass andere
Bacterien dagegen nicht in Betracht kamen. In der nekrotischen
Membran ist der Bacillus entweder gar nicht oder nur in geringerer
Zahl zu finden, zeigt hier auch Degenerationsformen und wird durch
verschiedenerlei andere secundär eingewanderte Bacterien verdrängt.
An der Uebergangszone vom nekrotischen zum entzündlich infiltrirten
Gewebe findet sich dagegen dieser Bacillus oft in ungeheurer Zahl,
allein ohne andere Bacterienbeimengung. Zeigt das Präparat die Rand¬
partie eines progredienten Geschwüres, so sieht man stellenweise die
Bacillen tief ins Gewebe Vordringen, wo noch keine Nekrose besteht,
ja selbst eine stärkere entzündliche Infiltration noch fehlt und nur
die Gefässe von einem dichten Fibrinnetz umsponnen sind. Hier
färben sich die Bacillen intensiv und in toto, während die absterbenden
Individuen in der dem Gewebe auflagernden Membran vielfach eine
lückenhafte, nur partielle Färbung annehmen oder wie Schatten er¬
scheinen. Sobald der Geschwürsprocess stationär wird oder sich de-
maskirt, sind die Bacillen nicht mehr zu finden. Der Bacillus ist
schlank, geradlinig oder manchmal leicht geschwungen, meist 4 bis 5 fj.
lang und circa 0'3 bis 0’5 p breit, er liegt zumeist einzeln, zuweilen
zu zweit an einander gegliedert; seine Enden sind meist nicht eckig,
sondern leicht abgerundet. Der Bacillus ist im Schnitt am besten nach
Weigert zu färben; doch scheint eine vorsichtige, zarte
Entfärbung mit Anilinöl reichlich gemengt mit Xylol vortheilhaft.
Der Bacillus scheint ein Anaerob zu sein. Ich glaube, bestärkt durch
das Gutachten Professor Weichselbau m’s, den Bacillus in Rein-
cultur im Zucker-Agar-Stich gesehen zu haben; derselbe wuchs inner¬
halb zwei bis drei Tagen in den unteren zwei Dritteln des Stich¬
canals, der wie zart bestäubt erschien, ohne Gasbildung. Eine Weiter-
iiberimpfung gelang nicht.
Culturversuche sind umsomehr erschwert, als sich der Hospital¬
brand nur schwierig und unter besonderen Cautelen künstlich auf
Menschen oder Thiere überimpfen lässt.
Es gelang mir, an einem Meerschweinchen ein typisches Ge¬
schwür zu erzeugen, doch nicht, dieses wieder auf andere Thiere
weiter zu überimpfen.
An der Discussion betheiligen sich: Prof. P a 1 1 a u f , Hofrath
Kaposi, Docent Grünfeld und Prof. Gussenbauer.
R. P a 1 1 a u f ist erstaunt, zu hören, dass an einer Klinik allein
in Wien 21 Fälle von Nosocomialgangrän beobachtet worden sind und
fragt., auf welche Weise für die beobachteten und untersuchten gan¬
gränösen phagedäuischen Geschwiirsprocesse die Identität mit der
seinerzeit so fürchterlichen Nosocomialgangrän erschlossen worden ist,
ob auch die so bekannte Contagiosität derselben beobachtet worden
ist. Pal tauf hat in der langen Reihe von Jahren nie gehört, dass
ein Fall von Nosocomialgangän im Krankenhause vorgekommen ist;
auf der Klinik Billroth wurde einmal ein Fall mit derselben ver¬
glichen, der sich aber dann als artificiellen Schorf bei einer Hysterica
erwiesen hat. Für die an sich interessanten Untersuchungen ist diese
Frage, ob die alte echte Nosocomialgangrän vorliegt, doch sehr wichtig.
Matzenaue r erwidert, dass die Schilderungen älterer Autoren
über echte Nosocomialgangrän speciell von Billroth, P i t h a,
Rosenbach etc. vollkommen mit den klinischen und anatomischen
Erscheinungsformen der eigenen Beobachtungen übereinstimmen.
P a 1 1 a u f meint, das sei noch nicht ausreichend zur Identi-
ficirung.
Hofrath Kaposi will von dem histologischen und bacteriolo-
gi sehen Theile der Ausführungen des Vortragenden vollständig ab-
sehen und nur vom klinischen Standpunkte auf dieselben Einiges
Vorbringen. Von diesem aus nun constatirt Kaposi, dass die be¬
schriebenen Processe, die er ja selber auch zur Genüge aus persön¬
licher Betrachtung kennt, allerdings vollkommen dem entsprechen, was
man eben als Hospitalbrand zu bezeichnen gewohnt war, also
Hospitalbrand darstellen. Kaposi verweist nun speciell auf diese
Vorkommnisse, insoferne sie in der Vor- Lister Zeit bei uns recht häufig
waren, namentlich auf gewissen Zimmern (der jetzigen II. Syphilis-
Abtheilung) und sporadisch auch auf anderen Zimmern der Haut¬
klinik und -Abtheilung, zumeist ausgehend von Schankergeschwüren
der Genitalien und Bubonen. Kaposi beschreibt nun nach seinen
eigenen diesbezüglichen Erfahrungen das urplötzliche Einsetzen solcher
Gangränen auch selbst auf granulirenden Flächen unter Fieber unter
dem Bilde des trockenen, mumificirenden, zunderartigen Necrosirens
der Gewebe, oder dem des feuchten Brandes, oder der Hinzugesellung
der letzteren zur ersteren Beginnform, die enorme und rapide Weiter¬
verbreitung und Zerstörung tiefster Schichten bis auf die Muskeln
des Abdomens, der Inguinal- und Cruralregion, Arrodirung und letale
Blutung der A. femoralis, der möglichen Heilung u. s. w., wobei er
auf die bezüglichen Tafeln in seinem grossen Atlas der Syphilis hin¬
weist. Insoweit sei also, was Matzenauer hier zur Rede ge¬
bracht hat, factisch als Nosocomialgangränform aufzufassen.
Dagegen will Kaposi zweierlei dahingestellt sein lassen,
d. h. weder entscheiden noch erörtern, 1. ob all die von Matzen¬
auer angeführten Formen auch in der gedachten Beziehung gleich¬
wertig sind und ob es nicht dabei andersdeutige gibt; 2. ob der bac-
teriologische Beweis von der ätiologischen Beziehung der demonstrirten
Bacterien zur Nosocomialgangrän erbracht ist. Das zu entscheiden sei
Sache der Bacteriologen.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Docent Dr. Grünfeld bemerkt, dass die schweren Fälle von
gangränösen, mit ausgedehnten Zerstörungen einhergegangenen Adenitiden
und andere Geschwürsformen auf die Klinik oder Abtheilung zumeist
von Aussen importirt wurden, dass dagegen das Auftreten von Noso-
comialgangrän unter den Augen der Aerzte entstanden, wahrschein¬
lich durch Instrumente, Verbandstoffe etc. weiter verbreitet, auf eine
Anzahl von Kranken beschränkt blieb. Insoferne kann wohl von einem
endemischen Charakter dieser Complication gesprochen werden. In
der vorantiseptischen Zeit konnten derlei Fälle dem Spitale ent¬
stammender und sich rasch vermehrender Gangrän öfters beobachtet
werden, welche oft der Benarbung nahe Geschwürsformen plötzlich be¬
fiel. Der Nachweis ihrer Entstehung und Verbreitung war oft unauf¬
findbar, nicht selten aber dennoch möglich.
Matzenauer entgegnet, dass er in seiner kurzen vorläufigen
Mittheilung nicht auf genauere klinische Details eingehen konnte,
Hofrath Kapos i’s Schilderung eines typischen Falles von Nosocomial-
gangrän entspreche aber ganz getreu einem an der Klinik Neumann
beobachteten Falle von gangränösem Bubo, bei welchem es auch rapid
zur Blosslegung des Ligamentum Poupartii und der Muskelgruppen
kam; bei dem schon greisen Kranken wurde ein bereits spontan per¬
forator Bubo durch Contactinfection mit der gangränösen Glans penis
secundär gangränös. Zur Entwicklung eines gangränösen Bubo, in¬
soferne derselbe als regionäre Lymphdrüsenschwellung mit etwa
begleitenden lymphangioitischen Erscheinungen aufzufassen sei, komme
es aber in Folge eines hospitalbrandigen Geschwüres überhaupt gar
niemals ; die Nosocomialgangrän verursacht keine Bubonen. Die
Infection ist bei unseren Fällen niemals im Spital erfolgt; die Fälle
kamen alle schon mit entwickelten gangränösen Geschwüren zur Auf¬
nahme, kein einziges entstand während des Spitalsaufenthaltes, noch
gab es zur Weiterverbreitung auf andere Kranke Anlass. Dass die
sogenannten diphtheritisehen und phagedänischen Geschwüre der Noso¬
comialgangrän zugerechnet werden müssen, ergibt sich aus dem Ver¬
gleich dieser Geschwürsformen mit den typischen Bildern der letzteren,
namentlich beweisen dies Fälle, wo gleichzeitig ein ausgedehnter,
rapid fortschreitender Herd von Gangrän neben phagedänischen Ge¬
schwüren am Genitale besteht, oder wo nach Eröffnung eines phimo-
tischen Präputium ausser einem ausgedehnten, flachen (phagedänischen)
Geschwür am inneren Vorhautblatt auch die Glans penis oder die
Schwellkörper des Penis selbst destruirt und mit einer hervorquellenden,
schlammartigen, bräunlich zunderförmigen „pulpösen“ Masse bedeckt sind.
Denn ob die Nosocomialgangrän in der pulpösen und ulcerösen Form
auftritt, hängt hauptsächlich von der Localisation ab und dürfte auf
.den anatomischen Verhältnissen des betroffenen Gewebes beruhen. Bei
der pulpösen Form ist der dicke Schorf oft ganz trocken, sondert kein
eiteriges Secret ab; erst wenn das nekrotische Gewebe der Zersetzung
verfällt, kommt es zur Absonderung eines jauchigen Secretes, wie dies
bei der ulcerösen Form sich immer findet, indem hier dem reichlich
abgesonderten serösen Exsudat sich massenhaft rothe Blutkörperchen,
Detritusmassen und abgestorbene Gewebsfetzen und andere Zerfalls-
producte beimengen, so dass ein dünnflüssiges, missfärbig bräunliches,
eben jauchiges Secret gebildet wird. Das histologische Bild zeigt bei
der pulpösen Form einen bei Weitem hochgradigeren, bei beiden
Formen aber im Wesentlichen gleichen entzündlich-nekrotischen
Process. Und endlich finden sich bei beiden Formen dieselben Bacillen,
deren ursächliche Bedeutung ich allerdings heute noch nicht anerkannt
hoffen darf.
G r ü n f e 1 d hält Matzenauer’s Fälle für Formen echter
Nosocomialgangrän.
Prof. Gussenbauer berichtet über einen Fall von Gangrän
am Unterkiefer, welcher heuer an der Klinik zur Behandlung kam.
Eine 55jährige Patientin hatte sich mit einem Zahnstocher die
Gingiva verletzt, die sich darauf schwärzlich verfärbte und geschwürigen
Zerfall zeigte.
Während sich in den ersten drei Tagen der zunächst ambula¬
torischen Beobachtung das Bild wenig geändert hatte, verbreitete sich
dann rasch die Nekrose am Zahnfleisch und griff auch auf die Lippen
über; die Zähne waren gelockert, ihre Wurzeln blossgelegt.
Die Frau musste als schwer krank aufgenommen und sofort
operirt werden.
Das Zahnfleisch bildete eine schmierige pulpöse Masse. Es be¬
stand keine scharfe Demarcation gegen die intensiv geröthete Um¬
gebung.
Auch die rechte Hälfte der Unterlippe war geschwollen, derb
infiltrirt und am Kinn zeigte sich eine hellergrosse, schwarzblaue Stelle,
über welcher die Epidermis in Bläschen abgehoben war.
Die derbe Infiltration der gerötheten Umgebung nahm gegen
den Hals allmälig ab. Das Krankhafte wurde mit dem Thermokauter
entfernt und die Wunde mit rauchender Salpetersäure verschorft.
Der Process demarkirte sich aber erst nach der Injection 5°/o'ger
Carbolsäure in die Nachbarschaft des Defectes. An der Zunge entstand
späterdings eine schwärzlich verfärbte Stelle, die wieder mit dem Pa-
quelin excidirt worden ist. Aber überall da, wo durch das Anfassen
der Zunge mit der Ilakenpincette Läsionen gesetzt waren, zeigten sich
neue Herde, die durch Carbolinjectionen gleichfalls localisirt werden
konnten.
Güssen bau er meint, dass das Bild, welches Dr. Matzen¬
auer für seine Fälle beschrieben, in klinischer und anatomischer Be¬
ziehung sich deckt mit dem, was man früher so häufig als Nosocomial¬
gangrän beobachtet hat; König und V o 1 k m a n n haben auf Ueber-
gangsformen hingewiesen und schon Heine hat bei seinen Unter¬
suchungen Mikroorganismen gefunden, ohne aber dieselbe als Ursache
der Gangrän anzusprechen.
Wenn Dr. Matzenauer in allen Fällen denselben Bacillus
gefunden hat, wäre dessen Stellung als Erreger der Gangrän kaum
zu bezweifeln, wenn auch das Thierexperiment negativ blieb.
Dr. Hermann Benedikt demonstrirt Röntgen-Auf¬
nahmen eines Mediastinaltumors.
Meine Herren! Ich erlaube mir, Ihnen zunächst das Bild eines
grossen Mediastinaltumors zu demonstriren, welches Ihnen die grosse
Bedeutung der Röntgen - Untersuchung für die interne Medicin
wieder deutlich beweisen soll. Der Patient leidet seit vier Jahren an
asthmatischen Anfällen und heftigen Intercostalneuralgien. Die physi¬
kalische Untersuchung ergibt am Rücken zu beiden Seiten der Wirbel¬
säule Dämpfung, rechts weiter nach aussen reichend als links. Ueber
der Dämpfung weder Athemgeräusche, noch Herztöne zu hören. Beide
Lungen sind comprimirt.
Patient hat vor vielen Jahren Lues acquirirt. Ein hervor¬
ragender Internist hatte die Diagnose auf Aneurysma gestellt. Der
Patient kam nach Wien und wurde mir zur Röntgen- Unter¬
suchung zugewiesen.
Man sah sofort auf dem Bariumplatincyanürschirm der Dämpfung
entsprechend einen Schatten, welcher vom Jugulum bis zum Zwerch¬
fell reichte und sich in der Höhe der fünften und sechsten Rippe nach
beiden Seiten am stärksten ausdehnte; der Schatten zeigte keine Pul¬
sation. Beide Lungen stark comprimirt, erscheinen nicht so hell, wie
normale Lungen. Auf dem Radiogramm sehen Sie sehr schön den
Tumor, links vom Schatten desselben den dunklen Herzschatten.
Nach Angabe des Patienten haben die Beschwerden auf Jod-
curen zu wiederholten Malen bedeutend nachgelassen. Da Lues bestanden
hat, ist es sehr wahrscheinlich, dass der Tumor damit im Zusammen¬
hänge steht und wurde eine energische Jodcur verordnet.
Wie wirksam Jod sein kann, bewies mir folgender lall:.
Das Bild hatte ich schon vor zwei Jahren hier demonstiiit. Es
zeigt einen grossen Mediastinaltumor. Patient wurde nach Hall geschickt,
woselbst er drei Monate blieb. Als er zurückkehrte, war der Tumor
circa um 2 cm in der Breite kleiner geworden. Während des Winters
nahm er dann Jodpillen und kam vergangenen Sommer wiedei nach
Hall. Er war frei von allen Beschwerden und die neuerliche Unter¬
suchung zeigte, dass der Tumor vollständig geschwunden war.
Hofrath Schnabel hält seinen angekündigten Vor¬
trag über die glau komatöse Sehnervenatrophie.
Die Vortragende beschreibt einen Glaukomfall, den ei zum
Ausgangspunkte seiner Erörterung gewählt. Die 72jährige Kianke
hatte chronisch entzündliches Glaukom beider Augen, wuide an dei
Klinik des Vortragenden links iridektomirt — rechts bestand absolutes
Glaukom — und starb plötzlich am sechsten Tage nach der Operation.
Der linke Sehnerv war geschwollen wie bei Stauungspapille, dei rechte
zeigte glaukomatöse Excavation bei normaler Lage der Lamina ciibiosa
intrascleralis. Durch welchen Vorgang führt Glaukom zur Schwellung
des vorderen Sehnervenendes? Durch welchen Vorgang führt Glaukom
das vordere Sehnervenende aus dem Anfangsstadium der Schwellung
zu dem Endstadium der Aushöhlung ?
Der Vortragende benützte zum Studium an 100 Sehnerven, von
denen 42 durch Glaukom, 18 durch andere Processe atrophisch ge¬
worden, die übrigen gesund waren. Docent Elschnig stellte die
Präparate her.
Die frühesten Gewebsveränderungen betreffen die Nervenfasern
und sind rein degenerativer Natur. Sie beginnen im intrascleialen Stück
und schreiten rasch in das extraoculäre Sehnervenstück fort. Entzünd¬
liche Veränderungen fehlen in frischen Fällen. In einem drei Wochen
alten Fall von acutem Glaukom reichte der Zerfall der lasern bis
zur Eintrittsstelle der Centralarterie.
An die Stelle der zerfallenen Nervenfaserstücke treten mikro¬
skopische Caverneu, die rasch wachsen, so dass sie mit freiem Auge
sichtbar werden. Der Vortragende zeigt vergrösserte 1 hotogiaphien
mikroskopischer Längenschnitte glaukomatöser Sebneiven mit sein
zahlreichen Cavernen im extraoculären Stücke.
Im intraoculären Stücke beginnt die Höhlenbildung im intia
skleralen Thcilc.
Die kleinen Höhlen setzen einen Spalt zusammen, der den Nerv
vor der Lamina cribrosa intrascleralis durchquert. Von diesem Haupt¬
spalte ziehen sehr viele verästigte Spalte zwischen und in die Nerven-
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 20
faserbündel, so dass das marklose Stück badeschwammähnlich von
kleinen Hoblräumen durchsetzt wird. In Folge der Zusammenhangs¬
lockerung neigen sich die verschmäcktigten Bündel nach den Seiten
und hinten, die Excavationshildung wird an der Oberfläche sichtbar.
Durch fortschreitenden Schwund der Nervenfaserbündel gerathen die
Balken der intraskleralen Lamina exact an die Oberfläche und es re-
sultirt schliesslich eine einzige grosse, nach vorne offene Caverne —
die glaukomatüse Excavation.
Neben dem Aushöhlungsschwunde, der dem Glaukom eigen-
thümlich ist, kommt im glaukomatös erkrankten Nerven auch der ge¬
wöhnliche Verdichtungsschwund vor. Der letztere bewirkt manchmal
das Ausbleiben der glaukomatösen Excavation, manchmal das Partiell¬
bleiben derselben. Sitzt er unmittelbar hinter der Lamina, so bleibt
die Dislocation der Lamina aus, trotzdem totale Excavation besteht.
Sitzt hinter der Lamina Aushöhlungsschwund und rücken die queren
Balken zwischen den leergewordenen Furchen aneinander, so ziehen
sie die Lamina intrascleralis mit sich und die Excavation wird ge¬
räumiger, als dem Volum des intraoculären Stückes entspricht.
Die Stauungspapillengestalt der Papille war nicht durch Ent¬
zündung erzeugt, sondern durch Vergrösserung der Gewebsspalten
durch eingetretene pathologische Flüssigkeit. Vielleicht gibt die Durch-
tränkung der Sehnerven mit pathologischer Flüssigkeit den Anlass zum
Zerfalle mit Cavernenbildung.
Glau komatöse Sehnervenatrophie ist Zerfall
der Sehnervenfasern mit Cavernenbildung. Die
glaukomatöse Excavation ist eine von diesen Ca¬
vemen.
Nachtrag zum Protokolle der Sitzung der k. k. Gesell¬
schaft der Aerzte vom 4. Mai 1900.
Der Ombrophor. ‘) Ein transportabler Apparat
für Regenbäder mit kohlensaurem Wasser. Von den
Professoren Wintemitz und Gärtner (Wien).
Nichts vermöchte zur Verbreitung der Wassercur als diätetisches,
hygienisches, prophylaktisches und therapeutisches Mittel so viel bei¬
zutragen, als die Möglichkeit, diese Cur in seinem Heim, unabhängig
von geschultem Wartepersonale, ohne Abhängigkeit von Wasserleitung
und besonderen Baderäumlichkeiten, zu gebrauchen. Diese Erwägung
und der Umstand, dass die gebräuchlichen Douche- und Badevor-
richtungen schwer transportabel sind, und die transportablen zumeist
mit zu geringem, nicht regulirbarem Drucke arbeiten, veranlasste den
einen von uns schon vor mehreren Jahren, einen Apparat zu con-
struiren, der seither vielfach von seinen Patienten verwendet wurde.
Der Apparat bestand aus eiuom Kupferkessel mit absperrbarem
Ventil, Steigrohr und Brausevorrichtung für Regen- und bewegliche
Fächerdouche, mit einer Untersatzschale und einem Schutzvorhange.
Das zum Regenbade bestimmte Wasser musste von einem Diener
herbeigeschafft und mittelst der an dem Apparate befindlichen Flügel¬
pumpe ziemlich mühsam in den Kessel eingepumpt werden. So wurde
die in dem Kessel befindliche Luft durch das eingetriebene Wasser
comprimirt. Es gelingt auf diese Weise, das eingepumpte Wasser
unter einen Druck von 1 1 /2 — 2 Atmosphären zu setzen.
Mit der Oetfnung des Wechsels stürzt nun das Wasser mit der
entsprechenden Kraft aus der Brause oder dem Fächer. Dieser Anfangs¬
druck nimmt jedoch mit dem Ausströmen des Wassers sehr rapid ab,
es bleibt eine grosse Menge Wasser in dem Kessel zurück, das
vor neuerlichem Gebrauche der Douche mühsam herausgepumpt
werden muss.
Trotz all dieser Mängel und der verhältnissmässig noch geringen
I ransportabilität entsprach derselbe doch in soferne seiner Aufgabe,
als or einen ziemlich kräftigen thermischen und mechanischen, wenn
auch nur momentanen Reiz auszuüben und eine günstige Reaction zu
bewirken vermochte.
Es ist uns nun gelungen, einen Apparat herzustellen, der bei
sehr leichter Transportabilität, fast ohne Hilfspersonal, in jedem
Raume aufstellbar und benützbar ist. Einen Apparat, der einen
regulirbaren, bis zu dem letzten Wassertropfen gleichbleibenden
thermischen, mechanischen und chemischen Reiz ausübt.
Dieser Zweck wurde dadurch erreicht, dass wir als Quelle des
erforderlichen Druckes eine Flasche mit flüssiger Kohlensäure be¬
nützten.
Der Apparat, der in zusammengelegtem Zustande sich als ein
kleiner, circa 20 kg schwerer Koffer mit Handhaben zum Transporte
präsentirt, zeigt nach Abhebung des Deckels einen Einsatz, in welchem
die ganze Vorrichtung verpackt ist.
Zum Behufe der Benützung wird der Einsatz herausgehoben.
Der Koffer selbst lässt sich nun sehr einfach, durch Aufstellen von
') Demonstrirt in der II. wissenschaftlichen Versammlung des
t'entralverbandes der Balneologen Oesterreichs zu Ragusa (1. April 1900).
Schutzwänden von einem wasserdichten Stoffe, in eine kleine, mit
dünnen Zinkplatten ausgekleidete Wanne verwandeln, deren eine
schmale Seite mit einem verschliessbaren Schlitz zum Einsteigen des
Badenden vorsehen ist.
Die einzelnen Theile des Apparates werden nun aus dem Ein¬
sätze herausgehoben und zusammengestellt.
Es besteht der ganze Apparat aus einem cylindrischen, etwa
10 l Wasser fassenden kupfernen und vernickelten Wasserkessel.
Dieser Kessel trägt auf seiner convexen oberen Fläche eine
mit einem luft- und wasserdichten Verschlussstück versehene Einguss¬
öffnung für das zu benützende Wasser, welches in der gewünschten
Temperatur mittelst eines Trichters oder eines Kautschukschlauches
von einer zur Verfügung stehenden Wasserleitung eingefüllt
werden kann.
Neben dem Wasserkessel befindet sich eine durch eine Metall¬
spange mit ihm verbundene, 1 leg flüssige Kohlensäure enthaltende
Stahlflasche.
An diese wird nun verlässlich ein mit einem Manometer ver¬
bundenes Reducir ventil angeschraubt.
Dieses Reducirventil wird durch einen Metallspiralschlauch mit
einer zweiten Oeffnung des Wassercylinders verbunden. Von dieser
Oeffnung, durch welche die Kohlensäure in den Wassercylinder ein-
strömt, verläuft im Innern des Wassergefässes ein Rohr bis zur Basis
desselben, um hier in der Art eines Schlangenrohres zu endigen.
Dieser Theil des Rohres ist von einer grossen Zahl capillarer Löcher
durchbohrt.
An eine dritte Oeffnung in der Mitte des Wassercylinders
schliesst sich im Innern ein auch bis zum Boden reichendes Rohr an,
mit welchem die durch Sperrhähne verschliessbaren Röhren des Steig¬
rohres, des Brausekopfes und der Seitenbrause vermittelst sogenannter
Holländer- Verschlussstücke verbunden sind.
Wird der so zusammengesetzte Apparat in der Nähe der früher
geschildeten Kofferwanne derart aufgestellt, dass der Brausekopf
über der Mitte der Wanne steht, so ist die Douche zum Gebrauche
vorbereitet.
Mann öffnet nun das Rad ventil der Kohlensäureflasche und
schraubt das Idealventil so weit herab, bis das Manometer den ge¬
wünschten Druck an zeigt.
Es dringt nun die Kohlensäure in den Wassercylinder, sättigt
je nach dem mehr oder weniger hohen Drucke das Wasser mehr oder
weniger mit Kohlensäure und setzt dieses unter den entsprechenden
Druck.
Der Badende kann nun durch den Einsteigschlitz, entkleidet,
in die Wanne einsteigen, den Schlitz durch Zuknöpfen verschliessen,
den Hahn der Brause öffnen und eine allgemeine Douche nehmen
oder den Regen von oben absperren und mit der beweglichen Seiten¬
brause jeden beliebigen lvörpertheil der Douche aussetzen.
Nach gebrauchtem Regenbade schliesst man die Wechsel und
verlässt durch der Eingangsschlitz die Wanne.
Die 1 kg flüssige Kohlensäure haltende Flasche reicht zu
20—25 Douchen aus und kann für 1 K in den fast in jeder Gross¬
stadt befindlichen Kohlensäurefabriken wieder frisch gefüllt werden.
Das Wasser, das nach der Douche in dem Wännchen ange¬
sammelt ist, wird durch ein in der Nähe des Bodens angebrachtes
Ventil leicht entfernt. Von einem Herumspritzen des Wassers, Be¬
netzung der Umgebung ist dabei keine Rede.
Die hier geschilderte Douche unterscheidet sich von den ge¬
wöhnlichen Regenbädern mit gemeinem Wasser dadurch, dass hier das
zur Douche benützte Wasser sich in dem Cylinder mit Kohlensäure,
die durch die Oeffnungen des Schlangenrohres in feinen Bläschen ein¬
dringt, sättigt und nun beim Auffallen auf den Körper nicht nur
einen mechanischen und thermischen, sondern durch die an der Haut
hängenbleibenden CO^-Bläschen gleichzeitig einen chemischen Reiz
ausübt, der wie in dem C02-Bade ein eigenthümlich angenehmes
Prickeln bewirkt, das die sensiblen peripherischen Nervenendigungen
über die niedrige Wassertemperatur hinwegtäuscht, die Reaction er¬
leichtert und ihre Dauer erhöht und auf diese Weise den Iudications-
kreis für die diätetische, hygienische, prophylaktische und therapeutische
Wirkung erweitert.
Diese von uns Ombrophor — Regenbringer — genannte trans¬
portable Douchevorrichtung bedeutet ganz gewiss zunächst einen
hygienischen Fortschritt, da sie die Annehmlichkeit gewährt, nicht
nur in seinem Schlafzimmer unmittelbar aus der Bettwärme heraus
ein solches Bad nehmen zu können, sondern es auch ermöglicht, den
Apparat, der ja bequem in einen kleinen Koffer verpackt werden
kann, auf der Reise zu benützen. Die Nützlichkeit solcher Regenbäder
für Gesunde, Anämische, Geschwächte, Reconvalescente und an
Circulationsstörungen mannigfachster Art Leidende, hat sich uns ebenso,
vielleicht noch besser bewährt, wde die gewöhnlichen Regenbäder, die
in technischer Beziehung jenen sicherlich uachstehen.
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
471
Stabile Apparate nach demselben Principe sind in Vor¬
bereitung.
Die Kohlensäureindustrie des Dr. Iiayd t in Wien (I., Schotten¬
ring 19) hat die Fabrication dieser Apparate übernommen.
29. Congress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie.
18.— 21. April.
(Fortsetzung.)
Referent: Dr. Heinz Wohlgemuth (Berlin).
Zweiter Sitzungstag. Vormittagssitzung.
I. James Israel (Berlin) : Ueber Operationen bei
Nieren- und Ureter steinen.
Nach einem geschichtlichen Ueberbücko über die Nierenchirurgie
und einem allgemeinen Hinweise auf die nicht gar so selten bestehende
Schwierigkeit, Nierensteine mit Bestimmtheit zu diagnosticiren, wendet
sich der Vortragende zu den Indicationen für die operativen Eingrifte
bei der Nephrolithiasis, und zwar der primären Nierensteine und stellt
folgende drei Fragen auf: 1. Wann stehen wir der zwingenden Noth-
wendigkeit gegenüber, zu operiren? 2. Wann sollen wir trotz Fehlens
einer unmittelbaren Gefahr für das Leben oder die Niere zur Ope¬
ration rathen? 3. Wann ist es besser, von einem Eingriff Abstand zu
nehmen? Die unabweisbarste Nöthigung zum Einschreiten wird von
der calculösen Anurie aufgezwungen. Mag sie auf der Occlusion nur
eines Ureters mit reflectorischer Functionshemmung der anderen Niere
beruhen oder auf doppelseitiger Steinverstopfung, oder einseitiger mit
präexistirender Functionslosigkeit oder Mangel der anderen Niere, in
jedem Falle muss die erloschene Function der zuletzt occludirten Niere
sofort auf operativem Wege hergestellt werden. Zwar kann eine totale
Anurie viele Tage hindurch ertragen werden und mit dem Spontan-
abgange des occludirenden Steines enden, doch geht der Kranke meist
urämisch zu Grunde. Ein spontaner Abgang des Steines kann allen¬
falls solange erwartet werden, als noch Koliken bestehen. Berücksichtigt
man ausserdem, dass sich in einer durch Steinverstopfung ver¬
schlossenen Niere sehr schnell degenerative Processe der Epithelien
entwickeln, welche auch nach Beseitigung des Abflusshindernisses eine
Wiederaufnahme der Function unmöglich machen, so dürfen wir bei
calculöser Anurie nicht zögern, sofort einzugreifen.
Eine andere Complication, welche zwingend die operative Ent¬
fernung des Steines fordert, ist die acute pyelonephritische Infection
einer Steinniere, mag das Concrement im Becken oder im Ureter
seinen Sitz haben. Dieser verderbliche Process, welcher mit schwerem
Krankheitsgefühl, unregelmässig pyämischem Fieber, Schüttelfrösten,
bisweilen Erbrechen, Trockenheit der Zunge, häufig spontaner Schmerz¬
haftigkeit der Niere einhergeht und zu einer Durchsetzung des Or¬
ganes mit miliaren Abscessen führt, zwingt zu schnellem Handeln.
Denn die iufectiös erkrankte Steinniere bedroht auch die gesunde
Niere frühzeitig mit einer toxischen parenchymatösen Nephritis. Bei
dieser eminenten Lebensgefahr ist die ausgiebigste Spaltung der Niere
mittelst Sectionsschnittes und Entfernung des Steines am Platze. In
solchem Falle wird man die gespaltene Niere durch Tamponade
often halten, um die Elimination der Krankheitsproducte zu be¬
fördern.
Wie hier die Lebensgefahr, so zwingt uns die Sorge für die
Erhaltung der Niere in allen den Fällen zum Handeln, in denen der
Stein durch Störung des Abflusses Retentionserscheinungen macht. Be¬
sonders dringlich ist dies in den Fällen, in denen der retinirte Inhalt
bereits eiterig infiltrirt ist. Eine Unterlassung der Steinextraction führt
unaufhaltsam zu Druckatrophie mit Destruction des Nierenparenchyms.
Man muss eingreifen, sobald eine auf Retention beruhende Ver-
grösserung des Organs erkannt werden kann. Nierenblutungen geben
am seltensten eine Indication zur Nephrolithotomie, häufiger der Verdacht
auf eine bösartige Neubildung oder Tuberculose. Deshalb müssen wir
bei allen Nierenblutungen, über deren Ursache wir keine absolute
Klarheit gewinnen können, durch eine Explorativoperation feststellen,
ob nicht ein bösartiges Leiden vorliegt, von dessen frühzeitiger Ent¬
deckung die Zukunft des Kranken abhängt.
Berechtigt uns aber schon das Vorhandensein eines Nieren¬
steines an sich, ohne unmittelbare Gefahr für das Leben oder die
Niere auch bei geringfügigen oder fehlenden Beschwerden auf einen
operativen Eingriff zu dringen? Hier ist wohl entscheidend die Er¬
fahrung, dass das Risico gegenüber dem Gewinne geringfügig ist. Die
Mortalität der Nephrolithotomien mit ihren 2 — 4 % ist niedriger als
die der bestgelungenen Reihen von Lithotripsien. Doch so lange man
einem vor die Entscheidung gestellten Patienten weder zu versichern
vermag, dass er zu den 97% Geheilten und nicht zu den 3% Ge¬
storbenen gehören wird, noch dass gerade ihn die möglichen Gefahren
eines zuwartenden Verhaltens treffen müssen, wird sich ein Kranker
mit unerheblichen Beschwerden nicht leicht durch statistische Erwä¬
gungen zur Operation bestimmen lassen.
Wann sollen wir nur den Patienten zur Operation zu bewegen
versuchen, wenn keine unmittelbare Gefahr vorliegt? In erster Linie
dann, wenn es sich nicht mehr um ein aseptisches Steinleiden handelt,
sondern eine pyelitische, respective eine chronische pyelonephritische
Infection erkannt werden kann. Diesen Steinkranken droht vor Allem
die Gefahr einer acuten infectiösen Pyelonephritis mit multipler
Abscessbildung und septischer Allgemeininfection. Derselbe Standpunkt
gilt für diejenigen Formen der Steinkrankheit, welche sich nicht in
acuten, von gesunden Intervallen getrennten Schmerzparoxismen äussern,
sondern in chronischen anhaltenden oder sehr häufig auftretenden Be¬
schwerden vielfältiger Art und zwar nicht so sehr wegen der Intensität
der Schmerzen als wegen des durch die Chronicität bedingten dau¬
ernden Missbefindens, das zu schwerer hypochondrischer Verstimmung
führen kann. Diese chronischen Steinbeschwerden äussern sich nicht
selten in so lavirter Form, dass es bisweilen allen ärztlichen Scharf¬
blick erfordert, um das wahre Grundleiden zu erkennen. Eine letzte
Indication für die Empfehlung eines operativen Einschreiten ist in dem
Vorhandensein eines von Mastdarm oder Scheide fühlbaren Ureter¬
steines zu erblicken, da ein solcher Zustand stets mit Retention und
Infection der Niere endet.
Die Frage nach der Dauerhaftigkeit der Resultate soll aber
nicht ohne Einfluss auf unser Handeln sein. Leider fehlen bisher
ziffernmässige Daten in statistisch brauchbarem Umfange über die
Häufigkeit der Steinrecidive. Doch sind sie nach seinen eigenen Er¬
fahrungen bei sauren Steinen selten. Doch die Möglichkeit eines
Recidivs darf von der Operation nicht abhalten. Nach der Extraction
eines Nierenconcrements werden wir viel eher auf diätetischem oder
medicamentösem Wege einer Neubildung vorzubeugen vermögen, als
bereits vorhandene zur Elimination zu bringen. Gelingt dies nicht, so
ist aber auch die Wiederholung der Nephrolithotomie an derselben
Niere ebenso gefahrlos ausführbar wie die primäre.
Es gibt eine gewisse Form des Steinleidens jedoch, bei welcher
der Patient nicht selten die Operation fordert, wir sie aber verweigern
sollten. Das sind diejenigen Fälle, in welchen unter häufig auftreten¬
den Koliken fast jedes Mal kleine, nicht facettirte Sternchen abgehen,
während in den Pausen völliges Wohlbefinden und klarer aseptischer
Harn ohne Formelemente vorhanden ist. Die Operation würde nutzlos
sein, weil sie keinen retinirten Stein zu Tage fördern würde und der
Disposition zur Bildung neuer nicht entgegentreten könnte. Hier
vermag eine Veränderung der Lebensweise manchmal etwas zu
leisten.
Was nun die Operationsmethoden anlangt, so haben wir zwei
Wege, zum Stein zu gelangen: durch das Nierenbecken oder durch
das Parenchym. Das letzte Verfahren ist geeigneter, die sichere Ent¬
fernung aller vorhandenen Steine zu erreichen, als die Pyelotomie,
welche wohl für Beckensteine genügt, doch keine Gewähr für das
Zurückbleiben unentdeckter Concremente in den Kelchen leistet. Denn
die Sondirung der letzteren ist ganz unsicher, ihre Austastung mit
dem Finger ohne Quetschung der Wundränder nicht ausführbar,
welche die primäre Verheilung gefährdet. Zudem ist die Extraction
von Kelchsteiuen von den Nierenbecken aus nicht selten recht
schwierig. Denn weder kann man unter Leitung des Auges extrahiren
noch ist die Einführung des Instrumentes neben dem Finger bei der
kleinen Wunde rathsam. Korallensteine, welche vielästig in die Kelch¬
höhlen hineinragen, können von einer Nierenbeckenwunde aus in toto
unmöglich entfernt werden. Ihre Zertrümmerung aber birgt die doppelte
Gefahr einer Verletzung der Wundränder durch scharfe Kanten und
des Zurückbleibens von Fragmenten. Den Vorwurf der Begünstigung
der Fistelbildung verdient die Pyelotomie jedoch nicht, denn nicht
nur feine genähte Nierenbecken sondern auch die nicht oder inexact
genähten sind per primam geheilt. Die Naht des Nierenbeckens jedoch
erfordert eine subtilere Technik als die des Nierenparenchyms. Zwar
ist die Spaltung der Niere nothwendig mit einem kleinen Verlust an
secernirender Nierensubstanz verbunden durch die Atrophie eines wenn
auch schmalen Ge websstreifens; doch hält Vortragender den Ausfall
für so gering gegenüber den Vortheilen, dass er die Pyelolithotomie
zu Gunsten der Nephrolithotomie verlassen hat. Durch Acupunctur
der freigelegten Niere ein Urtheil über das Vorhandensein eines Steines
gewinnen zu wollen, hält er für nutzlos. Als wesentlich für das Ge¬
lingen der Operation betrachtet er folgende Massnahmen: vollständige
Aushülsung der Niere aus der Fettkapsel bis zum Stiel, wobei eine
gleichzeitige Ablösung der Capsula propria von der Niere sorgfältigst
zu vermeiden ist, ein Missgriff, welcher sich bei der an Steinnieren
häufig vorhandenen innigen Verwachsung beider Kapseln leicht er¬
eignen kann. Ferner Isolirung des Ureters von den übrigen Stiel¬
gebilden, weil die zum Zwecke der Blutleere erforderliche Stiel-
constriction ausschliesslich die Gefässe treffen darf. Den Ureter aber
muss man frei lassen, um ihn durch retrograde Sondirung auf seine
Durchgängigkeit prüfen zu können. Die Blutleere wird am schwersten
472
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. HM».
Nr. 20
mit einem um den Stiel geschlungenen Drainagerohr erzeugt. Die
Incision findet in der Längsrichtung des Convexstandes 2 — 3 mm
dorsalwärts von der Ebene des Sectionsschnittes statt; auf diese Weise
hat man das geringste Mass der Blutung zu gewärtigen, da der
dickere ventrale und der schmälere dorsale Abschnitt der Niere von
gesonderten Gefässgebieten versorgt werden, welche sich in der an¬
gegebenen Schnittebene berühren, ohne miteinander zu communiciren.
Bei der Abtastung der Kelche soll mau den an den beiden Polenden
gelegenen eine geschärfte Aufmerksamkeit zuwenden, die sich wegen
der nicht selten vorkommenden hufeisenförmigen Krümmung der
Steinnieren der Untersuchung entziehen. Keine Steinoperation ohne
Prüfung des Ureters auf seine völlige Durchgängigkeit und ohne dass
seine nicht selten vorhandenen adhäsiven Verwachsungen mit dem
Nierenbecken gelöst werden, welche durch Behinderung des Abflusses
die primäre Verklebung der Nierenwunde hindern können. Bei Durch¬
gängigkeit des Ureters einige tiefgreifende Catgutnähte, welche ge¬
schürzt werden, während ein Assistent die Wundflächen der Niere
glatt aufeinander drückt und mit dieser sanften Compression noch
einige Minuten nach Entfernung des Constrictionsschlauches fortfährt.
Der Nahtverschluss ist das Normalverfahren bei aseptischen oder
höchstens leicht inficirten Steinnieren mit sauerem Urin, fehlender oder
unbedeutender Retention. Bei grösserer Retention dagegen, eiteriger
oder ammonikalischer Beschaffenheit des Urins, miliaren Entzündungs¬
herden der Abscesse im Parenchym selbst ist die freieste Drainage
bei offener Wunde das beste Heilmittel. Ein Verstoss dagegen rächt
sich durch weiteres Fortschreiten der infectiösen Processe im Paren¬
chym bis zur Nekrose des von der Naht umschlossenen Stückes. Eine
solche sicher functionirende Drainage lässt sich nicht durch eine
Pyelotomie erreichen. In einzelnen Fällen ausgedehnter multipler Stein¬
bildung mit ammoniakalischer Zersetzung des Urins ist er so weit ge¬
gangen, die Niei'e völlig in zwei Hälften zu spalten, sie auseinander zu
klappen und ihre Ränder mit den Bauchwundrändern zu vereinigen,
um ihre Hohlräume so lange einer gründlichen desinficirenden Local¬
behandlung zu unterwerfen, bis der Urin sauer und klar geworden
und damit die Gefahr eines Recidives von Phosphatconcretionen be¬
seitigt war.
(Fortsetzung folgt )
18. Congress für innere Medicin in Wiesbaden.
Vom 18. bis 21. April 1900.
Referent Albll (Berlin).
(Fortsetzung.)
III. Sitzung.
1. T ii r k (Wien) : Ueber die Hämamöben Löwit’sim
Blute Leukämischer.
Die Ansicht L ö w i t’s, dass die von ihm im Blute bei der myelo¬
genen Leukämie gefundenen „specifi-chen Körper“ Parasiten aus der
Gruppe der Protozoen darstellen und die Erreger der Krankheit seien,
beruht auf einer irrthümlichen Deutung dieser Gebilde.
Der Vortragende hat sich durch diesbezügliche Nachuntersuchungen,
welche sich vorläufig nur auf das periphere Blut bei myelogener Leu¬
kämie erstrecken konnten, davon überzeugt, dass die „specifischen
Körper“ L ö w i t’s Auslaugungsproducte der Mastzellengranula durch
die angewendeten Färbemittel darstellen, da durch wässerige Lösungen
basischer Farbstoffe die specifischen Granulationen der meisten Mast¬
zellen deformirt, „ausgelaugt“, werden, und hiedurch Gebilde zu
Stande kommen, welche von den „Ilämamöben“ L ö w i t’s nicht zu
unterscheiden sind, ferner da diejenigen Zellen im Blute Leukämischer,
welche die nach dessen „specifischer“ Methode dargestellten Hämamöben
L ö w i t’s enthalten, thatsächlich an Zahl den in andersgefärbten Prä¬
paraten desselben Blutes enthaltenen Mastzellen entsprechen; dabei wird
die Zahl der noch erhaltene Mastzellengranula tragenden Zellen auf
einen verschwindenden Bruchtheil herabgesetzt und finden sich typische
„Hämamöben“ bei einer ganzen Reihe anderweitig kranker Menschen,
wenn ihr Blut nur Mastzellen enthält.
Endlich ist die Argumentation L ö w i t’s, er habe die Leukämie
auf Kaninchen übertragen, nicht einwandfrei, weil ersieh nur auf ganz
uncharakteristische Veränderungen in den blutbildenden Organen, eine
chronisch recidivirende Leukocytose und den Nachweis seiner Hämamöben
stützen kann.
L ö w i t (Innsbruck) bestreitet alle Ausführungen des Vortragenden.
Ueber die Thierversuche habe er ein abfälliges Urtheil gefällt, ohne
sie selbst nachgemacht zu haben. Die angebliche Verwechslung mit
Mastzellengranulationen sei ihm sicher nicht zur Last zu legen, da er
sie selbst schon früher von seinen Amöben wohl zu unterscheiden ge¬
lernt hat. Die von ihm verwendeten wässerigen Farblösungen haben
gar keine solche deformirendo Wirkung. Die Mastzellengranula sind
neben den Amöben getrennt darzustellen. Auch haben erstere niemals
die typische Sichel und Geisselformen, ferner auch niemals die Grösse
der Amöben, schliesslich auch nicht die charakteristische von Cellulose¬
gestalt hei-stammende Grünfärbung. Mit Nachbehandlung seiner (L ö-
w i t’s) Präparate mit Alkohol kommen die Mastzellengrauula zur Er¬
scheinung.
Türk: Nur ein Theil der Granula wird ausgelaugt, und zwar
der sich basisch färbende Antheil. Grösse, Form und Farbe seien
nicht wesentliche Kennzeichen für diese vielfach confluirenden Körnchen¬
massen.
Kraus (Graz) theilt die Bedenken des Vorredners. Die nach¬
trägliche Darstellung der Granula neben den Amöben durch Alkohol
ist ihm nicht gelungen.
Löwit: In den nachgefärbten Präparaten treten die Granula
nicht einzeln, sondern in grossen Massen auf. In T ü r k's Präparaten
von Nichtleukämischen hat Löwit nichts seinen Amöben Aehnliches
sehen können.
Kraus (Prag) fragt, ob sich diese Amöben auch im ungefärbten
Präparat am geheizten Objecttisch finden, da er sie selbst nicht sehen
konnte.
Löwit hat dies zu untei’suchen neuerdings keine Gelegenheit
gehabt.
Es folgen noch weitere Repliken von Türk, Kraus (Graz)
und Löwit, deren Ei-gebniss unentschieden bleibt. Man kommt dahin
überein, dass noch die Untersuchungen anderer Autoi-en abgewartet
werden müssen.
II. Löwit (Innsbruck) : Weitere Beobachtungen über
die Parasiten der Leukämie.
Vortragender hat bei Fällen von Lymphämie die neuere Färbungs¬
methode von Roman owsky angewendet und in den Lymphocytosen,
welche 55 °/0 der Leukocytosen ausmachten, eigenartige Bildungen ge¬
funden : äusserst kleine Körperchen von Ringform, meist einzeln, mit
deutlichen Vacuolen. Es ist ausgeschlossen, dass es Zerfallsproducte
des Kerns seien. Im Knochenmark leukämisch inficirter Kaninchen
kamen ähnliche Bildungen vor.
Türk (Wien) glaubt solche auch im normalen Blut gesehen
zu haben.
III. Sonnenberger (Worms): Beiträge zur Aetio-
logie und Pathogenese der acuten Verdauungsstö¬
rungen im Säuglingsalter, insbesondere der Cholera
nostras.
Vortragender weist zunächst darauf hin, dass bei vielen Ver¬
dauungskrankheiten in diesem Alter der Vorgang der Intoxication
eine Rolle spiele und dass die Intoxicationen umso leichter zu Stande
kommen beim Säugling, als gerade in diesem Alter die Verdauungs¬
organe und deren Functionen so beschaffen sind, dass sie das
Zustandekommen der Vergiftungen sehr begünstigen. Im Gegensatz zu
den bacteriellen Intoxicationen bei den schweren Verdauungsstörungen
im Säuglingsalter hat Sonnenberger eine neue Krankheitsrubrik,
die rein chemischen, sogenannten Milchintoxicationen
aufgestellt. Dieselben kommen als Ursachen der Verdauungsstörungen
künstlich ei-nährter Säuglinge sehr häufig vor. Ihre Entstehungsweise
basirt ausser der erwähnten eigenthümlichen Beschaffenheit am kind¬
lichen Verdauungsorgane auf den Thatsachen, dass die Milch Secret
und Exci'et ist, und dass in einer grossen Reihe gangbarer Futtei'mittel
und Fütterungsweisen pflanzliche Alkaloide, Glykoside und ähnliche
mehr oder minder giftige Stoffe vorhanden sind, die umso leichter in
die Milch übergehen, als die pflanzenfressenden Thiei-e Gifte in ungleich
grösserer Menge unbeschadet ihrer Gesundheit vertragen können, ohne
zu erkranken, als fleischfi-essende Thiere und der Mensch; insbesondere
findet das zur Zeit der Lactation statt, wo ein Theil der Gifte in der
Milch wieder ausgeschieden wird. Diese Gifte verui’sachen die oft sehr
schweren Verdauungsstörungen, die bei Säuglingen, insbesondere unter
dem Bilde eiuer Gastroenteritis, acut verlaufen können.
(Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag, den 18. Mai 1900, 7 Uhr Abends,
unter dem Vorsitze des Herrn Dr. Teleky
stattflndendeo
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Docent Dr. Röthi: Experimentelle Untersuchungen über die Luft¬
strömung in der gesunden und kranken Nase.
2. Dr. Adolf Julies: Ueber eine einfache und zuverlässige Methode
zur quantitativen Bestimmung der Harnsäure, sowie der Purinbasen (Alloxur-
basen) im Harn.
Vorträge haben angemeldet die Herren Professoren: A. Politzer,
Weinlechner, Fein, Englisch und Wertheini.
Bergmeister, Paltauf.
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
Wiener klinische Wochenschrift
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, O. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner,
M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann,
R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, G. Toldt, A. v. Vogl,
J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gussenbaner, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VI 1 1/1, Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang. Wien, 24. Mai 1900. Hr. 21.
©
Abonnementspreis
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tions-Anfträge für das In-
nnd Ausland werden von
allen Buckhandlnngen und
Postämtern, sowie auch von
der Verlagshandlung über¬
nommen. — Abonnements,
deren Abbestellung nicht
erfolgt ist, gelten als er¬
neuert. — Inserate werden
mit 60 h — 50 Pf. pro
zweigespaltene Nonpareiile-
zeile berechnet. Grössere
Aufträge nach Ueberein-
kommen.
Verlagshandlung :
Telephon Nr. 6004.
Die „Wiener klinische
Wochenschrift“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von minde¬
stens zwei Bogen Gross-
quart.
Zuschriften für die Redac¬
tion sind zu richten an
Dr. Alexander Fraenkel,
IX, 3, Maximilianplatz,
Günthergasse 1 . Bestellun¬
gen und Geldsendungen an
die Verlagshandlung.
Redaction:
Telephon Nr. 3373.
INHALT:
(Alle Rächte Vorbehalten.)
I. Originalartikel : 1. Der gegenwärtige Stand der Verwundungsfrage im
Kriege und die Wechselbeziehungen derselben zum Sanitätsdienste
im Felde. Von Oberstabsarzt Dr. J. H a b a r t, Privatdocent für
Kriegschirurgie an der Wiener Universität.
2. Aus dem k. und k. Garnisons-Spitale Nr. 1 in Wien (Abtheilung
für Haut- und Syphiliskranke des Herrn Stabsarztes Dr. A. Thurn-
w a 1 d). Ueber die sogenannte Lues hereditaria tarda, beobachtet
an der bosnisch-hercegovinischen Mannschaft der Wiener Garnison
aus den Jahren 1897, 1898 und 1899. Von Dr. F. Schuster,
k. und k. Oberarzt und Secundarius obiger Abtbeilung.
3. Ueber die Wiederbelebung in Todesfällen in Folge von Erstickung,
Chloroformvergiftung und elektriseht-m Schlage Von Prof. Dr. J.
P r u s, Director des Institutes für allgemeine und experimentelle
Pathologie an der k. k. Universität zu Lemberg. (Schluss.)
4. Entgegnung auf 0 s t w a 1 d’s Bemerkungen zu meinem Vorträge:
»Ueber physikalisch-chemische Methoden und Probleme in der
Medicin.« Von Docent Dr. W. Pauli.
II. Referate: I. Das Bronchialasthma und seine Behandlung. Von
Goluboff. H. Nahrungsmittel und Ernährung der Gesunden
und Kranken. Von Dr. Felix Hirschfeld. Ref, 0 r t n e r.
III. Vermischte Nachrichten.
IV. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
Der gegenwärtige Stand der Verwundungsfrage
im Kriege und die Wechselbeziehungen derselben
zum Sanitätsdienste im Felde.
Von Oberstabsarzt Dr. J. Habart, Privatdocent für Kriegscbirurgie an der
Wiener Universität.
Vortrag, gehalten in der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
am 27. April 1900. !)
Das zur Neige eilende Jahrhundert hat unter den viel¬
fachen Problemen geistiger Schaffungskraft der Neuzeit zwei
markante Zeitfragen von grosser Tragweite aufgerollt, welche
nicht nur das Interesse unserer Fachkreise erwecken, sondern
die Aufmerksamkeit der ganzen Welt in Anspruch nehmen,
es ist die Frage der Wundbehandlung und jene
der Neubewaffnung der Armeen mit Repetir-
waffen und Schnellfeuer kanonen. Dasselbe Jahr¬
hundert, welches unter Napoleon I. durch Kriegsereignisse
mannigfacher Art tiefgehende Umwälzungen gebracht hatte,
endet mit Erfahrungen, welche weder der gewaltige Imperator
noch dessen grosse Kriegschirurgen Percy und Larrey zu
ahnen vermochten. Die Muskete mit dem glatten Laufe und
dem Rundblei der Napoleonischen Kriege ist durch eine
Präcisionswaffe von hoher Vervollkommnung ersetzt worden, die
kämptenden Heeresmassen haben nicht mehr wochen- und
monatelange Märsche zurückzulegen, sondern werden auf Eisen¬
bahnen fortgebracht, welche auch dem Verwundetenabschube
zu Nutzen kommen, die Elektricität und das Telephon über¬
nehmen den Dienst der Feldpost und der Reiterordonnanzen, der
Luftballon ist zum Kriegsspion geworden, das Fahrrad versucht
') (Mit Demonstrationen von Geschossen der Caliber 18 — 5 mm und
Schusspräparaten von Menschenleichen, Pferden, Hunden, Ziegen und
Schafen, sowie Gelatinebüchsen, gewonnen durch Schiessvetsuche mit 8,
6'5 und 5 vim Repetirge wehren, und erläutert durch ballistische Diagramme
und Photogramme).
es schon, gleichfalls Dienste im Felde zu leisten und vielleicht
ist die Zeit nicht ferne, wo Automobilwagen den Verwundeten¬
transport besorgen werden. Larrey’s Memoiren eröffnen
uns den Einblick in die Schicksale der Verwundeten zu Anfang
dieses Jahrhunderts in überaus anziehender und belehrender
Weise, die Schlachten von Leipzig und Waterloo und theil-
weise auch der Krimfeldzug wurden mit Rundblei und glatten
Vorderladern, der italienische Krieg 1848 — 1849, 1859 und 1866,
der schleswig-holsteinische Krieg 1864 und der amerikanische
Secessionskrieg 1861 — 1865, sowie der Feldzug im Jahre 1866
in Böhmen durch Vorderlader mit conischen und cylindroogivalen
Langgeschossen ausgefochten, nur Preussen trat schon 1864
mit dem Dreyse’schen Hinterlader siegreich in den Vorder¬
grund und erst seit Mitte des Jahrhunderts standen cylindro-
conische und cylindroogivale Spitzgeschosse von 11 1 8 rnm
Caliber und gezogene Gewehrläufe (Drall) in Verwendung.
Während bisher französische Kriegschirurgen durch volle drei
Jahrhunderte die Führerrolle innehatten, machen sich schon in
Schleswig deutsche Chirurgen: Hannover, Strom eyer und
Langen beck bemerkbar und das Kriegsjahr 1870 bis
1871 bedeutet einen Wendepunct zu Gunsten der Deutschen
nicht blos in der Kriegsführung, sondern auch in der Kriegs¬
chirurgie, indem seither deutsche Chirurgen die Bannerträger
der Kriegschirurgie geblieben sind. Hier wirkte auch unser zu
früh dahingegangener Meister Billroth bahnbrechend, wie
wir aus seinen kriegchirurgischen Briefen aus den Feldlazarethen
in Mannheim und Weissenburg ersehen. Mit Charpie und An¬
wendung von übermangansaurem Kalium wurden bis nun un¬
erwartete Heilerfolge bei Kriegsverletzungen erzielt, weil
erstens eine grosse Anzahl von vorzüglichen Kriegschirurgen
(v. Langenbeck, Billroth, v. Esmarch, B a r d e 1 e b e n ,
v. Volk mann u. A. m.) am Kriegsschauplätze thätig und
zweitens die Organisation des staatlichen Sanitätsdienstes und
der freiwilligen Sanitätspflege musterhaft durchgeführt war,
nachdem es die deutsche Kriegsverwaltung vorher nicht ver-
474
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 21
säumt hatte, Fachorgane über den Ocean nach Amerika behufs
Studiums des Sanitätsdienstes im Felde zu entsenden und sich
die Erfahrungen im Gebiete der Kranken- und Verwundeten¬
zerstreuung, welche bei uns im italienischen Kriege 1859 durch
Generalstabsarzt Felix v. K r a u s zuerst im grossen Massstabe er¬
folgreich durchgeführt wurde, ferner die Verwendung der Sanitäts-
ziige zum Krankenabschube und die Benützung von Kranken-
Baraken zur Unterbringung von Verwundeten und Isolirung
von Infectionskranken zu eigen machte. Hiedurch ist die relativ
günstige Sterblichkeitsziffer von 1 2% unter den
99.566 deutsch enBlessirten in d e n F eldlazarethen
und die gute Functionirung des Sanitätsdienstes in erster Linie
begründet, indem Verwundete der deutschen Heere zumeist
binnen 10 — 12 Stunden versorgt waren, wie Le Fort durch
eigene Wahrnehmung bestätigen konnte. Hier nahmen die
Deutschen den Kampf mit einem vorzüglichen Hinterlader der
Franzosen (Chassepot) auf und gingen aus demselben in Folge
überlegener Taktik siegreich hervor. In diese Zeit fällt
die epochale Entdeckung von Josef Lister und
seine antiseptische Wundbehandlung bildet einen
Markstein dieses Jahrhunderts von unvergänglichem Glanze.
Es ist meine Pflicht hier hervorzuheben, dass es das unsterbliche
Verdienst von J. Ph. Semmel weis war, die Wund¬
in f e c t i o n als Erster beim Kindbettfieber erkannt und empirisch
den richtigen Weg zu ihrer Verhütung angegeben zu haben,
während L. Pasteur gleichzeitig auf die Anwesenheit von
Mikroorganismen bei der Gährung hinwies und auf diese Art
den Boden für die Lehre L i s t e r’s vorbereitet hatte. Als
v. Berg m ann während des türkisch-russischen Krieges am
Balkan 1877 — 1878 durch antiseptische Occlusion (mit SalicyJ-
verband) in Combination mit Gypsverband den Beweis erbracht
hatte, dass die Antiseptik im Felde anwendbar ist,
wurde dieselbe seither auch Gemeingut der Kriegschirurgen,
und Rey her konnte bei der russischen Armee in Kleinasien
bereits eine Art von Statistik über Kriegsantiseptik liefern.
In den ungünstigen Verhältnissen der russischen Armee am
Balkan, welche weit vom Heimatslande zu operiren hatte und
von demselben durch einen grossen Wasserstrom getrennt war,
ferner in der mangelhaften Organisation des Sanitätsdienstes
lag jedoch der Kern zum Misslingen der Wundbehandlung,
deren Resultate die denkbar ungünstigsten waren. Die Auflesung
der Blessirten erst in zwei bis drei Tagen nach der Ver¬
wundung, der marter volle Transport auf den bulgarischen
Bauernwagen und die schlechte Unterkunft zur Winterszeit,
ferner die ungenügende Pflege haben es verschuldet, dass die
Sterblichkeit unter den Blessirten 26°/o betragen hatte und
nachdem das Nahfeuer der türkischen Truppen durch die
Snider- und Martinigewelire so verheerend wirkte, dass auf
drei, bei Plewna auf zwei Verwundete ein Todter entfiel, so wird
die prekäre Lage der russischen Armee hinlänglich erklärlich.
Hier tritt uns zum letzten Male die sympathische Erscheinung
von Pirogoff entgegen. Den ersten stichhältigen und statistisch
fundirten Beweis über die günstige Wirkung der Antiseptik
im Felde verdanken wir v. M o s e t i g, M a y d 1, Alex.
F r a e n k e 1 u. A. aus dem serbo - bulgarischen Kriege
1885 — 1886, wo auf Grund secundärer Antiseptik die
Sterblichkeit in den Feldspitälern auf 1‘5% herabsank und
unter dem Schutze derselben die grössten Operationen erfolgreich
ausgeführt worden sind.
In dieser Zeit (1885) erschien die Publication von R. Koch:
Untersuchungen über die Aetiologie der Wund¬
in fe c t i o n s k r a n k h e it e n, in welcher wir mit den Mikro¬
organismen der Wundeiterung bekannt gemacht werden,
und in diesem Zustande befand sich beiläufig die Kriegs¬
chirurgie, als im Jahre 1886 die Franzosen mit einem
neuen Ordonnanzgewehr hervorgetreten waren, welches einen
Repetirer von 8 mm darstellte. Mit einem Schlage wurden
hier die Rep etirfrage, die Caliberfrage und die Pulver¬
frage2) gelöst, und seither sind alle Armeen mit klein-
calibrigen Handfeuerwaffen ausgerüstet worden. Neben Waffen-
■) Repetirfrage, Caliberfrage und Pulverfrage bei den Handfeuer¬
waffen. Sechs Vorträge, gehalten von Nikolaus R. v. Wuich, k. und k.
Oberst des Artilleriestabes. Wien 1895. Seidel & Sohn.
tecknikern, Ballistikern und Taktikern haben sich auch Kriegs¬
chirurgen dem Studium des Kleincalibers gewidmet, und gegen¬
wärtig verfügen wir über eine umfangreiche Literatur in dieser
Richtung. Indessen wurden jedoch nicht blos Fusstruppen, sondern
auch Reitertruppen mit Repetirern bewaffnet, und das Artillerie
wesen macht gleichfalls einen Umwandlungsprocess durch, welcher
nicht minder beachtungswerth erscheint. Es ist einleuchtend, dass
diese Momente den gegenwärtigen Stand der Verwundungs¬
frage im Kriege beeinflussen müssen, und nachdem Viele
von den Civilärzten im Kriegsfälle berufen sind, als Truppen¬
oder Spitalsärzte mitzuwirken, so erscheint die Erörterung
dieses Gegenstandes gewiss hinlänglich begründet. Um den
richtigen Einblick in den Mechanismus der verschiedenartigen
Verletzungen im Kriege zu gewinnen, genügt das theoretische
Studium der einschlägigen Literaturwerke nur unvollständig,
sondern es erscheint dringend nothwendig, sich durch ex¬
perimentelle Studien für das Fach der Kriegschirurgie vorzu¬
bereiten und allerlei Arten von Verletzungen der Friedens¬
praxis zu verwerthen, um im Bedarfsfälle die Kriegsverletzungen
richtig beurtheilen und behandeln zu können. Weise und für¬
sorgliche Armeeverwaltungen unterlassen es ferner nicht, ihre
Organe bei Ausbruch eines Krieges auf den Kriegsschauplatz
selbst zu entsenden, und hat in dieser Richtung die freiwillige
Krankenpflege in den letzten Jahren viel Lobenswerthes ge¬
leistet, so z. B. im serbo-türkischen (1875 — 1876) und türkisch¬
montenegrinischen Kriege (1876 — 1877) das Rothe Kreuz von
Russland, im serbo-bulgarischen Kriege (1885 — 1886) die Orden
und Vereine von Oesterreich-Ungarn, Deutschland, Russland
und England, im griechisch-türkischen Kriege (1897) jene von
Oesterreich-Ungarn, Deutschland3 4), Russland, England und
Amerika und im auglo-boerischen Kriege die Missionen von
Deutschland, Russland und Holland. Als im Jahre 1891 in
Chile zum ersten Male Kleincalibergewehre in Verwendung
kamen, hoffte man bald eine vergleichende Statistik der Schuss¬
verletzungen gegenüber dem alten System von Kriegsgewehren
verwerthen zu können, welche jedoch bis zur Stunde nicht
erschienen ist. Hingegen berichteten die Franzosen aus Dahomey
über gutartige Schuss Verletzungen seitens ihres Lebel-Ge wehres,
während der japanisch-chinesische Krieg (1894 — 1895) und
die kriegerische Campagne der Italiener in Abyssinien (1896)
nichts Neues gebracht hat, ebensowenig wie der griechisch¬
türkische Krieg (1897), nachdem hier fast ausschliesslich noch
die alten Kriegsgewehre in Benützung standen. Im spanisch¬
amerikanischen Kriege (1898) standen sich beiderseits klein-
calibrige Kriegsgewehre gegenüber; über das Schicksal des
Krieges entschieden hier jedoch die Schiffsgeschütze, und nach¬
dem die bis nun erschienenen Verwundungsstatistiken von Seite
der Amerikaner1) gleichfalls nicht abgeschlossen sind, so ist
den Vermuthungen weiter Spielraum offen gelassen worden,
während die Verwundungsfrage in praktischem Sinne von
Senn u. A. lehrreich erörtert worden ist.
3) Bericht des Central-Comites der Deutschen Vereine vom Rothen
Kreuz über seine internationale Hilfsthätigkeit während des türkisch¬
griechischen Krieges 1897. Berlin 1897.
4) Die durchschnittliche Stärke der amerikanischen Armee belief sich
auf 167.168 Mann. In der Zeit vom 1. Mai bis 31. December 1898
sind gefallen . 283 Mann
verwundet . 1600 »
an Krankheiten gestorben . . . 4965 »
Verhältniss der Todten zu den Verwundeten
bei El Caney und San Juan (vor Santiago de
Cuba) . 1:4
bei Manila . . 1 : 6‘7
bei La Guasima . 1 : 3’25
im Gesammtverlust . 1 : 5‘6
Für die Zeit vom 1. Mai 1898 bis 30. Juni 1899 (Kämpfe auf den
Philippinen nach Friedensschluss) melden vorläufige Berichte:
Gesammt-Todesfälle 6619,
davon im Kampfe gefallen . 496
später an Wunden gestorben . 202
durch Verunglückung gestorben .... 216
914
An Krankheiten gestorben 5705 (darunter an Typhus 2774, Malaria
476, Pneumonie 359, Dysenterie 342, Gelbfieber 185 u. ä.). Diese und
nachfolgende Statistiken verdanke ich den Angaben des k. und k. Regiments¬
und Paradearztes Dr. J. Steiner.
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
47f>
Bis nun liegen somit keine einwandfreien und brauchbaren
Statistiken im Sinne von 0 1 i o über den amerikanischen Se-
cessionskrieg (1861 — 1865) und des Sanitätsberichtes über die
deutschen Heere (1870 — 1871) vor, welche einen Schluss auf
die Ver wund ungsfähigk eit des Klein calibers
im Kriege gestatten dürften, und es scheint dem gegenwärtig
wüthenden Kriege zwischen den Boeren und Engländern Vor¬
behalten zu sein, vielleicht einigermassen Licht über die actuelle
Frage zu verbreiten. Thatsache bleibt, dass das
Kleincaliber keineswegs so gutartig wirkt, wie
von mancher Seite angenommen und gewünscht
w i r d. Als die Engländer 1897 die Grenzstämme in Indien
zu bekämpfen hatten, schien ihnen das Lee-Metford-Geschoss
(M. 89 von 7‘69 mm Caliber und 610 Anfangsgeschwindigkeit)
nicht hinlänglich wirkungsfähig, und deshalb Hessen sie in Dum
Dum, Fabrik bei Calcutta, sogenannte Weichnasen oder Dum
Dum-Geschosse mit blossliegender Bleispitze erzeugen, welche
sich beim Auftreffen stark stauchten und in Folge der ge¬
waltigen ballistischen Arbeitsenergie verheerende Wirkungen
hervorriefen, wie Prof. Bruns5) in einer gediegenen Ex-
periinentalarbeit nachgewiesen hatte. Aehnliche Geschosse haben
Jäger und Sportsmänner gegen Hochwild gleichfalls mit Erfolg
angewendet, indem sie durch Blosslegen und Abkappen des
Bleinkernes und Reducirung des Metallmantels das Geschoss
explosionsartig wirken Hessen. Bruns gebührt das Verdienst,
dass dieses Geschoss in der Haager Friedensconferenz (1899)
als völkerwiderrechtlich stigmatisirt wurde.
In Sudan (1898) gebrauchten die Engländer ein Hohl¬
spitzengeschoss, welches ähnliche Schusswirkungen im
Nahfeuer hervorruft und gleichfalls von Bruns0) experimentell
als inhuman hingestellt worden ist. In Afrika sollen die
Engländer nur ein Lee-Metford-V ollgeschoss gebrauchen,
während die Boeren mit einem vorzüglichen Repetirer (Mauser
M. 93) von 7 mm Caliber, einem Vollgeschoss von 11*2 g Ge¬
wicht, V 25 = 690 m Geschwindigkeit, 4000 m Ertrag und von
gewaltiger Durchschlagskraft versehen sind. Die Kämpfe am
Modder River und Tugela illustriren die Wirkungsfähigkeit
des Kleincalibers in überzeugender Weise und bestätigen so¬
wohl die Annahmen der Ballistiker, als auch die Schiessergeb¬
nisse der Kriegschirurgen (Reger, v. C o 1 e r - S c h j e r n i n g,
B i r c h e r, Kocher, Nimier-Chauvel, Delorme, D e-
m os then u. A.)
Die kleincalibrigen Handfeuerwaffen unterscheiden sich
von den früheren Kriegsgewehren 1. durch die gesteigerte
Präcision, die Paketladung (Mehrlader) und den Repetir-
mechanismus, weshalb sie Schnellfeuerwaffen heissen; 2. durch
grössere Härte des Geschosses, welches durch Stahl-, Nickel¬
oder Kupfermantel versteift und hiedurch gegen Stauchung
Grössen- und
Gewichts¬
verhältnisse
Muster des Ges
c h o s s e s
Tabatiere
Zündnadel
(Dreyse)
Chassepot
Snider
Martini
W erndl
Repetirer
Caliber in
Millimetern
18
13-5
11*8
14
11
11
80
6-5
5-0
Länge in
Millimetern
24
28-5
25-0
25
31
27
31-8
31-4
32
Gewicht in
Grammen
35—47
31-0
250
31
32
24
15-8
10-5
6-5
Querschnitts¬
belastung pro
Quadrat¬
millimeter
0-137
0-223
0-228
0-192
0-245
0-25
0-3
0-3
0-316
(Deformirung) theilweise geschützt ist; 3. durch grössere Länge,
geringeres Gewicht (m) und grössere Querschnittsbelastung
des Geschosses; 4. durch grössere Anfangsgeschwindigkeit (v)
5) Ueber die Wirkung der Bleispitzengeschosse. Tübingen 1898.
Laupp’sche Buchhandlung.
c) Ueber die Wirkung der neuesten englischen Armeegeschosse M, IV
(Hohlspitzengeschosse). Tübingen 1899.
von 620, 730, 850 und mehr Meter in der Secunde und hie¬
durch bedingte grössere Arbeitsleistung (Energie), Durchschlags¬
kraft und flache (rasante) Flugbahn, wodurch mehr Zielobjecte
getroffen werden; 5. durch grössere Tragweite (Ertrag), ge¬
ringere Stauchung des Geschosses und grössere Treffsicher¬
heit; durch grösseres Ausmass an Taschenmunition und hiedurch
bedingte grössere Treffwahrscheinlichkeit, welche Wolozkoi
mit 0'25% begrenzt, indem er auf 400 Schuss einen Treffer
annimmt (W o 1 o z k o i’sches Mitte 1).
Unter den angeführten Factoren beeinflusst die speci-
fisclie Querschnittsbelastung des Geschosses
und die Grösse der Auftreffgeschwindigkeit am meisten den
Schusseffect, weshalb jene Kriegsgewehre die besten sind, bei
deren Geschossen grosse Querschnittsbelastungen und günstige
Auftreffgeschwindigkeiten vorhanden sind, wie es bei unserem
Repetirgewehr M. 95 der Fall ist. Um grosse Querschnitts¬
belastungen zu erzielen, blieben einige Staaten beim 8 mm-
Caliber nicht stehen, sondern gingen auf 6'5 mm Caliber herab,
wie Italien, Rumänien und Holland, und gewiegte Ballistiker
(v. W u i c h, W i 1 1 e, Weigner und B e 1 i c z a y 7) behaupten,
dass hiemit noch nicht die untere Grenze eines
verwundungsfähigen und wirkungsvollen Cali¬
bers erreicht sei. Die Verwundungsfähigkeit eines Ge¬
schosses wurde bis nun allgemein durch die Gesammt-
m . v2
Energie (lebendige Kraft) E = — ^ — ausgedrückt,
welche in einer Distanz von 0 m bei unserem Repetirer 309'6 mhg
(Meterkilogramm) beträgt. Nachdem laut Erfahrungen eine
Gesammt- Energie von 3 — 5 mhg genügt, um einen Menschen
zu tödten, wenn lebenswichtige Organe (grosse Schlagadern
am Halse oder in der Schenkelbeuge, ferner jene der Glied¬
massen und der Körperhöhlen, dann Herz, Magen, Darm u. a.)
getroffen werden und beim Pferde dieselbe Wirkung noch
durch 5—10 mhg Arbeitsleistung des Geschosses erzielt wird,
so ersieht man, dass sich die Zone der tödtlichen Ge¬
wehrschüsse bei 8 mm Caliber nahezu bis auf 4000 m Ent¬
fernung erstreckt, nachdem beispielsweise auf 3500 m Distanz
noch eine Gesammt-Energie von 14'7w/cy vorhanden ist. Diese
theoretische Annahme ist durch Beobachtung vorgefallener
Unglücksfälle beim feldmässigen Schiessen, bei Gebrauch der
Schiesswaffe von Wachposten und bei Arbeitertumulten in der
That bestätigt worden, während Beobachtungen aus den Kriegen
letzter Jahre nicht vorliegen, da hiezu selten Müsse und Ge¬
legenheit gefunden wird. Die Kampfunfähigkeit kann
indessen durch blosse Verhinderung des Anlaufes seitens des
Gegners erzielt werden, und hiezu ist nicht immer ein tödtlicher
Schuss erforderlich, sondern es genügt, den Anlauf durch Ver¬
wundung des knöchernen Bewegungsapparates aufzuhalten, und
deshalb kann bei Beurtheilung der Verwundungsfähigkeit einer
Kriegswaffe auch blos jene Geschossenergie in Calcul gezogen
werden, welche die langen compacten Röhrenknochen noch zu
splittern vermag, und hiezu genügt eine Gesammt-Energie von
20 — 23 mhg, welche Bedingung das deutsche Repetirgewehr
M. 88 noch auf 2000 m erfüllt, während der Wirkungsbereich
unseies Repetirgewehres M. 95 bis auf 2200 — 2300 m hinaus¬
reicht, wie ich schon vor Jahren durch Experimente festgestellt
habe, indem ich die Distanz grenze für wirksame
Knochenschüsse mit 3000 Schritten (2250 m) fest¬
stellte.8) Es gereicht mir zur grossen Befriedigung, dass nun¬
mehr ein gewiegter Ballistiker (Hauptmann A. Beliczay in
seiner vorcitirten Studie, Seite 159, Tabelle III) durch Be¬
rechnung dieselben Grenzwerthe nachgewiesen hat, wodurch
jeder Zweifel über die objective Beurtheilung der Experimental¬
ergebnisse behoben erscheint. Es ist einleuchtend, dass bei
Geschossen, welche lebende oder leblose Kampfziele durch¬
dringen, nicht immer die totale Auftreffenergie verbraucht wird,
sondern ein Antheil derselben unbeniitzt bleibt, insofern er
nicht zur reciproken Rückwirkung auf das Geschoss selbst,
7) Wirkungsfähigkeit kleincalibriger Gewehre. Mittheilungen über
Gegenstände des Artillerie- und Geniewesens. Jahrgang 1900, 3. Heft.
8) Siehe: Geschosswirkung der 8 mm -Handfeuerwaffen an Menschen
irnd Pferden. Seite 95, zweite Zeile von unten. Wien 1892. 1 erlag
von Josef Safaf.
476
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 21
d. h. zur Deformirung desselben oder zur Umsetzung in Wärme
m . v*
ausgenützt worden ist. Nach Beliczay versinnlicht E = —
den ganzen Effect der Geschosswirkung bei Gegenständen, die
das Geschoss nicht durchdringen kann, während die Wirkung
des Geschosses bei Gegenständen, die es durchdringt, durch
m v
Eq= , d. h. durch die Querschnittsenergie angegeben
2 . r2 7r
wird. Nach dieser Formel repräsentirt das deutsche Repetir-
gewehr M. 88 eine Querschnittsenergie von 6 093 mhg pro
Quadratmillimeter, das italienische Repetirgewehr von 6*5 mm
Caliber M. 91 eine solche von l'2^bmkg, das französische
Lebel-Gewehr M. 86 solche von 5-737w% und unser Gewehr
M. 95 eine Querschnittsenergie von 5‘862 mkg. Es steht nun
fest, dass eine Querschnittsenergie von 0'446 mlcg genügt, um
compacte Röhrenknochen noch zu splittern, und beim deutschen
Repetirgewehr M. 88 in der Entfernung von 2000 m ge¬
leistet wird. Heutzutage wissen wir demnach, dass nicht die
Gesammt-Energie, sondern die Querschnitts-Energie
die Verwundungsfähigkeit eines Geschosses bestimmt.
Nachdem aber die Querschnitts-Energien der kleinst-
calibrigen Geschosse (von 6f5, 6, 5'5 und 5 mm Caliber) im
Allgemeinen grössere Werthe aufweisen als jene der 8 mm
Geschosse, so lassen erstere — wenigstens theoretisch — auch
eine grössere Wirkung erwarten. Die durch 5 mm - G e-
schosse erzeugten Schusspräparate lassen auf
nahen Distanzen t hatsächlich eine viel grössere
Wirkung erkennen als bei 8 mm Caliber.
auch ein wesentlich kräftigeres Pulver als das Schwarzpulver
erforderlich und nunmehr stehen hauptsächlich zwei Nitro-
körper in Verwendung, und zwar das Nitrocellulosepulver
(Schiesswollpulver) für die Handfeuerwaffen und die Combination
der Nitrocellulose mit Nitroglycerin als Sprenggelatinepulver
für die Feldgeschütze, während für die brisanten Spreng
geschosse (Bomben und Granaten) Pikrinsäurepräparate (Melinit,
Ecrasit) benützt werden.
Mit der Lösung der Caliberfrage wurde auch die Er¬
höhung der Patronenzahl pro Mann erreicht, welche beim
deutschen Infanteristen heute bereits 150 Stück als Taschen¬
munition und 150 Stück als Reserve vorrath beträgt und mit
Verkleinerung des Calibers auf 200, beziehungsweise 400 ge¬
steigert werden kann, so dass nach dem W o 1 o z k o i’schen
Trefferprocent ein Treffer von jedem Mann der F uss-
truppen zu erreichen wäre. Ich habe unter Zugrundelegung
dieser Patronenausrüstung die voraussichtliche Verwundetenzahl
rechnungsmässig festgestellt und gefunden, dass 1. im All¬
gemeinen die Verwundungszahl im Kriege zunehmen muss,
2. ein Todter auf vier Treffer entfällt und in Folge dieses
Verhältnisses 1 : 3 die Zahl der Todten = 25% gegenüber
den früheren Verluststatistiken zunehmen wird und 3. das
Verhältniss der Leicht- und Schwerblessirten etwa wie 55 : 20
ausfällt, während Birch er9) nur 15% stärkere Knochen¬
splitterungen und die Zahl der Leichtblessirten von 60% an¬
nimmt. Es wird gewiss feindliche Zusammenstösse geben, wo
das Verhältniss der Todten zu den Verwundeten zunehmen
und die Höhe jener bei der russischen Armee bei Plewna er-
Baliistische Leistungen nachfolgender Kriegsgewehre nach Beliczay.
Deutsches Repetirgewehr
M. 88.
Caliber 79 mm, Gewicht des Geschosses 14-7 g,
Länge des Geschosses 3L25 mm, specifische
Querschnittsbelastung 0283 mm2, Umdrehungs¬
zahl 2660.
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Italienisches Repetirgewehr
M. 91.
Caliber 6 5 mm, Gewicht des Geschosses 10'2 g,
Länge des Geschosses 305 mm, specifische Quer¬
schnittsbelastung 0 289 mm2, Umdrehungszahl
2770.
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Oesterreich isch-ungarisches
Repetirgewehr M. 95.
Caliber 8 mm, Gewicht des Geschosses
Länge des Geschosses 31 '8 mm, specifische Quer¬
schnittsbelastung 0299 — 0'30 mm2, Umdrehungs¬
zahl 2480.
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392-9
348 7
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284-4
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250 0
239-5
229-5
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185-4
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239
186
145
113
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76
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58
53
49
45
42
38
35
32
30
27
25
23
6-093
4-638
3-609
2-813
2-192
1-746
1-474
1-289
1-222
1125
1 028
0 950
0-873
0 815
0-737
0-679
0-621
0-582
0-523
0-485
0-446
0
100
200
300
400
500
600
700
800
900
1000
1100
1200
1300
1400
1500
1600
1700
1800
1900
2000
700
615
541
476
420
373
334
308
290
276
263
252
242
232
223
215
207
199
192
184
177
257-2
198 6
153-6
1189
91 7
723
58-5
49-8
44 1
39-9
36-3
333
30-7
28-2
26-1
24-2
22-4
20-7
19-3
17-7
16 4
7 295
5633
4-356
3 372
2-601
2-051
1-659
1 412
1-250
1-131
1-029
0-944
0-870
0-799
0-740
0-686
0-635
0-58?
0-547
0-502
0 465
0
100
200
300
400
500
600
700
800
900
1000
1100
1200
1300
1400
1500
1600
1700
1800
1900
2000
620
550
490
440
400
370
350
330
315
300
285
274
262
249
239
230
221
215
208
202
195
309-6
243-6
1934
155'9
128 9
110-3
98-7
87 7
79-9
72-5
65-4
60-5
553
510
46-9
42-6
39-9
37T
340
32-1
30-6
5-862
4-442
3-662
2952
2 440
2-088
1 868
1-660
1-512
1-372
1-218
1-145
1-047
0-965
0-888
0806
i )’7B5
0-702
0-643
0-607
0-566
Mit der Verkleinerung des Calibers erfolgte eine Ver¬
längerung des Geschosses, wodurch eine günstige Querschnitts¬
belastung zu Stande kam, welche im Vereine mit der Ver-
grösserung der Anfangsgeschwindigkeit die Bahnrasanz steigerte
und die Eindringungstiefe des Geschosses erhöhte. Hiezu ist
reicht wird, woselbst nach Pirogoff dasselbe 1 : 2, ja sogar
1 : 1 betrug, indem anfangs auf drei und später auf zwei Ver¬
wundete ein Todter entfallen ist. Die Kleincaliberwaffen wirken
9) Neue Untersuchungen über die Wirkung der Handfeuerwaffen.
Aarau 1896, pag. 53.
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
477
bis zu 500 m Distanz auffallend zerstörend, indem Knochen¬
gebilde aller Gattungen innerhalb dieser Entfernungen mehr
oder minder zermalmt und zersplittert und mit Flüssigkeiten
gefüllte Hohlorgane (Schädel, Herz, Magen, Darm, Blase) im
weiten Umfange eröffnet werden. Man bezeichnet diese Wirkungs¬
zone als Explosivzone im Nahfeuer. Gelingt es dem
Vertheidiger, den Feind in den Bereich dieser Zone heran¬
zulocken, so ist derselbe in eine Falle gerathen, wo die Ver¬
lustgrösse stark emporschnellt. Dieselbe betrug beispiels¬
weise auf unserer Seite im italienischem Feldzuge 22,49%> in
Böhmen im Jahre 1866 hingegen 29 2%, weil unsere Truppen
noch mit Vorderlader bewaffnet waren und einem viel präciseren
Kriegsgewehr, dem Hinterlader (Zündnadelgewehr) der Preussen
gegenüberstanden. Die deutschen Heere hatten 1870 — 1871
eine Verlustgrösse von 14'8% und die Russen bei der Donau¬
armee 1877 — 1878 ein solches von 20‘88%.
Eine Truppe, welche es versteht, ihren Munitionsvorrath
für diese Zone des wirksamsten Gewehrfeuers aufzusparen, hat
berechtigte Aussicht auf Erfolg, in welcher Richtung sich die
Boeren nicht nur als Meisterschützen, sondern auch als vor¬
zügliche Kenner der Feuerdisciplin bewährt haben, so am Spions-
kop beim Zurückdrängen der Buller’schen Divisionen u. dgl. m.
Von 500 — 2250 m können gleichfalls noch Knochen lebender
Kampfziele durch das Kleincaliber durchgeschlagen und Weich¬
gebilde aller Grade durchbohrt oder zerrissen werden, und nach¬
dem die Aufsatzstellungen nur bis 2000 m reichen, so sind
Treffer, welche ausserhalb dieser Schussweite erfolgen, nur
Zufallstreffer und man bezeichnet die Zone über 1500 m hinaus
als die Zone der ungezielten Schüsse oder des Fehlfeuers,
im Allgemeinen aber die Strecke hinter 500 m als F e r n-
f e u e r.
Die Ueberlegenheit der Mauser- Selbstladepistole über den
Armeerevolver wurde durch Bruns experimentell festgestellt und
hiedurch auch ihre Kriegsbrauchbarkeit erwiesen. 10)
Verhältniss der Hauptwaffengattungen zu ein¬
ander (nach Berndt11).
Es kamen auf 1000 Infanteristen in der Schlacht bei:
Leipzig (1813) .
200 Reiter und 4*5
Geschütze
Solferino (1859) .
80
3-0
»
Custozza (1866) .
70
20
»
Königgrätz (1866) .
130
35
»
Wörth (1870) .
160
»
35
»
Mars-la-Tour (1870)
170
4-5
»
Sedan (1870) .
150
1>
45
Plewna (30. Juli 1877) . .
ferner in der
120
4-0
französischen Armee (1813)
190
y>
30
russischen Armee (Krim 1855)
österreichischen Armee (Italien
130
»
»
30
»
1859) .
österreichischen Armee (Böhmen
40
3 0
1866) .
österreichischen Armee (Italien
110
30
1866) .
40
»
20
preussischen Armee (1866) .
120
»
»
3 0
»
italienischen Armee (1866) .
60
20
deutschen Armee (1870) .
70
»
»
30
französischen Armee (1870)
100
»
3 5
Nach Ansicht der Strategen und
Taktiker
dei
• Jetztzeit
sollen auf 10 Infanteristen 1
2 Geschütze entfallen.
Reiter,
und
auf 1000 Mann
Neben den Feuerwaffen verdienen die b 1
anken
Waffen
bei Beurtheilung der Verwundungsfrage genannt zu werden
und hier variirt das Verwundungsprocent zwischen 0 37 im
amerikanischen Kriege (1861 — 1865), in welchem 522 Säbel¬
hiebwunden und 400 Bajonnettstichwunden (nach Otis) be¬
handelt worden sind, und zwischen 3'9 im böhmischen Feld¬
zuge (nach Richter) im Vergleiche zum Gesammtverluste
der Armeen, und dasselbe ist bei den Engländern in den
,0) Militärarzt Nr. 20 vom Jahre 1897.
") Die Zahl im Kriege. 1897.
Kämpfen am Nil und in Suakim auf 15 — 20 gestiegen, nach¬
dem der Feind vorwiegend mit Säbel und Pfeil bewaffnet war.
Unter die blanken Waffen werden gezählt die verschiedenen
Formen von Bajonnetten (siehe S. 393 — 396. Les Armes
blanches 12), Säbel, Degen, Lanzen und Piken, welche als
Hieb- und Stichwaffen in Verwendung gelangen. Gegen¬
wärtig sind die Gewehrbajonnette zumeist als Stichbajoanette
construirt, während früher mehr Haubajonnette oder Misch¬
formen von beiden benützt worden sind und nunmehr sind die
Reitertruppen in Russland, Deutschland und Frankreich nicht
blos mit Repetircarabinern und Säbeln, sondern auch mit
Lanzen ausgerüstet, welche eine gefürchtete Kriegswaffe
darstellen.
Nachdem die Cavallerietruppen mehr exponirt sind als
die Infanterietruppen, indem sie nicht so leicht in Deckungen
Schutz finden können wie letztere, so sind sie auch mehr Ver¬
wundungen ausgesetzt, und während in der deutschen Armee
1870 — 1871 das Verwundungsprocent bei der Infanterie 0‘60
betrug, steigerte sich dasselbe bei den Reitertruppen auf 113
(Nimier, 1. c., pag. 114), und deshalb begegnet man auch
mehrfachen Verletzungen, sobald Cavallerieattaquen geritten
werden. Durch Sturz vom Pferde, zumal das Reitergefecht
pele-mele wüthet, durch Hufschlag, durch Schleifen vom Pferde
können die vielfachen Verletzungen noch mehr complicirt
werden, indem sich zu einfachen oder durchdringenden Hieb¬
und Stichwunden Riss- und Quetschwunden und Knochen¬
brüche nebst Verrenkungen aller Art hinzugesellen. Seit jeher
wurden Lanzenstiche mehr gefürchtet als Säbelhiebwunden und
sind im Allgemeinen gefährlicher als letztere, indem die Sterb¬
lichkeit im amerikanischen Kriege unter den Stichverletzungen
3% gegenüber von 0'71% der Hiebwunden und bei den
Deutschen 1870 — 1871 etwa 3‘8% betrug. Die Reitertruppen
haben in Folge der grossen Tragweite der kleincalibrigen
Handfeuerwaffen im Aufklärungsdienste mehr Hindernisse zu
bewältigen als ehedem, und nachdem heutzutage keine Armee
über berittene Blessirtenträger verfügt, wie solche unter
Napoleon I. durch Larrey organisirt worden sind, wird ihnen
zumeist die ärztliche Hilfeleistung viel später zu Theil als den
übrigen Waffengattungen.
In diese Gruppe von Verletzungen sind auch die
Misshandlungen verwundeter Krieger einzureihen, welche
bei orientalischen und nicht civilisirten Volksstämmen üblich
sind und auch vom Balkan in den Jahren 1869 — 1878
manche traurige Reminiscenz hinterlassen haben. Es sind die
Köpfungen oder Decapitationen (Decollations), wie sie von
türkischen und chinesischen (in Toking) Soldaten geübt worden
sind und welche barbarische Missethat auch zur Nachahmung
bei den Nachbarvölkern geführt hatte. Verstümmelungen durch
Abschneiden von Ohren, Nasen, Lippen, Fingern und Zehen,
ja Absetzungen ganzer Gliedmassen sind der Ausdruck bestia¬
lischer Entartung des Menschengeschlechtes und wurden noch
zu Ende dieses Jahrhunderts, bei uns in der Krivoscie (1869)
und im Occupationsfeldzuge (1878) in Bosnien, bei den Italienern
1896 in Abyssinien (»le mutilazioni di mano destra e piede
sinistro«)13) beobachtet. Die Schändung durch Entmannung
(Emasculation) haben gleichfalls unsere Truppen und die
Italiener zu erleiden gehabt, indem das ganze Genitalorgan
oder Theile desselben (transcutane Castration) durch scharfe
Handschar- oder Yataganhiebe abgesetzt worden sind.
M a r o c c o berichtet eingehend über derlei Beobachtungen
in der italienischen Armee aus Abyssinien, ich will jedoch meine
Erfahrungen über diese Trophäen von abgesetzten Köpfen,
welche im Umkreise des Kriegshelden auf Stangen aufgesteckt
wmrden und über die abgeschnittenen, in Feldtaschen auf¬
bewahrten Weichtheilfragmente der Nasen und Ohren, welche
Les Armes blanches. Leur action et leurs effects vulnerants;
A. Nimie r, medecin principal de 2. cl., professeur au Val-de-Grace, und
Ed. Laval, medecin aide-major de 1. cl. Paris, Felix Alcan, editeur, 1900.
13) Sulla operasitä del corpo sanitario militare italiano durame la
campagna d’ Africa 1896. Riassunto di 138 relazioni mediclie compilato dal
colonn. medico Panara, segretario del 1’ ispettorato di sanitä militaie,
pag. 1167. Giornale medico del regio esercito. Anno XL V. Enrico Voghero.
Roma 1897.
478
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 21
sich wie weiche Krebse anfühlen, hier nicht des Näheren er¬
örtern.
Die dritte Waffengattung, welcher sowohl im Feld- als
auch im Belagerungs- und Festungskriege, ferner im Gebirgs-
kriege und im Seekriege eine hervorragende Bedeutung zu¬
kommt, ist die Art i 1 le ri e waffe, welche soeben in einem
radicalen Umwandlungsprocess begriffen ist und einen sehr
complicirten Apparat darstellt. Derselben fällt die Aufgabe zu,
Befestigungen zu zerstören, Panzerschiffe in den Grund zu
bohren oder lebende Kampfmittel ausser Gefecht zu setzen.
Während bei Beschiessung fester Plätze und Vernichtung von
Seefahrzeugen gegenwärtig hauptsächlich mit Melinit oder
Ecrasit (nitrirte Phenolverbindungen oder Pikrinsäurepräparate)
gefüllte Brisanzgranaten oder Bomben Verwendung finden, ist
die Feldartillerie hauptsächlich mit Shrapnels ausgerüstet. Die
Brisanzgranaten14) sind entweder dünnwandige stählerne oder
gusseiserne Hohlgeschosse (Minengranaten) von verschieden
grossem Gewichte mit grosser Füllung von Pikrinsäure und
Aehnlichem, welche, in geschlossenen Bäumen zur Detonation
gebracht, zerstörend durch die Expansiv Wirkung der Ver¬
brennungsgase wirken, nachdem die Gasspannungen immens
gross sind oder dickwandige Sprenggeschosse mit kleiner
Füllung, deren Sprengstücke Ziele hinter Deckungen ver¬
nichten sollen.
Ueber die Wirkung der Pikrinsäure gewann man im Pro-
cesse Turpin’s, ferner bei der Explosion in Beifort (1887)
und im Arsenale von Toul (1888 t5) die ersten Anhalts¬
punkte, welche seither von Tacliard durch Mittheilung der
wahrgenommenen destructiven Zerstörungen an Menschen bei
diesem Unglücksfall (Abreissen von Gliedmassen, Eröffnung der
Körperhöhlen mit Hervorschleudern von Gedärmen u. dgl. m.)
näher beleuchtet worden sind.16)
Bei Einwirkung dieser Sprenggranaten sind zweierlei
Wirkungen an lebenden Zielen wahrnehmbar: erstens die
dynamische Wirkung seitens der Sprengstücke
des Hohlgeschosses, welche alle Gebilde des getroffenen Zieles
zerreissen und Bilder hervorbringen, welche Pirogoff schon
beim alten groben Geschoss der Artillerie so drastisch gemalt
hat, und zweitens die Effecteseitens der durch plötz¬
lich e Entzünd ungzurDetonation gebrachten Pulver¬
ladung, ob dieselbe nun aus Schwarzpulver, Melinit oder nitro¬
glycerinhaltigem Nitrocellulose-Pulver besteht. Hier tritt anfangs
die gewaltige Luftverdichtung und bald darauf die un¬
vermeidliche Luftverdünnung oder V acuumwirkung
in Kraft und beeinflusst die lebenden Kampfmittel in ver¬
schiedener Weise durch Berstung edler Hohlorgane (Ohr, Auge,
Lunge, Unterleibseingeweide), welche sich durch äussere oder
innere Blutungen äussern kann, ferner durch Shock, Nerven¬
störungen aller Art, durch Psychosen u. dgl. m. Die Wirkung
der berüchtigten Lyddit-Bomben der Engländer ist auf diese
Art zu beurtheilen. Während beim Platzen eines derartigen
Brisanzgeschosses die Sprengstücke nach allen Richtungen
kilometerweit herumgeschleudert werden und getroffene Menschen
und Thiere tödtlich oder mehr minder schwer verletzen, wirkt
gleichzeitig die Verdichtungs- und Verdünnungsatmosphäre in
der nächsten Umgebung der Auffallstelle schädigend ein, und
neben 1 odten, Schwer- und Leichtverwundeten gibt es Fälle,
welche mit Berstung des Trommelfelles, Nasenbluten, vorüber¬
gehender Ohnmacht davon kommen oder ganz unverletzt
bleiben. Als Complication wird oft Wundtetanus bei den Ver¬
letzten beobachtet, nachdem mit den Sprengstticken Erd¬
partikelchen in den Körper gelangen und den Tetanusbacillus
einschleppen, ferner malignes Oedem, wie ich experimentell
durch h üllen von Hauttaschen mit Erde bei Hunden und Kanin¬
chen nachweisen konnte. Nicht selten findet man abgerissene
Kürpertheile mit blossliegenden Gefässen, welche wenig oder
14) Schiessbericht 89 von Friedrich Krupp, 1898. Die Ent¬
wicklung des K r u p p’schen Feldartillerie-Materials von 1892—1897. Guss¬
stahlfabrik Essen a. Ruhr.
1 ) Siehe pag. 904: Traite de Chirurgie de guerre. Par E. Delorme,
medecin principal etc. Paris 1893.
u9 Les explosifs, les poudres, les projectiles d’exercice, leur action
et leurs effets vulnerants. Von Nimier und Laval. Paris. Felix Alcan
editeur 1899.
gar nicht bluten, indem die zerrissenen, verätzten oder ver¬
brannten Gewebe wenig Neigung zur Blutung zeigen.
Als Universalgeschoss der Feldartillerie
gilt das Shrapnel, d. h. ein Metallhohlgeschoss, welches
mit Rundkugeln von Weich- oder Hartblei gefüllt ist und
als ein in der Luft zerspringendes Streugeschoss
durch seine grosse Tiefenwirkung gegen lebende Ziele
(aufmarschirende, ungedeckte oder wenig gedeckte Fuss-
truppen, Cavallerie und Artillerie) zweckmässig wirken,
aber auch in Deckungen (Mauern) Breschen legen soll. Die
Zahl der Füllkugeln schwankt zwischen 105 und 340, das
Gewicht derselben zwischen 10 und 20#, und als Caliber war
bisher fast allgemein 18 mm üblich. Oberst H. Bireher17)
hat Schiessversuche mit dem schweizerischen 8-4c«i-Bodcn-
kammershrapnel von bahnbrechender Bedeutung durch¬
geführt und die Wirkung der Füllkugeln im menschlichen
Körper klargelegt. Nach Crepiren des Shrapnels in 2000 Distanz
zeigten die Füllkugeln 312 m V, und die Wirkung derselben
gestaltete sich dann verschieden, je nach der Lage im Streu¬
kegel und der jeweiligen Auftreffgeschwindigkeit, beziehungs¬
weise dem Intervall. Gegenwärtig ist man über die Grösse
der lebendigen Kraft (Gesammt-Energie) einer Füllkugel nicht
einig, welche eine Kampfunfähigkeit des lebenden Zieles be¬
dingen soll, indem sich die Franzosen einer solchen von 3‘6 mkg
bei 81 m V begnügen, während in Deutschland 8 vikg und iu
Russland sogar 24 mkg Arbeitsleistung verlangt wird. W eigner 18)
will durch Versuche dargethan haben, dass durch 1 1 mm Füll¬
kugeln von 8'2# Gewicht die Wirkungsfähigkeit des Shrapnels
erhöht werden kann, nachdem hiedurch nicht nur die Zahl der
Füllkugeln von 150 auf 400 erhöht, sondern bei gleicher
Arbeitsleistung auch grössere Durchschlagsleistung erzielt
werden könnte. Aehnlich lautet die Ansicht Bircher’s für
10 mm Caliber.
Die Schusseffecte äussern sich in der Haut durch grössere
Einschussöffnungen als bei kleincalibrigen Handfeuerwaffen,
deren Ränder gequetscht, eingerissen und unregelmässig sind
und in deren Tiefe zumeist Fetzen von Kleidungsstoffen stecken,
während beim Kleincaliber der Einschuss gewöhnlich rund,
wie durch ein Locheisen herausgeschlagen, glatt und rein er¬
scheint.
Der Shrapnelschuss ist somit von Anfang
an gefährlicher bezüglich des Gelingens eines
aseptischen Wundverlaufes und ist für primäre
Occlusion nicht so gut geeignet wie der glatte
Gewehrschuss. Der Ausschuss ist grösser als der Ein¬
schuss. Im Bereiche der Weichtheile und Eingeweideorgane
äussert sich die Wirkung stärker als bei Gewehrschüssen.
Ebenso sind die Verletzungen der Knochen nach allen Rich¬
tungen bedeutend schwerer als bei Infanteriegewehren, es
kommen an Röhrenknochen Splitterbrüche mit weiten Fissuren
zu Stande, welche an die Wirkung des Weichbleies erinnern.
Im Allgemeinen ist der Shrapnelschuss geeignet, auf Ent¬
fernungen von 2000 — 4000 und 5000m Truppenmassen mit einem
Geschosshagel zu überschütten, ähnlich der Salve einer Infanterie-
abtheilung von einer bis drei Compagnien und während man
bei Fusstruppen das Rundblei ausser Gebrauch setzte und das¬
selbe durch ein percussionskräftiges Panzergeschoss ersetzte,
wird es dermalen als Füllkugel verwendet und wirkt beim
Shrapnelschuss in artilleristischen Entfernungen etwa so wie
seinerzeit beim Nah- und Fernfeuer der glatten Vorderlader.
Nachdem ich wiederholt an anderer Stelle 19) die voraussichtlichen
Verlustziffern zu bestimmen versucht habe, sehe ich hier von
Wiederholung dieser Berechnungen ab und gelange auf Grund
meiner Schiessversuche und Studien zu folgenden Schluss¬
folgerungen :
1. Die Neubewaffnung der Armeen mit Repetirwaffen und
die Reorganisation der Artilleriewaffen muss voraussichtlich,
17) Die Wirkung der Artilleriegeschosse. Beilage: Atlas mit 32 Tafeln.
Aarau bei Sauerländer & Co. 1899.
;8) Wie kann die Shrapnelwirkung erhöht werden? Mittheilungen
über Gegenstände des Artillerie- und Genie-Wesens. Wien 1898.
,9) Siehe 5. Heft der Mittheilungen über Gegenstände des Artillerie-
und Genie-Wesens. Wien 1900. Die W o 1 o z k o i’schen Treflferprocente in
Theorie und Praxis des Sanitätsdienstes im Felde.
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
479
sobald grössere Truppenmassen zusammenstossen, grössere Ver¬
luste an Menschen ergeben als ehedem, und wird sich diese
Zunahme hauptsächlich in der Steigerung der tödtlichen
Schüsse manifestiren, indem das Verhältniss 1:3 als Mittel¬
ziffer angenommen werden kann. Demzufolge entfallen 25%
der Verluste auf Todte, 20% auf Schwerblessirte und 55%
auf Leichtblessirte, wobei die Verluste der Cavallerie und
Artillerie zusammen 10% der Gesammtverluste ausmachen
dürften. Nach wie vor begründen jedoch die Erkrankungen
der Truppen grössere Verluste als Kriegswunden, wofür be¬
sonders im spanischen Insurrectionskriege auf Cuba (1895 bis
1897) Belege vorliegen, indem 50°/0 Todesfälle auf Krankheiten
im Felde und blos 5% auf Kriegswunden entfallen.20) Um¬
gekehrte Verhältnisse gelten als Ausnahmsfälle.21)
2. Die in allen grossen Armeen durchgeführten Schiess¬
versuche mit Kleincaliber läuterten die Kenntnisse über Kriegs¬
verletzungen in vortheilhafter Weise. Dieselben zeigen trotz
gesteigerter ballistischer Leistungsfähigkeit der Geschosse einen
relativ gutartigeren Charakter als früher, und Dank der überall
eingeführten Kriegs- Antiseptik und Aseptik gestaltet sich der
Heilungsverlauf der Kriegswunden sehr günstig.
3. Die Indicationsstellung zur Vornahme chirurgischer
Eingriffe (Debridement, Blutstillung, Resectionen und Ampu¬
tationen, Trepanation, Bauchschnitt, Kochsalz-Infusion) ist er¬
leichtert, Dank der Kenntniss der Geschosswirkung und dem
Schutze der Anti- und Aseptik, welche sich (im Sinne von
Brunner) 22) im Kriege vortheilhaft ergänzen, indem Antiseptik
mehr in der ersten Linie zur Anwendung kommt und in den
Feldlazarethen die Aseptik vorwiegen kann.
4. Vorsorglich handeln jene Armeen und Staaten, welche
der Ausbildung ihres Sanitäts- und Hilfssanitätspersonales schon
im Frieden ihre Aufmerksamkeit zuwenden, weil hiedurch der
Sanitätsdienst im Feld gefördert, durch Erzielung günstiger
Heilerfolge die Invalidisirungsziffer herabgesetzt und die Arbeits¬
kraft erhalten wird. Popularisirung des Samariterdienstes im
Sinne von v. Esmarch, Förderung der staatlichen und frei¬
willigen Krankenpflege und grüsstmögliche Ausdehnung sani¬
tärer Massnahmen für den Krieg werden die Heilerfolge
unterstützen.
5. Nicht der erste Verband allein im Sinne von
v. Volkmann entscheidet über das Schicksal der Ver¬
wundeten, sondern mehr noch der erste Transport der
Verwundeten, welcher schnell und schonend erfolgen soll,
um Blessirte ehethunlichst der ärztlichen Hilfeleistung zuzu¬
führen. Geschultes Trägerpersonale für das Auflesen der Bles-
sirten und den Transport derselben und ausreichende ärztliche
Kräfte für die Anlegung des ersten Wund Verbundes können
den Wundverlauf von Haus aus günstig beeinflussen. Fertige
Verbandschablonen im Sinne von v. Bergmann und die Fest¬
stellung der voraussichtlichen Verbandtypen für einzelne Ver¬
wundungsformen werden die erste Hilfe wesentlich erleichtern.
Der Kern des Sanitätsdienstes im Felde liegt
in der. Ad ministration (Pirogoff), und diese hat dafür
zu sorgen, dass im Bedarfsfälle alles Nothwendige an Ort und
Stelle ist.
6. Das Sanitätswesen im Felde erfordert besondere Fach¬
kenntnisse und deshalb wird die selbstständige Leitung
’") Von 187.262 Mann starben auf dem Schlachtfelde 1511
» 187.262 » » an Wunden .... 704
Zusammen . . . 2.218
» 187.263 » » am Gelbfieber . . . 13.004
» 187.262 » » an anderen Krankheit. 40.000
Zusammen . . . 53.004.
~ ') Bei den Engländern in Südafrika in der Stärke von circa
194.000 Mann besteht nach dem officiellen Verlustausweise (inclusive
7. April 1900) bis nun ein solches verkehrtes Verhältniss:
Gefallen in der Schlacht . 2.171
Gestorben an Wunden . 513
Vermisst und gefangen . 3.890
Gestorben an Krankheiten . 1.532
Verwundet . 10.023
Zusammen . . . 18.129
Gesammtverlust 9°/ ,.
‘-) Erfahrungen und Studien über Wundinfection und Wundbehand¬
lung. Von Dr. Konrad Brunner, Chefarzt des Cantonspitales Miinster-
lingen. Frauenfeld, Verlag von J. Huber, 1899.
des Feld Sanitätsdienstes seitens der Militärärzte zur
unabweisbaren Nothwendigkeit, wie es in der englischen Armee
in Chitral 1897, in Sudan 1898 23) und gegenwärtig in Afrika
der Fall ist, deren Sanitätsofficiere combattant sind. Es bildet
sich eine eigene T aktik des Sanitätsdienstes im Felde
aus auf Grund der durch weittragende Kriegswaffen geänderten
Verhältnisse und während die leitenden Sanitätsorgane mit den
bestehenden Hilfskräften (Sanitätspersonen und Sanitätsmaterial)
zu disponiren und den Verwundetenabschub durchzuführen
haben werden, leisten die ausführenden Sanitätsorgane die erste
Hilfe in der Gefechtslinie, am Hilfs- oder Verbandplätze (in der
Ambulanz), im Feldlazarethe, führen hygienische Massnahmen
durch und wachen über den Gesundheitszustand der Armee
(Salubritätscommission). Welch eine schöne und dankbare, aber
schwere und verantwortungsvolle Aufgabe hat hier das Sani¬
tätscorps zu übernehmen! Kriegsspiele, Sanitätsübungen im
Anschlüsse an grosse Truppenmanöver, Reitübungen u. dgl. m.
gehören nunmehr zur kriegsmässigen Ausbildung eines jeden
Sanitätsofficiers des activen und Reservestandes, nachdem
Reserveärzte hauptsächlich den ausführenden Sanitätsdienst zu
leisten haben, welcher ohne Vorbildung nicht gelingen kann.
7. Die grosse Portee der Kriegswaffen fordert eine Ver¬
legung der Hilfsplätze nach rückwärts, wodurch die Blessirten-
träger grosse Strecken zurückzulegon hätten und die Räumung
des Schlachtfeldes verzögert würde. Deshalb wird die Ver¬
schiebung der Hilfsplätze nach vorne auf den
Ort der grössten Verluste am Kampffelde der
schnellen Versorgung der Blessirten den grössten Vorschub
leisten, wozu Feuerpausen oder vollständige Waffenruhe nach
Beendigung der Schlacht benützt werden.
8. Nachdem die Thätigkeit des Sanitätspersonales öfters erst
in der Nacht eingeleitet werden kann, so erfordert die Be¬
leuchtung des Schlachtfeldes eine erhöhte Aufmerksamkeit.
Ausser Pechfackeln, Magnesiumfackeln, Kohl’schen Beleuchtungs¬
apparaten von Petroleum und solchen von Acetylengas
kommen elektrische Beleuchtungskörper in Betracht (M u n d y).
Hier könnten die Vereine vom Rothen Kreuze werkthätig mit¬
helfen. Ebenso harrt die provisorische Unterbringung von Ver¬
wundeten nach grossen Gefechten und Schlachten am Schlacht¬
felde oder in der Nähe desselben noch einer endgiltigen Lösung,
insofern der Verwundetenabschub undurchführbar erscheint
und in jenen Fällen des siegreichen Vorgehens, in denen auch
die Versorgung der feindlichen Blessirten zu bewerkstelligen ist.
9. Die Genfer Convention erscheint reformbedürftig, wie
Bi r eher schon vor Jahren nachgewiesen hat, und werden
hoffentlich bei den Reformberathungen auch Vertreter des
ärztlichen Standes herangezogen werden, welche bei der Haager
F r iede n sconferen z fehlten .
10. Seit dem Jahre 1870 — 1871 begegnen wir bis nun
zum ersten Male im südafrikanischen Kriege auf Seite der
Engländer mehr Verwundungen als Erkrankungen, welche
Thatsache einerseits die Leistungsfähigkeit des Kleincalibers
als Kriegswaffe hinlänglich begründet und andererseits die
seitens der Engländer eingeleiteten sanitären, hygienischen und
administrativen Vorsorgen in einem günstigen Lichte erscheinen
lässt. Neben Kriegshygiene functionirt auch der kriegschirur¬
gische Apparat sowohl auf Seiten der staatlichen als auch auf
Seiten der freiwilligen und internationalen Verwundetenpflege
äusserst prompt und segensreich. Kriegshygiene und Kriegs¬
chirurgie sind berufen, gegenüber den neuesten mörderischen
Producten der Waffentechnik das Gleichgewicht zu halten, denn
die Lehren derselben sind nunmehr vortrefflich fundirt und
mag der Kriegsapparat auch noch zerstörender wirken als bis¬
her, die gewaltigen Fortschritte dieser immer mehr empor¬
strebenden Kunstwissenschaften werden es vermögen, die Wir-
kungen desselben zu paralysiren und nicht blos lebenserhaltend,
sondern im Sinne unseres edlen Berufes auch lebensrettend zu
wirken.
23) Einiges über den Sanitätsdienst während des sudanesischen Feld¬
zuges. im Herbste 1898. Mifgetheilt von Dr. J o h a n n Steiner, k. und k.
Regiments- und Gardearzt. St.reffleur’s österreichische militärische Zeitschrift.
Wien 1899, Bd. II, Heft 2.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 21
Aus dem k. und k. Garnisons-Spitale Nr. 1 in Wien
(Abtheilung für Haut- und Syphiliskranke des Herrn
Stabsarztes Dr. A. Thurnwald).
Ueber die sogenannte Lues hereditaria tarda,
beobachtet an der bosnisch-hercegovinischen
Mannschaft der Wiener Garnison aus den
Jahren 1897, 1898 und 1899.
Von Dr. F. Schuster, k. und k. Oberarzt und Secundarius obiger Ab¬
theilung.
Es ist ungefähr ein halbes Jahrhundert her, dass der
Name »Lues hereditaria tarda« in der medicinischen Literatur
auftauchte und damit eine Menge von Streitfragen entfesselte,
die auch heute noch nicht gelöst scheinen.
Die Entscheidung lag in der Beantwortung der Frage
nach dem Zeiträume, innerhalb welchem noch die ersten
Erscheinungen der ererbten Krankheit nach der Geburt auf-
treten können.
Wer den Namen »Syphilis hereditaria tarda« creirte, ist
wohl schwer zu eruiren; doch dürften wir nicht irre gehen,
wenn wir einen französischen Syphilidologen als Vater dieser
Bezeichnung annehmen. Vielleicht Ri c o r d, vieleicht D i d a y ?
Von dem ersten wurde im Jahre 1853 in einer Sitzung der
medicinischen Akademie der Ausdruck erwähnt und berichtet,
dass er einen 17jährigen jungen Mann in Behandlung habe,
bei welchem in diesem Alter erst die von seinen Eltern er¬
erbte Syphilis in tertiärer Form auftrete, und er sagt weiter¬
hin : »Ich habe Menschen gesehen, bei denen die Syphilis erst
im 40. Lebensjahre sich bemerkbar machte«. Di day aber
veröffentlichte im Jahre 1860 eine Arbeit unter dem Titel:
»Sur une forme particuliere de syphilis congenitale tardive.
(Gaz. hebdorn.)
Auch Augagneur tritt für die Anschauung ein, dass
die hereditäre Syphilis erst spät zum Ausbruch gelangen könne,
was bei dieser sogenannten »tardiven« Form gewöhnlich im
Pubertätsalter oder in noch höherem Alter (er spricht gleich¬
falls von 40 Jahren) möglich sei. M. Robert erzählt sogar
von einem Falle, wo sich die Eruption erst im 65. Lebens¬
jahre zeigte.
Schon damals beim ersten Auftauchen dieser neuen Lehre
wurde viel für und wider über die Möglichkeit einer so
langen Latenz gestritten, und A. Fournier steht noch heute
auf dem bejahenden Standpunkte. In seinem Buche »Die
Vererbung der Syphilis« sagt er Folgendes: »Die hereditäre
Syphilis zeigt zwei Typen: das ist die frühzeitige, here¬
ditäre Syphilis, deren Symptome in utero oder in den
ersten Lebenswochen oder Monaten zur Entwicklung kommen,
und die Syphilis hereditaria tarda, die durch die
ersten Lebensjahre völlig latent bleibt und sich erst im vor¬
gerücktem Alter des Kindes, im Alter von 10, 15 selbst
20 Jahren äussert«. (Citirt nach der Bearbeitung von E. Finger.)
Das Charakteristische, das diese Fälle von anderen unter¬
scheiden soll, ist in folgenden vier Punkten zusammengefasst:
1. Abwesenheit einer Narbe, die auf einen Primäraffect hin-
weisen könnte. 2. Syphilis der Eltern. 3. Erscheinungen ter¬
tiärer Syphilis bei verhältnissmässig jungen Individuen.
4. Das Individuum darf nicht unter vier Jahre alt sein
(G 1 ü c k).
Der Streit über diese Frage wogte hin und her. Die
Verfechter der Möglichkeit einer so langen Latenz haben mit
Eiter und Geschick auf die Aehnlichkeit mit der Lungen-
tuberculose hingewiesen, die ja gleichfalls viele Jahre latent
bleibt, und deren spätes Auftreten erwiesen sei; soll nicht die
Lues, sagen sie, denselben Weg einschlagen können? In der
jüngsten Zeit hat dieses Lager viele seiner Anhänger verloren,
und die meisten Syphilidologen (Neumann, Lang, Kaposi
und Andere) sind dahingekommen, die Existenz einer Lues
hereditaria tarda überhaupt zu negiren.
Wir möchten bei dieser Gelegenheit an jene Pandemie
erinnern, die vor ungefähr 100 Jahren im croatisch-istrianischen
Küstenlaude wüthete, und welche man nach der Ortschaft, wo
sie zuerst aufgetreten sein soll, mit »Skerljevo« bezeichnete.
Die Sanitätsberichte von damals (1802 — 1804) übertreiben
wohl gehörig in der Zahl dieser Kranken, wenn sie von
14.000 sprechen. Der Skerljevo, über welchen eine Fluth von
Schriften entstand, von denen erst die im Jahre 1868 er¬
schienene Broschüre von Dr. v. Pernhoffe r Klarheit schaffte,
wurde zuerst für eine Art »venerischer Krätze« oder doch
wenigstens für eine eigenthümliche »infectiöse« Form der ge¬
wöhnlichen Lues gehalten. So glaubte man, dass sich der
Skerljevo nie durch Beischlaf verbreite und niemals mit Ge¬
schwüren und Bubonen beginne; ferner wurde ein frühzeitiges
Auftreten von Knochenschmerzen (!) constatirt und niemals
ein Resultat durch Ueberimpfung erzielt, v. Pernhoffer
erkannte, dass man es damals mit einer endemischen Syphilis
zu tliun hatte, spricht auch schon von dem Ueberwiegen der
tardiven Form, und dass der Skerljevo nichts anderes als ein
Sammelname von Syphiliserscheinungen sei.
In den Achtziger Jahren nun bekamen wir die Kunde
von derselben endemischen Form der Lues in den occupirten
Ländern. Wenn man den Gewährsmännern glauben kann, so
war die Syphilis vor den Dreissiger- Jahren im Lande wenig
gekannt. Erst im Jahre 1832 soll sie durch ein türkisches
Heer, welches unter Mahmud Pascha einen Aufstand in
Bosnien unterdrückte, eingeschleppt worden sein. Durch die
Untersuchungen und Beobachtungen von Neumann und
Glück, wie von den einheimischen Aerzten, müssen wir an¬
nehmen, dass neben anderen Ursachen, die wir weiter unten
anführen wollen, auch eine gewisse Prädisposition für Syphilis
den Bewohnern dieser Länder eigen ist, welche mit zur Ent¬
stehung der Endemie beigetragen hat.
Nun werden auf unserer Abtheilung mit jedem Jahre bei
Einrückung der Rekruten von bosnisch-hercegovinischen Regi¬
mentern Fälle von Lues beobachtet, bei denen kein Primär¬
affect nachzuweisen ist. Uns liegen aus den letzten drei Jahren
54 solcher Fälle vor, die sich folgendermassen gruppiren : im
Jahre 1897 achtzehn, 1898 vierzehn, 1899 zweiundzwanzig
Syphiliskranke, bei denen durch sorgfältiges Inquiriren oft
nicht einmal ein stattgehabter Coitus, noch weniger ein Primär¬
affect eruirt werden konnte. Wir schliessen absichtliches
Leugnen vollständig aus, weil wir bei anderen venerischen
Erkrankungen, wie zum Beispiel bei Gonnorrhoe, immer
wahren Angaben begegnet sind. Manchmal ging aus der
Anamnese hervor, dass die Kranken in ihrer Jugend an
Rachengeschwüren, Ozaena oder schon an Hautaffectionen
gelitten haben.
Das Jahrbuch des bosnisch-hercegovinischen Landes-
spitales in Serajevo (für 1894, 1895 und 1896) gibt fast die¬
selben Angaben über dieselbe Art seiner Syphilisfälle wieder.
So wie bei unseren Patienten lässt sich auch dort eine »auf¬
fällig hohe Betheiligung der zweiten Decennalperiode, circa 42%
sämmtlicher Syphilisfälle, erweisen«. Ferner wurde ebendaselbst
der Initialaffect nur bei 54-8% der Patienten constatirt, bei
den übrigen konnte weder am Genitale noch an einer anderen
Körperstelle eine Spur desselben gefunden werden.
Bei den Krankheitserscheinungen, wie sie unsere Bos-
niaken darboten, fiel uns das zumeist secundäre Spät¬
stadium der Syphilis auf, und ferner das hauptsächlichste
Ergriffensein der Mund-, Rachenhöhle und des Larynx. Oft
ist nur das Bild einer luetischen Angina nebst allgemeinen
Drüsenschwellungen vorhanden, zu denen sich eine namhafte
Schwellung der Tonsillen bald mit oberflächlicher, bald mit
tiefgreifender Geschwürsbildung gesellt. Hiezu kommen Plaques
von verschiedener Grösse und Ausdehnung an der Mund¬
schleimhaut, der Zunge und den Lippen. Sehr häufig — in
82% der erwähnten Fälle — ist der Larynx mitergriffen.
Ulcera von wechselnder Grösse auf einem oder beiden wahren
Stimmbändern, Anschwellungen und düsterrothe Färbung der
Taschenbänder bedingen die charakteristische heisere und
kraftlose Stimme unserer Kranken. Daneben ist gewöhnlich
auch die Epiglottis diffus geröthet, geschwollen und zusammen¬
gefaltet, das Zahnfleisch aufgelockert.
Ferner war in neun Fällen eine Rhinitis atrophica
luetica zu constatiren neben Vorhandensein von kreisrunden
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
4SI
Geschwüren in Linsengrösse mit etwas harten Rändern und
mit bräunlich gelben, ziemlich fest adhärirenden Borken bedeckt.
Nekrose des knöchernen Antheiles des Nasengerüstes war in
einem einzigen Falle neben vollständigem Verschluss der
Choanen vorhanden. Unter den Hautaffectionen waren das
kleinpapulöse, klein- und grossmaculöse Exanthem selten zu
sehen. Am häufigsten imponirten die breiten Condylome an
Prädilectionsstellen, wie Scrotum und Anus. Zeissl der
Aelt.ere hat den Vorschlag gemacht, die secundäre Syphilis
überhaupt als condylomatöses Stadium der Krankheit zu be¬
nennen. In der That waren bei unseren Kranken die breiten
Condylome das hervorstechendste Symptom ihres Leidens.
Auf der behaarten Kopfhaut constatirten wir in sechs
Fällen ein crustöses Syphilid, welches bei einem Kranken be¬
sonders durch die häufigen Recidive interessant war. Aus¬
gesprochene tertiäre Erscheinungen konnten wir nur bei zwei
Fällen beobachten.
Der erste betrifft den Infanteristen O. S. mit einer tei°ie:en
Periostauftreibung von Taubenei- bis Hühnereigrösse am Stirnbein,
Scheitelbein und an den horizontalen Aesten der Unterkiefer, am
sternalen Ende der Clavicula, am acromialen Ende beider Scapulae,
an der Trochlea links und am linken Köpfchen des Wadenbeines. In
der Scrotalhaut fand sich eine derbe Einlagerung vor. Dabei waren
die falschen Stimmbänder geröthet und aufgelockert, das linke wahre
Stimmband derb infiltrirt. Von dem auf dem Stirnbeine aufgebrochenen
Gumma ging dann ein intercurrirendes Erysipel aus, welches den
ohnehin langwierigen Krankheitsfall noch bedeutend hinauszog.
Der zweite Fall (Infanterist H. B.) war gekennzeichnet durch
Ulcera am Dorsum pedis von nierenförmiger Gestalt mit speckigem
Belag, und durch Knochenauftreibungen entlang beider Tibien, welche
typische Dolores osteocopi hervorriefen.
Diese zwei Kranken könnten wir als ergriffen von der
tardiven Lues anführen, wenn nicht gerade diese in der
Anamnese angegeben hätten, sie wären schon vor mehreren
Jahren an Symptomen erkrankt gewesen, welche auf Syphilis
hinweisen.
Was die Therapie betrifft, so müssen wir hervorheben,
dass bei selbst schweren Fällen die Erscheinungen gewöhnlich
nach 20 — 25 Inunctionen mit Ung. einer, ä 3‘0 — 4 5 g pro die
sämmtlicli zurückgingen, bei Recidiven Jodkali und 5% ig'e
Subli matin jectionen ausgezeichnete Erfolge hervorriefen.
Man kommt zur schliesslichen Ueberzeugung, dass, wie
die schon erwähnte Prädisposition, auch der Heilungstrieb bei
diesem Volke ein grösserer sein muss.
Es sei mir vergönnt, einen Fall, seiner rasch aufeinander
folgenden Recidiven halber, in extenso hier anzuführen. Er
betrifft den Infanteristen S. T. (bosnisch-hercegovinisches
Infanterie Regiment Nr. 4), geboren 1878.
Erster Spitalsaufenthalt vom 19. Januay bis 20. Fe¬
bruar 1899.
Coitus wird überhaupt negirt, ein Primäraffect ist nirgends
nachweisbar. Sämmtliche Drüsen geschwollen, nässende Papeln ad
scrotum et ad anum. Im Pharynx grau belegte Geschwüre. Nach
20 Einreibungen mit Ung. einer. 3*0 <7 pro die, nach Ivalomelbehand-
lung der Papeln und Touchirung der Ulcera im Pharynx mit
Argent, nitric, sind sämmtliche Erscheinungen geschwunden, und der
Patient wird geheilt entlassen.
Zweiter Spitalsaufenthalt: Schon Mitte Mai kommt
Patient wieder mit folgendem Befund: Der grösste Theil der behaarten
Kopfhaut ist mit Borken bedeckt, die Haare sind durch ein zähes
Secret an vielen Stellen verklebt. Der Scheitel des Kopfes wird von
Pusteln eingenommen, die in der Grösse von der eines Hellers bis
zu der eines Guldens wechseln, und von welchen einzelne geplatzt
sind, dicke Granulationswucherungen zeigen und lebhaft secerniren.
Aehnliche Pusteln befinden sich auch zum Theil auf der Stirne, zum
1 heil am Hinterhaupt und Nacken. Die Submaxillardrüsen beiderseits
bohnengross, Retroauriculardriisen über erbsengross. Der Kehlkopf¬
spiegelbefund ergibt: Schleimhaut des Larynx geschwollen und ge¬
röthet. An den Stimmbändern, insbesondere rechts, mehrere Plaques.
Therapie: Zur Erweichung des crustösen Syphilides gaben
wir eine Haube, durchtränkt mit Oleum jecoris aselli. Inunctionen
mit Ung. einer. 4‘5</ pro die. Touchirung des Kehlkopfes mit 5°(Uiger
Argent, nitric. -Lösung. Auf die luxuriirenden Papeln dachziegelförmig
aufgestrichene rothe Präcipi tatsalbe.
Nach zehn Einreibungen sind die Papeln schon ins Niveau der
Kopfhaut zurückgesunken, die Secretion ist verschwunden, die Krusten
sind leicht abhebbar. Kopfhaare werden rasirt. Emplastr. hydrargyr.
cinereum auf die afficirte Kopfhaut.
Nach 25 Einreibungen waren die Papeln überhäutet, die Kopf¬
haut ist glatt, nur mehr geröthet. Nach 80 Einreibungen sind die
Drüsen kaum mehr zu tasten. Sonstige Erscheinungen sämmtlicli
geschwunden, und Patient wird am 20. Juni geheilt entlassen.
Dritter Spital saufenthalt im selben Jahre vom
18. October bis 15. November.
Status: Auf dem ganzen behaarten Kopfe bis zum Nacken
finden sich wieder dichtgedrängte, mit Borken bedeckte und bis omm
elevirte exulcerirte Stellen. Nässende Papeln ad scrotum et anum.
Geschwüre auf den Tonsillen. Drüsen in cervice bohnengross.
Therapie: Rasur der Kopfhaare. Graue Salbe auf die Kopfhaut
applicirt abwechselnd mit Präcipitatsalbe. Sublimatinjectionen (5%)
ad nates. Innerlich Decoct. Zittmanni inspissatum.
Nach der vierten Injection sind die Papeln am Kopfe abgeheilt.
Geschwüre im Munde verheilt, die Papeln ad scrotum et anum nach
örtlicher Kalomelbehandlung verschwunden. Nach der fünften In¬
jection war die Kopfhaut glatt und an einzelnen Stellen nur mehr
blassroth. Mit Urlaubsantrag wird Patient auf drei Monate in seine
Heimat entlassen.
Wenn wir auf die Aetiologie näher eingehen wollen, so
werden wir uns bald überzeugen, dass bei allen diesen Fällen
nur höchst selten von einer hereditären Syphilis die Rede sein
kann. Abgesehen von dem fast ausschliesslichen Fehlen der
Hutchinso n’schen Trias (die charakteristischen Zahndefecte,
Keratitis parenchymatosa und Taubheit durch Labyrinther¬
krankung) stellen sich wohl alle Formen als Folgen einer
in frühester Kindheit oder noch später erworbenen Syphilis
dar. Die Träger des Contagiums sind wahrscheinlich der
Säugungsact, dann der gemeinschaftliche Gebrauch von Trink¬
geschirren und Essgeräthen, sowie der Tabakspfeifen, der
Tschibuks, die von Mund zu Mund gehen, die wollenen
Kleidungsstücke, das Zusammenschlafen, der Gebrauch von
schmutzigen und meist stumpfen Rasirmessern u. s. w. Dabei
muss man wohl noch die grosse Unreinlichkeit der ärmeren
Bevölkerung, welche ja am allermeisten von der Krankheit
heimgesucht wird, und die nahezu gänzlich vernachlässigte
Hautpflege als Mitursache der Endemie beschuldigen. Des¬
gleichen dürfte das in der dortigen Gegend noch übliche Aus¬
saugen der Operationswunde bei der rituellen Circumcision
zur Verbreitung der Syphilis beitragen. Stellen doch das grösste
Contingent dieser Kranken die Mohammedaner.
Die Symptome der Infection, welche durch irgend eine
obiger Ursachen herbeigeführt wurde, eine Sklerose und ein
darauffolgendes Exanthem werden nicht beachtet oder nicht
erkannt, eine gewiegte ärztliche Hilfe kann entweder bei dem
herrschenden Aerztemangel nicht in Anspruch genommen
werden, oder wird bei der Indolenz der Leute nicht aufgesucht,
obwohl der Bosniak sein Kind ungemein liebt und den
»Frenjak« (Syphilis) ebensosehr fürchtet. Man begnügt sich
mit Quecksilberräucherungen von landesüblichen Hekims
(Aerzten), bis späterhin der minder Erfahrene von dem Bilde
und Symptomencomplex der »tardiven« Form überrascht wird.
Nochmals hervorzuheben wäre bei unserem Patienten die
Häufigkeit der Recidiven in so rascher Aufeinanderfolge. So
sind uns in den 54 Fällen 4 Fälle mit drei, 8 Fälle mit zwei
und 1 7 Fälle mit einfachen Recidiven in der kürzesten Zeit
zur Beobachtung gekommen.
Jedenfalls wird aber der Gedanke an eine Lues here¬
ditaria tarda bei genauer und streng sachlicher Sichtung der
verschiedenen Erscheinungen in den Hintergrund treten müssen
und werden sich schliesslich alle diese Krankheitsfälle als
Spätrecidivformen einer extragenital erworbenen Syphilis
erweisen.
An dieser Stelle sei mir noch gestattet, meinem hoch¬
verehrten Chef, dem Herrn Stabsarzt Dr. Thurnwald, für
die warme Förderung dieser Arbeit und gütige Ueberlassung
des Materiales meinen ergebensten Dank auszusprechen.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nt. 21
4S2
Literatur.
Dr. Gustav v. Pernhoffer, Untersuchungen und Erfahrungen
über das Krankheitsübel »Skerljevo« im croatisch-istrianischen Kiistenlande.
Wien 1868.
Ur. Leopold Glück, Ueber Syphilis hereditaria tarda. Wiener
inedicinische Presse. 1881.
Derselbe, Zur Kenntniss der Syphilis in Bosnien und Hercego¬
vina. Wiener medicinische Presse. 1888.
Puschmann, Alter und Ursachen der Beschneidung. Wiener
medicinische Presse. 1891.
Prof. Dr. Neuman n, Syphilis. Wien 1899.
Alfred Fournier, Die Vererbung der Syphilis, bearbeitet von
Finger. 1892.
Kaposi, Pathologie und Therapie der Syphilis. Stuttgart 1891.
Finger, Die Syphilis. Wien 1896.
Jahrbuch des bosnisch-hercegovinischen Landesspitales in Serajevo
(1895, 1896, 1897).
lieber die Wiederbelebung in Todesfällen in
Folge von Erstickung, Chloroformvergiftung und
elektrischem Schlage.
Von Prof. Dr. J. Prus, Director des Institutes für allgemeine und experimentelle
Pathologie an der k. k. Universität zu Lemberg.
(Nach einem am 11. November 1899 in der Gesellschaft der Aerzte in
Lemberg abgehaltenen Vortrage.)
(Schluss.)
3. Ueber die Wiederbelebung in den durch elektrischen
Schlag bewirkten Todesfällen.
Bekanntlich veranlasst die Anwendung selbst des
schwächsten elektrischen Stromes auf das blossgelegte Herz
in der Regel die augenblickliche Herzlähmung unter Auftreten
von fibrillären Herzmuskelzuckungen, wobei der Blutdruck
plötzlich bis auf Null absinkt und der Kreislauf gänzlich
sistirt. Das Thier ist eine Weile unruhig und ängstlich, ver¬
liert nachher das Bewusstsein, die Athemzüge werden schwächer
und verschwinden.
Da ich voraussetzte, dass ein schwacher elektrischer
Strom keine tiefen Veränderungen im Herzmuskel verursachen
könne, glaubte ich, dass gerade in Todesfällen dieser Art
meine Wiederbelebungsmethode vom besten Erfolge gekrönt
sein würde. Leider haben die in verschiedener Weise an Thieren
ausgeführten Versuche meine diesbezügliche Annahme nicht
bestätigt, vielmehr erwiesen, dass gerade bei dieser Todesart
es am schwierigsten sei, die reguläre selbstständige Herzaction
wieder herzustellen.
Die Versuche wurden in folgender Weise angestellt:
Nachdem man das Thier narkotisirt hatte, wurde die Trachea
eröffnet und die Halsschlagader mit einem Manometer vereinigt.
Nach der hierauf erfolgten Eröffnung des Thorax — sei es in der
Mittellinie, oder aber an der linken Körperseite — - und Blosslegung
des Herzens berührte ich mit zwei dünnen Platinelektroden ver¬
schiedene Stellen des Herzens, wobei ich einen sehr schwachen
constanten oder inducirten Strom verwendete. Die Stromintensität
war gewöhnlich so schwach, dass man den Strom kaum an der
Zunge verspürte. In anderen Fällen bediente ich mich eines Stromes
von bedeutender Spannung, und zwar eines solchen von 110 Volt,
den eine Dynamomaschine lieferte. In diesen Fällen jedoch eröffnete
ich den Brustkorb nicht, sondern berührte blos mit entsprechenden
Elektroden die Haut in der Herzgegend. Sowohl in der ersten, als
auch in der zweiten Reihe der diesbezüglichen Experimente trat
gewöhnlich sofort nach der Anwendung des elektrischen Stromes
die Herzlähmung ein.
Ich habe 35 Versuche ausgeführt, und zwar
habe ich den schwachen constanten Strom in
14 fällen, den Induetionsstrom in sieben Fällen
und einen solchen von grosser Intensität
(100 — 110 Volt) 14 mal angewendet.
Die vom Momente der Einwirkung des constanten Stromes
aut das entblösste Herz bis zum Eintritte der Herzlähmung
verflossene Zeit betrug manchmal kaum yt0" — berechnet
mit Hille des Deprez’schen Signalapparates. Gewöhnlich
war diese Frist länger, insbesondere bei Anwendung des
unterbrochenen Stromes, sowie desjenigen von grosser Spannung,
und zwar betrug sie im Minimum 2', im Maximum 1' 50".
Vom Eintritte der Herzparalyse bis zur Sistirung der
Respirationsbewegungen verflossen gewöhnlich 1 — 2', in Aus¬
nahmsfällen dauerte es länger (bis 7') oder sogar kürzer
(einige Secunden).
Die vom Beginne der Herzlähmung bis zur
begonnenen Herzmassage verstrichene Zeit
schwankte zwischen 22" — lh ; es betrug dieselbe:
22", 25", 40", 49", 1', 1' 14", 1'30", 1'40", 1'47",
2' (in zwei Fällen), 2' 30", 2' 42", 3', 5' (in zwei
Fällen), 5' 40", 5' 47", 6', 6' 26", 7' 24", 8' (in drei
Fällen), 8' 3", 9' 10", 10' (in vier Fällen), 11' 30", 19' 58",
30', 45', 1 h.
Die bis zum Auftreten der ersten selbstständigen Herz¬
bewegungen nothwendig gewesene Zeit betrug im Minimum
30", im Maximum lh 36', und zwar: 30", 2', 3' 4", 3' 30",
13', 16' (in zwei Fällen), 16' 50", 18' 10", 20', 22', 31', 33',
35', 37', 39', 46', 48', 52', 54', 56', lh8'36", lh 10', l1* 12',
lh 14', lh 26', lh 30', lh 36'.
In vier Fällen konnte man trotz beinahe zweistündiger
Massage keine selbstständigen rhythmischen Herzbewegungen
her vorrufen. Die Massage begann man in dem einen Falle
schon 1' nach der eingetretenen Paralyse des Herzens; in
dem zweiten nach 6', in dem dritten nach 10‘ und im vierten
nach 1 h.
Eine selbstständige regelmässige Herz-
action kehrte blos in fünf Fällen wieder.
In zwei Versuchen stellte sich regelmässige Herzthätig-
keit unter Einfluss der Massage unvermittelt wieder ein, und
zwar in einem Falle nach 18' 40", im zweiten nach lh 8' 40";
in drei anderen Fällen erst nach Ablauf einer gewissen Periode
einer unregelmässigen Herzaction; erstere dauerte in einem
Falle 36', im zweiten 46' und im dritten 2h 3' 10".
Die vom Beginne der Massage bis zum Auftreten der
ersten selbstständigen Athemzüge verstrichene Zeit betrug im
Minimum 17", im Maximum lh 18', und zwar: 17", 30" (zwei¬
mal), 46", 50", 1', 1' 15", 1' 40", 3' (viermal), 4' (in drei
Fällen), 5', 5' 8", 6' 55", 7', 8' (zweimal), 11', 12' (zweimal),
13' 15", 17' 50", 22' 30", 26', 42', lh 18'. In zwei Fällen trat
in der Athmung trotz der Herzlähmung keine Unterbrechung
ein, da nämlich kurz nach dem Auftreten der ersteren (näm¬
lich 25", beziehungsweise 40" später) mit der Massage be¬
gonnen wurde. In einem Falle kam es zu gar keiner selbst¬
ständigen Respiration, trotz zweistündiger Massage und künst¬
licher Athmung; es wurde hier allerdings die Massage lh
nach eingetretener Herzlähmung vorgenommen.
In zwei Versuchen konnte die natürliche Respiration
selbstverständlich gar nicht zurückkehren, weil ich noch vor
der Application des elektrischen Stromes auf das Herz das
verlängerte Mark durchschnitten habe.
Bei den 35 Versuchen gelang die Wieder¬
belebung nur fünfmal, d. i. in 14% aller Fälle.
In dem ersten günstigen Versuche begann man mit der
Massage und künstlichen Athmung 5' 40", nachdem die Herzlähmung
in Folge des elektrischen Stromes eingetreten war.
Der erste selbstständige Athemzug kehrte wieder nach 22' 30",
die ersten Herzbewegungen nach lh 8' 40" ; selbe waren sofort
regelmässig und energisch.
Hervorgehoben zu werden verdient der Umstand, dass kurz
nach Rückkehr der selbstständigen Respiration und ziemlich lange,
nämlich eine halbe Stunde vor der wiederhergestellten Herzaction
nicht nur Reflexe, sondern auch willkürliche Bewegungen zunächst
der Vorder-, später auch der Hinterbeine aufgetreten sind. Der
Hund lebte noch nach der Wiederbelebung lV2h , worauf er ge-
tödtet wurde.
Im zweiten Falle verstrichen 19' 58" vom Momente der Herz¬
lähmung bis zum Beginne der Massage und der künstlichen Ath¬
mung. Der erste Athemzug trat nach 6' 55" wieder auf, die ersten
Herzbewegungen nach 1 11 36', die eigentliche regelmässige Herzaction
hingegen nach 2h 12'. Auch in diesem Versuche kehrten Reflexe
Tafel III. Wiederbelebung in den durch elektrischen Schlag bewirkten Todesfällen.
Ki. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900,
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Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
485
und willkürliche Bewegungen von der rhythmischen Herzthätigkeit
wieder auf und zwar um lh früher.
Eine halbe Stunde nach der Wiederbelebung tödtete man das
betreffende Thier.
Beim dritten Versuche begann die Massage 25" später,
nachdem die Herzlähmung eingetreten war. Die selbstständige Re¬
spiration ging ohne jede Unterbrechung vor sich. Nach 18' 10"
kehrte die regelmässige Herzthätigkeit wieder. Das Thier lebte noch
drei Viertelstunden, worauf es gotödtet wurde.
Im vierten Versuche verstrichen seit der Herzlähmung 2' 30",
bis die Massage und künstliche Respiration begonnen wurde. Nach
46" schon athmete das Thier selbstständig. Herzbewegungen zeigten
sich bereits nach 16' 50", die eigentliche rhythmische Herzaction
hingegen begann erst nach 2b 20' lang andauernder Massage. Der
Corneal- und Fusssohlenreflex erschienen ziemlich früh, nämlich
10' nach der wieder aufgetretenen Respiration. Die willkürlichen
Bewegungen begannen 12' später. Nachdem das Thier noch lh ge¬
lebt, wurde es getödtet.
Im fünften Fale dauerte es 8' nach der Herzlähmung bis
man künstliche Alhmung und die Massage einleitete. Hier trat die
regelmässige Herzaction 10' vor der selbstständigen Athmung auf.
Die ersten Herzbewegungen kehrten wieder nach 22' langer Massage
die regelmässige Herzthätigkeit nach lh 8', der erste Athemzug
nach lh 18'. Dieser Hund lebte noch lh 16' bevor er getödtet
wurde.
Nur in einem von den 30 misslungenen Versuchen er¬
folgte weder die Rückkehr der Athmung noch die der Herz
thätigkeit; es betraf dies den Fall, in dem das Herz Stillstand
in Folge Anwendung eines elektrischen Stromes von 110 Volt
Spannung auf den unversehrten Brustkorb und wo die Massage
sowie die künstliche Athmung erst eine Stunde nach erfolgter
Herzlähmung eingeleitet wurden.
ln 29 Fällen, in denen die Wiederbelebung nicht gelang,
liess sich zwar keine regelmässige Herzaction, aber wenigstens
selbstständige Respiration erzielen. Bei fünf Versuchsthieren
kehrte nämlich diese sehr früh zurück, denn schon im Laufe
der ersten Minuten anhaltender Massage und künstlicher
Athmung, und zwar nach 17", 30" (in zwei Fällen), 50", 1';
bei 14 Thieren dauerte es weniger als 10', und zwar: 1' 15",
1' 40", 3' (in vier Fällen), 4' (in drei Fällen), 5', 5' 8", 7', 8'
(in zwei Fällen); in sieben Fällen war noch eine längere Zeit
erforderlich, 11', 12' (in zwei Fällen), 13' 15", 17' 50", 26', 42',
bis man durch die genannte Methode der Wiederbelebung
regelmässige Athemzüge hervorrief. Hinzufügen muss ich noch,
dass in sieben Fällen ausser der selbstständigen Athmung
Reflex- und Willkürbewegungen der Beine sich einstellten,
trotzdem die Herzthätigkeit auch später nicht wiederkehrte.
In diesen sieben Fällen wurde mit der Massage begonnen 49",
1'44", 3', 7' 24, 10' (in drei Fällen), später nachdem die Herz¬
lähmung eingetreten war.
Auf der Tafel III sind Experimente über die Wieder¬
belebung in den durch elektrischen Schlag bewirkten Todes¬
fällen zusammengestellt.
Aus den obigen Versuchen geht hervor, dass das
durcli den elektrischen Strom paralysirte Herz
überaus schwer zur selbstständigen und regel¬
mässigen Function erregt werden kann, auch
dann nicht, wenn früh die Massage und die künst¬
liche Athmung zur Anwendung kamen.
Ich muss offen gestehen, dass ich dieses Factum nicht
triftig zu begründen weiss. Die Vermuthung, dass der elek¬
trische Strom das nach Kronecker und S c h m e y in der
Kammerscheidewand befindliche Nervencentrum, welches die
Coordination der Herzbewegungen regelt, lähmt, ist nicht stich¬
hältig; es ist nämlich schwer zu begreifen, warum ein kaum
an der Zunge empfindbarer Strom gerade die in der Herz¬
scheidewand gelegenen Nervenzellen lähmen sollte, während
im Allgemeinen schwache Ströme gemeiniglich nicht lähmend,
sondern vielmehr reizend auf die Nervenzellen einwirken?
Mehr Wahrscheinlichkeit hätte die Annahme für sich,
dass unter dem Einflüsse selbst sehr schwacher Ströme ein
Tetanus des Herzmuskels entsteht und dieser ihn eben nicht
zu einer regelmässigen Herzthätigkeit kommen lässt. Er¬
wägt man jedoch, dass unter dem Einflüsse des elektrischen
Stromes im Augenblicke der Herzparalyse immer fibrilläre
Zuckungen ähnlich den peristaltischen, auftreten und das Herz
schlaff bleibt, so müssen wir auch diese Deutung als ungenügend
betrachten.
Gegen die Annahme, dass die Herzlähmung auf reflek¬
torischem Wege verursacht wird, spricht nicht blos die kurze
Frist, die zwischen der Stromeinwirkung und der Herzparalyse
liegt (d. i. '/[o"), sondern auch der Umstand, dass die Durch¬
schneidung des verlängerten Markes und der Vagi, den Ein¬
tritt der Lähmung in Folge von Elektricität nicht verhindert.
Berücksichtigen wir ferner, dass mechanische Momente aller
Art, wie starkes Drücken, Stechen, Pressen, Ziehen oder Zerren
des Herzens in der Regel keine Lähmung desselben veran¬
lassen, so müssen wir zugeben, dass eine richtige Erklärung
für das Auftreten der Herzlähmung durch den elektrischen
Strom auf grosse Schwierigkeiten stösst. Sie sind umso grösser,
wenn man in Betracht zieht, dass ich in manchen Fällen einen
Strom von verschiedener Art und Spannung in mannigfachster
Weise sogar einige Minuten ununterbrochen auf das Herz ein¬
wirken lassen konnte, ohne dass dieses gelähmt wurde.
Erwähnt muss noch werden, dass ich bei den Versuchen
ein besonderes Augenmerk auf die Berührungsstelle der Elek¬
troden hatte, aber auch in dieser Beziehung war kein Unter¬
schied im Verhalten der Kammern, Scheidewände und Vor¬
kammern zu bemerken. Angesichts dieser Schwierigkeiten muss
ich die Frage, ob der elektrische Strom die motorischen
Herzganglien, die übrigens His und Romberg negiren,
lähmt oder aber unmittelbar auf den Herzmuskel wirkt, un-
erörtert lassen.
An dieser Stelle möge mit besonderem Nachdruck her¬
vorgehoben werden, dass ich im Gegensätze zum Vorschlag
Prof. Sippels (Ein Beitrag zum Chloroformtod. Deutsche
medicinische Wochenschrift. 1899, Nr. 44), man solle in Fällen
von Herzlähmung in Folge Chloroform Vergiftung das Herz
mittelst elektrischen Stromes wieder zu erregen versuchen,
dies ganz entschieden widerrathe; die Anwendung des elek¬
trischen Stromes nämlich, sei es auf das Pericard, sei es direct
aufs Herz vermittelst einer nach Angabe Prof. Sippels
oberflächlich eingestochenen dünnen Nadel, würde fast sicher
eine definitive Lähmung hei beiführen. Auf Grund meiner
Versuche muss ich entschieden diese Rettungsmethode ab-
rathen bei Menschen, bei denen das Herz aus irgend welchem
Grunde zu schlagen aufgehört hat. Obgleich mir die Experi¬
mente von Bow ditch und Anderen an dem Froschherzen
sowie die am Herzen der Katharina Serafin von Ziems sen
angestellten Versuche bekannt sind (den Rhythmus der Herz¬
thätigkeit konnte man bei der Serafin durch Abänderung der
Stromrichtung nach Belieben wechseln), würde ich es doch
niemals wagen, am Menschen den elektrischen Strom derart
anzuwenden, dass ich die Elektrode auf das blossgelegte Herz
anlege oder gar in den Herzmuskel einsteche. Vielmehr muss
ich sogar warnen vor der Anwendung starker Ströme in der
Herzgegend bei unberührtem Brustkorb des Menschen, da aus
meinen Versuchen hervorgeht, dass ein Strom von 100 bis
110 Volt Spannung, den ich durch den unversehrten Brust¬
korb eines Hundes geleitet habe, das Heiz gewöhnlich
lähmte, während der gleiche Strom an anderen Körperstellen,
ja sogar bei Einwirkung auf das entblösste Gehirn oder
Rückenmark, den Tod nicht herbeiführt. Sobald ich den einen
Pol auf das blossgelegte Hirn, den anderen auf das frei¬
gelegte Rückenmark, und zwar an dessen Lendentheil, an¬
legte, ging das Thier gleichfalls nicht zu Grunde, sondern
es bekam blos einen epileptischen Anfall. Diese Ver¬
suche beweisen zur Genüge, dass der Tod bei
den vom Blitze getroffenen oder durch einen
von einer Dynamomaschine herrührenden elek¬
trischen Strom verunglückten Menschen in
einer directen Herzlähmung seine Ursache hat.
Wenn ich auch bei meinen Versuchen zur Wiedererregung
der Herzaction nach eingetretener Lähmung des Herzens in
Folge des elektrischen Stromes auf grosse Schwierigkeiten ge-
48G
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 21
stossen bin, so wage ich dennoch, mit Rücksicht auf den
geringen Procentsatz der positiv ausgefallenen Experimente
zu behaupten, dass man die durch den elektrischen
Strom getödteten T h i e r e vermittelst Herz¬
massage und künstlicher Athmung wieder¬
beleben kann.
*
Lenken wir jetzt unsere Aufmerksamkeit auf das all¬
gemeine Resultat meiner Untersuchungen und vergleichen wir
dieselben vor Allem mit dem Experimenten Boehm’s.
1. In erster Reihe sehen wir einen wichtigen Unterschied
in der Art der Herzmassage. Während Boeli m die Herz¬
massage dutch rhythmischen Druck des uneröffneten und nach-
giebigen Brustkorbes versuchte, besteht meine Methode in un¬
mittelbarer Compression des blossgelegten Herzens vermittelst
der Finger, angesichts dessen die von Boehm erforderliche
Bedingung, dass der Brustkorb nachgiebig sei, gar nicht in
Rechnung kommt.
2. Dieser neuen Methode haben wir es zu verdanken,
dass wir uns zur Wiederbelebung sogar in jenen Fällen be¬
wegen lassen, in welchen seit dem Momente des Todes des
Individuums eine volle Stunde vergangen ist, während hin¬
gegen Boehm die Herzmassage entweder sofort nach
Sistirung der am Kymographion verzeichneten Herzbewegungen
oder spätestens l’/2' in Erstickungsfällen. 3 — 4' in Vergiftungs¬
fällen mit Alkalien und 3—9' in Fällen von Chloroform¬
vergiftung einleiten musste.
3. Wir sehen einen bedeutenden Unterschied in dem
Zeitabschnitte, in welchem die Erregbarkeit des Herzens er¬
löschen soll; und zwar behauptet Boehm, dass das Herz,
dessen Bewegungen in Folge der Erstickung, also Sauerstoff¬
mangel sistiren, seine Erregbarkeit aussergewühnlich schnell
verliert, und zwar umso schneller, als in denjenigen Todes¬
fällen, in welchen der Sauerstoffmangel nicht so bedeutend
ist, wie bei der Erstickung. Meine Untersuchungen hingegen
haben bewiesen, dass trotz einstündiger Dauer des Todes,
sei es durch Suffocation oder Chloroformvergiftung, die Er¬
regbarkeit des Herzens noch bis zu jenem Grade erhalten ist.
dass durch die Anwendung meiner Methode der Wieder¬
belebung die reguläre und energische Herzthätigkeit wieder¬
kehren kann.
4. Beweisen meine Untersuchungen, dass das centrale
Nervensystem seine Erregbarkeit sogar in jenen Fällen wieder¬
erlangen kann, in welchen der Tod eine Stunde dauerte und
in welchen nach Ablauf jener Stunde keine Spur der Thätig-
keit durch die nächste zweite und sogar dritte Stunde auf¬
getreten ist, trotzdem die künstliche Blutcirculation und die
künstliche Athmung unterhalten wurden.
5. Muss ich hervorheben, dass die von Prof. Boehm
beschriebenen Erscheinungen, unter denen das Leben aufs
Neue sich zu regen beginnt, den Resultaten meiner
Untersuchungen vollkommen entsprechen. Meine Experi¬
mente haben nämlich gezeigt, dass der Blutdruck, der
Puls, die Athmung, die Pupillen, die Reflexe, die willkürlichen
Bewegungen, die Sensibilität, die Sinnesthätigkeit und die
Körpertemperatur nach der Wiederbelebung des Thieres sich
im Allgemeinen so verhalten, wie es B o e h m in seiner Arbeit
angegeben hat. Ich erlaube mir aber zu betonen, dass die
Reihenfolge, in welcher die einzelnen Functionen nach der
Wiederbelebung zurückkommen, nicht immer die Umkehrung
derjenigen Ordnung ist, in welcher die einzelnen Functionen
beim herannahenden Tode erlöschen, ln manchen Fällen, in
welchen das Herz wahrhaftig das Ultimum moriens war,
kehrte zuerst die selbstständige Athmung, nicht aber die Herz-
function zurück und auch umgekehrt. In dieser Beziehung
also besteht wirklich eine Differenz in den Anschauungen
Boehms und den meinigen.
Fragen wir jetzt, ob die Resultate meiner Untersuchungen,
auf hundert an Thieren ausgeführten Experimente gestützt,
in der ärztlichen Praxis eine Verwendung finden können, mit
anderen Worten: ob wir uns entschlossen sollen, in Todes¬
fällen in Folge von Erstickung, Chloroformvergiftung oder
elektrischen Schlages die Wiederbelebung zu versuchen.
Ich hege gar keinen Zweifel, dass meine
Methode der Wiederbelebung, unter günstigen
Bedingungen angewendet, sogar bei Menschen
ein positives Resultat geben muss. Diesen Satz
kann ich heute umso sicherer aussprechen, als ich auf Grund
eigener Erfahrung constatiren konnte, dass bei einem durch
Erstickung gestorbenen Menschen die Erregbarkeit des Herzens
nicht gleichzeitig mit dem Tode des Individuums erlischt,
sondern dass diese sogar noch zwei Stunden
nach dem Tode a n h ä 1 1.
Der Fall betrifft einen 48jährigen Mann, welcher am
19. Januar 1900 im Universitätskellcr sich seines Lebens durch
Erhängen beraubte. Der Selbstmörder B. H. war ein Lemberger
Universitätsdiener. Nach der Angabe seiner Frau trug sich H. seit
längerer Zeit mit Selbstmordgedanken, da er fürchtete, seinen Posten
in Folge des leidenschaftlichen Trinkens zu verlieren. Als man den
Selbstmörder an dem genannten Tag um 4 Uhr Nachmittags in
dem Keller aufgehängt entdeckte, konnte man bei ihm kein Lebens¬
zeichen mehr wahrnehmen. Die bald alarmirten Aerzte der Rettungs¬
gesellschaft haben durch längere Zeit alle passenden Rettungs¬
versuche angestellt, jedoch vergeblich. Eine Stunde später, von dem
Falle zufällig benachrichtigt, begab ich mich sofort in das Uni¬
versitätsgebäude, und nachdem ich von der Frau des Selbstmörders
die Erlaubniss zur Tracheotomie und Blosslegung des Herzens zum
Zwecke der Herzmassage und künstlicher Athmung bekommen halle,
consultirte ich den Docenten Dr. W ehr, der mit Hilfe des Docenten
Dr. Gabryszewski zuerst die Trachea und dann den Brust¬
korb ohne Verletzung der Pleuren nach eigener Methode eröffnete.
Als ich mich überzeugt hatte, dass das eröffnete Herz keine Spur
von irgend welcher Bewegung zeigte, erfasste ich dasselbe und fing
die Herzmassage an, während gleichzeitig die Luft in die Lungen
durch einen Blasebalg getrieben wurde. Nachdem die Herz¬
massage ungefähr 1 5' dauerte, bemerkte ich die
ersten Spuren selbstständiger rhythmischer Con¬
tra c t i o n e n beider V o r h ö f e. Die Systole trat in
Form einer Welle auf, welche von der- Grenze
zwischen V o r h o f und Kammer in der Richtung
zum 1 1 e r z o h r d a h i n z o a-.
Habe ich die Herzmassage einige Minuten unterbrochen, dann
wurden die Vorhofcontractionen graduell schwächer, bis sie endlich
ganz sistirten, bei der Wiederaufnahme der Herzmassage aber
wieder auftauchten, und zwar in Form der oben genannten Welle.
Als aber trotz fortwährender Massage und trolz erfolgter Injection
physiologischer Kochsalzlösung in die äussere Armvene die Gon-
tractionen der Vorhöfe nicht nur sich nicht potenzirten, sondern
gar allmälig schwächer wurden, trat ich von der weiteren Rettungs-
action ab, umsomehr, da auch die Trachealcanule und der Blase¬
balg unzweckmässig waren, und daher die künstliche Athmung
nicht entsprechend vor sich gehen konnte.
Die Erfahrung, dass das menschliche Herz
beim Tode durch Erstickung noch zwei Stunden
nach dem Tode des Individuums erregbar war,
ist meiner Ansicht von ausserge wöhn licher
Bedeutung. Diese Erfahrung ist ein Fingerzeig
dafür, dass meine Idee der Wiederbelebung
t o d t e r Individuen sich verwirklichen kann.
Wenn nämlich im Erstickungsfalle das menschliche Herz sogar
zwei Stunden nach dem Tode eines Individuums seine Erreg¬
barkeit noch nicht gänzlich verloren hat, so kann ich be¬
haupten, dass diese Erregbarkeit in der ersten Stunde noch
bis zu jenem Grade erhalten war, dass durch die Herzmassage
nicht nur die Vorhöfe, sondern auch die Kammern zur regel¬
mässigen Thätigkeit wiederkehren würden, was übrigens die
Experimente an Thieren bewiesen haben. Mit Rücksicht auf
die Erfolge meiner Untersuchungen kann ich muthig den Satz
aussprechen, dass man bei Menschen in plötz¬
lichen Todesfällen in Folge von Erstickung,
elektrischem Schlag, besonders aber in Folge
Chloroformvergiftung, meine Wiederbelebungs¬
methode verwenden soll, nachdem vorher alle
bis jetzt bekannten Rettungsmethoden erfolg¬
los geblieben sind.
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
487
Ich hege die Hoffnung, dass in manchem plötzlichen
Todesfälle vor Allem aber bei Todesfällen in Folge von
Chloroformvergiftung während der Operation meine Methode
von Erfolg gekrönt sein wird, umsomehr, als der Operateur
noch rechtzeitig zur Eröffnung des Brustkorbes treten kann,
um dann die Herzmassage vorzunehmen.
Entgegnung auf Ostwald’s Bemerkungen zu meinem Vor¬
trage: >Ueber physikalisch - chemische Methoden und
Probleme in der Medicin. ')
Von Docent Dr. W. Pauli.
In einem Vortrage, welcher am 10. November 1899 in der k. k.
Gesellschaft der Aerzte gehalten wurde, habe ich auch von physiologi¬
schen Gesichtspunkten aus an den Anschauungen 0 s t w a 1 d’s eine
durchaus sachliche Kritik geübt. Fast gleichzeitig sind dessen engere
Fachgenossen seiner Ueberschätzung der Energetik in oft scharfer
Weise entgegengetreten.
Ostwald behauptet nun in einem leider verspätet zu meiner
Kenntniss gelangten Referate über meinen Vortrag (in der von ihm
herausgegebenen Zeitschrift für physikalische Chemie. Bd. XXXIV,
pag. 426), ohne Inhalt und Richtung meiner Ausführungen anzugeben,
dass ich die kinetische Hypothese nicht von der reinen Thermodynamik
und die Energetik nicht von der Mechanistik zu unterscheiden wisse
und den zweiten Hauptsatz (der Thermodynamik) nicht einmal dem
Namen nach zu kennen scheine.
Aus diösen Bemerkungen geht für einen jeden Leser meines
Vortrages zwingend hervor, dass Ostwald denselben unmöglich auf¬
merksam gelesen hat, da die kinetische Hypothese (Wärme ist Mole-
cularbewegung) weder dem Worte noch dem Sinne nach darin ange¬
führt ist, während mein Vorwurf, dass Ostwald’s energetische Welt¬
anschauung im Grunde eine mechanische sei, in keiner Weise von
ihm widerlegt wird. Dem zweiten Hauptsatze bin ich wissentlich
aus dem Wege gegangen, da er nicht nothwendig im Zusammenhänge
mit der vorliegenden Frage behandelt zu werden brauchte. Eine sach¬
liche Auseinandersetzung mit Ostwald wird wohl erst möglich sein,
sobald er sich mit dem Inhalte meiner Schrift vertraut gemacht
haben wird.
Gewiss wäre auch meinerseits der Standpunkt berechtigt, eine
jede Polemik zu unterlassen, da die Entscheidung über eine Arbeit
schliesslich an diese und nicht an die Person eines Kritikers geknüpft
ist. Die Ursache meiner Abwehr ist aber das Vorgehen Ostwald’s,
der den Umstand, dass ich ihn angegriffen habe, verschweigt, und so
im Scheine der Objectivität einige allgemeine und unthatsächliche Be
merkungen vorbringt. Auf die für die Art seiner Kritik charakteristi¬
schen persönlichen Ausführungen von 0 s t w a 1 d brauche ich nicht
näher einzugehen. 2)
REFERATE.
I. Das Bronchialasthma und seine Behandlung.
Von Goluboff.
Volk m a n n’s Sammlung klinischer Vorträge. Neue Folge. Nr. 256/257.
1899.
II. Nahrungsmittel und Ernährung der Gesunden und
Kranken.
Von Dr. Felix Uirsclifeld, Privatdocent an der Universität Berlin.
Berlin 1900, Hirschwald.
I. Der Verfasser gibt in dem vorliegenden Doppelhefte eine
übersichtliche und ziemlich eingehende Darstellung über das Asthma
bronchiale. Nach ausführlicher Schilderung der Geschichte dieser
Erkrankung schreitet er zur Besprechung der Aetiologie derselben.
Hiebei gedenkt er der Heredität als wichtigen Factors und streift
auch die Frage nach den Beziehungen von Podagra und Asthma
bronchiale. Er anerkennt erstere als mögliche Ursache des letzteren.
Referent möchte diesbezüglich der Ansicht beipflichten, dass Podagra
und Asthma bronchiale zweifellos einander coordinirte Erscheinungen
sein können, beide entwickelt auf der Basis einer uratischen
Diathese. Bald kommt es vor, dass ein mit letzterer Affection hereditär
’) Erschienen bei M. Perles, Wien 1900.
') Diese Entgegnung wurde der Redaction der »Zeitschrift für physi¬
kalische Chemie« seinerzeit von Herrn Dr. Pauli zugeschickt, deren Auf¬
nahme jedoch dortselbst verweigert. Da es sich um einen in der k. k. Ge¬
sellschaft der Aerzte gehaltenen Vortrag handelt, glaubten wir, dein Autor
Gelegenheit bieten zu müssen, an dieser Stelle seine Gegenbemerkungen vor-
znhringen. Die Redaction.
belastetes Individuum an Asthma bronchiale leidet, bald, dass ein
und dasselbe Individuum im Wechsel Podagra und Asthma besitzt
und beide Male, dass das Asthma bronchiale verschwindet (nach
der Erfahrung des Referenten ein selbst über ein Jahrzehnt dau¬
erndes Asthma), wenn eine antiuratische Therapie eingeschlagen wird.
Nach Erledigung des Abschnittes »Aetiologie« übergeht Ver¬
fasser zur Schilderung der verschiedenen klinischen Formen des
Asthmas.
Er stellt neben allseits anerkannten Formen eine »möglicher
Weise ein wenig problematische« Form auf, bei der präexistent
eine mehr minder lange dauernde Bronchitis (die neurosecretorische
Form des Asthmas) besteht, aus der sich dann das bronchiale
Asthma (die spasmodische Form des Asthmas) erhebt. Diese prä¬
existente Bronchitis soll durch reichlichen Gehalt des Sputums an
eosinophilen Zellen, eventuell auch durch Gehalt an Gursch-
mann’schen Spiralen ausgezeichnet sein. Referent hält zufolge
eigener Erfahrung (Klinik Neusser) diese specielle Form des
Asthmas für ganz ausser Zweifel und für gar nicht so selten, ge¬
radeso wie er Goluboff Recht geben muss, wenn dieser behauptet,
dass eosinophile Zellen im Sputum und auch im Blute noch selbst
monatelang nach vorübergegangenem asthmatischem Anfälle in
reicher Zahl verbleiben können. Solche Fälle »eosinophiler Bron¬
chitis« stehen nach des Referenten Ansicht mindestens äusserst
nahe den Fällen der von Teichmüller beschriebenen eosino¬
philen Bronchitis (Deutsches Archiv für klinische Medicin), deren
Existenz der Schule Neusser’s seit einem Decennium bekannt
ist; freilich haben wir diese häufigen Fälle von eosinophiler Bron¬
chitis immer als »Bronchitis chronica asthmatica oder Asthma
catarrhale« aufgefasst und es fiele dem Referenten auch heute
noch schwer, dieser Deutung der eosinophilen Bronchitis nicht Raum
zu geben.
An die Abgrenzung der verschiedenen klinischen Formen des
Asthma bronchiale reiht Verfasser die Schilderung des Verlaufes,
der Prognose und der pathologischen Anatomie. In letzterer Rich¬
tung wäre vielleicht auch des Vorkommens von Fibringerinnsel im
Sputum, respective in den Bronchien bei Asthma bronchiale zu
gedenken, ein Moment, worauf vor vielleicht 1 '/2 Jahren auch in
Berlin hingewiesen wurde. Referent erinnert sich eines diesbezüg¬
lich äusserst interessanten Falles aus der Klinik Neusser, bei
welchem ein typisches Asthma bronchiale (C h a r c o t’sche Kry-
stalle, Gurschmann’sche Spiralen, eosinophile Zellen im Sputum
der von classischen Anfällen heimgesuchten Patientin) in eine
chronische fibrinöse Bronchitis (mit eosinophilen Zellen) überging:
Folge der durch beide Erkrankungen bedingten Athmungserschwerung
Volumen pulmonum acutum und active Dilatation des rechten
Ventrikels.
Nach Würdigung der Differentialdiagnose — das Hauptgewicht
für die Diagnose »Asthma bronchiale« legt Goluboff mit Recht
auf den mikroskopischen Befund des Sputums — wendet sich Ver¬
fasser zur Schilderung der Therapie der Erkrankung. Goluboff
redet unter Anderem auch der Anwendung des Atropins weniger
zwecks Bekämpfung des Anfalles, als zwecks Hintanhaltung einer
Recidive derselben das Wort. v. No or den bat sich jüngst in
gleicher Art über die Verwerthung des Atropins beim Asthma bron¬
chiale ausgesprochen, während in allerjüngster Zeit Riegel dieses
Medicament zwecks Unterdrückung des Anfalles wärmstens empfiehlt.
Referent freut sich über diese Benützung des Atropins, das er
selber schon, einer Anregung N e u s s e r’s folgend, seit einem De¬
cennium bei Asthma bronchiale verwendet: schon vor zwei Jahren
konnte Referent über manchmal ausgezeichnete Erfolge bei Anwen¬
dung grosser Dosen (selbst bis zu O'OOGg pro die) in seinen
Vorlesungen über specielle Therapie innerer Krankheiten be¬
richten.
Was Goluboff vom Jodkali schreibt, das verdient die all¬
gemeinste Zustimmung. Auch Referenten scheint dasselbe das aller-
beste Mittel bei Bronchitis asthmatica. Interessant ist, dass G o 1 u-
b o f f die Wirkung des Jod — abgesehen von seinen resorbirenden
Eigenschaften - — - sich hypothetlisch auch derart zu erklären ver¬
sucht, dass es die Bronchialschleimhaut reizt und diese für die
»Angriffe, Impulse, welche den specifisch-asthmatischen Katarrh
hervorrufen«, minder empfänglich macht: »man erzielt gewisser-
massen durch das Jod eine Abhärtung (Gymnastik) der Schleim¬
häute.«
•188
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Ni. 21
Vollkommen Recht hat Verfasser nach des Referenten An¬
schauung weiter, wenn er verlangt, dass Arsen in grossen Dosen
anzuwenden ist, soll es überhaupt beim Asthma bronchiale nützen;
und in manchen Fällen (abgemagertes nervöses Individuum mit un¬
reiner Haut) vermag es zweifellos Nutzen zu stiften.
G o 1 u b o f f berichtet, dass er auch vom Argent, nitr., durch
lange Zeit gebraucht (Tagesdosis anscheinend 001 — 002 g), beim
Athma neurasthenischer Individuen guten Erfolg gesehen hat.
*
II. Der auf dem Gebiete der Ernährungslehre und Ernährungs¬
therapie eifrig und mit vielem Erfolge thätige Autor hat im vor¬
liegenden, 255 Seiten starken Buche seine vor mehreren Jahren
herausgegebenen Grundzüge der Krankenernährung in veränderter
Form und erheblich erweitertem Umfange neuerdings in den Buch¬
handel gebracht. Ist gerade die jetzige Zeit reich an ähnlichen Ar¬
beiten, da die diätetische Behandlung der inneren Krankheiten in
den Vordergrund unserer therapeutischen Bestrebungen getreten ist,
so halte ich gerade II i r s c h f e 1 d’s Werk für einen gerne gesehenen
Ankömmling, soweit das Bedürfnis des praktischen Arztes und des
Studirenden in Rücksicht gezogen wird: denn es erzählt für diese
trotz seines wirklich geringen Umfanges in präciser Sprache fast
Alles, was sie wissen wollen und wissen sollen. Und was es bringt,
ist, wie von dem Autor nicht anders zu erwarten war, auf die
wissenschaftliche Grundlage der Ernährungsphysiologie, respective
der Stoffwechselchemie, in solider Weise aufgebaut. Nur in Kleinig¬
keiten kann der Leser vielleicht etwas anderer Anschauung als der
Autor sein oder etwas mehr zu hören wünschen, als der Autor
berichtet; nach letztgenannter Hinsicht würde beispielsweise Referent
eine kleine Erweiterung des Capitels »Fleischbrühe« gut hallen,
denn die auch in ärztlichen Kreisen noch vielfach unklaren Begriffe
über den Werth der Suppe auf die Ernährung haben doch durch
neuere Untersuchungen (Koep p e) eine auch mit der praktischen
Erfahrung harmonirende, auf jeden Fall recht mittheilenswerthe
Klärung erhalten. Nach eigener Richtung wäre Referent nicht ein¬
verstanden mit dem Rathe H i r s c h f e 1 d’s, Nierenkranken unein¬
geschränkt Suppe gemessen zu lassen: abgesehen von den Extrac-
tivstoffen kommt nach des Referenten Ansicht doch auch der
relativ nicht geringe Salzgehalt der Suppe in Betracht: im Ver¬
gleiche zu dem wohl gelungenen Ganzen als Beispiele angezogen
doch nur kleine Momente, die dem Werthe des Gesammtwerkes
keinerlei Abbruch thun können. Ortner.
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Ernannt: Dr. Nikolaus C s ä p zum Obei Stabsarzt II. Classe.
— Zu Stabsärzten die Doetoren: Michael Denk, Julius Töth,
Stefan H r a b e c z y, Anton S e b e ö k und Simon Klein,
sämmtliche im landwehrärztlichen Officierscorps. — Prof. A. Freiherr
v. Eiseisberg (Königsberg) zum Ehrendoctor der Universität Leiden.
*
Verliehen: Dem Oberbezirksarzte in Gör z, kaiserlichen
Rath Dr. Alexander Zenkovich, das Ritterkreuz des Franz
Josef-Ordens. — Den Badeärzten Dr. Josef Mlady und Dr. David
Tyrnauer in Karlsbad der Titel eines kaiserlichen Rathes.
*
Habilitirt: Dr. Adolf E 1 z h o 1 z für Psychiatrie und
Neurologie in Wien. — Dr. Jaroslav Bukovsky für Dermato¬
logie und Syphilidologie an der böhmischen Universität in Prag. —
Dr. P. Sick für Chirurgie in Kiel. — In Rostock Dr. Eh rieh
für ( ’hirurgie und Dr. Scheven für Psychiatrie. — In Strassburg
Dr. Landolf für Augenheilkunde und Dr. Funke für Geburtshilfe
und Gynäkologie.
*
Gestorben: Der Oberstabsarzt d. R. Dr. Hugo Schipek
in Wien. — Dr. Ignaz Grasse, jubiliiter k. k. Bezirksarzt und
gewesener Landtagsabgeordneter für die Stadt Reichenberg.
*
ln Hamburg ist durch die Redaction der Fortschritte auf dem
Gebiet der Röntgen-Strahlen eine Auskunftsstelle für alle auf die
Anwendung der Röntgen-Strahlen sich beziehenden Angelegenheiten
Ungerichtet worden. Fragen mediciniseher, physikalif eher oder tech¬
nischer Art werden beantwortet, und soweit dieselben von allgemeinem
Interesse sind, in der Zeitschrift publicirt. Alle Anfragen sind direct
an die Redaction, Dr. Albers-Schönberg, Esplanade 38,
Hamburg, zu richten.
*
Die Brochure : Therapeutische Indicationen für
interne Krankheiten, dessen erste Auflage von Dr. Sch weiger
herausgegeben worden war, ist nun von Weiss und Schweiger
neu revidirt in zweiter Auflage bei Seitz & Schauer in München
erschienen.
*
Das von Dr. C. H. S t r a t z bei Enke in Stuttgart heraus¬
gegebene Werk „Die Schönheit des weiblichen Körpers“,
welches bereits in Nr. 45, 1899 der „Wiener klinischen Wochen¬
schrift“ eine ausführliche Besprechung erfahren hat, ist soeben in
siebenter Auflage erschienen.
*
Der Privatdocent für Augenheilkunde in Wien, Dr. S. Klein,
ersucht uns, bekanntzugeben, dass er in Hinkunft, um Verwechslungen
vorzubeugen, seine schriftstellerischen Publicationen als „S. Klein
(Bäringer)“ unterzeichnen werde.
*
Die in den beiden letzten Jahren neu erbaute Cur- und Wasser¬
heilanstalt des Dr. K o n r i e d in Edlach ist nunmehr seit mehreren
Wochen im Betriebe. Die Anstalt hat eine landschaftlich sehr schöne
Lage am Sixdabhange der Raxalpe und des Schneeberges in 600 tn See¬
höhe. In der Curanstalt Edlach finden alle Kranken Aufnahme, deren
Leiden sich für eine Anstaltsbehandlung eignen. Auch Erholungs¬
bedürftige und Reconvalescenten finden Aufnahme bei sorgfältiger
Ueberwachung und geregelter Diät. Von der Aufnahme sind absolut
ausgeschlossen: Infectiouskrankheiten, Psychosen und Epilepsie. Als
Curmethoden kommen in Anwendung das gesammte Wasserheilverfahren,
Dampf- und Heissluftbäder, elektrische Licht- und Kohlensäurebäder,
Luft- und Sonnenbäder, alle Medicinal bäder, schwedische maschinelle
Heilgymnastik, Massage und Elektrotherapie, Mineralwasser- und, in
besonderer Berücksichtigung, Diätcuren.
*
Aus dem Sanitätsbericlite der Stadt Wien irn er¬
weiterten Gemeindegebiete. 18. Jahreswoche (vom 29. April
bis 5. Mai 1900). Lebend geboren : ehelich 581, unehelich 303, zusammen
884. Todt geboren: ehelich 61, unehelich 27, zusammen 88. Gesammtzahl
der Todesfälle 802 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
25 2 Todesfälle), darunter an Tuberculose 161, Blattern 0, Masern 20,
Scharlach 0, Diphtherie und Croup 4, Pertussis 5, Typhus abdominalis 4,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 1, Neu¬
bildungen 35. Angezeigte Infectionskrankheiten: Blattern 0 (=), Varicellen
62 ( — 8), Masern 241 ( — 40), Scharlach 50 (-)- 5), Typhus abdominalis
10 ( — 3), Typbus exanthematicus 0 (=), Erysipel 31 (T- 2), Croup und
Diphtherie 38 (-j- 5), Pertussis 49 (-(- 16), Dysenterie 0 ( — 1), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 3 ( — 1), Trachom 14 (-|- 9), Influenza 5 ( — 4).
Freie Stellen.
Stadtarztesstelle in Falkenau an der Eger, Böhmen. Jahres¬
gehalt 1200 K (ohne Anspruch auf einen Ruhegehalt). Der Stadtarzt hat
in dieser seiner Eigenschaft sich allen, in der auf Grund des Gesetzes vom
23. Februar 1888, L. G. Bl. Nr. 9, für Gemeindeärzte erlassenen Dienst¬
instruction enthaltenen Obliegenheiten zu unterziehen. Ausserdem obliegt
dem Stadtarzte die unentgeltliche Behandlung der städtischen Beamten und
Diener und deren Familienangehörigen, der einheimischen Armen und der im
städtischen Krankenhause aufzunehmenden Kranken. Bewerber deutscher
Nationalität haben ihre mit dem Heimatscheine, dem Diplome über den er¬
langten Doctorgrad und mit den Zeugnissen über die bisherige Verwendung
belegten Gesuche bis Ende Mai 1. J. bei dem Bürgermeisteramte in
Falkenau einzubringeu. Der Antritt dieser Stelle hat mit 1. Juli 1900
zu erfolgen.
Primararztesstelle. An der neu zu errichtenden Kinder-
Abtheilung des Allgemeinen Krankenhauses in Klagenfurt ist die Stelle
des Primararztes mit einem Jahresgehalte von 200Ö I\, einer Activitäts-
zulage von 400 K und dem Ansprüche auf Quinquennalzulagen von 400 K,
die in die Pension eingerechnet werden, zu besetzen. Die Besetzung dieser
Dienstesstelle erfolgt zunächst provisorisch und steht ihre dauernde Ver¬
leihung dem hohen Landtage zu. Bewerber um die erwähnte Dienstesstelle
haben ihre mit dem Taufscheine, Heimatscheine und Doctordiplome be¬
legten gestempelten Gesuche unter Nachweis ihrer StudieD, sowie ihrer bis¬
herigen mehrjährigen ärztlichen Verwendung in einem Kinderspitale bis
längstens 15. Juni 1900 beim Unterzeichneten Landesausschusse unmittel¬
bar, beziehungsweise durch ihre Vorgesetzte Dienstesbehörde einzubringen
Vom kärntnerischen Landesausschusse. Klagenfurt. am 10. Mai 1900.
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
489
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Oongressberichte.
INHALT:
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien. 29. Congress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. (18. his
Sitzung vom 18. Mai 1900. 21. April.) (Fortsetzung.)
Wiener laryngologische Gesellschaft. Sitzung vom 5. April 1900.
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
Sitzung vom 18. Mai 1900.
Vorsitzender: Dr. Teleky.
Schriftführer : Dr. Knauer.
Dr. Teleky dankt für die ehrende Wahl zum Vorsitzenden
der Gesellschaft.
Dr. Anton Bum demonstrirt eine subacromiale
intracapsuläre Humerusluxation.
Ich habe die Ehre einen zehnjährigen Knaben vorzustellen,
dessen rechte Oberextremität im Wachsthum erheblich zurückgeblieben
ist (Differenz zwischen kranker und gesunder Seite: Oberarm, vom
Acromion bis Olecranon 2 72, Vorderarm, Olecranon, Eminentia carpi
ulnar. 2ll2, Handlänge 1, Clavicula 2ll2, Spina scapulae 1, Thorax¬
umfang 1 cm) und auch functioneile Störungen zeigt. Patient kann
den Arm activ nur bis zur Horizontalen heben; auch passiv lässt
sich die Excursion im Schultergelenke in dieser Ebene, sowie bei der
Bewegung nach rückwärts nur um wenige Grade vergrössern. Auch
im Ellbogengelenke ist die active und passive Beweglichkeit einge¬
schränkt.
Die Inspection ergibt zunächst das Fehlen der normalen Schulter¬
wölbung; die Palpation erweist die Abwesenheit des Humeruskopfes
an normaler Stelle. Dafür findet sich unterhalb des Acromion eine
halbkugelförmige, glatte, harte Hervorwölbung, welche die Rotationen
des Humerus mitmacht. Es ist der dislocirte Humeruskopf, der mit
dem Pfannenrande und dem Acromion articulirt.
Es handelt sich um eine subacromiale intracapsu¬
läre Humerusluxation.
Aus der Anamnese geht hervor, dass der vorgestellte Knabe
in Schädellage mittelst Forceps geboren wurde und unmittelbar nach
der Geburt nebst einer rechtsseitigen Facialislähmung, die bald ge¬
schwunden ist, Unbeweglichkeit des rechten Armes zeigte, die trotz
langjähriger Behandlung sich nur sehr langsam besserte.
Wir haben es daher mit einer traumatischen, intra partum er¬
zeugten Armlähmung zu thun, als deren Folge die demonstrirte
Humerusluxation und die ausserdem vorhandene Subluxation beider
Vorderarmknochen im rechten Ellbogengelenke nach vorne aufzufassen
ist. Beide Luxationen sind wohl durch Ueberwiegen einzelner, nicht ge¬
lähmter Muskelgruppen gegenüber gelähmten Muskeln — also als
„paralytische“ Luxationen aufzufassen, die secundär zu Stande
gekommen sind. Ich habe mir erlaubt, den wohl nicht allzu häufig
vorkommenden Fall hier vorzustellen, um zu zeigen, wie vorsichtig
man in der Deutung von Luxationen sein muss, die auf den ersten
Blick als angeborene imponiren. Bekanntlich gehören angeborene
Humerusluxationen zu den grössten Seltenheiten. In der Literatur
finden sich im Ganzen neun Fälle, wovon drei die L. subcoracoidea,
zwei die L. supraacromialis und vier die L. subacromialis (subspinosa)
betreffen, doch sind auch unter diesen Fällen einige recht zweifelhafte.
Noch seltener sind angeborene Luxationen beider Vorderarmknochen
im Ellbogengelenke. (Demonstration der Röntgenogramme aus den
Instituten Schiff-Freund und Raise r.)
Primararzt Dr. Schnitzler stellt einen wegen sub-
cutaner Darmruptur laparatomirten Patienten vor.
Der 23jälirige Mann war am 21. April gegen 10 Uhr Vormittags
in der Weise verunglückt, dass er, ein cira 35 kg schweres
Schaff tragend, ausglitt und nach rückwärts stürzte, wobei das Schaff
auf sein Abdomen auffiel. Er schleppte sich mühsam in seine Kammer
und suchte das Bett auf. Nachmittags wurde er auf die Abtheilung des
Vortragenden gebracht. Damals bestanden keinerlei schwere Erschei¬
nungen, der Puls war gut und von normaler Frequenz. Erbrechen war
nicht aufgetreten. Erst am 22. April Morgens sah Schnitzler den
Verletzten. Auch jetzt war das Allgemeinbefinden ein gutes, Tempe¬
ratur und Puls normal, Sensorium ganz frei; der Verletzte machte
durchaus nicht den Eindruck eines schwer Kranken. Doch war
Morgens einmal Erbrechen aufgetreten, die rechte Unterbauch¬
gegend war druckempfindlich und durch excessive Muskel¬
spannung resistenter, der Schall in der Ileocöcalgegend gedämpft.
Daher entschloss sich Schnitzler zur sofortigen Laparotomie,
die 24 Stunden nach dem Trauma in Chloroformnarkose ausgeführt
wurde. Medianschnitt unterhalb des Nabels. Präperitoneales Zellgewebe
ödematös. Nach Eröffnung der Bauchhöhle entleert sich eiterige, mit
Dünndarminhalt gemengte Flüssigkeit, die im rechten Hypogastrium
in grossen Mengen angesammelt und nirgend durch festere Adhäsionen
abgegrenzt war. Die Dünndärme werden entwickelt, zeigen sich
überall mit fibrinös-eiterigem Belag bedeckt, nicht stark
gebläht. Im Bereich des mittleren Ileum eine, an der convexen Darm¬
wand gelegene, bohnengrosse Perforationsöffnung, aus der
Darminhalt quillt. Keine weitere Darm- oder Mesenterialverletzung.
Naht der Darmwunde. Gründliche Ausspülung der Bauch¬
höhle und Irrigation der vorgelagerten Dünndärme mit heisser
6°/0iger Kochsalzlösung. Einführung von dicken Drains und Jodoform¬
gazetampons in den Douglas und das rechte Hypogastrium. Ver¬
kleinerung der Bauchwunde. Glatte Heilung bis auf einen heute
noch bestehenden Granulationsstreifen. Schnitzler bespricht die
Schwierigkeiten der Indicationsstellung zur Operation bei subcutanen
Bauchverletzungen und erwähnt die diesbezügliche Discussion auf dem
diesjährigen Chirurgencongress. Besonders verhängnisvoll ist der Um¬
stand, dass oft trotz schon ausgebreiteter Peritonealinfection das All¬
gemeinbefinden des Verletzten ein irreführend gutes ist. Von Wichtigkeit
ist die umschriebene Schmerzhaftigkeit und Contraction der Bauchwandung.
Schnitzler ist für frühzeitige Eingriffe bei subcutanen Bauch Verletzungen,
sobald eine Darmverletzung (respective Verletzung von Leber oder Milz)
nicht mit Sicherheit auszuschliessen ist. Die Statistik zeigt, dass mit dem
Zuwarten die Chancen des Eingriffes sich rapid verschlimmern. So hat
Angerer von neun operirten Darmrupturen nur zwei geheilt, bei
welchen die Laparotomie fünf, respective neun Stunden post trauma
ausgeführt wurde. König konnte schon sechs Stunden post trauma
bei der Laparotomie Peritonitis finden. Vor mehreren Jahren hat
J a h o d a hier zwei Fälle vorgestellt, bei welchen die Laparotomie
noch 25, respective 80 Stunden nach der Verletzung noch zur Heilung
führte, doch sind solche Fälle wohl nur als glückliche Ausnahmsfälle
zu betrachten.
Im Anschluss hieran berichtet Schnitzler über eine zweite,
vor 11 Tagen von ihm operirte Darmverletzung, die durch ihre Ent¬
stehung interessant ist. Ein 20jähriger Schlosser bearbeitete mit dem
Hammer ein Stück Eisenblech. Da sprang ein Stück davon ab und
drang durch Rock, Hose, Hemd und Unterhose durch in den Bauch
des Verletzten, der sofort zusammenstürzte und bald darauf auf
Schnitzle r’s Abtheilung gebracht wurde. Schnitzler sah ihn
D/2 Stunden nach dem Unfall. Der Mann war im tiefen Shock, hatte
kleinen, frequenten Puls, erbrach, war halb benommen und stöhnte
fortwährend. Rechts und unterhalb des Nabels ragte aus einer circa D/2 cm
langen Hautwunde ein Stückchen Netz heraus. Sofortige Laparo¬
tomie. Nach Erweiterung der Wunde quillt viel Blut aus der
Peritonealhöhle. Absuchen des Darmes. Im Bereiche des untersten
Ileum eine Darmschlinge vorne auf ein Dritttheil der Circumferenz
scharfrandig durchtrennt, die Wunde reicht bis in den Mesen¬
terialansatz; daselbst eine blutende Arterie. Ligatur des Gefässes,
Darmnaht. Auf dem Mesenterium liegt das (demon¬
strirte) Stück Eisenblech, das kaum 2 mm stark und unregel¬
mässig rund ist und dessen Durchmesser 1 4 cm beträgt. Ausspülung
der Unterbauchgegend, Tamponade, partielle Bauchdeckennaht. Patient
ist auf dem Wege der Besserung. Bemerkenswerth ist in diesem Falle,
dass ein Stückchen Eisenblech durch einen einfachen Hammerschlag
mit projectilähnlicher Gewalt durch die Kleidung hindurch in das
Abdomen eindrang und eine schwere Verletzung erzeugen konnte.
Die Indication zum Eingriff war hier schon durch den Netzprolaps
gegeben.
Prof. Weinlechner stellt einen 50jährigen Kürschner aus Galizien
vor, welcher von Hofrath v. Schrotte r’s Klinik an seine Abtheilung
transferirt wurde, mit der Bemerkung, dass durch die Function und
490
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 21
mikroskopische Untersuchung Sk ol ices von Echinococcus,
linken und Membranen in einer Bauchgeschwulst nachgewiesen
worden seien. Patient gab an, dass er vor 18 Jahren zuerst in der
Gegend der Milz eine harte Geschwulst bemerkt habe, nach sechs
Jahren sei eine ähnliche auch in der Lebergegend aufgetreten. Schmerzen
habe er erst im Februar 1. J. in erwähnenswerther Weise beobachtet.
Mit Hunden habe er nie etwas zu schaffen gehabt, mit Ilundefellen
wohl, die aber präparirt aus Amerika angekommen seien.
Der Status ist folgender: Der Bauch ist besonders im oberen
Antheilo ausgedehnt, allem Anscheine nach bedingt durch zwei ungleich
grosse Geschwülste, welche der Leber und Milz anzugehören scheinen.
Beide Geschwülste treffen in der Nabellinie ober dem Nabel zu¬
sammen.
Vier Finger breit drängt sich der Leberantheil ein paar
Querfinger nach links herüber ; nach oben reicht er bis zur fünften
Kippe und geht dann horizontal über die sechste bis achte Rippe hin¬
über, füllt die obere rechte Lendengegend aus, den hinteren Brust-
antheil meist freilassend, und reicht nach abwärts bis zur Nabelhöhe.
Der Milzantheil der Geschwulst geht vom Nabel schräg herunter
bis zur Spina ant. sup., reicht vorne in der Mamillarlinie bis zur fünften
Kippe und geht dann schräg, den linken Brustantheil frei lassend,
herab in die linke Lendengegend, die hier weniger erfüllt ist, als auf
der rechten Seite.
Grösster Umfang zwischen Processus xiphoides und Nabel . 110 cm
„ „ in der Nabelhöhe . 98 cm
„ „ an der Basis des Processus xiphoides . . 100 cm
Distanz vom Processus xiphoides zur Symphyse . 54 cm.
Die Milzgeschwulst zeigt knollige Vorwölbungen in Form seichter
Abschnitte einer Billardkugel und darüber, von verschiedener Consi-
stenz. An dem Leberantheile de3 Tumors sind solche Consistenzdiffe-
renzen wohl vorhanden, aber weniger ausgeprägt, wie links, die
Geschwulst mehr flach.
Kein Ascites, ödematöse Schwellung in den unteren Extremitäten
bis in die Höhe des Kniegelenkes. Wenn der Patient aufsitzt, drängt
sich der Bauch in der Linea alba hernienartig vor.
Prof. Weinlechner ist der Ansicht, dass in der Milz der
Echinococcus multipel vorhanden sei, dagegen scheint in der Leber
ein grösserer Sack vorhanden zu sein, doch sei die Mehrzahl der Säcke
nicht ausgeschlossen.
Was die Therapie anlangt, so sei er mit den Erfolgen seiner
Behandlung an der Leber und Niere recht wohl zufrieden. Bei grösseren
Säcken punctirte er mit einer Art F 1 o u r a n t’schen Troikart und liess
die Doppelrohre liegen; in den letzten Jahren habe er die übliche In¬
cision mit Peritonealnaht zweizeitig geübt, bei kleineren multiplen
Fällen Jod injicirt oder punctirt und die Canule dauernd liegen
gelassen.
In diesem Falle wäre die Splenektomie indicirt, wenn der
Kranke nicht sichere Garantie der Heilung als Bedingung stellen
würde. Rechterseits an der Leber würde er den grösseren Sack nach
Peritonealnaht incidiren, denn die Leberfläche ist mit der vorderen
Bauchwand nicht verwachsen. Vorläufig ist Patient jedem operativem
Eingriff abhold.
Docent Dr. Spiegler demonstrirt aus seiner Abtheilung des
Kaiser Franz Josef-Ambulatoriums einen 60jährigen
Mann, dessen Körperoberfläche mit Hunderten linsen- bis baselnuss¬
grossen Knoten von Molluscum fibrosum bedeckt ist. In Be¬
ziehung auf Heredität ist nichts eruirbar.
Docent Dr. L. Rethi hält seinen angekündigten Vortrag über:
Experimentelle Untersuchungen über die Luft¬
strömung in der normalen Nase, sowie bei patho¬
logischen Veränderungen derselben und des Nasen-
Kachenra u m e s.
Nach einer kurzen übersichtlichen Darlegung der Ansichten
früherer Autoren und der Anführung der bisherigen Forschungen legt
der Vortragende die Ergebnisse seiner experimentellen Untersuchungen
vor, die er im physiologischen Institute der Wiener Universität aus¬
geführt hat. Die Versuche wurden an menschlichen Leichenköpfen
vorgenommen, doch bezogen sie sich nur zum geringen Theile auf die
normale Nase, und grössere Aufmerksamkeit wurde jenen Versuchen
zugewendet, die sich auf die Luftströmung beim Vorhandensein von
pathologischen Veränderungen in der Nase sowohl, als auch im Nasen-
Rachenraum beziehen. Die Versuche wurden theils an frischen, theils
an Trockenpräparaten vorgenommen; an letzteren, weil pathologische
Veränderungen in der Nase, im Nasen-Rachenraum, sowie an der
äusseren Nase durch Wachsmodellirung leicht künstlich nachgeahmt
werden konnten. Der Schädel wurde median auseinandergesägt, die
äussere Nasenwand mit Lakmuspapier belegt und nach Verschluss von
innen her durch eine hermetisch sehliessende Glasplatte theils Ammoniak¬
dämpfe, theils Tabakrauch durchgeleitet, entweder aspirirt, oder im
Sinne der Ausathmung herausgetrieben, so dass der Luftweg direct
verfolgt, oder durch die Bläuung des Lakmuspapieres festgestellt
werden konnte.
Die Resultate dieser Untersuchungen, welche der kaiserlichen
Akademie der Wissenschaften in Wien am 15. Februar d. J. vorgelegt
wurden, sind folgende: In der normalen Nase dringt die
Luft bei der Inspiration senkrecht auf die Ebene
der äusseren Nasenlöcher ein, prallt am Septum an
und strömt im Bogen am vorderen Ende der mittleren
Muschel vorbei, nach innen von derselben, zum Tlieil
über, zum Theil unter derselben fast bis zur oberen
Fläche der unteren Muschel, hauptsächlich durch
den mittleren Nasen gang nach hinten in den Nasen-Rachen¬
raum. Am geringsten ist die Luftbewegung unter dem Nasendache.
Ebenso ist die Luftströmung bei der Exspiration. Bei Stumpfnase flacht
sich der Bogen ab. Auch bei relativ weiten Nasengängen und weiter
Rima olfactoria ist der Luftstrom im Wesen derselbe und der inner¬
halb normaler Grenzen verbleibende Turgor der Nasenschleimhaut übt
hierauf keinen merkbaren Einfluss aus.
Die Nebenhöhlen betreffend zeigte sich, dass die Luftbewegung
in denselben nicht nur von der Stärke und dem Wechsel
der Luftströmung, sondern insbesondere auch von
der Grösse der Oeffnung, der Art der Einmündung
und der Configuration der nächsten Umgebung
abhängt.
Zur Untersuchung der Luftströmung beim Vorhandensein von
pathologischen Veränderungen wurden partielle oder totale Ver¬
dickungen, Auswüchse der Nasenscheidewand, adenoide Wucherungen
am Rachendach etc. künstlich nachgeahmt. Es ergab sich, dass die
Luft entsprechend den sich entgegenstellenden
Hindernissen abgelenkt wird, dass sie aber stets
die Tendenz hat, die normale Richtung beiz u be¬
halten. So strömt z. B. die Luft bei Hypertrophie der
mittleren Muschel, das Septum berührenden Polypen, haupt¬
sächlich unterhalb und zum Theil auch über den¬
selben nach hinten. Beim Vorhandensein von adenoiden Vege¬
tationen fällt der Luftstrom hinten steil in den Nasen-Rachenraum ab.
Bei Hypertrophie der unteren Muschel in ihrer
Mitte strömt die Luft wie in der normalen Nase;
sind jedoch die Enden dieser Muschel bedeutend
vergrössert, so erleidet die Richtung des Luft¬
stromes eine Ablenkung. Resection der unteren
Muschel ändert nichts Wesentliches und der Luft¬
strom erreicht nicht die Resection sstelle.
Eine Berührung des Luftstromes mit der unteren Muschel kommt
also nur bei beträchtlichen pathologischen Veränderungen, bedeutenden
Verdickungen der Muschelenden oder oberhalb dieser Muschel vor.
Diese Ergebnisse stimmen mit den klinischen Erfahrungen voll¬
kommen überein, denn man sieht oft bedeutende, den ganzen unteren
Nasengang ausfüllende Hypertrophien der unteren Muschel ohne sub-
jectives Gefühl der Nasenstenose und andererseits bedeutende Nasen¬
stenose bei freiem unteren Nasengang, dann nämlich, wenn die mittlere
Muschel verdickt ist, wenn adenoide Vegetationen oder Hypertrophien
der unteren Muschel vorhanden sind.
Demnach kann die Schleimhaut der unteren
Muschel auf die Beschaffenheit der durchströmen¬
den Luft keinen wesentlichen Einfluss üben und
diese weder wesentlich erwärmen, noch wesentlich
befeuchten und auch eine mehr oder minder voll¬
ständige Abtragung derselben wird in dieser Rich¬
tung keine nennenswerthen Veränderungen zur
Folge haben.
In der That geben fast alle Autoren an, nach Resection der
unteren Muschel nie irgend welche nachtheiligen Folgen, z. B. subjectiv
oder objectiv wahrnehmbare Trockenheit des Rachens und des Kehl¬
kopfes gesehen zu haben. Auch der Vortragende sah nie nach
einem solchen operativen Eingriffe unangenehme
Folgeerscheinungen, und wenn dennoch Einzelne angeben,
Trockenheit in den tiefer gelegenen Schleimhäuten gesehen zu haben,
so wäre es möglich, dass dieser Zustand schon früher vorhanden war
und die Aufmerksamkeit des Kranken nach Wiederherstellung der
Nasenathmung mehr auf den Rachen gelenkt wurde und die Trocken¬
heit trotz radicalen Eingriffes in der Nase sich dann noch zu höherem
Masse weiter entwickelte.
Dr. Adolf Jolles : Ueber eine einfache und zuver¬
lässige Methode zur quantitativen Bestimmung der
Harnsäure, sowie der Purinbasen (Alloxurbasen) im
Harn e.
Nach einer eingehenden Besprechung der Fortschritte, welche
die Chemie der Purinkörper in den letzten Jahren gemacht bat, be¬
spricht Vortragender eingehend die Harnsäure, das Hypoxanthin,
Xanthin, sowie das Adenin, welche wegen ihres Vorkommens in den
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
491
Geweben und im Harne für die Physiologie von besonderer Wichtig¬
keit sind, ferner die methylirten Körper dieser Gruppe, wie Theobromin
und Coffein, die in Anbetracht ihrer Wirkungen auf den Organismus
ein hervorragendes Interesse beanspruchen. Dr. J oll es legt hierauf
die Ansichten dar, welche nach den Arbeiten von Medicus und
Fischer über die Structur dieser Körper jetzt allgemein angenommen
sind, und nach welchen diese Körper als Derivate des von E. Fisch er
dargestellten Pur ins
N = CH
I I
HC C — N \
II II CH
N — C — NH/
aufzufassen sind, somit also untereinander in sehr nahen Beziehungen
stehen, wie das ja auch durch die in den letzten Jahren gelungenen
Ueberführungen der einzelnen Glieder dieser Gruppe ineinander ex¬
perimentell bestätigt worden ist. Harnsäure, Xanthin und Hypoxanthin
sind sauerstoffhaltige Derivate, Adenin ein Amidoderivat, des Purins.
Durch Einführung von Methylgruppen in bestimmter Stellung in das
Xanthin entstehen endlich die Methylxanthine, unter denen das Theo¬
bromin und das Coffein die bekanntesten sind. Im Anschlüsse an die
Besprechung der chemischen Constitution erläutert Vortragender
das Vorkommen dieser Körper im Harne. Harnsäure, Xanthin, Hypo¬
xanthin, Adenin sind Spaltungsproducte des Organismus und die
Grösse ihrer Ausscheidung aus dem menschlichen Organismus gibt uns
einen Massstab für die Grösse des Zerfalles der Zellkerne; die
methylirten Derivate hingegen stammen ausschliesslich aus
der Nahrung, zumal aus den Genussmitteln. Hiebei sind interes¬
sante Beobachtungen gemacht worden, dahin gehend, dass im
Organismus eine theilweise Abspaltung der Methylgruppen statt¬
findet, so dass die aufgenommenen methylirten Körper im Harne
zum Theil entmethylirt wiedergefunden werden. Zur Bestimmung dieser
wichtigen Körperclasse sind eine grosse Anzahl Methoden vorgeschlagen
worden, die meist aber sehr unsichere Resultate ergaben, indem zum
Theil die Fällungen nicht genügend quantitativ waren, zum Theil
andere im Harne befindliche Körper, wie Farbstoffe, Eiweiss Fehler
in der Bestimmung herbeiführten. Nachdem Vortragender mit der von
ihm vorgeschlagenen Methode zur Harnsäurebestimmung, welche in
extenso in den Berichten der Akademie der Wissenschaften erschienen
ist, sehr günstige Resultate erhalten hatte, versuchte er, dasselbe
Princip auf die Bestimmung der Purinbasen im Harne anzuwenden,
und erzielte ebenso gute Erfolge. Ebenso wie die Harnsäure durch
Oxydation mit Permanganat unter Einhaltung bestimmter Bedingungen
ihren gesammten Stickstoff in Form von Harnstoff wiederfinden lässt,
der dann entweder als oxalsaurer Harnstoff gewogen werden kann,
oder bei dem man den aus ihm durch Bromlauge entwickelten Stick¬
stoff bestimmen kann, so wird auch bei den im Harne vorkommenden
Purinbasen der ganze Stickstoff (wie beim Xanthin), oder der grösste
Theil (wie beim Adenin) nach der Oxydation durch Bromlauge ent¬
wickelt und auf diese Thatsache hat Vortragender seine Methode zur
Bestimmung der Purinbasen gegründet. Zur Abscheidung der Purin¬
basen aus dem Harne verfährt man analog der Ludwig-Salkowski-
sclien Methode, indem man zur Isolirung dieser Körper die Silber-
Magnesium-Doppelsalze verwendet. Dieser Silber-Magnesiumniederschlag
wird nun für sich oder eventuell nach Entfernung des Silbers mit
schwefelsaurer Permanganatlösung nach genauer Vorschrift oxydirt,
das Oxydationsgemisch neutralisirt, im Azometer mit Bromlauge ver¬
setzt und der freigemachte Stickstoff gemessen. Diese Zahl gibt also
den Stickstoff der Harnsäure plus Purinsäure an. Wenn man gleich¬
zeitig aus einer ebenso grossen HarnmeDge die Harnsäure durch Fäl¬
lung mit essigsaurem Ammon isolirt hat und genau so der Oxydation,
sowie dem Verfahren im Azotometer unterzogen hat, so lässt sich aus
der Differenz der beiden Volumablösungen des Stickstoffes der Stick¬
stoffgehalt der Purinbasen in der betreffenden Harnprobe ebenso genau
als anschaulich ablesen. Das Verhältniss von Harnsäure-N zum Purin-
basen-N be'wegt sich nach den Untersuchungen des Dr. J o 1 1 e s
auch bei normalen Harnen zwischen weiten Grenzen, was darauf
zurückzuführen ist, dass unter den Purinbasen des Harnes auch
die methylirten Purine, welche hauptsächlich aus der Nahrung stammen,
gleichzeitig zur Bestimmung gelangen. Daher sind die Zahlen, welche
für den Purinbasen-N resultiren, für diagnostische Zwecke noch mit
grosser Reserve aufzufassen. Nur abnorm hohe Werthe berechtigen, auf
einen vermehrten Zerfall kernhaltigen Materials zu schliessen. Besonders
werthvoll erweisen sich die Purinbasen-Bestimmungen, wenn dieselben
in Combination mit dem Gesammt-N durchgeführt werden, indem Harne
mit relativ niedrigem Gesammt-N und erheblich erhöhtem Gehalt an
Purinkörper-N auf tiefgreifende Degenerationen im Organismus schliessen
lassen. So hat Vortragender bei zwei Fällen von Magencarcinom, bei
einem schweren Typhusfall, ferner bei perniciöser Anämie und bei
Leukämie in Uebereinstimmung mit anderen Autoren auffallend hohe
Zahlen für den Purinbasen-N gefunden.
Wiener laryngologische Gesellschaft.
Sitzung vom 5. April 1900.
Vorsitzender: Prof. O. Chiari.
Schriftführer: Dr. Hanszel.
Der Vorsitzende begrüsst als Gäste die Herren Doctoren K r e i d 1,
Pick, Sachs und Dempsey.
1. Docent Dr. M. Hajek: Ich stelle hier einen Fall von com¬
pleter rechtsseitiger Reeurrenslähmung vor, in welchem das Stimmband
ausgeschweift ist und weder in der Phonations-, noch in der Respirations¬
stellung, sondern in der sogenannten Cadaverstellung d. h. in der
beiläufigen Mittelstellung zwischen Phonations- und Respirationsstellung,
unbeweglich steht.
Das linke Stimmband überschreitet bei der Phonation die Me¬
dianlinie, um an das rechte heranzutreten.
Es wäre an dem Falle nichts Bemerkenswerthes, da ja dies Bild
allen Laryngologen zur Genüge bekannt ist, wenn nicht Herr Docent
Grossmann in seiner Arbeit: „Zur Lehre von der Posticuslähmung“
sagen würde, dass man die Cadaverstellung des Stimmbandes am
Lebenden überhaupt niemals sehen könne. Nun ist das einfach nicht
richtig, wie auch der demonstrirte Fall zeigt.
Es ist dabei völlig unfruchtbar, zu discutiren, ob diese am
Lebenden als Cadaverstellung bezeichnete Lage des Stimmbandes haar¬
scharf mit der Lage des Stimmbandes am Cadaver übereinstimmen
würde, da erstens, wie die Messungen an der Leiche zeigen, auch am
Cadaver Schwankungen in der Stimmbandposition Vorkommen und
zweitens für die Stellung der Stimmbänder an der Leiche noch ge¬
wisse Momente der Elasticität und der Starre beitragen.
Es ist sehr zweckmässig, das Wort „Cadaverstellung“ auch
für Verhältnisse am Lebenden beizubehalten, weil dadurch die Lage
des Stimmbandes nach Wegfall der bewegenden Kräfte (Adduction
und Abduction) ausgezeichnet zum Ausdrucke gebracht wird.
Discussion: Docent Dr. Grossmann: In dem demon-
strirten Falle ist ein total gelähmtes Stimmband in mässiger Adduction
zu sehen und diesen Zustand nenut Herr College Hajek „Cadaver¬
stellung“. Eine jedenfalls unpassende Bezeichnung, weil sie sich mit
dem Befunde gar nicht deckt.
Durch eine solche willkürliche Benennung wird jedoch
die Richtigkeit meiner Behauptung, dass bei Reeurrenslähmung
eine Cadaverstellung in des Wortes buchstäblichem
Sinne „n iemals“ Vorkommen kann, sicherlich nicht widerlegt,
wenn überhaupt zugegeben wird, dass ausser dem Recurrens noch
andere Faetoren den Stand des Stimmbandes bestimmen.
Prof. Chiari konnte bisher keinen Unterschied zwischen der
Stellung der Stimmbänder bei Reeurrenslähmung in vivo und der in
cadavere sehen.
2. Regimentsarzt Dr. Fein macht Mittheilung von einer neuen
Art der Therapie bei der typischen Form der Pachy¬
derm i a 1 a r y n g i s mit alkoholischer Lösung von Acidum salicylicum.
Der vorgestellte 62jährige Patient, welcher unter Anderem an Husten
und starker Heiserkeit litt, zeigte, als er im September 1898 aut die
Abtheilung für Halskranke der Allgemeinen Poliklinik kam, vor
Beginn der Behandlung „schalenförmige, über erbsengrosse Geschwülste
an beiden Processus vocales“.
Die linke Geschwulst wurde zum Theile abgetragen und histo¬
logisch als Pachydermie erkannt. Nun wurde der Kranke durch einige
Monate mit einer I0°/Oigen alkoholischen Lösung von Salicylsäure ge
pinselt, da der Vortragende von dem Gedanken ausging, dass diese
Säure auch an der äusseren Haut Wucherungen des Epithels zur
Maceration und zur Abstossung bringe. In der That besserte sich der
Zustand sehr rasch, die Geschwülste wurden kleiner und flacher und
jetzt ist der Befund, trotzdem mit der Behandlung fast ein Jahr aus¬
gesetzt wurde, so günstig, dass nur eine ganz flache, diffuse A er-
dickung an beiden Stimmbändern zu sehen ist. Die Stimme ist klar
und rein und die subjectiven Beschwerden sind bis auf ein Gefühl
von Kratzen im Halse, das jedoch auf die Pharyngitis lateralis be¬
zogen werden dürfte, geschwunden.
Dieser Erfolg ist jedenfalls mit Rücksicht auf die Trostlosigkeit
der bisher üblichen therapeutischen Massnahmen sehr günstig zu
nennen.
Das Medicament wird gut vertragen, wirkt nicht reizend und
wurde endolaryngeal nur von Dun das Grant zur Nachbehandlung
bei Papillomatosis angewendet.
Discussion: Docent Dr. Roth erkundigt sich, ob dieser
Patient beruflich viel sprechen müsse, was der Vortragende bejaht.
Dr. Oster setzer gibt an, dass er bei Docenten Dr. Hajek
schon .seit längerer Zeit in Fällen von Pachydermie, Sängerknötchen
etc. endolaryngeal mit Salicylsäure behandelt.
Prof. Chiari kennt den Fall, ist aber mit dem Enderfolge der
Behandlung nicht ganz zufrieden.
492
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 21
Docent Dr. R 6 t h i hebt hervor, dass pachydermische Wülste
auch spontan schwinden, allerdings nicht in so kurzer Zeit, wie in
dem demonstrirten Falle am rechten Processus vocalis, und erwähnt
weiters einen Fall, bei dem die Wülste binnen 2V2 Jahren spontan
beinahe vollständig schwanden. In dem vorgestellten Falle scheinen
die Salicylsäurepinselungen in der That günstig eingewirkt zu haben,
da sich der rechte Wulst schon nach etwa dreimonatlicher Behandlung
verkleinert hat.
3. Discussion über den Vortrag des Docenten
Dr. Grossmaun: Ueber die Function des Musculus
crico-thyreoideus.
Docent Dr. Rethi betont vorerst, dass der Vortragende die
add ucir ende Kraft des M. crico-thyreoideus über¬
schätzt; faradische Reizung dieses Muskels ergibt nebst Spanung
zwar auch Adduction, doch ist diese sehr gering. Es ist bekannt, dass,
wenn die Nn. recurrentes durchschnitten sind, Durchschneidung der
Nn. laryngei superiores entweder gar keine oder nur eine sehr gering¬
fügige Glottiserweiterung zur Folge hat (K e 1 1 n e r, Katzenstein,
Klemperer, Burger). Tritt starke Adduction auf, so führt sie
Rethi auf Stromschleifen zurück, welche entweder direct auf die
Glottisschliesser (M. crico-aryt. later.) überspringen oder auf sensible
Nerven, von denen dann Reflexe in den Schliessern und im M. con¬
strictor pharyngis inf. ausgelöst werden.
Eine Spalte oder Lücke zwischen den Arytänoid-
knorpeln, die nach Grossmann für Crico-tbyreoideuslähmung
charakteristisch sein soll, ist nach Ausschaltung dieses Muskels bei
der Phonation nicht vorhanden. Dass eine Lücke zwischen den
Arytänoidknorpeln, wie Grossmann sagt, bisher allgemein für eine
Lähmung des M. crico aryt. lat. gehalten wurde, hält übrigens Rethi
für einen Lapsus linguae, beziehungsweise calami; ein solches Dreieck
„dessen Spitze die beiden sich berührenden Proc. vocales und dessen
Basis die Interarytänoidalfalte bildet“ gilt doch allgemein als Trans-
versus- und nicht als Lateralislähmung.
Die Bezeichnung „Cadaverstellung“ kann man vorderhand, da
man ja weiss, was darunter zu verstehen ist, beibehalten, obwohl
diese Stellung mit der in der Leiche nicht völlig
identisch ist, da in vivo noch verschiedene Factoren mitwirken,
die in cadavere entfallen; im Uebrigen ist auch in der Leiche die
Stimmbandstellung nicht immer gleich, und zwar nicht nur bei ver¬
schiedenen Thiergattungen, sondern auch bei Thieren derselben
Species.
Was die phonatorischen Störungen betrifft, von denen die ganze
Discussion eigentlich ausging, so konnte der vorgeführte Hund aller¬
dings weder vor noch nach der Durchschneidung des N. laryngeus
sup. zur Phonation gebracht werden; dagegen war das demonstrirte
Kaninchen auch nach der Durchschneidung durchaus nicht stimmlos und
aus den Angaben älterer Autoren (Dupuytren, L 0 n g e t, Bose,
Schmidt, S c h e c h) ist ebenfalls zu ersehen, dass Ausschaltung
des M. crico-thyreoideus keine Aphonie zur Folge hat.
(Das o. privativum besagt ja einen vollständigen Verlust der Stimme.)
Tritt ja eine solche nicht immer ein, selbst wenn alle vier Kehlkopf¬
nerven durchschnitten wurden, und doch soll der Hund, wie Gross¬
mann angibt, nach alleiniger Ausschaltung der Mm. crico-thyreoidei
nur mehr „hauchen“! Beim Kaninchen war der Stimmunterschied vor
und nach Durchreissung der Nn. laryngei sup. so gering, dass man
nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob der M. crico-thyreoideus gerade
faradisirt wurde oder nicht. Allerdings war der N. laryng. medius, der
sich bei diesen Thieren an der motorischen Innervation dieses Muskels
betheiligt, in diesen beiden Fällen unberücksichtigt geblieben.
Berühren sich die Proc. vocales, sehen die Stimmbänder normal
aus, ist weder eine Lähmung des M. vocalis oder transversus, noch
eine spastische Aphonie vorhanden und ist der Exspirationsdruck ein
genügender, so wird keine Aphonie vorhanden sein, auch wenn der
M. crico-thyreoideus gelähmt ist.
Es ist ein Irrthum, zu glauben, der M. cricothyreoideus sei der
einzige Stimmbandspanner oder vielmehr der einzige Muskel, der die
Stimmbänder in einen ensprechend vibrationsfähigen, für die Phonation
günstigen Zustand versetzen kann. Rethi weist auf die experimentellen
Untersuchungen über Messung der Stimmbandspannung hin, deren Er¬
gebnisse er in den Sitzungsberichten der Akademie der Wissenschaften
in Wien vor drei Jahren publicirt hat. In einem Falle ergab Crico-
thyreoideus-Contraction eine Stimmbandspannung von 480 g und die
des M. vocalis 150 g, in einem zweiten: 230 und 120 g, d. h. die
Spannung oder Festigkeit betrug in dem zweiten Falle bei Internus-
Contraction mehr als die Hälfte der Crico-thyreoidous-Spannung. Nun
muss man aber noch berücksichtigen, dass die Muskeln nicht isolirt
wirken und wenn nun die Stimmbänder und Arytänoidknorpel an¬
einander gepresst werden, wenn der M. crico-arytaen. post, mit seiner
nach hinten wirkenden Componente in Action tritt und geradezu wie
ein Spanner im Sinne des M. cricothyreoideus wirkt, quasi auch
Phonationsmuskel ist, so wird der M. vocalis umso grössere Wirkung
entfalten können und doch war schon bei alleiniger Contraction
des M. vocalis — denn die Thiere waren curarisirt — die Spannung,
d. h. die Festigkeit des Stimmbandes, auf die es ja bei Betrachtung
der Phonationsfähigkeit ankommt, eine so bedeutende.
Wohl soll nicht alles vom Thierexperimente auf den Menschen
übertragen werden; sind ja oft bedeutende Unterschiede vorhanden:
so haben z. B. gewisse Thiergattungen einen N. laryngeus medius;
der Hund hat ganz andere Respirationsphasen ; Reizung des N. recurrens
mit mittelstarken Strömen ergibt beim Hunde Glottisschluss, bei der
Katze Oetfnen der Glottis etc. Was aber die phonatorischen Störungen
betrifft, ist volle Analogie vorhanden ; eine rauhe, veränderte,
heisere Stimme ist, wie wir wissen, Folge der Crico-
thyreoideus-Ausschaltung, nicht aber Aphonie; es
kommt hiedui'ch, und das ist ja das Wesentliche, nie zu einem voll¬
ständigen Verlust der Stimme, wie man dies z. B. bei einer hysterischen
Aphonia paralytica so oft sieht, wenn nicht etwa durch den operativen
Eingriff Oedeme oder Suffusionen im Kehlkopfinnern entstehen, welche
die Stimme aufheben.
Schliesslich erwähnt Rethi, dass er bei Besprechung des Falles
von Roth, in welchem Aphonie vorhanden war und sich die Taschen¬
bänder bei jedem Phonationsversuch berührten, gleich einleitend in
der Discussion nur von einer sehr starken „krampfähnlichen“ Con¬
traction des Taschenbandmuskels sprach, welche sich bei jedem Phona¬
tionsversuch einstellte und das Taschenband dicker machte; es war
aber keine Crico-thyreoideus-Lähmung, sondern eine mechanische Be¬
hinderung der Vibration vorhanden in Folge Aufliegens des verdickten
Taschenbandes. Im Uebrigen war der Fall nicht rein und nicht ge¬
eignet, die Frage der Crico thyreoideus-Lähmung zu discutiren, da die
Stimmbänder während der Phonation fast ganz unsichtbar waren.
Docent Dr. Roth: Nachdem der Herr College Grossmann
besonders hervorgehoben hat, dass den unmittelbaren Anstoss zu seinen
Demonstrationen und seinem Vortrage die vorausgegangene Discussion
über Laryngo-Hysterie und die Vorstellung meines Falles gegeben
haben, möge es mir gestattet sein, auf diesen Fall noch einmal zurück¬
zukommen und im Anschlüsse an diesen die von Grossmann auf¬
gestellten Sätze einer kritischen Beleuchtung zu unterziehen.
Bei meinem Falle traten zwei Erscheinungen markant hervor:
die vollständige Aphonie, eine functioneile Störung, und das
laryngoskopische Bild, welches als Ursache der Aphonie an¬
gesehen werden musste. Dieses letztere stellte sich so dar, dass bei
Inspiration keine Abweichung vom Normalen zu constatiren war, in
dem Momente aber, wo die Patientin phoniren wollte, legten sich die
Taschenbänder in der Mittellinie hart aneinander, deckten somit die
wahren Stimmlippen vollständig und Hessen nur in ihrem hinteren Ab¬
schnitte eine kleine Lücke offen, durch welche der hinterste Antheil
der wahren Stimmlippen gesehen werden konnte. Diese letzteren
waren, soweit man dies durch die kleine Lücke sehen konnte, bis zur
Berührung genähert, hinter den Processus vocales klaffte aber eben¬
falls eine Lücke, die etwas kleiner war als die obere.
Ich erklärte die Aphonie in der Weise, dass im Momente der
Phonations-Intention die Taschenbänder durch eine übermässige,
hyperkinetische Action des Musculus thyreo-arytaenoideus superior, bis
zur Berührung einander genähert werden; sie liegen dann wie
Dämpfer auf den Stimmlippen auf und verhindern deren freie zur
Tonerzeugung erforderliche Vibration. Dieser Ansicht schlossen sich
auch andere Collegen an, so namentlich Dr. Rethi, während
Dr. Grossmann sowohl die Aphonie als auch das derselben zu
Grunde liegende laryngoskopische Bild auf eine Lähmung des Musculus
crico-thyreoideus zurückführen zu müssen glaubte. Um diese seine
Ansicht zu beweisen, führte er die Thierversuche aus, indem bei
einem Kaninchen durch Zerreissung des innervirenden Nervus laryngeus
superior, bei einem Hunde durch Durchschneidung des Musculus crico¬
thyreoideus selbst die Function dieser Muskeln aufgehoben wurden.
Das Resultat dieses Eingriffes war, dass das Kaninchen bei schmerz¬
haften Reizen, wenn auch mit veränderter Stimme, dennoch schrie, es
war also keine vollständige Aphonie eingetreten. Dr. Grossmann
erklärte allerdings diesen Versuch als für seinen Zweck nicht ver-
werthbar, da der Nervus laryngeus medius, welcher ebenfalls den
M. crico-thyreoideus versorgt, intact geblieben war, somit noch motori¬
sche Impulse zu diesem Muskel gelangen konnten, allein, wenn wir
berücksichtigen, dass Dr. Grossmann über einen im Jahre 1893
ausgeführten Versuch berichtet, in welchem er bei einem Pferde beide
Musculi crico thyreoidei durchschnitten hatte, und wo er einen Monat
nach dieser Operation bei dem Pferde durch intensive äussere Reize
Töne hervorrief, welche dem „Wiehern“ eines Pferdes absolut nicht
ähnlich waren, so ist es klar, dass es ihm durch experimentelle
Lähmung des Musculus crico-thyreoideus nicht gelungen ist, eine so
totale Aphonie zu erzielen, als dies in meinem Falle zu beobachten
war. Dass eine erhebliche phonatorische Schädigung nach Ausschaltung
dieses Muskels, welchem ja die Spannung des Stimmbandes obliegt,
eintreten muss, war ja von vorneberein zu erwarten, dass aber die
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Lähmung dieses Muskels vollständige Aphonie bedingen müsse, hat
das Experiment keineswegs erwiesen.
Die zweite Erscheinung, das oben geschilderte eigenthümliche
laryngoskopische Bild, konnte ich bei dem zweiten Thiere, dem seiner
Musculi crico-thyreoidei beraubten Hunde, auch nicht finden. Dr. Gross-
m a n n machte zwar auf eine zwischen den Aryknorpeln sichtbare
Spalte aufmerksam, ich konnte dieselbe nicht sehen, allein, wenn ich
auch zugeben will, dass sie vorhanden war, so beweist sie nichts,
denn erstens hätte nachgewiesen werden müssen, dass die Spalte
während der Phonation übrig bleibt, und zweitens hätten auch die
Taschenbänder sich bis zur Berührung einander nähern müssen, wie
dies in dem von mir demonstrirten Falle gesehen wurde, wenn in
beiden, dem Versuchsthiere und in meinem Falle dieselben Bedin¬
gungen vorhanden waren. Dieser Nachweis ist nicht gelungen und aus
diesem Grunde bin ich nicht in der Lage, die von Dr. Grossmann
zur Erklärung meines Falles herangezogene Lähmung des Musculus
crico thyreoideus zu acceptiren. Ich muss vielmehr mehr denn je an
jener Erklärung der Erscheinungen festhalten, die ich bei Vorstellung
meines Falles gegeben habe.
Ich kann mir auch nicht vorstellen, wie die Lücke, welche in
der Rima cartilag. übrig bleibt durch den Ausfall des Muse, crico-
thyreoideus erklärt werden könnte, nachdem ja der Verschluss der¬
selben zu den Functionen der Musculi interarytaenoidei gehört, und
nicht durch die Thätigkeit der Muse, crico-thyreoidei herbeigeführt
werden kann.
Wenn somit Dr. Grossmann das Klaffen der Glottis cart,
bei der Phonation als charakteristisch für eine Lähmung der Musculi
crico-thyreoidei bezeichnet, so muss ich dieser Ansicht widersprechen,
sie ist nur charakteristisch für eine Lähmung des Musculus transversus.
Wenn aber weiters behauptet wird, dass bei Ausfall der Musculi
crico-thyreoidei der durch die Contraction der beiden Musculi crico-
arytaenoidei laterales zur Berührung gekommene Punkt der wahren
Stimmlippen nunmehr durch die unbehinderte Action der Musculi
vocales weiter nach vorne gezogen wird, muss ich dem entgegenhalten,
dass eine solche Verlagerung des Berührungspunktes, id est der Pro
cessus vocales, aus dem Grunde unmöglich ist, weil diesem Zuge der
Musculi vocales die verticalen Componenten sowohl des Musculus
crico-arytaenoideus lateralis als auch posticus wirksam entgegenwirken,
somit das Gleichgewicht wieder hersteilen.
Schliesslich muss ich noch direct betonen, dass ich die bis zur
Berührung erfolgte Annäherung der Taschenbänder keinesfalls durch
einen Krampf oder einen krampfartigen Zustand, sondern lediglich
durch eine dem Normalen gegenüber gesteigerte motorische Beein¬
flussung, demzufolge erhöhte Action des im Taschenbande verlaufenden
Muskels erkläre. Solche Steigerungen der motorischen Impulse finden
sich ja bei der Hysterie nicht selten, wie auch neben denselben
wieder Muskeln gefunden werden, welche in ihrer Wirkung durch
herabgesetzte Energie insufficient geworden sind; auf diese Weise
kann ganz gut neben dem hyperkinetischen Musculus thyreo-arytaenoideus
sup. ein insufficienter Musculus transversus bestehen.
Docent Dr. M. Hajek: Da Einiges schon von den Herren
Vorrednern berichtigt wurde, kann ich mich kürzer fassen. Herr Dr.
Grossmann hat sich in seinem Vortrage des Besonderen mit der
Function des M. crieothyreoideus und mit seinem Einfluss auf die
Function des M. thyreo-arytaenoideus befasst. Was er hierüber gesagt,
ist eigentlich selbstverständlich, denn es wurde seit jeher gelehrt, dass
der M. thyreo-arytaenoideus nur dann seine bekannte Function, den
Stimmbandrand geradlinig zu machen und die Glottis zum vollständigen
Verschluss zu bringen, ausführen kann, wenn die Stimmbandränder
fixirt werden. Die Fixation des hinteren Stimmbandrandes während
der Phonation bedarf keiner Muskelkraft, hier genügt vollständig das
Ligamentum crico-arytaenoideum posticum, wie dies weiland Dr. Bere g-
szaszy nachgewiesen hat, aber seither in Vergessenheit gerathen zu
sein scheint, da man noch immer von einer fixirenden Muskelkraft für
das hintere Ende des Stimmbandes bei der Phonation spricht. Das
vordere Ende .des Stimmbandes wird durch den M. crico- thyreoideus
fixirt, dem bekannten, von H o p e r zuerst nachgewiesenen Zug des
Ringknorpels nach oben. Lässt der M. crico-thyreoideus nach, ist so¬
mit das vordere Stimmbandende nicht fixirt, dann ist es selbstverständ-
ich, dass der M. thyreo-arytaenoideus sich verkürzen wird und nicht
mehr die ihm unter normalen Verhältnissen zukommende Wirkung
haben kann.
Der M. crico-thyreoideus ist zweifelsohne einer der wichtigsten
zur Phonation dienenden Muskeln. Man kann durch Auflegen der
Finger an die Vorderfläche des Ringknorpels seine Contraction genau
verfolgen.
Bevor noch ein Ton hörbar ist, fühlt man schon beim An¬
schicken einer Intonation diesen Muskel sich zusammenziehen. Ja, die
lebhafte Vorstellung eines hohen Tones involvirt schon die Contraction
dieses Muskels. Es ist diese Beobachtung von besonderem Interesse,
weil sie die vor mehreren Jahren von weiland Prof. Stricker auf¬
gestellte Ansicht, nach welcher Bewegungsvorstellungen mit einer
Contraction der zur betreffenden Bewegung erforderlichen Muskelgruppen
verknüpft sind, in vorzüglicher Weise illustrirt.
Alle Behauptungen und Experimente des Herrn Grossmann
über die Function des M. crico-thyreoideus als Phonationsmuskel sind
bekannt. Neu ist aber die Behauptung, dass die Lähmung des M. crico-
thyreoideus an der Entstehung des dreieckigen Raumes in der Glottis
cartilaginosa schuld sei. Diese letzte Behauptung ist aber durchaus
nicht aufrecht zu erhalten, und auch das Experiment des Herrn Gross¬
mann hat dies durchaus nicht erwiesen. Denn wie immer man die
an dem Thierexperimente gesehene Erschlaffung der Stimmbänder deutet
und beschreibt, von der Entstehung des erwähnten dreieckigen Raumes
kann keine Rede sein, und Niemand von uns hat denselben gesehen,
kann ihn auch nicht gesehen haben, denn es ist einfach unfasslich,
wie so etwas nach Lähmung der M. crico-thyreoidei entstehen sollte.
Ueberdies ist der Satz des Herrn Grossmann: „Dieses Offen¬
bleiben eines dreieckigen Raumes in dem hinteren Abschnitte der
Stimmritze ist also ein charakteristisches Zeichen für das Versagen
der Function des M. crico-thyreoideus und keineswegs, wie bisher all¬
gemein angenommen wurde, für eine Lähmung des M. crico-arytaeno¬
ideus lateralis“ befremdend, und zwar deshalb, weil es bisher
keinem Laryngologen eingefallen ist, die Ent
stehung des dreieckigen Raumes auf Lähmung der
Crico-ary taenoidei laterales zurückzuführen, es viel¬
mehr allgemein bekannt ist, dass hiefiir nur der M. arytaenoideus
transversus verantwortlich gemacht wurde, woran ja auch nicht
zu rütteln ist.
Chiari hebt hervor, dass die Mm. crico thyreoidei als Spanner
der Stimmbänder schon immer anerkannt waren; ihre adducirende
Wirkung ist jedenfalls viel geringer, als die der Mm. crico-aryt. laterales
und der Mm. thyreo-aryt. Der M. vocalis hat neben seiner adducirenden
Wirkung hauptsächlich noch die Aufgabe, die concaven Ränder der
passiv gespannten Stimmbänder auf die Sehne, i. e. die Medianlinie zu
bringen, sie zu festigen und wahrscheinlich auch je nach Bedürfniss
der Phonation im Ganzen oder in Theilen nach der Quere zu spannen.
Die Mm. crico-aryt. laterales bringen die Spitzen der Processus
vocales aneinander ; die Aryknorpel selbst werden durch den Transversus
aneinandergezogen. Die dreieckige Lücke hinter den Spitzen der Pro¬
cessus vocales, welche man bei Insufficienz der Transversi nicht selten
sieht, wird sicher nicht durch Insufficienz der Mm. crico-thyreoidei be¬
dingt. Alle diese Thatsachen ergeben sich aus den anotomischen Ver¬
hältnissen und aus der Beobachtung am Lebenden, sind allgemein an¬
erkannt und werden durch Grossmann’s Experimente nicht er¬
schüttert.
Im Uebrigen schliesst sich Chiari den Ausführungen der
Vorredner an.
Dr. C. Müller erinnert an die Versuche Neumayer’s. Der¬
selbe hat die verschiedenen Muskel des Larynx in künstliche Wärme¬
starre versetzt, indem er vierkantige Eisenstäbe von verschiedener
Grösse in kochendem Wasser erhitzte und dann an den Muskel an¬
legte, welcher in Wärmestarre versetzt werden sollte. Die mit dieser
Methode erzielten Contractionen waren immer ausgiebig und erwiesen
sich insbesondere bei der Prüfung der Function der Mm. crico-thyreoid.
und crico-aryt. post, als werthvoll.
Die bezüglich der Function der einzelnen Muskel gewonnenen
Resultate stimmen mit den durch andere Methoden erzielten Ergebnissen
überein. Bezüglich der Cadaverstellung fand Neu may er bei der
Untersuchung zahlreicher Kehlköpfe des Menschen und verschiedener
Thiere, dass die sogenannte Cadaverstellung nicht zu jeder Zeit zu
finden sei, sondern dass die Glottis, in Folge der Todtenstarre und
Wiederverschwindens derselben, verschiedene Formen annehmen könne.
Docent Dr. Gross mann: Meine Herren ! Wenn die Anschau¬
ungen, die in der heutigen Discussion zum Ausdrucke gelangten,
richtig sind, unterliegt es wohl keinem Zweifel, dass alle meine Be¬
hauptungen, welche ich in den vorausgegangenen Sitzungen aufgestellt
habe, unhaltbare sind. Ich müsste fast jedes meiner Worte widerrufen,
und fast jede meiner Angaben als unrichtig, als falsch erklären.
So ungünstig steht es aber mit meinen Erörterungen glücklicher
Weise denn doch nicht. Ich habe im Gegentheile die Empfindung, dass
ich auch nach den heutigen Auseinandersetzungen keinen Anlass habe,
auch nur eine meiner Behauptungen fallen zu lassen, oder auch nur
zu modificiren.
Ob dieser Empfindung blos ein fortgesetzter Irrthum meinerseits,
ein starrsinniges Festhalten an die bereits ausgesprochene Meinung,
oder aber jene Zuversicht zu Grunde liegt, welche uns das Bewusst¬
sein verleiht, den festen Boden erwiesener Thatsachen keinen Augen¬
blick verlassen zu haben, das soll heute nicht weiter erörtert werden,
darüber wird ja die Zukunft entscheiden.
Die Thatsache an und für sich aber, dass meine Auffassung
nicht die allgemeine Zustimmung gefunden hat, und mir nach
verschiedener Richtung opponirt wurde, finde ich vollständig begreiflich.
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Alte Lehrsätze, die wir viele Jahre hindurch als unantastbare
Wahrheiten zu respectiren gewohnt waren, die bei allen unseren klini¬
schen Beobachtungen als unsere vertrauenswürdige Wegweiser gegolten
haben , geben wir nicht im Handumdrehen auf, um neuen Lehren Platz
zu machen, die ja schon deshalb unwillkommen sind, weil sie ja immer
einen Angriff auf unseren geistigen Besitzstand bilden. Solche Lehren
müssen ja unter allen Umständen vorerst strenge geprüft, sorgfältig
erwogen, und dann erst ordentlich verdaut werden. Ich konnte und
durfte eine widerspruchslose Zustimmung umso weniger erwarten, als
ich ja selbst meine Meinung mir erst nach langjähriger, mühevoller
Arbeit zu bilden vermochte.
Es dauerte wahrlich lange genug, bis es mir gelungen ist, die
heute in Discussion stehenden klinischen Bilder durch experimental-
physiologische Versuche klar zu machen und bis mein Verständniss
nach und nach zu einem feststehenden Urtheil sich abgeklärt hat.
Einzig und allein zu meiner Rechtfertigung, dass ich nicht die un¬
reife Frucht einer flüchtigen Eingebung, sondern das Ergebniss einer
vieljährigen mühevollen Arbeit Ihrer Beurtheilung unterbreitet habe,
erlaube ich mir hervorzuheben, dass ich mich mit der Physiologie des
M. cricothyreoideus seit den Achtziger Jahren beschäftige. Die un¬
mittelbare Anregung zu dieser Arbeit gaben mir meine Versuche:
„Ueber die Wurzelfasern der peripheren Kehlkopfnerven“. Bei diesen
Experimenten, welche ich, wie Sie wissen, unter Exne r’s Leitung
durchzuführen das Glück hatte, habe ich unter Anderem die Beob¬
achtung gemacht, dass bei Reizung der von mir als mittleres Bündel
bezeichneten Vago-Accessoriusfasern, diejenigen Kehlkopfmuskeln sich
eontrahiren, welche vom N. laryng. infer, versorgt werden. Wird
dieses mittlere Bündel durchtrennt, treten die Erscheinungen einer
Recurrenslähmung auf — die Unbeweglichkeit des correspondirenden
Stimmbandes und die damit verbundene Störung der Stimmbildung.
Bei Reizung des oberen, dem Glossopharyngeus anliegenden Bündels
tritt Contraction im M. cricothyreoideus auf; nach Durchtrennung dieses
Bündels erfolgt die Lähmung des N. laryng. sup., die Beweglichkeit
des Stimmbandes hat nicht nur nicht gelitten, sondern war sogar
erhöht; die Stimmbildung aber war zu meiner grossen Ueber-
raschung in hohem Grade gestört. Ich habe damals dieses Ergebniss
noch nicht recht verstanden, nur das Eine war mir klar, dass die
Stimme nicht allein durch Recurrenslähmung und
durch die Unbeweglichkeit der Stimmbänder, sondern
auch durch Lähmung des N. laryng. sup. bei erhaltener
Beweglichkeit des Stimmbandes in hohem Grade
gestört wird.
Das war der Ausgangspunkt meiner weiteren Untersuchungen,
deren Resultate zum Theile schon publicirt wurden und zum Theile
erst veröffentlicht werden sollen. Die erzielten Ergebnisse erscheinen
mir von so überzeugender Klarheit, dass ich trotz den Einwendungen,
welche gegen einen Theil derselben heute erhoben v'urden, nicht
glauben kann, dass ich einem Irrthume zum Opfer gefallen sei.
Herr Collega Kethi gab der Meinung Ausdruck, dass die
adducirende Kraft des M. cricothyr. überschätzt
wird. Ich kann mir diesen Vorwurf nicht machen, vermuthe aber,
dass diese Kraft von Vielen unterschätzt wird. Wer über diese
Verhältnisse orientirt sein will, braucht blos die beiden Nn. recurr.
zu durchsclmeiden und er hat ein Kehlkopfbild vor sich, bei welchem
nur der Arbeitseffect des M. cricothyr. zum Ausdrucke 'gelangt. Es
wird sich nun zeigen, dass die Stimmbänder durch diesen Muskel
allein so hochgradig adducirt weiden, dass Erstickungsgefahr
auftritt. Es ist selbstverständlich, dass unter normalen Verhältnissen
so lango der Widerstand der Antagonisten nicht beseitigt ist, die Leistungen
dieses Muskels weit geringer ausfallen werden, gleichwie der Effect,
den man unter Zuhilfenahme starker Inductionsströme erzielt, grösser
sein wird, als wenn der Muskel seine Kräfte blos auf Grund der em¬
pfangenen Kräfte geltend macht.
Dass der M. cricothyr. nicht der alleinige Spanner ist,
habe ich in meinem Vortrage ausführlich erörtert. Ich habe auch
darauf hiugewiesen, dass sein Partner — der Stimmbandmuskel — zur
Extension nur unter der Bedingung beiträgt, wenn der M. cricothyr.
seine Function versieht. Versagt dieser seinen Dienst, wird auch
der Stimmbandmuskel nicht mehr spanne n, sondern im Gegentheil
entspannen.
Die Behauptung des Herrn Prof. Chiari, dass der Stimmband¬
muskel nicht spannt, sondern nur adducirt, ist in dem soeben ange¬
deuteten Sinne richtig zu stellen.
Fast alle Herren Vorredner haben hervorgehoben, dass ihnen
das Offenbleiben einer dreieckigen Spalte im hinteren Abschnitte der
Stimmritze einzig und allein als Folge einer Cricothyreoideuslähmung
unverständlich sei und haben der Meinung Ausdruck gegeben, dass
ein solcher Befund auf ein Versagen des M. transversus hiudeute. Den
M. transversus habe ich in meinem Vortrage nicht nur nicht über¬
sehen, sondern gleichzeitig mit dem M. lateralis eingehend erörtert.
Während man beim klinischen Bilde noch daran denken könnte,
meinte ich, dass das Offenbleiben der Glottis durch Lähmung des
M. lateralis oder transversus bedingt sei, war eine solche Annahme
bei einem Experimente, wo nur der M. cricothyr. gelähmt, alles andere
aber intact erhalten wurde, von vorneherein ausgeschlossen. Bei straff
gespannten Stimmbändern, hiess es weiter, wird sowohl der M. lateralis,
als auch der transvers. seine adducirende Kraft energisch zur Geltung
bringen können; bei schlaffen Stimmbändern hingegen wird dieselbe
wesentlich geringer ausfallen. Unter diesen Umständen werden nur
die unmittelbaren Angriffspunkte, nicht aber die
entfernteren Abschnitte der Adduction folgen und der
M. transversus vermag, obgleich er berufen ist, die Vereinigung gerade
des hinteren Theiles der Stimmbänder zu bewirken, diese Aufgabe
nicht mehr tadellos zu lösen und es bleibt dann eine dreieckige
Spalte offen.
Es wurde mir vorgehalten, dass bei dem von mir demonstrirten
Hunde die nach Paralyse der beiden Nn. laryngei sup. klaffende Stelle
der Stimmritze keine dreieckige Gestalt hatte. Das ist wohl möglich
und es wird vielleicht vorsichtiger sein, künftighin nur von einem
nach rückwärts zunehmenden Klaffen der Stimmritze zu sprechen. Es
darf aber nicht übersehen werden, dass das fragliche Dreieck auch
beim Menschen nicht immer in tadelloser geometrischer Form
erscheint.
Eine weitere Meinungsdifferenz bezieht sich auf den Grad der
Stimmstörung bei Cricothyreoideuslähmung. Ich bedaure lebhaft, dass
mir letzthin gerade jene Demonstration misslungen ist, welche berufen
gewesen wäre, die diesbezüglichen Anschauungen zu klären. Es war
aber nicht meine Schuld, dass der Hund weder vor, noch nach der
Durchschneidung der Nn. laryng. sup. zu bewegen war, einen Laut
von sich zu geben. Ich halte meine Behauptung aufrecht, dass die
fragliche Schädigung der Stimme eine hochgradige ist, dass das Thier
erst nach Verlauf einer gewissen Zeit bei heftigem Schmerz und
grosser Erregung gewisse heisere Laute mühsam hervorbringt, welche
aber so abnormal klingen, dass ich nur von Geräuschen, nicht aber
von tadellosen Tönen sprechen möchte. Bei gleicher Anstrengung
würde auch der aphonische Mensch ähnliche Stimmleistungen zu Wege
bringen. Mit Rücksicht auf diese rudimentäre Phonation erscheint es
mir vorsichtiger, um allen Wortklaubereien aus dem Wege zu gehen,
nicht von Aphonie, sondern nur von einer hochgradigen Stimm¬
störung als Folgezustand einer Lähmung des M. cricothyreoideus zu
sprechen.
Wenn ich mir das Bild der in Discussion stehenden Form von
Larynxhysterie in Erinnerung rufe, jenen Kehlkopfzustand, bei welchem
die Glottis in ihrem hinteren Abschnitte weit klafft, weiters eine hoch¬
gradige Stimmstörung bei vollständig erhaltener Beweglichkeit der
Stimmbänder besteht, nochmals in Erwägung ziehe, sehe ich trotz
der geäusserten Bedenken auch heute noch keine plausiblere und be¬
rechtigtere Aufklärung, als in der von mir aufgestellten Behauptung
gelegen ist, dass es sich in diesen Fällen um ein Versagen des
M. cricothyreoideus handelt.
Von Herrn Collegon Roth wurde mir vorgehalten, dass bei
meinem demonstrirten Thiere die Taschenbänder nach Lähmung der
Nn. laryngei sup. sich durchaus nicht so verhielten, wie in dem von
ihm vorgestellten Falle von Larynxhysterie. Die Richtigkeit dieser Be¬
hauptung muss ich unbedingt zugeben. Ich glaube aber, wenn es uns
gelungen ist, die charakteristischen Ilaupterscheinungen eines Krank¬
heitszustandes experimentell nachzuahmen, ist die Forderung, dass wir
auch alle im Krankheitsverlaufe sich etw'a entwickelnden Begleiter¬
scheinungen im Experimente zum Ausdrucke bringen, etwas zu weit
gehend. Nur nebenbei möchte ich bemerken, dass, nachdem im Ver¬
suche die Taschenbänder nicht bis zu gegenseitiger Berührung genähert
wrerden, die Stimmstörung hier nicht durch dieses mechanische Ilinder-
niss bedingt sein kann, v7ie es die Herren beim Menschen anzunehmen
geneigt sind.
Die Herren Roth und R e t h i bleiben nun bei ihrer bereits
ausgesprochenen Meinung, dass es sich bei der bewussten Form von
Larynxhysterie um einen hyper kinetischen oder krampf¬
ähnlichen Zustand jenes Theiles des Stimmbandmuskels handelt,
welcher den Taschenbändern angehört.
Unter Hyperkinese versteht man wohl allgemein Krampf des
Muskels, was ich mir aber unter einem „krampfähnlichem
Zustand e“ vorstellen soll, ist mir nicht recht klar. Auch erscheint
es mir von vornherein unwahrscheinlich, dass ein solcher hyperkineti¬
scher Zustand mit jeder Inspiration verschwindet, um mit jeder Exspiration
wieder aufzutauchen. Unsere Auffassung vom Krampf
schliesst eine solche rhythmische Muskelfunction
aus. Von klonischen Zuckungen kann ja hier keine Rede sein.
In der Eigenart des Krampfes liegt es weiter, dass er mit einer
gewissen Schnelligkeit auftritt und eine bestimmte Zeit andauert. Er
müsste sich also in unserem Falle in der Weise äussern, dass nach
jeder Inspiration ein Zusammenschnellen der Stimmbänder erfolgt, nicht
aber eine gemüthliche normale Adduction. Auch müsste der „krampfähn-
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liehe Verschluss der wahren oder falschen Stimmbänder auf der
Höhe der Exspiration dem Wiederöffnen der Glottis, wenigstens im
Beginne der Einathmung ein gewisses Hinderniss entgegensetzen. Solche
Unregelmässigkeiten sind aber weder in der einen, noch in der anderen
Phase zu beobachten; es wickelt sich Alles mit so augenfälliger
Leichtigkeit ab, dass wir an eine Ilypermotililät denken müssen.
Es ist bemerkenswert!), dass dieselben Herren, welche nicht be¬
greifen zu können erklärten, weshalb bei Lähmung des M. crico-
tbyreoideus der hintere Glottisabschnitt offen bleiben soll, gar nicht
das Bedürfniss empfunden haben, uns Aufschluss zu geben, warum
die Stimmritze bei dem supponirten Krampfe in einem Theile des
Stimmbandmuskels, wenn sonst nichts vorliegt, nicht zum Verschlüsse
kommt. Es erscheint aber auch unverständlich, dass bei dem angeb¬
lichen hyperkiuetischen Zustande eines bestimmten Muskelabschnittes
bei sonst normalen Verhältnissen eine totale Aphonie
einzig und allein durch die Annäheruug der Taschenbänder ent¬
stehen sollte.
Ich wage also die Behauptung, dass, selbst wenn meine Auf¬
fassung sich als unhaltbar erweisen sollte, die Annahme, dass es sich
in dem erörterten Krankheitsbilde um einen Krampf handelt, nie zur
Geltung kommen kann. Wir werden dann nur gezwungen sein, Hand
in Hand uns um ein Drittes umzusehen.
Meine Herren! Wenn wir uns auch nicht einigen konnten, glaube
ich doch, dass wir Alle mit dem Gange uud dem Ergebnisse unserer
Discussion zufrieden sein können. Zunächst haben wir die Streitfragen
auf dem Gebiete der Larynxinnervation auf ihre einfache Formel redu-
cirt. Nicht die complicirten klinischen Bilder, sondern die functioneile
Bedeutung einzelner Kehlkopfmuskeln müssen wir vorerst zu erörtern
und zu erledigen suchen.
Die Larvngologie wird in wenigen Jahren ihr fünfzigjähriges
Jubiläum feiern. Seit einem Jahrhundert — wenn wir die Ergebnisse
der früheren Epochen ganz ausser Acht lassen — bemühten sich die
hervorragendsten Physiologen Frankreichs, Deutschlands und Oester¬
reichs, die Physiologie des Kehlkopfes auszubauen, und nun sind wir
glücklich dort angelangt, dass wir uns nicht einmal über den M. crico-
thyreoideus zu einigen wissen.
So armselig auch dieses Ergebniss ist, wird es uns nicht ent-
muthigen, die begonnene Arbeit unverzagt fortzusetzen, die wir mit
vereinten Kräften hoffentlich auch endlich zum Abschlüsse bringen
werden.
Docent Dr. R e t h i berichtigt, dass er in der Discussion über
den oben erwähnten Fall, wie aus dem offieiellen Protokolle hervor¬
geht, sogleich betont hat, es sei nicht von einem wirklichen
Krampf, sondern von einer übermässigen Contraction des
M. thyreo arytaen. sup. die Rede gewesen, welche mit den Vor¬
gängen bei der Aphonia spastica in volle Analogie
zu setzen sei.
29. Congress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie.
18.— 21. April.
(Fortsetzung.)
Referent: Dr. Heinz Wohlgemuth (Berlin).
Zweiter Sitzungstag. Vormittagssitzung.
I. James Israel (Berlin) : Ueber Operationen bei
Nieren- und Uretersteinen. (Fortsetzung.)
Die Exstirpation hat bei primären Steinnieren und in verein-
zelnten Fällen eine Berechtigung; niemals darf sie bei aseptischen
Steinnieren von vorneherein in Aussicht genommen werden. Unter dem
Zwange eines unvorhergesehenen Unglücksfalles, Zerreissung der Art.
oder Vena renalis, welche durch die Naht nicht zu beherrschen wäre,
kann sie zur Nothwendigkeit werden. Aber auch bei den inficirten
primären Steinnieren sollte die Exstirpation in Anbetracht der häufigen
Doppelseitigkeit der Nierensteine in der Regel der Nephrostomie
weichen. Als secundäre Operation kann sie dagegen geboten sein. Dies
gilt vor Allem für die ganz ausnahmsweise der Nephrolithotomie fol¬
genden gefahrdrohenden Hämaturien, welche nicht durch eine Wieder¬
eröffnung der Niere mit nachfolgender Tamponade beherrscht werden
können, was z. B. bei ausgesprochener Hämophilie sich ereignen kann.
Er hat in einer solchen Lage die Exstirpation mit Erfolg ausgeführt.
Fehlt aber die Anomalie der Hämophilie, so führt ein profuser Blut¬
erguss in die Nierenhohlräume alsbald zu einer Spannung der Capsula
fibrosa, welche die Blutung durch ihren elastischen Gegendruck zum
Stehen bringt. Das ist der Grund, weshalb vor der Ablösung der
Capsula fibrosa auf das Eindringlichste zu warnen ist. Bei dem einzigen
Kranken, den er am Tage nach der Operation einer uncomplicirten
Nephrolithotomie an profuser Hämaturie verloren hat, war er ge¬
zwungen gewesen, durch die untrennbaren Verwachsungen der beiden
Hüllen die Niere völlig zu entkapseln. Daraus ergibt sich die Noth¬
wendigkeit, die unabsichtlich oder vorsätzlich abgelöste fibröse Kapsel
am Schlüsse der Operation wieder zu vereinigen, uud wenn es nicht
gelingt, auf den Nahtverschluss der Niere zu Gunsten einer sorgfältigen
Tamponade zu verzichten.
Der Nachweis der Uretersteine durch cystoskopische Ureter-
sondiruug ist unsicher, weil ein die Sonde festhaltendes Ilinderniss
nicht nothwendig ein Stein sein muss. Die Normaloperation soll stets
mit der Niere auch den angrenzenden Ureterabschnitt freilegen. Deutet
seine Ausdehnung durch Flüssigkeit oder die retrograde Sondirung
auf ein peripher gelegenes Abflusshinderniss, so verfolgt man ihn ab¬
wärts bis zur Stelle der Steineinklemmung. Ist der Stein zu mobili-
siren, so verschiebt man ihn aufwärts bis in das Nierenbecken und
entfernt ihn von dort durch Nephrolithotomie zugleich mit anderen
etwa in der Niere befindlichen. Ist er unverrückbar, so muss er durch
eine Längsincision des Ureters entfernt werden, die mit einer Lern-
b e r t’schen Naht geschlossen wird. Die Nierenwunde lässt man für
den Harnabfluss offen, um die ungestörte Heilung der Ureternaht zu
sichern. Ist die Naht des Ureters nicht möglich, so führt man einen
retrograden Verweilkatheter vom Nierenbecken in die Blase, dessen
Ende man aus der Harnröhre herausleiten kann. Eine auf die Uretero-
lithotomie beschränkte Operation ohne Freilegung, respective Eröffnung
der Niere kann überhaupt nur bei fühlbarem Stein im Kleinbeckentheil
des Ureters in Frage kommen. Man kann dann entweder von der
Vagina oder vom Bauche aus extraperitoneal Vorgehen, im letzteren
Falle durch einen parallel zum Lig. Poupartii verlaufenden Schnitt.
Doch lässt diese Operation etwaige Nierensteine unberücksichtigt, macht
die Naht in der engen trichterförmigen Wunde sehr schwierig und die
prima intentio derselben ist nicht gewährleistet, wenn nicht der Harn
durch eine gleichzeitige Nephrotomie abgeleitet wird. Bei eiterigem
oder ammoniakalischem Harn oder gar bei fieberhafter Pyelonephritis
würde die Unterlassung einer gleichzeitigen Nephrostomie ein grosser
Fehler sein.
Wenn bei calculöser Anurie das Nierenepithel noch nicht durch
zu lange Occlusion irreparabel geschädigt ist, so vermögen wir durch
breite Spaltung des Nierenparenchyms bis ins Becken die temporär
erloschene Leistungsfähigkeit des Organes wieder zu erwecken. Der
Indicatio vitalis ist genügt. Finden wir nun den Stein im Anfangstlieile
des Ureters, so werden wir ihn natürlich sofort entfernen, liegt er
aber in einem tiefen Abschnitte desselben, insbesondere im kleinen
Becken, so wird es von dem Kräftezustande des Patienten, von dem
Grade der bereits vorhandenen urämischen Erscheinungen, von der
Toleranz gegen die Narkose abkängen, ob wir die Entfernung des
Steines sogleich oder später vornehmen. Eine lange Narkose kann für
das Herz Urämischer leicht verhängnisvoll werden. Eine sofortige
Nahtvereinigung würde nach Entfernung des occludirenden Steines ein
grosser Fehler sein, weil die Druckentlastung doch Hauptsache ist.
Aus demselben Grunde ist es irrationell, bei einer länger als 48 Stunden
bestehenden Occlusion, bei der bereits starke renale Anschoppung und
Drucksteigerung erwartet werden muss, sich mit Umgehung der
Nephrotomie auf die Entfernung eines fühlbaren Uretersteines zu be¬
schränken, weil, abgesehen davon, dass oberhalb des fühlbaren Steines
der eigentlich occludirende liegen kann, die Vitalindication, die Druck¬
entlastung unberücksichtigt geblieben ist. Die grösste Schwierigkeit
liegt bisweilen darin, zu erkennen, welche Niere die zuletzt occludirte
ist, da nur an dieser eingegriffen werden soll. Die Anamnese der
letzten Kolik fehlt bei den seltenen Fällen von Anurie ohne Kolik
und in den häufigeren von urämischer Benommenheit. Aber auch durch
wichtige Angaben kann die Diagnose bisweilen irregeführt werden. Er
hat beobachtet, dass der letzte die Anurie einleitende Schmerzanfall
an der der frischen Occlusion entgegengesetzten Seite empfunden wurde.
Auch die objectiven Befunde sind nicht untrüglich. Die Schwellung
der abgesperrten Niere ist entweder nicht erheblich genug, um bei der
oft bestehenden Fettleibigkeit und meteoristisclien Auftreibung tastbar
zu sein, oder sie beweist nicht, dass sie die letztoccludirte ist. Bei der
häufigen Doppelseitigkeit des Steinleidens kann der gefüllte Tumor
eine alte Hydronephrose sein, die vor Zeiten durch Steinverschluss des
Ureters entstanden, functionell schon lange nicht mehr in Betracht
kam, bevor durch Verlegung der anderen Niere die Anurie erzeugt
wurde. Auch der vom Mastdarm oder der Vagina gefühlte Stein kann
der Seite angehören, auf welcher eine Ureterverstopfung mit consecu-
tiver Verödung der Niere seit Langem bestand. Brauchbar zur Er¬
kennung der letztoccludirten Niere ist die Beschränkung des Druck¬
schmerzes auf eine Seite, doch fehlt auch dieses Zeichen häufig. Da¬
gegen ist eine ausschliesslich auf der Seite der letzten Occlusion auf¬
tretende reflectorische Spannung der Bauchmusculatur geeignet, einen
Fingerzeig zu geben. Principiell ist die Operation mit der Freilegung
der verdächtigen Niere, nicht aber mit der eines etwa gefühlten Ureter-
steines zu beginnen. Denn nur so kann ein Fehlgriff sofort erkannt
werden, wenn wir ein destruirtes Organ oder eine reflectorisch unthätige
Niere ohne Ureterverschluss finden. Haben wir die falsche Seito ange
496
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 21
griffen und eine reflectorisch unthätige Niere gefunden, so dürfte bei
erst kurzem Bestände der Anurie und dem Fehlen jeder urämischen
Erscheinung, falls eine längere Narkose nothwendig, der Versuch ge¬
stattet sein, sich vorläufig mit der Incision dieser Seite zu begnügen.
Am nächsten Tage müssen wir jedenfalls die Seite der frischen Occlu¬
sion angreifen. Der Aufschub ist nicht gestattet, wenn bereits auch
nur leise Anzeichen beginnender Urämie vorhanden sind, oder die zu¬
erst freigelegte Niere sich im Zustande alter irreparabler organischer
Schädigung befindet.
Discussion: Czerny (Heidelberg) freut sich, dass Israel
die Indicationen zur Operation so klar und bestimmt zu ziehen im
Stande ist. Er ist von der Pyelotomie wegen der häufig zurückbleiben¬
den Fisteln wieder abgekommen und macht nur mehr die Nephrotomie.
Er hat zweimal Uretersteine am Ende des Ureters gesehen, einmal hat
er ihn herausbekommen, das zweite Mal musste er eine Klystotomie
machen. Er hält es für sehr schwierig, zu entscheiden, wann man bei
Anurie nicht operiren soll. In einem Falle hat er z. B. links incidirt,
einen Ureterstein entfernt und der Patient ist trotzdem an Urämie zu
Grunde gegangen. Bei der Section fand sich ein Stein im anderen
Ureter und viele kleine Steine im Nierenbecken.
Krönlein (Zürich) glaubt, dass die Radioskopie bei der Dia¬
gnose von Nieren- und Uretersteinen von grossem Werth ist. In einem
Falle ohne jeden Anhaltspunkt hat er die Laparotomie zur Inspection
gemacht und constatirt, dass die rechte Niere vollständig fehlt. Darauf
hat er den Bauch wieder geschlossen und ist nun extraperitoneal auf
die linke Niere losgegangen, konnte aber keinen Stein finden. Da er
sich damals auch scheute, zu incidiren, ist der Patient zu Grunde ge¬
gangen. Die Section förderte einen Stein zu Tage, 5 — 6 cm unterhalb
des Abganges des Ureters. Die Steine im unteren Ende des Ureters,
dort wo es die Ampulle hat, schlägt er vor, durch Cysto Ureterotomie
zu entfernen.
Kolaczek (Breslau) hat auch in einem Falle von Anurie einen
Stein aus dem Anfänge des Ureters entfernt und trotzdem ist der Exitus
eingetreten. Bei einem zweiten Falle von Abscessniere, complicirt mit
Extrauteringravidität, hat er die einzelnen Abscesschen gespalten. Später
wurde die Extrauteringravidität operirt.
Z o n d e c k (Berlin): Man soll die Nephrotomie V2 — 3/4 cm dorsal-
wärts vom Seetionsschnitt machen; da auch das Nierenbecken mit
seiner grössten Portion dorsalwärts liegt, kommt man mit diesem
Schnitt am besten auch dort hinein.
Alsberg (Altona) hat auch einen Ureterstein extrahirt.
Lauenstein (Hamburg) hat beobachtet, dass die Röntgen-
Photographie nicht nur Oxalatsteine, sondern auch Phosphat¬
steine erkennen lassen. In Ansnahmsfällen dürfe man wohl eine
primäre Exstirpation der SteiDniere machen, wie er es in einem Falle
nöthig hatte.
K ü m m e 1 1 (Hamburg) empfiehlt die retrograde Drainage durch
Ureter, Blase und Urethra. Er hat dann stets die Niere wieder ge¬
schlossen und gute Resultate erzielt. Natürlich ist dies Verfahren bei
eiterigen Processen nicht möglich. Quoad Röntgographie sind Oxalat-
und Uratsteine natürlich am besten zu sehen, aber auch Phosphat¬
steine. Die Deutlichkeit des Bildes ist natürlich sehr abhängig von
der Fettschicht des Patienten.
Israel (Berlin): Seine Erfahrungen über die Röntgographie in
Bezug auf die Diagnose der Steine sind ganz geringe, er hat meist
undeutliche Bilder bekommen. In Hamburg wird die Technik wohl
besser ausgebildet sein. Was nun das K r ö n 1 e i n’sche intraperitoneale
Verfahren anlangt, so glaubt er, dass durch die Abtastung recht wenig
zu erreichen ist, wenn die Steine nicht sehr gross sind. Auch bei
Solitärniere hat er zweimal operirt, ja er glaubt sogar, dass man gerade
hier incidiren muss, weil die Herabsetzung des intrarenalen Druckes
in den meisten Fällen doch eine Indicatio vitalis ist. Die Spaltung des
Beckens bei Abscessniere hält er für nutzlos.
II. K ü m m e 1 1 (Hamburg) : Die Feststellung der
Functionsfähigkeit der Nieren vor operativen Ein¬
griffen.
Den Ureterenkatheterismus hält Kümmell heute für das
souveräne Mittel zur Feststellung der Functionsfähigkeit der Nieren.
Doch gibt es Fälle, wo diese Feststellung ausserordentlich schwierig
oder gar nicht möglich ist, z. B. bei der Tuberculose der Harnorgane.
Liefern beide Seiten einen nicht intacten Harn, so ist man immer noch
im Zweifel, wo man angreifen soll. Soll man z. B. bei linksseitiger
Tuberculose und rechtsseitigem trüben Urin, wie er einen Fall beob¬
achtet hat, die Exstirpation wagen? in diesem Falle hat er die Exstir¬
pation gemacht, der andere Urin blieb lange Zeit trübe, wurde aber
schliesslich wieder klar und gesund. In einem zweiten Falle ging er
ähnlich vor. Er will aber nur betonen, dass der Harnleiterkatheteris¬
mus nicht immer zuverlässig ist. Die Gefahren derselben schätzt er
gering. Er hat noch nie eine Infection gesehen. Albarran hat in
mehr als 1000 Fällen keine Infection gehabt, doch kann sie natürlich
Vorkommen. Einen anderen Weg zur Feststellung der Functionsfähig¬
keit der Niere bemüht sich die interne Medicin auf physikalischem
Wege zu finden, nämlich durch Bestimmung der Ilarnstoffmenge und
des Gefrierpunktes des Blutes und des Urins und zwar einmal des
Urins beider Nieren, und des jeder einzelnen. Die Bestimmung des
Harnstoffes ist einfach, doch am wenigsten sicher. Man nimmt an,
dass das Heruntergehen desselben von 20 g auf 16# in 24 Stunden
einen schweren operativen Eingriff mit Entfernung einer Niere nicht
rathsam erscheinen lässt. Viel genauere Resultate gibt die Bestimmung
des Gefrierpunktes der körperlichen Flüssigkeiten, wie sie van
t’H off, K o r 4 n y i, Senator u. A. schon gemacht haben. Blut hat
bekanntlich einen Gefrierpunkt unter dem des destillirten Wassers,
sobald aber die Nierenfunction im Verhältniss zum Stoffwechsel unzu¬
reichend wirkt, sinkt der Gefrierpunkt. Bei Entfernung einer Niere
sinkt er anfangs ebenfalls in Folge der der anderen Niere aufge¬
bürdeten Doppelleistung, wird aber bald wieder ausgeglichen. Redner
macht die Wahrscheinlichkeit dieser Angaben an einer aufgestellten
Tabelle klar. Ein Gefrierpunkt von 0'9° unterhalb des Urins deutet
auf eine Insufficienz der Niere hin, auf ein Uebergreifen des Krank-
heitsprocesses auf die Substanz. Dies scheint wichtig, da wir nach dem
Vorgehen von Israel im Begriffe stehen, auch eine Auswahl von
internen Erkrankungen der Niere in den Bereich unseres chirurgischen
Handelns zu ziehen.
(Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag, den 25. Mai 1900, 7 Uhr Abends,
unter dem Vorsitze des Herrn Prof. Csokor
stattflnder dsD
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Dr. Emil Kraus: Ueber die Verbreitung der Gonococcen im
Gewebe des gonorrhoisch erkrankten Uterus und seiner Adnexe. Vorläufige
Mittheilung.)
2. Hofrath S. Exner: Demonstration eines Mikrophons zur acustischen
Beobachtung der Schallschwingungen am menschlichen Gehörorgan.
3. Prof. Englisch: Zur Hypertrophie der Prostata.
Vorträge haben angemeldet die Herren: Prof. Weinlechner, Fein
und Wertheim.
Bergmeister, Paltauf.
Oesterreichische otologische Gesellschaft.
Programm
für die
Montag, den 28. Mai 1900, 6 Uhr Abends,
im Hörsaale der k. k. Universitäts-Ohrenklinik
stattfindende
Wissenschaftliche »Sitzung :
1. Vortrag des Herrn Dr. G. Alexander : Ueber eine seltene Miss¬
bildung der Ohrmuschel.
2. Demonstrationen. [Angemeldet die Herren : Prof. Politzer,
Doctoren Alt, Hammerschlag, Alexander (ein Modell des Trommelfelles
zu Unterrichtszwecken], Dr. Frey.)
Prof. Dr. A. Politzer, Dr. Josef Poliak, Dr. Hugo Frey,
Vorsitzender. Seeretär. Schriftführer.
Oesterreichische Gesellschaft für Gesundheitspflege,
I. Börsegasse 1.
Mittwoch den 30. Mai 1900. 7 Uhr Abends,
V oll versammln ng
im Hörsaale des k. k. hygienischen Universitäts-Institutes, IX., Schwarz¬
spanierstrasse 17.
Tagesordnung:
1. Mittheilungen des Vorsitzenden und Vereinsangelegenheiten.
2. Demonstration eines neuen Apparates zur Bestimmung der
Mauerfeuchtigkeit durch Herrn k. k. Bezirksarzt Cr. G. M a r k 1.
3. Demonstration von Thermophor-Apparaten durch Herrn Ingenieur
Otto Jeserich.
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, O. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner,
M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann,
R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, G. Toldt, A. v. Vogl,
J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gussenbauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redaction:
Telephon Nr. 3373. Redisrirt von Dr. Alexander Fraenkel.
o
Dio „Wiener klinische
Wochenschrift“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von minde¬
stens zwei Bogen Gross¬
quart.
Zuschriften für die Redac¬
tion sind zu richten an
Dr. Alexander Fraenkel,
1X3, Maximilianplatz,
Günthergasse 1. Bestellun¬
gen und Geldsendungen an
die Verlagshandlung.
Abonnementspreis
jährlich 20 K = 20 Mark.
Abonnements- und Inser-
tions-Anfträge für das In-
nnd Ansland werden von
allen Buchhandlungen und
Postämtern, sowie auch von
der Verlagshandlnng über¬
nommen. — Abonnements,
deren Abbestellung nicht
erfolgt ist, gelten als er¬
neuert. — Inserate werden
mit 60 h — 50 Pf. pro
zweigespaltene Nonpareille¬
zeile berechnet. Grössere
Aufträge nach Ueberein-
kommen.
Verlagshandlnng :
Telephon Nr. 60'J4.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VII 1/1, Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang.
Wien, 31. Mai 1900
Nr. 22.
inSTHALT:
I. Originalartikel : 1. Aus der I. medicinischan Klinik in Wien (Hofrath
Nothnagel). Zur Kenntniss der agglutinirenden Fähigkeiten
des menschlichen Blutserums. Von Dr. Julius Donath,
Assistent an der I. medicinischen Klinik.
2. Aus der III. chirurgischen Abtheilung des k. k. Allgemeinen
Krankenhauses in Wien. Beitrag zur Casuistik der Choledocho-
tomie und Cholecystenteroanastomose. Von Dr. Fritz P e n d 1,
Assistent und zeitweiliger Leiter der Abtheilung.
(Alle Rechte Vorbehalten.)
3. Notiz über die Marieubader Rudolfs-Quelle. Von Dr. Al. Grimm
(Marienbad).
II. Referate: Coxa vara. Sammelreferat von Dr. Sigmund E r d h e i m
(Wien).
III. Therapeutische Notizen.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften nnd Congressberichte.
Aus der I. medicinischen Klinik in Wien (Hofrath Noth¬
nagel).
Zur Kenntniss der aggiutinirenden Fähigkeiten
des menschlichen Blutserums.
Vou Dr. Julius Donath, Assistent an der I. medicinischen Klinik.
Ehrlich und Morgenroth haben in j üngster Zeit
über Versuche berichtet, in welchen experimentell durch Injec¬
tion von Blut einer Thierspecies im Blutserum anderer Indivi¬
duen derselben Species hämolytische Stoffe erzeugt
wurden. Sie erhielten dabei unter Anderem folgende bemerkens-
werthe Ergebnisse: Das Serum eines mit Ziegen blut in ent¬
sprechender Weise vorbehandelten Ziegenbockes zeigte schon
nach wenigen Tagen ein deutliches L’ösungsvermögen für
Ziegenblut; es erwies sich gegenüber der Mehrzahl von neun
Ziegen, die geprüft wurden, stark wirksam, gegenüber einigen
schwächer wirksam und gegenüber dem Blute einer Ziege war
es ganz unwirksam. Den eigenen Blutkörperchen gegenüber
war das Serum vollkommen unwirksam. Bei einer zweiten
ebenso behandelten Ziege trat erst in einem späteren Zeit¬
punkte ein Hämolysin im Serum auf, welches sich aber von
dem des ersten Thieres wesentlich unterschied: es zeigte sich,
dass das Blut einzelner Thiere, das gegen das erste Hämolysin
sehr empfindlich war, dem zweiten Hämolysin gegenüber sehr
wenig empfindlich war, und umgekehrt. Wieder andere Ver¬
hältnisse zeigten sich bei einem dritten ebenso gewonnenen
Hämolysin.
Diese Ergebnisse sind in vollkommener Ueberein-
stimmung mit den Erfahrungen, die bei Injectionen von Blut
einer vom Versuchsthiere verschiedenen Species schon
länger bekannt sind und von Bordet, Landsteiner,
v. Düngern und Ehrlich und Morgenroth selbst ge¬
nauer studirt wurden. Während es sich aber dort um
Heterolysine handelt, haben wir es bei den jüngsten Ver-
') P. Ehrlich und J. Morgenroth, Uober Hämolysine. Ber¬
liner klinische Wochenschrift. 1900, Nr. 21.
suchen von Ehrlich und M orgenroth mit. Isolysinen
zu thun. Auf die weiteren, theoretisch besonders interessanten
Ausführungen der Arbeit soll hier nicht näher eingegangen
werden.
Diese Mittheilung gibt mir Veranlassung, im Folgenden
kurz über gewisse Erscheinungen zu berichten, die ich im
Verlaufe von Untersuchungen über die Blutkörperchen-
agglutinirenden Eigenschaften menschlichen Blut¬
serums beobachten konnte.
Dass menschliches Blutserum nicht nur auf thierische,
sondern auch auf menschliche, von anderen Individuen stam¬
mende Blutkörperchen agglutinirend wirkt, wurde in
letzter Zeit schon von Landsteiner -) hervorgehoben; be¬
sonders ausgeprägt fand er dieses Verhalten bei Blut, welches
von Schwerkranken herrührte, aber auch öfters bei gesunden
Individuen.
Meine Untersuchungen betreffen vorläufig anämische
Zustände, und zwar Chlorosen (28), verschiedenartige und
verschieden schwere secundäre Anämien (20), eine Leukämie,
eine pernieiöse Anämie. Die Prüfung wurde in der Weise vor¬
genommen, dass das Blut einer gesunden Person mit 0'85%
NaCi Lösung verdünnt(gewöhnlich im Verhältnisse 0‘5 — 0'8: 100
im Melangeur für rothe Blutkörperchen) und in einem Uhr¬
gläschen mit gemessenen Mengen (gewöhnlich im Verhältnis«
1 : 1 oder 1 : 2) des zu prüfenden menschlichen Blutserum ver¬
mengt wurde; von der Mischung wurde dann ein hängender
Tropfen im hohlen Objectträger in verschiedenen Zeitinter¬
vallen untersucht.
Das Serum aller Fälle wurde bezüglich seiner aggiuti¬
nirenden Fähigkeit auf mein eigenes Blut (Blut Ä) geprüft;
das Serum einer Anzahl dieser Kranken wurde noch bezüg¬
lich seiner Wirkung auf das Blut anderer gesunder Personen
(Blut B, C, D etc.) untersucht.
") K. Landsteiner, Zur Kenntniss der antifermentativen, lytischen
und aggiutinirenden Wirklingen des Blutserums und der Lymphe. Central-
blatt für Bacteriologie etc. 1900, Bd. NX VII.
498
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr 22
Die Untersuchungen wurden in den meisten Fällen
mehrmals und zu verschiedenen Beobachtungszeiten vorge¬
nommen; auf weitere Einzelheiten kann an dieser Stelle nicht
eingegangen werden.
Es ergab sich, dass die überwiegende Mehrzahl der
Chlorosen auf Blut A stärker (18) oder schwächer (3)
agglutinirend wirkte, während eine zweite, kleinere Reihe (7)
keine agglutinirende Wirkung auf Blut A zeigte.
Bei den secundären Anämien zeigte sich nur
siebenmal agglutinirende Wirkung auf BlutA; in den übrigen
Fällen fehlte dieselbe.
Eine Leukämie agglutinirte Blut A sehr stark.
Eine perniciöse Anämie hatte keine agglutinirende
Wirkung.
Dass diese Verhältnisse nicht blos einfach von der Art
und Schwere der untersuchten Anämie abhängen, sondern viel
complicirter und derzeit noch unaufgeklärt sind, zeigte mir eine
blosse Betrachtung der Fälle.
Die Variabilität der Erscheinungen geht aber noch
weiter: Es fand sich mehrmals ein Anämieserum, welches
B 1 u t A deutlich und rasch agglutinirte, sich aber für das Blut
eines anderen gesunden Individuums (Blut B ), das von
mehreren Seris Anämischer in der gleichen Weise beeinflusst
wurde wie Blut A, unwirksam erwies, ein anderes Serum
agglutinirte B 1 u t A und B 1 u t B nicht, wohl aber Blut 0.
Da mir nur Blut A beliebig oft zur Verfügung stand, konnte
ich nicht alle Versuche mit verschiedenen Blutsorten aus¬
führen; weitere Combinationen hätten sich sonst ergeben.
Die Blut A agglutinirenden Blutsorten von Kranken
wurden mehrmals auch unter einander auf Agglutinations¬
vermögen geprüft, ohne dass es gelang, bei dieser Combination
Agglutination zu erzeugen.
Das Blut gesunder Individuen wirkte in der Regel
nicht agglutinirend; bei zwölf gesunden Individuen, deren Blut
unter einander in verschiedenen Combinationen auf Agglutina¬
tion geprüft wurde, konnte nur viermal eine, wenn auch ge¬
wöhnlich schwache, Agglutination festgestellt werden.
Eine genauere Kenntniss der Bedingungen, unter welchen
die Blutkörperchen-agglutinirenden Stoffe, die im Sinne Ehr¬
lich’s als Isoagglutinine zu bezeichnen wären, im Blute auf-
treten, werden vielleicht weitere Untersuchungen erbringen
können.
Aus der III. chirurgischen Abtheilung des k. k. Allge¬
meinen Krankenhauses in Wien.
Beitrag zur Casuistik der Choledochotomie und
Cholecystenteroanastomose.
Von Dr. Fritz Pendl, Assistent und zeitweiliger Leiter der Abtheilung.
Es sei mir gestattet, im Folgenden zwei Fälle von Ver¬
schluss des Ductus choledochus zur allgemeinen Kenntniss zu
bringen ; der erste, anfangs durch Steineinklemmung bedingt,
führte nach anscheinend glücklich verlaufener Choledochotomie
zum narbigen Verschlüsse des Ductus choledochus, erst durch
die secundär angeschlossene Cholecystenteroanastomose wurde
die Kranke dauernd geheilt.
Der Fall beansprucht allgemeines Interesse, da der nar¬
bige Verschluss des Ductus choledochus, der sich nach Extraction
des obturirenden Steines einstellte und zur zweiten Operation
Veranlassung gab, gewiss keine häufige Erscheinung ist.
Im zweiten Falle war die Ursache des Verschlusses ein
Carcinom des Pankreaskopfes.
Die Krankengeschichte des ersten Falles ist die folgende:
Marie W., 29 Jahre alt, wurde am 15. Mai 1899 an die
Klinik des Hofrathes Neusser aufgenommen.
Anamnese: Eltern der Patientin sowie zwei Geschwister
sind gesund. Kinderkrankheiten will Patientin keine überstanden
haben.
Geboren hat Patientin viermal, drei Kinder starben bald nach
der Geburt an Gedärmkatarrh, eines ist am Leben und gesund.
Seit November 1896 häufig Herzklopfen und Kurzat Innigkeit, Ende
1896 überstand Patientin einen Gelenksrheumalismus, seither Herz¬
klopfen häufiger.
Ihre gegenwärtige Erkrankung begann vor sieben Wochen;
Patientin, die schon früher seit ungefähr vier Jahren an zeitweisen
Magenkrämpfen, Aufstossen und Erbrechen litt, erkrankte am
28. März 1. J. unter sehr heftigen krampfartigen Schmerzen in der
Magengrube, welche unter den rechten Rippenbogen und gegen die
rechte Schulter ausstrahlten.
Die Schmerzen begannen beiläufig eine halbe Stunde nach dem
Mittagessen und dauerten bis gegen Mitternacht in unveränderter
Stärke an. Gegen Abend stellte sich Schüttelfrost und Fieber ein.
Patientin erinnert sich nicht, sich den Magen vorher mit etwas
verdorben zu haben, da sie schon einige Tage vorher an Appetit¬
losigkeit litt und in Folge dessen nur Milch und Suppe zu
sich nahm.
Am anderen Morgen bemerkte Patientin eine Gelbfärbung in
den Augen und im Gesichte, welche nach zwei Tagen auf die
Haut des ganzen Körpers sich erstreckte. Die Farbe des Stuhles
wurde weisslichgrau, der Harn dunkelbraun.
Dieser Zustand dauerte durch vier Wochen hindurch an; die
Schmerzen kamen täglich, und zwar manchmal gleich nach dem
Frühstück, einige Male um 11 Uhr Vormittags, meistens aber bald
nach dem Mittagessen.
Regelmässig zwischen 5 und 6 Uhr Abends wurde Patientin
von Schüttelfrösten befallen.
Drei- bis viermal während der Erkrankung erbrach Patientin
eine grünliche, bitter schmeckende Flüssigkeit, ohne hierauf Er¬
leichterung zu verspüren. Patientin trank Karlsbader Mühlbrunnen
und nahm Pulver, worauf die Beschwerden nachliessen. Seit drei
Wochen fühlt sich die Patientin wesentlich besser, die Schmerzen
stellten sich nicht mehr ein (Druckempfindlichkeit in der Magen¬
grube blieb bestehen), das Fieber blieb aus. Der Appetit besserte
sich, nur die Gelbfärbung blieb bestehen. Dazu gesellte sich leb¬
haftes Hautjucken, und seit den letzten acht Tagen Ohrensausen
und Abnahme des Hörvermögens. Gelbsehen beobachtete Pa¬
tientin nie.
Der Stuhl blieb andauernd weisslichgrau, der Harn dunkel
gefärbt. Lues wird negirt.
Status praesens vom 16. Mai: Patientin mittelgross,
von gracilem Knochenbau, schlaffer Musculatur und geringem Pan-
niculus adiposus. Haut des ganzen Körpers ikterisch, zahlreiche
Blutpünktchen in Streifen angeordnet (Kratzeffecte) aufweisend,
elastisch, feucht. Conjunctiven intensiv gelb gefärbt; die Augen im
Uebrigen normal.
An Mund, Rachen, Hals keine wesentlichen Veränderungen.
Lungenbefund normal, an der Herzspitze ein systolisches
Geräusch, zweiter Ton an der Pulmonalis laut accentuirt.
An der Haut des Abdomens Schwangerschaftsnarben.
Leber: Percussion ergibt Beginn der Dämpfung an der sechsten
Rippe in der Parasternallinie, nach abwärts vier Querfinger unter
der Spitze des Processus xiphoideus, dann in der Parasternallinie
lappenförmig vorspringend circa drei Querfinger unter dem Rippen¬
bogen, in der Seite unter dem Rippenbogen verschwindend.
Consistenz nicht erhöht, Gallenblase nicht zu tasten. Milz
nicht vergrössert. Keine Oedeme.
Im Harne: Nucleoalbumin in Spuren, Gallenfarbstoff -)-,
Urobilin -|-, — ; Therapie: Karlsbader Mühlbrunnen.
18. Mai. Im Status keine wesentliche Aenderung zu bemerken.
Ikterus anhaltend. Bei radiographischer Untersuchung
wurden Gallensteine gefunden.
Von 18. bis 27. Mai änderte sich nichts Wesentliches im
Zustande der Patientin.
Am 27. Mai um 11 Uhr Vormittags stellten sich intensive
drückende Schmerzen in der Magengrube ein, die unter den rechten
Rippenbogen ausstrahlen.
Dieselben dauern bis '/27 Uhr Abends an, zu welcher Zeit
eine Morphininjection gemacht wird. Hierauf Erbrechen — Er¬
leichterung.
Temperatur 4 Uhr p. m. 36‘6
6 Uhr » » 38-0
[ 8 Uhr » » 378.
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
499
28. Mai. Morgentemperatur 37, Puls 60, Harn intensiver
gefärbt, sonst Wohlbefinden. ,/212 Uhr Mittags neuerdings Schmerzen
bis Abends andauernd — wie gestern.
29. Mai. Ikterus hat zugenommen, 4 Uhr Nachmittags
Anfall, Dauer fünf Stunden.
1. Juni. Von 9 Uhr Vormittags bis 7 Uhr Abends ein
Anfall, von 4 — 6 Uhr Nachmittags geringe Temperatursteigerung.
2. Juni. Patientin bekam um 2 Uhr Nachmittags einen
Anfall mit Schmerzen im rechten Hypochondrium. Temperatur S8'2.
Dauer bis 7 Uhr Abends; zwei Stühle, in denselben keine Con-
cremente auffindbar.
3. Juni. Von 2 — 8 Uhr Abends Anfall, höchste Tem¬
peratur 39'2, Ikterus bedeutend zugenommen.
7. Juni. Seit 3. Juni kein Anfall. Ikterus und übriger Zu¬
stand im Gleichen.
Am 8. Juni wurde die Patientin von der Klinik N e u s s e r
behufs Operation auf die III. chirurgische Abtheilung transferirt.
Am 13. Juni Vormittags nahm ich die Operation vor. Chloro¬
form- Aether-Alkoholnarkose. Schnitt am äusseren Rande des
rechten Musculus rectus, am Rippenbogen beginnend und 10 cw
nach abwärts verlaufend. Nach Eröffnung der Bauchhöhle stellt
sich sofort die ganseigrosse, prall gespannte, überall freie Gallen¬
blase ein.
In der Gallenblase lassen sich Steine tasten, sie wird sowohl
aus diesem Grunde als auch wegen der durch Fieber und Anfälle
manifest gewordenen Infection des Gallentractes eröftnet; es ent¬
leeren sich aus ihr mit dickflüssiger Galle fünf etwa bohnengrosse
Steine. Hierauf wird die Leber sammt der Gallenblase von einem
Assistenten nach aufwärts unter den Rippenbogen gedrängt und
nun mit dem Zeigefinger der linken Hand in das Foramen Wins-
lowii eingegangen. Es zeigte sich nun, dass der gewählte Längs¬
schnitt eine zu geringe Zugänglichkeit gewährt, und er wird des¬
halb durch einen den Musculus rectus durchtrennenden, vom un¬
teren Wundwinkel quer nach innen verlaufenden, 5 cm langen
Schnitt ergänzt.
Hierauf wird der fingerdicke Ductus choledochus aufgeladen;
in demselben lassen sich viele rosenkranzförmig angeordnete, gegen
einander etwas bewegliche Steinchen tasten; etwa 1cm über der
Einmündung des Duodenums befindet sich ein Stein, der eingekeilt
zu sein scheint.
Ueber demselben wird ein etwa 1 ‘/2 cm langer Längsschnitt
im Ductus choledochus angelegt, aus welchem reichlich Galle
strömt; der scheinbar eingekeilte Stein lässt sich leicht lösen,
und es ergibt sich bei weiterer Untersuchung, dass unmittelbar
hinter der V a t e r’schen Papille ein Stein in doppelter Bohnen¬
grösse fest eingekeilt liegt; derselbe lässt sich nach oben drängen
und aus der Choledochuswunde entwickeln; während dieser Mani¬
pulationen strömt aus der durch die Umgebung durch Gazestreifen
gesicherten Choledochusöffnung reichlich Galle; dieselbe schwemmt
erbsen- bis bohnengrosse Steinchen in grosser Zahl heraus, so dass
schliesslich, nach Herabholung zweier Steine aus dem Ductus hepa-
ticus, 22 Steine aus der Oeffnung des Ductus choledochus entfernt
worden waren. Es wird nun versucht, mit einer breiten Hohlsonde
durch den Ductus choledochus in das Duodenum einzudringen,
was anstandslos und ohne Berührung eines Concrementes gelingt.
Hierauf wird der Ductus choledochus durch einen Nelaton-Katheter,
der bei seinem Austritte aus der Choledochuswunde durch eine
Seidennaht fixirt wird, nach aussen vor die Bauchwunde drainirt,
die Wunde im Ductus choledochus dem Katheter entsprechend
verkleinert; die Umgebung der drainirten Oeffnung wird durch
einen umgelegten Jodoformgazestreifen geschützt. Hierauf wird die
Gallenblasenöffnung in das Peritoneum parietale eingenäht und die
Gallenblase ebenfalls nach aussen drainirt. Schluss der Bauchwunde
bis auf einen für die beiden Drainrohre freigelassenen, kleinen
Raum.
Sowohl aus dem in die Gallenblase als aus dem in den
Ductus choledochus eingelegten Drainrohr entleert sich Galle in
ziemlich reichlicher Menge — mehr jedoch aus der Gallenblasen¬
öffnung. Die Galle ist im Allgemeinen klar, hochgelb, mit einzelnen
krümeligen Trübungen. Die beiden Drains werden verlängert und in
ein zur Seite des Bettes stehendes Glasgefäss geleitet.
14. Juni. Geringes Erbrechen, die Patientin fühlt sich ziemlich
wohl, reichliche Gallenentleerung, Temperatur normal.
Am 15. Juni. Stuhlabgang mit leicht choli scher Färbung.
16. Juni. Andauerndes Wohlbefinden.
19. Juni. Der Katheter aus dem Ductus choledochus wird
entfernt, die Tampons werden aus der Wunde gezogen; die Drai¬
nage der Gallenblase bleibt erhalten, gegen den Ductus choledochus
wird ein kurzes Drainrohr eingelegt.
23. Juni. Die Gallenblasenfistel secernirt reichlich.
Am 21. und 22. Juni fanden Entleerungen gallig gefärbter
Fäces statt. Ikterus bedeutend geschwunden. Esslust.
I. Juli 1899. Die Patientin verlässt das Bett. Gallenblasen¬
fistel secernirt reichlich, die Bauchwunde im Uebrigen geschlossen.
Gelbfärbung der Stühle sehr wechselnd.
15. Juli. Patientin hat sich sehr erholt, ist nicht mehr
ikterisch; aus der Fistel entleert sich sehr viel Galle; seit etwa
zehn Tagen die Stühle vollständig acholisch.
Die Patientin bleibt bei andauerndem Wohlbefinden in weiterer
Beobachtung.
20. August. Es wird die Gallenblasenfistel mechanisch ver¬
schlossen, um durch Hebung des Secretionsdruckes den anscheinend
neuerdings verstopften Ductus choledochus durchgängig zu machen.
Es gelingt dies ebensowenig, als durch unter mässigem Drucke
vorgenommene Einspritzungen von aseptischer, physiologischer
Kochsalzlösung.
Es wird der Patientin in Folge dessen gerathen, sich, da ein
Steinrecidiv vermuthet wird, neuerdings einer Operation zu unter¬
ziehen; die Patientin, die indessen an Körpergewicht wesentlich zu¬
genommen hat und blühend aussieht, willigt erst nach längerer
Zeit ein und wird am
10. October 1899 neuerdings operirt. Operateur: Dr. Pen dl.
Chloroform-Aether- Alkoholnarkose. Schnitt in der sagittalen Narbe;
Ablösung der Gallenblasenfistel von der vorderen Bauchwand; nach
Lösung der Adhäsionen wird auf den Ductus choledochus einge¬
gangen, in demselben kein Stein, sondern das untere Ende des
Ductus als derber Strang gefühlt. Da also eine Wegsamkeit des
Ductus choledochus nicht mehr herzustellen ist, wird beschlossen,
die Gallenblase in das Duodenum einzunähen, ln Folge der Ver¬
kleinerung der Leber und Fixation des Duodenums ist es nicht
möglich, eine andere Stelle der Gallenblase, als die früher an der
Haut adhärente Fistel an das Duodenum heranzuziehen. Diese
Oeffnung wird nun durch Umschneidung angefrischt und nun mit
doppelreihiger Naht in einen queren Schlitz des Duodenums ein¬
genäht; Blutung gering. Da die Serosa der Gallenblase wegen breiter
Anheftung an die vordere Bauchwand in weiter Ausdehnung binde¬
gewebig verdickt erscheint und ihr in Folge dessen nicht die nor¬
male Verklebungsfähigkeit zugesprochen wird, so wird die ganze
Nahtlinie durch eingelegte Gazestreifen gesichert. Bauchnaht.
II. October. Puls 84, Temperatur normal, mehrmals Er¬
brechen von mit frischem Blut gemischtem Mageninhalt.
13. October. Abgang schwarzer Stühle. Subjectives Wohl¬
befinden.
15. October. Entfernung der Gazestreifen. Nach der Entfernung
der Streifen fliesst etwas Galle aus der Wunde.
20. October. Stühle gelb gefärbt; zeitweise etwas Gallenabfluss
aus der Wunde.
25. October. Der Gallenabfluss aus der Wunde hat aulgehört,
die Wunde granulirt gut.
6. November wird die Patientin mit subjectivem Wohlbefinden,
vollkommen geschlossener Wunde und geregelter Verdauung
entlassen.
Der Fall verlangt nach verschiedenen Richtungen nähere
Erörterung Die Indication zur Operation an und für sich war wohl
zweifellos gegeben. Sämmtliche Autoren, welche sich mit diesem
Gegenstände beschäftigen, seien es Internisten oder Chirurgen,
und schränken sie die Operation bei Cholelithiasis noch so sehr
ein, sind darüber einig, dass bei chronischem Choledochusver-
schluss durch Stein die Operation zu empfehlen sei (Riedel,
P o p p e r t, Langenbuch, Kehr, Naunyn, Loebker,
Fergusson, Petersen, Quenn). Von Seite der Inter¬
nisten (Naunyn) wird allerdings empfohlen, eine Karlsbader
Cur durchmachen zu lassen, und erst nach ihrer erfolgten Be¬
endigung zur Operation zu schreiten. Ein Unterschied in den
Auffassungen der Chirurgen besteht nur darin, ob der Ductus
500
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 22
choledochus eröffnet werden soll, oder die Steine aus demselben
in die Gallenblase zurückgeschoben werden und aus letzterer
entfernt werden sollen. Die Mehrzahl der Autoren redet der
Eröffnung des Ductus choledochus das Wort; Rose befür¬
wortet auf Grund zweier Fälle, in denen es ihm gelungen war,
den Choledochusstein nach der Gallenblase zurückzudrücken
und ihn durch Cholecystotomie zu entfernen, diesen Vorgang
als den einfacheren und minder gefährlichen gegenüber der
Choledochotomie.
Was die Technik der Choledochotomie anlangt, so wurde
im Allgemeinen den von Kehr und Langen buch aufge¬
stellten, von Baudouin, Quenn, Le jars, Paul ides etc.
angenommenen Regeln gefolgt, welche nach einem Längs¬
schnitte in den Ductus choledochus und Extraction des Steines
die Wunde des Ductus choledochus drainiren und nicht nähen.
Andere Autoren, wie Riedel, Kocher, Israel, Michaux,
F enger, befürworten die Naht, während Quenn sich in
Folge schlechter Erfahrungen bei der Naht des Ductus chole¬
dochus sehr lebhaft dagegen ausspricht; er hat in drei Fällen,
in denen er die Choledochuswunde durch Naht verschloss, ein¬
mal Exitus eintreten sehen wegen Verschluss der Gallenwege
durch Blut, zweimal musste er wegen Obstruction des Chole¬
dochus die Wunde wieder öffnen und erzielte noch Heilung.
In einer Discussion über einen Vortrag Lejars’, der die Naht
ebenfalls verwirft, berechnet Quenn die Mortalität der Chole¬
dochotomie bei Naht des Choledochus mit 35‘5%, bei Drainage
desselben mit 18T%> Zahlen, die, wenn sie auch vielleicht
nicht in ihrer ganzen Schärfe allgemein giltig sind, doch sehr
zu Gunsten der Drainage sprechen.
Ausser der Choledochotomie auf dem sogenannten hepati¬
schen Wege (Langenbuch), das ist durch Aufsuchung des
Ductus choledochus von der Leber her, durch Verfolgung des
Ductus cysticus, wäre in unserem Falle gewiss auch der in
neuerer Zeit von Langen buch so sehr empfohlene soge¬
nannte pylorische Weg offen gestanden. Die Präparation des
Ductus choledochus gelang jedoch verhältnissmässig leicht und
derselbe war so sehr von Steinen erfüllt, dass wir den directen
Weg wählen zu müssen glaubten. Ausserdem glaubt z. B.
Naunyn, dass das Offenbleiben der Vater’schen Papille
schon bei dem natürlichen Abgänge der Steine leicht zu einer
Infection des Gallengangsystemes führt; diese Gefahr dürfte
nach Extraction des Steines vom Duodenum aus und den
nothgedrungen dabei gesetzten Verletzungen noch erheblich
grösser sein.
Was den weiteren Verlauf des Falles betrifft, so ist zu
erörtern, worauf der Wiederverschluss des Ductus choledochus
zurückzuführen ist. Die Annahme, dass es sich um ein Stein-
recidiv gehandelt habe, lässt sich mit dem Hinweise auf die
gründliche Ausräumung der Gallensteine bei der Operation
nicht ohne Weiteres widerlegen; es muss jedoch auffallend er¬
scheinen, dass weder aus der drainirten Gallenblase, noch aus
dem Ductus choledochus sich ein Stein nach aussen entleert
hat; der Befund bei der zweiten Operation hat aber unwider¬
leglich dargethan, dass es sich um einen narbigen Verschluss
des Ductus choledochus gehandelt hat; der Ductus choledochus
konnte als derber Strang gefühlt werden, ohne dass es mög¬
lich gewesen wäre, ein Concrement nachzuweisen. Wenn sich
solche narbige Verschlüsse des Ductus choledochus nach Stein¬
abgang nicht öfter ereignen, so dürfte sich dies durch den in
anderen Fällen, bei geschlossenem Gallengangsystem vorhan¬
denen Secretionsdruck erklären lassen. Das Zustandekommen
des Verschlusses in unserem Falle wäre, da ja der Abfluss
der Galle aus der Gallenblasenfistel ungehindert stattfand,
gleichzusetzen dem gar nicht so seltenen narbigen Verschlüsse
des Ductus cysticus (von Quenn erwähnt), der ja, im Uebri-
gen unter ganz ähnlichen Verhältnissen wie der Ductus cho¬
ledochus, nicht dem Drucke frisch nachströmender Galle aus
gesetzt ist.
Kehr berichtet von einem Falle, in welchem nach zwei¬
maliger Choledochotomie wegen Steinverschluss in einer dritten
Operation eine Cholecystenteroanastomose angelegt, werden
musste. Der Ductus choledochus war durch Adhäsionen derart
verzogen, dass der Gallenabfluss ins Duodenum behindert war.
Die zweite Operation erwies sich als durchaus noth-
wendig, da ja nichts von der reichlich producirten Galle der
Verdauung zu Gute kam und ausserdem der Patientin die
stark secernirende Fistel sehr lästig fiel; wie schon mehrfach
erwähnt, fanden wir das dem Darme zugekehrte Ende des
Ductus choledochus in einen narbigen Strang verwandelt —
es blieb also nichts übrig, als die Galle auf eicem anderen
Wege in den Darm zu leiten. Das Einfachste und Selbstver¬
ständliche schien eine Anastomose zwischen Zwölffingerdarm
und Gallenblase, ein Vorgang, wie er unter Anderem von Lejars
warm empfohlen wird.
Der Versuch, einen von relativ unveränderter Serosa
überzogenen Theil der Gallenblase in das Duodenum herein¬
zuziehen, scheiterte an der geringen Beweglichkeit des Darmes
wie der Gallenblase; es blieb in Folge dessen nichts Anderes
übrig, als die früher nach aussen mündende Fistel in den
Darm einzunähen. Die Fistel wurde angefrischt und mit
doppelreihiger Naht in einen queren Schlitz des Duodenums
eingepflanzt. Von der Anwendung des Murphy Knopfes, der
für diese Operation von verschiedenen Autoren (Kocher,
Fergusson, Petersen) empfohlen, dessen Zweckmässig¬
keit aber von Riedel in Zweifel gezogen wird, sahen wir in
diesem Falle ab; hauptsächlich deshalb, weil wir von der ver¬
dickten und durch die breite Adhäsion an der vorderen Bauch¬
wand ihres Charakters verlustig gegangenen Serosa nicht die
Fähigkeit des raschen Verklebens und Verwaehsens erwarten
konnten, die für die Wirksamkeit des Murphy-Knopfes uner¬
lässlich ist; erfahrungsgemäss gibt die Darm Vereinigung mittelst
des Murphy’schen Knopfes bei verdickter Darmwand nicht
immer gute Resultate.
Die gleiche Eigenschaft der Serosa war für uns auch
massgebend für die Einlegung von Gazestreifen zum Schutze
der Naht; der mehrtägige Abgang von Galle aus der Wunde
lässt diese Massregel gerechtfertigt erscheinen.
Was die Gefahren dieser Operationsmethode anlangt, so
muss zugegeben werden, dass bei so breiter Anastomose eine
aufsteigende Infection der Gallenwege vom Darme aus ebenso
leicht möglich ist, wie sie nach Erschliessung des Gallengang¬
systemes durch Steinabgang (siehe oben) vorkommt. Ein
solches Vorkommniss ist von Kehr und Dujardin-
Beaumetz erwähnt. Unsere Patientin entging dieser Gefahr
und befindet sich heute, fünf Monate nach der Operation, voll¬
kommen wohl.
Der zweite Fall sei nur kurz beschrieben als ein Beitrag
zur Indication und Technik der Cholecystenteroanastomose.
C. B., ein an chronischer Lungentuberculose leidender, ziemlich
schwächlicher Mann im Alter von 54 Jahren, wurde am 30. De¬
cember 1899 wegen Ikterus und Schmerzen in der rechten Ober¬
bauchgegend an die medicinische Abtheilung des Herrn Hofrathes
Dräsche aufgenommen.
Status praesens des Abdomens: Abdomen im Niveau
des Thorax; in der rechten Mamillarlinie wölbt sich etwas über
Nabelhöhe eine etwa apfelgrosse, respiratorisch verschiebliche Ge¬
schwulst vor (Gallenblase); die Palpation ist an dieser Stelle sehr
schmerzhaft; die Geschwulst ist von der Leber durch eine Furche
getrennt; die Consistenz der Geschwulst ist wegen der grossen
Schmerzhaftigkeit nicht gut zu prüfen. Der untere Leberrand lässt
sich percussorisch in der Mitte zwischen Rippenbogen und Nabel¬
höhe nachweisen.
Während des Aufenthaltes an der medicinischen Abtheilung
stellen sich bei steigendem Ikterus wiederholt Schmerzanfälle im
rechten Epigastrium mit Ausstrahlung in die rechte Schulter und
in die rechte Mamilla ein, welche von Schüttelfrösten begleitet
waren. Der Gallenblasentumor wird anscheinend mehr gespannt. Da
der Patient an heftigen Schmerzen leidet, wird ihm die Operation
vorgeschlagen, auf die er gerne eingeht.
Diagnose: Choledochusverschluss wahrscheinlich durch
Stein, vielleicht Tumor mit Cholecystitis.
Am 11. Januar 1900 nahm ich die Operation in Chloroform-
Aether-Alkoholnarkose an der dritten chirurgischen Abtheilung vor
Längsschnitt (wie oben) am äusseren Rande des rechten Muse,
rectus, vom Rippenbogen beginnend, 10 cm nach abwärts. Nach Er-
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
501
Öffnung der Bauchhöhle stellt sich sofort die über apfelgrosse, hoch
gespannte Gallenblase ein; sie ist überallhin frei, der Ductus cysticus
und choledochus dilatirl; es ist nirgends ein Concrement tastbar,
wohl aber hinter dem Pylorus und dem Anfangstheile des Duode¬
nums ein kindsfaustgrosser, knolliger, wenig beweglicher Tumor, an
den das Duodenum angelöthet ist; der Tumor wird als Garcinom
des Pankreaskopfes gedeutet und da eine Erzielung der Wegsamkeit
des Ductus choledochus unter diesen Umständen nicht möglich
erscheint, mittels Murphy-Knopfes eine Anastomose zwischen
Gallenblase und oberstem Jejunum angelegt. Das Duodenum ist
wegen seiner Verlöthung mit dem Tumor nicht zur Anastomosen-
bildung heranzuziehen. Die Anastomose wird, wie bei der Gastro-
enterostomia retrocolica, um das Jejunum möglichst wenig ver¬
lagern zu müssen, durch einen Schlitz des Mesocolons
hergestellt; sie gelingt mit Anwendung des M u r p h y’schen Knopfes
äusserst rasch.
Der Verlauf war glatt. In wenigen Tagen hatte der Ikterus
merklich abgenommen, die Stühle enthielten Galle, der Gehalt des
Harnes an Gallenfarbstoff war vermindert.
Am 25. Januar, also 14 Tage nach der Operation, ging der
Murphy-Knopf mit dem Stuhl ab.
Am 31. Januar wurde der Kranke auf die Abtheilung des
Herrn Hofrathes Dräsche rücklransferirt, wo er sich wiegen seiner
Lungenerkrankung noch in Pflege befindet. Der Patient zeigt derzeit
keine Spur von Ikterus, im Harn ist kein Gallenfarbstoff enthalten,
der Stuhl ist cholisch.*)
Was die Diagnose in diesem Falle anlangt, so sei darauf
hingewiesen, dass wegen der wiederholten Kolikanfälle, trotz¬
dem der Aufnahme ins Krankenhaus keine Attaque vorher¬
gegangen war, an Obstruction durch Stein gedacht werden
musste; die Thatsache, dass es sich um Verschluss durch
Tumor gehandelt hat, ist ein neuerlicher Beweis für die Rich¬
tigkeit von Riedel’s Auffassung des Kolikanfalles; die Ver-
grösserung der Gallenblase hätte im Sinne des Courvoisier-
schen Gesetzes für carcinomatöse Strictur zu sprechen ; wie
jedoch aus dem ersten Falle hervorgeht, ist die Giltigkeit dieser
Regel keine allgemeine.
In Betreff der Operation sei Einiges über die Geschichte
der Choleeystenterostornie nachgetragen. Nussbaum hat die
Operation zuerst für Fälle von Choledochusverschluss em¬
pfohlen, Winiwarter hat sie 1881 als der Erste ausgeführt.
In diesem ersten Falte waren sechs Operationen nöthig, um
die Anastomose zwischen der Gallenblase und dem Darme,
diesmal dem Colon, herzustellen.
Erst sechs Jahre später hat Kappe ler in einzeitiger
Operation eine Gallenblasen-Dünndarmfistel angelegt ; er hat
die Operation, die er ähnlich der vorderen Gattroenterostomie
ausführte, genau beschrieben. Ihm folgen Monastyrski,
S o c i n und F r i t z sch e, später Courvoisier und Robson.
In vier dieser Fälle war Carcinom des Pankreaskopfes, in
einem Carcinom der Choledochusmündung die Ursache des
Verschlusses.
Die Indication für die Choleeystenterostomie stellt
Courvoisier (1890) für alle Choledochusverschlüsse, die
nicht durch Stein bedingt sind; später wurde die Operation
gemacht von Terrier, Czerny, Riedel, Alex. Fr än k e 1,
Kört e, Kehr und Anderen meist nach der von Kappeier
empfohlenen Methode. Murphy hat auf dem internationalen
medicinischen Congresse in Rom (1894) den von ihm erfun¬
denen Knopf für die Ausführung der Anastomose empfohlen,
*) Der Kranke ist seither, am 19. April d. J., an der Abtheilung
des Herrn Hofrathes Dräsche nach Zunahme seiner pulmonalen Krank¬
heitserscheinungen gestorben. Die Obductionsdiagnose (Obducent Docent
Dr. G h o n) lautete: »Chronische TubercuL.se der Lungen mit Cavernen-
bildung in den Oberlappeu; fibrinös seröse Pleuritis linkerseits; ringförmiges
tuberculoses Geschwür in der Flexuia sigmoidea; walnussgrosses Carcinom
des Pankreaskopfes mit Compression des Ductus choledochus und
Erweiterung desselben hinter der Compressionsstelle, sowie des Ductus
cysticus und hepaticus; weiche Concremente im Ductus choledochus und
hepaticus; ausgeheilte Cholecystenteroanastomosis. (Die Anastomose ist mit
einer Jejunumschlinge circa 60 cm unter der Flexura duodenojejunalis durch
das Mesocolon des Quercolons angelegt und bei der Obduction für zwei
Finger durchgängig.
Kein Ikterus, keine makroskopisch fühlbaren Veränderungen der
Gallenwege der Leber,)<
dabei aber die Indication zur Operation für alle Choledochus¬
verschlüsse, also wohl zu weit gestellt. Der Knopf wurde
seither, wie oben erwähnt, von Kocher, Fergusson, Pe¬
tersen mit gutem Erfolge angewendet.
In unserem Falle erforderte die Schwäche des Kranken
rasche Beendigung der Operation, wir griffen deshalb zum
Knopfe.
Die von Kehr und Anderen erwähnte und gefürchtete
aufsteigende Cholangitis ist auch in diesem Falle ausge¬
blieben.
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Kocher, Beitrag zur Chirurgie der Gallenwege. Deutsche medi-
cinische Wochenschrift. 1890.
Derselbe, Operationslehre. Discussion zu Langenbuch’s Vortrag
übt r die Technik der Choledochotomie.
Courvoisier, Casuistisch-statistische Beiträge zur Pathologie und
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Derselbe, Chirurgische Behandlung der Gallensteinkrankheit.
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Kehr, Die Resultate von 360 Gallensteinlaparotomien unter
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Derselbe, Die chirurgische Behandlung der Gallensteinkrankheit.
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Kümmel, Die äussere ideale Gallensteinoperation. Deutsche medi¬
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F e n g e r, Surgery of the bile ducts. Ann. of. Suvg. 1898, June.
Notiz über die Marienbader Rudolfs-Quelle.
In Nr. 1 der „Berliner klinischen Wochenschrift“ vom Jahre 1900
erschien unter der Spitzmarke: „Aus dem pharmakologischen Institute
der Universität Breslau“, nach einem auf der Naturforscherversammlung
zu München 1899 gehaltenen Vortrage von Privatdocent Dr. H. Kionka
ein Aufsatz unter dem Titel : „K ü n s 1 1 i c h e Erzeugung von
Gicht“.
Derselbe Aufsatz erschien, nur ausgedehnter, in Nr. 98 der
„Allgemeinen medicinischen Centralzeitung“ vom 9. December 1899
502
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 22
unter dem Titel: „Zur Pathologie der Gicht“ von Dr. Kionka, Vor¬
trag, gehalten in der medicinischen Section der schlesischen Gesell¬
schaft für vaterländische Cultur am 27. October 1899.
Nachdem der Verfasser seine Experimente und Beobachtungen
und die daraus geschöpften Erfahrungen über die Entstehung der Gicht
bei Hühnern durch ausschliessliche Fleischnahrung schildert und auch
die Erfolge von der Darreichung von Kalk auf den Stoffwechsel und
die Harnsäureausscheidung bei den Versuchstieren mittheilt, zieht er
die Schlüsse daraus auf den Einfluss des Kalkes boi der Gicht der
Menschen und erwähnt der Kalktherapie in der Form der Mineral-
wassercuren gegen harnsaure Diathese und Gicht, die von Alters her
zur Bezeichung einer gewissen Gattung von Mineralwässern, die sich
gegen die erwähnten Krankheitszustände als besonders wirksam er¬
wiesen haben, mit dem Namen der „Gichtwässer“ gefühlt hat.
Er stellt in drei Tabellen — und hauptsächlich um diesen
letzteren Theil erscheint der Aufsatz in der „Allgemeinen medicinischen
Centralzeitung“ gegen jenen in der „Berliner klinischen Wochen¬
schrift“ erweitert — die sogenannten Gichtwässer als
1. alkalische und alkalisch-muriatische Quellen,
2. als glaubersalzhaltige,
3. als Kochsalzquellen und
4. als erdige Quellen zusammen.
Es ist ein trauriges Zeichen, wie wenig gekannt und gewürdigt
die Marienbader Rudolfs-Quelle ist, dass dieselbe weder unter den
alkalischen und alkalisch-muriatischen, noch unter den erdigen Quellen
angeführt erscheint, wiewohl dieselben unter den ersteren nach ihrem
Kalkgehalte mit 0'3722 CaO in 1000cm3 obenan stehen sollte, und
unter den erdigen Quellen als die drittstärkste, also nach Lippspringe
und Wildungen genannt werden müsste.
Es möge mir daher gestattet sein, im Nachfolgenden die Ergeb¬
nisse der Analyse der Marienbader Rudolfs Quelle anzuführen, wie sie
bei der im Jahre 1899 vorgenommenen chemischen Untersuchung von
dem Chemiker des Marienbader Salzsudwerkes, Herrn Ludwig
Redtenbacher, gefunden und angegeben worden sind, und dann
in einer Tabelle die von Herrn Dr. Kionka angeführten und. zu¬
sammengestellten, als sogenannte „Gichtwässer“ eines gewissen Rufes
sich erfreuenden Quellen mit der Rudolfs Quelle zu vergleichen. Herr
Redtenbacher sagt diesbezüglich :
Die Proben wurden am 24. September 1898 genommen; die
Temperatur des Mineralwassers betrug 9'38° C. bei gleichzeitiger
Temperatur der Luft von 5-8°C. und einem Barometerstände von 716,4mm.
Die Ergiebigkeit der Quelle wurde zu rund 12 £ (1L943Z) in
der Minute gemessen.
Die chemische Untersuchung wurde nach bewährten Methoden
durchgeführt und ergab als Mittel von zwei sehr gut übereinstimmenden
Parallelbestimmungen folgende Resultate:
Es wird aus 10.000 g Mineralwasser erhalten:
Gramm
Chlorkalium .
0-72303
Chlornatrium
222502
Chlorlithium .
Spuren
Calciumoxyd .
3-72203
Magnesia ....
1-91258
Eisenoxyd
0-23322
Thonerde ....
0-00040
Manganoxyduh'xyd .
0 00242
Strontiumoxyd
0-00519
Chlor .
0 46523
Schwefelsäureanhydr
id . .
0 90330
Kieselsäure .
• • «
0 98150
Phosphorsäure
• • •
0 00055
Gesammte Kohlensäure
32-46680.
Berechnet man nach üblichei
Weise aus diesen Ergebnissen
gen der einzelnen Salze der Quelle, so ergibt sich:
10.000 g Mineralwasser enthalten:
b) Carbonate als
a ) Carbonate
als wasserfreie
einfache
Bicarbonate
berechnet
berechnet
G
r a m m
Kaliumsulfat ....
0-84495
0-84395
Natriumsulfat ....
0 78631
0-78631
Chlornatrium ....
0-76773
0-76773
Kohlensaures Natrium
1-97720
2-79715
„ Lithium
Spuren
Spuren
„ Calcium
6 64648
9-57093
,. Magnesium
3-99765
6-08272
„ Strontium .
0 00660
0 00080
„ Eisen .
0 33816
0-46643
„ Mangan
000516
0 00713
Phosphorsaure Thonerde
0 00094
0 00094
15-37118
21-32509.
In den Tabellen des Herrn Dr. K i o n k e würde daher die
Rudolfs-Quelle folgende Plätze einnehmen:
CaO-Gehalt in Grammen auf 1000 cm3.
I. Alkalische und alkalisch-muriatische Quellen, alphabetisch
geordnet :
Bilin . 0-20335
Cudova: Golthold-Quelle . . . 0-2544
Elster: Königs-Quelle .... 0 0992
Ems: Kaiser Quelle . 0"0881G
Fachingen . 0 24317
Giesshübl: König Otto Quelle . . 0- 13372
Gleichenberg: Constautin-Quelle . 0T9844
Marienbad: Rudolfs-Quelle . 0-37220
Neuenahr . 0T1537
Preblau . 0T545
Radein . 0 22351
Salzbrunn: Kronen-Quelle . . . 0"24G40
Pönisstein: Heilbrunn . . . . 0T5721
IV. Erdige Quellen.
Lippspringe: Arminius-Quelle .... 0-5717
Marienbad: Rudolfs-Quelle . . . 0-3722
Wildungen: Helenen-Quelle .... 0"49388
Wildungen: Georg Victor Quelle . . . 0-28464.
Aus dieser Zusammenstellung ist zu ersehen, dass die Marien¬
bader Rudolfs-Quelle durch den hohen Gehalt an Calciumoxyd den
ersten, beziehungsweise einen der ersten Plätze unter den
kalkhaltigen Mineralwässern ein nimmt und es ver¬
dient, in erster Reihe unter den sogenannten „Gichtwässern“ genannt
zu werden, als welches sie wohl den Marienbad besuchenden Cur-
gästen — dagegen den massgebenden ärztlichen Kreisen leider noch
viel zu wenig bekannt ist.
Die Rudolfs-Quelle liegt unterhalb der Ferdinands-Quelle in
dem im Süden unseres Curortes sich ausbreitenden Wiesenthale; sie
wurde im Jahre 1866 gefasst und von Prof. Lerch aus Prag
analysirt; die Ergebnisse dieser Analyse stimmen ziemlich genau mit
den von Redtenbach er gefundenen Werthen überein.
In einer einzigen Publication von Dr. S. Porges aus dem
Jahre 1868 wird die Rudolfs-Quelle selbstständig abgehandelt, ln
derselben sagt Prof. Lerch im Jahre 1866: „Dieser Zusammen¬
setzung nach ist die Quelle unter die Säuerlinge einzureihen. Das
Wasser enthält wohl qualitativ nur die in den Wässern dieser Familie
gewöhnlich vorkommenden Bestandtheile neben grossen Mengen
Kohlensäure Bezüglich der quantitativen Verhältnisse ergibt sich aber
eine eigenthümliche Zusammensetzung desselben.
Es ist nämlich ausgezeichnet durch den grossen Gehalt an Kalk
und Magnesia Bicarbonat. Diese Eigenthümlicbkeit reiht die Quelle
weiters unter die Kalk-Magnesia-Krenen und weist ihr unter ihnen
einen der ersten Plätze an. In dieser Beziehung kann sie nur mit
Wildungen verglichen werden, überragt aber diese Wässer nicht blos
bezüglich der Summen der festen Bestandtheile, sondern der relativ
günstigen Verbal tnisszahlen der einzelnen wesentlichen, das Wasser
charakterisirenden Elemente“.
Als Indication für den Gebrauch der Rudolfs-Quelle werden in
der oben angeführten Brochure, sowie in anderen über Marienbad und
seine Quellen erschienenen baineologischen Schriften, unter Anderem
vorwiegend: die chronisch-katarrhalischen Leiden des uropoetischen
Systems, als: der chronische Blasenkatarrh, die Pyelitis etc. (bei Ab¬
wesenheit von Reizerscheinungen); Erkrankungen, bei welchen eine
reichliche Diurese erwünscht erscheint, angeführt; weiters die Gicht
und die harnsaure Diathese, Ueberschuss von harnsauren Salzen und
von Harnsäure im Harne und Schwerlöslichkeit derselben; sowie denn
auch die Rudolfs-Quelle Diabetikern nicht nur mit Vorliebe, sondern
auch mit bekannt gutem Nutzen und Erfolge empfohlen wird.
Aus dem Ganzen erhellt, dass die Marienbader Rudolfs-Quelle
ein Heilfactor ist, der es verdient, auch in weiteren ärztlichen Kreisen
gekannt und gewürdigt zu werden, und Aveun es gelänge, die Auf¬
merksamkeit derselben auf dieses Stiefkind unter den Marienbader
Quellen zu richten, so wäre der Zweck dieser Notiz erreicht.
Dr. Al. Grimm (Marienbad).
REFERATE.
Coxa vara.
Saminelreferat von Dr. Sigmund Erdheim (Wien).
Literatur.
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Ref. Virchow’s Jahresbericht. 1898. — -) A 1 b e r t, Zur Lehre der soge¬
nannten Coxa vara und Coxa valga. Wien 1899. — 3) Alsberg, Anato¬
mische und klinische Betrachtungen über Coxa vara. Zeitschrift für ortho¬
pädische Chirurgie. Bd. VI, 1899. — 4) Derselbe, Zur Theorie und
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
503
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istik der Coxa vara. Dissertation. Erlangen 1895. — 7) Bayer, Zur Thera¬
pie der Coxa vara. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. Bd. XLV, 1897. —
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blatt für Chirurgie. 1897, 25. — 9) Brauer, Heber Coxa vara und die
begleitende Muskelatrophie. Mittheilungen aus den Grenzgebieten für Medicin
und Chirurgie. Bd. III. — l0) Brun, Un cas de coxa vara. Revue d’oitho-
ped. 1898. Ref. Virchow’s Jahresbericht. 1898. — n) Brüh 1, Ueber Coxa
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Schenkelhalses. Wiener klinische Wochenschrift. 1896, 32. — 13) C h a r-
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15) Derselbe, De 1’incurvation du col femoral. Rev. d’orthoped. 1898, 4.
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18) D i s t e r w e g, Inaugural-Dissertation. Halle 1882. Cit. nach Alsberg.
— ,9) Fabrikant M. B., Ueber Coxa vara. Annalen der russischen
Chirurgie. 1897, 4. Ref. Centralblatt für Chirurgie. 1897, 40. — :o) De r-
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— 21) Firth, On incurvation of the neck of the femur (Coxa vara). Brit.
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vara. Annal. of Surgery. 1898. Ref. Virchow’s Jahresbericht. 1898.
24) prey, Demonstration im Medicinischen Club. Wiener klinische Wochen¬
schrift. 1896, 20. — °5) G h i 1 1 i n i, Experimentelle Knochendeformitäten.
Langenbeck’s Archiv. Bd. LII. — 26) Hendrix, De la coxa vara. Journ.
med. de Bruxelles. 1898, 47. Ref. Zeitschrift für Orthopädie. Bd. VI, V u 1-
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für Chirurgie. 1899. Congressbericht. — 28) Herrmann, Ueber Coxa
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Chirurgie. — 3°) Derselbe, Die Osteotomie bei der Behandlung der
Hüftgelenksdeformitäten. Würzburg 1899. — J1) Hofmeister, Coxa vara.
Eine typische Fotm der Schenkelhalsverbitgung. Beiträge zur klinischen
Chirurgie. Bd. XII. — 32) Derselbe, Zur Aetiologie der Coxa vara. Bei¬
träge zur klinischen Cbituigie. Bd. XIII. — ’’3) Derselbe, Ueber Coxa
vara auf Grund von Röntgen- Aufnahmen. Centralblatt für Chirurgie. 1897. Be¬
richt des Chirurgencongresses. — 34) D e r s e 1 b e, Zur Pathologie und
Therapie der Coxa vara. Beiträge zur klinischen Chirurgie. Bd. XXI.
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Wesen und Behandlung der Coxa vara. Sammlung klinischer Vorträge.
Nr. 215. — 38) Derselbe, Ueber Coxa vara traumat. infantum. Langen¬
beck’s Archiv Bd. LX. — 39) K e 1 1 1 e y, A case of Rachitis adolo^centium.
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thologischen Anatomie. Bd. XXVII, Heft 2, 1900. — 4I) Kirmisson,
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1894, Nr. 5. Ref. Vulpius. Zeitschrift für orthopädische Chirurgie.
Bd. VI. — 42) Derselbe, Nouveaux faits k servir k letude de l’incur-
vation rachitique du col fern. Coxa vara d’origine congen. Rev. d’oithop.
1897 , 4. — 43) D e r s e 1 b e, Documents pour servir k l’etude de l’affaisse-
ment du col. femor (Coxa vara). Rev. d’orthop. 1898. — 44) Derselbe,
Lehrbuch der chirurgischen Krankheiten angeborenen Ursprunges. Ueber-
setzt von Deutschländer. Stuttgait 1899. — 4d) Koche r. Coxa vara,
eine Berufskrankheit der Wachsthumsperiode. Deutsche Zeitschrift für
Chirurgie. Bd. XXXVIII. — 46) Derselbe, Zur Coxa vara. Deutsche
Zeitschrift für Chirurgie. Bd. XL. — 41) Derselbe, Zusatz zu den Be¬
merkungen des Herrn Dr. Müller. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie.
Bd. XLII. — 4S) Derselbe, Bemerkungen zu einigen wichtigen Fracturen-
formen. — 49) Koni g, Lehrbuch der speciellen Chirurgie. Bd. III, 1900.
— 50) K r a s k e, Ueber die operative Behandlung der statischen Schenkel¬
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Ueber den Zusammenhang von Trauma, Epiphysenlösung und Coxa vara.
Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. Bd. LIV. — 53) Küster, Ueber fibröse
Ostitis. Bericht über den XXVI. Chirurgencongress. Centralblatt für Chirur¬
gie. 1897. — 54) L a u e ii 8 t e i n, Bemerkungen zu dem Neigungswinkel
des Schenkelhalses. Archiv für klinische Chirurgie. Bd. XL. — ;,:>) Der¬
selbe, Demonstration im Hamburger Verein. Münchener medicinische
Wochenschrift. 1897, 51. — &e) L e u s s e r, Ueber Coxa vara. Münchener
medicinische Wochenschrift. 1896, 30. — 57) L i 1 1 1 e, Remarks on coxa
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halses im Wachsthumsalter. Beiträge zur klinischen Chirurgie. Bd. IV. —
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tralblatt für Chirurgie. 1894, 35. — 64) Derselbe, Zur Coxa vara.
Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. Bd. XLII. — 65) Derselbe, Zur
Frage der Coxa vara. Centralblatt für Chirurgie. 1897, 41. — ÜG) Nasse,
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de Quervain. — 72) Roeser, Ueber Morb. coxarius. Correspondenz-
blatt des württembergischen ärztlichen Vereines. 1843. — ' ) Rosen¬
baum, Aktinogramme als diagnostisches Hilfsmittel bei Hüftgelenkser¬
krankungen. Dissertation. Erlangen 1887. — 71) Rotter, Ein Fall von
doppelseitiger rachitischer Verbiegung des Schenkelhalses. Münchener medi¬
cinische Wochenschrift. 1890, 32. — 75) Schede und Stahl, Zur Kennt-
niss der primären infectiösen Knochenmarksentzündung. Mittheilung aus der
chirurgischen Abtheilung des Krankenhanses am Friedrichshain. 1878. —
7fi) Schneider, Ein Fall von Coxa vara. Prager medicinische Wochen¬
schrift. 1897, 32. — 77) Schnitzler, Demonstration in der Gesellschaft
der Aerzte. Wiener klinische Wochenschrift. 1894,46. — l8) Schoemacker,
Coxa vara. Ref. Schmidt’s Jahrbuch. 1898, Nr. 260. — *9) Sch u char dt,
Krankheiten der Knochen und Gelenke. Deutsche Chirurgie. Lieferung 28.
— 8Ü) Schultz, Zur Casuistik der Verbiegung des Schenkelhalses. Zeit¬
schrift für orthopädische Chirurgie. Bd. I, 1891. — S1) Soudeck, Zur
Anatomie und Aetiologie der Coxa vara adoloscent. Langenbeck’s Archiv.
Bd.LIX, und: Centralblatt für Chirurgie. 1899. Congressbericht. — 82) Der¬
selbe, Statische Schenkelhalsverbiegung nach Trauma. Centralblatt für
Chirurgie. 1899, 13. — 83) Sprengel, Ueber die traumatische Lösung
der Kopfepiphyse des Femur und ihr Verhältniss zur Coxa vara. Langen¬
beck’s Archiv. Bd. LVII. — 84) D e r s e 1 b e, Ueber einen operirten und
einen nicht operirten Fall von Coxa vara. Langenbeck’s Archiv. Bd. LIX,
und: Centralblatt für Chirurgie. 1899. Congressbericht. — 85) Stockes,
Brit. Journ. 1898, Nr. 5. Ref. Virchow’s Jahresbericht. 1898. — 86) Stru¬
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der Unfallkrankheiten. 1898. — 8S) Tillmans, Lehrbuch der speciellen
Chirurgie. 5. Auflage. — ®9) T u b b y, Coxa vara or deflection of the neck
of the femur. Brit. Journ. 1898, July 23. — ") Volkmann, Die Resec¬
tion der Gelenke. Volkmaun’s Sammlung. Nr. 51. — 91) Whitman, Ob¬
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York. med. Journ. 1894. Juni 23. — 92) Zehnder, Ueber Schenkelhals¬
verbiegung. Centralblatt für Chirurgie. 1897, 9. — 93) Z e i s s, Beitrag zur
pathologischen Anatomie des Hüftgelenkes. Verhandlungen der kaiserlichen
L-.opoldo-Carolinischen Akademie der Naturforscher. 1851; nach de
Quervain.
Unter »Coxa vara«, »Collum varum«, »Schenkelshalsverbie-
gung« versteht man eine Deformität des oberen Femurendes, welche
sich darin äussert, dass entweder der normaler W eise mit dem Ober¬
schenkel einen Winkel von circa 128° (Lauen st ein) bildende
Schenkelhals hier mehr gestreckt verläuft (unter rechtem oder sogar
spitzem Winkel, M ü 1 1 e r), oder der Hals in seinem Verlaufe bogen¬
förmig oder winkelig nach abwärts und hinten gekrümmt ist (H o f-
meiste r), oder endlich der Kopf in der Epiphysenlinie nach ab¬
wärts abgeknickt wird, wobei er oft noch um die Achse des Halses
nach hinten gedreht erscheint (Kocher). Der Schenkelhals ist in
vielen Fällen, namentlich an seiner oberen Kante verlängert, als ob
»zum normalen Hals noch ein Stück neugebildeten Halses durch Zug
hinzugefügt worden wäre« (Kocher).
Dieser Verkrümmung des Schenkelhalses entspricht eine ab¬
norme Stellung des betreffenden Beines in Extension, Adduction und
Auswärtsrotation mit gleichzeitiger Verkürzung des Beines.
Die ersten Andeutungen über Verkrümmungen am oberen
Femurende finden sich bei Roeser, welcher von einem Patienten
berichtet, dessen Bein in der Hüfte ankylosirt war, und zwar in
Flexion, Abduction und Innenrotation. Bei der Obduction land man
eine Verkrümmung zwischen grossem und kleinem Trochanter. Später
haben Richardson, Zeiss, Fiorani, Monks theils Präparate
beschrieben, theils Fälle mit Verkrümmung des Schenkelhalses beob¬
achtet; Kettley theilt sogar einen operirten Fall mit (subtrochant.
Keilosteotomie und Tenotomie der Abductoren).
Trotzdem gebührt Müller das Verdienst auf das klinische
Bild, das zum pathologischen Process gehört, als Erster hingewiesen
zu haben; auf Grund von vier auf der Klinik Bruns beobachteten
Fällen schilderte er die Symptomatologie der »Verbiegung des
Schenkelhalses im Wachsthumsalter« und lieferte auf Grund eines
von einer Resection herrührenden Präparates einen wichtigen Beitrag
zur pathologischen Anatomie des Leidens. Einige Zeit darauf erschien
aus derselben Klinik eine grössere Arbeit von Hofmeister, welcher
bereits 45 theils eigene, theils in der Literatur gesammelte 1 alle zu
Grunde gelegt sind und in der wir zum ersten Male den Namen
»Coxa vara« antreffen; die Abbiegung des Oberschenkels im Sinne
der Adduction war für Hofmeister massgebend, diese Deformität
pei- analogiam mit den Verkrümmungen an anderen Gelenken so zu
benennen. Unabhängig von H o f in e i s t e r schlug Kocher für das
Krankheitsbild denselben Namen vor, und zwar in einer Arbeit, die
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 22
004
fast gleichzeitig mit der H o f m e i s t e r’schen erschien und in der
er zwei resecirte Präparate genau beschreibt; er stellte die Krankheit
in Analogie mit Pes varus und wählte den Namen auf Grund der
Streckstellung mit gleichzeitiger Auswärtsrotation und geringer Ad¬
duction.
Zwei Jahre später veröffentlichte Kraske eine Arbeit, in
welcher er ein neues Operalionsverfahren für diese Deformität be¬
schreibt und darauf hinweist, dass weder die Kocher’sche noch
die II o f m e i s t e r’sche Begründung des Namens »Coxa vara« für
alle Fälle passe, dass allen Fällen blos das »statische Moment« ge¬
meinschaftlich sei und er schlug daher die Benennung »statische
Schenkelhalsverbiegung« vor.
Endlich bat Albert, der verschiedenen Localisation der Ver¬
krümmung Rechnung tragend, die Bezeichnung: »Arthrocoxa vara«
für die Verschiebung des Kopfes und »Anchenoeoxa vara« für die
geänderte Richtung des Schenkelhalses in Vorschlag gebracht.
Die Zahl der Arbeiten über Coxa vara ist, obwohl die Krank¬
heit erst kurze Zeit bekannt ist, ziemlich rasch angewachsen (vide
Literaturverzeichniss); die meisten Arbeiten sind casuistischen In¬
haltes, die anderen befassen sich mit der Pathologie oder Therapie,
welch letztere in neuerer Zeit eine gründliche Aenderung erfuhr.
Vorkommen und Häufigkeit.
Aus dem Umstande, dass die Krankheit erst in den letzten
Jahren genauer erkannt wurde, darf man nicht den Schluss ziehen,
als ob die Krankheit sehr selten wäre. Nachdem einmal die Aufmerk¬
samkeit auf die Deformität gelenkt war, gelang es Hofmeister
anlässlich einer Nachuntersuchung der auf der Klinik Bruns be¬
handelten Fälle von Coxitis, darunter eine ganze Anzahl von Fällen
zu finden, welche dem Bilde der Coxa vara angehörten. Es waren
dies meistens Fälle, die nicht ganz mit der üblichen Symptomatologie
der Coxitis stimmten, die aber wegen der Häufigkeit der Coxitis
ebenfalls dafür gehalten wurden. Albert sagt über diese Fälle:
»Auffallend waren zwei Momente: Erstens war die Stellung nicht die,
in welcher Coxitis auszuheilen pflegt und zweitens war auffallend,
dass Beugung und Streckung ohne Mitbewegung des Beckens möglich
war. Ueber dieses Symptom schlüpfte man hinweg; man fand es
auffällig, blieb aber bei der Diagnose »Coxitis«. Welche Krankheit sollte
es denn sonst sein?« Wieder andere Fälle von Coxa vara wurden
als Subluxatio anterior beschrieben.
Im Verhältniss zu anderen häufigen Krankheiten betrachtet,
kann die Coxa vara ebensowenig als seltene Erkrankung gelten. So
fand Hofmeister auf 390 Fälle tuberculöser Coxitis, einer auf den
Kliniken so häufig vorkommenden Krankheit, im gleichen Zeitraum
21 Fälle von Coxa vara. Das Verhältniss zu anderen Belastungs¬
deformitäten, z. B. zu Genu valgum, fand derselbe Autor mit 22 : 47.
Die Deformität tritt nach der Aussage aller Beobachter viel häufiger
beim männlichen als beim weiblichen Geschlechle auf (31 : 9); der
Grund hiefür dürfte in der grösseren Inanspruchnahme des männ¬
lichen Geschlechtes zu schweren Arbeiten gelegen sein. Die Krankheit
kann einseitig und doppelseitig Vorkommen.
In Anbetracht der relativen Häufigkeit der Deformität ist Hof¬
meister der Meinung, dass man in jedem zweifelhaften Falle von
Hüftgelenksaffection immer an Coxa vara denken müsse.
Aetiologie und pathologische Anatomie.
Als Müller das Krankheitsbild und dessen Symptomatologie
beschrieb, machte er schon darauf aufmerksam, dass die Veränderungen
nicht im Gelenke liegen — dasselbe sei im Gegentheil sowohl in
seinen knöchernen, als bänderigen Beslandtheilen unverändert —
sondern darin, dass der V inkel, den der Schenkelhals mit dem Schafte
des Oberschenkels bilde, verringert sei. Während der Winkel bei nor¬
malem Schenkelhals 128° betrage, verringere er sich hier bis zum
rechten oder sogar spitzen Winkel. Als Ursache dieser Abflachung
nahm M ü 11er eine Erweichung des Halses an, die er, trotzdem er
mikroskopisch gar keine rachitischen Veränderungen vorfand, den¬
noch aui lihachitis bezog, nachdem er entzündliche Erweichung,
Osteomalacie und Ostitis deform, ausschliessen konnte. Der rhachitische
Knochen sollte in Folge der Erweichung deform werden.
Bald darauf gelang es Lauen stein, am Skelet eines
sechsjährigen Kindes mit Coxa vara die Rhachitis an der Formation
des Knochens sicher nachzuweisen, und ausserdem haben später
Leusser, Rotter, Brun, O g s t o n, Zehnder u. A. ihre Fälle
von Coxa vara mit der Rhachitis in causalen Zusammenhang gebracht.
Hingegen hat Kirmisson anfangs daran gezweifelt, dass Rhachitis
eine Coxa vara erzeugen könne, da er trotz der grossen Häufigkeit
der Rhachitis in Frankreich nie eine Verkrümmung des Schenkelhalses
sah, er hat aber später seine Ansicht dahin modificirt, dass bei Kindern
Rhachitis eine Coxa vara verursachen könne, nur sei dieselbe nicht
hochgradig, die Verkrümmung gehe höchstens bis zum rechten
Winkel. Bei höheren Graden von Verkrümmungen, wie sie bei Coxa
vara adolescent, vorzukommen pflegen, müsse man mit der Diagnose
vorsichtig sein; hier liegen gewöhnlich noch andere Gründe für die
Deformität vor (Arthritis deform, etc.).
Kirmisson ’s Schüler Charpenlier hat dann mittelst
R ön tgen-Strahlen 32 rhachitische Kinder untersucht und gefunden, dass
sechsmal der Neigungswinkel verkleinert war, jedoch verursache
dieses Symptom keine besonderen Erscheinungen und könne erst bei
genauer Untersuchung entdeckt werden. Ebenso fand Little bei
Untersuchungen von Rhachitischen den Neigungswinkel des Schenkel¬
halses in circa 3O'70 kleiner als 90°.
Hofmeister liess die Rhachitis als ätiologisches Moment für
die Coxa vara der Kinder gelten, hingegen nahm er für die Coxa
vara des Jünglingsalters eine statische Ursache an. Die Belastungs¬
verhältnisse werden zu dieser Zeit, d. i. zur Zeit des Ueberganges
von der Schule zum Beruf, ganz andere; an den Stützapparat werden
plötzlich grössere Anforderungen gestellt. Dieses Moment genügte
ihm jedoch nicht zur Erklärung aller klinischen Thatsachen und er
nahm daher ausserdem noch, ähnlich wie es Mikulicz für das
Genu valgum that, eine Spätrhachitis an, welche die Resistenz
des Knochens herabsetzte. Den Umstand, dass die Coxa vara im Ver¬
hältniss zu Genu valgum trotz gleicher Aetiologie weniger häufig sei,
erklärte er damit, dass der Wachsthum des Knochens an der unteren
Epiphysenlinie des Femur am regsten sei und daher auch die De¬
formitäten dort am häufigsten Vorkommen. Der Beschäftigung schrieb
Hofmeister keine andere Rolle als bei Genu valgum zu. Eine
ähnliche Annahme machte auch Baye r.
Im Gegensätze zu ihnen weist Kocher der Beschäftigung
bei der Entstehung der Coxa vara einen wichtigen Platz zu. Zwei
seiner Patienten waren Käser und mussten im jugendlichen Alter,
zur Zeit des regsten Knochenwachsthums, schwere Arbeiten leisten,
indem sie schwere grosse Milchbutten zu tragen gezwungen waren
und dabei sich gewöhnten, die Füsse stark nach auswärts zu drehen
um eine breitere Basis zu gewinnen. Da die Individuen, die Coxa
vara bekommen, grössten theils eine schwach entwickelte Musculatur
haben und leicht ermüden, helfen sie sich auf diese Weise, dass sie
das Gelenk durch Spannung des Lig. Bertini lixiren. Wenn nun im
Bereiche der Epiphyse in Folge gewisser Circulationsstörungen und
stärkerer Wucherung der Knochen erweicht und seine Belastungs¬
resistenz eine Einbusse erleidet, so wel*den zwei Einflüsse bei der
Deformirung des Knochens sich geltend machen: 1. wird durch die
Last des Körpers der Sehenkelkopf nach abwärts gebogen und 2. wird
durch den Zug der hinteren Hüftgelenkmuskeln der Hals sich in der
Weise krümmen, dass er einen nach hinten offenen Winkel bildet.
Wie wir also sehen, verlegt K o e h e r die Krümmung nicht in den
Hals, sondern an die Grenze zwischen Kopf und Hals und weist als
Erster scharf auf die Krümmung nach hinten hin. Als ätiologisches
Moment für die Erweichung nimmt Kocher nicht Rhachitis an, weil
er im mikroskopischen Bilde keinen Anhaltspunkt dafür fand, sondern
stützt sich auf die Untersuchung der Präparate durch Langhans,
welcher in derselben die für Osteomalacie charakteristischen kalklosen
Zonen und Streifen an der Oberfläche der Knochenbälkchen, dann
Hyperämie, Reich thum an Markzellen bei gleichzeitigem Mangel von
Osteoklasten und Osteoblasten fand und nimmt daher juvenile
Osteomalacie als Ursache an. Gleichzeitig weist er auf die Er¬
nährung der Käser hin, welche hauptsächlich aus Milch besteht und
für erwachsene Leute ungenügend ist (Verarmung an Eisensalzen), ohne
sich genau darüber auszusprechen ob sie zur Entstehung der Coxa
vara mithilft; ebenso lässt er die Frage offen, ob die gestörte Ver¬
dauung und die Milchsäurebildung mitbeschuldigt werden können.
In ähnlicher Weise erklärt Sud eck durch das statische
Moment die Entstehung der Coxa vara. Auf Grund der genauen
Untersuchung eines eigenen Falles und unter Heranziehung eines
Falles von Lauen stein hat er die Ueberzeugung gewonnen, dass
gewöhnlich ein besonderes Bälkchensystem (der sogenannte Zugbogen)
den Schenkelhals gegen Verbiegung nach hinten und unten schützt.
Bei Erwachsenen wird durch Ablagerung von Knochensubstanz im
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Zugbogen die Zugfertigkeit des Schenkelhalses erhöht, bei jugend¬
lichen Individuen fehlt diese Verstärkung sammt der Knochenleiste,
die der Ausdruck derselben ist. Durch relative Ueberanstrengung
des Zugbogens, z. B. dadurch, dass den jugendlichen Schenkel¬
hälsen die Function der erwachsenen zugemuthet wird, kann auch
ohne jede pathologische Veränderung der Zugbogen insufficient werden
und in Folge dessen der Schenkelhals sich nach unten und hinten
krümmen. Hingegen ist König trotz Anerkennung der S u d e c lo¬
schen Befunde nicht der Ansicht, dass ein normales Knochensystem
sich krümmen könne und nimmt daher in diesen Fällen Spät¬
rachitis an.
Ausser diesen Ursachen fand Hofmeister in der Osteo-
m a 1 a c i e ein weiteres ätiologisches Moment für die Coxa vara. Er
konnte bei einer 35jährigen Frau mit puerperaler Osteomalacie eine
Verkrümmung des Schenkelhalses constatiren (— zugleich der erste
Fall von Coxa vara bei Erwachsenen) und einen ähnlichen Befund
erhob Joachimsthal anlässlich der Obduction eines 55jährigen
Mannes mit hochgradiger Osteomalacie. Dass die Verkrümmungen auf
osteomalacischer Grundlage selten sind, hängt mit dem Umstande
zusammen, dass die Schwerkranken, bei denen die Extremitäten¬
knochen am Processe mitbetheiligt sind, nicht herumgehen, also die
Ursache für die Verbiegung fehlt.
Die vierte Altersgruppe, in welcher Coxa vara beobachtet wurde,
bilden neugeborene Kinder. K r e d e 1 beobachtete als Erster eine
Coxa vara adnata und führte dieselbe auf intrauterine Druck¬
einflüsse zurück. Diese Deformität war noch mit anderen Ab¬
normitäten (Genu valga, Pes equino-var., Mangel der Patella) combinirt.
M o u c h e t beschrieb ebenfalls zwei Fälle, die er für ange¬
boren hält, als deren Ursache er aber intrauterinen mit De¬
formität geheilten Schenkelbruch annimmt.
Weiters hat Kirmisson auf die Fälle hingewiesen, wo von
Geburt eine starre Haltung des Beines in Auswärtsrotation vorhan¬
den ist, und die er auf Schrumpfung der hinteren Kapsel¬
wand bezieht. Albert beobachtete ebenfalls einen solchen Fall
und beschrieb ausserdem einen zweiten aus dem Wiener pathologi¬
schen Museum, den Kundrat für eine Varietät einer angeborenen
Luxation hielt. In die Gruppe von angeborener Coxa vara gehören
auch die von Alsberg, Charpentier, Hoffa, Albert und
Lorenz beobachteten Fälle von Combination von Coxa vara mit
Luxat. congen. cox. derselben oder der anderen Seite; als Ursache
nimmt Alsberg an, dass der intrauterine Druck, welcher auf der
einen Seite die Luxat. congen. erzeugte, auf der anderen die Gerade¬
streckung des Halses bewirkte, oder dass die Gelenkspfanne nicht
ganz normal war. In den Hoff a’schen Fällen war die die Luxatio
congen. begleitende Coxa vara so hochgradig, dass nach Einrichtung
der Luxation die Function des Beines durch die Adductionsstellung
behindert war und durch einen neuerlichen operativen Eingriff be¬
hoben werden musste.
In neuerer Zeit konnte Kimura auch im Greisenalter eine
Verkrümmung des Schenkelhalses nachweisen und stellte als Ursache
der Verkrümmung bei der 86jährigen Patientin die senile Osteo¬
porose fest: die Verminderung der Knochenresistenz spiele bei der
Entstehung der Deformität die Hauptrolle, während das statische
Moment sich nicht besonders verändert hat. Kimura ist der An¬
sicht, dass die Fälle auch im Greisenalter nicht sehr selten sind, und
dass viele Fälle von Mal. cox. senil, nach den klinischen Symptomen
der Coxa vara zuzuzählen sind. Die Coxa vara des Greisenalters ist
beiderseitig.
Die Frage, ob das Trauma als ätiologisches Moment heran¬
gezogen werden kann, hat von Anfang an die Beobachter sehr inter-
essirt. Während Hofmeister das Trauma nur als örtliche Dispo¬
sition auffasst und Bayer ausser der Spätrachitis traumatische Ein¬
flüsse für den Ausbruch der Krankheit verantwortlich macht, sahen
Bauer und Borchard nach Traumen, welche die Schenkelhals¬
gegend theils direct, theils indirect trafen, eine Verschlimmerung des
Leidens eintreten.
In zwei operirten Fällen wies Sprengel nach, dass die Coxa
vara durch eine Epiphysenlösung und nachträgliche Verwach¬
sung mit Verschiebung entstanden sei (Coxa vara traumatica). Das
Trauma, das in beiden Fällen vorausging, war so geringfügig, dass
die Patienten dasselbe anfangs geleugnet haben, und erst als die ana¬
tomische Untersuchung des Präparates die geheilte Epiphysenlösung
ergab, dasselbe Zugaben. Da der anatomische Befund nicht einer
Spätrachitis entsprach, nahm Verfasser an, dass es sich um eine
physiologisch nachgiebige Stelle (nicht ganz consolidirte Epiphysen¬
linie) handle, die durch ein Trauma ganz s p e c i f i s c h e r Rich¬
tung getroffen werde. Die Fracturenenden weichen nicht ausein¬
ander, weil die fibrös knorpelige Masse, die vom Epiphysenknorpel
auf den Hals übergeht, nur zum Theile geplatzt ist und daher die
Fracturenden zum Theile Zusammenhalte. Ebenso wiesen K i r-
m i s s o n und Royal - Whitman in Fällen von Coxa vara
Epiphysenlösung oder Fracturen nach, die nach ihren Unter¬
suchungen auch im jugendlichen Alter nicht so selten sein sollen,
als man bisher annahm.
Die bis jetzt erwähnten Fälle von Coxa vara traumatica be¬
trafen das Pubertätsalter; Joachimsthal theilt einen Fall mit, wo
ein ganz geringes Trauma (Sprung durch einen Reifen) bei einem
Kinde eine Epiphysenlösung mit den Symptomen einer Coxa vara
erzeugt hat und Kredel konnte trotz nachgewiesener Epiphysen¬
lösung bei einem 4'/2jährigen Kinde ein Trauma überhaupt nicht
finden, so dass er annimmt, dass die Epiphyse sich auch spontan
oder bei minimalen Traumen lösen könne (ähnlich wie bei Tabes die
Spontanfracturen entstehen).
Kocher (Discussion am Chirurgencongresse 1899) steht auf
dem Standpunkte, dass eine Coxa vara durch subcapitale Schenkel-
halsfractur allmälig und durch Epiphysenlösung plötzlich entstehen
könne. Aber auch bei erwachsenen Leuten, bei denen das Knochen¬
wachsthum bereits vollendet ist und daher die Epiphysenlinie als
locus minoris resistentiae nicht mehr besteht, kann ein Trauma zu
einer Verkrümmung führen, wie wir dies aus Su deck’s Fall er¬
sehen. Es handelte sich um einen 38jährigen Bahnarbeiter, der beim
heftigen Spreizen der Beine plötzlich Schmerzen verspürte und durch
10 Tage bettlägerig war und dann wieder seine Arbeit aufnahm.
Vier Monate darauf konnte man eine Verkrümmung des Schenkel¬
halses constatiren. Sudeck nimmt an, dass das Trauma möglicher
Weise einen Sprung im Schenkelhälse erzeugte, und dass der Patient,
noch bevor eine gehörige Ausheilung da war, seine Extremität un¬
gehörig belastete, wodurch die Verkrümmung eintrat. Er stellt daher
den Fall in Analogie mit der Kümmel’schen Wirbelsäulenerkran¬
kung. Auch Thiem vertritt den Standpunkt, dass Fractur des
Schenkelhalses noch nachträglich zur Verkrümmung führen könne,
ein Punkt, welcher mit Rücksicht auf die Unfallversicherung eine
besondere Bedeutung erhält.
Auf ein anderes ätiologisches Moment hat May dl hingewiesen;
er beschrieb zwei Fälle von A r t h r i t. deform, der Hüfte bei
jugendlichen Individuen, die wegen ihrer grossen klinischen Aehn-
lichkeit von Coxa vara schwer zu unterscheiden waren; die Diagnose
konnte erst während der Operation gemacht werden. Aehnliche Fälle
sahen auch Charpentier und Kirmisso n.
Auch im Gefolge von Osteomyelitis kann sich Coxa vara
ausbilden (V o 1 k m a n n, Schede und Stahl, Diester weg,
Oberst), natürlich ist dies nur so lange möglich, als der Process
sich im acuten Stadium befindet. Die Prävalenz der Verkrümmung
am oberen Femurende erklärt sich, wenn man bedenkt, dass wohl
nirgends am Skelet eine so energische, zur Deformirung eines ab¬
norm weichen Knochens geeignete Muskelaction stattfindet, wie hier.
Begünstigt wird die Entstehung der Verkrümmung, wenn die osteo¬
myelitischen Herde zahlreich sind und nahe nebeneinander liegen.
Ebenso kann es im Verlaufe einer Tuberculose des oberen
Femurendes zu einer Verkrümmung kommen, wie wir aus dem
Falle ersehen, den Alsberg aus der Klinik Hoffa veröffentlicht
hat, und wo die Deformirung nur den Hals betraf, während der Kopf
ganz intact war.
Am Chirurgencongresse 1897 referirte Küster über einen
Fall von Coxa vara, als deren Ursache er eine Ostitis fibrosa
annahm. Das obere Ende des Femur war wie ein Hirtenstab ver¬
krümmt, dabei standen Schenkelhals und Kopf in spitzem Winkel
nach abwärts; im mikroskopischen Bilde sah man das Fettmark
stellenweise durch neugebildetes Bindegewebe verdrängt, das sich an
vielen Stellen in Knochensubstanz verwandelt, während an anderen
Stellen Knochenresorption durch Riesenzellen stattfand.
Der Fall ist insoferne selten, als die Veränderung nur aut einen
Knochen beschränkt war.
Der Vollständigkeit wegen müssen wir noch einige ätiologische
Momente erwähnen, die, wenn auch ziemlich selten, zur Entstehung
der Coxa vara Anlass geben können:
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Joachimsthal hat auf Grund eines Präparates nachge¬
wiesen, dass eine Verkrümmung des Halses auch entstehen könne
bei vollständig gesundem Knochen, aus rein functionellen
Gründen, durch veränderte Inanspruchnahme des Knochens, indem
er bei einer mit Adduction geheilten Fractur des Oberschenkels eine
Verminderung des Neigungswinkels bis auf 90° sah.
Jabo u lay wieder meint, dass manche Fälle von Coxa vara
verursacht werden durch ungleiche Länge der Beine. Das län¬
gere Bein wird stärker belastet, dadurch wird entzündliche Gelenks¬
reizung verursacht, die die Spasmen und die Erweichung erzeugt;
in Folge letzterer rücke der Schenkelkopf nach abwärts. Bei einer
sitzenden, wenig anstrengenden Lebensweise käme es trotz un¬
gleicher Länge der Beine nicht zu diesen Folgen, dieselben stellen
sich erst bei schwerer Arbeit ein. Eine ähnliche stärkere Beanspru¬
chung des gesunden Beines nimmt Albert in den Fällen an, wo
bei einer angeborenen Luxat. cox. auf der einen Seite, eine Coxa vara
auf der anderen Seite entsteht. »Durch die starke Beanspruchung
wird eine wagrechte Stellung des Halses (eventuell auch Torsion)
bewirkt.«
Royal-Whitman nahm an, dass die Coxa vara adolesc.
nur eine excessive Steigerung eines normalen Pro¬
cesses sei, der zur Pubertätszeit den Schenkelhalswinkel ein wenig
strecke. Endlich wäre noch zu erwähnen, dass es Ghillini auf ex¬
perimentellem Wege durch Verletzung des Epiphysenknorpels
am oberen Femurende Coxa vara mit dem ganzen Symptomencom-
plex (Verbiegung des Halses, Verkürzung des Beines, Ilochstand und
llervorstehen des Trochanter maj.) zu erzeugen gelungen ist.
Wie wir also sehen, kann Coxa vara in jedem Alter (ange¬
boren, im Kindesalter, in der Pubertät, bei Erwachsenen und bei
Greisen) entstehen und durch die verschiedensten Ursachen hervor¬
gerufen werden, so dass in neuerer Zeit der Begriff Coxa vara von
Alsberg und anderen Autoren rein anatomisch aufgefasst wird
und nicht, wie Kocher es vorschlug, Coxa vara nur jene Fälle von
statischer Verkrümmung in der Pubertät zu nennen, die an der
Grenze zwischen Hals und Kopf eine Knickung nach unten und
hinten zeigen.
Von pathologisch-anatomischen Befunden wäre noch Asymmetrie
des Beckens im Sinne einer verminderten Querspannung auf der
kranken Seite zu erwähnen, die H o f m e i s t e r mittelst Röntgen-
Verfahrens bei Coxa vara fand, welchen Befund er mit dem coxalgi-
schen Becken der Geburtshelfer in Analogie stellt.
Ausser den grob-anatomischen Veränderungen fand eine An¬
zahl Beobachter noch Veränderungen in der inneren Architektur des
Knochens. Von den Befunden, die auf Osteomalacie, Rachitis und
Ostitis iibrosa schliessen Hessen, haben wir bereits Erwähnung ge-
than. Müller und Hofmeister fanden den Ada m’schen Bogen
verdickt und das Stützbälkchensystem verändert, als Zeichen der ge¬
änderten Function des Knochens; in dem Theile des Kopfes, der
ausser der directen Druckrichtung lag, war hingegen eine Lockerung
der Spongiosa zu constatiren. Mittelst des Goch t’schen ') Verfahrens
(Röntgen-Photographie von Knochenscheiben der resecirten Schenkel¬
hälse) land Hofmeister ausser der früher erwähnten Verschie¬
bung des Knochenbälkchensystems noch eine Veränderung in der
Epiphysenlinie in der Weise, dass sie bei Coxa vara eine mondsichel¬
förmige Durchschnittsfigur gibt, während sie sonst mehr gerade ge¬
streckt verläuft. Aehnliche Befunde fand Sprengel in seinen Fällen
von Coxa vara traumat. in Folge Epiphysenlösung.
Symptome und Mechanik.
Als Beispiel der Coxa vara wollen wir einen Fall dieser De-
formität schildern, wie er sich im Pubertätsalter zu entwickeln pflegt.
Bei einem jugendlichen Individuum mit kräftigem Knochenbau,
das im Gegensätze dazu nur schwach entwickelte Musculatur besitzt
und oft kalte cyanotische Extremitäten zeigt (Hofmeiste r), ent¬
stehen — manchmal ohne dass die Patienten eine Ursache für ihre
Krankheit angeben können, ein anderes Mal wieder auf ein directes
oder indirectes Trauma der Hüfte — Ermüdbarkeit bei längerem
Gehen, sowie Schmerzen in der Hüfte und im Knie und endlich Hinken,
das sich namentlich nach grösseren Anstrengungen einzustellen pflegt.
Die Schmerzen sind oft so heftig, dass die Patienten für Wochen
bettlägerig werden. Die Patienten haben gewöhnlich früher trotz ihres
jugendlichen Alters schwere Arbeiten verrichtet (Landarbeiter, Käser).
') Fortschritte auf dein Gebiete der Könige n-Strahlen. 13d I.
Wenn man um diese Zeit dieLeute untersucht, Findet man keine Verände¬
rungen bis auf leichte Fixation desllüftgelenkes bei brüskeren Bewegun¬
gen. Auf Ruhe bessert sich der Zustand, um bei Wiederaufnahme der
Arbeit sich wieder zu verschlimmern. Wenn man einige Monate später
untersucht, findet man bereits den ausgebildeten Symptomencomplex
der Coxa vara. Das kranke Bein ist gewöhnlich kürzer, der Trochanter
maj. steht über der Roser-Nelato n’schen Linie, das Bein ist
gestreckt, adducirt und nach aussen rotirt; Abduction behindert, Ad¬
duction gewöhnlich frei (nur in schweren Fällen ebenfalls behindert).
Aussenrotation möglich, Innenrotation gestört, Flexion gewöhnlich
frei; Druck auf die Gelenksgegend ist nicht schmerzhaft. Nur in
seltenen Fällen steht das Bein in Innenrotation und Abduction. Die
Inspection der Gesässgegend zeigt, dass dieselbe auf der kranken
Seite abgeplattet ist. Der Trochanter maj. steht nach aussen vor.
In hochgradigen Fällen sind noch andere interessante Sym¬
ptome zu sehen: Patient kreuzt die Beine beim Gehen und kann
entweder gar nicht knieen oder nur mit gekreuzten Beinen. Ogston
und Hofmeister haben auf ein sehr prägnantes Symptom hin¬
gewiesen: Im Stehen des Patienten geht die Beugung in der Hüfte
normal vor sich, bis der Fuss die Höhe des gesunden Knies erreicht,
dann dreht sich der Oberschenkel derart in der Hüfte nach aussen,
dass der Fuss sich rasch über das gesunde Knie hinweg nach der
anderen Seite stellt und daher die Steilung bekommt, wie sie die
Schneider bei der Arbeit einnehmen. Oft kann man auch das Tren¬
del e n b u r g ’sehe Symptom wie bei einer Luxat. cox. congen.
beobachten: Wenn nämlich der Patient auf dem kranken Bein stellt,
sinkt das Becken auf der gesunden Seite herunter und der Patient
ist nicht in der Lage, das Becken zu heben.
Auf Grund dieser Symptome wird man gewöhnlich in der Lage
sein, die Diagnose »Coxa vara« zu stellen. Es fehlt aber auch nicht an
Mitteln, ein Mass für die Grösse der Varitas zu bestimmen. So weit
dieselbe durch Veränderungen am proximalen Femurabschnitt gegeben
ist, lässt sie sich anatomisch am Knochenpräparat durch den von
Alsberg angegebenen »Richtungswinkel« bestimmen. »Je kleiner
der Winkel, desto grösser die Varusstellung.« Im Mittel beträgt der
Winkel 4P5". Diese Methode hat den Vorzug, dass sie nicht nur am
Knochenpräparat, sondern auch am Rön tgen-Bild angewendet werden
kann. Will man hingegen die Varitas klinisch determiniren, so
kann man nach dem Vorschläge Albe rt’s versuchen, zu bestimmen,
um wie viel und in welcher Weise der Excursionskegel des Femur
eingeschränkt ist, Unter normalen Verhältnissen ist der Querschnitt
des Excursionskegels einer Ellipse gleich, bei manchen Formen der
Coxa vara bleibt von derselben nur ein halbmondförmiger Streifen
des Adductionsgebietes zurück, innerhalb welchen Streifens die
Beugung und Streckung in normalem Masse ausführbar sind. Albert
versuchte diese Beschränkung auf Planiglobennetzen graphisch dar¬
zustellen, während Hübscher sich zur Messung des Perimeters
bedient und die Befunde auf den in der Augenheilkunde zur Ein-
Zeichnung perimetrischer Befunde angewendeten Schemen darstellt.
Wenn wir die interessanten Symptome der Coxa vara erklären
wollen, müssen wir auf pathologische Anatomie des Processes zurück¬
kommen. Es ist klar, dass der Hochstand der Trochanter und die
reelle Verkürzung des kranken Beines durch die Abflachung des
Schenkelhalses, also durch die Krümmung nach abwärts, wodurch
das Bein an seiner Gesammtlänge einbüsst, verursacht wird (M ü 1 1 e r,
Hofmeister u. A.)
Ogston, der sich schon vor Hofmeister mit den Ver¬
änderungen am Schenkelhälse und -köpfe beschäftigt hat, macht
darauf aufmerksam, dass die einfache Bestimmung, um wieviel Centi¬
meter der Trochanter über der Roser-Nelaton ’sehen Linie stehe,
nicht genau sei und dass die Bruyan t’sche Messung diesbezüglich
bessere Resultate liefere. Wenn man bei horizontaler Lage des
Patienten die Spina ant. sup. markirt und von hier mittelst Loth eine
Verticale nach abwärts zieht, dann den Trochanter markirt und von
hier eine Linie zieht, die die frühere unter rechtem Winkel schneidet
und zuletzt Spina ant. sup. und Trochanter durch eine Linie verbindet,
entsteht das sogenannte Bruyan t ’sehe Dreieck, das bei normaler
Hüfte ein rechtwinkeliges und gleichschenkeliges ist. Wenn der
Trochanter hinaufrückt, oder nach auswärts oder einwärts verschoben
wird, werden die Katheten in ihrer Länge verändert und das Dreieck
wird ungleicharmig. Hofmeister, welcher die grössere Genauig¬
keit der B r u y a n t’schen Messung zugibt, zeigt jedoch, dass die¬
selbe keinen Anspruch auf absolute Sicherheit erheben könne, da
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nicht nur die Verschiebung des Trochanters oder der Spina das
Dreieck ungleicharmig mache, sondern auch jede Aenderung in der
Beckenneigung dieselben Folgen erzeuge. (Bei Neigung von 45° ist
das Dreieck gleichschenkelig.) Jedenfalls ist diese Messung von grosser
Wichtigkeit zum Vergleiche mit der gesunden Seite. Incongruenz der
Dreiecke beider Seiten weist auf pathologische Störungen hin.
Die Behinderung der Abduction, welche eine der wichtigen
Symptome der Coxa vara darstellt, erklärt sich aus der Richtungs¬
änderung des Schenkelhalses, mit welcher Hand in Hand eine Ver¬
schiebung des Schenkelkopfes einhergeht (Hofmeister), »denn der
Gelenkskopf steht schon bei normaler Stellung (oder bei besonders
hohen Graden der Deformation, sogar bei leichter Adduction) des
Beines an der äussersten Grenze der Abduction, es ist also nach dieser
Richtung die Excursion schon vollständig verbraucht, wenn der Fuss
sich von der Mittellinie noch gar nicht entfernt hat, während für die
entgegengesetzte Bewegung der ganze Umfang des Gelenkskopfes
verfügbar ist.«
Die Beschränkung der Adduction, die sich bei hochgradiger
Coxa vara einstellen kann, wird am häufigsten durch directes An-
stossen des Trochanters min. am Becken erzeugt, indem der Kopf oft
förmlich abgeknickt und dem kleinen Trochanter bis auf einen
schmalen Spalt genähert wird unter ganz bedeutender Ver¬
kürzung der unteren Kante des Schenkelhalses.
Die Auswärtsrotation und Beschränkung der Innenrotation
wird ähnlich wie die Abductionsbehinderung, durch die Krümmung
des Schenkelhalses nach hinten und die dadurch bedingte Ver¬
schiebung der Articulationstläche im Sinne der Aussenrotation erklärt
(Hofmeister) und da der Patient in der Ruhe instinctiv das Bein
so weit nach innen dreht, um die Patella mehr nach vorne zu bringen,
wird durch diese Drehung die physiologische Breite der Innenrotation
eingeschränkt oder die Bewegung ganz aufgehoben. Die Krümmung
des Schenkelhalses nach hinten verursacht auch die früher erwähnte
Kreuzung der Beine bei Beugung.
Die Drehung des Kopfes um die Achse des Halses erklärt
endlich die Strecksteilung und die manchmal auftretende Behinderung
der Flexion.
Die früher erwähnten ziemlich seltenen, hauptsächlich von
Hofmeister und Nasse beschriebenen Fälle von Coxa vara, die
mit Innenrotation einhergehen, sind nach ähnlichen Principien durch
die Krümmung des Halses mit der Concavität nach vorne zu erklären.
Wie wir also sehen, ist es immer die Verschiebung der Articulations-
fläche des Kopfes, der viele Autoren die wesentlichste Einflussnahme
auf die Einschränkung der Beweglichkeit zuschreiben.
Ein anderer Theil der Beobachter (Kraske, Borchard,
Scho e mack er) sah theils auf Ruhe in so kurzer Zeit die Beweg¬
lichkeit sich bedeutend bessern, theils die Bewegungshindernisse in
Narkose plötzlich ganz verschwinden, dass sie geneigt sind, die
Hindernisse entweder in einer krankhaften Muskelspannung oder
Dehnung und Zerrung der Bänder zu suchen. Diese Autoren stellen
die Coxa vara in Analogie mit dem entzündlichen fixirten Platlfuss,
ein neuer Beweis für die Natur der Coxa vara als Belastungsdeformität.
Auch Albert ist geneigt die Abductionsbehinderung durch
Muskelcöntractur (der Adductoren) zu erklären, die durch das Hinaus¬
gleiten des Kopfes nach unten aus der Pfanne und den damit ver¬
bundenen dauernden Insult der unteren Kapselpartien durch den an¬
drängenden Kopf hervorgerufen wird. Ob dabei der vom Nervus
obturator, zur Hüftgelenkskapsel tretende Nerv in Betracht kommt
ist fraglich.
Der in der Narkose zurückbleibende Theil der Bewegungs¬
behinderung muss nicht immer in toto auf Kosten der Knochen¬
deformität gesetzt werden, sondern kann noch die Folge sein einer
nutritiven Verkürzung der Musculatur (II ofmeister) und als Beweis
können die Fälle dienen, wo nach der Osteotomie das Bein nicht in
die Abductionsstellung gebracht werden konnte, bevor die Adductoren
durchschnitten wurden (K e 1 1 1 e y, Nasse).
Andererseits hat II e n 1 e in der Discussion über Coxa vara
am Chirurgen-Congress im Jahre 1899 darauf hingewiesen, dass
Mikulicz in vier Fällen von Coxa vara bei der Operation an der
oberen Kante des Schenkelhalses einen Knochenrand angetroflen hat,
der in Folge Anstossens am Becken bei der Abduction ein Hinderniss
für diese Bewegung abgab und ausserdem einen zweiten Knochenrand,
der die Innenrotation hinderte. Die Abmeiselung dieser Vorsprünge
hatte jedes Mal den gewünschten Erfolg, dass die Bewegungen in aus¬
giebigem Masse möglich wurden.
Das Trendelcnburg’sche Symptom findet nach Als¬
berg seine Erklärung in dem Umstande, dass in Folge des
Trochanterhochstandes und noch mehr in Folge Riickwärtstretens
desselben das Verhältniss zwischen Ursprung und Ansatzpunkt der
pelvitrochanteren Muskeln dahin verändert wird, dass in allen
Stellungen die abducirende Componente der Beckenmuskeln ver¬
ringert wird und sogar gleich Null werden kann, die Adductoren
daher keine Kraft haben, das Becken in horizontaler Lage zu erhalten.
Diagnose.
Die Diagnose der Coxa vara wird auf Grund der classischen
Symptome (Verkürzung des Beines, Streckung in Parallelstellung oder
Adduction und Aussenrotation) gestellt, jedoch ist eine Verwechslung
mit anderen Hüftgelenkskrankheiten leicht.
Wie oft eine Verwechslung mit Coxitis Vorkommen kann, sehen
wir aus den Warnungen von Hofmeister, C h a r p e n t i e r,
Kirmisson, Albert und v. A. Von Vortheil für die Differential¬
diagnose ist manchmal die T h o m a s’sche Probe (0 g s t o n), die als
solche wenig bekannt ist und öfters Anwendung finden sollte. Beugt
man bei einem auf horizontaler Matratze liegenden Patienten den
Gesunden Oberschenkel stark in der Hüfte, so dass auch das Knie-
gelenk stark gebeugt gehalten wird trnd die Wirbelsäule, besonders
der Lendentheil, der Unterlage stark aufliegt, so kann man bei vor¬
handener Beugestellung der Hüfte, wie sie in der Regel bei Coxitis
besteht, die Kniekehle des kranken Beines nicht mit der Unterlage
in Berührung bringen. Diese unüberwindliche Beugestellung fehlt bei
Coxa vara.
May dl hat auf die mögliche Verwechslung mit Arthritis
deformans hingewiesen, die im jugendlichen Alter nach seinen Er¬
fahrungen nicht so selten ist und mit der Coxa vara eine Reihe von
Symptomen gemeinschaftlich hat (Beginn manchmal traumatisch im
jugendlichen Alter, schmerzhaftes Anfangsstadium, Functionsbehinde¬
rung, fehlerhafte Stellung, Verkürzung des Beines und Atrophie der
Musculatur). Zur Differentialdiagnose kann die Messung der Hüften¬
peripherie herangezogen werden, indem dieselbe eine Verbreiterung
im ersten Stadium der Coxa vara durch Hinausrücken des Trochanters
zeigt, während bei Arthritis deformans die Consumption des Kopfes
als Verkleinerung der Hüftenperipherie in Erscheinung tritt. Im vor¬
geschrittenen Stadium weist eine Besserung der Function auf Coxa
vara hin, während hei Arthritis deformans der Zustand kaum je spontan
besser werden dürfte.
Der Hochstand des Trochanters und das Vorhandensein des
Trend elenbur g’schen Symptoms sind der Grund, dass die Coxa
vara mit Luxat. cox. congen. verwechselt wurde (C h a r p e n t i e r,
Little, Alsberg). Kirmisson räth, in Fällen, die diagnostisch
nicht ganz klar sind, darauf zu achten, dass bei Coxa vara trotz des
Trochanterhochstandes das Centrum der Bewegung recht deutlich der
Pfanne entspricht, was bei congenitaler Luxation nicht der Fall ist.
Als sicheres Hilfsmittel zur Diagnose wird in neuerer Zeit die
Röntgen-Photographie herangezogen. Hofmeister, Rosenbaum,
Sprengel, II o f f a u. A. berichten über Fälle, wo die Vermuthungs-
diagnose Coxa vara nach der Durchleuchtung mit Röntgen-
Strahlen fallen gelassen wurde, oder andererseits über Fälle, wo erst
auf Grund des Rön tge mBildes die Diagnose gestellt werden konnte.
Ausserdem erwähnt Schneider einen Fall, wo die Coxa
vara unter dem Bilde eines Rückenmarksleidens (spastischer Gang)
verlief und von demselben unterschieden werden musste, und Brauer
theilt mit, dass, eine Coxa vara unter dem Bilde einer Muskelatrophie
verlief und dementsprechend durch zwei Jahre mit Elektricität be¬
handelt wurde. Die Diagnose wurde erst gestellt, als die Verkürzung
zum Vorschein kam.
Derselbe Autor macht auch auf die Schwierigkeiten aufmerksam,
welche die Differentialdiagnose zwischen Coxa vara und Coxalgia
sec. Wernher (Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. Bd. I) bieten kann.
Das. Krankheitsbild .der Coxalgia setzt sich aus neuralgiformen
Schmerzen, permanenter Reflexcontractur in einer Muskelgruppe, un¬
willkürlicher Fixation des Gelenkes, wie bei Ankylose zusammen,
wobei noch ein Zurückbleiben in der Entwicklung in Länge und
Dicke der Extremität zu bemerken ist. Die Krankheit hat also. einige
ähnliche Symptome, nur treten die neuralgischen Schmerzen bei
Coxa vara nicht so in den Vordergrund wie bei Coxalgie. Die fixation
508
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 22
des Gelenkes ist keine so absolute und die Verkürzung kommt erst
später zu Stande.
Therapie.
Das therapeutische Vorgehen ist ein verschiedenes, je nach
dem Stadium, in welchem sich der Process befindet.
Hei manchen Formen der Coxa vara kann die Prophylaxe
Einiges leisten (A 1 s b e r g). Schede und K r e d e 1 haben darauf
hin^e wiesen, dass die rachitischen Kinder im Bett mit auswärts ge-
drehten Beinen liegen, und dass diese dauernde Lage bei der Weich¬
heit der Knochen auf den Schenkelhals form verändernd wirken
könne. Eine Belehrung der Mütter und des Wartepersonals, dass
diese Lage oft zu wechseln ist, könnte von Vortheil sein. Ebenso ist
auch bei Osteomalacie durch richtige Lagerung der Beine und zeit¬
weise Extension eine Krümmung des Schenkelhalses hintanzuhalten.
Auch bei Arthritis deformans kann durch Massage und Gymnastik,
Spreizübungen, erhöhte Sohle am gesunden Bein, Schienenhülsen¬
apparat am kranken Bein zur Entlastung des Gelenkes mit einer Ab-
ductionsvorrichtung die Adductionsstellung verhindert werden,
Wenn die Krankheit einmal zum Ausbruch gekommen ist, hat
man im acuten Stadium zweierlei Indicationen zu erfüllen (H o f-
meister): 1. Durch Beseitigung der mechanischen Schädlichkeiten
die Beschwerden zu lindern, und 2. durch allgemeine Massnahmen
die Ausheilung des supponirten Knochenprocesses (Rhachitis) zu unter¬
stützen. Was den ersten Punkt anbetrifft, ist strenge Bettruhe und
Extension der Extremität entweder den ganzen Tag hindurch oder
während der Nacht indicirt, und es ist oft überraschend, wie schnell
die Schmerzen und das Hinken auf diese Therapie schwinden
(Schneider, F a b r i k a n t e). Durch diese Ruhelage wird die Ent¬
stehung der Verkrümmung verhindert. In leichteren Fällen genügt
zum Zwecke der Hintanhaltung der Beschwerden die Schonung des
Beines; man empfiehlt blos, grosse Märsche oder schwere Arbeit zu
meiden. Was den zweiten Punkt, die Ausheilung des Knochenpro¬
cesses, anbetrifft, hat sich die Besserung der hygienischen Ver¬
hältnisse und kräftige Kost wirksam erwiesen. Ausserdem wird gegen
die Rhachitis Phosphorleberthran gereicht und Sool- und Salzbäder
werden ebenfalls mit Vortheil angewendet.
Gegen die secundäre Atrophie der Oberschenkelmusculatur
und zur Kräftigung der Adductoren, deren Schwäche einen Theil der
Beschwerden verursacht, wird Massage mit gutem Erfolge ange¬
wendet; dieselbe hat auch den Zweck, die contracte Musculatur zu
entspannen. Denselben Zweck verfolgen auch die von Alsberg
empfohlenen gymnastischen Uebungen am Bock und das von Stokes
vorgeschlagene Reiten auf Eseln und Ponies. Sehr oft wird mit gutem
Erfolge eine T homa s’sche Schiene (v. H o f f a, Lehrbuch der ortho¬
pädischen Chirurgie) angewendet. Wenn diese therapeutischen Mass¬
nahmen lange Zeit geübt werden, tritt Heilung des Processes ein.
Fabrikante und Bayer sahen auf Extensionsbehandlung sogar
den bereits ausgebildeten Trochanterhochstand sich bessern; dies ist
natürlich nur möglich, so lange die Erweichung des Knochens
anhält.
Wichtig ist die Frage der Berufsänderung. Wir sehen, dass
die Coxa vara im Jünglingsalter als Belastungsdeformität bei Indivi¬
duen sich einzustellen pflegt, die sehr schwer arbeiten und es ist
vorauszusetzen, dass nach Ablauf der ersten acuten Erscheinungen
bei Wiederaufnahme des schweren Berufes die Beschwerden sich er¬
neuern werden und die Verkrümmung des Schenkelhalses fort¬
schreiten wird. Es wäre daher, so weit es die socialen Verhältnisse
des Patienten erlauben, eine Aenderung des Berufes zu empfehlen
und eine hauptsächlich sitzende Beschäftigung zu wählen. Leider
wird man diese Indication nur sehr selten erfüllen können.
Auch in schweren Fällen, wo die Verkrümmung bereits aus¬
gebildet ist und die Beschwerden grösstentheils auf Bänderzerrung
zurückzuführen sind, hat sich Ruhe, verbunden mit Extensionsbe¬
handlung, bewährt, indem die Leute nach einiger Zeit, trotz bestehen¬
der Verkrümmung wieder arbeitsfähig werden. Die Extension soll in
diesen Fällen bis zu 20 Pfund betragen (Bayer) und es soll ausser¬
dem am oberen Femurende ein Querzug angebracht werden, der
eine Rotation nach aussen bewirkt. Für die Fälle von Coxa vara
contracta hat Bore hard ausser Massage Cocaininjectionen em¬
pfohlen.
Wenn die Deformität sich bereits stabilisirt hat, kann eine
orthopädische Correctur versucht werden. Wenn die Verkürzung
und das Hinken die einzigen Beschwerden sind, genügt oft eine er¬
höhte Sohle am kranken Bein, um den Gang normal zu machen. Ist
die Verkürzung sehr gross und die Sohle daher sehr schwer, kann
man eine Abductionsschiene anlegen (Bayer) und durch Becken¬
senkung einen Theil der Verkürzung beheben. S c h u 1 1 z schlägt
vor, bei minder starker Verkürzung dem gesunden Bein eine erhöhte
Sohle zu geben, um das kranke Bein zu entlasten und vor Druck zu
schützen. Bore hard sah davon einmal einen Erfolg.
Die Beschwerden, welche die Folge der Adductionscontractur
sind, trachtet Vulpius durch forcirtes Redressement und, wenn
nothwendig, durch Tenotomie der Adductoren zu bessern (vide Als¬
berg).
Wenn die Knochendeformität sehr hochgradig ist, genügt die
bisher geschilderte Therapie nicht, sondern der Knochen selbst muss
den Angriffspunkt zur Correctur der Stellung abgeben. Zwei Ver¬
fahren sind es, die sich hier den Rang streitig machten und auf den
letzten Chirurgencongressen oft Anlass zu Debatten gaben, welches
Verfahren das empfehlenswertere sei, es ist dies die Resection
und die Osteotomie.
Die Resection wurde von Kocher für schwere Fälle em¬
pfohlen und ist zwölfmal ausgeführt worden (Müller, Kocher,
Hoffa, Herrmann-Rydygier, May dl, Nasse, Lauen¬
stein). Während Kocher den Kopf und Hals sammt Trochanter
resecirt, hat Sprengel die Resection mit Zurücklassung des Troch.
maj. vorgeschlagen. Hofmeister hat für die schweren Fälle eben¬
falls die Resection in Vorschlag gebracht, sonst empfiehlt er die
Osteotom, subtrochanterica, welche es ermöglicht, dass die
Deformität (Adduction und Aussenrotation) behoben werden könne.
Der K o c h e r’sche Vorschlag der Resection ist nicht ohne
Widerspruch geblieben. Kraske hielt den Eingriff für zu gross und
ungerechtfertigt, weil das Gelenk vollständig unverändert ist, und
da auch die Osteotom, subtroch. (Hofmeister) die pathologisch
veränderte Stelle unberührt lässt und auch das obere Femurende,
wo die Musculatur sich ansetzt, in seiner Lage unverändert bleibt,
daher die Operation nur eine Compensation der Deformität und nicht
eine Correctur derselben bewirkt, hat er statt derselben die Osteo¬
tomie am Schenkelhals mit Herausmeisselung eines Keiles
aus dem Halse mit der Basis vorne oben in Vorschlag gebracht und
auch ausgeführt. Kraske selbst hat darauf aufmerksam gemacht,
dass die Operation gewisse Nachtheile habe, indem dieselbe nicht
immer extracapsulär ausgeführt werden kann und daher die Gefahr
der Gelenksankylose in Folge Eröffnung der Gelenkskapsel bestehe.
Durch das Röntgen-Verfahren kann man sich schon vor der Operation
überzeugen, dass in vielen Fällen diese Gefahr besteht (Hofmeister),
da der Hals oft in toto, gewöhnlich aber an der unteren Kante so
verkürzt ist, dass es unmöglich ist, hier einen Keil herauszumeisseln,
ohne das Gelenk zu eröffnen. Die Operation, die ausser von Kraske
noch von Petersen, Nasse, Rydygier, Bardenheuer,
Bruns, Hofmeister ausgeführt wurde, weist mehrere Misserfolge,
wie Gelenksvereiterung und -Steifigkeit auf.
Um daher direct die kranke Stelle anzugreifen, ohne Gefahr
zu laufen, das Gelenk zu eröffnen, hat Büdinger die lineare
Osteotomie am Schenkelhals ohne Keilresection ausgeführt und
trachtete dann, das periphere Fragment in eine der Lage des cen¬
tralen Fragmentes entsprechende Abductionsstellung zu bringen, um
es in dieser Stellung anheilen zu lassen.
Um einem anderen Nachtheil des Kraske’schen Verfahrens,
nämlich der Verschiebung der Fragmente aneinander vorzubeugen,
hat Hofmeister die Osteotom, intertrochant. (Abtren¬
nung des Halses vom Troch. min.) vorgeschlagen, mit Zurücklassung
des sehnig-periostalen Ueberzuges an der Aussenseite, welcher die
Verschiebung unmöglich macht. Um keine Splitterung zu erzeugen,
welche sich beim Kraske’schen Verfahren einige Male verhängnis¬
voll erwiesen hat, benützt er zur Osteotomie die Gigli’sche Draht¬
säge. Denselben Zweck, keine Verschiebung zu gestatten, verfolgte
C h e y n e, indem er nach der Osteotomie das Bein in die gewünschte
Lage brachte und die Knochenfragmente mit einer Aluminiumplatte
übernagelte.
Ogston räth, die Deformität durch eine schräge Osteo¬
tomie im Troch. maj. oder dicht unterhalb derselben in annähernd
frontaler Richtung zu beheben oder die Fragmente so zu gestalten,
dass eines in das andere, wie ein Keil in einen Spalt hineinpasst, so
dass kein Klaffen der Fragmente nach Beseitigung der Adduction
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
509
eintritt. Das Hauptgewicht legt er auch auf die Verwachsung der
Knochen in Abductionsstellung.
H o f f a empfiehlt die Osteotom, subtroch. obliq.
(von aussen unten nach oben innen) mit breitem Meissei und hebt
als Vortheil dieser Methode hervor, dass 1. die Extension dann durch
Verschiebung der Knochen aneinander die reelle Verkürzung des
Beines aufhebt oder zum Mindesten verringert; 2. die Abduction in
beliebiger Weise ermöglicht wird, und 3. das Trendelenburg-
sehe Symptom verschwindet, indem in Folge Tiefertretens des Troch.
maj. die abducirende Componente der Zugkraft der vom Becken zum
Troch. verlaufenden Muskeln vergrössert wird.
Einen ganz anderen Angriffspunkt für die Operation wählte
Jaboulay. Er stellte sich in Opposition zur deutschen Auffassung
der Coxa vara und glaubt, dass die Aussenrotalion im Bereiche der
Diaphyse, also einigermassen eine Uebertreibung des normalen Ent¬
wicklungsvorganges, das Primäre sei, und dass dadurch erst die
Stellungsanomalie des Halses bedingt werde. Dementsprechend geht
seine Ansicht dahin, dass es verkehrt sei, am Hüftgelenk zu operiren,
und er räth daher zur Osteoklase des Femur und Correctur
der Stellung auf diese Weise.
Die Abmeisselung der die Abduction und Adduction hindern¬
den Knochenvorsprünge durch Mikulicz (H e n 1 e) haben wir be¬
reits an anderer Stelle gewürdigt.
In neuerer Zeit hat sich eine gesunde Reaction gegen das
frühzeitige und radicale Operiren bei Coxa vara geltend gemacht.
Schon Hofmeister rieth am Chirurgencongresse im Jahre 1897
auch bei hochgradigen Verkrümmungen die Indication zur Operation
mit Reserve zu stellen, da auch noch diese Beschwerden besserungs¬
fähig sind. Auch Nasse warf unter Hinweis auf die ungünstigen
Resultate der Operationen die Frage auf, ob man Coxa vara über¬
haupt noch operiren soll. Borchard wieder räth, im Hinweis
darauf, dass die Beschwerden der Coxa vara-Kranken zum grössten
Theil nicht von der Knochenveränderung herrühren, sondern nur
von den Muskelspasmen und im weiteren Hinweis darauf, dass das
Röntgen-Verfahren nur die Knochenveränderung und nicht die
Muskelcontractur anzeigt, vor jeder Operation längere Zeit mit
Massage und Extension zu behandeln und erst dann zu operiren,
wenn der Erfolg negativ ist, weil man erst dann sicher sein kann,
dass die Ursachen der Beschwerden in der Knochenveränderung
liegen. Charpentier rieth von der Operation ab, so lange der
Knochen weich ist und die Deformität sich nicht stabilisirt hat.
Eine wichtige Bestätigung ihrer Richtigkeit erhielten diese An¬
sichten der Anhänger einer mehr conservativen Therapie bei Coxa vara
durch die Befunde, die Hofmeister anlässlich der Nachuntersuchung
seiner Coxa vara-Patienten im Jahre 1898 erhob. Er constatirte nämlich,
dass die subjectiven Beschwerden nach mehreren Monaten bis zu
einigen Jahren ganz verschwanden oder so unbedeutend wurden,
dass die Patienten ihrem früheren Berufe nachgehen konnten, und
dass dieses günstige Resultat auch ohne jede weitere Therapie nur
bei Meidung der das Leiden veranlassenden Schädlichkeiten sich ein¬
stelle. Auch die zur Zeit der ersten Untersuchung vorhanden ge¬
wesenen Bewegungs- und Stellungsanomalien besserten sich bedeu¬
tend, namentlich die Flexion und Innenrotation (weniger die Abduc¬
tion), so weit, dass sämmtliche mit frühzeitiger Ankylose behaftet
gewesenen Patienten arbeitsfähig wurden. Ein Patient, der im An¬
fänge der Erkrankung nur mit gekreuzten Beinen knien konnte,
kniete bei der Nachuntersuchung wie ein Mensch mit gesunden
Beinen. Die Erklärung für die Besserung liegt darin, dass die früher
activ gespannte und nutritiv verkürzte Musculatur (Kraske) sich
besserte, möglich wäre aber auch, dass der Knochen allmälig
im Laufe der Jahre im Sinne der Correction sich umformte; diese
letztere Ansicht stützt Hofmeister auf Knochenpräparate von
Zeiss und May dl. Andererseits stellte Hofmeister die Opera¬
tionsresultate der bis dahin veröffentlichten Fälle zusammen und
fand eine Mortalität von 7*4°/0, was in Anbetracht des Umstandes,
dass die Operation die Besserung einer mangelhaften Function zum
Zwecke hat, als ein sehr ungünstiges Resultat betrachtet werden kann.
Hofmeister stellt daher den Grundsatz auf, dass die
Schmerzen nicht bestimmend sein dürfen für die Operation, weil sie
ganz verschwinden. Wenn die Untersuchung in Narkose eine bedeu¬
tende Besserung der Stellung ergibt, dann ist es für die Operation
zu frühe (weil dies als Zeichen der spastischen Contractor betrachtet
werden kann). Im Spätstadium ist die Indication zu einer eingreifen¬
den Operation selten gegeben, höchstens nur beiderseitige Fülle mit
hochgradigen Functionsstörungen verfallen der Operation.
THERAPEUTISCHE NOTIZEN.
Nach einem Berichte von Dr. K i n d 1 e r hat sich an der Ab¬
theilung von Prof. Goldscheider am Krankenhause Moabit fol¬
gende Behandlung der Unterschenkelgeschwüre ein¬
gebürgert: Das Geschwür wird aus einem 2 m hoch hängenden Irri¬
gator täglich ein- bis dreimal mit möglichst heissem Wasser durch
einen Schlauch ohne jedes Ansatzstück berieselt, dann trocken mit
Jodoform oder Dermatol verbunden. Die therapeutische Wirkung soll
durch eine Beeinflussung der trophischen Nerven zu Stande kommen.
— (Fortschritte der Medicin. 1900, Nr. 3.)
*
Die Behandlung des chronischen U n t er¬
sehe n k e 1 g e s c h w ü r e s. Von H. Baaz (Graz). Folgendes Ver¬
fahren hat Autor in 76 Fällen und immer mit Erfolg angewendet,
wenn die Patienten mit der nöthigen Ausdauer sich der Behandlung
unterzogen hatten. Fuss und Unterschenkel wird mit Schmierseife
und warmem Wasser gründlich gereinigt, das Geschwür und dessen
Umgebung mit Sublimat (10/oo) desinficirt, gut abgetrocknet und das
schmierig belegte Geschwür mit Jodoform, oder mit Orthoform und
Jodoform (1 : 4), statt letzterem auch mit Europhen bestäubt und zum
Schutze mit Silkprotectiv bedeckt. Die callöse, narbig veränderte Um¬
gebung des Geschwüres wird mit einer dicken Schichte L a s s a Fächer
Paste (Zinc, oxyd., Amyli puri aa. p. 1. Vaselini flav. p. 2) bedeckt
und über die lüste kommt eine nach der Reichlichkeit der Secretion
verschieden dicke Lage von steriler Gaze und Brun s’scher Watte.
Daiauf wird Mittelfuss und Unterschenkel mit Zinkleim (Zinci oxyd., Gelat.
aa. 20'0, Glycer., Aq. dest. aa. 80-0) bestrichen und in gleichem Um¬
fange mit einer zuerst nassgemachten, aber gut ausgedrückten, appre-
tirten Organtinbinde einmal eiugewickelt; darüber kommt wieder eine
Zinkleimschichte, dann wieder Organtin und wieder Zinkleim, bei
grossen Geschwüren etwa vier Lagen. Zum Schlüsse eine Calicotbinde.
Mit diesem Verbände kann der Patient herumgehen. Wird der Ver¬
band nicht mit Secret durchtränkt oder durch Schmutz verunreinigt,
so braucht er erst nach drei Wochen gewechselt zu werden. Wenn
das Ulcus bereits zu granuliren beginnt, verwendet man statt Jodo¬
form rothe Präcipitatsalbe, später Borsalbe, bei zu üppigen Granula¬
tionen Lapis. Ist das Geschwür geheilt, verwendet man zur Erzielung
einer festen Narbe den Zinkleimverband weiter, später genügt eine
einfache Tricotbinde. Besteht anfangs eine erysipelatöse Entzündung
in der Geschwürsumgebung, so wird diese zuerst bei Ruhelage des
Beines mit essigsaurer Thonerde behandelt. — (Volkmann’s Sammlung.
1900, Nr. 267.)
*
Das Dormiol, eine Chloral-Amylenhydratverbindung, wurde
bis jetzt durch drei Vierteljahre an der inneren Abtheilung des Prof.
Dinkier am Louisenhospital in Aachen bei den verschiedensten
Formen von Schlaflosigkeit, und zwar, wie Dr. Peters berichtet, in
den meisten Fällen mit gutem Erfolge angewendet; es soll zum min¬
desten ebenso gut wirken als Trional, ist aber billiger als dieses.
Dormiol ist eine ölige Flüssigkeit und wird in Gaben zu 0‘5, DO,
höchstens 2 0 in Form einer 10%igen wässerigen Lösung in Milch
oder Kapseln verabreicht. — (Münchener medicinische Wochenschrift.
1900, Nr. 14.)
*
(Aus der Universitätspoliklinik in München.) Ueber Oxy-
kamphe r. Von Dr. Neumayer, Das Mittel wurde in einer grösseren
Reihe von Füllen von Dyspnoe jeder Art und meistens mit sehr
günstigem Erfolge verwendet. Es bietet vor den sonst angewendeten
Narcoticis den Vortheil, dass es eine beruhigende Wirkung auf das
Athmungscentrum besitzt, ohne gleichzeitig irgendwie auf das Herz
oder Nervensystem schädigend einzuwirken. Die Dosis beträgt 40 Tropfen
Oxaphor (— 50%ige alkoholische Lösung des Oxykamphers) = lg
Oxykampher in einer nicht zu kleinen Menge Wasser bei nüchternem
Magen. Eine andere Form der Darreichung wäre : Oxykampher 1*0,
Spirit, vini 5 0, Aq. dest. 180'0, Syr. rub. id. 20 0. S. Esslöffel¬
weise zu nehmen. — (Münchener medicinische Wochenschrift. 1900,
Nr. 11.)
*
Dr. O v e r 1 a c h (Greiz) empfiehlt als Antidiarrhoicum eine
Formaldehydverbindung des seinerzeit in gleicher Weise öfter ange¬
wendeten Cotoin, das For to in, in Dosen von dreimal täglich 025
für Erwachsene. — (Centralblatt für innere Medicin. 1900, Nr. 10.)
Pi.
510
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 22
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Ernannt: Privatdocent Dr. Ilans Ko schier zum Vor¬
stände der laryngologischen und Privatdocent Dr. Eduard Spieg-
1 er zum Vorstande der dermatologischen Abtheilung an der allgemeinen
Poliklinik in Wien. — Prof. Karl Hess in Marburg zum a. o.
Professor der Augenheilkunde in Würzburg.
*
In Strass bürg wurde für das Sommersemester Professor
Dr. Ewald mit der Stellvertretung des Directors des physiologischen
Institutes, Prof. Goltz, und Privatdocent Dr. Manasse mit jener
des Directors der otiatrischen Klinik, Prof. Kuhn, beauftragt.
*
Verliehen: Dem Wundarzte Alois Furten hach Edlen
v. Schrcgenberg u. Levis in Wien, sowie dem Gerichts¬
wundarzte in Korneuburg, Jakob Klausmann, das goldene
Verdienstkreuz. — Dem Regimentsarzte Dr. Karl Wal ln er das
goldeno Verdienstkreuz mit der Krone. — Dem Regimentsarzte Dr.
Ferdinand Liebl der Stabsarztes-Character ad honores. — Dem
Badearzte in W i 1 d b a d - G a s t e i n, kaiserlicher Rath Dr. Eduard
Sch id er, der Character eines königlich preussischen Geheimen
Sanitätsrathes. — Dem Professor Dr. W. F. Löbisch in Inns¬
bruck die königlich preussische Erinnerungs-Medaille an Wilhelm I.
— Dem Privatdocenten Dr. Oskar Samt er in Königsberg
das Prädicat Professor.
*
Habilitirt: Dr. Schick für Ophthalmologie in II a 1 1 e a. S.
— Dr. Becco für topographische Anatomie und operative Medicin
in Genua. — Die Doctoren Guida und Somma für Pädiatrie in
Neapel.
*
Privatdocent Dr. G. Klemperer in Strassburg hat auf
die Venia legendi verzichtet.
*
Gestorben: Der Professor der Psychiatrie in Moskau,
Dr. S. K ors a k o w. — Der Gynäkologe Dr. G. A p o s t o 1 i in
Pari s.
*
Am 22. April d. J. waren es zehn Jahre, dass das k. k. zahn¬
ärztliche Institut der Wiener Universität eröffnet wurde, nachdem die
Leitung desselben den damaligen Privatdocenten Dr. Steinberger
und Dr. Scheff übergeben worden war. Aus der Brochure,
welche aus Anlass dieses zehnjährigen Jubiläums von Prof. Scheff
herausgegeben wurde, ersieht man die ausserordentliche Entwicklung,
welche dieses Institut seit seiner Gründung genommen hat. Die Zahl
der Hörer hat während dieses Zeitraumes 1221, jene der das Institut
frequentirenden Patienten 71459 betragen.
*
Eine Notiz in Nr. G2 der „Gaz d. osped.“ berichtet, dass im
vergangenen Jahre ähnlich wie bereits in Leipzig, Magdeburg, Erfurt,
Königsberg, Nürnberg u. a. 0. auch in Frankfurt Schulärzte auf-
gestellt wurden, von denen jeder alle 14 Tage eine ärztliche Inspection
der Schulkinder vorzunehmen hat. Jeder neu eintretende Schüler empfängt
nach vorgenommener ärztlicher Untersuchung ein Gesundheitsbuch •
wird eine Krankheit festgestellt, so erfolgt darüber eine Verständigung
an die Eltern und der Schüler wird je nach der Nothwendigkeit zeit¬
weilig oder gänzlich vom Schulbesuche ausgeschlossen. Wie empfehlens-
werth die Institution der Schulärzte ist, geht z. ß. daraus hervor,
dass von 547 in zwei Leipziger Schulen untersuchten Kindern 2 mit
Lungontuborculose, 1 1 mit Herzfehlern behaftet waren, 10 Verkrüm¬
mungen der Wirbelsäule aufwiesen, 63 an adenoiden Vegetationen,
75 an Gesichts- und 10 an Gehörstörungen litten. Der Bericht schliesst:
„Wann wird einmal auch in den Schulen Italiens eine ähnliche Vor¬
kehrung getroffen werden?“
*
Frauenarzt Dr. Otto T h. L i n d e n t h a 1 wohnt: IX., Günther¬
gasse 3.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 19. Jahreswoche (vom 6. Mai
bis 12. Mai 1900). Lebend geboren: ehelich 678, unehelich 335, zusammen
1013. Todt geboren: ehelich 42. unehelich 21, zusammen 63. Gesammtzahl
der Todesfälle 738 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
23 2 Todesfälle), darunter an Tuberculose 168, Blattern 0, Masern 15,
Scharlach 3, Diphtherie und Croup 4, Pertussis 5, Typhus abdominalis 2,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 1, Neu¬
bildungen 42. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
88 (-|- 26), Masern 311 (-(- 70), Scharlach 45 ( — 5). Typhus abdominalis
13 (-(- 3), Typbus exanthematicus 0 (=), Erysipel 27 ( — 4), Croup und
Diphtherie 40 (-|- 2), Pertussis 62 (-(- 13), Dysenterie 0 (=), Cholera 0
(=1, Puerperalfieber 2 ( — D, Trachom 2 ( — 12», Influenza 2 ( — 3).
Bei der Redaction eingelangte Bücher.
(Mit Vorbehalt weiterer Besprechung.)
Runge. Das Weib in seiner geschlechtlichen Eigenart. 4. Auflage. Springer,
Berlin. Preis M. 1. — .
Hoffa, Atlas und Grundriss der Verbandlehre. 2. Auflage. Lehmann,
München. Pieis M. 7. — .
Schaeffer. Atlas und Grundriss der Lehre vom Geburtsact. 5. Auflage.
Ibidem. Preis M. 8. — .
Bouchard, Brissaild, Traite de medecine. Tome IV. Masson, Paris.
Heftier, Le traitement balnco-mecanique des affections chvoniques du eoeur.
Doin, Paris. 89 S,
Goldman, Die Ankylostomiasis. Braumüller, Wien. Preis M. 1.40.
Fritsch, Die Krankheiten der Frauen. 9. Auflage. Wreden, Braunschweig.
Preis M. 13'60.
Karutz, Ueber den gegenwärtigen Stand der Ohrenheilkunde. Fischer, Jena.
Preis M. 0.60,
Hessler, Witterung, Sonnenscheindauer und Infectionskrankheiten. Ibidem.
Preis M. 1.20.
Bendix, Säuglingsernährung. (Berliner Klinik Nr. 141 ) Fischer, Berlin.
Preis M. 1.20.
Knopf. Les sanatoria. Carre & Naud, Paris. 495 S.
Buschan, Bibliographischer Semesterbericht der Erscheinungen auf dem
Gebiete der Neurologie und Psychiatrie. 5. Jahrgang, 1. Hälfte.
Fischer Jena. Preis M. 6. — .
Wahleyer, Die Bildnisse Friedrichs des Grossen. Hirschwald, Berlin.
24 S.
II neppe, Der moderne Vegetarianismus. Ibidem. 47. S.
Schwalbe, Jahrbuch der praktischen Medicin. 1900. 1. Heft. Enke, Stutt¬
gart. Preis M. 3. — .
Leyden v. und Blumenthal, Der Tetanus. (Specielle Pathologie und
Therapie, herausgegeben von Hofrath Nothnagel.) Holder, Wien.
Preis M. 1.80.
Noorden, Die Fettsucht. Ibidem. Preis M. 3.60.
Sternfeld. Ueber die sogenannte frühzeitige Extraction des sechsjährigen
Molaren. Künast, Wien. 63 S.
Böl'kner, Atlas von Beleuchtungsbildern des Trommelfells. 3. Auflage.
Fischer, Jena. Preis M. 10. — .
Kölliker, Die Gypsdrahtschiene. Vogel, Leipzig. Preis M. 0.60.
G litt mann, Die Augenkrankheiten des Kindesalters und ihre Behandlung.
Kornfeld Berlin. Preis M. 3. — .
Döllitz, Bericht über die Thätigkeit des k. Institutes für Serum forschung
und Serumprüfung zu Steglitz. Fischer, Jena Preis M. 0.60.
Bibliotheca internationalis, Bd. I: Lepra. Barth, Leipzig. Preis
M. 20.—.
Matthaei. Die Schädlichkeit massigen Alkoholgenusses. Tienken, Leipzig.
Preis M. 0.50.
Schönenberger, Wegweiser zur Ausführung ärztlicher Curvorscbriften,
Möller, Berlin. 58 S.
Trumpp, Die unblutige operative Behandlung von Larynxstenosen mittelst
der Intubation. Deuticke, Wien. Preis M. 3. — .
Peters, Die neuesten Arzneimittel und ihre Dosirung. 2. Auflage. Ibidem.
Preis M. 3.—.
Schiile, Ueber die Bedeutung der Oedeme in der Diagnostik und Therapie
innerer Krankheiten. Seitz & Schauer, München. 8 S.
Honigmann. Zur Pathologie der Erkrankungen des Wurmfortsatzes. Ibidem.
' 19 S.
Hoffa und Lilienfeld, Die Prophylaxe in der Chirurgie. Ibidem. 50 S.
Fischl, Die Prophylaxe der Krankheiten des Kindesalters. Ibidem. 76 S.
Blencke, Ueber orthopädische Apparate. Ibidem. 14 S.
Frank, Lehrbuch der Geburtshilfe für Hebammen. Deuticke, Wien.
236 S.
Adler nnd Krön fehl, Medicinisclie Chronik des XIX. Jahrhunderts. Perles,
Wien. Preis K 3.80.
Orth. Pathologisch-anatomische Diagnostic. 6. Auflage. Hirschwald, Berlin.
730 S.
Schoedel und Namverck, Untersuchungen über die M ö 1 1 e r- B a s e d o w*
sehe Krankheit. Fischer, Jena. 159 S.
Giordano, La chirurgia del pericardio e del cuore. Sangiovanni,
Napoli.
Gallois, La scrofule et les infections adenoidennes. Soc. d’editions scienti-
fiqttes. Paris. 313 S.
Pagel, Biographisches Lexikon hervorragender Aerzte des XIX. Jahrhunderts.
Urban & Schwarzenberg. 1. Lieferung.
Sänger und v. Herff, Encyklopädie der Geburtshilfe und Gynäkologie.
1. Lieferung. Vogel, Leipzig.
Strack, Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit. 5. — 7. Auf¬
lage. Beck, München. Preis M. 2.50.
Allchin, A manual of medicine. I. Vol. Macmillan, London. 442 S.
Hoffa, Technik der Massage. 3. Auflage. Enke, Stuttgart. Preis M. 3. — .
Borehardt. Grundriss der Physik. Ibidem. 2. Auflage. Preis M. 3.60.
Ehlers, Die Sterblichkeit im Kiudbett in Berlin und in Preussen 1877 bis
1896. Ibidem. Preis M. 5. — .
Obersteiner, Arbeiten aus dem Institute für Anatomie und Physiologie des
Centralnervensystems an der Wiener Universität. Heft 7: Mager,
Ueber Myelitis acuta. Dentüke, Wien.
Chrohak und Rosthorn, Die Erkrankungen der weiblichen Geschlechts¬
organe. I. Theil. Holder, Wien, Preis M. 16.80.
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
511
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
INHALT:
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 25. Mai 1900.
Verhandlungen des Physiologischen Clubs zu Wien. Sitzung vom
23. Januar, 6., 20. und 27. Februar, 13. und 27. März 1900.
Verhandlungen der Wiener dermatologischen Gesellschaft. Sitzung
vom 9. Mai 1900.
Naturwissenschaftlich-medicinischer Verein in Strassburg i. E. Sitzung
vom 12. Januar, 16. und 23. Februar 1900.
Verein deutscher Aerzte in Prag. Sitzung vom 1. December 1899,
12., 19. und 26. Januar, 1., 9. und 23. Februar 1900.
2. Oesterreicliischer Balneologen-Congress zu Ragusa und Ilidze.
(Fortsetzung.)
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
Sitzung vom 25. Mai 1900.
Vorsitzender: Prof. Dr. Czokor.
Schriftführer : Docent Dr. Alt.
Der Vorsitzende begrüsst als Gast den Herrn Geheimrath Brieger
aus Berlin.
Prof. Weinlechner stellt einen 20jährigen Eisendreher vor,
welcher sich am 31. März d. J. in selbstmörderischer Absicht aus
einem 9 «m-calibrigen Revolver eine Kugel in die rechte Wange
geschossen hat. Man fand eine sternförmige Einschussöffnung,
schwarz verfärbt und von Pulverschmauch umrandet, je 3 cm unten
vom rechten Processus zygomaticus und von der Ohrmuschel entfernt.
Mit der Sonde fühlt man in der Tiefe von 4 cm einen harten Gegen¬
stand, welchen man für eine Kugel halten konnte. Nach Erweite¬
rung der Wunde durch einen 4 cm langen Schnitt gelangt man durch
ein für die Spitze des kleinen Fingers durchgängiges, rundes Loch im
aufsleigenden Kieferaste auf mehrere kleine Knochenstücke, welche
mit der Kornzange ausgezogen wurden. Hinter dem linken Arcus palato¬
glossus fand sich ein einfaches gerissenes Loch, in welches man mit
der Fingerspitze eindringen konnte. Unter dem linken Kieferwinkel
etwa 4 cm unter dem Warzenfortsatze ist der Kranke vor und hinter
dem Kopfnicker gegen Druck empfindlich.
Am 9. April wurde durch einen 4 cm langen und ebenso tiefen
Schnitt die deformirte Kugel hinter dem Kopfnicker nach dem von
Dr. Stöckel angefertigten Röntgen- Bilde vorne an den Querfort¬
sätzen des zweiten und dritten Halswirbels blosgelegt und mit der
Kornzange entfernt. Naht, Drainage. Heilung per primam. Die Ein¬
schussöffnung ist jetzt nahezu geheilt und führt nach oben und in die
Tiefe, ohne auf rauhen Knochen zu stossen. Das Röntgen-Bild hat beim
Aufsuchen der Kugel wesentliche Dienste geleistet. Die Oeffnung in
der Gegend des Arcus palatoglossus war, wie erwähnt, nur einfach,
und ist beim Durchschlagen der Kugel nach links und unten ent¬
standen, indem die Schleimhaut beim Vorbeistreichen einriss.
Hierauf demonstrii te Weinlechner einen 20jährigen Arbeiter,
welcher am 21. April von einem unbekannten Tbäter in die rechte
Halsseite gestochen wurde. Es fand sich eine 21/2 cm lange Einstich¬
öffnung hinter dem rechten Unterkieferwinkel,
gleichzeitig war die rechte Gesichtshälfte gelähmt.
Der Kranke blutete stark, und da auf wiederholte Tamponado die
Blutung nicht stand, so wurde am 6. Mai die Carotis communis ober
dem Omohyoideus blossgelegt, mit einer Klemme, die vorher mit Drain¬
röhrchen überzogen war, provisorisch comprimirt, in der Absicht, die
Carotis externa aufzusuchen und zu ligiren. Da nun aber während
der Compression die arterielle Blutung nicht stand, so wurde die Ein-
stichötfnung bis zur Carotiswunde erweitert, die aus einem kleinen Loche
spritzende Maxillaris interna lospräparirt und doppelt unterbunden,
hierauf die Klemme entfernt. Die Vermuthung, dass diese Arterie
angestochen sei, basirte auf der gleichzeitigen Lähmung des Facialis.
Eine vollständige Trennung dieser Arterie war wegen der Frucht¬
losigkeit der wiederholten Tamponade ausgeschlossen. Eine schöne
Aufgabe wäre os, die Facialisstümpfe aufzusuchen und durch die
Naht oder eine Neuroplastik die Lähmung zu beheben. Vorläufig ist
der Kranke hiezu nicht entschlossen.
Docent Dr. Hermann Schlesinger demonstrirt einen Fall von
spontan ausgeheiltem tuberculösem Pneumothorax.
Der 27jährige Kranke wurde im December v. J. bei ruhiger
Comptoirarbeit ohne vorausgegangene Beschwerden, ohne Hustenreiz
oder Trauma von einer stetig zunehmenden Athemnoth befallen, welche
so heftig wurde, dass Patient in den nächsten Stunden an Erstickungs¬
anfällen litt und die darauf folgenden Nächte ausserhalb des Bettes
zubringen musste.
Als Vortragender vier Tage nach Krankheitsbeginn pro consilio
mit Dr. Thaler und Dr. Elsen w enger den Patienten sah, waren
alle classischen Zeichen eines linksseitigen Pneumothorax vorhanden
(Verlagerung des Herzens nach rechts, hypersonorer Percussionsschall
auf der linken Seite, Vorwölbung der linken Brusthälfte, metallisch
klingender Schall bei Stäbchen-Plessimeterpercussion, amphorisches
Athmen, metallischer Nachklang beim Sprechen).
Auffallender Weise fehlte das Succussionsgeräusch, obgleich das
Geräusch dos fallenden Tropfens vorhanden war. Eine Verwechslung
mit einer anderen Affection (subphrenischer Abscess, enorm ausgedehnter
Magen) konnte ausgeschlossen werden.
Die Erscheinungen blieben etwa 14 Tage in gleicher Wtise
besteben, dann verschwanden die metallischen Phänomene. Allmälig
erfolgte die Resorption der ausgetretenen Luft und Wiederausdehnung
der Lunge und circa drei Monate nach Krankheitsbeginn war das Herz
an normaler Stelle; der Percussionsschall war allenthalben normal, die
Lungenränder beiderseits gleich verschieblich, allenthalben vesiculäres
Athmen.
Der Kranke war in der Zwischenzeit wegen einer zweifellos
specifisehen, aber nicht weit vorgeschrittenen Lungenspitzenaffection
einer Luftliegecur unterzogen worden und hafte sehr erheblich an
Gewicht zugenommen; der Lungenspitzenkatarrh war entschieden
gebessert.
Vortragender erinnert daran, dass er vor mehreren Jahren einen
spontan ausgeheilteu Fall von Pneumothorax nach Durchbruch eines
jauchigen Empyems in die Lunge vorgestellt habe. Der heutige Fall
sei gleich dem ersten als ungemein selten zu bezeichnen und sind
solche Beobachtungen erst in relativ geringer Zahl mitgetheilt. Auf¬
fallend ist auch das vollkommene Fehlen eines Exsudates. Der Krank-
lieitsverlauf erinnert hiedurch, sowie durch die relativ rasche Resorption
der Luft am ehesten an die so oft günstig verlaufeudenden Beob¬
achtungen von traumatischem Pneumothorax.
Dr. Latzko stellt eine an O t e o m a 1 a c i e leidende Kranke
vor, an der am 9. October 1899 wegen beiderseitiger Adnextumoren
die vaginale Radicaloperation ausgeführt wurde. Das linke Ovarium
konnte nicht im Ganzen exstirpirt weiden, so dass höchstwahrscheinlich
ein kleiner Ovarialrest zurückblieb. Im Anschlüsse an die Operation
trat zunächst eine wesentliche Verschlimmerung der osteomalacischen
Beschwerden auf und dauerte es mehrere Monate, bis die Patientin
wenigstens den Status quo ante erreichte. Derzeit befindet sie sich
subjectiv und objectiv um nichts besser als vor der Operation.
Diese Thatsache könnte in Anbetracht des zurückgelassenen
Ovarialrestes selbstverständlich erscheinen; sie ist es aber keineswegs.
So wie man sieht, dass nach Exstirpation des Uterus trotz Zurück¬
lassung eines Ovariums Anfallserscheinuugen auftreten, dass also ge¬
wisse Ovarialfunction mehr minder rasch nach Entfernung des Uterus
erlöschen können, so kann auch die Osteomalacie nach Entfernung
des Uterus trotz Zurücklassung eines Ovariums ausheileu. Nothwendige
Voraussetzung ist in einem solchen Falle nur, dass jene uns unbe¬
kannte Function des Ovariums, welche wir als hypothetische Ursache
der Osteomalacie betrachten, nach dem Fortfall des Uterus erlischt.
Thatsächlich hatte die erste in Wien von Spaeth ausgeführte
Por ro-Operation trotz Zurücklassung der Ovarien vollständige Heilung
der bestehenden Osteomalacie zur Folge. Der Vortragende hat mehrere
Male bei Totalexstirpationen an Osteomalacischen, die aus verschie¬
denen Indicationen (Carcinom, Myom etc.) ausgeführt wurden, experi-
menti causa ein Ovarium zurückgelassen. Während einmal der Verlauf
dem des vorgestellten Falles entsprach, trat in dem anderen (Aether-
narkose) rasche Besserung und endliche Heilung ganz wie bei Castra¬
tion ein.
In dem vorgestellten Falle wird nunmehr die Phosphortherapie
mit sicherer Aussicht auf Erfolg eingeleitet werden.
512
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 22
Dr. Emil Kraus bringt eine vorläufige Mittheilung
über Gonococcenbefunde im Uterusgewebe. (Erscheint
demnächst ausführlich in dieser Wochenschrift.)
Prof. Englisch beginnt seinen angekündigten Vortrag: Zur
Hypertrophie der P r o s t a t a.
Verhandlungen des Physiologischen Clubs zu Wien.
Sitzung am 23. Januar 1900.
Vorsitzender: Herr Sigm. Exner.
Schriftführer: Herr Sigm. Fuchs.
Herr F. Schar dinger (als Gast) demonstriit die Trans¬
formation von Amöben in Flagellaten.
Die diesbezügliche Mittheilung wird in den Sitzungsberichten
der Wiener Akademie publicirt werden.
*
Sitzung am 6. Februar 1900.
Vorsitzender: Herr Sigm. Exner.
Schriftführer: Herr Sigm. Fuchs.
Herr J. Breuer hält den angekündigten Vortrag: „Ueber
dio Bogengangampullen“.
*
Sitzung am 20. Februar 1900.
Vorsitzender: Herr Sigm. Exner.
Schriftführer: Herr Sigm. Fuchs.
Herr J. Breue r beendigt seinen Vortrag : „U eher die
Bogengangampullen“.
Vortragender hält es für wünschenswerth und möglich, die
Theorie von den statischen Functionen des Labyrinths mehr ins
Einzelne auszubilden, als bisher geschehen ist. Sie erklärt befriedigend
einige Eigenthümlichkeiten der Bewegungs-, in specie der Drehungs¬
empfindungen :
1. die ausschliessliche Wirkung der Beschleunigungen;
2. die, bis auf die Richtung, identische Empfindung positiver
und negativer Beschleunigung.
Sie lässt aber noch unklar, wodurch die lange Nachdauer der
Drehungsempfindung bedingt ist, welche eine wesentliche Bedingung
brauchbarer Wahrnehmung darstellt bei den gewöhnlich kurzen
Drehungen von Kopf und Körper.
Die Bedingung der Nachempfindung darf wohl in dem nicht
nervösen Theil des percipirenden Apparates gesucht werden, besonders
in dem Verhalten der Epithelhaare der Ampullen, welche durch den
Stoss der Endolymphe beeinflusst werden müssen. Vortragender zeigt
an Präparaten, dass — wie jetzt fast allgemein anerkannt — die
Haare nicht isolirt in die Endolymphe hineinragen, sondern durch eine
consistentere Masse zu einem constanten, formbeständigen Gebilde, der
Cupula terminalis, zusammengehalten werden.
Hieraus folgt: es ist unmöglich,
1. dass die einzelnen Haare durch Schallschwingungen be¬
einflusst werden und etwa durch Mitschwingen Gehörsempfindungen
auslösen ;
2. dass die Haare Cilienbewegungen hätten (Ewald), wie etwa
die Geissein der Flagellaten;
3. dass sie durch den Endolymjrhstoss gebeugt werden und ihre
Formveränderung die Empfindung der Drehung hervorruft (Breuer),
denn die Cupula kann nur als Ganzes durch den Endolymphstoss ver¬
schoben werden.
Die Cupula berührt nirgends die Oberfläche der Crista; zwischen
beiden besteht ein schmaler, nur von Endolymphe erfüllter Raum,
durch welchen die Haare von ihren Epithelzellen zur Cupula ziehen.
Je nach ihrer Ursprungsstelle auf der Crista oder auf dem Planum
semilunare verlaufen sie in diesem Interstitium mehr weniger gerade
oder sind gekrümmt; letzteres so stark, dass das Haar, dessen Ursprung
normal auf der Epithelfläche steht, vor seinom Eintritt in die Cupula-
masse derselben parallel wird. Wenn die Cupula, welche, von den
Zellhaaren getragen, über der Ciista schwebt, nach einer Seite hin
verschoben wird, muss durch die Haare auf die Epithelzellen des
einen Cristaabhanges ein Zug ausgeübt, werden. Dieser erregt nach
Ansicht des Vortragenden die Nervenfaserchen, welche die Epithel¬
zelle umspinnen (Retzius) und ruft die specifiscbe Empfindung der
Ampullarnerven, dio Drehungsempfindung, hervor. Diese Rotations-
empfindung dauert so lange, als der durch die Haare auf die Zellen
ausgeübte Zug wirkt; also bis die durch den Endolymphstoss ver¬
schobene Cupula wieder in ihre Mittelstellung zurückgekehrt ist. Daher
die lange Nachdauer der Empfindung. In die Ruhestellung zurück¬
geführt wird die Cupula durch die Elasticität der Haare und durch
die Schleimstränge, welche sich mindestens in den Ampullen der Vögel
in starker Entwicklung vorfinden; oder, bei kurzen Drehungen, durch
den Endolymphstoss, welchen das Aufhören der Drehung zur Folge
hat und welcher dem Anfangstoss entgegengerichtet ist.
Die Latitude der Cupulaverschiebung ist sehr gering; der
Apparat sehr zart, da die Verbindung zwischen der Cupula und der
Crista nur durch die feinen Haare selbst hergestellt wird. Endolymph-
stösse von grosser Latitude wären daher nicht nutzbar für die Em¬
pfindung, solche von grosser Intensität aber gefährlich für die Inte¬
grität des Apparates. Von diesem Gesichtspunkte aus wird es ver¬
ständlich, dass der Canal zur Ampulle erweitert und darin die Grösse
der Endolymphverschiebung auf einen Bruchtheil reducirt wird und
dass die Cupula auf der Crista so weit in die Ampulle hineingehoben
ist. Durch die Gestalt des Ampullenbodens wird die Bewegung der
Endolymphe dahin verändert, dass sie längs der Ampullen wand über
der Cupula hinstreicht. Hierdurch wird die Sicherheit des Perceptions-
apparates gefördert.
*
Sitzung am 27. Februar 1900.
Vorsitzender: Herr Sigm. Exner.
Schriftführer: Herr Sigm. Fuchs.
Herr II. Winterberg hält den angekündigten Vortrag :
„Ueber die Wirkung des Nicotins auf die Athmung“.
Die Untersuchungen sind im Archiv für experimentelle Patho¬
logie und Pharmakologie, XLIII, pag. 400, ausführlich publicirt worden.
*
Sitzung am 13. März 1900.
Vorsitzender: Herr J. Breuer.
Schriftführer: Herr SiglU. Fuchs.
1. Herr S. v. Basch demonstriit:
1. Ein Spirometer, dessen Grundprincip schon in seiner Ab¬
handlung über die Messung des Lungenvolums und der Lungeuelasticität
(Pflüger’s Archiv, LXXVI, 5/6, pag. 356) dargelegt wurde. Neu
ist au demselben nur, dass die Lunge mit einem grossen, 50 l fassenden
Gefässe in Verbindung gesetzt wird, aus dem man respiriren lässt.
Bei dieser Anordnung entspricht je 1 cm Manometerdruck 100 cm 3
Lungenerweiterung. Bei einem durch Inspiration erzeugten negativen
Druck von 200 mm H2 O, d. i. wirklichen negativen Druck von
400 mm II2 O — an der Manometerscala liest man nur den halben
Druck ab — wird der Lungenraum um 2000 cm3 vergrössert.
Die Berechnung ergibt sieh aus der Formel: I = (V F) — ^ — .
b + m
I ist die Erweiterung. V -(- F = 52.000 cm3. Hiebei ist der Lungen¬
luftraum mit 2000 cm3 angenommen. Das Resultat der Rechnung ist
aber wesentlich von dem Factor — ^ — , in dem m den abgelesenen
b + m
Manometerdruck und b den Barometerdi uck darstellt, abhängig, und
es ändert wenig an dem Resultate, wenn man statt V, d. i. 2000 cm3,
einen kleineren oder grösseren Werth einsetzt.
II. Einen Apparat zur Messung des Capillar druckes
am Menschen. Derselbe besteht aus einem kleinen Glastrichter, dessen
breite Mündung mit einem Deckgläschen verschlossen ist, und dessen
schmale abgeschliffene Mündung man, wie seinerzeit v. Kries es mit
einem durch Gewichte belasteten Glasplättchen that, auf die Dorsal¬
fläche eines Nagelgliedes aufsetzt, nachdem der Rand mit Fischleim
bestrichen worden ist. Letzterer bildet einen luftdichten Abschluss.
Der so über einer kleinen Hautfläche ruhende Luftraum wird nun mit
einem Manometer und einem Kautschukballon in Verbindung gebracht,
was dadurch ermöglicht ist, dass der kleine Glastrichter in ein seit¬
liches Röhrchen ausmündet, das man durch ein Kautschukrohr mit
einem 1-Rohr verbindet, von dem wieder Verbindungen zum Mano¬
meter und zum Kautschukballon abgehen. Nachdem der Fischleim
trocken geworden, drückt man den Ballon, hierbei wird der sichtbare
Hautkreis deutlich blass. Der Druck, unter dem das Erblassen erfolgt,
wird am Manometer abgelesen.
Näheres über die Resultate der Capillardruckmessungen, die in
Verbindung mit Blutdruckmessungen vorgenommen werden müssen,
wird Vortragender später mittheilen.
2. Herr M. Salz mann hält den angekündigten Vortrag:
„Zonula ciliar is und ihr Verhält nisszurUmgebun g“.
*
Sitzung am 27. März 1900.
Vorsitzender: Herr Sigm. Exner.
Schriftführer: Herr A. Kx*eidl.
Herr M. Salzmann beendigt seinen Vortrag: „Zonula c i-
liaris und ihr Verhältniss zur Umgebung“.
Die Zonula geht Verbindungen mit der Pars ciliaris retinae, der
Linse und dem Glaskörper ein.
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Die Pars ciliaris retinae besteht aus zwei Zellenschichten, einer
äusseren pigmentirten und einer inneren pigmentlosen; je eine Glas¬
haut begrenzt sie gegen die Umgebung, die äussere Glashaut gegen
den Ciliarkörper, die innere gegen den Glaskörper hin. Beide Glas¬
häute senden Leisten zwischen die Zellen hinein, doch stehen diese
Leisten nicht miteinander in Verbindung, sie erreichen überhaupt die
Grenze der beiden Zellenschichten nicht. Auch sind die beiden Leisten¬
systeme nicht von gleicher Ausdehnung und Gestalt; das der äusseren
Glashaut, das Reticulum Heinrich M ii 1 1 e r’s, erinnert an Pflanzenzellen,
das der inneren besteht aus radiär gerichteten, nicht verzweigten Falten.
Ein Gerüste, das die ganze Pars ciliaris retinae durchsetzt, besteht
also sicher nicht.
Die Zonulafasern verbinden sich nun mit der inneren Glashaut,
und zwar theils mit ihrer Innenfläche, vorwiegend aber mit den Falten.
Man sieht namentlich an Aequatorialschnitten, wie zwischen den ver¬
dickten und fest miteinander verkitteten Faltenblättern feinste Zonula-
faserquerschnitte liegen.
Auch an der Linse tritt die Zonula nur mit der Oberfläche der
Kapsel in Verbindung und hebt häufig die äusserste Lamelle der
Kapsel (Zonulalamelle Berge r’s, pericapsuläre Membran von R e t z i u s)
ab. In der Flächenansicht zeigt diese Lamelle eine feine meiidionale
Streifung, so weit der ganze Ansatzgürtel reicht. Es sind die letzten
Ausläufer der Zonulafasern, die diese Streifung bilden. Baumwurzel¬
förmige Endigung, wie Schön für die mittleren Zonulabiindel angibt,
wurde nicht gefunden.
Mit dem Glaskörper geht die Zonula zweierlei Verbindungen
ein, solche, die als Ursprünge und solche, die als Endigungen zu
deuten sind.
Die im Bereiche der Netzhaut vorhandene Grenzhaut zwischen
Glaskörper und Netzhaut (von den Autoren theils Hyaloidea, theils
Limitans interna retinae benannt) geht an der Ora serrata in die
innere Glashaut der Pars ciliaris retinae über. Die der Hyaloidea an¬
liegende Grenzschicht (hintere Grenzschicht) des Glaskörpers ist parallel
zur Oberfläche äusserst fein lamellirt, und jede Lamelle besteht wieder
aus einem wirren, flächenhaft ausgebildeten, auch mit den stärksten
Vergrösserungen kaum auflösbaren Netze äusserst feiner Fasern.
Nach innen geht diese Schicht ohne scharfe Grenze in das Gewebe
des Glaskörperkernes über, das gleichfalls aus Fasern, aber aus etwas
gröberen, besteht, die sich in den verschiedensten Raumrichtungen
durchflechten.
Verfolgt man die hintere Grenzschicht von der Ora serrata nach
vorne hin, so sieht man sie immer eng an die innere Glashaut der
Pars ciliaris angeschlossen verlaufen, dabei immer dünner werden und
endlich 1*5 mm vor der Ora serrata ganz aufhören. Auf dieser ganzen
Strecke gibt sie reichlich wellige Fasersysteme an den Kern ab, wie
überhaupt diese Stelle als der gemeinsame Ursprung der ganzen Glas¬
körperfaserung anzusehen ist.
Die weiter vorne gelegenen Glaskörperpartien haben auch eine
Grenzschicht (vordere Grenzschicht), aber diese steht mit der hinteren
nicht in directem Zusammenhänge, sondern entwickelt sich aus den
kernwärts ausstrahlenden Fasersystemen. So bleibt zwischen dem
hinteren Rande der vorderen Grenzschicht und dem vorderen Rande
der hinteren ein Spalt, der mit lockerem, dem Glaskörperkern ähn¬
lichem Gewebe ausgefüllt ist. Durch diesen Spalt kommen feine Zonula¬
fasern, die im Glaskörper selbst in der Nähe der Ora serrata ihren
Ursprung haben, heraus.
Wo die vordere Grenzschicht den Ciliarfortsätzen anliegt, kommen
regelmässig, wenn auch an Zahl und Stärke verschieden, Endigungen
von Zonulafasern in der Grenzschicht selbst vor. Die Fasern zerfallen
in ihre Einzellibrillen, und ein grosser Theil dieser biegt in die circu-
läre Richtung um und läuft in dieser Richtung in der vorderen Grenz¬
schicht über weite Strecken hin.
Ausserdem sendet die vordere Grenzschicht in den Ciliarthälern
je ein zartes meridionales Fasernetz zur Pars ciliaris retinae (vielleicht
identisch mit den Ligaments cordiformes von Campos).
Wo die vordere Grenzschicht an die Linsenkapsel herantritt,
besitzt sie meistens eine ringförmige Verdichtung (Ligamentum
hy aloideo-capsulare, Wieg er), und von diesem Ringe geht
wieder ein zartes Fasernetz, wie das vorige den Charakter des Glas¬
körpergewebes an sich tragend, auf die Aussenfläche der Linsenkapsel
über, wo es sich bis zu den Ansätzen der vorderen Zonulabiindel ver¬
folgen lässt. Es ist vielleicht als ein Ueberrest der embryonalen gefäss-
haltigen Linsenkapsel zu deuten.
Der hintere Theil der Zonula liegt somit in einem spaltförmigen
Raume (dem Orbicular raume Garnie r’s), der aussen von der
inneren Glashaut der Pars ciliaris, innen von der vorderen Grenz¬
schicht des Glaskörpers begrenzt wird. Das hintere Ende dieses
Raumes geht in lockeres Glaskörpergewebe über. Dieser Umstand,
sowie die Verbindungen, welche die vordere Grenzschicht an mehreren
Stellen mit der Pars ciliaris und der Linsenkapsel zeigt, berechtigen
dazu, den Orbieularraum noch zum Glaskörper zu rechnen und die
Zonula als einen modificirten Theil des Glaskörpers aufzufassen. Wenn
der Glaskörper, wie Tornatola und Rabl meinen, ektodermaler
Natur ist, wird die Sache nur vereinfacht. Der Orbieularraum steht
vorne durch die Ciliartbäler in offener Communication mit der hinteren
Kammer.
Dio Zonula bildet im Orbicularraume eine ziemlich gleichmässige
Faserschicht, weicht aber dann den Ciliarfortsätzen aus und zieht in
den Thälern längs der Thalsohle und den Seitenflächen der Fortsätze
weiter; blos einige feinere Fasern (die hintersten oder innersten
Fasern) ziehen durchwegs der vorderen Grenzschicht des Glaskörpers
entlang, seichte Rinnen in diese drückend, über die Firste der Ciliar¬
fortsätze hinweg zur hinteren Linsenkapsel. Innerhalb der Ciliarthäler
sondert sich die Fasermasse in Bündel, die zur vorderen und hinteren
Linsenfläche und zum Aequator ziehen.
Die Bündel zur vorderen Linsenfläche streichen der Thalsohle
entlang und ändern im ganzen Verlaufe ihre Richtung nicht, wesent¬
lich. Unter Umständen mögen sie ein wenig um die innere Ciliar¬
körperkante herum biegen und dadurch eine leichte Coneavität nach
vorne bekommen, wenn auch nicht in dem Grade, wie sie Schön
beschreibt. Im Ganzen ist ihr Verlauf parallel zur Innenfläche des
Ciliarkörpers; sie treten in tangentialer Richtung an die Linse heran.
Die hinteren Bündel erscheinen im Meridionalschnitte als Doppel¬
fächer, da auch von den vorderen Partien der Ciliarthäler viele Fasern
zur hinteren Linsenfläche ziehen. Die Hauptmasse der Fasern bildet
einen nach vorne convexen Bogen, der sich der Wölbung des Glas¬
körpers am Rande der tellerförmigen Grube innig anschmiegt. Die
hintersten Fasern treten gleichfalls in tangentialer Richtung an die
hintere Linsenfläche heran, aber diese Richtung steht fast senkrecht
auf der Innenfläche des Ciliarkörpers.
So weit die Zonulafasern den Wänden der Ciliarthäler entlang
streichen, sind sie durch kurze feine Fibrillen an die Pars ciliaris be¬
festigt. Da diese alle dieselbe Richtung einhalten, so werden zwar
keine ausgiebigen aber doch immerhin geringfügige Verschiebungen
der Zonula gegen die Innenfläche des Ciliarkörpers möglich sein. An
der Grenze von Corona und Orbiculus ciliaris aber ziehen solche
Fibrillen von den Zonulafasern sowohl nach vorne als nach hinten
zur Pars ciliaris, reichliche Kreuzungen bildend. An dieser Stelle
kann sich die Zonula nicht wesentlich gegen den Ciliarkörper ver¬
schieben; diese Stelle wird für die Mechanik der Accommodation als
peripherer Rand der Zonula anzusehen sein.
Es ist auch nicht wahrscheinlich, dass sich die Zerrung an der
Zonula an dieser Stelle nicht, sondern erst an dem viel weiter hinten
gelegenen Netzhautrande bemerkbar macht, wie Schön zur Erklärung
der Ora serrata annimmt. Uebrigens ist die Oia serrata nach T errien
an der nasalen Seite stärker entwickelt, und die eigenthümliche
Zackenform nicht allein auf den Netzhautrand beschränkt, sondern in
ausgeprägter Weise auch an der Grossmaschenzone des Reticulum
der äusseren Glashaut und an der hinteren Grenze der ciliaren Zonula-
ursprünge vorhanden. Hier aber kann sie unmöglich eine Folge von
Zonulazug sein.
Der Vortragende gibt sodann eine kritische Uebersicht über
neuere Arbeiten und Theorien über den Accommodationsvorgang. Als
wirkliche Bereicherung unserer Kenntnisse über diesen Vorgang sind
anzuführen :
Die Veränderung in der Gestalt der vorderen Linsenfläche
(Tsclierning): Bei der Accommodation wölbt sich nur der vordere
Pol stärker, die Peripherie wird abgeflacht.
Die mangelhafte Befestigung der aecommodirten Linse (Hess):
sie folgt der Schwere und lässt sich leicht in Schlottern versetzen.
Die Gestaltsveränderung des Ciliarkörpers (L. Müller und
Heine): in der Ruhe zeigt er den sogenannten myopischen Typus,
bei der Accommodation den sogenannten hypermetropischen.
Die letzteren Untersuchungen zeigen, dass die innere Ciliar¬
körperkante nicht, wie es S c h ö n’s Theorie verlangt, nach innen und
hinten rückt, sondern nach innen und vorne, und dass die Innen¬
fläche des Ciliarkörpers in sich selbst gegen die Linse gleitet. Die
vorderen Zonulabündel müssen dieselbe Bewegung ausführen, was
aber einem Nachlassen der Zonula gleichkommt. Als treibende
Kraft für die Gestaltung der vorderen Linsenfläche muss man nach
Helmholtz die Elasticität der Linse oder vielmehr ihrer Kapsel
voraussetzen. Es ist auffallend, wie sehr die Veränderlichkeit in der
Krümmung der Linsenfläche mit der Kapseldicke zusammenfällt. Die
Kapsel ist gerade dort am dicksten, wo nach Tscheruing die Ab¬
flachung bei der Accommodation eintritt.
Die Linse hat, sich selbst überlassen, nicht das Bestreben, kugelig
zu werden, sondern nur ihre vordere Fläche hypei'bolofdisch zu
krümmen. Mit dieser Ergänzung ist die Helmholtz sehe I heoiie
immer noch gütig.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 22
Verhandlungen der Wiener dermatologischen Gesellschaft.
Sitzung vom 9. Mai 1900.
Vorsitzender : Kaposi.
Schriftführer: Kreibieh.
Mraöek berichtet über seine Erfahrungen mit Sapolan,
einem in der chemischen Fabrik Dr. Jean Z i b e 1 1 in Wien her¬
gestellten Producte, das sich bei verschiedenen Erkrankungen der
Haut vorzüglich, oft überraschend bewährte und so in kurzer Zeit das
Misstrauen bannte, das gegenüber dem Anstürme immer neuer chemi¬
scher Fabrikserzeugnisse mit Recht aufgetaucht ist.
Das Sapolan enthält 2V2 Theile eines besonders extrahirten
Naphthaproductes, IV2 Theile Lanolin und 3 — 4 °/0 Seife.
Dieses gleichmässig dunkelbraune Product von Salbenconsistenz
und leicht naphthaähnlichem Gerüche ist vollkommen säurefrei und
lässt sich gut in die Haut verreiben.
Seine Anwendung betraf:
1. Fünf acute, auch arteficielle Knötchen- und Bläschen¬
ekzeme, bei denen nicht nur iu kürzester Zeit die heftigen sub-
jeetiven Beschwerden des Juckens aufhörten, sondern auch das Ekzem
in einigen Tagen heilte.
2. Zwei Fälle von hartnäckigen, vergeblich behandelten chro¬
nischen Ekzemen, bei denen die Haut bald weich und ge¬
schmeidig, fast vollkommen normal wurde.
3. Zwei Fälle von schwerem Pruritus senilis, in denen
das Jucken nach zwei bis drei Tagen ganz cessirte und auch die ob-
jectiven Symptome nach zwei- bis dreiwöchentlicher Behandlung
schwanden, ohne bisher zu reeidiviren.
4. Bei Impetigo contagiosa und Ecthymata.
5. In vielen Fällen von Scabies zur Nachbehandlung von
restirendem Ekzem oder Dermatitis.
6. Bei Urticaria.
Kaposi pflichtet der Mahnung des Vorredners zur Vorsicht
gegenüber der Unzahl der modernen chemisch-pharmaceutischen Prä¬
parate bei. Doch verdankt man den Fabriken auch sehr viel Nütz¬
liches; auch der angeführten Fabrik ein gutes Vaselinpräparat, das
Vaselinum Gloria. Angezeigter sind zunächst Versuche mit einfachen,
chemischen Producten, wie z. B. dem Epicarin, da selbst isomere
Körper oft eine ganz differente Wirkung haben, wie das a- und ß-Naphthol.
Das Sapolan ist wohl ein zusammengesetztes Product, ein Theerderivat,
mit Seife gemischt; aber da es so gefällig hergestellt ist und von
Mraöek mit so grossem Erfolge therapeutisch angewendet wurde,
muss man es überall versuchen; auch an seiner Klinik wolle er es
beobachten.
Krankendemonstrationen:
Winkler stellt einen 54jährigen Conducteur vor, bei dem
vor zwei Jahren eine kleine Geschwulst an der Rhaphe des harten
Gaumens entstand, die exulcerirte und nun ein eiterig belegtes Ge-
schwürchen zurückliess, auf dessen Grund die Sonde auf rauhen
Knochen stösst. Die Untersuchung auf Tuberkelbacillen blieb bisher
immer negativ, doch ist das Geschwür wohl tuberculös.
Mraöek glaubt, dass ein tuberculoses Geschwür an einer so
stark gereizten Stelle in zwei Jahren grösseren Umfang angenommen
hätte; er hält es für luetisch und empfiehlt Jodkali in grossen Dosen.
Kaposi sah noch nie eine so circumseripte tuberculÖ3e Caries
des harten Gaumens; auch fehlen dem vorhandenen Geschwüre alle
typischen Zeichen des tuberculösen. Es handelt sich wahrscheinlich
um eine besondere Form von Knochengummen, wie sie auch an
anderen Gesichtsknochen, z. B. dem Stirnbein, vorkomme und oft
nach Ausheilung des eigentlichen gummösen Herdes zu secundären
Nekrosen und Betheiligung der Schleimhaut führen kann.
Matzenauer betont, dass eine Betheiligung der Gaumen-
und Nasenknochen bei ausgedehntem Schleimhautlupus an jugend¬
lichen Personen Vorkommen kann, und demonstrirt einen solchen Fall
von Perforation des harten Gaumens bei Lupus, die
sich bei einem achtjährigen Mädchen mit exulcerirtem Lupus der Nase
und ganzen Mundschleimhaut während des Spitalaufenthaltes ent¬
wickelte.
Kaposi hält aber diesen Fall, dessen Nase mit ihrer un¬
veränderten Oberfläche wie abgekappt, eingezogen und eingesunken
ist, für eine Combination von hereditärer Lues mit Lupus, ähnlich
dem von II e b r a und A u s p i t z beschriebenen Lupus lueticus, wie
eben ein Lupuskranker jederzeit an Lues erkranken kann und um¬
gekehrt.
Lang hat selbst wiederholt Kranke vorgestellt, die Lupus und
Syphilis gleichzeitig hatten. Auch wies er schon in der ersten Auflage
seines Buches darauf hin, dass in rückgebildeten, chronisch verlaufenden
Syphilisherden nachträglich Lupus auftreten könne, was in den letzten
Jahren durch den Nachweis von Tuberkelbacillen in früher luetischen
Herden an Neisser’s Klinik bestätigt wurde.
N 0 b 1 demonstrirt einen Fall von Lichen scrophulosorum
bei einem 22jährigen, tuberculösen Mädchen; der Process bot in diesem
Falle durch die abweichende Localisation im Gesichte und an den
Beugeflächen der Extremitäten besonders differential - diagnostisches
Interesse.
Kaposi zeigt daran anschliessend ein fünfjähriges Kind mit einem
über den Stamm und die unteren Gliedmassen diffus ausgebreiteten
Lichen scrophulosorum.
Ferner ein haselnussgrosses, exulcerirtes und eiterig zerfallenes,
Gumma der Oberlippe bei einer vor sieben Monaten vorgestellten
Patientin. Damals war die circumseripte Infiltration und oberflächliche
Geschwürsbildung erst für eine Sklerose und nach vergeblicher (am¬
bulatorischer) Behandlung mit grauem Pflaster für traumatisch gehalten
worden. Im Spitale heilte nunmehr die Affection prompt auf Empl.
hydrarg.
Spitzer demonstrirt aus der Abtheilung Prof. Lang’s:
1. Das Resultat einer radicalen Lupus operation durch
Exstirpation eines handtellergrossen Herdes an der rechten Wange
und Plastik mittelst eines gestielten Lappens von der Halshaut;
2. eine Sklerose an der Bauchhaut.
N 0 b 1 zeigt eine -Lappenplastik der Nase nach Lupus¬
exstirpation bei einer 50jährigen Frau.
Die seit Decennien bestehende Affection hatte zu einer gleich-
massigen Infiltration der Nasenspitze, der Flügel des häutigen Septums,
sowie der Schleimhautauskleidung der unteren Nasenapertur geführt.
Vor zwei Monaten exstirpirte Nobl unter Localanästhesie den ge-
sammten Krankheitsherd, wobei nur das aus den alaren und trian¬
gulären Knorpeln gebildete Gerüst conservirt werden konnte. Der zur
Deckung des Defectes verwendete Kraus e’sche stiellose Hautlappen
wurde der Beugefläche des rechten Vorderarmes entnommen und gleich¬
zeitig auch zur Deckung des Schleimhautdefectes verwendet. Nach
14 Tagen war die überpflanzte Haut an das Wundlager solid an¬
geheilt. Durch das Erhaltenbleiben der cartilaginösen Stütze sowie der
Verwendung eines, alle Hautbestandtheile aufweisenden Hautlappens
zur plastischen Deckung war es möglich geworden, die vorgezeigte,
sowohl kosmetisch als auch functioneil befriedigende Reconstruction der
Nase zu erzielen.
Matzenauer demonstrirt:
1. Einen 26jährigen Mann, der ebenso wie seine auf der Klinik
Neusser befindliche Mutter, unter starkem Fieber an der Lippen-
und Wangenschleimhaut schrotkorn- bis linsengrosse, seichte, grauweiss
belegte, von einem schmalen, rothen Saume umgebene Geschwürchen
bekam. Aehnliche, zum Theil auch grössere Epithelverluste und Auf¬
lagerungen finden sich auch am Zungenrücken und Gaumen. Zahnfleisch
gelockert, leicht blutend. Es handelt sich um eine Stomatitis
aphthosa, die bei Frauen oft mit ähnlichen Processen an der Vulva,
Vagina und Portio, bisweilen auch mit einem universellen toxischen
Erythem einhergeht, das wie im letzthin von Neuman n’s Klinik be¬
richteten Falle den Charakter des Erythema multiforme und nodosum
zeigt. Maul- und Klauenseuche Hess sich in keinem Falle nachweisen,
auch nicht, in zwei Fällen Winkle r’s, die unter influenzaähnlichen
Symptomen erkrankten und von denen der zweite nach Genuss von
Landbutter auftrat. Auch bestand nie eine Nagelaffection an Händen
oder Füssen;
2. eine Atrophia cutis idiopathica progressiva.
Der 47jährige Mann aus Amerika zeigt am ganzen Körper zerstreut
ohne bestimmte Localisation flachhandgrosse und noch grössere
schmutzig-rothbräunliche Stellen, über denen die Haut gefeldert, fein
gerunzelt und schmutzig, fein schuppend erscheint. Nirgends Kratz¬
effecte oder Steigerung des Entzündungsprocesses zu Knötchen oder
Bläschen. Die Affection besteht angeblich seit vier Jahren unverändert
fort. Matzenauer richtet an den Vorsitzenden noch die Frage, ob
diese Affection mit der Dermatitis exfoliativa Br oeq in
Beziehung gebracht werden kann, da eingesendete Präparate derselben
ähnliche histologische Veränderungen zeigen wie die Atrophia cutis.
Kaposi hebt nachdrücklich vor, dass dieser Kranke ganz
unregelmässige kleinere und grössere Herde zeige, die durch voll¬
kommen gesunde Haut umgeben und von einander getrennt sind, was
bei der idiopathischen Atrophie nicht vorkommt. Auch fehlt jede Be¬
theiligung der Gefässe. Die betonte Runzelung ist nur eine ober¬
flächliche Epidermisveränderung. Die blassen, atonischen, plaqueför¬
migen Herde sprechen vielmehr für ein anämisches Ekzem,
das man mit Theer, an anderen Stellen mit Leberthran und Theer
behandeln könne.
Dem gegenüber biete die Dermatitis exfoliativa Brocq das Bild
einer acuten, diffusen, von Fieber und schweren Allgemeinerscheinungen
begleiteten Hauterkrankung.
Lang bemerkt, dass man in einzelnen Fällen die Bezeichnung
Dermatitis exfoliativa Brocq gebrauche, weil ein anderer Ausdruck fin¬
den soeben geschilderten Process nicht besteht. Er selbst hat einmal
einen Fall vorgestellt, der ähnlich mit mehr acutem Charakter an der
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
515
einen Stelle, mehr chronischem an einer anderen verlief und von
Anderen auch als Pemphigus, Psoriasis, an der Breslauer Klinik als
Ekzem aufgefasst wurde.
Kaposi demonstrirt als Parallelfall :
1 . Ein Erythema toxicum desquamativum uni¬
versale. Der 22jälirige Taglöhner erkrankte plötzlich an Fieber und
bemerkte, dass er im Gesichte und am ganzen Körper rothe Flecke
bekam. Bald wurde die ganze Haut roth und begann sich mit weissen
Schuppen zu bedecken. Die Temperatur betrug bei uns seit der Auf¬
nahme am 27. April bis 4. Mai 38-5 — 39°. Gastrointestinale Störungen
bestanden nicht. Die gesammte Körperhaut vom behaarten Kopfe bis
zum unteren Drittel der Unterschenkel ist mit einer ununterbrochenen,
grosslamellösen, dünnblätterigen Schuppenmasse bedeckt, die sich leicht
abstreifen lässt. Die Haut darunter diffus geröthet, nirgends Knötchen
oder- Bläschen. Am untersten Drittel der Unterschenkel und beiden
Fussrücken zahlreiche, bis linsengrosse, hellrothe, im Centrum auch
bläuliche Flecken zu sehen, die den charakteristischen Beginn der
Erkrankung erkennen lassen und ebenso wie das Gesammtbild die
Diagnose des Falles rechtfertigen, der zum Theil ähnlich den toxischen
Erythemen nach Einnahme von Chinin, Chloralhydrat oder nach Fleisch¬
vergiftung sich andererseits auch der Dermatitis exfoliativa nähert. Im
vorliegenden Falle konnte eine bestimmte medicamentöse oder Auto¬
intoxication nicht nachgewiesen werden;
2. eine Psoriasis universalis bei einem 55jährigen Mann,
seit 20 Jahren bestehend.
Matze nauer demonstrirt :
1. Ein Serophuloderma am rechten Vorderarm, das sich
in der Umgebung der Operationsnarbe nach Enucleation des cariösen
Zeigefingers entwickelte und längs eines verdickten Lymphstranges
zu weiteren, exulcerirten Knoten führte ;
2. einen Lupus verucosus am Dorsum pedis, von dem aus
nach oben ein Lymphstrang tastbar ist, in dessen Richtung ebenfalls
mehrere zerfallene Knoten liegen;
3. einen Pemphigus bei einer 60jährigen Frau, der angeb¬
lich seit drei Monaten besteht und jetzt zu einer universellen Blasen¬
eruption geführt hat, neben der sich allenthalben Kratzeffecte, Ex-
coriationen und blutige Borken finden als Ausdruck eines Pemphi¬
gus pruriginosus;
4. das wiederholt gezeigte Kind mit Pemphigus vegetans,
der jetzt aussergewöhnliche, über centimeterhohe, trockene Vegetati¬
onen und besonders an Handtellern und Fusssohlen schwammartige,
ausserordentlich grosse Wucherungen zeigt.
Löwenbach stellt aus Prof. Neumann’s Klinik vor:
1. Einen Lichen ruber planus, der bei einer 28jährigen
Frau seit 16 Jahren am Oberschenkel besteht und an dieser unge¬
wöhnlichen Localisation in flachhandgrosser Ausdehnung persistirt;
2. eine extragenitale Sklerose an der Oberlippe
bei einer 40jährigen Hebamme, die einer mit einem Ausschlag behaf¬
teten Wöchnerin die Brustwarze aussog. Beginnendes Exanthem;
3. eine zweite Sklerose an der Oberlippe von Nuss¬
grösse bei einer 26jährigen Frau, Submaxillardrüsen beiderseits ver-
grössert. Am Kinne und an der Stirne, spärlich am Stamme ein
papulo-pustulöses Exanthem ;
4. eine 22jährige Kranke mit einer pigmentirten Sklerosen¬
narbe an der linken Mamilla, Lichen syphiliticus
am Stamme, Papeln an den Tonsillen und einem umschriebenen
Lupusherd an der Aussenseite des linken Sprunggelenkes;
5. eine 7 1jährige Frau mit Gumma et Hyperostosis
ossis frontalis sinistri und Narben nach solchen rechterseits.
Vor vier Jahren wurde an der ebenso erkrankten Stirnseite von Prof,
v. Hacker ein nekrotischer Sequester entfernt, später wurde dieselbe
Stelle von Primarius v. T ö r ö k und Docent U 1 1 m a n n excochleirt,
der Substanzverlust dann plastisch gedeckt.
Patientin, seit 1862 verheiratet, verlor ein Kind von fünf Wochen,
ein zweites durch Abortus. Syphilis bisher unbehandelt. Rechts an der
Stirne eine deforme, am Knochen fixirte Narbe, links eine schmerz¬
hafte, fluctuirende, nussgrosse Geschwulst mit derbem Knochen¬
walle ;
6. ein Gumma der Scrotal haut bei einem 27jährigen
Manne, der vor sieben Jahren Lues acquirirte, damals eine Einreibungs-
cur machte und bisher ohne Recidive blieb;
7. einen 13jährigen Knaben mit Lupus papillaris hyper¬
troph i c u s an Nase, Lippen und Fussrücken und Lichen scro-
phulosorum. Patient wird der Röntgen-Therapie zugeführt;
8. einen 40jährigen Mann mit einem exulcerirten Gumma
an der Haut der Nasenwurzel. Ausserdem bestehen bei ihm
eine Parese des linken Armes, ein spastisch-paretischer Gang, gestei¬
gerte Sehnenreflexe, leicht hesitirende Sprache, so dass zwischen Lues
cerebri oder einer beginnenden Paralysis progressiva noch nicht be¬
stimmt entschieden werden kann. Patient war 1892 wegen Lues mit
Einreibungen, später mit Jodkali und Jodbädern behandelt worden.
Kaposi demonstrirt :
1. Ein Sarcoma cutis idiopathicum multiplex,
das sich seit zwei Jahren bei einem 52jährigen Manne au den typi¬
schen Stellen entwickelt hat. An beiden Händen sind die Finger, vor¬
wiegend in den Grundphalangeu, deformirt, spindelförmig aufgetrieben
durch eine leicht elevirte Infiltration der Haut, die blauroth verfärbt,
derb, zum Theil kleinknötchenartig ist und sich beiderseits auf den
Handrücken, rechts auch auf den Ulnarrand des Handgelenkes diffus
erstreckt. Neben ihr vier münzengrosse, deutlich aus kleinen, flachen
Knötchen confluirte Herde. Inmitten des beschriebenen Gebietes liegen
unregelmässig zerstreut stecknadelkopf- bis haselnussgrosse, derbe,
dunkelrothe bis blauschwarze, zum Theil oberflächlich exulcerirte
knotige Tumoren.
Auch beide untere Extremitäten zeigen im Bereiche der Fuss-
rücken diese eigenartige Infiltrations- und Tumorbildung;
2. eine ausgebreitete, bisher unbehandelte schwere Lues gum¬
mosa bei einem 46jährigen Tramwaykutscher, der auch vom Be¬
stehen der Sklerose oder eines früheren Exanthems nichts weiss. Wegen
eines Tumor testis wurde 1892 der rechte, 1896 der linke Hode ent¬
fernt. Die jetzt bestehenden Geschwürsbildungen begannen erst im
December 1899 und führten zu einer Zerstörung der rechten Nasen¬
hälfte und zu diffus ausgebreiteten, eiterig belegten Geschwüren an
der Stirne, der behaarten Kopfhaut, der linken Ilalsseite, beiden
Achseln, den Oberarmen, am Rücken und an den Unterschenkeln.
Perforation des harten Gaumens, grosse Geschwüre an beiden Gaumen¬
bögen;
3. einen Pemphigus vulgaris, der sich bei einer 56jähri-
gen Frau in drei Monaten neben einem fast universellen fleckenförmigen,
zum Theil auch circinär angeordneten urtica riellen Erytheme
entwickelte, das prodromal schon im September aufgetreten war und
die Basis der Pemphigusblasen bildet;
4. ein Scleroderma circumscriptum dispersum.
Bei einem 19jährigen Mädchen ist der ganze linke Unterschenkel und
Fuss verschmächtigt. Die Haut straff anliegend, weiss glänzend, nicht
faltbar, besonders am Fussrücken. Die Musculatur darunter atrophisch,
Bewegungen aber alle frei. Daneben einige exulcerirte Excoriationen.
Ein zweiter central atrophischer, am Rande stark pigmentirter Herd
von Sklerodermie zieht in einem handbreiten Streifen entlang dem
linken Rippenbogen;
5. eine 17jährige Cassierin, die im August 1899 an Lues er¬
krankte und damals 30 Einreibungen machte. Seit acht bis zehn Tagen
hat sie nun am rechten grossen Labium eine umschriebene, derb
ödematöse Infiltration mit einem oberflächlichlichen, seichten, eiterig
belegten Geschwüre, dessen Ueberimpfung auf den Arm negativ aus¬
fiel. Es könnte vielleicht also eine Reinfection vorliegen.
M r a 6 e k hält es nicht für wahrscheinlich, dass nach so kurzer
Zeit eine Reinfection erfolgt sei. Die Diagnose könne sich nicht aut
das Geschwür, das auch ein mit Lymphangoitis complicirtes veneri¬
sches Ulcus sein kann, allein stützen, sondern auf ein eventuell auf¬
tretendes Primärexanthem ;
6. eine Frau mit ausgebreitetem Epithelioma faciei, das
die rechte Wange einnimmt und bis hart ans untere Augenlid und
fast bis an den Knochen reicht.
Naturwissenschaf tlich-medicinischer Verein in Strass¬
burg i. E.
Medicinische Section.
IV. Sitzung am 12. Januar 1900.
Vorsitzender: Scliaer.
Schriftführer : Minkowski.
Hoche berichtet über Versuche an Enthaupteten. (Ausführ¬
liche Veröffentlichung in der Berliner klinischen Wochenschrift.)
*
V. Sitzung am 16. Februar 1900.
Vorsitzender: Iloche.
Schriftführer : Minkowski.
Schmiedeberg demonstrirt die Anwendung des epidia-
skopischen Projectionsapparates von C. Zeiss in Jena.
*
VI. Sitzung am 23. Februar 1900.
Vorsitzender: Schaer.
Schriftführer : Minkowski.
v. Recklinghausen geht in seinem ersten Vortrage über
Einschlüsse in Harnsteinen von der bekannten 'I hatsaehe
aus, dass sich im Centrum der Hippolithen des Darmes Metallstücke
r>i6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 22
oder sonstige Fremdkörper constant nachweisen lassen, sowie von dem
auch durch ihn erhobenen Refund, dass inmitten der eigentlichen
Darmsteine des Menschen Holzstückchen, Obstkerne, Entozoeneier etc.
vorhanden und als Puncta cristallisationis diesei Steinbildungen zu
betrachten sind. In Speichelsteinen sind solche eingeschlossene Fremd¬
körper wiederholt nachgewiesen worden. Auch in Gallensteinen scheinen
Niederschläge, namentlich von Bilirubinkalk, den ersten Anstoss zur
Concrementbildung geben zu können (Bramson). Seit langei Zeit
bemüht, auch in den Nieren- und Ilarnblasensteinen centrale Ein¬
schlüsse, die von dem Hauptmaterial verschieden, aufzutinden, kam
der Vortragende dazu, öfters Blutklümpchen oder zusammengesintertes
Hyalin, aber auch richtige Fremdkörper: einen Nagel, ein Geschoss,
eine Weidenruthe, eine Haarnadel, einen Messingdraht etc. nachzu¬
weisen. Als bisher unbekannte Arten des Vorkommens derartiger
Einschlüsse in Blasensteinen bezeichnet und demonstrirt v. Reckling¬
hausen folgende zwei Fälle:
1. Ein linsenförmiger Phosphatstein enthält in seiner centralen
Höhle ein wie Watte aussehendes, iu Hufeisenform gestaltetes Ge¬
webe; Dr. Sick, Oberarzt des neuen allgemeinen Krankenhauses in
Hamburg- Eppendorf (vgl. den Bericht des Krankenhauses, 1894), sah
sich durch diese Beobachtung veranlasst, den Vortragenden zur ge¬
naueren Untersuchung des merkwürdigen Einschlusses aufzufordern,
und diese ergab denselben als nekrotisches Bindegewebe
vom Bau der Harnblasenschleimhaut; die Nekrose scheint
bei dem an chronischer Cystitis leidenden Manne eine Folge der Ent¬
zündung gewesen zu sein. Wenigstens erinnerte sich v. Reckling¬
hausen eines früher gesehenen Falles von noch umfänglicherer,
fast totaler Schleimhautnekrose bei einem Manne in Pfalzburg
(Dr. Ed. Schade).
2. In einem über hühnereigrossen, von Prof. Ledderhose aus der
Harnblase eines 20jährigen Kaufmannes durch hohen Schnitt entnommenen
Blasensteine erregte, als er im pathologischen Institute durchschnitten,
der graugefärbte, axial gelegene Kern von 18mm Durchmesser die
Aufmerksamkeit, und machte sowohl wegen seiner concentrischen
Schichtung, als wegen der Brüchigkeit der Schichten denselben Ein¬
druck, wie ein grösserer Kothstein des Processus vermiformis. Diese
Diagnose durfte, weil sofort darin mikroskopisch sowohl Trichocephalen-,
als Ascarideneier, ferner Pflanzengewebe, namentlich auch verkalkte
Zellen aus Obst, und zwar die auffälligen Kalkkörnchen aus dem
Fleisch der Birne nachgewiesen werden konnten, als gesichert gelten;
ein richtiger Kothstein musste, fertig gewachsen bis zur genannten
Grösse innerhalb des Darmes, von hier aus den Weg in die Harn¬
blase gefunden haben, wegen seiner Grösse unfähig, die Harnröhre zu
passiren. Schon im elften Lebensjahre hatte der seitdem dauernd
schwer leidende Patient zwei Spulwürmer mit dem Urin per urethram
entleert, zehn Jahre später einen dritten Spulwurm mit wiederholten
Schmerzanfällen in den Lumbalgegenden, namentlich der rechten. Als
zwei Monate nach dem Steinschnitt wogen urämischen Erbrechens,
Anurie und Vergrösserung der linken Niere diese in einer zweiten
Operation blossgelegt und ihr Becken zwecks der Herausnahme eines
wie eine Zahnwurzel gestalteten, im Ureter eingeklemmten Steinchens
angeschnitten worden war, trat nach 2 Vs Wochen der Tod ein, und
nunmehr konnte Ledderhose bei der Section feststellen: 1. zahl¬
reiche Nekrosen und Herde in der linken Niere; 2. einen totalen
Schwund der rechten Niere, Erweiterung und Hypertrophie der Harn¬
blase und des rechten Ureters ; 3. eine partielle Aussackung des diffus
erweiterten Processus vermiformis; 4. eine weit offene directe Com¬
munication dieses dilatirten Processusstückes mit dem rechten Ureter,
und an diesem eine zunehmende Erweiterung bis zur Ausmündung, so
stark, dass trotz der erheblichen Wandverdickung ein gewöhnlicher
Katheter bis in die Harnblase vorzuschieben war. Ob noch ein zweiter
Verbindungsweg mit dem Darm vorhanden war, etwa mit dem Rectum,
wonach Led der hose bei der ersten Operation wegen des kothigen Ge¬
ruches gesucht hatte, wurde durch die beschleunigt ausgeführte Section
nicht festgestellt. Jedenfalls ist aber durch diese Beobachtung thatsächlich
der seltene Durchbruch einer Appendicitis in den rechten Ureter, die
mittelbare Verbindung mit der Harnblase und damit der Weg nach¬
gewiesen, auf welchem mehrere Würmer, wie der grosse Kothstein und
schliesslich kothige Beimengungen zum Urin in die Harnblase gelangt
waren — offenbar schon seit vielen Jahren in Anbetracht des con-
secutiven totalen Unterganges der rechten Niere und des Volumens
der weissen Phosphatschichten der Rinde des Steines, der im Ganzen
G : 3 : 2 'Ucm misst.
Im zweiten Vortrage schildert v. Recklinghausen die
Vortheile, welche ihm bei der Untersuchung rachitischer Knochen,
wenn sie mit Formalin nach K a i s e r 1 i n g’s Vorschriften gehärtet
waren, die Färbung der Schnitte mit 1. Thionin, 2. Phosphorwolfram¬
säure (nach der zweiten Methode G. Schmor l’s) und die Bettung
in Glycerin geliefert hatte. Die erzielten bunten und so lebhaften
Farbentöne gestatten, in den rachitischen Zonen des Knorpels, wie
des Knochens, die mannigfaltigen Uobergänge und Umwandlungen der
Gewebe, die Metamorphosen ihrer Zellen- und Grundsubstanz, die
Glykogenbildung und die hyaline Thrombose der capillären Venen, die
Verbreitung des chondroiden und des osteoiden Gewebes, endlich den
Knochenanbau und -Abbau schärfer zu verfolgen, wie die bisher an¬
gewandten Färbungen mit Carmin oder Anilinfai bstoffen.
Verein deutscher Aerzte in Prag.
Sitzung vom 1. December 1899.
Vorsitzender: Prof. Gad.
Schriftführer: Dr. Scheib.
Dr. L. Neustadtl demonstrirt einen Fall von Tendo¬
vaginitis und Ostitis tuberculosa der linken Hand
bei einem 25jährigen Schuhmachergehilfen, bei dem in Folge diffuser
Ausbreitung des Processes an eine radicale Exstirpation nicht mehr
gedacht werden konnte, und dem daher nach erfolgloser conservative!-
Behandlung sowohl auf der Klinik W ö 1 f 1 e r’s, als auch Maydl’s
die Amputation der Hand in Vorschlag gebracht wurde.
Angeregt durch die Arbeit Buchner’s: „Natürliche Schutz¬
einrichtungen des Organismus und deren Beeinflussung zum Zwecke
der Abwehr von Infectionsprocessen'1, in welcher Buchner den
Alkohol bei der Behandlung fungöser Processe empfiehlt, unterzog
Dr. Neustadtl diesen Fall der Alkoholbehandlung.
Patient bekam durch sechs Wochen einen täglich erneuerten
Alkoholverband (96%) über Hand und Vorderarm bis zum Ellbogen¬
gelenk. Der Erfolg war schon nach kurzer Zeit ein überraschender.
Die Schmerzen hörten vollständig auf, die Weichtheilschwellung ging
gänzlich zurück, während die Knochenverdickungen begreiflicher Weise
bestehen blieben, die active und passive Beweglichkeit stellte sich
wieder ein: von den beiden bestehenden Fisteln schloss sich eine voll¬
ständig, die andere entleerte eine kaum nennenswerthe Menge Secret.
Die pathologische Handstellung in ulnarer Abduction wurde durch
beiderseits angelegte Pappendeckelschienen behoben.
Patient, der früher die Hand absolut nicht gebrauchen konnte,
war nunmehr im Stande, mit derselben leichtere Arbeit zu verrichten.
Prof. W ö 1 f 1 e r bemerkt, dass bei diesem Kranken eine voll¬
kommene Heilung noch nicht eingetreten ist, dass also eine längere
Beobachtung noch nothwendig ist. Bezüglich der Alkoholwirkung auf
das Gewebe hebt Wölfl er hervor, dass Alkohol oberflächlich auf
entzündete Haut günstig einwirke, dass aber eine Tiefenwirkung nur
dann erwartet werden könnte, wenn Alkoholinjectionen gemacht
werden würden. Die Erfahrung lehrt, dass ebenso wie Jodtinetur
auch der Alkohol eine nicht eiterige Entzündung hervorrufe, welche
vielleicht im Stande wäre, die Tuberkelherde bindegewebig einzu-
schliessen.
Prof. Epstein bemerkt, dass ein einziger Fall noch wenig
beweise, indem schwer zu sagen ist, was die Naturheilung und was
die Behandlung geleistet hat. Gerade bei jugendlichen Individuen,
speciell bei Kindern, sehe man oft tuberculöse Herde an der Mittel¬
hand ausheilen. Aber hier beanspruche die Heilung sehr lange Zeit,
zwei Jahre und länger. Das Ueberraschende sei daher in diesem Falle
die ausserordentlich kurze Zeit, innerhalb welcher bei vorhandener
grosser Deformität, wegen welcher man sich zur Amputation ent¬
schlossen hatte, eine solche ausgesprochene Besserung eingetreten ist.
Dr. Adler fordert die Herren, welche Versuche machen wollen,
auf, sich stricte an die Angaben B u c h n e r’s zu halten, welcher
nur Alkoholumschläge empfiehlt, also keine Alkoholinjectionen zu
machen.
Dr. Hugo Salus bemerkt, es scheine ihm bei Beurtheilung
der Ursachen der günstigen Wirkung des Alkohols wichtig, darauf
hinzuweisen, dass Alkohol eine stark wasserentziehende Flüssigkeit ist,
wodurch er bei Entzündungen die gleichen Wirkungen und Vortheile
bieten dürfte, wie das Glycerin. Durch die Wasserabgabe verlieren die
Gewebe die entzündliche Spannung, die Stase höre auf und die. Cir¬
culation werde in normaler Weise geregelt.
Dr. Schick: Auch in der Gynäkologie hat der Alkohol
therapeutische Verwendung gefunden. So empfahl ihn eist in der
letzten Zeit Carossa zur Behandlung der septischen Endometritis.
Er applicirte den Alkohol permanent auf das septisch inficirte
Endometrium und will in vielen Fällen sehr günstige Wirkungen er¬
zielt haben. Auch Ahlfeld ist überzeugt von der antiseptischen
Wirksamkeit des Alkohols. Er verwendet ihn sowohl zur subjectiven
als auch zur objectiven Desinfection, das heisst zur Desinfection der
Hände und zu intrauterinen Auspülungen (in 50%iger Verdünnung)
bei puerperalen Infectionen des Endometriums. Vielleicht kommt in
dem von dem Herrn Vortragenden berichteten Falle weniger die durch
den Alkohol hervorgerufene Hyperämie als seine antibacterielle Wir¬
kung zur Geltung.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Hofrath Chiari: Die Entscheidung über die Art der heilenden
Wirkung des Alkohols, welche nach Buchner darin besteht, dass
eine grössere Entfaltung der bactericiden Wirkung des Blutserums
herbeigeführt wird, ist eine Frage der Zeit. Betreffend die Angabe
Buchne r’s, dass bei entsprechender Alkoholbehandlung cariöser
Zähne die Caries stillstelit und sogar Dentin neugebildet werden könne,
weist Chiari auf die allseits bekannte, eine Gewebswucherung an¬
regende Wirkung des Alkohols hin, welche zur Neubildung eines
kernarmen Bindegewebes führt. So könne auch der Alkohol nach
seiner Ansicht eventuell das zellreiche Tuberkelgewebe in faseriges
cicatrisirendes Gewebe überführen.
Prof. Wölfl er hebt noch hervor, dass der Alkohol sicher
kein Specificum sei gegen die Tuberculose, da es noch andere Me¬
thoden gibt, welche eine Heilung der Tuberculose herbeiführen können,
wie die einfache Eröffnung der Unterleibshöhle beim tuberculösen
Ascites, die B i e r’sche Hyperämie, die Einwirkung des Jodoforms; so
sei es unbedingt nothwendig, alle diese Heilmethoden von einem ein¬
heitlichen Gesichtspunkte aufzufassen.
*
Sitzung vom 12. Januar 1900.
Vorsitzender : Prof. Gael.
Schriftführer: Dr. Schenk.
Dr. Schenk hält einen Vortrag: Ueber frische Atresia
cervicis et vaginae in der Schwangerschaft. Es handelte
sich um eine 17jährige ledige, im fünften Monate gravide Fabriks-
arbeiterin, bei welcher behufs Fruchtabtreibung eine Säure in die
Vagina eingespritzt worden war. Nach einigen Tagen erfolgte unter
hohem Fieber und starken Schmerzen die Ausstossung eines voll¬
ständigen Abgusses der Portio und der angrenzenden Vaginalschleim¬
haut (Demonstration des Präparates). Die Schwangerschaft wurde nicht
unterbrochen, die Geburt erfolgte im achten Monate. Es hatte sich
eine hochgradige Stenose der Scheide und der Cervix entwickelt, die
Portio fehlte vollständig, an ihrer Stelle war nichts als ein halberbsen¬
grosser Granulationspolyp und dahinter eine winzige Oeffnung. Die¬
selbe wurde im Speculum mittelst seitlicher Incisionen so weit erweitert,
dass der vorliegende Fuss herabgeholt werden konnte, und es wurde
vorsichtig die Extraction des vorzeitigen Kindes angcschlossen. Der
nachfolgende Kopf wurde perforirt. Das Wochenbett verlief anfangs
leicht fieberhaft, vom 22. Tag ab ohne Fieber. Die Patientin wurde
am 30. Tage mit der Weisung entlassen, sich nach drei Monaten be¬
hufs Dilatation der neuerlich entstandenen Stenose wieder vorzustellen.
Dr. Nachod demonstrirt Membranen aus der Nase eines nicht
ganz vier Wochen alten Kindes. Es handelt sich um einen Fall von
sogenannter Rhinitis pseudomembranacea, einer Erkran¬
kung, die in früheren Jahren häufig beschrieben wurde, in letzter
Zeit aber äusserst selten geworden ist, da es in den meisten Fällen
durch bacteriologische Untersuchung gelang, die Zugehörigkeit dieser
Processe zur Diphtherie festzustellen; aber in dem vorliegenden Falle,
dessen Krankengeschichte Nachod erörtert, konnte trotz eingehender
Untersuchung der Löffler’sche Bacillus nicht nachgewiesen werden.
Für den Arzt wird es sich in solchen Fällen vor Allem darum handeln,
die Differentialdiagnose zwischen Nasendiphtherie und pseudomembranöser
Rhinitis zu stellen, und da lässt sich behaupten, dass nur die bacterio¬
logische Untersuchung die Entscheidung bringen könne. Nachod
hält es dafür angezeigt, in allen Fällen, wo sich Pseudomembrauen
in der Nase vorfinden und eine genaue bacteriologische Untersuchung
nicht durchführbar ist, die Serumtherapie anzuwenden, selbst bei
Fehlen .schwerer Allgemeinsymptome; in den seltenen Fällen sicher
nachgewiesener Rhinitis pseudomembranacea wird man davon Abstand
nehmen, was auch in dem vorliegenden Falle geschah, der zur voll¬
ständigen Genesung führte.
Dr. Anton Petr ina: Einiges über die Pest in Bombay.
Der Vortragende, der vorigen Jahres einige Zeit in Bombay
weilte und daselbst das Arthur Road Hospital täglich besuchte, be¬
nützt als Ausgangspunkt zu seinem Vortrage einige Capitel statistischer
und klinischer Art aus dem nur wenig bekannten Rapport des Primar¬
arztes des Arthur Road Hospitales, Dr. Chohsy (Report of Bubonic
Plague. Khan B ohadur Chohsy, Bombay 1897), welcher ein
Material von 939 beobachteten Fällen behandelt; wobei der Vor¬
tragende auch einen Theil der modernen Literatur berücksichtigt.
Die besser lebenden Volksclassen haben bessere Chancen. Das
Fieber ist nicht charakteristisch. Es gibt unbestreitbar eine Facies
pestica. Ausserordentlich wichtig sind die fast nie fehlenden Symptome
von Seiten des Nervensystemes. So die fast nie fehlenden Delirien,
die charakteristischen Sprachstörungen, dann wieder oft Erscheinungen,
die sehr an Tetanus erinnern. Die Incubationsdauer beträgt zehn Tage.
Nicht unwichtig sind die am häufigsten beim Ansteigen und Abblassen
einer Epidemie auftauchenden, verschwommenen leichten Formen: Pestis
minor und Pestis ambulans. Bei Pestisbubonen ist die häufigste Locali¬
sation an den Drüsen der Inguinalgegend. Axillar- und Cervicalbubonen
sind prognostisch immer sehr ungünstig. Am ungünstigsten ist die
Pestpneumonie, doch beobachtete Chohsy dieselbe nur in 8 /o seinei
939 Fälle. Der Tod ist am häutigsten ein Herztod. Das Bild und der
Eindruck der Kranken ähnelt gar zu oft dem Bilde einer Basilar-
meningitis, ohne dass jemals die anatomischen Befunde dies postmoital
bestätigen würden. Ein grosser Theil der Patienten stiibt in dei
Reconvalescenz. Hier tritt als häufiges Symptom Aphasie und Demenz
auf. Die Patienten gehen zu Grunde unter den Erscheinungen eines
„Pestmarasmus“.
Dass allgemein die Exstirpation des primär afficirten Drüsen¬
paketes (sobald als möglich!) empfohlen wird, ist bekannt. Neuestens
ergab Lustig- Serum sehr gute Resultate.
*
Sitzung vom 19. Januar 1900.
Vorsitzender: Prof. Gad.
Schriftführer: Dr. Mavgulies.
Docent Dr. Wilhelm Fischei stellt eine an inoperablem
Carcinoma uteri et vaginae leidende 3b Jahre alte 1 lau \ oi ,
nur um ihr verhältnissmässig gutes und frisches Aussehen zu zeigen.
Fischei findet den Fall interessant als Beispiel des nicht
operativ beeinflussten Verlaufes eines Portio cancroides und meint,
dass es zweifelhaft ist, ob Patientin noch in so gutem Kräftezustand
wäre, wenn etwa vor IG Monaten die Totalexstirpation des Uteius
vorgenommen worden wäre.
Docent Dr. F r i e d e 1 Pick: Zur Diagnostik der
Aortenerkrankungen. (Ausführlich mitgetheilt in der Prager
medicinischen Wochenschrift. 1900, Nr. 5 und 6.) Dass man klinisch
Aneurysma und Stenose der Aorta verwechseln könne, kommt ge¬
legentlich, selbst bei längerer genauer Beobachtung, vor. Wie der
erste von Pick mitgetheilte Fall beweist, der ein 29jähiiges Mädchen
betraf, welches im zweiten Intercostalraum, rechts vom Steinum,
Dämpfung, starke pulsatorische Erhebung und tastbare "V ibiation mit
sehr lautem, sägendem erstem Geräusche zeigte. Dabei der Puls mittel¬
kräftig. Dieser Zustand blieb durch sechs Jahre ungeändert, ohne
irgendwelche Progression zu zeigen. Mit Rücksicht auf die Intensität
des systolischen Schwirrens in der Aortengegend erschien allen Untei-
suchern immer die Diagnose „Aneurysma der aufsteigenden Aoita
selbstverständlich, nur das Fehlen jeglicher Progression war auffallend.
Deswegen behielt Pick die Patientin in Beobachtung. Eines lages
brach sie plötzlich in ihrem Laden zusammen und starb nach wenigen
Stunden.
Die Section ergab hochgradigste Stenosirung der Aorta durch
ein ringförmiges Diaphragma mit nur 11 mm langer und 5 mm bieitei
Lichtung. Sonst die Aorta intact, das Herz enorm hypertrophisch. Es
handelte sich also um eine ziemlich reine Aortenstenose, ein an und
für sich ziemlich seltener Befund. Pick fand unter 8843 in den
letzten neun Jahren vorgenommeuen Sectionen des hiesigen Institutes
nur sechs anatomisch constatirte Aortenstenosen, davon wai nui in
einem Falle die richtige Diagnose gestellt worden. In der Literatur
findet sich ein Hinweis auf eine solche Verwechslung nur im Lein
buche von Strümpell, und zwar auf Grund eines dem eben be¬
schriebenen ganz analogen Falles, dessen Krankengeschichte lick
nach einer brieflichen Mittheilung Strümpells wiedergibt. Pick
weist sodann darauf hin, dass der Fall durch die enorme Intensität
der palpatorischen Erschütterung in der Aortengegend und durch das
Fehlen des tarden und harten Pulses von dem schulgemässen Bilde
der Aortenstenose abweicht. Pick meint, diese Abweichungen duicli
die Intensität der Herzatrophie erklären zu können, welche das Ilindei-
niss vollständig überwand, so dass am Arterienpulse die charakte¬
ristischen Folgen gar nicht zur Erscheinung kamen und das Anpressen
der Blutmasse an das Diaphragma zu einem stossartigen Impuls fühlte,
der eine Pulsation an der Thoraxwand vortäuschte. Der Fall spricht
auch dafür, dass die Härte des Pulses bei Aortenstenose nicht, wie
vielfach angenommen wird, durch Arteriosklerose oder die Hypei-
trophie des Ventrikels bedingt sei, sondern eher für. die durch
v. Norden vertretene Anschauung spricht, die als seine Ursache
eine compensatorische, active Zusammenziehung der Arterie auf geringere
Lichtung vermuthet. Die oben erwähnte Erklärung der Pulsation in
der Aortengegend durch den Anprall des Blutes an dem stenosiienden
Diaphragma scheint auch eine Deutung für jene Fälle zu bieten, wo
bei sehr intensivem Fremissement nur ein schwaches Geräusch be¬
schrieben wil d, eine Erscheinung, die bei der jetzt üblichen Erkläiung
der Fi emissemeuts aus Wirbelbewegungen des durchgepressten Blutes
nicht recht verständlich ist, wogegen es ganz gut zu verstehen ist,
dass bei sehr hochgradiger Stenose nur ein wenig lautes Geräusch
entsteht, der Stenosenanpi all des Blutes aber zu starkem Fiemissement
führt. Pick erörtert sodann die Frage, warum in einzelnen Fallen
von Aortenstenosen eine so enorme Hypertrophie des Ventrikels zu
Stande kommt, in ' anderen nicht, und meint, dass die Ursache wohl
in dem Einsetzen des Herzfehlers in dem relativ jugendlichen . tu
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 22
51 S
zu suchen sei. Pick erörtert sodann die differentialdiagnostischen
Symptome und theilt noch einen zweiten analogen Fall mit, in welchem
er auf Grund der Erfahrungen des ersten Falles die Diagnose Aorten¬
stenose stellte, für deren Richtigkeit auch der weitere Verlauf spricht.
Er betont zum Schlüsse, dass selbst noch so starkes systoli¬
sches Schwirren und anscheinende Pulsation in der
Gegend des Aortenursprunges, so lange Usur der Rippen
fehlt, allein nicht gestattet, die Diagnose Aortenaneurysma zu
stellen, sondern immer auch noch das Bestehen einer Aorten¬
stenose erwogen werden muss.
Differentialdiagnostisch kommen neben dem Fehlen sonstiger
Aneurysmasymptome, insbesondere für Aortenstenose, in Betracht:
relativ jugendliches Alter der Patienten, Angaben über längeres Vor¬
handensein von Herzbeschwerden, ungeändertes Fortbestehen der
Krankheitserscheinungen — insbesondere des Schwirrens — , durch
mehrere Jahre relativ wohlerhaltene Arbeitsfähigkeit.
*
Sitzung vom 26. Januar 1900.
Vorsitzender: Prof. Gad.
Schriftführer: Dr. Scheib.
Dr. v. Ritter bespricht cystische Lymphangiome
des Mesenteriums, von welcher Geschwulstform er vier Fälle,
darunter zwei Fälle aus dem Kindesalter, untersuchte. Die wichtigsten
Bestandtheile in der Wand der Lymphangiomcysten waren: 1. das
Endothel; 2. eine darauffolgende zusammenhängende Schichte glatter
Musculatur. Diese Bestandtheile fanden sich nicht nur in allen unter¬
suchten Fällen, sondern in ganz analoger Anordnung auch in der
Wand grösserer, mesenterialer Lymphgefässstämme, woraus sich der
genetische Zusammenhang beider erschliessen lässt.
Bezüglich der Entstehungsart spricht sich v. Ritter für eine
Entstehung durch active, nach Art eines Neoplasmas vor sich gehende
Wucherung der Lymphgefässe, vielleicht auch Neubildung derselben
aus. Die Zeit der Entstehung dürfte in sehr vielen Fällen in das
früheste Kindesalter fallen, ja congenital sein.
Docent Dr. Friedei Pick: Zur Kenntniss der
Muskelatrophien. (Ausführliche Publication mit Abbildungen in
der deutschen medicinischen Zeitschrift für Nervenheilkunde. 1900,
Bd. XVII, pag. 1.)
Die anscheinend so scharf begründete Scheidung der primären
seit Erb als Dystrophie zusammengefassten Muskelatrophien von den
spinalen Amyotrophien ist in letzter Zeit wieder schwankend geworden,
indem es sich gezeigt hat, dass die klinischen Symptome, die man als
differentialdiagnostisch für die eine Form sprechend ansah, bei dieser
fehlen oder bei der anderen Vorkommen können.
Vortragender berichtet zunächst über einen Fall, der klinisch
(Beginn im 45. Lebensjahre mit Schmerzen in den Beinen, Atrophie
der Handmuskeln, der Sternocleidomastoidei bei relativ intacten
Cucullares, Sprachstörung u. s. w.) die Diagnose einer spinalen
Muskelatrophie nahelegte, während die Section Intactheit des Nerven¬
systems (auch bei N i s s 1 - Färbung) und einen der Dystrophie ent¬
sprechenden Muskelbefund ergab. (Demonstration von Zeichnungen der
pathologischen Muskeln mit Lipomatose, Verschmälerung der Fasern,
Spalten in den Fasern.)
In den höchst atrophischen Muskeln waren nur noch die Muskel¬
fasern in den sogenannten Muskelspindeln intact, was für die
Auffassung der letzteren als sensible Organe (Muskelsinn) spricht. In
den peripheren Nerven ausser Vermehrung des interstitiellen Fett¬
gewebes nichts Abnormes, mit Ausnahme des Accessorius, der
umschriebene Faserdegeneration zeigte, dio wohl als secundäre Atrophie
durch totalen Schwund des Sternocleidomastoideus aufgefasst werden
muss. In einzelnen Nerven fanden sich Renan t’sche Körperchen.
Die Vertreter der neuropathischen Genese der Dystrophie haben
nun zur Erklärung des Umstandes, dass die Mehrzahl der Dystrophien
einen negativen Befund im Nervensystem ergeben, die Theorie auf¬
gestellt, das mikroskopisch nachweisbare Veränderungen in der
Peripherie des Neurons sitzen können. Im Hinblick hierauf vom Vor¬
tragenden vorgenommene Untersuchungen an frischem (Excisions-)
Material ergaben an den motorischen Nervenendigungen keine nach¬
weisbaren Veränderungen.
Da nun die häufige Familiarität und Beginn in frühester Jugend
für die Pathogenese der Dystrophie eine Störung der Keimanlage
nahelegen, erscheint es plausibler, diese in einer Störung der
Anlage der Muskeln, nicht, wie es jetzt versucht wird, der
Nerven, zu vermuthen und also eine primäre myopathisehe Genese an¬
zunehmen. Da ferner neuere Untersuchungen ergeben haben, dass im
Embryonalstadium und vielleicht auch nachher fortwährend ein ziemlich
reichliches Zugrundegehen von Muskelfasern stattfindet, wirft sich die
Frage auf, ob der dystrophische Muskelschwund nicht vielleicht nur
als eine Steigerung der Fortdauer normaler Weise schon in früheren
Stadien vorkommender Processe anzusehen ist,
Sitzung am 1 . Februar 1 900.
Vorsitzender: Prof. Gad.
Schriftführer: Dr. Scheib.
Discussion: Docent Dr. Münzer ist der Ansicht, dass
die Dystrophia muscular is progressiva nach unseren
heutigen Kenntnissen als eine primäre Myopathie
aufzufassen sei.
Prof. A. Pick erklärt angesichts des Befundes im Accessorius-
stamm sich nur dann für befriedigt, wenn der Vortragende ganz
speciell die betreffenden Abschnitte des Centralnervensystems hin¬
sichtlich des Befundes erläutert ; er sieht weiter seine Zweifel be¬
züglich der Intactheit des Centralnervensystems gestützt durch die
klinischen Erscheinungen von Seite der bulbären Region, bezüglich
deren anatomischer Basis im Vortrage nichts erwähnt worden.
Hofrath C h i a r i bemerkt, dass ihm vor Allem an dem vom
Vortragenden beschriebenen Falle der Befund am Nervus accessorius
intereressire. Aus diesem Befunde leitet sich die Anschauung ab, dass
es sich in dem von Pick vorgestellten Falle nicht um eine
rein musculäre, sondern auch um eine nervöse Erkrankung handeln
dürfte.
Docent Dr. Friedei Pick (Schlusswort): Bezüglich der Be¬
merkung des Herrn Ilofrathes Chiari, dass bei secundärer Atrophie
nicht der gesammte Nervepquerschnitt degenerirt erscheine, betont er
dass es sich bei den Amputationen, von denen Hofrath Chiari
sprach, immer um gemischte Nerven handle, während hier offenbar
ein rein motorischer Muskelnerv vorliege, ferner entspricht das
circumscripte Degenerationsfeld eben einem gerade da abzweigenden
degenerirten Aste; ob weiter oben das degenerirte Feld auch so
circumscript wäre oder die degenerirten Fasern nicht diffus über den
Querschnitt vertheilt wären, ist nicht zu entscheiden, da nur ein kurzes
Stück der Nerven zur Untersuchung vorlag. Herrn Prof. Pick wäre
zu erwidern, dass der Accessoriuskern genauest an Serienschnitten
untersucht wurde, ohne dass irgendwelche Veränderungen nachweisbar
waren. Was die angebliche Kritik des Muskelbefundes auf der Mün¬
chener Versammlung betrifft, so hat sich diese als Missverständnis
herausgestellt, indem der betreffende Herr (Geheimrath Hitzig) von
den herumgereichten Bildern nur die des normalen Cucullaris zu
sehen bekommen hatte, als er aber dann die anderen kennen lernte,
am nächsten Tage seine diesbezüglichen Einwände vollständig zurück¬
zog, wie dies auch im Sitzungsprotokolle constatirt ist. Gegenüber den
Bemerkungen des Herrn Collegen M ü n z e r sei hier nur betont, dass
in dem vorliegenden Falle Schwarzfärbung bei Marehi-Behandlung nur
in einem der vielen untersuchten Muskeln, und zwar innerhalb sonst
ganz normal aussehender Muskelfasern zu constatiren war. Da nun
ferner neuere Untersuchungen das Vorkommen von reichlichen
Körnchen in normalen Muskelfasern erwiesen haben, die unter den
verschiedensten Umständen mit Osmium Schwarzfärburg zeigen, so
erscheint die pathologische Dignität derartigen Befunde bei Dystrophie
zweifelhaft.
*
Sitzung vom 9. Februar 1899.
Vorsitzender: Prof. Gad.
Schriftführer: Dr. Schenk.
Docent Dr. Wilhelm Fisch e 1 : Ueber einen Fall
von Extrauteringravidität bei Uterus unicornis.
Derselbe betrifft eine 27 Jahre alte Frau, die bereits zweimal
lebende Kinder geboren hatte. Die schweren Symptome innerer Blutung
machten die Köliotomie nothwendig.
Nach Entfernung der linken Tube, die an ihrem freien Ende
einen unregelmässig zerrissenen hämorrhagischen Sack bildete, und des
linken Ovariums stand die Blutung und die Inspection der Becken¬
organe ergab nun das Vorhandensein eines Uterus unicornis, Fehlen
von Tube, Ovarium, Lig. lat. und Lig. rot.
Der Vortragende bespricht ferner den Ausgang dieser Extra¬
uteringravidität zunächst in Hämatocelenbildung mit secundärer Nach¬
blutung und führt die in seinem Falle am 17. Tage nach der Ope¬
ration nach Entfernung des drainirenden Tampons aus der Douglas¬
tasche einsetzende eiterige Perimetritis auf Infection der dem Darme
fest adhärenten Blutcoagula zurück und spricht sich auf Grund dieses
und zweier anderer Fälle gegen die Köliotomie bei uncomplicirten
Hämatocelen aus.
*
Sitzung vom 23. Februar 1900.
Vorsitzender: Prof. Gad.
Schriftführer: Dr. Scheib.
Docent Dr. Rudolf Fischl spricht über neuere Heil¬
mittel in der Pertussisbehandlung.
Von Antipyreticis hat Fischl versucht:
Tussol (mandelsaures Antipyrin), Euch inin und Lacto-
p h e n i n. Als Einreibung wird Antitussin verwendet. Pastorin,
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
519
das erst am Ende der Epidemie zur Verfügung stand, konnte nur in
einigen wenigen Fällen benützt werden. Antispasmin und Per¬
tussin wurden der hohen Kosten wegen nicht angewendet. Im
Ganzen handelte es sich um 30 Fälle; das Resultat möchte Fisch 1
mit dem Effecte vergleichen, welchen man mit Antipyreticis bei Typhus
erzielen kann. Ebenso wie bei diesem dann der Verlauf nicht abge¬
kürzt wird, aber die Temperaturcurve sich auf einem tieferen Niveau
hält, so erzielen wir auch durch die Präparate beim Keuchhusten eine
Milderung des Verlaufes. Dass in den betreffenden Fällen eine Wirkung
des Präparates thatsächlich vorliegt, davon hat sich F i s c h 1 dadurch
überzeugt, dass beim Aussetzen des Präparates die Zahl der Anfälle
rasch zunahm. Von einem constanten Effecte kann man absolut nicht
sprechen, oft bleibt jeder Effect aus oder sieht man anfangs eine
Serie von Effecten, während später absolut kein Effect mehr erzielt
werden kann.
Oft hilft das eine Mittel gar nicht, während ein anderes prompt
hilft. Auch das Erbrechen wurde nur manchmal dadurch coupirt, dass
die Anfälle milder wurden; in anderen Fällen tritt umgekehrt das Er¬
brechen erst ein, wenn man die Mittel zu reichen beginnt. Tusso 1
kann wegen seiner Zersetzlichkeit nicht mit Milch gegeben werden,
am besten in Form von Chocoladeplätzchen; Säuglinge nehmen es
also schwer; man gibt von allen den Pulvern soviel Decigramm, als
das Kind Jahre zählt, drei bis vier Dosen täglich; blieb der Erfolg
aus, so stieg F i s c h 1 rasch auf die zwei- bis dreifache Dosis. Ist die
Therapie bis längstens acht Tage trotz grosser Dosen, die man nicht
ohne Gefahr geben kann, erfolglos geblieben, so versuche man lieber
ein anderes Mittel.
Die Wirksamkeit der Antipyretica ist keine specifische, es handelt
sich jedenfalls um eine Herabsetzung der Erregbarkeit der Larynx-
nerven oder der Vasomotoren.
Beim Antitussin (Valentine r und Schwarz) handelt
es sich um ein äusserlieh wirkendes Princip (so wie früher Carbol-
tücher aufgehängt oder die Kinder in die Gasanstalten geführt wurden);
Brust oder Rücken des Kindes werden mit lauem Wasser gewaschen,
abgewischt und roth gerieben, dann wird ein haselnussgrosses Stück
des Mittels so lange eingerieben, bis das Mittel ganz in die Haut ein¬
gepresst ist. Die Erfolge schienen manchmal frappirend und führten
zuweilen fast zu einer Coupirung der Anfälle; in anderen Fällen
freilich blieb die Wirkung entweder ganz aus, oder war nur sehr
gering, so dass F i s c h 1 das günstige Urtheil von Hein (Düssel¬
dorf) nicht ganz zu bestätigen im Stande ist, doch kann das Präparat
besonders bei Säuglingen empfohlen werden.
Das Past er in (bestehend aus 3% Codein, 97% Allantwurzel-
extraeten) wird am besten in Form von Plätzchen verschrieben, wie sie
die Fabrik liefert. Auch dieses Mittel befriedigt unsere Erwar¬
tungen nicht.
Allen bekannten Mitteln fehlt also eine specifische Wirksamkeit,
die sich ja in einer raschen Coupirung der Anfälle zeigen müsste; sie
bewirken aber doch eine wesentliche Milderung des Krankheitsverlaufes,
was man jedenfalls anerkennen muss.
Docent Dr. W. F i s c h e 1 demonstrirt ein Präparat von einem
Falle von Uterussarkom, den er vor drei Jahren zum ersten Male
sah. Damals, 41 Jahre alt, war Patient durch wochenlang anhaltende
Blutungen stark anämisch geworden. Im hinteren Vaginalgewölbe fand
sich ein Tumor, der den Eingang zum Muttermund verdeckte. Diagnose
unbestimnit. Bei der Operation konnte man nach Incision der Schleim¬
haut ein Myom ausschälen, das in der hinteren Muttermundslippe sass,
dann fand man einen ebensogrossen Tumor im Muttermund, der aus
dem Corpus uteri stammte. Mikroskopisch reines Myom. Nichts Ver¬
dächtiges.
Drei Jahre Wohlbefinden. Heuer im Sommer Schmerzen im
Unterleib links, objectiv nichts nachweisbar, wahrscheinlich Darm¬
schmerzen.
Am 31. Januar grosse Menge Blut (bis dahin regelmässig men-
struirt). Untersuchung ergab einen polypösen Tumor im eröffneten
Muttermund.
Die Operation bot insofern Schwierigkeiten, als der Tumor
Stück für Stück abriss, woraus man schon makroskopisch erkannte,
dass es sich um eine weiche sarkomatöse Geschwulst handle. Zur
Totalexstirpation fehlte einerseits Assistenz, andererseits die Erlaubniss
der Patientin, so dass dieselbe erst 14 Tage später vorgenommen
wurde. Der Tumor war ungefähr gänseeigross. Mikroskopisch ergab
sich kleinzelliges Rundzellensarkom. Bis jetzt geht es der Patientin
ganz gut.
2. Oesterreichischer Balneologen-Congress zu Ragusa
und Ilidze.
(Fortsetzung.)
Dr. Wilhelm D e g r e, Chefarzt in Darkau : Ueber das
Wesen der Scrophulose, ihre verschiedenen Formen
und deren Behandlung, insbesondere mit Rücksicht
auf die Sool-B romquellen in Dar kau.
Dr. J. Hoisl: Die sociale Stellung der Aerzte
im Allgemeinen, speciell der Curärzte gegenüber
den Cur Verwaltungen.
Vortragender, Sanitätsrath Dr. J. Hoisl, gibt einen er¬
schöpfenden Ueberblick der socialen Stellung der Aerzte im Allge¬
meinen, und schildert jene der Curärzte, insbesondere in den Privat-
Curanstalteu, welche er als betrübende bezeichnet, da ihnen selbst
Rechte vorenthalten werden, die naturgemäss nur dem Arzte zustehen.
Dadurch werde nicht nur das Ansehen der Aerzte, sondern, und viel¬
leicht noch in erhöhterem Ausmasse, jenes der Curorte selbst, sowie
deren materielle Interessen negativ beeinflusst.
Derlei unnatürlichen Zuständen muss mit aller Energie entgegen¬
getreten und die Autorität des Arztes aufrecht erhalten werden. Die
beste Handhabe hiezu ist der Erlass des k. k. Ministeriums des Innein
vom 2. März 1892, Z. 14.498 ex 1891, Absatz 5, der lautet:
„Alle Heilanstalten und Heilbäder müssen unter der Leitung und
verantwortlichen Ueberwachung eines zur Praxisausübung berechtigten
Arztes stehen. u
Die Regierung ist zu ersuchen, unbeschadet neuer diesbezüglicher
Verfügungen diesem Erlasse mit aller Energie vollste Geltung zu ver¬
schaffen, um die Bevormundung, welche die Curärzte als akademische
Bürger oft von den obscursten Verwaltungen zu ertragen haben, ein
für allemal aus der Welt zu schaffen.
Prof. Clar: Ueber Klima und Indication des öster¬
reichischen Küstenlandes.
Die französisch-italienische Riviera und das österreichische Küsten¬
land stellen in analoger Weise zu ihrem grössten Theile steile 'Bruch¬
ränder vor, entstanden durch das Absinken früheren Festlandes in die
nun vom Meere bedeckte Tiefe, aus der noch einzelne Bruchstücke als
Inseln hervorragen. So ist das westlich von der italienischen Halbinsel
im Ligurischen und Tyrrhenischen Meere, z. B. mit Corsica und den
Inseln des Toscanischen Archipels der Fall, im Adriatischen Meere aber
erscheint schon Istrien als ein Rest ehemalig grösseren Festlandes und
weiterhin wird der dinarische Gebirgszug von einer mehrfachen Insel¬
reihe begleitet. Diese Inseln sind Kämme submariner Höhenzüge und
ein Ueberbleibsel der ehemaligen Verbindung Dalmatiens mit dem
Monte Gargano in Italien. Der Verlauf der Winterisothermen steigt
zu beiden Seiten der Halbinsel schlingenförmig auf und bezeichnet so¬
wohl die Riviera von Genua als unser Küstenland als Gebiete höherer
Winterwärme. Beiderseits fällt der höchste Betrag des Wärmemittels
den Inseln zu und an der dalmatinisch-istrianischen Küste sehen wir
sowohl in Quarnero die mittlere Winterwärme von Abbazia nach Lussin
als im Süden von Spalato nach Lesina und Lissa um einige Grade
zunehmen. Gegen die vorgeschobensten Inseln bleiben sogar die süd¬
lichsten Küstenstrecken Dalmatiens noch etwas zurück. Das gegenüber
liegende italienische Festland erscheint auf seiner Ostseite aber im
Winter viel kälter als Dalmatien, wie es umgekehrt im Sommer be¬
deutend höher erwärmt ist. Ein Theil dieser Erscheinung beruht auf
dem Verlust an Feuchtigkeit, welchen die vom Inlande kommenden,
das Randgebirge überschreitenden Luftströmungen erleiden, wodurch
latente Wärme frei wird und die am marinen Abhange des Gebirges
herabsinkenden Luftmassen sich in einem viel höheren Grade wieder
erwärmen, als sie sich beim Aufsteigen abkühlen konnten. Die gün¬
stigen Positionen längs des Litorales sind Abbazia, Lussin, die Gegend
der Sette Castelli zwischen Trau und Spalato, von den Spalato vorge¬
lagerten Inseln vorzüglich Lesina und Lissa, ferner Ragusa und die
Lage von Castelnuovo in der Bocclie di Cattaro. Unter den Indiea-
tionen sind vor Allem langsame Reconvalescenz und alle anämischen
Zustände, ferner die erethischen Formen der Scrophulose zu nennen,
bezüglich des Respirationstractes die Katarrhe der Luftwege und die
Katarrhalpneumonie in ihrer chronischen Form, besonders für die
Inseln. Weiter Emphysem und, wie Glax in Erfahrung brachte, trotz
der häufigen feuchtwarmen Luftströmungen des Scirocco auch Circu-
lationsstörungen, so lange die Nieren nicht tief geschädigt sind. Ausser¬
dem können die für Terraineur eingerichteten Küstenorte zur Wieder¬
entfaltung der Lunge nach pleuritischen Exsudaten benützt werden.
Endlich wird der ausgedehnte Freiluftgenuss einer grossen Anzahl
chronischer Erkrankungen zu Statten kommen, doch ist immer zu be¬
rücksichtigen, dass während des Winters ein häufiger Wechsel von
kühlen und trockenen Luftströmungen mit warmen und feuchten statt¬
findet, wo also eine von beiden allein angezeigt erscheint, die Küste
weniger angezeigt erscheint als das Inland oder die Insel.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Ei. 22
520
Prof. Wilhelm Winternitz und Dr. Tschurtschen-
thaler: Einfluss kalter Seebäder auf die Körper¬
temperatur und Wärmeregulation.
Prof. Winternitz berichtet über Versuche, die er er im Ver¬
eine mit Dr. Tschurtschenthaler, Leibarzt der bulgarischen
Prinzen, während seines Aufenthaltes in Abbazia im Januar d. J. an-
gostellt. Dr. Tschurtschenthaler und noch ein anderer Herr
badeten täglich im Meere bei einer Lufttemperatur bis 6° R. und bei
einer Wassertemperatur von 5 5 — 7° R. in der Dauer von 10 — 45 Mi
nuten und es wurden über 20 Messungen der Körpertemperatur, des
Blutdruckes, der Pulsfrequenz, des Hämoglobingehaltes vor und nach
den Bädern vorgenommen, ebenso wurden Sphygmogramme vor und
nach den Bädern angefertigt. Das Resultat dieser Untersuchungen,
welche Prof. Winternitz an einer zu diesem Zwecke angefertigten
graphischen Darstellung demonstrirte, ergab, dass in dem kalten Bade
eine mächtige Steigerung der Körpertemperatur, der Pulsfrequenz, des
Blutdruckes, des Hämoglobingehaltes stattfindet, und dass Alles darauf
hindoutet, dass die Beherrschung der Reactionsvorgänge der mächtigste
Factor für die willkürliche Steigerung und Heiabsetzung der Stoff¬
wechselvorgänge ist, und dass daraus die weiten Grenzen der Anwend¬
barkeit thermischer und mechanischer Einflüsse bei den verschiedensten
Ernährungsstörungen in physiologisch verständlicher Weise abzu¬
leiten sind.
Kaiserlicher Rath Dr. Arthur L o e b e I, k. k. Bade- und
Brunnenarzt in Dorna: Zur Purpurabehandlung m i t T r i n k-
und Badecuren.
L o eb e 1 rühmt in erster Reihe die Trinkeuren mit reinen Eisen¬
säuerlingen wegen ihres ausschliesslichen Gehaltes an kohlensaurem
Eisenoxydul, wobei das Eisen in recht verdünnter Form mit der Magen¬
wand in Berührung tritt, will aber deren Benützung wegen ihrer Kälte-
und Kohlensäurewirkung erst jenem Momente Vorbehalten wissen,
da die Blutaustritte dauernd zum Stillstände gekommen sind. Bei
Nachschüben in unerheblichem Grade, bei Complicationen im früheren
Krankheitsverlaufe mit Bluterbrechen, Blutabgängen aus dem Darme
soll das Mineralwasser erwärmt oder mit warmer Milch gemischt wer¬
den, um die Blutdrucksteigerung im Gefässsystem zu vermeiden, in
gebrochenen Dosen verordnet werden, um der Empfindlichkeit des Dige-
stionstractes entgegenzukommen und bei Milz- und Leberschwellungen
mit Molke gemengt werden, um flüssige Daimentleerungen zu fördern.
Dr. Ziffer (Gleichenberg) will nachweisen, indem er den
respiratorischen Gas Wechsel blos auf Grund von Span¬
nungsdifferenzen der Gase für unzureichend erklärt, dass
eine sec reto rische Thätigkeit der Lungenwand, durch
welche CO., activ secernirt und 0 activ aufgenommen wird, be¬
steht. Zu diesem Resultate gelangte er durch Untersuchungen, mit
welchen er die vorhandene Spannung der Blutgase im
strömenden Blute bestimmte und indem er gleichzeitig die Aus-
athmungsluft analysirte.
Haben wir es aber mit einem, wenn auch den secrotorischen
Vorgängen blos ähnlichen — doch wahrscheinlich noch complicirteren —
Vorgänge zu thun, dann muss auch an eine den Gasaustausch direct
beeinflussende Nerven thätigkeit gedacht werden, und da in
diesem Falle Alveolen und deren Capillarschlingen das secretorische
Geschäft zu besorgen hätten, so werden diese unter den Einfluss
gewisser Nervenbahnen gestellt werden müssen.
Der Feuchtigkeitsgehalt der Atmosphäre ist in erster
Reihe dazu berufen, die Qualität des Klimas zu bestimmen.
Marcel hält die Vermehrung der CO, - A u s s c h e i d u n g
auf Höhen für besonders wichtig bei Erklärung der therapeutischen
Wirkungen und begründet dies damit, dass im Allgemeinen auf grossen
Erhöhungen über dem Meere die Ausscheidung des CO., erleichtert ist.
Zur Vermehrung der rothen Blutkörperchen kann sowohl im Hoch¬
gebirge, wie im subalpinen Klima und am Seostrande nach Dr. Ziffer
der hohe Ozon gehalt der Luft beitragen. Der erfrischende
und stimulirende Charakter der Seeluft dürfte vielleicht hauptsächlich
auf den grossen Ozongehalt derselben zurückzuführen sein.
Dr. Eduard Weisz (Bad Pistyan) beschäftigt sich mit der
Frage : W i e sollen wir Fälle von subacutem Gelenks¬
rheumatismus in Bädern behandeln?
Dr. Arthur Schenk (Sanatorium „Helenenhöh“ bei Kolberg
a. d. Ostsee) : Die Hydrotherapie des Darmtractes
mittelst Enteroklyse.
Preindlsborger: Ueber die Beziehungen dos
Trinkwassers zur L i t h i a s i s.
P reindlsberge r erwähnt, dass Litbiasis in Bosnien eine
sehr häufig beobachtete Erkrankung darstellt und auch vor der öster¬
reichisch-ungarischen Occupation Gegenstand der Behandlung durch
Volksärzte, worüber Preindlsberger an anderer Stelle berichtet
hat, war.
Preindlsberger hat 176 Fälle von Lithiasis-Beobachtungen
im Lande gesammelt, darunter 83 eigene in 5'/2 Jahren.
Preindlsberger verfügt über 141 Wasseruntorsuchungen
aus den verschiedensten Theilen des Landes, wobei die zahlreichen
Mineralquellen des Landes nicht berücksichtigt sind. Aus diesen
Untersuchungen geht hervor, dass es sich in den meisten Fällen um
ausgesprochen hartes Trinkwasser handelt, nur in der Hercegovina
wiegt das vielfach gebrauchte Cisterneuwasser als weiches Trinkwasser
vor; aus der Hercegovina stammen von 176 Fällen nur 13 Be¬
obachtungen.
Preindlsberger hat seine Untersuchungen noch nicht ab¬
geschlossen und will diese weiter fortführen.
Docent Dr. Otto v. Weiss, Vorstand der geburtshilflich¬
gynäkologischen Abtheilung des Landcsspitales in Sarajevo : Ueber
die Wirkung derTherme von Ilidze bei Erkrankungen
der weiblichen Sexualorgane.
Redner bespricht seine im Laufe der letzten sechs Jahre an
den Kranken der geburtshilflich - gynäkologischen Abtheilung des
bosnisch-hercegovinischen Landesspitales gemachten Erfahrungen. An¬
gewendet wurden Bäder und als unterstützendes Moment auch die
Trinkcur.
Als Contraindicationen gelten: Degenerationszustände des Herzens
und der G< fässwaudungen, Tuberculose, Emphysem und Gravidität.
Erfolgreich angewendet wurden alternirend Thermal- und Moorbäder
bei infectiösen Katarrhen der Scheide und der Cervix uteri, bei
leichteren Graden der Endometritis corporis und auf entzündlicher
Basis beruhender Dysmenorrhoe. Sehr gute Erfolge wurden nament¬
lich mit den Moorbädern erzielt bei ascendirender Gonorrhoe mit ent¬
zündlicher Adnexschwellung; hier bedurfte es aber längerer, meist auf
mehrere Sommer ausgedehnter Moorbadbehandlung bei Wieder¬
aufnahme der poliklinischen Loealbehandlung im Laufe des Winters.
Die Erfolge, die ja bei strenger Badecur jedenfalls rascher er¬
zielt worden wären, waren aber auch so derart günstig, dass Redner
den operativen Eingriff bei chronischer entzündlicher Adnexaffection
nur als ultima ratio betrachtet.
Auch bei chronischer Oophoritis und selbst chronischer Metritis
in ihrem Frühstadium, besonders bei Subinvolutio uteri p. abort.,
respective p. p. matur., wurden gute Erfolge erzielt, die schönsten
aber bei intraperitonealen, respective parametranen Exsudaten, die unter
dem Einflüsse länger dauernder, eventuell wiederholter Moorbad¬
behandlung sehr schön zur Resorption gelangten. Auch in der Re-
convalescenz nach grösseren Operationen, bei Amenorrhoe auf chloroti-
scher, respective anämischer Basis wurden, hier bei Combination mit
internem Gebrauche der Guber- Quelle, stets gute Erfolge erzielt.
Gleichzeitige Localbehandlung fand mit Ausnahme der manuellen
Dehnung aller parametranen, respective perimetranen Schwielen und
den Uterus fixirenden Narbenstränge in der Regel nicht statt. Ab¬
lehnend verhält sich Redner gegen eine Thermal- und Moorbehand-
lung bei Uterusfibromen, sobald diese durch Blutung, Grösse oder
Lage Störungen verursache. Er sieht hier in der baineotherapeutischen
Behandlung nur eine Verschiebung der doch Erfolg versprechenden
Operation, eine Verschiebung, die angesichts der durch die lang¬
wierigen Blutungen häufig eintretenden Degenerationszustände des
Herzens und der Gefässwandungen nicht gleichgiltig ist, ja sogar bei
später doch noting werdender Myotomie verhängnissvoll werden kann.
(Fortnetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag, den 1. Juni 1900, 7 Uhr Abends,
unter dem Vorsitze des Herrn Hofrathes Prof. Clll’obak
stattfindeedon
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Hofrath S. Exncr: Demonstration eines Mikrophons zur akustischen
Beobachtung der Schallschwingungen am menschlichen Gehörorgane.
2. Prof. Englisch: Zur Hypertrophie der Prostata. (Fortsetzung).
Vorträge haben angemeldet die Herren: Prof. Weinlecliner und Fein.
Bergmeister, Paltauf.
Wiener laryngologische Gesellschaft.
Programm
der am
Donnerstag, den 7. Juni 1900, 7 Uhr Abends,
im Hörsaale der laryngologischen Klinik unter dem Vorsitze des Herrn
Prof. Chiari
stattfindenden Sitzung.
Demonstrationen.
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumiiller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, O. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner,
M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann,
R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, G. Toldt, A. v. Vogl,
J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gussenbauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigirt von I)r. Alexander Fraenkel.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/1, Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang. Wien, 7. Juni 1900. Hr. 23.
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nnd Ausland werden von
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neuert. — Inserate worden
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zcile berechnet. Grössere
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Verlagsbandlung :
Telephon Nr. 6004.
Oie „Wiener klinische
Wochenschrift“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von minde¬
stens zwei Bogen Gross-
quart.
Zuschriften für die Redac¬
tion sind zu richten an
Dr. Alexander Fraenkel,
1X 3, Maximilianplatz,
Günthergassei. Bestellun¬
gen und Geldsendungen an
die Verlagsbandlung.
Redaction :
Telephon Nr. 3373.
TlSTJEBi^. LT:
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel : 1. Zur Erkenntaiss der Embolie in der Pulmonal¬
arterie. Von Prof. Dr. Dräsche, Primararzt des Allgemeinen
Krankenhauses in Wien.
2. Aus der chirurgischen Abtheilung des bosnisch-hercegovinischen
Landesspitales zu Sarajevo. Zur operativen Dislocation des Kropfes
nach W ö 1 f 1 e r. Von Dr. Josef Preindlsberger.
3. Aus dem Krankenhause in Villach. Ein Fall von Extrauterin¬
gravidität (geheilt durch Laparotomie). Mitgetheilt von Dr. Hans
Hock.
4. Aus der k. k. II. psychiatrischen Universitätsklinik des Herrn
Hofrathes R. Freih. v. Krafft-Ehing in Wien. Hedonal, ein
Hypnoticum der Urethan Gruppe. Von Dr. Arthur Schüller,
Hospitanten der Klinik.
II. Referate: I. La pesfe et son microbe. Par le Dr. Netter. II. Bericht
über die Thätigkeit der zur Erforschung der Pest im Jahre 1897
nach Indien entsendeten Commission. Von Prof. Dr, Gaffky,
Prof. Dr. Pfeiffer, Prof. Dr. Sticker und Privatdocent
Dr. D i e u d o n n e. III. Sieroterapia e vaccinazioni preventive
contra la peste bubonica. Von Prof. Dr. Alexander Lustig.
IV. Schutzimpfung und Serumtherapie. Von Privatdocent Dr.
Adolf Dieudonne. V. Ueber die Grenzen der Wirksamkeit
des Diphtherieheilserums. Von Prof. W. D ö n i t z. VI. Ueber die
Gangrene foudroyante. Von Dr. F. Hit sch mann und Dr. O.
L i n d e n t h a 1. VII. Recneil de travaux du laboratoire Boer-
liave. Publie par Dr. E. Siegenbeck van Heukelom.
VIII. Le cancer (epitheliome, carcinome, sarcome) maladie infec-
tieuse ä sporozoaires (formes microbiennes et cycliques). Par le
Dr. F. J. Bose. IX. I batteri patogeni in rapporto di disinfettenti.
Von Dr. Donato Ottolenghi. Ref. Dr. R. Kretz.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
| V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
Zur Erkenntniss der Embolie in der Pulmonal¬
arterie.
Von Prof. Dr. Dräsche, Primararzt des Allgemeinen Krankenhauses in
Wien.
Die Embolie der Pulmonalarterie ist allerdings nicht
selten, wohl aber deren Feststellung am Krankenbette. Ent¬
weder erfolgt nach dem Eintritte derselben ganz plötzlich der Tod,
oder die Kranken gelangen zur Zeit, wo die Embolie stattfindet
und das Leben derselben nur ganz kurze Zeit anhält, nicht
zur Beobachtung und Untersuchung. In den Publicationen
hierüber findet sich kein einziger Fall verzeichnet, bei welchem
sogar die Passage des Thrombus durch das rechte venöse
Ostium mit gleichzeitigem momentanen Verweilen in demselben
am Leben sicher zu erkennen gewesen ist. Die Veröffentlichung
einer solchen constatirten Embolie, hat jedenfalls ein besonderes
klinisches Interesse.
Vorerst dürfte ein kurzes Eingehen auf die Erscheinungen
und den Verlauf der Embolie der Pulmonalarterie, hauptsäch¬
lich deren Stammes und beider Aeste zur leichteren Orien-
tirung angezeigt sein. Das Krankheitsbild derselben ist je
nach der Grösse des in das Gefäss gelangenden Thrombus,
dessen Sitz und Verhalten ein sehr verschiedenes. Findet durch
einen umfangreichen Embolus oder durch massenhaft gleich¬
zeitig in die Pulmonalarterie geworfene Gerinnsel ein totaler
Verschluss derselben statt, so kann auch sofort oder doch sehr
rasch unter plötzlichem bewusstlosem Zusammenbrechen der
Kranken der Tod erfolgen. Kommt es hiebei nur zur momen¬
tanen Obturation der Pulmonalarterie, so kann das Leben noch
stunden- oder tagelang bestehen. Die eine solche plötzliche
Unterbrechung oder Hemmung der Circulation begleitenden
Erscheinungen sind äusserst schwer und äussern sich durch
Ohnmacht, Vergehen der Sinne, Bewusstlosigkeit, convulsivische
Zufälle, grosse Unruhe, Todesangst, Athemnoth, unregelmässige
Herzaction, kleinen oder unfühlbaren Puls, verfallenes blasses
oder cyanotisches Gesicht, klebrigen Schweiss und kalte Ex¬
tremitäten. Dieser Zustand ändert sich aber zuweilen sehr
bald, wenn das betreffende Gefässstück sich erweitert, ganz
oder theilweise wieder wegsam wird. Das Bewusstsein kehrt
dann zurück, der Puls wird fühlbar und das Athmen freier.
Wie einerseits das Gefässrohr der Pulmonalarterie oder ihrer
Iiauptäste durch einen grossen Thrombus auf einmal verlegt
werden kann, so geschieht dies zuweilen auch ganz allmälig
durch fortgesetzte schichtenweise Anlagerung von Thrombus-
massen oder durch Zustandekommen von Blutgerinnseln an der
embolisclien Stelle des Gefässes. Der Verlauf solcher Embolien
ist meist ein zu kurzer, als dass es hei denselben ausser
Hyperämie und Oedem der Lungen auch zu deren Infarcirung
kommen könnte.
Die Erkenntniss der Embolie der Pulmonalarterie hat
ihre Grenzen und kann eigentlich nur bezüglich des Stammes
und dessen Hauptäste unter gewissen Verhältnissen mit einem
hohen Grade der Wahrscheinlichkeit begründet werden. Die
Circulationsstörungen in Folge der Obturation oder Verengerung
des Strombettes der Pulmonalarterie sind - allerdings sehr
charakteristisch, können aber auch durch andere Zustände des
Herzens veranlasst werden. Treten dieselben aber ganz plötz¬
lich auf, oder von einem bestimmten Zeitpunkte an nachweis¬
bar, so gewinnt die Diagnose umsomehr Sicherheit, wenn
gleichzeitig Thrombosen an den peripheren Venen vorhanden
sind. Insofern es bei der Embolie der Pulmonalarterie doch
immer auch zu Störungen ihrer Blutcirculation kommen muss,
►
522
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 23
so können sich dieselben ebenfalls durch Erscheinungen kund¬
geben, wie solche nach Stenosirungen des Herzens oder seiner
grossen Gelasse zu beobachten sind. Dieselben aber werden je
nach dem Sitze, der Grösse und Beschaffenheit des Embolus,
sowie nach dem Verhalten des betroffenen Gefässstückes sehr
verschieden sein. So weit hierüber einschlägige Beobachtungen
vorliegen, ist bei der Embolie der Pulmonalarterie meist ein
systolisches Schwirren am Sternum zwischen dem zweiten und
dritten Intercostalraume fühlbar. Gleichzeitig können hiemit
auch eigentümliche akustische Phänomene, namentlich wir¬
belnde, die Systole überdauernde Geräusche Vorkommen. Diese
entstehen hauptsächlich durch Wirbelbewegungen des zurück¬
strömenden Blutes, wenn sich der Thrombus im Anfangsstücke
der Pulmonalarterie befindet. Ist nur ein Ast obturirt oder
verengert, so kann die gesammte Blutmasse ohne wahrnehm¬
bare Geräusche in den noch freien Theil strömen. Liegen die
Thromben in der Nähe von Klappen, so verhindern sie deren
Entfaltung und es können statt der Töne ebenfalls verschie¬
denartige Geräusche gehört werden. Bei freiem Flottiren der
Thromben oder deren Passiren durch die Ostien können auch
wirbelnde Geräusche entstehen. Derartige Geräusche mit
gleichzeitig fühlbarem Schwirren erhalten erst durch die Plötz¬
lichkeit ihres Auftretens die richtige Deutung.
Der zu besprechende Fall einer so höchst seltenen Embolie
der Pulmonalarterie betraf ein 68jährige Pfründnerin, welche am
7. März auf meiner Abtheilung im Allgemeinen Krankenhause zur
Behandlung gekommen war. Dieselbe litt seit einigen Wochen ohne
vorausgegangene erhebliche Erkrankung an Herzklopfen, Athemnoth
und war acht Tage vor ihrem Spitalseintritte nach Anschwellung
beider Beine bettlägerig geworden. Die mittelgrosse, ziemlich gut
erhaltene und noch kräftige Kranke mit sehr stark entwickeltem
Panniculus adiposus ergab bei der Aufnahme folgenden Befund:
Puls 1(10, arhythmisch, mittelweit, von geringer Spannung, nicht
rigid. Die Respiration beschleunigt, oberflächlich, vorwaltend costalen
Charakters, lieber beiden Lungen allenthalben voller Schall, stellen¬
weise Pfeifen, Schnurren und Rasselgeräusche. Der Herzimpuls im
fünften Intercostalraume, das Herz im Breitendurchmesser etwas
vergrössert, die Töne rein, aber dumpf. Temperatur normal. Der
Unterleib etwas aufgetrieben, leicht meteoristisch. Leber um Geringes
vergrössert. Beide untere Extremitäten stark ödematös geschwollen,
druckempfindlich mit oberflächlichen Venenausdehnungen. Harnmenge
spärlich, mit etwas Eiweiss, ohne cylindrische Gebilde. Die Kranke
beklagte sich hauptsächlich über mangelnde Esslust, etwas- Husten,
erschwertes Athmen, das Gefühl starker Spannung der Beine,
namentlich des rechten.
Bis 18. März war im Zustande und Befinden der Kranken
keine wesentliche Veränderung eingetreten. Wiederholte Untersuchung
des Herzens ergab immer den gleichen Befund. Dies war auch bei
der Morgenvisite genannten Tages der Fall. Unmittelbar nach Ver¬
lassen des betreffenden Krankenzimmers meldete die Wärterin des¬
selben, dass bei der Patientin plötzlich ein Erstickungsanfall mit
Röcheln, Cyanose, Convulsionen, Zuckungen der Gesichtsmuskeln
und Verdrehen der Augen unter Bewusstlosigkeit eingetreten seien.
Diese Zufälle, namentlich die Bewusstlosigkeit und die Convulsionen,
hielten nur ein paar Minuten an. Unmittelbar darauf erfolgte die
l ntersuchung der Kranken. Dieselbe war sich des eigentlichen An¬
falles nicht bewusst, aber noch stark cyanotisch und verfallen mit
kaltem, klebrigem Schweiss an den Extremitäten und angstvollem
Gesichtsausdrucke, die Pupillenreaction sehr träge, Puls kaum fühl¬
bar, arhythmisch, ungefähr 150. Ueber dem Herzen am Sternum,
entsprechend den zweiten bis dritten Intercostalräumen, ein sehr
starkes, ausgebreitetes, systolisches Schwirren fühlbar. Daselbst ein
längeres, rauhes, eigenthümliches, wirbelndes Geräusch hörbar, das
der Systole entsprach, sich aber auch selbst in die Diastole fort¬
setzte und manchmal wie getheilt erschien. Bei der hochgradigen
Dyspnoe war eine eingehendere Beobachtung dieses Geräusches
nicht möglich. Plötzlich verschwanden wieder das Geräusch und
gleichzeitig auch das Schwirren und es wurden nur dumpfe, un¬
deutliche Töne wahrgenommen. Zwei Stunden nach dem Anfalle
hatte sich die Patientin schon wieder etwas erholt, klagte nur über
hochgradige Schwäche und Hinfälligkeit, war noch etwas cyanotisch,
aber nicht mehr dyspnoisch. Die Herzaction sehr unregelmässig,
der Puls klein, schwach, 120. Wiederholt war auch gallig-schleimiges
Erbrechen erfolgt. Um ’/.,11 Uhr Nachts trat wieder plötzlich ein
nur mehrere Minuten dauernder Erstickungsanfall mit hochgradiger
Cyanose ein. Der sogleich herbeigerufene Inspectionsarzt fand die
Kranke aber bereits verschieden. Vom ersten Anfalle Vormittags
bis zu dem Eintritte des Todes waren 15 SLunden verstrichen.
Der unmittelbar nach vorherigem Wohlbefinden unter ausser¬
ordentlicher Herzschwäche, Dyspnoe und Verfall aufgetretene Er¬
stickungsanfall musste schon im ersten Augenblicke auf eine ganz
plötzlich stattgefundene Circulationsstörung himveisen. Indem diese
so schweren Zufälle fast ebenso schnell sich wieder besserten oder
sogar schwanden, als sie sich eingestellt hatten, so konnten die¬
selben auch nur durch eine ganz kurz andauernde Einwirkung
hervorgerufen worden sein. Das Schwirren und wirbelnde Herz¬
geräusch, welche auch nur vorübergehend bestanden, Hessen an¬
nehmen, dass es sich um Erscheinungen handle, wie solche bei
Verengerung der Herz-Ostien und der grossen Gefässe ebenfalls
Vorkommen. Bei dem gleichzeitigen Bestände der ödematosen An¬
schwellungen der unteren Extremitäten mit Druckempfindlichkeit
und oberflächlichen Venenerweiterungen lag es wohl am nächsten,
dass von den in diesen vorhandenenen Thromben Gerinnsel los¬
gerissen worden waren, in die rechte Vorkammer und von dieser
in das venöse Ostium gelangten, aber daselbst beim Passiren
momentan stecken blieben und eine vielleicht nur theilweise, aber
sehr bald vorübergehende Obturation desselben veranlassten. Der
in die Pulmonalarterien fortgeschwemmte Embolus war jedenfalls
nicht so gross, um deren Lumen zu verstopfen und eine Unter¬
brechung der Circulation herbeizuführen. Wohl aber war es wahr¬
scheinlich, dass der Embolus später durch Apposition neuer
Thrombusmassen oder durch Blutgerinnsel einen die Pulmonal¬
arterie verschliessenden Umfang annahm, in Folge dessen die
Kranke 15 Stunden nach dem ersten Erstickungsanfalle in einem
gleichen plötzlich verschied.
Von dem Sectionsbefunde genügt, das Wesentlichste mitzu-
theilen: Körper mittelgross, kräftig, sehr fettreich, allgemeine Decke
blass, Unterhautzellgewebe über dem Abdomen drei Querfinger
breit, Musculatur vom Fette stark durchsetzt. Gehirn blutarm, sein-
feucht. Schilddrüse in beiden Lappen vergrössert, grob gekörnt. Die
linke Lunge in der Spitze angewachsen, Unterlappen dunkel ge-
röthet, blutig suffundirt, in der hinteren Periphere mit prominirenden,
kaum stecknadelkopfgrossen Knötchen besetzt, über welchen die
Pleura getrübt ist. Das Lungengewebe luftarm, sehr blutreich,
stellenweise blutig infarcirt. Die rechte Lunge frei, stark gedunsen,
ziemlich trocken, in einzelnen Aesten der Pulmonalarterie schwarz-
rothe, haftende Gerinnsel. Im Herzbeutel klares Serum. Das Herz
im rechten Ventrikel etwas dilatirt, enthält flüssiges Blut. Bicuspidalis
etwas gewulstet, verdickt, schliessungsfähig, die übrigen Klappen
zart. Im Stamme der Arteria pulmonalis ein 3 cm im Umfange
haltender, etwa 4 cm langer, dann sich (heilender Thrombus, welcher
Verzweigungen des rechten Astes verlegt. Im linken Aste ein
1 ^2 cm im Umfange haltender, zu einem Knäuel zusammen¬
gewundener, etwas braunroth gefärbter Thrombus, welcher dessen
Verzweigungen vollständig verlegt. Die rechte Vena iliaca erfüllt
von einem schwarzrothen, in die Cava reichenden Gerinnsel,
welches daselbst eine etwas zottige Oberfläche zeigt. Das Gerinnsel
reicht in die Hypogastrica und Iliaca dextra je 2 cm weit hinein.
Dann erscheinen die Iliaca dextra und Femoralis bis zum Adductoren-
schlitze erfüllt von einem schwarzrothen, leicht haftenden Gerinnsel,
in dessen Mitte sich ein wurmförmiges, etwas derberes findet,
welches ähnlich jenem im linken Aste der Pulmonalarterie ist.
Nach diesem Befunde betraf die Embolie der Pulmonal¬
arterie zuerst deren linken Ast. Der in dieselbe gelangte
Thrombus hatte dieselbe Beschaffenheit, wie die in der Vena
iliaca und femoralis Vorgefundenen Gerinnsel, war aber nicht
so gross, um die Lichtung derselben zu verschliessen und die
Circulation gänzlich zu verhindern. Wohl aber konnte der¬
selbe bei der Passage durch das rechte venöse Ostium ein
momentanes Hinderniss für die Blutströmung aus dem
Atrium in die Kammer sein. Der im Stamme der Arteria pulmo¬
nalis vorhandene und sich theilweise auch in den rechten Ast
erstreckende Embolus war aber so umfangreich, dass er eine
Nr. 2.3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
523
Unterbrechung der Circulation veranlassen und hiedurch
plötzlich den Tod herbeiführen konnte.
Die am Leben der Kranken gestellte Diagnose betraf
nicht nur den Nachweis einer Embolie der Pulmonalarterie,
sondern constatirte auch den Moment, in welchem der peri¬
pherische Thrombus in das rechte venöse Ostium gelangte und
dann dasselbe passiite. Mag dies auch eine mehr zufällige Be¬
obachtung sein, so hat dieselbe doch in klinischer, namentlich
physikalischer Beziehung einen gewissen Werth. Das nur
minutenlange Verweilen des Thrombus im rechten venösen
Ostium war von einer plötzlichen Veränderung in der Blut¬
zufuhr zum Gehirne begleitet, Avas sich zuerst durch Stö¬
rungen in der Grosshirnfunction kund gab. Wie der Thrombus
das Ostium passirt hatte, war auch die Strombahn für das
Blut wieder frei und die schweren Erscheinungen der Gehirn¬
anämie schwanden ebenso schnell, als dieselben gekommen
waren. Das plötzliche Auftreten wie Verschwinden des
Schwirrens und wirbelnden Geräusches am Herzen Hessen
keine andere Erklärung zu, als dass von den peripherischen
Thrombosen losgerissene Gerinnsel ins rechte Herz und
namentlich in dessen venöses Ostium gelangten und daselbst
ganz kurze Zeit eingezwängt blieben. Jedenfalls war die hie¬
durch zu Stande gekommene Obturation jener keine voll¬
ständige und durchströmte dasselbe immer noch etwas Blut,
Avelches die frei beweglichen, mehr flottirenden Gerinnsel in
fühl- und hörbare Vibration versetzen konnte. Dieselben
waren auch nicht so umfangreich, um den linken Ast der
Pulmonalarterie zu verlegen, daher in demselben noch eine
Blutcirculation stattfand. Erst durch eine neuerliche An¬
lagerung von Thrombusmassen und frischen Blutgerinnseln kam
es zu einem fast vollständigen Verschlüsse des Stammes der
Pulmonalarterie und zu plötzlichem Tode. Den ersten emboli-
schen Anfall überlebte die Kranke 15 Stunden bei vollem
Bewusstseine und erholte sich sogar etwas, was ebenfalls ein
äusserst seltenes Vorkommniss bei der Embolie der Pulmonal¬
arterie oder deren beiden Aeste ist.
Aus der chirurgischen Abtheilung des bosnisch-hercego-
vinischen Landesspitales zu Sarajevo.
Zur operativen Dislocation des Kropfes nach
Wölfler.
Von Dr. Josef Preindlsberger.
Nach einem in der k. k. Gesellschaft der Aerzte am 27. April d. J. ge¬
haltenen Vortrage.
Wölfler hat mit diesem Namen eine Operation be¬
zeichnet, die, wie er sagt, den Kranken, ohne ihn den Folgen
einer Totalexstirpation der Schilddrüse auszusetzen, von den
Gefahren des Kropfleidens befreit. Die Dislocation kommt nur
dann in- Frage, wenn die Exstirpation nicht mehr ausgeführt
werden darf.
Der Eingriff besteht darin, dass man den Kropf aus seinem
Lager, wo er functionelle Störungen hervorruft, heraushebt und
ihn unter der Haut und dem Kopfnicker und wohl auch unter den
übrigen Muskeln an einer meist höher gelenenen Stelle fixirt,
wo er voraussichtlich die Luftröhre, den Nervus recurrens und
die Speiseröhre nicht mehr drücken kann. Wölfler betrachtet
als Indication zu dieser von ihm vorgeschlagenen Operation :
1. Kropfrecidiven, deren Exstirpation ohne die Gefahr der
Kachexie nicht mehr gestattet ist, obwohl sie zu Compressions-
erscheinungen führen können ;
2. Bilaterale Compression der Luftröhre durch beide
Kropfhälften (Exstirpation der einen und Dislocation der
anderen).
Die grosse praktische Bedeutung, welche die von Wölfler
angegebene Operationsmethode bietet, gestattet vielleicht die
Mittheilung eines einzelnen Falles, bei dem die Methode
Wölfler’s mit einer von mir gewählten Modification zur An¬
wendung gelangte.
Die K rankengeschichtc des Falles lautet in Kürze:
Am 1. März d. J. gelangte die 15jährige Manda A. aus
Vares in Bosnien zur Aufnahme an meine Abtheilung. Sie war
von dem Arzte der dortigen Eisenwerke an mich gewiesen worden,
weil die Erscheinungen einer Trachealstenose sich in der letzten
Zeit so gesteigert hatten, dass die Patientin fast jede Nacht in
äusserst bedrohliche Erstickungsgefahr gerieth. Die Patientin gab
an, dass sie seit ihrer Kindheit einen dickeren Hals gehabt habe,
dass der Umfang desselben in den letzten Monaten aber rasch zu¬
genommen habe, offenbar gleichzeitig mit der sexuellen Entwicklung
des Mädchens. Am Tage der Aufnahme war die Patientin durch
die Reise sehr erschöpft und hot das Bild einer schweren
Trachealstenose, so dass sie nur sitzend im Bette nach Athem rang.
Die laryngoskopische Untersuchung ergab eine deutliche Vor-
wölbung der linken Trachealwand ohne Lähmungserscheinungen.
Puls frequent; am Herzen ein lautes systolisches Geräusch; diffuse
Bronchitis.
Die vordere Seite des Halses von der Gegend des Schild¬
knorpels angefangen bis zum Jugulum, bis zu den hinteren Rändern
der Mastoidei, zeigt eine diffuse Vorwölbung, die bei Schluek-
bewegungen deutlich mitgeht. In der Haut einzelne ektatische
Venen. Ausserdem sieht man mehrere ganz seichte oberflächliche
Furchen, ln das Juguium kann man kaum mit der Fingerspitze
eindringen. Die Haut über der Geschwulst allenthalben leicht ver¬
schieblich und faltbar. Umfang des Halses in der Höhe des Schild¬
knorpels 33 cm, zwischen Schildknorpel und Jugulum 36 cm, knapp
über dem Jugulum 38 cm.
Bei der Palpation zeigt sich die Hervorwölbung, bedingt durch
eine wenig verschiebliche Geschwulst, die offenbar der Schilddrüse
angehört, von derber und kleinkörniger Consistenz (Struma parenchy-
matosa); Pulsation der Gefässe am hinteren Rand der Geschwulst
hinter dem M. sternocl.-mast. deutlich fühlbar.
Bei ganz leichter seitlicher Compression tritt Athemnoth auf.
Unter Bettruhe und Inhalationen besserten sich die Er¬
scheinungen der Stenose ein wenig, aber trotzdem konnte die Patientin
nur in sitzender Stellung mühsam athmen.
Am 3. März nahm ich mit S c h 1 e i c h’scher Infiltrations-
Anästhesie die Exstirpation und Dislocation der Struma vor.
Eine Narkose wäre nicht anwendbar gewesen und die
Operation selbst nahm über zwei Stunden in Anspruch, da sie
einerseits durch die Unruhe der Patientin verzögert, anderer
seits durch dabei häutig auftretendo Erstickungsanfälle ge
stört war.
Schichtenweise Durchtrennung der vor der Kropfkapsel ge¬
legenen Gewebe, wobei auch die Musculi sternothyreohyoidei durch¬
trennt Averden mussten. Hierauf wurde der rechte Strumalappen aus
seinem Bette ausgelöst und dabei zuerst die Art. thyr. super, und
dann die inferior doppelt unterbunden. Beide waren gansfederkiel¬
dick. Es kam nur bei der Unterbindung der letzteren Arterie zu
einer ganz geringen Blutung aus dem Strumaparenchym. Hierauf
wurde noch der etava pflaumengrosse Mittellappen ausgelöst und
nach Unterbindung der zuführenden Gefässe exstirpirt. Nach Voll¬
endung dieses Operationsad.es lag der Kehlkopf und die rechte
Seite der Trachea, die letztere vollständig in der Ausdehnung von
5 cm von den Weichtheilen entblösst, vor.
Darauf Avurde, nachdem schon vorher die Art. thyr. sup.
sinistra unterbunden Avar, auch die linke Seite der Struma, die
ebenso Avie die rechte über Mannsfaustgrösse erreichte, vollständig
aus ihrem Bette neben und hinter der Trachea ausgelöst, so dass
sie nur mit einem Stiele, der der Breite ihres Unterhornes ent¬
sprach, mit den Weichtheilen des Halses an der Stelle des Ein¬
trittes der Art. thyr. infer, und der Vorderwand der Trachea in Ver¬
bindung blieb.
Dieser letztere Eingriff wurde deshalb ausgeführt, Aveil
einerseits die ganze Glandula thyr. nicht exstirpirt werden
konnte, andererseits die DLlocation derselben Avegen des
Druckes auf die linke Seite der Trachea erforderlich war. Die
dislocirte linksseitige Strumahälfte lag nach Vollendung der
Operation vor der Trachea, nach allen Richtungen leicht ver¬
schieblich. Die Dislocation hatte zur Folge, dass die Haut-
ränder über der verlagerten Struma gerade noch vereinigt
524
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 23
werden konnten und dass an dieser Stelle eine stärkere Hervor¬
wölbung bestand als vor der Operation.
Einführung von Drainagestreifen und Verband.
Die exstirpirte rechte Strumaseite war von annähernd
pyramidenförmiger Gestalt, 10 cm lang, 5 '/2 cm breit und 372 cm
dick, von lappigem Bau, an Durchschnitten ziemlich derb,
grobkörnig, mit sichtbaren colloiden Drüsenkörnern.
Der Isthmus war etwa walnussgross von gleicher Be¬
schaffenheit.
Die linke dislocirte Strumahälfte war annähernd ebenso,
gross wie die rechte Seite.
Am Tage der Operation bestand noch schwere Tracheal¬
stenose, offenbar bedingt durch Schwellung der Trachealschleim-
haut in Folge der Zerrungen, denen die Trachea bei der Ope¬
ration ausgesetzt war.
Der weitere Verlauf war in den ersten Tagen gestört
durch eine von Temperatursteigerungen begleitete diffuse
Bronchitis, sonst bis auf die Abstossung einiger Ligaturen
normal, und erholte sich die Patientin, deren Respiration ganz
frei war, sichtlich.
Bei der Entlassung der Patientin am 8. April fand sich
bei der laryngoskopischen Untersuchung keine Vorwölbung
der Trachealwand, dagegen eine geringgradige Parese beider
Stimmbänder. Der dislocirte Strumaknoten war bedeutend ge¬
schrumpft.
In diesem Falle wäre ohne Dislocation der Struma die
Patientin nur durch eine Totalexstirpation oder Resection von
ihrer Trachealstenose zu befreien gewesen.
Die Resection einer parenchymatösen Struma stellt aber
immer mit Rücksicht auf die Blutstillung einen nicht so un¬
bedenklichen Eingriff dar.
Die Modification, welche ich der W ö 1 f 1 e r’sehen Dis¬
location hinzufügte, bestand in der Unterbindung der Art.
thyr. super. de3 dislocirten Strumalappens.
Der Lappen war sehr gross, und ich liess mich bei der
Unterbindung der Art. thyr. super, von der Annahme leiten,
dass dadurch die Ernährung dieses Lappens so weit gestört werden
würde, dass er allmälig schrumpfen werde, durch die Erhaltung
der Art. thyr. infer, aber noch genügend mit Blut versorgt
wäre, um nicht der Nekrose zu verfallen.
Diese Voraussetzung scheint gerechtfertigt zu sein, da
schon während der Wundheilung der dislocirte Lappen sicht¬
lich schrumpfte. Es handelte sich allerdings um eine paren¬
chymatöse Struma, und die Unterbindung der ernährenden
Arterie beeinflusst bekanntlich nur bei dieser Form der Schild-
drüsenvergrösserung jugendlicher Individuen das Wachsthum
derselben.
Da es nun gerade häufig bei rasch wachsender Struma
parenchymatosa in der Pubertät zu Trachealstenose kommt,
so könnte bei diesen Fällen mitunter die Combination der Dis¬
location mit Unterbindung einer Arterie in Frage kommen.
Ein Verfahren, das bei den gleichen Indicationen wie die
Dislocation empfohlen wurde, die Exothyreopexie (Jaboulet,
Poncet, B 6 r a r d) hat wohl eigentlich den Charakter einer
nicht vollendeten Operation.
Ich hatte Gelegenheit, einen Fall zu beobachten, der
augenscheinlich die schweren Nachtheile dieser Methode illustrirt.
Bei einer 18jährigen Patientin wurde von einem Arzte
in einer benachbarten Stadt der Versuch einer Strumaoperation
vorgenommen, dieselbe aber wegen der Blutung unvollendet
gelassen und die Patientin an mich gewiesen.
Es fand sich an der vorderen Halsseite eine orangen-
o
grosse, median gelegene Struma, zur Hälfte ihrer Oberfläche
blossliegend und reichlichen Eiter absondernd. Eine mehr¬
wöchentliche Erkrankung verhinderte mich damals, eine Ope¬
ration vorzunehmen, und ich sah die Patientin, die inzwischen
nach Hause gereist Avar, erst fast ein Jahr später.
Die Patientin Avar durch die fortwährende Eiterung sehr
herabgekommen, abgemagert und in höchstem Grade anämisch,
ohne dass die noch immer blossliegende Wundfläche eine be¬
ginnende Ueberhäutung zeigte; die Patientin Aväre geAviss durch
den fortwährenden Säfteverlust zu Grunde gegangen. Ich
führte die Enucleation der Struma aus; nach Umschneidung
der Hautränder gelang die intracapsuläre Ausschälung ganz
leicht, ohne nennenswerthe Blutung und die Patientin Avurde
bei reactionslosem Wundverlaufe nach 20 Tagen geheilt ent¬
lassen.
Die Exothyreopexre stellt demnach geAviss einen nicht
zu empfehlenden Eingriff dar, während die Dislocation nach
W öl f 1 e r vor Allem auch günstigere Wundverhältnisse schafft.
Aus dem Krankenhause in Villach.
Ein Fall von Extrauteringravidität (geheilt durch
Laparotomie).
Mitgetheilt von Dr. Hans Hock.
Obwohl die ektopischen Schwangerschaften nicht zu den
Seltenheiten in der geburtshilflichen Praxis gehören (Fromme’s
Jahresberichte zählen im Jahre 1890 135, im Jahre 1891
123 Fälle), so dürfte es doch der Mühe werth sein, diesen
einen Fall genauer zu besprechen, weil er doch wieder eine
Seltenheit unter den ektopischen Graviditäten bildet. Die Frucht
war nämlich in diesem Falle vollkommen ausgetragen und
hatte bei der Operation ein Alter von 1 1 '/2 Monaten.
Bei Kl ein Wächter erreicht die Frucht unter 60 be¬
obachteten Fällen nur einmal das Alter von neun Monaten.
Er beobachtete Früchte mit
1 Monat . . . . lomal
2 Monaten . . . 16 »
3 » ....11»
4 » .... 7 »
5 » .... 4 »
6 » .... 2 »
7 » .... 1 »
8 » .... 2 ■»
9 » .... 1 »
60.
Thorn gibt an, dass nicht mehr als 10% der extra¬
uterinen Früchte über das dritte Monat hinauskommen. Meist
tritt früher Ruptur oder Abortus ein.
Es soll dieser Aufsatz nichts anderes sein, als ein Beitrag
zur Casuistik der ektopischen Schwangerschaften. Gerade da¬
durch, dass alle Fälle von allen Seiten bekannt gemacht
Averden, wird es erst möglich sein, ein vollkommen klares Bild
und gewissermassen einen casuistischen Ueberblick über diese
Abnormität der Schwangerschaft zu geAvinnen. Es mehrt sich
von Jahr zu Jahr die Zahl der ektopischen Schwangerschaften,
was wohl nicht seinen Grund in einer fortschreitenden Ver¬
änderung der Generationsorgane der Frauen unserer Zeit, oder
in der Zunahme der Bevölkerung hat, sondern jedenfalls nur
darin, dass immer mehr und mehr Fälle publicirt und dass
durch die Verbesserung der Untersuchungsweise und der
Laparotomietechnik immer mehr Fälle von ektopischer
Schwangerschaft erkannt Averden.
Bevor ich auf die Beschreibung des vorliegenden Falles selbst
eingehe, Averde ich mir erlauben, in Kürze ein Bild von der Anstalt,
in Avelcher die Operation gemacht wurde, zu entwerfen.
Das Krankenhaus in Villach Avurde im Jahre 1891 im
Pavillonsystem und mit allen Einrichtungen eines modernen
Krankenhauses gebaut und umfasst einen Belegraum von 120 Belten.
An der Anstalt sind zA\rei Aerzte, der Primarius Herr Dr. Karl
Mayer und ich als Secundarius angestellt. Es gelangen dortselbst
alle Krankheitsformen zur Aufnahme und Behandlung.
Es Averden in der Anstalt alle, selbst die sclnvierigslen Ope¬
rationen vorgenommen, laut Jahresbericht jährlich vier bis sechs
Laparotomien, freilich mit einer geringsten Anzahl von ärztlichen
Kräften. Wird auch bei grösseren Operationen ein dritter oder
vierter Arzt des Ortes beigezogen, so obliegen doch viele Ver¬
richtungen bei den Operationen, die sonst an Kliniken Assistenten
ausführen, dem Wartepersonale. Nichtsdestoweniger sind unsere
Operationserfolge und Heilungsresultate günstige.
Nr. 2 '6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
525
Barbara R., 31 Jahre alt, eine schwächliche, äusserst schlecht
genährte Frau mit leidendem Gesichtsausdruck, wurde am 7. Februar
1899 ins Krankenhaus aufgenommen und klagte über Schmerzen
und Beschwerden im Bauche.
Die Patientin gibt an. von gesunden Eltern abzustammen. Sie
seihst sei immer gesund gewesen. Mit 16 Jahren habe sie die
Menses bekommen und dieselben immer regelmässig gehabt. Im
Alter von 20 Jahren gebar sie ein gesundes Kind, welches lebt
und jetzt elf Jahre alt ist. Nach der Entbindung habe sie wieder
regelmässig ihre Menses gehabt, bis selbe im April 1898 aus-
Fig. 1.
blieben; am 9. März 1898 hatte sie sie das letzte Mal. Von da
an litt Patientin an Lieblichkeiten und Erbrechen und fühlte, dass
sie schwanger sei. Am 5. Mai bekam sie angeblich eine Bauch¬
fell-, Rippenfell- und Gebärmutterentzündung, wodurch sie fünf
Wochen ans Bett gefesselt wurde. Nach dieser Zeit war R. wieder
leidlich gesund bis zum 29. November. Sie bekam Krämpfe und
Schmerzen im Bauche, der Bauch schwoll ungeheuer auf, sie musste
sich wieder zu Bette legen und wurde wieder wegen Bauchfellent¬
zündung behandelt. Am 9. December hörten die Kindesbewegungen
auf, die sie seit Anfangs September gespürt batte. R.’s Befinden
war fortan ein schlechtes. Am 24. December glaubte sie zu ent¬
binden, doch kam aus der Scheide nur ein fleischiger blutiger
Klumpen von Faustgrösse, welcher von der Hebamme gleich bei
Seite geschafft wurde. Auf diesen Abgang bin sei der Bauch um
die Hälfte kleiner geworden und sie habe sich besser gefühlt, doch
sei sie immer noch bettlägerig gewesen bis zur Aufnahme ins
Krankenhaus am 7. Februar 1899.
Derzeit klagt die Patientin hauptsächlich über einen drücken¬
den Schmerz und ein ungeheures Vollsein im Bauche. Sie kann
nicht essen, nicht schlafen, nicht sitzen und auch nicht liegen und
macht so den Eindruck einer schwer Leidenden.
Die Zunge ist trocken, der Puls klein und schwach. Herz
und Lungen sind gesund. Die Temperatur meist unter 37°, steigt
Abends oft bis auf 37'9°. Das Abdomen ist vergrössert, Umfang
92 cm.
Die Auftreibung ist eine gleichmässige mit der grössten Pro¬
minenz in der Mittellinie und der höchsten Erhebung in der Nabel¬
gegend. Der Tumor fühlt sich hart und fest, mit gleichmässiger
ziemlich glatter Oberfläche ohne irgendwelche Gliederung. Der Tumor
ist unbeweglich und zeigt ganz geringe Fluctuation. Die Haut ist
sehr gespannt, mit durchscheinenden breiten Venen, scheint am
Tumor fixirt, besonders in der Nabelgegend; die Verschieblichkeit
der Haut über den Tumor ist allenthalben eine geringe. Der Per¬
cussionsschall über dem Tumor ist leer. Bei der inneren Unter-
#
Fi g. 2.
suchung ergibt sich, dass der Uterus und dessen Portio nicht
wesentlich vergrössert ist, das Orificium nicht einmal für die Finger¬
kuppe geöffnet erscheint. Der Uterus ist etwas nach links verzogen
und wenig beweglich. Die Adnexe sind nicht palpabel, das vordere
Scheidengewölbe ist nach abwärts gewölbt. Es wurde auch noch
eine Probepunction gemacht und mit der Pravaz’schen Spritze
eine seröse Flüssigkeit aufgezogen. Die Mammae waren wenig ver-
m’össert, entleerten auf Druck etwas Colostrum.
Diagnose: Graviditas extrautenna.
Operation am 18. Februar 1900 unter Chloroformnarkose.
In der Linea alba wurde ein 1 5 cm langer Schnitt gemacht. Nach
Durchtrennung des Peritoneums lag ein weisslicher häutiger J umor
vor, welcher leicht fluctuirte.
Durch die Punction entleert sich wenig gelb-seröse Flüssigkeit.
Bei Erweiterung der Punctionsöflnung gelangte man aul schmierige
Smegmamessen. Nach Entfernung derselben fliesst Mekonium ab
und es wird der Kopf eines Kindes sichtbar. Die Oeffnung wird
noch erweitert, der Fötus extrahirt. Die vollkommen obliterate
Nabelschnur wird abgeschnitten und nun an die Loslösung des
Fruchtsackes gegangen, der sehr mürbe ist und bei jedem Zuge
einreisst. Die Loslösung des Fruchtsackes war ausserordentlich
schwierig, denn derselbe war mit dem Peritoneum, mit der Harn¬
blase und mit einigen Schlingen des Ileums innig verwachsen. Die
nach der stumpfen, äusserst mühseligen Loslösung entstandenen
52(5
Nr. 23
WIEN Eli KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Blutungen waren nicht unbeträchtlich. Dahei war der Puls sehr
schwach und die Athmung sehr hesorgnisserregend.
Endlich gelang es den Stiel zu isoliren, welcher von der
linken Tube ausging und von fingerdicken Gelassen durchsetzt
war. Die Slielgefässe waren jedoch last vollständig obliterirt, in
bindegewebige Stränge umgewandelt. Der Stiel war von der lube
nicht zu trennen und so wurde die linke 1 ube und das linke
Ovarium mit dem Sacke entfernt. Die Operation dauerte zwei
Stunden.
Der Fruchlsack (siehe Fig. 2) hat ein Gewicht von 1750 <7.
Am unteren Pole trug er innen eine wohlausgebildete Placenta und
hatte an einigen Stellen eine Dicke von 2 c/a, an den schwächsten
Stellen '/.> cm . Das faserige Gewebe des Fruchtsackes war stark in
Mortification begriffen.
Der zu Tage geförderte Fötus war ein vollkommen ausge¬
tragenes lebensfähiges Kind mit Haarwuchs und ausgebildeten
Finger- und Zehennägeln. Da die letzten Menses am 9. März waren,
so sollte der Partus am 15. December stattfinden. Da die Patientin
bis zum 9. December die Kindesbewegungen spürte, so fehlten also
nur einige Tage zum normalen Ende der Schwangerschaft. Die
Frucht war also am Tage der Operation schon über zwei Monate
todt in der Bauchhöhle. Dafür sprach auch die starke Maceration
der Haut und die Beschaffenheit des Mekoniums. Das Kind (siehe
Fig. 1) wog 27 10 7/ und hatte eine Länge von 40c?n. Der Frucht¬
sack wog 1750 <7, also der ganze Tumor: 4460 g.
Die Patientin erholte sich nach der Operation auffallend rasch,
und obwohl grosse wunde Flächen in der Bauchhöhle vorhanden
waren und sicher etwas Mekonium bei der Operation in die Bauch¬
höhle gekommen war, traten keine peritoniti sehen Erscheinungen
auf und verlief die ganze Heilung fieberfrei. Doch am dritten Tage
nach der Operation trat Erbrechen auf, welches auch durch
Champagner nicht gestillt werden konnte. Die Patientin fühlte sich
dabei relativ wohl und hatte keine Schmerzen.
Am siebenten Tage post operationem trat Ileus auf. Es gingen
aber trotzdem Flatus ab und konnten durch Irrigationen auch
spärliche Stuhlentleerungen erzielt werden. Das Befinden der Ope-
rirten war sehr veränderlich. Es wechselten Collapse mit Zeiten
relativen Wohlbefindens, die Zunge war stets trocken, der Puls
fadenförmig, der Bauch massig aufgetrieben mit grösserer Resistenz
und Dämpfung in der linken Seite, entsprechend etwa der Stelle,
wo der Darm in grösserer Ausdehnung durch die Lösung der
Adhäsionen verwundet worden war. Der Dickdarm nicht gebläht,
wohl aber der Dünndarm. Es war also kein Zweifel, dass in Folge
der flächenhaften Verwundung des Darmes und Peritoneums sich
durch Adhäsionen und Narbenbildungen eine Knickung oder Achsen¬
drehunggebildet, und dadurch die Obstruction eingetreten war. Es wurde
der Patientin, da der Ileus immer häufiger wurde, am zehnten Tage
nach der Operation der Vorschlag einer neuen Laparotomie gemacht,
um das Passagehinderniss im Darme zu beseitigen. Patientin
wollte von einer neuerlichen Operation nichts wissen. Es blieb also
nichts übrig als abzuwarten und dem Ileus und dem Kräfteverfall
zuzusehen. Es wurden häufig ausgiebige Darm-Irrigationen in Knie-
Ellbogenlage gemacht und erfolgten auch öfters Stühle, ohne dass
das Kothbrechen aufhörte — doch wurden die Stühle häufiger, der
Ileus seltener, was wohl eine mechanische Dehnung der Adhäsionen
durch die Irrigationsflüssigkeit annehmen lässt.
Endlich am 10. März hörte das Kothbrechen auf nachdem
es volle drei Wochen gedauert und die arme Kranke auf das
Mindestmass von Lebensfähigkeit herabgesetzt hatte. Die Bauch¬
wunde war am achten Tage post operationem vollkommen verheilt,
und nun begann die Patientin bei einem bis zur Gefrässigkeit an¬
wachsenden Appetite sich immer mehr zu erholen, konnte bald
das Bett verlassen und nahm stets an Kräften zu. Am 16. April 1899
wurde die Reconvalescentin vollkommen gesund und mit bestem
Wohlbefinden entlassen.
Der Operationsbefund ergab ganz zweifellos, dass es sich
hier um eine Graviditas extrauterina, und zwar jedenfalls um
eine tubaria handelte, da die Tuba völlig im Tumor, bezüglich
in dessen Stiel aufgegangen war, während das Ovarium nur
am 1 umor angelöthet schien. Es ist auch kaum anzunehmen,
das eine ovaria zu solcher Entwicklung kommen könnte. Das
Interessante an diesem Falle ist jedenfalls die lange Dauer
der ektopischen Schwangerschaft, ohne dass der Tod der
Mutter eintrat. Es scheinen auch gar nicht grössere Blutungen
weder in den Sack noch in die Bauchhöhle stattgefunden zu
haben; es waren wenigstens keine Residuen bei der Operation
zu tindeu. Die Adhäsionen entstanden wohl entweder durch
entzündliche Reizungen oder durch Verlöthungen in Folge
oberflächlicher Einrisse des Fruchtsackes bei dessen kolossalem
Waehsthume. Der von der Patientin erwähnte Abgang eines
Blutklumpens, welcher mit dem normalem Ende der Schwanger¬
schaft und dem Absterben des Kindes zusammenfallt, erklärt
sich wohl durch die Ausstossung einer im Uterus gebildeten
Decidua vera.
Aus der k. k. II. psychiatrischen Universitätsklinik des
Herrn Hofrathes R. Freih. v. Krafft-Ebing in Wien.
Hedonal, ein Hypnoticum der Urethan-Gruppe.
Von Dr. Arthur Schiiller, Hospitanten der Klinik.
Paraldehyd, Trional und Chloralhydrat sind zwar vor¬
züglich verwendbare, für die Mehrzahl der Fälle schwerer
Schlaflosigkeit ausreichende Hypnotica.
Das Bedürfnis nach neuen, insbesondere gegen nervöse
Agrypnie wirksamen Schlafmitteln ist gleichwohl aus mehr¬
fachen Gründen auch jetzt noch vorhanden. Diesem Bediirf-
niss scheinen zwei neue Hypnotica entgegen zu kommen,
Dormiol und Hedonal. Ueber das letztere seien einige Beob¬
achtungen mitgetheilt.
Die Empfehlung des Hedonals als Schlafmittel erfolgte durch
D r e s e r (»Ueber ein Hypnoticum aus der Reihe der Urethane«).
Im Anschlüsse an die Bemerkungen Schmiedeber g’s, der
bei Gelegenheit der Empfehlung des Aethyl-Urethans als
Hypnoticum auch hingewiesen hatte auf die intensivere
Wirkung der durch Einführung höherer Alkohol-Radieale
entstandenen Urethane, hat D res er die Verwendbarkeit dieser
letzteren experimentell geprüft. Er kam zu dem Resultate,
dass die höheren Urethane unter Bewahrung der dem Aethyl-
Urethan eigenthümliclien guten Eigenschaften eine stärkere
Wirksamkeit aufweisen, wobei jedoch ihre zunehmende Schwer¬
löslichkeit wieder ein Hemmniss abgibt für das Zustande¬
kommen des hypnotischen Effectes beim Warmblüter.
Die besten Erfolge erzielte Dreser mit dem Methyl- Propyl-
Carbinol-Urethan :
/N H2
CO /C H,
\0 -CH
\C3 H;
(»Hedonal«), einer weissen, in Nadeln krystallisirenden
Substanz.
Im Vergleiche zu Aethyl-Urethan wirkte es an Fischen
und Fröschen zehnmal stärker; mit Aethyläther verglichen,
nicht nur zehnmal stärker, sondern auch rascher und mit
grösserer Schonung der Athmung. Im Vergleiche zu Chloral¬
hydrat war an Fröschen etwa ein Drittel zur Erzielung des
gleichen Effectes nothwendig. Bei Kaninchen bedurfte es etwa
des vierten Theiles der wirksamen Dosis A ethyl Urethan und
etwa der Hälfte der von Chloralhydrat. Bei Hunden genügte
zur Erzielung gleich langen Schlafes die halbe Gewichtsmenge
gegenüber dem Chloralhydrat.
Die Respirationsthätigkeit war im Hedonalschlafe, so wie
im physiologischen etwas vermindert.
Der Blutdruck war nur um wenige Millimeter Queck¬
silber niedriger oder auch unverändert.
Die Temperatur fiel im tiefen Hedonalschlafe um 1°.
Die Harnsecretion war vermehrt, und zwTar wurde durch
Bestimmung des Gefrierpunktes gefunden, dass die im Harne
auszuscheidenden Substanzen in der 4V2fachen Menge Wassers,
verglichen mit der Wassermenge im Normalzustände, secernirt
wurden.
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
527
Durch Messung der Latenzzeit für Reflexbewegungen
(Anziehen der elektrisch gereizten Froschpfote) wurde eine
Verlängerung auf das Vier- bis Sechsfache constatirt. Daraus
zieht Dreser den Schluss, dass durch das Hedonal die
Leitung der Nervenzellen träger, ihre Reaction verlangsamt
und so am besten die Bedingungen erfüllt werden, welche den
Schlaf herbeiführen.
Für die Anwendung beim Menschen wurde als wirk¬
samste Dosis L25 — L5 Hedonal empfohlen. Als Indicationen
für seine Verordnung wurden »leichte, auf nervöser Grund¬
lage beruhende Agrypnie und Aufregungszustände« hingestellt,
speciell solche bei Neuraslhcnischen, Hysterischen und Alko-
holisten.
Diese Angaben wurden durch unsere Beobachtungen im
Wesentlichen bestätigt. Im Ganzen wurde das Mittel bei
21 Personen (in circa 70 Einzelfällen) versucht. Das Pulver
wurde entweder in Substanz (am besten in Oblaten) oder in
Lösung gegeben, und zwar in wässerigen Flüssigkeiten (am
besten in heissem Pfefferminzthee mit Zucker) oder in alko
holischer Lösung; für die letztere wurde, da das Löslichkeits-
verhältniss des Pulvers in Spiritus dilutus circa 1:5 beträgt,
gewöhnlich folgende Form angewendet:
Rp: Hedonali 6 0,
Spiritus vini diluti,
Syrupi cinnamomi aa. 30 0.
Adde:
Olei Carvi aetherei gtt. II.
D. S. 1 Esslöffel (= L5 Hedonal) zu nehmen.
Da in den flüssigen • Formen der recht lästige Nach¬
geschmack des Pulvers nicht vollständig verdeckt werden
konnte, musste bei empfindlichen Patienten die Darreichung
in Oblaten erfolgen.
Die gewöhnlich verordnete Dosis betrug l'öj zuweilen
wurde blos 1# , andere Male wieder 2 g verabreicht, stets in
einmaliger Gabe, etwa l]/2 Stunden nach der Abend¬
mahlzeit.
Casuistik:
1. Frau L. H. Periodische Dysthymie von monatelanger Dauer.
Behauptet, ohne Mittel nicht oder sehr unruhig (von peinlichen
Träumen belästigt) zu schlafen. Die Versuche fallen in die Zeit
vorgeschrittener Besserung des Zustandes. Es wurde abwechselnd
Trional (0'75 — 15 g) und Hedonal (L5 — 2g) gegeben. Beide Mittel
hatten ungefähr den gleichen Erfolg: Patientin schlief meist mit
einstündiger Unterbrechung von */29 Uhr (eineinhalb Stunden nach
Einnahme der Mittel) bis Früh. Der Schlaf war fast stets von
Träumen begleitet. Im Allgemeinen nahm Patientin lieber das Trional,
hauptsächlich wegen des unangenehmen Geschmackes des Hedonals;
am besten nahm sie letzteres in heissem Pfefferminzthee oder in
Oblaten. Es wurde ihr im Ganzen elfmal verabreicht. Die tägliche
Harnmenge betrug durchschnittlich 1200 g. Ueber lästige Symptome
klagte Patientin niemals.
2. Frau R. F. Periodische Dysthymie. Gongestionen; Schlaf¬
losigkeit in Folge von Erregung. Während der letzten Tage der
Beobachtung trat Influenza mit starkem Husten auf, der die Nacht¬
ruhe störte. Patientin bekam Hedonal und Trional abwechselnd.
Der Erfolg war bei beiden Mitteln im Wesentlichen der gleiche;
der Schlaf dauerte zumeist mit circa einstündiger Unterbrechung
von 8 Uhr bis gegen Morgen. Patientin erhielt siebenmal Dosen von
1-5 — 2 g Hedonal; sie nahm es gern, behauptete, darauf angenehmer
zu schlafen, als auf Trional (10 — P5#).
3. Frau v. H. Melancholie. Schläft gewöhnlich auf Trional.
Auf 2g Hedonal kein Schlaf; Herzklopfen. Einmalige Beobachtung.
4. Frau F. Hypochondrie. Höchstgradige Inanition. Schmerzen
in Folge von Decubitus. In der Nacht unruhig, vor Schmerzen
jammernd, zuweilen delirant. Patientin erhielt Trional, Bromidia,
Hedonal, Morphin abwechselnd. Bromidia hatte keinen Effect, auch
Trional blieb ziemlich erfolglos. Auf Hedonal (U5 — 2 #), im Ganzen
sechsmal verabreicht, erfolgte meist drei bis vierstündiger Schlaf.
Vorübergehend wurde Brom und Glühwein versucht, ohne Erfolg.
Die beste Wirkung hatten Morphininjectionen (0'02 — 0'03 #).
5. Frau P. Angstneurose. Beim Anblick von Messern An¬
fälle von Angst; Phobie, Jemanden zu verletzen. In der Nacht
ängstlich, schlaflos. Patientin erhielt Trional und Hedonal. Auf He-
donal (10 — 15 g) ruhiger Schlaf die ganze Nacht hindurch. Auf
Trional (PO#) behauptet Patientin weniger gut zu schlafen. Kurze
Beobachtungsdauer.
6. Herr Sch. Neurasthenie; Zwangsvorstellungen. Erhielt, da
er behauptete, sehr wenig und unruhig zu schlafen, 15 g Hedonal.
Der Schlaf daraufhin nicht besser als sonst; doch behauptete Pa¬
tient am nächsten Morgen, das Pulver habe zauberhaft gewirkt,
denn alle Zwangsgedanken seien geschwunden. In den folgenden
Tagen (im Ganzen fünfmal) war die schlafbringende Wirkung keines¬
wegs deutlicher. Die sedative wurde jedoch continuirlich vom Pa¬
tienten angegeben. Nach Aussetzen des Mittels alsbald neuerliches
Auftreten von Zwangsvorstellungen. Ein indifferentes Pulver, das
als »Hedonal« gereicht wurde, hatte wieder sehr günstigen Erfolg.
7. Herr B. Zwangsvorstellungen. Schlechter Schlaf. Hedonal
(10 g Abends) ohne Wirkung auf den Schlaf. Nach Einnahme von
1 q Hedonal am Tage (als Beruhigungsmittel gegen die Zwangsvor¬
stellungen) gegentheiliger Erfolg. Kurze Beobachtung.
8. Fräulein R. Schlaflosigkeit wegen anstrengender abend¬
licher geistiger Beschäftigung. Patientin versuchte abwechselnd
Trional, Hedonal und Bier. Auf Trional (PO#) trat regelmässig
sehr bald nach der Einnahme ein achtstündiger, traumloser, fester
Schlaf ein; am Tage darauf bisweilen noch Schläfrigkeit. Auf
Hedonal ( 1 \5 g) erfolgte kurze Zeit nach der Einnahme ein fünf- bis
siebenstündiger, ruhiger und fester Schlaf. Bier hatte ebensowenig wie
ein abendliches warmes Bad guten Erfolg.
9. Frau J. Aufregungszustand. Behauptet, nicht einschlafen
zu können. Auf Hedonal (1*5 g) tritt bald Schlaf ein, dauert mehrere
Stunden an. Kurze Beobachtungsdauer.
10. Frau P. Neurasthenie. Behauptet, seit Jahren schwer ein¬
zuschlafen, wenig und unruhig zu schlafen. Auf 15# Hedonal
erfolgt Schlaf nach zwei Stunden, baldiges Erwachen mit Herz¬
klopfen und Beklemmung. Die gleichen Erscheinungen, nur noch
weniger Schlaf, nach Verabreichung eines indifferenten Pulvers.
Kurze Beobachtungsdauer.
11. Herr St. Neurasthenie. Leidet seit zwei Jahren an Schlaf¬
losigkeit, behauptet, während dieser Zeit überhaupt nie geschlafen
zu haben. Gleich nach der ersten Einnahme von 10# Hedonal
Einschlafen nach Verlauf einer Viertelstunde; mit einmaliger Unter¬
brechung Schlaf bis Früh. In der folgenden Nacht ohne Mittel kein
Schlaf. Am nächsten Abend PO# Hedonal: Schlaf mit einmaliger
Unterbrechung bis Früh. In den darauffolgenden zw^ei Wochen trat
dann Schlaf ein auch ohne jede Medication.
12. Frau Sch. Neurasthenie, Schlaflosigkeit. Nach 2# Hedonal
sofortiges Einschlafen; Dauer des Schlafes 2 ‘/2 Stunden, unruhig.
Beim Erwachen Gürtelgefühl um den Leib. Einmalige Beobachtung.
13. Herr W. Neurasthenie, Schlaflosigkeit. Nach 2# Hedonal
baldiges Einschlafen. Schlaf mit einmaliger Unterbrechung bis Früh.
Einmalige Beobachtung.
14. Frau H. Neurasthenie, Schlaflosigkeit. Aul 2# Hedonal
Einschlafen nach zwei Stunden. Sodann dreistündiger Schlaf. Hierauf
leichter Schlummer bis Früh. Einmalige Beobachtung.
15. Fräulein S. Hysterie, Astasie, Abasie. Seit Jahren Schlaf¬
losigkeit. Ohne Mittel schläft Patientin schwer ein; der Schlaf ist
auch meist von kurzer Dauer. Patientin erhielt abwechselnd Par-
aldehyd und Hedonal. Auf Paraldehyd (6 0#) schläft Patientin vom
Abend bis Früh ohne Unterbrechung, beklagt sich jedoch über den
Geruch und Geschmack des Mittels. Auf Hedonal (1 2g) tritt Schlaf
meist erst nach ein bis zwei Stunden auf, dauert gewöhnlich blos
fünf Stunden; der Schlaf ist unruhig, unterbrochen. Morgens Auf-
stossen mit dem Gerüche des Mittels. Eine vorübergehende Magen¬
indisposition wird durch das Pulver nicht nachtheilig beeinflusst.
16. Frau K. Alcoholismus chronicus. Neurasthenisches Bild.
Beginnende Demenz. Klagt, Nachts nicht schlafen zu können. Er¬
hält abwechselnd Trional und Hedonal. Schläft nach beiden Mitteln
laut Wärterinbericht gut, nach eigener Angabe stets schlecht; be¬
hauptet, jeden Augenblick wach zu werden. Patientin erhielt
P5— 2 0 # Hedonal.
17. Frau K. Dementia senilis. Seit einem halben Jahre
schlaflos, in der Nacht stets unruhig. Auf iy2# Hedonal Schlaf
528
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 23
nach einer Viertelstunde. Im Ganzen 2V2stündige Dauer des Schlafes.
Einmalige Beobachtung.
18. Frau B. Dementia senilis, Schlaflosigkeit. Auf 2 g Iledonal
kein Schlaf. Einmalige Beobachtung.
19. Fräulein Sch. Dämmerzustand mit schreckhaften nächt¬
lichen Hallucinationen. Ohne Schlafmittel ist Patientin die ganze
Nacht hindurch sehr unruhig, ängstlich, hallucinirend. Erhielt ab¬
wechselnd Iledonal, Bromidia, Trional und Morphininjectionen.
Iledonal wurde zehnmal verabreicht, meist 1*5 — 2 g. Patientin schlief
gewöhnlich l'/.2 Stunden darnach ein, schlief dann zumeist wenig¬
stens vier Stunden ruhig, begann hierauf häufig ängstlich zu hallu-
ciniren, um Morgens nochmals einzuschlafen. Auf Bromidia (zwei
Kaffeelöffel) erfolgte anfangs guter Schlaf; später blieb es ohne
Wirkung und wurde von Patientin refusirt. Trional (PO — l'5y)
erzeugte fast stets gute Wirkung. Weigerte sich Patientin, die er¬
wähnten Schlafmittel zu nehmen, so wurde auf ihren dringenden
Wunsch Morphin subcutan injicirt, zumeist mit unbefriedigendem
Erfolg. Patientin nahm das Iledonal lieber als alle anderen Hypnotica;
klagte nie über unangenehme Nebenwirkungen.
20. Fräulein St. Acuter Wahnsinn. Auf 1*5 <7 Iledonal kein
Schlaf. Auf Trional trat Schlaf ein. Kurze Beobachtung.
21. Frau W. Puerperaler Wahnsinn; Mastitis. Auf 1 x/2g
Iledonal mehrstündiger Schlaf. Einmalige Beobachtung.
Die vorliegenden Fälle lassen sich hinsichtlich des Erfolges
in drei Gruppen unterbringen, eine mit negativem, eine zweite
mit zweifelhaftem, eine dritte mit positivem Erfolge.
ln die erste Gruppe (negativer Erfolg) gehören die
Fälle 3, 7, 10, 18, 20. Es sind dies zwei Fälle von Neur¬
asthenie, je einer von Melancholie, seniler Schlaflosigkeit und
acutem Wahnsinn.
In die zweite Gruppe (zweifelhafter Erfolg) können die
Fälle 6, 9, 12, 14, 16, 17, 21 gerechnet werden. In diesen
konnte, tlieils wegen zu kurzer Beobachtung, theils wegen Un-
genauigkeit der bezüglichen Angaben, schlechter, beziehungs¬
weise günstiger Erfolg nicht mit Sicherheit auf Rechnung des
Mittels gesetzt werden.
Die dritte Gruppe (guter Erfolg) wird gebildet durch
die Fälle 1, 2, 4, 5, 8, 11, 13, 15, 19. Es sind dies drei Fälle
von Dysthymie und Hypochondrie, zwei Fälle von Neurasthenie,
je einer von Angstneurose, Hysterie, geistiger Ueberanstrengung
und schreckhaften Hallucinationen.
Der Eintritt des Schlafes erfolgte zuweilen schon nach
einer Viertelstunde, zuweilen erst nach \{/2 Stunden; Diffe¬
renzen, welchen wir auch bei den anderen Hypnoticis begegnen.
Besonders massgebend für die Raschheit der Wirkung schien
die Form zu sein, in welcher das Iledonal gereicht wurde.
Nach Verabreichung im gelösten Zustande trat die Wirkung
früher ein.
Die Dauer des Schlafes schwankte zwischen vier bis
neun Stunden. Dabei war der Schlaf nicht verschieden von
dem natürlichen, bald von Träumen begleitet, bald ruhig.
Von Nebenerscheinungen wurde, abgesehen von dem zu¬
weilen angegebenen lästigen Aufstossen beim Erwachen, nichts
Erwähnenswerthcs beobachtet.
Bei agitirten Geisteskranken war mit Hedonal keine Be¬
ruhigung zu erzielen; es wurden daher nach wenigen Vor¬
versuchen keine weiteren Beobachtungen an derartigen Kranken
gesammelt.
Bei seniler Schlaflosigkeit war das Mittel keineswegs
verlässlich. Die besten Erfolge wurden bei leichteren Graden
von Agrypnie erzielt, insbesondere solcher bei Depressions¬
zuständen, bei Neurasthenie, Hysterie und bei Schlaflosigkeit
in Folge geistiger Ueberanstrengung.
ln diesen I ällen erwies es sich namentlich zweckmässig
als Ersatzmittel für Paraldehyd, Bromidia und Trional, mit
denen es alternirend gereicht wurde. Ein Vorzug des Hedonals
gegenüber einigen der gebräuchlichen Hypnotica besteht in
seiner vollkommenen Unschädlichkeit, die es mit den niederen
1 rethanen (Aethylurethan) theilt. Störend wirkte bei einigen
Patienten der penetrante, nicht gut corrigirbare Geschmack
des Pulvers.
Zusammenfassend lässt sich demnach vorläufig über die
Wirkungsweise und Anwendbarkeit des Hedonals als Schlaf¬
mittel das Folgende aussagen:
Hedonal gehört nicht in die Reihe der nahezu unbedingt
verlässlichen Hypnotica: Paraldehyd, Trional, Chloralhydrat.
Seiue Wirksamkeit beschränkt sich vielmehr auf Fälle leichterer
Agrypnie, in denen »das Bedtirfniss nach Ruhe und Schlaf
vorhanden, sein Eintritt dagegen durch Erregungszustände im
Gebiete des Grosshirnes erschwert ist«. Auch überall dort,
wo der Gobrauch des Paraldehyds seines Geruches und
Geschmackes wegen, der des Chloralhydrats seiner Wirkung
auf Herz, Gefässe und Athmung wegen unstatthaft ist, lässt sich
Hedonal alternirend mit Trional erfolgreich, selbst auf längere
Zeit, an wenden.
Die Verabreichung — durchschnittlich 1 "5 <7 — erfolgt
am besten zwei Stunden nach der Abendmahlzeit, stets unter
Wahrung aller den Eintritt des Schlafes begünstigenden
äusseren Momente.
REFERATE.
I. La peste et son microbe.
Par le Dr. Netter.
Paris 1900, Georges Carre & C. N a u d.
II. Bericht über die Thätigkeit der zur Erforschung
der Pest im Jahre 1897 nach Indien entsendeten Com¬
mission.
Erstattet von Prof. Dr. Gaffky, Prof. Dr. Pfeiffer, Prof. Dr. Sticker und
Privatdocent Dr. Dieudonnö.
Nebst einem Anhänge : Untersuchungen über die Lepra.
Von Prof. Dr. Sticker.
(Arbeiten aus dem kaiserlichen Gesundheitsamte. Bd. XVI.)
Berlin 1899. Gustav Springer.
III. Sieroterapia e vaccinazioni preventive contra la peste
bubonica.
Von Prof. Dr. Alexander Lustig.
Torino 1899, Rosenberg & Sellier. ,
IV. Schutzimpfung und Serumtherapie.
Von Privatdocent Dr. Adolf Dieudonilö.
Zweite, gänzlich umgearbeitete Auflage.
Leipzig 1900, Johann Ambrosius Barth.
V. Ueber die Grenzen der Wirksamkeit des Diphtherie¬
heilserums.
Von Prof. W. Dönitz.
VI. Ueber die Gangrene foudroyante.
Von Dr. F. Hitsclimann und Dr. O. Lindenthal.
Mit 3 Tafeln.
Aus den Sitzungsberichten der k. k. Akademie der Wissenschaften in
Wien.
Mathematisch-naturwissenschaftliche Classe. 1899, Bd. CVI1I, 3. Abtheilung.
In Commission bei C. G e r o 1 d’s Sohn.
VII Recueil de travaux du laboratoire Boerhave.
Public par Dr. E. Siegenbeck van Heukeloin.
Tome I et II.
Leiden 1899, E. J. Brill.
VIII. Le cancer (epitheliome, carcinome, sarcome)
maladie infectieuse ä sporozoaires (formes microbiennes
et cycliques).
Par le Dr. F. J. Bose.
Avec 1 1 planches et 34 figures dans le texte.
Paris 1898, Georges Carre et C. Naud.
IX. I batteri patogeni in rapporto di disinfettenti.
Von Dr. Donato Ottolenghi.
Torino 1 899, Rosen berg & Sellier.
I. Die kleine Monographie über die Pest von Netter
gibt eine kurze, sehr übersichtliche Zusammenstellung der jüngsten
Erfahrungen über diese neuerdings an Ausbreitung gewinnende
Seuche; geographische Verbreitung, Morphologie und Biologie des
Erregers, wichtigste klinische und anatomische Merkmale der Pest
bilden den ersten, die Grundzüge der Prophylaxe und Therapie
den zweiten Theil des kleinen Buches, das durch sehr gefällige
Abbildungen und Diagramme reich illustrirt ist und die Literatur
bis Ende 1899 eingehend berücksichtigt.
*
Nr. 23
529
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
II. Der Bericht der de ätschen Pestcommission gliedert sich
in drei Haupttheile, in eine historisch-geographische Schilderung
der bombayani sehen Epidemie, in eine klinisch-anatomische und
bacteriologische Beschreibung der charakteristischen Befunde und
in eine kritische Berichterstattung bis dahin vorliegender Erfahrungen
über Pestprophylaxe und künstliche Immunität. Aus dem ersten
Theile des Berichtes bringen insbesondere die Angaben über das
Auftreten der ersten Vorepidemien, das Vorkommen kleiner, herd¬
weiser, localisirter Erkrankungen in Mesopotamien und in den süd¬
lich vom Himalaya gelegenen Gebieten neue und wichtige epide¬
miologische Beobachtungen zur allgemeinen Kenntniss; auch die
Nachweise des möglicher Weise sehr wichtigen Vorkommens
einer spontanen Pest unter den Nagethieren in diesen genauen Be¬
obachtungen sehr schwer zugänglichen Gebieten werden mitgetheilt.
Die Epidemie in Bombay wird nach zeitlicher und örtlicher Aus¬
breitung detaillirt beschrieben und der Zusammenhang zwischen
socialen und Wohnungsverhältnissen mit der Ausbreitung der Haupt-
infectionsformen besonders betont, lieber 200 Krankengeschichten,
ergänzt durch eine Reihe von pathologisch-anatomischen Befunden,
welche die Commission durch die dankbar anerkannte Unterstützung
der österreichischen Expedition mitzubeobachten Gelegenheit hatte,
bilden das Substrat für den zweiten Theil des Berichtes, der im
Wesentlichen naturgemäss mit den Beobachtungen und Schlüssen
der ausführlicheren Publication der österreichischen Commission
übereinstimmt. Dem schliessen sich die bacteriologischen Unter¬
suchungen über Morphologie und Biologie des Pestbacillus an, sowie
die Experimente über active und passive Immunisirung von Thieren;
eine ausführliche kritische Besprechung ist den Versuchen der Ver¬
wendung activer Immunisirung, speciell der H a f k i n e’schen Impfung
gegen die Pest gewidmet, welche ohne eine absolute Sicherheit
gegen Infection beim Menschen zu erzeugen, doch die Zahl der
an Pest Erkrankenden und der Todesfälle wesentlich zu vermindern
scheint. Ein Resume der mitgetheilten Erfahrungen betont die Wichtig¬
keit und sicher erfolgreiche Möglichkeit der wirksamen Bekämpfung
der Pest auf Grund der bisher gewonnenen Resultate; strenge ärztliche
Controle und gewissenhafte Durchführung der Isolirmassregeln reichen
hin, um, ohne eine den Weltverkehr unterbindende Beschränkung der
Handelsbeziehungen, die Seuche localisirt zu erhalten und bei ein¬
zelnen Pestfällen auf Schiffen und in grossen Handelsplätzen
können durch energische und sachverständige Massnahmen die Ge¬
fahren der Uebertragung durch Ansteckung sicher vermieden werden;
als besonders wichtig bat die bacteriologische Sicherstellung solcher
eventuell atypisch verlaufender Fälle zu gelten und besondere Vor¬
sicht erfordern die pneumonischen Pestinfectionen.
Im einem Anhänge zu dem Berichte der Commission theilt
Prof. Sticker seine Untersuchungen über Lepra mit; er fand unter
einer grossen Anzahl von Leprösen sehr häufig lepröse Nasen-
affectionen und wurde durch diesen Befund zu systematischen
Untersuchungen des Nasenschleims veranlasst, der sich auch in den
leichteren und frischen Fällen als leprabacillenhältig erwies.
Sticker leitet daraus den Schluss ab, dass für die Infection mit
Lepra die Nase als wichtigste Invasionspforte zu betrachten sei; es
scheint, dass sowohl die Bekämpfung der Ansteckung, wie in vielen
Fällen die Therapie auf Basis dieser Beobachtung neue, Erfolg ver¬
sprechende Wege einzuschlagen hat.
*
III. Fussend auf den experimentellen Untersuchungen Gal¬
le o 1 1 i’s, nach denen aus den Pestbacillen ein hochgradig giftiger
Körper sich darstellen lässt, der specifische Immunität verleiht, hat
Lustig für seine Methode der activen und passiven Immunisirung
gegen die Pest sich eines Toxines und nicht der Pestbacillen selbst
bedient; er hat dadurch einen grossen Vortheil für die Präparation
des Serums gewonnen; denn ähnlich wie bei der Diphtherie-Immu-
nisirung der Pferde zum Zwecke der Heilserumgewinnung die Ar¬
beiten mit dem infectiösen Bacterium auf das Laboratorium be¬
schränkt werden und eine Infectionsquelle in dem zu immunisirenden
Thiere nie entstehen kann, gelingt es auch hier, bei dem Immuni-
sirungsprocess bei grossen Thieren jede Gefährdung ihrer Umgebung
absolut sicher zu vermeiden.
Die toxische Substanz, deren sich Lustig bedient, wird auf
folgende Weise gewonnen: 24 stündige Agarculturen eines virulenten
Pestbacillus werden in verdünnter Kalilauge aufgeschwemmt; aus
dieser Flüssigkeit lässt sich nach eintägigem Stehen bei 10 — 12°
mittelst verdünnter Essigsäure ein Niederschlag erzeugen, der in
schwach alkalischer Sodalösung bis zur Opalescenz löslich ist.
Der gelöste Niederschlag ist in ziemlich hohem Grade giftig; eine
Menge, entsprechend 1 mg des trockenen weissen Präcipitates, tödtet
sicher 100 g Ratte oder Kaninchen; subcutan oder intraperitoneal
bewirkt dieses Toxin keine bedeutende locale Reaction; höhere und
tödtliche Dosen setzen die Körpertemperatur prompt herab, alteriren
die Herzreaction schwer und bewirken das Auftreten zahlreicher
Ekchymosirungen des subserösen und subcutanen Zellgewebes. In
Dosen bis zu 5 mg ist dieses Gift für den Menschen unschädlich.
Diese Substanz erzeugt nun bei den Thieren, denen sie in gerin¬
gerer, nicht tödtlicher Menge einverleibt wird, eine grosse Resistenz¬
vermehrung gegen die Infection mit lebenden virulenten Pestbacillen.
Dasselbe Präparat in dosi refracta einem Pferde mehrfach injicirt,
veränderte das Serum dieses Thieres so, dass (nach Einverleibung
einer Gesammtmenge von 1 g) 1 cm3 des Serums dieses Thieres
kleine Versuchsthiere vor der vier Stunden nachfolgenden sicher
tödtlichen Infection mit lebendem Pestmaterial schützte.
Im Sommer 1898 hat Lustig seine Versuche in Bombay
wiederholt; er bediente sich zunächst zur Ueberprüfung der im
Laboratorium in Florenz gemachten Erfahrung als Versuchsobjecte
einer hochempfindlichen (in Bombay auch spontan erkrankenden)
Affenart; .eine Reihe von Thieren erhielten mehrere Injectionen der
toxischen Substanz in kurzen Intervallen und wurden etwa zwei
Wochen nachher mit einer (Controlthiere rapid tödtenden) Menge
virulenter Pestbacillen inficirt; alle widerstanden der Infection. Eine
weitere Anzahl wurde sechs Stunden post infectionem mit Pest¬
bacillen durch Injection von 5 — 10 cm3 des Pestserums vom Pferde
behandelt; bis auf ein intraperitoneal inficirtes Thier genasen alle,
die Controlaffen gingen prompt zu Grunde. Durch diese Versuche
ermuthigt, versuchte Lustig mit seinem Serum die Behandlung
pestkranker Menschen; von zwölf Injicirten (die meisten erhielten
mehrere Dosen zu 20 — 30 cm'1) genasen acht und starben vier. Das
Serum hatte als augenfälligste klinische Wirkung prompte Herab¬
setzung der hohen Temperatur; auch die Herzaction wurde günstig
beeinflusst.
Im Aufträge des Gouvernements von Bombay immunisirte
Lustig, nach Florenz zurückgekehrt, einige neue Pferde und
sandte im Herbst 1898 seine beiden Assistenten Dr. G a 1 1 e o 1 1 i
und Dr. V ol perin i mit Serum nach Bombay; sie injicirten im
Ganzen 175 Kranke mit Pestserum; die Mittheilung ihrer Beob¬
achtungen bildet den zweiten Theil der Monographie Lustig’s.
Von 71 Kranken, die mit Serum eines Pferdes behandelt wurden,
starben 53, 18 genasen, ein minimaler Effect, der mit den gleich¬
zeitigen Versuchen mit H a f k i n e’schem Serum und solchem aus
dem Petersburger Institute vollkommen übereinstimmt; von 104
mit dem Serum anderer Pferde behandelten Kranken genasen 56
und starben nur 48. Die Autoren sehen in dieser Differenz einen
Beweis dafür, dass diese anderen Sera in der That therapeutische
Effecte erzielt haben; ein Nachweis derselben Differenz der Wirk¬
samkeit durch Thierexperimente der betreffenden Sera ist nicht an¬
geführt; vielleicht ergänzen spätere Mittheilungen, welche in Aussicht
gestellt sind, diese Lücke, denn die Wichtigkeit des Gegenstandes
lässt es dringend nothwendig erscheinen, dass ein klares, sicher
begründetes Urtheil über den Werth der verschiedenen Behandlungs¬
methoden aus den Beobachtungen geschöpft werden kann.
*
IV. Die fortschreitenden praktischen Erfolge der angewandten
Bacteriologie lassen es für den praktischen Arzt, dem es unmög¬
lich ist, der Entwicklung der neuen Richtung der medicinischen
Wissenschaft in den zahlreichen und mannigfach zerstreuten Einzel-
publicationen rasch zu folgen, sehr wünschenswerth erscheinen,
eine klare und kurze Zusammenstellung der wichtigsten rI hatsachen
aus der Lehre von der activen und passiven, der antitoxischen
und antibacteriellen Immunität zu besitzen. Für diesen Zweck ist
die zusammenfassende Uebersicht über Schutzimpfung und Serum¬
therapie von Dieudonne als vollkommen entsprechend zu
empfehlen.
*
V. Die für die Beurtheilung der therapeutischen Wirksamkeit
der Serumtherapie bei Diphtherie hochwichtige Arbeit geht darau!
aus, zu untersuchen, bis zu welchem Grade antitoxisches Serum
im Stande sei, ein Thier vor dem Tode durch Diphtheriegift zu
530
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
Nr. 23
retten; Dönitz injicirt, um von der giftbindenden Wirkung des
Bindegewebes beim Meerschweinchen absehen zu können, Diphtherie¬
bouillon und Serum ausschliesslich intravenös; es ergibt sich, dass,
während bei gleichzeitiger Injection von Gift und Serum die Mengen
innerhalb sehr weiter Grenzen auch bei intravenöser Application
genau quantitativ proportional bleiben, beim Nachfolgen der Serum-
injection um kurze Zeitintervalle der Tod des Versuchstieres auch
bei Anwendung exorbitant hoher Serumdosen eintritt; je mehr die
Giftmenge die einfache Dosis letalis überschreitet, desto rascher
tritt die Wirkungslosigkeit des Serums zu Tage; vor einer 7 V2 fac^
letalen Giftdosis schützt eine 40 Minuten nachfolgende 10 X^’/2ma'
neutralisirende Serummenge nicht mehr vor dem Tode; da schon
bei 15 Minuten Intervall die blos 7 '/2 fache Dosis neutralisans von
Serum den lödtlichen Ausgang nicht mehr hindert, schliesst
Dönitz, dass schon in dieser kurzen Zeit eine Dosis letalis des
Giftes von den Körperzellen gebunden ist; dass diese Bindung
rasch eine sehr feste, durch grosse Ueberschiisse an Antitoxin nicht
lösbare ist, zeigt die bald eintretende Effectlosigkeit der nach¬
folgenden Seruminjection.
Diese rasche Giftbindung bei Diphtherie ist für die Praxis
der Serumtherapie von grossem Interesse; denn dadurch, dass bei
der Diphtherie von den Körperzellen das Gift rasch gebunden
wird und das gebundene Gift relativ früh Krankheitserscheinungen
macht, noch vor dem Gebundensein der einfach letalen Giftdosis,
hilft die Seruminjection bei manifester Erkrankung, trotzdem das
Antitoxin das gebundene Gift nicht mehr beeinflusst; es verhindert
die Bindung des durch die Krankheit neu zugeführten Giftes, noch
ehe es überhaupt zur Fixirung der einfach letalen Dosis gekommen
ist und verhütet darum auch bei eingetretener Krankheitserscheinung
die tödtliche Wirkung der Vergiftung.
*
VI. Hitschmann und Lindenthal haben in sieben
meist tödtlich endenden Fällen von Gangrene foudroyante exacle
bacteriologische Untersuchungen angestellt und kommen auf Grund
derselben dazu, den Process ätiologisch und histologisch von den
Phlegmonen stricte zu trennen; die Gewebsveränderung ist locale
Gewebsnekrose, einhergehend mit Gasbildung, die, rasch fort¬
schreitend, durch allgemeine Infection (toxämisch) lödtet; als Ursache
Finden sich die Bacillen des malignen Oedemes (selten), der Bacillus
emphysematosus von E. Frankel, ferner der Proteus Hauser
(nur bei Mischinfeclion gefunden) und bei Diabetikern das Bact,
coli. Die klinische Diagnose der Fälle ist durch das früh auf¬
tretende interstitielle Emphysem sicher zu stellen, der üble Aus¬
gang, auch durch frühzeitigen chirurgischen Eingriff in der Mehrzahl
der Fälle nicht zu vermeiden. Drei Tafeln illustriren die histolo¬
gischen und bacteriologischen Befunde.
*
VII. Die Wiedergabe der wichtigsten pathologisch-anatomischen
experimentellen Arbeiten des B o e r h a v e- Laboratoriums aus dem
Jahre 1885 — 1897 in französischer Sprache, macht eine Reihe
werthvoller Publicationen leichter zugänglich; Sie gen beck van
Heukelom hat durch diese Zusammenfassung namentlich auch
jener Arbeiten seines Institutes die ursprünglich in holländischer Sprache
veröffentlicht wurden, den vollgiltigen Beweis geliefert für die neue
rege wissenschaftliche Thätigkeit an der altberühmten medicinischen
Schule in Leyden.
Neben einer stattlichen Reihe casuistischer Mittheilungen
seien speciell die Arbeiten über Herzhypertrophie bei Nierenkrank¬
heiten, Entzündung und Leukocytose, mehrere Studien über Leber-
cirrhose, über Histogenese verschiedener Tumoren und endlich die
Mittheilung über ein junges menschliches Ei erwähnt, ein Präparat,
durch dessen Studium Siegenbeck van Heukelom zur An¬
nahme einer Art der Placentation des menschlichen Eies gelangt,
die mit der Theorie, welche Peters aus dem Studium eines noch
jüngeren Stadiums ableitete, fast identisch ist. Dem Werke sind
38 Tafeln mit vorzüglichen Illustrationen beigegeben.
*
VIII. In der sehr interessanten und inhaltreichen Mono¬
graphie von Bose Finden zunächst die anatomisch-histologischen
Befunde, welche in den malignen Neoplasmen auf das Vorkommen
von Parasiten bezogen werden können, eine eingehende und kritische
Beschreibung; der Autor kommt zu dem Schlüsse, dass die viel¬
gestaltige, oft durch besondere Furbenreactionen ausgezeichnete,
bald als Degenerationszeichen, bald als Zelleinschlüsse verschiedener
Natur gedeuteten eigenthümlichen Bildungen, als Erscheinungsform
eigener Arten von Parasiten aus der Classe der Sporozoen aufzu¬
fassen seien; er nimmt als wesentlich unterstützend für diese Hypo¬
these an, dass die Vertheilung wie die Variation der Form dieser
Bildungen eine doppelte Gesetzmässigkeit zeigt: einmal sind diese
Körperchen so vertheilt, dass ihre Anhäufung und Verbreitung mit
der Metamorphose der Zellen von dem Centrum zur wachsenden
Peripherie des Neoplasmas übereinstimmt, andererseits sind die
Variationen der Formen solche, dass aus ihnen eine regelmässige
Evolution eines Organismus abgeleitet werden kann. Eine weitere
eingehende Würdigung Finden die theilweise gelungenen Versuche
der Uebertragung von Neoplasmen durch Transplantation und In¬
oculation von isolirtem (nicht cultivirtem) Sporozoenmateriale, sowie
die Pathologie der Tumoren an Thieren. Als Vergleichsobjecte
werden die Veränderungen bei anderen sporozoitischen Erkrankungen
herangezogen, speciell die Coccidieninfection des Kaninchens (local i-
sirter und generalisirter Typus), sowie die artiFiciellen Veränderungen
durch Inoculation von Schneckenparasiten auf Warmblüter. In dem
Capitel über die Histogenese der malignen Neoplasmen wird als
Ursache der Homologie der Geschwulstzellen eine Assimilirung der
invadirten Zellen an den Typus der biologisch verwandten, primär
befallenen angenommen. Bose constatirt ferner, dass auch benigne
Tumoren, wie Nasenpolypen und spitze Papillome, in geringer Menge
die gleichen Parasiten zeigen, wie die Carcinome. Der Autor schliesst
aus diesem Vorkommen, dass maligne und benigne Tumoren die¬
selbe Ursache haben, und da weder histologische, noch ätiologische
Kriterien sie durchgreifend trennen, nimmt er an, dass Art und
Vermehrungsfähigkeit des Parasiten den Ausgang der neoplastischen
Wucherung bedinge.
Referent kann nicht allen Ausführungen des Autors zu¬
stimmen und möchte insbesondere betonen, dass einerseits die Ana-
logisirung der Coccidiose mit der Neoplasie im engeren Sinne viel¬
fach weniger weit geht, als der Autor annimmt und ebenso, dass
die Aehnlichkeit zwischen kleinzelliger InFiltration der epithelialen
Neoplasmen an Haut- und Schleimhautoberflächen (auch bei nicht
exulcerirten Tumoren) nicht ohne Weiteres einfach als Beweis dafür
herangezogen werden kann, dass die Neoplasmabildung ein der parasi¬
tären Entzündung ganz analoger Process sei; endlich erscheint auch
die IdentiFicirung der Inoculationseffecte isolirter Sporozoen mit
Neoplasmen im engeren Sinne durchaus nicht bewiesen. Es ist
heute für eine Reihe von Tumorfällen der parasitäre Ursprung sicher
nachgewiesen, aber die fortschreitende Klärung und Neubegrenzung
der Krankheitstypen erfordern eine strenge Kritik aller Befunde, um
nicht durch vorzeitige Generalisirung den gesicherten Boden der
thatsächlichen Erfahrungen zu verlassen.
*
IX. Ottolenghi’s Zusammenstellung der Resistenz patho¬
gener Bacterien gegen die wichtigsten Desinfectionsmittel zeichnet
sich ebensosehr durch Uebersichtlichkeit, als Vollständigkeit der an¬
geführten Daten aus; als besonders werlhvoll muss die experimen¬
telle Ueberprüfung der differirenden Angaben vieler Autoren an¬
gesehen werden, sie gibt den Zahlenangaben erst ihre wirkliche
Verwerthbarkeit; da auch die Formalindesinfection in den Bereich
der Untersuchungen einbezogen wurde, ist das Buch auch für den
praktischen Arzt, der ohne specielle bacteriologische Schulung
Wohnungsdesinfeclionen vornehmen soll, ein guter und verlässlicher
Rathgeber. Ein sehr ausführliches Literaturverzeichniss ermöglicht
eine bequeme Informirung über alle den Tabellen zu Grunde
liegenden früheren Arbeiten. Dr. R. Kretz.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
149. Krause berichtet im Altonaor ärztlichen Vereine über
eine totale Exstirpation der Harnblase wegen Tumor¬
massen, welche die obere ganze Innenfläche mehr oder minder ein¬
genommen hatten. Schwieriger gestaltete sich nur der Schlussact,
die Abtrennung der provisorisch ligirten Ureteren und der eintre¬
tenden Gefässe. Die Samenblasen wurden zurückgelassen, dann der
Blasenhals am oberen Theile der Prostata quer durchtrennt und
damit die Exstirpation beendet. Die Ureteren Hessen sich nicht ins
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
531
Rectum einnähen, da die Umschlagsfalte des Peritoneums sehr tief
unten lag; sie wurden daher in die vordere Wand der Flexur ein¬
gefügt. Der Urin kann jetzt durch fünf bis sechs Stunden zurück-
gehalten werden. — (Münchener medicinische Wochenschrift. 1899,
Nr. 47.)
*
1 50. Ueber den Einfluss des Schilddrüsenver¬
lustes auf die Heilung von Knochenbrüchen. Von
Dr. S t e i n 1 i n (St. Gallen). Kaninchen wurde die Schilddrüse ent¬
fernt und dann an ihnen, nachdem Kachexie aufgetreten war,
Fracturen gesetzt. Die Heilung derselben, beziehungsweise die
Bildung und Rückbildung des Gallus, zeigte sich gegenüber dem
Normalen um Wochen verzögert. Aus diesen Versuchen scheint
ein Einfluss der Thyreoidea auf die Heilung von Knochenfracturen
ersichtlich und eine therapeutische Verwendung von Schilddrüsen¬
präparaten bei schlecht heilenden Knochenbrüchen wenigstens eines
Versuches werth zu sein. — (Archiv für klinische Chirurgie.
Bd. LX, Heft 2.)
*
151. Lebensgefährliche Nasenblutung, gestillt
durch örtliche Gelatineeinspritzungen. Von Doctor
Freudenthal (Peine). Die üblichen Mittel, Terpentin, Tampo¬
nade ohne und mit B e 1 1 o c q u e’scher Röhre hatten versagt und
die 68jährige blutende Dame war bereits pulslos geworden, so dass
eine Kochsalzinfusion nothwendig geworden war. Darauf wurden
20— 80 cm3 flüssiger warmer Gelatine in die Nasenhöhle einge¬
spritzt, die dort schnell erhärtete, worauf die Blutung sofort
stand. — ■ (Deutsche medicinische Wochenschrift. 1899, Nr. 49.)
*
152. (Aus dem Krankenhause in Bielefeld.) Wirkung des
Formalins bei epithelialen Erkrankungen. Von
Dr. Daniel. Die Aetznng mit dem gewöhnlichen 40%igen Formal¬
dehyd hat sich schon bei den verschiedensten llautaffectionen,
Warzen, Epitheliomen, Lupus gut bewährt. Daniel berichtet von
einem Fall von Sycosis vulgaris, der durch eine dreimonat¬
liche Spitalsbehandlung nicht geheilt werden konnte, bis schliesslich
ein Versuch mit Formalin gemacht wurde, dessen Application im
Gesichte jedoch in Folge der Dämpfe, die auf Augen und Respi-
rationstract wirken, zu einiger Vorsicht auffordert. Nach 24 Stunden
trat eine Dermatitis mit starker Röthung der Haut und Brennen,
nach zwei weiteren Tagen der charakteristische Schorf auf, unter
dem sich eine glatte, reine Epidermis bildete. — (Deutsche medi¬
cinische Wochenschrift. 1899, Nr. 49.)
*
153. (Aus der Klinik des Prof. Schul tze in Bonn.) Die
klinische Bedeutung der Ausscheidung von Fleisch¬
resten mit dem Stuhlgange. Von Prof. Schmid t. Nicht
ganz gar gekochtes Bindegewebe wird nur vom Magensaft, Kern¬
substanz nur vom Pankreas verdaut. Das Erscheinen von makro¬
skopisch erkennbaren Bindegewebsresten im Stuhl weist also auf
eine Störung der Magenverdauung hin, wobei die Art der Störung
(Subacidität, Verminderung des Pepsins, zu grosse oder zu geringe
motorische Thätigkeit des Magens) unentschieden bleibt. Gleichzeitig
vorhandene makroskopisch erkennbare Muskelreste weisen auf
eine Störung der Darmverdauung. Werden bei einer Aufnahme von
100 g Hackfleisch pro die sichtbare Muskelfaserreste ohne Binde-
gewebsflocken entleert, so handelt es sich um eine schwere Schädi¬
gung der Darmverdauung, wobei es unentschieden bleibt, ob die¬
selbe auf einer Störung der Secretion oder Resorption beruht. —
(Deutsche medicinische Wochenschrift. 1899, Nr. 49.)
*
154. Ueber Immunität gegen M a 1 a r i a i n f e c t i on.
Von Dr. Celli (Rom). Aus den angestellten Untersuchungen geht
hervor, dass manche Personen gegen Malaria auch in den ver¬
seuchtesten Gegenden immun sind, dass diese Immunität sich aber
nicht aus jenen Gründen ableiten lässt (Bildung von Toxin und
Antitoxin), welche zur Aufstellung der Serumtherapie geführt haben;
diese Immunität liess sich bis jetzt künstlich durch keinerlei orga¬
nische Gewebssäfte, sondern einzig und allein durch Euchinin und
Methylenblau erzielen. — (Centralblatt für Bacteriologie und Para¬
sitenkunde. 1900, Nr. 3.)
*
155. Myxom yceten, respective Pias modiop hör a
Brassicae Woron. als Erzeuger der Geschwülste
bei Thieren. Von Podwyssotzki (Kiew). Auf verschiedenen
erkrankten Kohlarten befindet sich ein zur Classe der Myxomyceten
gehöriger, von W o r o n i n entdeckter Parasit : Plasmodiophora
brassicae, der mit den bekannten Einschlüssen in Krebszellen grosse
Aehnlichkeit hat. Der Verfasser hat nun solche durch den Parasiten
krankhaft veränderte Pflanzentheile Thieren, z. B. Kaninchen und Meer¬
schweinchen unter die Haut gebracht und die Folge war das Auftreten an¬
scheinend bösartiger Geschwülste innerhalb von 18 Tagen, in welchen
der genannte Parasit auch nachgewiesen werden konnte. Vorläufig
scheint festzustehen, dass dieser Myxomycet eine Kernproliferation
anzuregen im Stande sei. Weitere Untersuchungen sind im Zuge.
— (Centralblatt für Bacteriologie und Parasitenkunde. 1900, Nr. 3.)
*
156. Beitrag zur Racenimmunität. Von Prett-
n e r (Prag). Im Gegensätze zu den Angaben verschiedener Autoren
konnte Verfasser bei 3912 untersuchten Büffeln nicht ein einziges
Mal Tuberculose feststellen. Selbst bei intraperitonealer und intra¬
venöser Injection von Tuberkelbacillenculturen, die an zwei Büffel¬
kälbern vorgenommen worden waren, konnte bei den nach fünf
Wochen getödteten Thieren keine Tuberculose beobachtet werden,
während sie bei zwei gleich behandelten gewöhnlichen Kälbern fest¬
gestellt werden konnte. — (Centralblatt für Bacteriologie und
Parasitenkunde. 1900, Nr. 3.)
*
157. (Aus dem Frankfurter städtischen Krankenhause.)
Ueber Hirndrucksymptome beim Typhus. Von Doctor
Salomon. Verfasser, welcher schon öfters ein derartiges Verhalten
der Sehnervenpapille bei Typhus beobachtet hatte, welches auf
einen gesteigerten Hirndruck schliessen liess, suchte über diesen
mittelst der Q u i n c k e’schen Lumbalpunction nähere Aufschlüsse
zu bekommen. In den untersuchten vier mittelschwere Typhusfällen
erwies sich der Druck des Liquor cerebrospinalis — der jedes Mal
steril war und keine agglutinirende Eigenschaft besass — - als be¬
deutend erhöht, was vielleicht die Folge einer im Beginne des
Typhus auftretenden serösen Meningitis sein kann. Mit dem erhöhten
Hirndruck würde die bekanntlich bei Typhus gewöhnlich bestehende
relative Pulsverlangsamung übereinstimmen. Ausser durch die intra-
meningeale Exsudation mit dem anatomischen Bilde der serösen
Meningitis, die als eine Folge der Toxinwirkung aufzufassen ist,
könnten die Hirnsymptome bei Typhus noch erklärt werden durch
reine Toxinwirkung ohne Exsudation und demgemäss ohne Druck¬
erhöhung, weiters durch eine gleichzeitig bestehende purulente
Meningitis mit Typhusbacillen im Eiter, wie sie schon häufig be¬
obachtet worden ist. — (Berliner klinische Wochenschrift. 1900,
Nr. 6.)
*
158. Ueber die Reaction der Leukocyten auf
Guajaktinctur. Von Dr. Brandenburg (Berlin). 1st Blut
im Urin enthalten, so färbt sich bei der bekannten Van Deen-
schen Probe Guajaktinctur blau, wenn Terpentinöl zugesetzt wird,
welches Sauerstoff abgibt. Eiter in einem Secrete färbt Guajaktinctur
blau, ohne dass ein weiteres Mittel noch zugesetzt wird. Da der
Urin reducirende Substanzen enthalten kann, ist es machmal noth¬
wendig, den Urin zu filtriren und die Reaction auf dem Filter an¬
zustellen. Es folgt daraus, dass den Eiterkörperchen die Eigen¬
schaft zukommt, Guajak blau zu färben. Weiters konnte festgestellt
werden, dass diese Eigenschaft einem Eiweisskörper zukommt,
welcher wahrscheinlich in die Classe der Nucleoproteide gehört, dass
aber die Nucleoproteide aus Leber, Milz und Thymus diese Eigen¬
schaft nicht besitzen, sondern dass dass diese vielmehr den Leuko¬
cyten des Knochenmarkes zukommt. Weiters wurde beobachtet,
dass das Blut bei der Leukämie, und zwar schon in den kleinsten
Mengen in ausgesprochenen Fällen Guajaktinctur bläut. Die Probe
wird am zweckmässigsten in der Form angestellt, dass zwei bis
drei Tropfen Blut mit etwas Wasser verdünnt, dann filtrirt, hierauf
mit Wasser gewaschen werden. Gibt man einige Tropfen Guajaktinctur
dann darauf, so färben sich die mit Blut befeuchteten Stellen des
Filters intensiv blau, tu einem Falle von myelogener Leukämie,
war noch durch 0'Q4 cm6 Blut eine tiefblaue Färbung entstanden.
— (Münchener medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 6.) Pi-
Wien Eli klinische Wochenschrift. 1900.
Nr. 23
&32
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Ernannt: Von der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften
in Wien: Prof. Dr. Ferdinand Ilochstätter in Innsbruck
zum correspondirenden Mitgliede und Prof. Ru d. Virchow in
Berlin zum Ehrenmitgliede. — Der a. o. Prof. Dr. Karl Kuffner
zum ordentlichen Professor der Psychiatrie und Nervenpathologie an
der böhmischen Universität in P r a g. — Prof. Dr. Max "W olff
an der Poliklinik in Berlin zum Geheimen Medicinalrath.
*
Verliehen: Dem Oberstabsarzte Dr. Albert v. Sölz in
Wien der Generalstabsarztes-Charakter ad honores und der Orden
der Eisernen Krone III. Gl.
*
Am 27. Mai d. J. feierte die Grazer medicinische Facultät das
25jährige Professorenjubilänm Hans Eppinge r’s. Aus diesem An¬
lasse bringen die „Mittheilungen des Vereines der Aerzte in Steiermark“
einen von Prof. Fr. Kraus verfassten, die vielseitigen Verdienste des
rühmlich bekannten Lehrers der pathologischen Anatomie warm an¬
erkennenden Begrüssungsartikel.
*
Die innere, etwa 600 Betten umfassende Abtheilung des ver¬
storbenen Prof. Leichten stern am städtischen Krankenhause zu
Köln wurde in zwei Stationen zerlegt, zu deren dirigirenden Aerzten
Dr. Minkowski in Strassburg und Dr. Hochhaus in Kiel ge¬
wählt worden sind.
*
In der Sitzung des Obersten Sanitätsrath es am
26. Mai d. J. gelangten nach Mittheilung verschiedener Geschäfts
Angelegenheiten durch den Vorsitzenden, Hofrath v. Vogl, nach¬
stehende Referate zur Erledigung: 1. Gutachtliche Aeusserung über
die Qualification der Bewerber um die erledigte Stelle eines Ober¬
bezirksarztes im Küstenlande. (Referent: Sections-Chef v. Kusy.)
2. Referat über den Entwurf eines neuen Morbilitäts-Schemas für
Krankenanstalten. (Referent: Prof. Weichselbaum namens des
Speeialcomites.) Schliesslich gelangte ein Initiativantrag des Ober-
sanitätsrathes Prof. Dr. Wagner v. J a u r e g g, betreffend die Ver¬
anlassung therapeutischer Massnahmen zur Bekämpfung des endemi¬
schen Cretinismus zur Berathung, und wurde der Antragsteller vom
Obersten Sanitätsrathe mit der Erstattung detaillirter Anträge betraut.
*
In der am 28. Mai d J. stattgefundenen Sitzung der mathe¬
matisch-naturwissenschaftlichen Classe der kaiserlichen Akademie
der Wissenschaften wurde über die Zuerkennung des 2000 K
betragenden Lieben-Preises Beschluss gefasst. Derselbe wurde
zur Hälfte dem Privatdocenten der vergleichenden Physiologie an der
medicinisclien Facultät in Wien, Dr. Theodor Beer, für seine
Arbeit über die vergleichende Physiologie der Accommodation, zur
anderen Hälfte dem Prof. Dr. Oskar Zotli, Assistenten am physio¬
logischen Institute in Graz, für seine Untersuchungen über die schein¬
bar verschiedenen Grössen der Sonne und des Mondes in der Nähe des
Horizontes und der Nähe des Zenithes zugesprochen.
*
Der Vorstand der Aerztekammer für Berlin-Branden¬
burg hat in der Sitzung vom 26. Mai folgende Anträge ge¬
stellt: „Die Aerztekammer für die Provinz Brandenburg und den
Stadtkreis Berlin erachtet es zur Erhaltung eines leistungsfähigen
Aerztestandes für erforderlich, dass 1. das Zeugniss der Reife von
einem humanistischen Gymnasium auch fürderhin alleinige Vorbedin¬
gung der Zulassung zu den ärztlichen Prüfungen bleibe; 2. dass aber,
wenn eine Zulassung der Absolvirten anderer Mittelschulen (Real¬
gymnasien und Realschulen) zu den Universitätsstudien nicht zu ver¬
hüten sein sollte, wenigstens aj diese Zulassung sich auf a 1 1 e Facul-
täten unserer Hochschulen erstrecke, nicht aber auf die medicinische
beschränke, b) vor Inkrafttreten dieser Reformen die schon jetzt
nothwendige Vermehrung sämmtlicher medicinischen, insbesondere der
klinischen Unterrichtsanstalten in ausgiebigstem Umfange ins Werk
gesetzt werde.“ Die Anträge wurden mit grosser Mehrheit ange¬
nommen.
*
Alle jene Congresstheilnehmer, welche sich für die
Dauer ihres Aufenthaltes in Paris eine Wohnung sichern wollen,
werden darauf aufmerksam gemacht, dass sie sich sofort und persönlich
unmittelbar mit einer der nachgenannten Agentien in Verbindung
setzen mögen: Agence Desroches (Rue du Faubourg-Montmartre, 21),
Agence de voyages pratiques (Rue de Rome, 9), Agence des voyages
modernes (Rue de l’Echelle, 1), Agence Lubin (Boulevard Haussmann,
36), Societe franyaise des voyages Duchemin (Rue de Grammont, 20).
Weiters stehen noch für Congresstheilnehmer, welche ohne Familie
reisen, 800 Betten in den Schlafzimmern der verschiedenen Pariser
Lyceen in der Umgebung des Congressitzes zur Verfügung. Preis für
Bett, Frühstück und Bedienung daselbst Frcs. 5.50. Jene Mitglieder
des internationalen medicinischen Congresses, welche auf die Aufnahme
ihrer Vorträge in das officielle Congressprogramm reflectiren, werden
darauf aufmerksam gemacht, dass die Titel der Vorträge bis spätestens
10. Juni dem Congress-Bureau gemeldet sein müssen. Die Er¬
klärung zur Congresstheilnahme hat bis längstens 15. Juli zu erfolgen.
Die Einschreibung erfolgt unter Einsendung einer Visitkarte mit An¬
gabe der gewählten Section, sowie einer Postanweisung von 25 Frcs.
Mitgliederbeitrag an Dr. Duflocq, Rue de l’Ecole de Medecine, 21,
Paris, woselbst auch die Vormerkungen auf Ileservirung eines Bettes
in den Lyceen entgegengenommen werden. — Vom 23. bis 28. Juli
d. J. wird in Paris der Erste internationale Congress
für ärztliche Standesinteressen stattfinden. Jene Aerzte,
welche Mitglieder desselben werden wollen, haben 15 Frcs., deren
Frauen, sowie Studirende der Medicin, welche dem Congresse beiwohnen
wollen, 16 Frcs. Beitragsgebühr zu entrichten. Nähere Auskünfte
ertheilt Dr. Jules Glover, Rue du Faubourg-Poissonniere, 37, Paris.
*
Nr. 22 der „Deutschen medicinischen Wochenschrift“ bringt in
Sachen der freien Aerztewahl in Berlin folgende bemerkenswerthe
Nachricht. Der Vorstand der neuen etwa 9500 Mitglieder zählenden
Betriebskrankenkasse der Stadt Berlin hat sich in seiner ersten Sitzung
gleich für die freie Aerztewahl entschieden ; in gleicher Weise hatten
sich auch die Vertreter des Magistrates, sowie die Aufsichtsbehörden
dieser Absicht günstig gegenübergestellt. In der That ist ein ent¬
sprechender Vertrag zwischen der obgenannten Krankenkasse und dem
Vereine der frei gewählten Kassenärzte am 21. Mai zur Zufriedenheit
beider Contrahenten in Kraft getreten.
*
Im Verlage von Vaudenhoeck und Ruprecht in
Göttingen erscheint seit Mai d. J. monatlich zweimal ein von Prof.
Karl v. Noorden in Frankfurt a. M. herausgegebenes „Central¬
blatt für Stoffwechsel- und Verdauungskrank¬
heiten“. Preis eines Jahrganges Mark 20.
*
Das von Dr. H. Schlesinger (Frankfurt a. M.) im Ver¬
lage von Deuerlich in Göttingen herausgegebene „Aerztliche
Handbüchlein für hygienisch-diätetische, hydro¬
therapeutische, mechanische und andere Verord¬
nungen“ ist in 7. Auflage erschienen.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 20. Jahreswoche (vom 13. Mai
bis 19. Mai 1900). Lebend geboren: ehelich 637, unehelich 308, zusammen
945. Todt geboren: ehelich 45, unehelich 26, zusammen 71. Gesammtzahl
der Todesfälle 704 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
22T Todesfälle), darunter an Tuber culose 143, Blattern 0, Masern 15,
Scharlach 1, Diphtherie und^Croup 6, Pertussis 4, Typhus abdominalis 2,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 6, Neu¬
bildungen 47. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
51 ( — 37), Masern 260 ( — 51), Scharlach 42 ( — 3), Typhus abdominalis
8 ( — 5), Typhus exanthematicus 0 (=), Erysipel 25 ( — 2), Croup und
Diphtherie 24 ( — 16). Pertussis 29 (■ — 33), Dysenterie 0 (=), Cholera 0
t=), Puerperalfieber 1 ( — 1), Trachom 2 (=\ Influenza 3 (-[- 1).
Freie Stellen.
Directorsstell e an der öffentlichen allgemeinen Landeskranken-
anstalt in Czernowitz, Bukowina. Jährlicher Gehalt 4000 K mit
d.em Vorrückungsrechte in die höheren Gehaltsstufen von 4200 K und
4400 K nach je fünf Dienstjahren ; Activitätszulage 720 K und Functions¬
zulage 800 K. Bewerber um diese Stelle haben ihren Gesuchen die Nach¬
weise über die österreichische Staatsangehörigkeit, das Doctorat der gesamm-
ten Heilkunde, falls sie nicht bereits in Landesdiensten sind, über das nicht
überschrittene 40. Lebensjahr, über ihre bisherige Verwendung und über die
Kenntniss der Landessprachen beizulegen. Die Competenzgesnche sind
bis 10. Juni 1900, und zwar von solchen Beweibern, die in öffentlichen
Diensten stehen, durch die Vorgesetzte Dienstbehörde beim Bukowinaer
Landesausschusse zu überreichen.
Gemeinde a rztesstelle in der 1800 Einwohner zählenden
Sanitätsgemeindengruppe Hollenburg an der Donau, politischer Bezirk
Krems, Nied erösterr eich. Fixe Bezüge: 300 K von den Gemeinden,
900 K Landessubvention, 100 K Wohnungsbeitrag. Haltung einer Haus¬
apotheke erforderlich. Bewerber wollen ihre Zuschriften an die Gemeinde¬
vorstehung in Hollenburg an der Donau richten.
Gemeindearztesstelle in Aldein, Bezirk Bozen, Tirol, mit
einem jährlichen Wartgelde von 1400 K, freier Wohnung und freiem
Holzbezuge. Für jede Visite ist eine Taxe von 1 K 50 h und für jede Haus¬
ordination eine solche von 60 h festgesetzt Der Gemeindearzt hat eine
Hausapotheke zu halten und den Gemeindesanitätsdienst im Sinne der
Dienstesinstruction für Gemeindeärzte zu versehen. Auch bat er die
Todtenbeschau zu besorgen, wofür er jedoch jedes Mal die Gebühr von 2 K
aufrechnen kann. Die Gemeindearmen im Gemeindespitale sind unentgeltlich
zu behandeln, jedoch wird der Ersatz für die an dieselben verabfolgten Medi-
camente vom Ortsarmenfonde geleistet. Bewerber um diese Stelle haben ihre
gehörig belegten Gesuche sammt Taufschein bis spätestens 1. Juli d. J.
bei der Gemeindevorstehung in Aldein einzubringen
Nr. ‘23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
533
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
INHALT:
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 1. Juni 1900.
Nachtrag zum Protokolle der Sitzung der k. k. Gesellschaft der
Aerzte vom 25. Mai 1900.
2. Oesterreichischer Balneologen-Congress zu Ragusa und Ilidze.
(Schluss.)
29. Congress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. (18. bis
21. April.) (Schluss.)
18. Congress für innere Medicin in Wiesbaden. Vom 18.— 21. April 1900.
(Fortsetzung.)
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
Sitzung vom 1. Juni 1900.
Vorsitzender: Hofrath Exner.
Schriftführer : R. Paltauf.
Erben demonstrirt Schüttelparoxysmen bei einem
Kranken mit chronischem Mercurialismus.
Vor zwei Jahren betrug ihn ein College wegen eines Kranken,
der eben eine energische Schmierern* hinter sich hatte und nun über
das Auftreten von Zittern klagte. Da das Zittern in der Ruhe sistirte
und nur bei Bewegungen hervortrat, auch Sprachstörungen vorhanden
waren, lehnte Erben die Diagnose eines Tremor mercurialis ab.
An diesen Kranken wurde Erben erinnert, als er in letzter
Zeit mehrere Hutmacher und Vergolder mit streng ausgeprägtem
Intentionszittern sah. Der anwesende Kranke ist einer jener
Hutmacher und hat seit 18 Jahren seinen constitutionellen Mercuria¬
lismus. Er kann gewöhnlich mehrere Jahre hindurch ungestört arbeiten,
bis ihn wieder vier bis fünf Monate lang die Stomatitis mit der grossen
Mattigkeit befällt; wenn letztere weicht, tritt erst der Tremor auf.
Seinen jetzigen Zustand hat er seit circa einem halben Jahre ; er bekam
vertaubtes Gefühl in den Fingern und an den Schultern, welches nach
vier Wochen verschwunden war. Dann überfiel ihn eine Schwere, dass
er die Arbeit aussetzen musste. Sowie die Arme leichter wurden, setzte
Zittern am ganzen Körper ein; am meisten zittern die Arme. Wenn er
sich anstrengte, zitterte auch der Kopf. Kälte und Schnelligkeit der
Bewegungen vermehren den Tremor. Mit Schlaf, Stuhl und Appetit
ist er zufrieden.
Der Körperbefund zeigt keinerlei Symptome, welche für eine
Erkrankung des Centralnervensystems sprächen. Er hat eine mässige
Stomatitis, besitzt noch viele Zähne trotz seiner 63 Jahre, hat alkali¬
schen Speichel und dementsprechend harten Zahnstein. Seine vorge¬
streckte Zunge zittert nicht, seine Sprache ist nicht bebend. Die Em¬
pfindung ist in keiner Qualität beeinträchtigt. Es besteht nirgends
Muskelatrophie. Bei passiven Bewegungen der Arme will er keinen
ansehnlichen Widerstand aufbringen und begründet dies mit Schmerzen,
die hiebei im unteren ßicepsansatz und an der brachialen Deltoides-
insertion auftreten. Die Nervenstämme an den Oberarmen sind nicht
druckschmerzhaft, dafür die Muskeln (namentlich an ihren Ansätzen).
Kniereflexe und Tricepsreflexe sind normal, der Reflex am Biceps und
am Stylus radii fehlt beiderseits.
Während die Arme herabhängen, sind sie regungslos; wenn
er den Arm vor sich hinhält, beginnt ein Zittern — ausgespro¬
chenes Intentionszittern. Das Zittern steigert sich nach
wenigen Secunden bis zum heftigen Schütteln, ln diesem Moment mahnt
der Kranke an Paralysis agitans; der Unterschied liegt jedoch darin,
dass hier das Schütteln aus dem Handgelenk heraus erfolgt und die
Finger nicht selbstständig zittern, während sich bei der Paralysis
agitans die einzelnen Finger gegeneinander bewegen (Pillendrehen,
Geldzählen). Schütteln ist beim alkoholischen, saturninen, essentiellen
oder B a s e d o w’schen Tremor niemals anzutreffen, nur selten beim
Greisenzittern. Die genannten Gattungen des Zitterns haben feinere und
raschere (schwirrende) Oscillationen, die übrigens in der Ruhe nicht
cessiren.
Lässt man die Hand länger vor sich hinhalten, so schwächt
sich nach einer Minute das Schütteln allmälig ab und es tritt für zehn
und mehr Secunden Ruhe ein, die stufenweise in neuerliche Agitationen
übergeht; das geht so fort und kommen immer wieder Schüttel¬
paroxysmen, die von kurzen Ruhepausen unterbrochen werden. Der
Kranke gibt an, dass das jedesmalige Abklingen des Schüttel-
paroxysmus von starker Ermüdung begleitet wird; sobald dieselbe nach¬
lässt, bricht das Schütteln wieder hervor.
Gibt man ihm einen grossen Gegenstand in die Hand, so setzt
gleichfalls nach einiger Zeit die heftige Agitation aus und wenige
Secunden später gleitet ihm der Gegenstand ans der Hand, „da ihn
die Kraft der Finger verlasse“.
Man lasse ihn mit dem Zeigefinger auf die Nase greifen. Den
grössten Theil dieser Bewegung führt er ruhig und auf kürzestem
Wege aus, erst im letzten Drittel, nahe am Ziele, setzt eine Unruhe
ein und die Hand bewegt sich in grossen, relativ langsamen, trans¬
versalen oder longitudinalen rhythmischen Oscillationen um den ange¬
strebten Punkt, die Nasenspitze. Wenn er den Finger von der Nase
weg zur Ausgangsstellung bringt, wird der Tremor nicht stärker,
sondern hört schon vor dem Erreichen der letzteren auf; das Empor¬
führen zum geplanten Ziel erfordert mehr Muskelthätigkeit, als das
Aufgeben der intendirten Haltung. Der Intentionstremor bei der m u 1-
tiplen Sklerose hat dieselben Merkmale, nur mischt sich oft
Ataxie ein und die Hand fährt dann unter ungleichmässigen Zickzack¬
bewegungen von der beabsichtigten Richtung aus.
Auffällig zeigen sich die Schüttelparoxysmen, wenn er die beiden
Fäuste auf die Brust legt; dieselben bewegen sich heftig bald mitein¬
ander, bald gegeneinander. Speisen in den Mund führen, zuknöpfen
oder binden bringt er nicht zu Wege.
Die vorhin angeführten negativen Nervenbefunde lassen eine
Herdsklerose ausschliessen. Das Intentionszittern findet sich nicht aus¬
schliesslich bei diesem Krankheitsbilde — wie es vielfach angenommen
wird — , sondern gehört auch der chronischen Quecksilbervergiftung
an. Die einschlägige Literatur verzeichnet das nicht, aber doch konnte
Erben eine Bemerkung von Strümpell auffinden, aus der hervor¬
geht, dass ihm das Phänomen bei Spiegelarbeitern nicht fremd ge¬
blieben. ‘) So bringt die heutige Demonstration eine Bestätigung hiezu
und wird die bis nun ignorirte Beobachtung von Neuem verbreiten.
Intentionszittern offenbarte sich neben Ataxie auch in einigen
vereinzelten Beobachtungen von Gowers, Oppenheim und Brun s;
es handelte sich da um Tumoren im Kleinhirn, in Pons, respective
Vierhügel.
Um zum Ausgange dieses Vortrages zu kommen : Solche Moti¬
litätsstörungen, wie sie der vorgestellte Kranke bietet, sind auch bei
Schmiercuren eventuell zu erwarten, zumal Leyden und nach ihm
v. Engel, ebenso v. Jak sch über Fälle berichten, wo durch
Schmiercuren Polyneuritis hervorgerufen wurde.
Dr. Latzko stellt eine Patientin aus seiner Abtheilung am
Kaiser Franz Josef-Ambulatorium vor, an der er vor zwei Monaten
wegen Carcinoma cervicis die abdominelle Radicaloperation ausgeführt
hat. Nachdem der linke Ureter durch einen kirschengrossen Carcinom-
knoten im Parametrium stricturirt war, wurde er oberhalb der
Strictur im kleinen Becken isolirt, doppelt unterbunden und durch¬
trennt. Der erwähnte Knoten wurde im Zusammenhänge mit dem
Genitale und mit einem circa 3 cm langen Stück des Ureters ex-
stirpirt. Das centrale Ende des resecirten Ureters wurde in die
Blase implantirt, indem es durch Fadenzügel ungefähr 1 cm
weit in die eröffnete Blase gezogen wurde. Die Fadenzügel und ein in
das Nierenbecken vorgeschobener Ureterenkatheter wurden durch die
Urethra nach aussen geleitet. Die Wand des Ureters wurde durch
feine Nähte an die Blasenmuseulatur geheftet, darüber eine zweite und
dritte Nahtreihe gelegt, die periuterines Gewebe mit Blasenwand und
hinteres Peritonealblatt mit Blasenserosa vereinigten. Nunmehr lag der
Ureter und die gegen die Vagina drainirte Implantationsstelle wieder
vollkommen retroperitoneal. Nach Auslösung der erreichbaren Drüsen
im Bereiche der Iliacagabelung wurde die Bauchhöhle geschlossen.
Dauer der Operation 2 a/4 Stunden.
') Die drei Kranken mit Quecksilberzittern, welche Charcot an?
22. März 1888 vorstellte, boten selbst in der Rübe »intermittirendes
Zittern«, das sich bei Bewegungen zur Agitation steigerte; unser Kranker
aber zeigt ausgeprägten Intentions tremor, welcher intermittirt.
534
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 23
Der weitere Verlauf gestaltete sieh so glatt, dass die Patientin
am lü. Tage entlassen werden konnte.
Der vorgestellte Fall ist der fünfte, bei welchem im An¬
schlüsse an die Exstirpation des carcinomatösen Uterus ein Ureter
resecirt und mit Erfolg in die Blase implantirt
wurde. Die übrigen Fälle stammen von Chalot, Penrose,
Polk und Westermark. Uober die Prognose der Radicaloperation
derartig weit vorgeschrittener Fälle in Beziehung auf Dauerheilung
wird man sich wohl erst nach Vorliegen grösserer Beobachtungsreiheu
ein klares Bild machen können.
Herr Teleky übernimmt den Vorsitz.
Dr. Sigm. Exner: Demonstration eines Mikrophons
zur akustischen Beobachtung der Schallschwingun¬
gen am menschlichen Gehörorgan.
Da die Schwingungen des Trommelfelles und der Gehörknöchel¬
chen bei Einwirkung von Schallwellen, deren Stärke dem Hören des
täglichen Lebens entspricht, von so geringer Elongation sind, dass
auch unsere mikroskopischen Vergrösserungen nicht ausreichen, sie
einem genauen Studium zu unterziehen, so hat der Vortragende Herrn
Dr. L. Mader (derzeit in München) vorgeschlagen, die Schall¬
schwingungen im Mittelohre und dessen Umgebung mit Hilfe des
Mikrophons zu untersuchen. Dr Mader war im verflossenen Jahre
im Physiologischen Institute der Wiener Universität mit der Aus¬
arbeitung und der Anwendung dieser Methode beschäftigt und hat
seine Resultate in einer Arbeit zusammengefasst, welche im Februar 1. J.
der Wiener Akademie der Wissenschaften vorgelegt worden ist. Bei
dem Interesse, welches die Methode beanspruchen kann, sieht sich der
Vortragende veranlasst, das Wesentliche derselben der Gesellschaft der
Aerzte vorzuführen, und wählt dazu den Fall, in welchem die Schwin¬
gungen der Steigbügelplatte unter verschiedenen Umständen geprüft
werden sollen: Das Mikrophon besteht aus einem circa 10?am langen,
mit Kohlenpulver gefüllten cylindrischen Seidensäckchen, welches an
den basalen Enden durch Metallplatten geschlossen ist. Der Strom
eines galvanischen Elementes, durch einen Rheostaten in seiner Stärke
variirbar, durchsetzt von einer der Metallplatten zur anderen das
Kohlenpulver und passirt die primäre Wickelung einer Inductionsrolle.
Die secundäre Wickelung derselben geht in eine Leitung über, die zu einem
in einem entfernten Raume angebrachten Telephon führt. Jede Com¬
pression des Kohlenpulvers im Seidensäckchen wird demnach dessen
Widerstand und damit die Intensität des primären Stromes ändern,
und durch Inductionswirkung eine entsprechende Bewegung der Tele-
phonplatte hervorrufen. Nun ist an der einen Metallplatte des Mikro¬
phons, senkrecht auf ihre Fläche, ein Stift aus nicht leitender Substanz
befestigt, dessen Spitze an die Labyrinthfläche der Steigbügeljflatte
eines Leichenohres angelegt wird. Zu diesem Behufe ist das Felsenbein
mit seinem Inhalte und dem äusseren Ohre aus einem Schädel heraus¬
gesägt und die Steigbügelplatte freigelegt. Damit dieses Anlegen mit
genügender Genauigkeit und nach Wunsch immer mit demselben
Drucke geschehe, ist das Mikrophon oder der Leichentheil mittelst
Mikrometerschrauben verschiebbar, und eine Umschaltvorrichtung an
der primären Leitung angebracht, welche das Mikrophon in einen an¬
deren Stromkreis einschaltet, in welchem eine Bussole und eine Com-
pensationsvorrichtung den von dem Drucke abhängigen Widerstand
des Kohlenpulvers immer auf die gewünschte Grösse zu bringen gestattet.
Mit diesem Instrumentchen hat Dr. Mader eine Anzahl von
Versuchsreihen durchgeführt. Der Vortragende hebt als ein Beispiel
derselben Folgendes hervor: Wenn man vor dem Leichenohre in
gegebener Entfernung einen Ton erzeugt, die so entstandenen Schwin¬
gungen der Steigbügelplatte mikrophonisch beobachtet, und nun das
Trommelfell durch einen Circulärschnitt durchtrennt, um es ausser
Function zu setzen, so nimmt selbstverständlich die Elongation der
Steigbügelbewegungen bedeutend ab. Hat man aber den Stift des
Mikrophons an die Wandung des Vorhofes hart neben der Steigbügel-
platte angelegt, und wiederholt diesen Versuch, so bemerkt man, dass
die Schwingungen der Felsenbeinmasse in Folge der Trommelfell-
durchschneidung zunehmen.
Es ist das eine schöne Illustration für die Function des Trommel¬
felles, welches die lebendigen Kräfte der einwirkenden Luftwellen
gleichsam auf die Steigbügelplatte concentrirt, während sich diese
Kräfte, nach \ ernichtung des Trommel feiles auf die Massen des Felsen¬
beines vertheilen.
Dass man sich bei Verwendung dieser Methode vor Fehler¬
quellen sorgfältig zu hüten hat, ergibt sich von selbst: ist doch das
Mikrophon ein so feinfühliger Apparat, dass Luftwellen, welche es
direct treffen, auch telephonische Effecte von überaschender Treue
hervorrufen.
Der Vortragende hatte von dem Mikrophon, das mit dem Steig¬
bügel des Leichenohres in Berührung war, eine Leitung in ein ab¬
gelegenes Zimmer hergestellt, und daselbst das Telephon angebracht.
Die A nwesenden konnten sich überzeugen, dass man am Telephon
ganz gut versteht, was im Sitzungssaale gegen das Leichenohr ge¬
sprochen wurde.
Wegen vorgeschrittener Zeit wird der Vortrag Prof. Englisch
auf die nächste Sitzung verschoben.
Nachtrag zum Protokolle der Sitzung der k. k. Gesell¬
schaft der Aerzte vom 25. Mai 1900.
Prof. Englisch : Zur Prostatahypertrophie.
Die Prostata entwickelt sich am Ende des dritten Embryonal¬
monates am Grunde des Sinus urogenitalis aus Epithelialausstülpungen
genau so wie andere acinöse Drüsen, und zwar seitlich und am
Grunde neben der Mittellinie. Erstere (20 — 2G) Läppchen bilden die
Seitenlappen der Prostata; letztere zwischen Blasenwand und Samen¬
gängen als mittlerer Lappen.
Je nach der Entwicklung haben wir eine Prostata
1. a ) nur mit den zwei seitlichen Lappen,
b) mit allen drei Lappen; letztere geben eigent¬
lich die normalen Verhältnisse wieder.
2. Diese Formen finden sich a ) bei Neuge¬
borenen;
b) weiters in jedem Alter.
Die Pars prostatica urethrae bildet bei der ersten Form eine
gleichmässige Krümmung von grösserem Halbmesser, daher für jede
Katheterart durchgängig; bei letzterer eine winkelige Form, eignet
sich daher für Instrumente mit kurzer Krümmung (M e r c i e r’s
Katheter). Der mittlere Lappen liegt hoch oben, ohne Knickung des
Harnrohres; tiefer unten oder ganz nahe den Samengängen mit
winkeliger Form der Harnröhre, im letzten Falle um so stärker.
Dieselben Formen finden sich bei Neugeborenen
und in allen Alter stufen.
3. Die Seiten lappen zeigen drei Formen: a ) die
flache, b) die kugelige, c ) die höckerige.
4. Die beiden Seitenlappen sind a) gleich, b) un¬
gleich, und zwar der rechte oder linke grösser.
5. Bei dreilappigen stehen a ) alle drei in gleichem Verhältnisse,
b) in ungleichem Verhältnisse; der mittlere Lappen über wiegt die
Seitenlappen oder umgekehrt.
Dieselben Formen finden sich beim Neugeborenen
und Erwachsenen.
Durch diese Verhältnisse bilden sich die manigfachsten Formen
der Vorsteherdrüse.
Alle Angaben wurden durch Präparate Neugeborener und Er¬
wachsener belegt.
Discussion: Prof. v. Frisch fragt den Vortragenden nach
dem Alter jenes Patienten, von dem das demonstrirte Präparat mit
dem vielgetheilten Mittellappen herrührt und ob eine mikroskopische
Untersuchung des Tumors gemacht worden sei.
Prof. Englisch erwidert, das Alter des Patienten nicht an¬
geben zu können. Eine mikroskopische Untersuchung habe er bisher
nicht vorgenommen, da ihm das Präparat zu kostbar sei und er in
seinen heutigen Ausführungen nur die äussere Form der Prostata
ohne Beziehung auf die innere Zusammensetzung berücksichtigt habe.
Prof. v. Frisch: Nachdem der Herr Vortragende so ver¬
schiedenartige Bildungen als Mittellappen bezeichnet hat, wäre es
wünschenswerth, diesen Ausdruck zu präcisiren. Ich frage daher,
welche Bildung an der Prostata Herr Prof. Englisch als Mittel¬
lappen auffasst, und in welcher Beziehung derselbe zu T o m p s o n’s
„hinterer Commissur der Prostata“ steht?
Prof. Englisch: Ein Prostatalappen, auch der mittlere, ist
nur der, welcher Prostatasubstanz enthält. Jene Vorsprünge, die aus
den Fasern des Schlussmuskels bestehen, heisst er nie Lappen, sondern
Volvula. Die hintere Commisur ist die Vereinigung der beiden Seiten¬
lappen in der Medianebene hinter der Harnröhre.
2. Oesterreichischer Balneologen-Congress zu Ragusa
und Ilidze.
(Schluss.)
Docent Dr. C. Ullmann: Lichtwirkungen auf normale
und pathologisch veränderte Haut.
Verschiedene Arten der Hautpigmentation sind zweifellos Effecte
der kurzwelligen, ultravioleletten oder noch stärker brechbaren Theile
des Sonnenspectrums. Sowohl oberflächliche, ekzemartige, erythematöse
oder papulovesiculöse Processe (Eczema solare, Gletscherbrand), als
auch tiefergreifende, vesicolobullöse, mit narbiger Destruction aus¬
heilende Ilautentzündundungen erweisen sich durch ihr periodisches,
an die heisse Jahreszeit gebundenes Auftreten auf vom Lichte be-
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
535
schienenen Körperstellen als zweifelloser pathologischer Effect des
Lichtstrahlenreizes. Auch für die Entstehung des von Kaposi zuerst
beschriebenen Xeroderma pigmentosum, von ihm selbst bis jetzt als
Neigung zu frühzeitiger seniler Involution der Haut aufgefasst, dürfte
der Reiz des Sonnenlichtes eine wesentliche Rolle spielen. Aehnliehe
Eigenschaften sind auch für andere kurzwellige Lichtstrahlen, so die
Röntgen- Strahlen, nachgewiesen.
Docent Dr. S. Klein: Ueber die Beziehungen
zwischen Augenheilkunde und Balneotherapie.
Matzenaue r (Wien): Indication en zur Behand¬
lung cli ronischer Dermatosen und inveterirter Syphilis¬
formen mit den Thermalquellen von Ilidze.
In Folge des hohen Gehaltes der Thermen von Ilidze an
Glaubersalz, Chloriden und Bicarbonaten des Calciums und Magnesiums
entfalten sie eine ähnliche Wirkung wie Karlsbad.
Die Hydrotherapie im Allgemeinen bildet auch in der Therapie
der Syphilis ein nicht zu unterschätzendes Adjuvans, indem sie zur
Hebung des Ernährungszustandes und Kräftigung des Organismus in
eminenter Weise beiträgt.
Die Hauptdomäue in der Syphilistherapie liegt bei den Schwefel
haltigen Thermen von Ilidze, und zwar für die veralteten tertiären
Formen. „Bei Erkrankungen der Gelenke, des Bandapparates, der
Sehnen und Muskeln sind Schwefelthermen indicirt“ (Neumann).
Desgleichen eignen sich hiezu Fälle von Visceralsyphilis, die mit Er¬
krankungen der Leber und der Nieren einhergehen, zumal dabei die
cholagoge und diuretische Wirkung des Sprudels von Ilidze zur Gel¬
tung kommt. Von chronischen Dermatosen ist es namentlich die
chronisch recidivirende Urticaria in Folge Autointoxication von Seite
des erkrankten Magen-Darmtractus, welche Trinkeuren mit Sprudel¬
wasser erheischt, wobei namentlich die schmerzstillende Wirkung bei
chronischen Magen-Darminfectiouen (wahrscheinlich durch den Gehalt
an Kohlensäure und Chlorcalcium) und die abführende Wirkung (in
Folge des Glaubersalzes), sowie die schleimlösende und Gallenabsonde¬
rung fördernde Wirkung, wie bei der Karlsbader Cur, sich geltend
macht. In auffallend günstiger Weise werden auch stark juckende
Dermatosen, wie Lichen urticatus, selbst Prurigo etc., bei gleichzeitig
interner und externer Behandlung beeinflusst und besonders gewisse,
trockene, schuppende, chronische Ekzeme.
Dr. Wiek: Zur Frage der Acclimatisation.
Die Verschiedenheit in den Gesundheitsverhältnissen und in der
Sterblichkeit der beiden in Wien stationirten bosnisch-hercegovinischen
Regimenter bietet die seltene Gelegenheit, Beobachtungen über den Ein¬
fluss desKlimawechsels anstellen zu können. DieThatsaehe, dass gerade das
aus der Hercegovina stammende Regiment gegenüber dem aus Bosnien
stammenden eine um Vieles höhere Morbidität aufweist, könnte als
Folge des Umstandes gedeutet werden, dass es aus einem subtropischen
Klima in das rauhere Winterklima versetzt ist, während das bosnische
Regiment einen derartigen Klimawechsel nicht durchmacht, da Bosniens
Klima als subalpines Klima angesprochen werden kann, wenig ver¬
schieden von dem Niederösterreichs. Um hierüber zu einem Urtheile
zu gelangen, werden die Gesundheitsverhältnisse der Truppen in ver¬
schiedenen Territorien verglichen, so in Ostgalizien als Repräsentanten
eines kälteren Binnenklimas, in Dalmatien als Repräsentanten des sub¬
tropischen Küstenklimas, dann in den dazwischen liegenden Territorien
von Wien, Graz, Pest. Es zeigt sich eine Abnahme der tuberculösen
Erkrankungen im Süden, d. h. in Dalmatien und Bosnien, dagegen
ein Plus an Malaria und Erkrankungen der Athmungsorgane in
Dalmatien, welches indessen nur dem einheimischen Regiment zur Last
fällt. Verfolgt man die Morbidität bei Wanderung einer Truppe von
Nord nach Süd, so bestätigt sich eine Abnahme der tuberculösen
Krankheiten. Ein Beispiel für die Wirkung des entgegengesetzten
Weges bieten die bosnisch-hercegovinischen Regimenter. Die dabei zu
Tage tretende höhere Morbidität häDgt aber weit mehr mit anderen
Factoren, als mit dem Klimawechsel zusammen. Diese Factoren sind
die Garnisonirung in der Gi’ossstadt, insbesondere aber die nationale
Disposition und, in Bezug auf die Tuberculose, wohl auch die
hereditäre Belastung und die vorausgegangene Infection. Der Beweis
hiefür wird geführt theils aus der Kenntniss der sanitären Verhält¬
nisse des Occupationsgebietes, theils aus der der Gesundheitsverhält¬
nisse jener stammesgleichen Regimenter, welche aus den an das
Occupationsgebiet angrenzenden Ländern stammen. Nachdem eben diese
gleichfalls eine höhere Morbidität nachweisen, ohne den Süden ver¬
lassen zu haben, und andererseits auch die aus Galizien nach Wien
versetzten Regimenter eine Verschlechterung ihrer Gesundheitsverhält¬
nisse erlitten, obgleich sie eher in wärmeres Klima kommen, so kann
dem Klimawechsel in den in Rede stehenden Erscheinungen nur eine
untergeordnete Rolle zuerkannt werden. Die Statistik zeigt, wie die
Morbidität der Truppen parallel geht mit der Culturstufe jener Länder,
aus denen sie stammen. Bezüglich der Prophylaxis könnte allenfalls
von einer Versetzung des Regimentes aus der Grossstadt in eine süd¬
liche oder selbst nur kleinere Station eine Besserung der Gesundheits-
Verhältnisse erwartet werden, der Hauptnachdruck muss aber auf
Hebung der Constitution der Leute und auch auf Hebung der Cultur,
insbesondere der Sanitätspflege im Occupationsgebiete, gelegt werden.
Die Heilquellen Bosniens können diesem Zwecke dienstbar gemacht
werden.
Dr. Hermann v. C o 1 1 e 1 1 i : Der Curort Ilidze und
seine Heilfactor en.
Der grosse Thermaisprudel wurde 1892 erschlossen und besitzt
eine Temperatur von 57-5°C.; das Wasser riecht nach Schwefel¬
wasserstoff, weist einen ausserordentlich hohen Mineralisations-Coeffi-
cienten auf und ist besonders reich an Glaubersalz, Calcium-, Natrium-
und Magnesiumbicarbonat, sowie an freier Kohlensäure; es ist zu
Trinkeuren verwendbar. Zu Bädern wird die Therme in allen jenen
Fällen angewendet, wo ähnlich Schwefelwässer accreditirt sind. — Ein
zweiter Heilfactor ist das Moorbad; die hiezu verwendete Moorerde
wird in Zepöe au der Bosnabahn gestochen. — Der dritte Heilfactor
ist die Kaltwasseranstalt nach dem Systeme Winternitz. — Der
Mannigfaltigkeit der zur Verfügung stehenden Curmittel entspricht
auch die Curmethodik, wonach ganz heterogene Krankheitsformen der
Behandlung unterzogen werden.
29. Congress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie.
18.— 21. April.
(Schluss.)
Referent: Dr. Heinz Wohlgemuth (Berlin).
Zweiter Sitzungstag. Vormittagssitzung.
III. Barth (Danzig): Zur Frage der diagnostischen
Nierenspaltung.
Barth möchte in dieser Hinsicht zur Vorsicht mahnen. Er hat
nicht nur einmal Nekrose durch Gefässverletzung erlebt, sondern auch
noch eine andere böse Erfahrung gemacht, nämlich eine Lungenembolie,
wo er denn — er hatte wegen Verdachtes auf Stein gespalten, doch
eine interstitielle Nephritis gefunden - — die ganze untere Partie der
Niere vollkommen gangränös fand. Solches Unheil, glaubt er, werde
auch nicht durch den Z o n d e c k’schen Schnitt verhütet. Die Unter¬
suchungen von Br atz haben auch gezeigt, dass das spätere Schicksal
der gespaltenen Niere nicht immer ein gutes ist. B r a t z hat nach
sieben Jahren hochgradige Schrumpfung beobachtet. Also ungefährlich
ist die Aufschneidung der Niere nicht und man soll es sich wohl
überlegen, da man bei den erkrankten Nieren fast immer chionisehe
interstitielle Processe findet. Die Nephralgien gehen nach seiner Er¬
fahrung durch Aushiilsung der Niere oft zurück.
Discussion: Israel (Berlin) glaubt, dass Bart h eine
Gangrän der Niere nicht wegen der Incision, sondern wahrscheinlich
wegen zu fester Naht erlebt habe. Auch die ausgedehnten Schrumpfungen,
die B r a t z beobachtet hat, glaubt er nicht auf die Incision
beziehen zu müssen. Die Indieationen zur Spaltung der Niere glaubt
er doch nach seinen Erfahrungen weiter ziehen zu müssen, als
Herr Bart h.
Brau n (Göttingen) hält die Spaltung der Niere oft für sehr
schwer, da die Auslösung derselben wegen der festen Verwachsungen
nicht selten unmöglich ist. Er hat auch in einem Falle von Carcinom
der rechten Niere mit Albuminurie aus jener der anderen Seite die Ex¬
stirpation gemacht. Das Befinden war zuerst recht schlecht, sp>ärliche
Urinsecretion, schlechtes Allgemeinbefinden. Schliesslich aber trat
Erholung ein und reichliche Secretion. Der betreffende Patient ist nach
einem halben Jahre an Influenzapneumonie mit urämischen Erscheinungen
gestorben.
IV. Krönlein (Zürich) : Demonstration eines sel¬
tenen Nierentumors.
Von einer Patientin, die er auf dem vorjährigen Congress mit
einem ihr entfernten polyeystischen Cystofibrom gezeigt hat, berichtet
der Vortragende, dass sie jetzt l3/4 Jahre gesund ist, obgleich man
doch annimmt, dass die Cystennieren gewöhnlich doppelseitig sind.
Heute zeigt er einen Cystentumor der rechten Niere einer 35jährigen
Frau, den er als Carcinom diagnosticirt hatte, der nach dem Befunde
jedoch als ein Teratoid der Niere angesehen werden musste.
V. Enderlein (Marburg) : Experimentelle Blasen¬
plastik.
Vortragender berichtet über Versuche von Blasenplastik mit ein-
gepflanztem Dünndarm, die er an Hunden angestellt hat.
VI. Anschütz (Breslau) demonstrirt einen Fall von
Blasenektopie bei einen jungen Mann von 1 8 Jahren, welchem
v. Mikulicz den Defect der Blasenwand durch eine Darmplastik
gedeckt hat. Eine 12 cm lange Dünndarmschlinge wurde ausgeschaltet,
das Lumen in die Bauchwand eingeschlossen um zu beobachten, was
aus ihr wird. Nach vier Wochen wurde die Peripherie des Darmlumens
536
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 23
an die Peripherie der ektopischen Blasenwand genäht und schliesslich
geschlossen. Darauf folgte die Harnröhrenplastik. Der Patient trägt
jetzt eine Penisquetsche, mittelst welcher er 50 — 60 cm3 Urin zu halten
vermag. Die Blase fasst 100 cm3. Der Urin ist klar, sauer und enthält
Darmschleim.
Discussion: Trendelenburg (Leipzig) hat keinen Fall
beobachtet, wo nicht durch directe Vereinigung der Blasenspalte, wenn
die Blase auch noch so klein ist, Continenz bis auf zwei Stunden zu
erzielen gewesen wäre. Er berichtet über zwei Fälle, Knaben, die zur
Zeit der Operation 2% und 3l/z Jahre alt waren, und die er fast voll¬
kommen geheilt hat, ohne Penisquetsche, sondern nur mit einer Blasen-
druckpelotte. (Demonstration der Photographien.) Der Urin bei seinen
Patienten war durch eine geeignete Saugvorrichtung während der Heilung
tropfenweise abgesaugt worden; mit Unterstützung eines erheblichen
Druckes auf die Beckenschaufeln heilt so auch die directe Naht. Ein
Vortheil dieser Methode war, dass die Knaben nicht nass wurden und
daher auch keinen Decubitus bekamen. Die Beckenschaufeln gehen
nachher allerdings wieder auseinander. Er hat daher versucht, um diese
Annäherung zu einer dauernden zu machen, an Stelle der Durch¬
schneidung der Synchondrose eine kleine Fractur zum Hervorrufen eines
Gallus zu machen.
v. Mikulicz (Breslau) glaubt, dass es nicht immer möglich
ist, die Blase direct zu schliessen. Auch den Fall von T r e n d e 1 e n-
b u r g, den er gesehen, hält er nicht für so ideal geheilt.
It o h n (Frankfurt a. M.) bemerkt, dass die von Herrn M i k u-
licz empfohlene Penisplastik von Passavant angegeben ist.
VII. v. Bergmann (Riga): Ueber Darmausschal¬
tungen beim Volvulus.
Vortragender betont, dass beim Ileus meist zu spät operirt wird,
dass die Opiumbehandlung zu lange ausgedehnt wird. Die Differential-
diaguose wird häufig sehr schwer, oft erst in Narkose nach Aufhören
der Spannung möglich sein. Die Anamnese, der pathologische Befund
sind oft trügerisch. Ein Aufblähen des centralen Endes beim Volvulus
ist nur beim Dickdarm oft zu sehen. Die Diagnose soll durch das
W a h l’sche Symptom geleitet werden mit dem Amendement von
Schlange. Die Darmanastomose ist oft erfolgreich. Er hat von
81 Fällen 15 exspectativ behandelt. 10 Fälle gingen gleich zu Grunde,
von 46 operirten sind 14 geheilt, circa 25% durch Anastomose. Je
früher die Diagnose, umso besser die Resultate.
VIII. Credc (Dresden) : Die Vereinfachung der Gastro-
Entcrostomie.
Credc hat eine eigene Methode ausgebildet, welche es er¬
möglicht, die hintere Gastroenterostomie auch in schlechten Fällen in
gegen früher viel gefahrloserer Weise auszuführen. Es wird dies
namentlich dadurch ermöglicht, dass alle Proceduren ausserhalb der
Bauchhöhle vorgenommen werden könueu. Redner benützt zu seiucr
Methode drei silberne Platten, von dönen zwei mit einer dazwischen
gelegten Gummiplatte in den Darm, eine in den Magen zu liegen
kommen, woselbst alle drei durch einen Seidenfaden fest mit einander
verknüpft werden. Nach etwa 5 — 8 Tagen stossen sich die Platten
ab, um eine Woche später auf natürlichem AVege entleert zu werden.
(Demonstration des Instrumentariums.) Er hat 18 Operationen mit
zwei Todesfällen ausgeführt.
IX. S t e i n t h a 1 (Stuttgart) : Zur Resection d c s Vol¬
vulus der Flexura sigmoidea.
Redner erinnert an den Vorgang von v. Eis eis borg, der den
Volvulus jedes Mal mit einer Resection verbunden wissen wollte. Er
hat einen Fall von Volvulus, bei dem er anfangs nicht die Radical-
operation machen wollte, entlassen. Nach 14 Tagen Recidiv, welches
auf Oelklystiere behoben wurde. Schliesslich aber nach einigen AVochen
der Beobachtung musste er sich doch zur Resection entschliessen. Der
Fall ist jetzt vollkommen geheilt. (Demonstration des Präparates.)
X. Sprengel (Braunschweig) hat als Ursache einer In¬
vagination des lleums in das Coecum eine angeborene
Cyste der Darm wand beobachtet, deren Inhalt aus Fett und
Cholesterin bestand und die entwicklungsgeschichtlich als ein Ento-
dermoid angesprochen werden musste.
XI. K e h r (Halberstadt): Dreimalige Gastroenterosto¬
mie an einer Kranke n.
Kehr berichtet über drei solcher Fälle, die er zu operiren ge-
nöthigt war. Den M u r p h y - Knopf empfiehlt er nicht wegen zu
kleiner Oeffnungen, sondern die Naht.
Derselbe stellt zwei Kinder vor von einem
halben Jahr e, an denen er wegen angeborener P y 1 o r u s-
steuose die Gastroenterostomie ausgeführt hat.
Discussion: Lindner (Berlin) lobt die Gastroenterostomie
nach AAr ö 1 f 1 e r mit Naht. Gegen den Circulus vitiosus macht er
principiel 1 die Enteroanastomose, sie schützt zugleich den Magen vor
Eintritt von Darminhalt.
K r ö n 1 e i n (Zürich) hat noch nie den M urphy - Knopf an¬
gewendet. Seine Erfahrungen mit der Naht werden je länger umso
besser. Die Vereinfachung der Technik scheint ihm eine Gefährdung
der Sicherheit zu sein. Auf die Länge der Operationsdauer logt er
kein allzu grosses Gewicht. Früher hat er ausschliesslich die Wölf-
1 e r’sche, jetzt nur die Hacker’sche Methode angeweudet.
v. Zöge-M an teuffei (Dorpat) macht anatomische Be¬
merkungen zur Resection der Flexura sigmoidea, wobei er betont,
dass es nicht zur Drehung kommen kann, wenn dieselbe ein Mesen¬
terium recti hat.
Hochcnegg (AArien) hat ein vierjähriges Kind mit Ileus ope¬
rirt, als dessen Ursache sich eine Cyste zwischen Ileum und Cöcum
herausstellte, die die Invagination hervorgerufen hatte. Er hat die
Cyste exstirpirt und eine Enteroanastomose zwischen Ileum und Cöcum
angelegt. Nach zwei Tagen wieder Ileus mit Exitus. Die Section ergab
eine grosse Invagination, die die Anastomosenöffnung durch Vorlage¬
rung geschlossen hatte.
XII. v. Eiseisberg (Königsberg): Zur Therapie der
gutartigen Pylorusstenosen mit besonderer Berück¬
sichtigung der Aetzstricturen.
v. Eiseisberg empfiehlt die Gastroenterostomie.
Discussion: Martens (Berlin) demonstrirt die Präparate
von zwei Fällen von Darmstenose bei einem sechs Tage alten Kinde
und einem 17jährigen Mädchen, die durch Operation gewonnen
worden sind.
XII I. Körte (Berlin) : Demonstration eines Ulcus
p e p t i c u m jejuni nach Gastroenterostomie wegen
Magenulc u s.
Das Präparat wurde durch die Section gewonnen. Im Ganzen
sind vier solcher Fälle bekannt.
XIV. Steinthal (Stuttgart) : Multiple perforirende
Ulcer a des Jejunums nach Gastroenterostomie.
Steinthal vermehrt die von Körte angegebenen vier Fälle
um einen fiiuften, der schon am neunten Tage nach der Gastro¬
enterostomie aufgetreten war. Es fanden sich mehrere Ulcera um den
Murphy-Knopf herum, die nach seiner Meinung wegen vorgeschrittener
Atheromatose so früh schon aufgetreten waren.
XV. Petersen (Heidelberg): Ueber Darmverschlin¬
gung nach Gastroenterostomie.
Redner berichtet über drei eigenartige Fälle von Darmverschlin¬
gung nach Gastroenterostomia retrocolica (zweimal posterior, einmal
anterior). Der nach rechts gelagerte abführende Schenkel war hinter
den zuführenden nach links hindurchgeschlüpft durch den Ring,
welcher gebildet wurde vom Magen, der hinteren Abdomiualwand und
dem zuführenden Darmschenkel. Zweimal hatte die durchgeschlüpfte
Schlinge fast den gesammten Dünndarm nach sich gezogen. Die hier¬
bei erfolgte starke Torsion und Zerrung des Mesenteriums hatte zur
Thrombose von Mesenterialvenen und zu Darminfarct geführt. Nach
seinen Versuchen an der Leiche und am Thier erklärt Petersen
diese Darmverschlingung auf folgende AVeise. Die drei Operationen
waren mit Murphy Knopf ausgeführt werden. In dom Augenblicke, wo
dessen beide Hälften zusammengefügt werden, kann der Operateur
leicht die vorher parallel zur Frontalachse des Magens gelagerte
Anastomosenschlinge verdrehen, und zwar in dem Sinne, dass der ab¬
führende Schenkel statt nach rechts mehr oder weniger nach hinten
gelagert wird. Es ist daher beim Zusammenpressen des Murphy-Knopfes
streng auf die richtige Lage des abführenden Schenkels zu achten.
Der zuführende Schenkel soll möglichst kurz sein. Die Ausführungen
wurden durch Tafeln erläutert.
Discussion: Cauer (Breslau) glaubt, dass das Cred e’sche
Verfahren längere Zeit in Anspruch nimmt, als bei ihm die Naht.
Auch den Circulus vitiosus hält er dadurch nicht für vermieden. In
der Breslauer Klinik wird der Murphy-Knopf bei gutartigen A ffectionen
principiell nicht gebraucht, bei bösartigen nur, wenn die Operations¬
dauer abgekürzt werden soll. Ferner hat er auch einen Fall von Ulcus
pepticum neben der Nahtstelle beobachtet.
v. Hacker (Innsbruck) urgirt, dass eine ganze Reihe von in
der Literatur niedergelegten nach „v. Hacke r“ gemachten Gastro¬
enterostomien nicht genau seiner Methode entsprechen. Daher glaubt
er, kommen die schlechten Resultate. Er nimmt stets die oberste
Jejunumschlinge, gelesen aber hat er einen Fall, wo eine „tiefe Ileum-
schlinge“ nach v. Hacker genommen worden sei. Die Schlinge soll
nicht zu lang und nicht zu kurz sein. Eine zu kurze zerrt, eine zu
lange comprimirt. Ferner macht er die Incision schräg, 4 — 5 cm lang,
damit beide Muskelschichten durchtrennt werden. Die Magenfistel legt
er nahe der grossen Curvatur an.
Löbker (Bochum) betont, dass wir die Diagnose der ange¬
borenen Stenose der Säuglinge jetzt ganz präcise stellen können.
Zuerst sind die Kinder gut entwickelt, es besteht nur eine relative
Stenose ; nach AArochen aber wird sie complet, es tritt Erbrechen auf
ohne Galle, es erfolgt keine Nahrungsaufnahme, kein Stuhlgang. Es
sind immer röhrenförmige Stenosen, daher ist nur ein Verfahren mög¬
lich, die Gastroenterostomie. Er hat zwei Kinder operirt in der zehnten
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
537
Lebenswoche und im siebenten Monat. Die Ernährung besteht zuerst
nur in Klysmen, reichlichen Einläufen von Kochsalzlösung, um den
Turgor wiederherzustellen.
P r e t z (Königsberg) glaubt den Gefässveränderungen als Ursache
für die Ulcerationen nach Gastroenterostomie grosse Wichtigkeit bei¬
messen zu sollen.
Franke (Braunschweig) schlägt vor, um bei Invaginations-
volvulus eine Reinvagination zu vermeiden, das Ileum eine kurze
Strecke weit an die hintere Bauchwand anzunähen.
Hadra (Berlin) zeigt einen Patienten, dem er vor einem Jahre
wegen Pylorusstenose die Gastroenterostomie g( macht hat, und bei
dem sich später spontan eine Magenfistel bildete, welche er auf ein
Ulcus pepticum zurückführen möchte.
Petersen (Heidelberg) berichtet, dass von 180 Gastro¬
enterostomien, von denen 140 mit Murphy-Knopf gemacht wurden, die
letzten 100 ohne Circulus vitiosus heilten. Auch ist kein Unglücksfall
auf den Knopf zu schieben gewesen. Bei der richtig ausgeführten
II a c k e r’schen Methode geht die zuführende Duodenalschlinge stets
gerade von oben nach unttn, so dass ein Aufhängen nicht weiter
nüthig ist.
XVI. Wallstein (Halle) demonstrirt Präparate von experi¬
mentell erzeugter Skoliose an Händen, um die Torsion der Wirbel¬
körper zu zeigen. Ferner einen Redressionsapparat tür Skoliose und
Kyphose.
XVII. Grosse (Halle) stellt in Vertretung von v. Bramann
ein Kind mit Tibiadefect vor, in welchen ein durch Amputation ge¬
wonnenes, präparirtes und ausgekochtes Tibiastück eingesetzt wurde,
und welches vollkommen eingeheilt und organisirt ist.
XVIII. Braun (Göttingen): Ueber entzündliche Ge¬
schwülste des Netzes.
Häufig entstehen nach Laparotomien Geschwülste im Leibe,
welche wenig verschieblich sind, weil sie bald verwachsen, und deren
Symptome in Schmerzen, Stenosen durch Druck auf die Därme,
eventuell Abscessen ihren Ausdruck finden. Manchmal verschwinden
diese Geschwülste bald, manchmal bleiben sie Monate lang bestehen.
Das sind entzündliche Geschwülste des Netzes, die man leicht mit
malignen Neubildungen verwechseln kann, und gegen die man dann
zu früh oder unnützer Weise activ vorgeht. Prophylaktisch soll man,
um die Geschwülste nach Möglichkeit zu verhindern, beim Abbinden
des Netzes möglichst wenig in die Schlinge nehmen, entzündliche
Massen aber gleich mit fortnehmen.
XIX. Friedrich ^Leipzig) : Zur chirurgischen Path o-
logie von Netz und Mesenterium. Experimentelle
Studien über die Folgen von Netzalterationen für
Leber und Magen (Geschwürsbildung). Ileus inter-
mittens, bedingt durch Gummabildung mit mehr¬
facher secundärer Darmabknickung.
Mehrfache klinische Beobachtungen veranlassten Friedrich,
die Folgewirkungen ausgedehnter oder partieller Netzabtragungen an
verschiedenen Thierspecies einer experimentellen Pi iifung zu
unterziehen. Von dem fast regelmässigen Eintritt schwerer Erschei¬
nungen, Nekrosen in der Leber und Geschwürsbildung
im Magen, bis zu ganz negativen Versuchsausfall schwanken die
Ergebnisse bei den verschiedenen Thierspecies. Nur die Gefässligirung
als solche ist (bei zuverlässigem Ausschluss jeglicher Infectionsmög-
lichkeit) für die Einleitung der Störungen durch Thrombenbildung in
den Netzgefässen verantwortlich zu machen.
Im zweiten Theile seiner Ausführungen bespricht Friedrich
die klinischen Erscheinungen eines intermittirenden, durch fast ein
halbes Jahr bestandenen Ileus. Ein palpabler Tumor veianlasste ihn
zur Darmresection. Das durch die Resection gewonnene Präparat zeigt
einen eigrossen Tumor an der Anhefcungsstelle des mittleren Jejunums
und eine secundäre doppelte intensive Abknickung des Darms mit
pathologischen Klappenbildungen an der Schleimbaut. Die mikrosko¬
pische Untersuchung lässt keinen Zweifel darüber, dass der Tumor
ein Gumma ist. Die grosse Seltenheit dieses Befundes veranlasste
Friedrich zur Demonstration desselben in allen seinen Einzel¬
heiten.
XX. Krause (Altona): Zur Behandlung brandiger
Brüche und einzelner Formen von Ileus mittelst
Darmresection benützt Krause, wenn die Resection und Naht
der Darmenden nicht ausführbar ist, nach Anlegung des widernatür¬
lichen Afters eine Anastomosenklemme als Spornquetsche, um eine
baldige Verbindung zwischen dem oberen und unteren Darmabschnitt
herzustellen. (Demonstration des Instrumentes.)
Discussion: Kausch (Breslau) bemerkt, da-s auch in der
Breslauer Klinik Klemmen angewendet werden mit, einem elastischen
Zuge. (Beschreibung und Demonstration derselben.)
xxr. Ste i n t h a 1 (Stuttgart) demonstrirt ein Präparat, wo er
den enter oplastischen Schluss des Anus arteficialis
nach Braun gemacht hat.
XXII. Olshausen (Berlin) : Zur conservativen chirur¬
gischen Behandlung der Uterusmyome.
Vortragender hat es sich zur Pflicht gemacht, bei Amputatio
uteri, beziehungsweise Myoma stets ein Ovarium zurückzulassen. Aus
den gleichen Erwägungen, ob man nicht bei Myoma cervicis uteri den
ganzen Uterus mit den Ovarien zuiücklassen könnte, operirfe er einen
Fall, ein überstrausseneigrosses Myom der Cervix, und nähte das
Corpus uteri auf die Scheide auf. Die meisten Gynäkologen halten die
Enucleation der Myome heute nur bei solitärem Tumor für berechtigt.
Er hat 189 7 — 1899 29 Enucleationen gemacht und glaubt, dass die
meisten wohl deshalb von dieser Methode algekommen sind, weil die
Amputatio supravigii alis immer gefahrloser gt worden ist. Doch möchte
er die Indicationen der Enucleation weiter aufgefasst wissen, auch
dort, wo mehrere Myome vorhanden sind und wo kleine zuiückbleiben
müssen, wenn er sie auch auf Flauen beschränken möchte, die bald
in der Menopause sind. In einzelnen Fällen hat er die Enucleation
auch bei jungen Frauen gemacht, wenn diese die Aussicht auf Familie
durchaus nicht missen wollten. Nach der Enucleation muss das un¬
regelmässige Bett der Myome sehr sorgfältig in Etagennähten mit
Catgut vernäht werden. In Bezug auf die Phage, inwieweit überhaupt
Myome einen operativen Eingriff erfordern, steht er auf einem wesent¬
lich schonenderen Standpunkt als die meisten Gynäkologen. Er hat
nur UF/V/o operirt, während manche 41°/0 einer chirurgischen Be¬
handlung unterworfen haben.
XXIII. Lexer (Berlin) demonstrirt einen Patienten mit ange¬
borenen Spaltbildungen des Gesichtes.
XXIV. Schultheiss (Wildungen) zeigt die Röntgen- Bilder
und das Präparat eines enormen Blasensteines, den er durch
Sectio alta entfernt hat, nachdem er ihn in der Blase wegen seiner
enormen Grösse durch einige kräftige Meisseischläge erst spalten
musste. Der Stein war im feuchten Zustande 1 Pfund schwer. Mitten
im Kerne fanden sich die Reste einer ausgetrockneten Feldbohne. Auf
dem R ö n t g e n - Bilde war genau der Mantel von dem Kerne zu
unterscheiden.
XXV. Reisinger (Mainz): Zur Behandlung der II y d ro¬
ue p h r o s e.
Redner berichtet über einen Fall von intermittirender Hydro¬
nephrose, bei welchem zum ersten Male eine directe Anastomose
zwischen der Blase und der Hydronephrose, eine Nephrocystanastomose,
angelegt wurde. Die congenital verlagerte, hydronephrotische Niere
lag auf dem Promontorium und der vorderen Kieuzbeinfläche auf, ihr
unterer Pol war von dem Vertex der mässig gefüllten Blase etwa
3 cm entfernt. Nach vorheriger Hydronephrose Fistel wurde durch
zwei Nahtreihen, von denen die erste nur den serösen Ueberzug
beider Hohlorgane, die zweite die ganze Blasenwandung mit der etwa
7 mm dicken Nierenwaudung vereinigte, die Nepln ocystanastomose an¬
gelegt. Der vorher durch häufige Schmerzanfälle, Morphium etc. ganz
arbeitsunfähige Kranke ist seit dem Eingriffe völlig hergestellt und
als Zimmermann arbeitsfähig.
XXVI. Bessel - Hagen (Charlottenburg) : Demonstration
von Patienten, denen d i e M i 1 z exstirpirt worden ist,
ein Beitrag zur Splenektomie. Bessel bat aus der Lite¬
ratur 247 Fälle von Milzexstirpation zusammengestellt miit 18%
Mortalität.
XXVII. Brentano (Berlin): Vorstellung eines geheilten
Falles von Pankreasnekrose, den er mit der Diagnose eines
subphrenischen Abscesses per pleuram operirt hat. Die Diagnose ist erst
durch die Abstossuug eines grossen Gewebsstückes, welches als Pan¬
kreas augesehen werden musste, geklärt worden. Die Patientin hat
noch 5 9% Zucker ohne Polydipsie oder Polyurie.
*
Nachmittagssitzung.
I. Gluck (Berlin) demonstrirt ein Kind mit geheiltem Ra-
diusdefect und Klump hand.
II. Bessel- Hagen (Charlottenburg): Zur operativen
Behandlung der Pankreascysten.
Vortragender hat in einem Falle, da er infolge absoluter Ver¬
wachsungen sich der Cyste von keiner Seite nähern konnte, die Er¬
öffnung derselben quer durch beide Magenwände vorgenommen und
Heilung erzielt.
III. K e h r (Halberstadt) : Wie verhält es sich mit den
Recidiven nach Gallensteinoperationen?
Der Vortragende hat bisher 491 Gallensteinoperatiouon ausgeführt
(darunter 202 Cystostomien, 104 Cystektomien und 82 Choledochotomicn
und Hepaticusdrainagen) mit einer Mortalität von 3'4%. Echte Reci-
dive (Wiederwachsen von Steinen nach erfolgreicher Operation) hat er
bisher noch nicht beobachtet. Bei den unechten Recidiven unterscheidet
er, ob die auftretenden Beschwerden auf zurückgelassenen Steinen, auf
erneuter Entzündung in der Gallenblase oder auf der Bildung von Her-
538
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
nien oder Adhäsionen beruhen. Steine hat Kehr 19mal zurückgelassen,
weil er in den meisten Fällen es mit den weit vorgeschrittenen Formen
der Cholelithiasis zu tliun hatte, bei welchen ein sicherer Nachweis der
Steine ganz unmöglich wird. Ilernien hat er nach der Choledochotomie
und Ektomie öfters beobachtet, als nach der Cystostomie; auf sämmt-
liche Operationen kommen 7 % Hernien. Entzündungsrecidive hat er
nur nach der Cystostomie beobachtet, so dass er diese Operation in
neuester Zeit mehr und mehr einschränkt. Ebenso sind die Adhäsions¬
beschwerden bei der Cystostomie häufiger als bei der Cystektomie
(17% gegen 1 ®/„).
Das häufige Vorkommen von unechten Recidiven ist eine
Mahnung, frühzeitig bei der Cholelithiasis zum Messer zu greifen, aber
da der Patient sich nun einmal doch dann wohl zur Operation ent-
schliesst, wenn er von erheblicheren Beschwerden gequält wird, so ist
Kehr zufrieden, wenn er beim acuten und chronischen Hydrops und
Empyem der Gallenblase, beim chronischen Choledochusverscbluss, bei
häufig wiederkehrenden, die Lebensfreudigkeit untergrabenden Koliken
operiren kann.
Am Ende seines Vortrages thoilt Kehr mit, dass er bei der
acuten Entzündung der Gallenblase cystostomirt, während er bei der
reeidivirenden Form der Cholelithiasis der Ektomie, eventuell in Ver¬
bindung mit der Hepaticusdrainage den Vorzug gibt. Kehr hat
also echte Reeidive bisher gar nicht, unechte in 15% aller Fälle
beobachtet.
Discussion: Löbker (Bochum): Bei dem Bestreben, in
erster Linie die Complication zu beseitigen, schien ihm stets die Cyst¬
ektomie den Vorzug zu verdienen, besonders nachdem er frühzeitig
die Erfahrung gemacht, dass die primären Carcinome der Gallenblase
alle auf Grund von Steinen gewachsen seien. Sie müssen nach seiner
Erfahrung immer als eine Folgeerscheinung der Gallensteine aufgefasst
werden. Dagegen will er die allgemeine Indication zur operativen Be¬
handlung erheblich mehr eingeschränkt wissen. Auch er hat Reeidive
erlebt, doch waren es meist unechte Reeidive, meist Folgeerscheinungen
entzündlicher Art. Darum soll die Gallenblase entfernt werden, ebenso
wie der Appendix bei der Appendicitis. Was als echte Reeidive ange¬
sprochen wird, sind meist Fälle von zurückgelassenen Steinen nicht
blos in der Gallenblase, sondern auch im Choledochus. Er hat solche
Fälle trotz Entfernung der Gallenblase beobachtet, bei denen ein Cho¬
ledochusstein in Folge des aufgetretenen Ikterus als sicher anzunehmen
war. Diese Steine wandern sogar nicht selten nach oben bis zur Leber.
Löbker hat unlängst aus dem Hepaticus und den erweiterten Leber¬
gängen einmal acht, ein andermal fünf kleinere und grössere Steine
entfernt. Daher soll mit der Cystektomie eine breite Eröffnung der
Gallen wege, Abtastung derselben und Drainage verbunden werden. Ad¬
häsionen können sicher auch Attaken machen, doch kann mau sie
durch die Art der Operation nicht beeinflussen. Wenn erforderlich,
soll man die Gastioenterostomie anschliessen.
Petersen (Heidelberg): Die Erfahrungen der Heidelberger
Klinik stimmen mit denen von Kehr und Löbker überein. Die
stets entfernte Gallenblase beraubt aber der Möglichkeit einer Cystentero-
anastomose, die nöthig sein kann und in einem seiner Fälle dringend
nöthig war.
Körte (Berlin) nimmt jetzt auch die entzündlich veränderte
Gallenblase fort. Schmerzen nach Gallensteinoperationen und Be¬
schwerden kommen oft vor, daher sind die Patienten, die nur wenig
Beschwerden von Steinen haben, nach der Operation nicht besser daran.
Er will daher die Indication etwas eingeschränkt wissen.
F ranz König (Berlin) berichtet, dass er selber einmal vor
vielen Jahren sehr starke Beschwerden von Gallensteinen gehabt und
dass er, wenn damals schon die Cystektomie gemacht worden wäre,
sicher keine Gallenblase mehr hätte. Heute ist er ohne Operation voll¬
kommen heil.
Tröge (Braunschweig) hält auch die Cystektomie in vielen
Fällen für dringend nothwendig. Bauchbruch hat er unter 27 Fällen
nur einmal erlebt.
Rehn (Frankfurt a. M.): Er ist zwar der Erste gewesen, der
die Cystektomie und die Choledochotomie gemacht hat, doch würde er
heute die Indication einschränken.
IV. Freudenberg (Berlin): Zur Statistik und Tech¬
nik dor B o 1 1 i n i’s c h e n Operation bei Prostatahyper¬
trophie mit Demonstration eines gemeinsam mit
Dr. B i e r h o f f const r ui r ten cy stoskopischeu Prostata¬
in c i s o r s.
Redner, der die B o 1 1 i n i’sclie Operation jetzt 77mal an Gl Pa¬
tienten ausgeführt hat, hat sein früheres günstiges Urtheil über dieselbe
bestätigt gefunden, wenn die Operation auch nicht ganz ungefährlich
ist. Eine Zusammenstellung von G83 Fällen der Literatur ergibt
4 7a — 572 °/o Mortalität, 673 % Misserfolge, 88% „gute Resultate“
(circa zwei Drittel davon Heilungen und ein Drittel Besserungen).
Bezüglich der Technik empfiehlt Freudenberg das Operiren
bei mit steriler Luft gefüllter Blase, Anwendung von nahezu oder
selbst voller Weissglut, genaue Controle der Lage der Schnabelspitze
per rectum vor Beginn des Schnittes nach hinten; zur Nachbehandlung
Verweilkatheter 1. bei späteren Blutungen, 2. stark eiterigem Urin,
3. schwierigem oder sehr häufigem Katheterismus. Freudenberg
räth ferner, sich nicht mit Misserfolgen oder halben Erfolgen zu be¬
gnügen, sondern eventuell die Operation zu wiederholen. Ursache der
Misserfolge ist fast immer nicht genügende Beseitigung des Mietions¬
hindernisses in Folge zu seichter oder nicht zweckmässig gelagerter
oder nicht genügend langer Schnitte. Er hat deswegen seinen Incisor
so eingerichtet, dass er Schnitte bis zu 6% cm gestattet, wenn auch
für die grösste Zahl der Fälle Schnitte von 2% — 3% cm Länge nicht
nur ausreichen, sondern grössere wegen eventueller Verletzung der
Pars membranacea direct gefährlich werden können. Er selbst hat
Schnitte höchstens bis zu 4% oder 5 cm Länge nöthig gehabt. Das
Mass gibt die Rectaluntersuchung bei eingeführtem und mit dem
Schenkel nach hinten gerichtetem Incisor. Von der dabei constatirten
Länge nimmt Freudenberg beim Schnitt nach hinten etwa 5/4 cm,
bei seitlichen und vorderen Schnitten etwa % — 1 cm weniger. Oft wird
die Pars prostatica der Harnröhre durch die Prostata vorgewölbt,
ohne dass diese selbst mit einem Wulst in dio Blase hiueinragt. Es
hat sich daher das Bedürfnis geltend gemacht, die Incision unter
Leitung des Auges zu machen. Er hat daher ein solches Incisionscysto-
skop construirt, welches er demonstrirt. Vortragender legt dann zwei
Präparate von Patienten vor, die 38 Tage, respective 13 Monate nach
erfolgreicher B o 1 1 i n i’scher Operation an intercurrenten Krankheiten
zu Grunde gegangen waren, und zeigt zwei Patienten, bei denen die
B o 1 1 i n i’sche Operation vollkommene Heilung seit 2%, beziehungs¬
weise drei Jahren erzielt hat, von denen der eine vorher ohne Erfolg
castrirt worden war.
V. Wossidlo (Berlin) demonstrirt ebenfalls ein von ihm er¬
sonnenes Incisionscystoskop zur Ausführung der B o 1 1 i n i’schen Ope¬
ration unter Leitung des Auges»
Discussion: v. Frisch (Wien) glaubt, dass die Resultate
der B o 1 1 i n i’schen Operation doch nicht so rosig seien, wie sie Herr
Freudenberg auffasst. Die Operation ist unzuverlässig ; man weiss
nie, ob sie gelingen wird oder nicht. Nicht zu unterschätzen ist doch,
dass der Sphinkter durchtrennt wird. Er theilt die Krankengeschichte
eines Patienten mit, der durch Sectio alta perinealis etc. von Mittel¬
und seitlichen Prostatalappen befreit war und doch nicht uriniren konnte.
Als er dann mit dem Incisor einen Schnitt nach vorne machte,
war er 14 Tage lang vollkommen incontinent, dann trat aber
Heilung ein.
J a f f e (Posen) und T r o j e (Braunschweig) haben gute Resultate
erzielt, auch Küm mell (Hamburg) tritt für die Operation ein. Da¬
gegen hat Zucke rkandl (Wien) einen Fall von Sectio alta gesehen,
wo Bottini selbst ein Jahr zuvor seine Operation gemacht hatte und
von welcher er keine Spur mehr nachweisen konnte.
Im Schlusswort empfiehlt Freu den her g die Operation noch¬
mals in erster Reihe vor allen anderen Methoden.
*
Dritter Sitzungstag. Vormittagssitzung.
I. v. A n g e l e r (München) : Ueber Operationen wegen
Unter leibscontusionen.
Redner hat in den letzten vier Jahren neun Fälle von Darm¬
ruptur und nur zweimal Heilung gesehen. Die Prognose ist wesentlich
beeinflusst durch die Zeit, die zwischen Verletzung und Operation ver¬
strichen ist. Man muss sobald als möglich operativ Vorgehen bei
Schuss- und Stichwunden. Ganz andere Erwägungen greifen bei den
subcutanen Verletzungen der Bauchhöhle, die die Niere, Leber etc.
getroffen haben, Platz, die am schlimmsten mit einer subcutanen
Darmruptur einhergehen. Einerseits macht die Diagnose grosse
Schwierigkeiten, andererseits kann auch Spontanheilung ohne Ope¬
ration eintreten. Objective und subjective Symptome können sehr
täuschen und verändern sich in 24 Stunden sehr. Vielfach täuschend
sind auch die unmittelbar nach der Verletzung noch merkwürdig
kraftvoll sich zeigenden Lebensäusserungen. Ein Stoss gegen oder mit
einem stumpfen Gegenstände, Deichselstoss, Hufschlag ist erfahrungs-
gemäss sehr gefährlich, wenn er senkrecht getroffen hat. Durch den
Druck des Darmes gegen die Wirbelsäule tritt oft eine Ruptur der
Wand ein, wenn die Flüssigkeit nicht gleich ausweichen kann. Der
Shock als solcher kann diagnostisch nicht verwerthet werden. Hält er
aber stundenlang an, dann ist er nach seinen Erfahrungen nicht
mehr ein reiner Shock, sondern es hat eine Läsion innerer Organe ndt
fremdem Bauchinhalt stattgefunden. Auch der Puls ist wenig aus¬
schlaggebend. Er kst oft sehr frequent, dann tritt wieder ein Nachlass
ein, aber mit eintretender Peritonitis wird er wieder hoch. Zunahme
der Frequenz und Temperaturerhöhung ist ein Beweis für septische
Peritonitis. Auch auf die Athmungsfrequenz und die Art der Ein-
atbmung ist zu achten. Erbrechen ist oft frühzeitig und anhaltend.
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Bei einfachen Contusionen darf es höchstens ein- bis zweimal auf-
treten und muss dann aufhören. Schmerzen können fehlen, nimmt
aber der Schmerz zu, dann ist Austritt von Darminhalt wahrscheinlich.
Durch Morphium wird das Bild oft verschleiert. Frühzeitiges Ver¬
schwinden der Leberdämpfung ist nur dann zu erwarten, wenn die
Ruptur dicht an der Leber stattgefunden; das Bestehenbleiben der
Leberdämpfung spricht nicht gegen eine Darmruptur. Auch Meteoris¬
mus ist in den ersten sechs Stunden nicht nöthig, sondern kann erst
nach Erschlaffung der immer zuerst auftretenden Contractionen des
Darmes eintreten. So kann auch an der Einrissstelle selbst durch
Muskelcontraction die Schleimhaut ausgestülpt werden und dadurch in
den ersten Stunden den Riss verschliessen, wie es Trendelenburg
nach 9 Stunden noch beobachtet hat. Sogar bei querem Abreissen des
Darmes kann grösserer Austritt so oft verhindert werden und erst bei
Wiedereintritt der peristaltischen Bewegungen und Lösung der Con¬
traction auftreten. Blutige Stühle machen einen Schleimhautriss ohne
Perforation wahrscheinlich. In allen zweifelhaften Fällen ist jedoch
die Laparotomie Pflicht, denn die Statistik zeigt, dass von 162 Fällen
von subcutaner Darmruptur nur elf gerettet und von diesen einige
später noch an Fisteln behandelt worden sind. Vor keinem Shock soll
man zurückschrecken, der oft ein Zeichen beginnender Peritonitis ist;
die Aethernarkose ist auch dem Shock nicht gefährlich; durch Zu¬
warten jedoch, bis deutliche Zeichen von Peritonitis aufgetreten sind,
kommt man meist zu spät, die grösste Zahl stirbt am zweiten oder
dritten Tage. Der Vorschlag von Mikulicz, bei ganz zweifelhaften
Fällen kleine Incisionen in der Linea alba zu machen, um zu sehen, ob
Blut, Luft oder anderer Inhalt entweicht, ist auch nicht immer sicher.
Eine Verletzung des Darmes kann dabei in den ersten Stunden doch
übersehen werden. Daher soll man den Schnitt grösser anlegen, damit
man das Netz mit dem Quercolon nach oben schlagen kann. Reich¬
liche Kochsalzinfusionen sind stets nöthig. Auch zur Desinfection der
Därme benützt er literweise sterilisirte warme Kochsalzlösung, da¬
gegen hält er vieles Betupfen für schädlich. Bei septischem Zustande
soll man die Därme zur besseren Reinigung eventriren. Wegen der
oft auftretenden Verengerungen der Därme sollen grössere Längsrisse
quer vereinigt werden. Bei vollkommener Trennung eines Darmes ist
zur Vereinigung der Murphy- Knopf vorzuziehen. Die Bauchwunde
soll offen gehalten werden.
Discussion: Rehn (Frankfurt a. M. operirte einmal neun
Stunden nach der Verletzung. Alles sprach für Perforation, doch
war keine zu finden, dagegen fand er eine tetanische Contraction der
Därme.
Stolper (Breslau) hat eine Beobachtung von überaus schnell
auftretendem Meteorismus auf einen Sturz aus grosser Höhe gemacht,
und zwar ohne Darmruptur.
Eichel (Strassburg) hält es für richtig, bis zur vollkommen
sicheren Diagnose bei schweren Bauchcontusionen nichts per os
oder per rectum zu geben, und zwar wegen der Verschleierung
des Bildes durch subjective Besserung. Auf den Puls legt er grossen
Werth.
S z u m a n n (Thorn) hat einen ähnlichen Fall wie Rehn beob¬
achtet, von strangförmiger Contraction des Darmes.
Hahn (Berlin) glaubt in jedem Falle von Darmruptur nach
Contusion eine typische Resection machen zu müssen, weil man die
Schädigungen des Darmes früh nicht übersehen kann. Die ganze blutig
imbibirte Stelle soll resecirt werden.
Lauenstein (Hamburg): Die Kranken mit bereits be¬
stehender Peritonitis vertragen sehr wenig, sie sind meist verloren.
Deshalb soll man früh operiren. Er hat zuerst auch abgewartet, hat
aber trübe Erfahrungen gemacht, dann hat er primär laparotomirt und
noch schlechtere Resultate gehabt. Daun hat er in einem Falle
wieder abgewartet, es trat Peritonitis ein mit Abscessbildung zwischen
den Därmen und nach einer Incision glatte Heilung. Er glaubt daher
wie v. Anger er, dass in vielen Fällen nur eine Quetschung des
Darmes mit Thrombosirung der Mesenterialgefässe stattfindet. Meteoris¬
mus kommt nach seinen Erfahrungen bei schweren Bauchcontusionen
nicht vor.
Perthes (Leipzig) hat sechs Fälle von Darmrujitur mit
Laparotomie und nur zwei Heilungen aufzuweisen. Ein Patient hatte
schon in der neunten Stunde peritonitische Erscheinungen. Daher soll
möglichst schleunig operirt werden. Die Diagnose der Blutungen ist
oft schwierig, überhaupt nur mit Sicherheit möglich, wenn grosse
Mengen Blut, mehr als 1 l, ausgetreten sind. Ein Hilfsmittel ist die
Messung des Blutdruckes.
S a m t e r (Königsberg) : Herr Sprengel (Braunschweig) unter¬
scheidet) aj Fälle ohne Blutung, b) mit Blutung und aseptischem,
c) mit Blutung und septischem Material (Darminhalt). Er empfiehlt
breite Incisionen und hält den Shock für keine Contraindication.
Körte (Berlin) legt in Bezug auf die Diagnose grossen Werth
auf die einseitige Spannung der Bauchmuskeln. — Ein Schlechter¬
werden des Allgemeinbefindens in den ersten Stunden verlangt einen
operativen Eingriff.
König jun. (Berlin) hat einen Fall sechs Stunden nach der
Verletzung operirt und schon Peritonitis festgestellt.
Perthes fLeipzig) bemerkt noch, dass bei Peritonitis der Blut¬
druck gewöhnlich nicht gesunken ist.
II. Körte (Berlin) : Hernia obturator ia mit De¬
monstration eines Präparates.
Der erste Fall betraf eine 50jährige Frau. Die Darmschlinge
war der Gangrän nahe, die Sehnürfurche am zuführenden Schenkel
wurde übernäht, die Wunde tamponirt. Das R o m b e r g’sche Sym¬
ptom war nicht deutlich. Es erfolgte glatte Heilung. In einem zweiten
Falle bei einer 72jährigen Frau fand sich bei der wegen Darmver-
sehluss durch Tumor unternommenen Operation ein torquirter Ovarial¬
tumor und eine gangränöse Hernia obturatoria dextra. Nach Lösung
derselben wurde die Darmresection gemacht und es erfolgte der Tod
im Collaps. Das Becken der Patientin zeigte nicht weniger als zwei
Herniae obturatoriae, zwei Herniae inguinales und eine Hernia
cruralis dextra. Ferner war eine sehr tiefe Fossa ovarica sinistra,
ein Recessus intersigmoideus und ein Recessus duodeno jejuualis
vorhanden.
Discussion: Sprengel (Braunschweig) hat auch einen
Fall von Hernia obturatoria bei einer Frau beobachtet, welcher recidi-
virte und durch Darmocclusion dann zum Tode führte. Er empfiehlt
daher, das Foramen obturatorium zu schliessen.
Eichel (Strassburg) hat einen Fall von Osteomyelitis des
Beckens mit Hernia obturatoria verwechselt.
III. G o e p e 1 (Leipzig) : Ueber die V er Schliessung
von Bruchpforten durch Einholung geflochtener
fertiger Silberdrahtnetze.
Vortragender demonstrirt zwei Patienten, bei denen er auf diese
Art die Bruchpforte zum Verschlüsse gebracht hat.
IV. Bessel - Hagen (Charlottenburg) : Zur Technik
der Operation bei Nabelbrüchen und Bauchwand-
hernien.
Bessel-Hagen spaltet die Rectusscheide in Ausdehnung
von 8 — 10 cm und näht die nach der Mitte umgeklappten Ränder
zusammen.
Discussion: Rotter (Berlin) glaubt, dass man nur dann
sich entscliliesseu soll, Fremdkörper in die Bruchpforte einzuheilen,
wenn man nicht anders kann. Bei seinen nicht mehr als 300 Brüchen
hat er stets die Bruchpforte schliessen können. Wenn man den M.
obliquus internus und die Rectusscheide spaltet, dann kann man auch
die grössten Brüche schliessen.
*
Vierter Sitzungstag. Vormittagssitzung.
I. Gottstein (Breslau) : Pseudostimme nach Total¬
exstirpation des Larynx.
Gottstein zeigt einen Manu von 48 Jahren, dem vor einem
Jahre die Totalexstirpation des Kehlkopfes nach der Methode von
Gluck und Zeller gemacht worden ist mit Einheilung der Trachea
in den unteren Wundwinkel. Der Patient konnte mit dem Pharynx
eine Pseudostimme hervorbringen.
II. Gluck stellt vier Patienten mit Totalexstirpation des Kehl¬
kopfes vor, und demonstrirt den von ihm angegebenen Phonations¬
apparat.
III. Friedrich (Leipzig) : Pseudo phlegmon e.
Vorstellung einer Patientin mit 45 Incisionen in den Jahren 1891
bis heute. 1892 hatte sie sich mit einer Fischgräte am Finger ver¬
letzt. Die Incisionen förderten stets nur Blut, nie Eiter zu Tage. Die
mikroskopische Untersuchung ergab in der excidirten Narbe statt
Narbengewebe junges Granulationsgewebe mit grösseren Geläss-
wucher ungen.
IV. Derselbe: Exostosen.
Demonstration zweier Brüder mit multiplen Exostosen, bei denen
besonders auffällig war, dass sie beide einen Ulnardefect am linken
Arm mit Subluxation des grossen Radius aufwiesen. Ausserdem
zeigte Friedrich ein 24jähriges Mädchen mit grossen Geschwulst¬
bildungen an der linken Thoraxseite, die mikroskopisch eine ditluse
Cystadenombildung der Schweissdriisen darstellen. Demonstration der
Präparate.
V. Wilms (Leipzig) zeigt einen Fall von operirte m
Beckenenchondrom. Die Patientin geht mit einem Stützcorset
sehr gut.
VI. v. Bergmann (Berlin) zeigt eine Patientin, der vor fünf
Jahren wegen Carcinom eine sacrale Mastdarmexstirpation
gemacht worden war und glaubt, dass man hier von einer Dauer¬
heilung sprechen kann.
VII. Tietze (Breslau) demonstrirt die Photographien und das
Präparat eines multiplen Hautsarkoms in der Mamma-
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Nr. 23
gegend, welches einen Mamma tumor vor täuschte.
Die Geschwulst begann im zwölften Lebensjahre der Patientin aufzu¬
treten. Sie ist 1899 operirt worden. Es waren weder Drüsenschwel¬
lungen, noch Metastasen vorhanden.
VIII. L e x e r (Berlin): Ueber teratoide Geschwülste
in der Bauchhöhle und deren Operation.
Nach der Eintheilung in einfache und complicirte
Dermoidcysten, unzweifelhafte fötale Inclusionen, teratoide Mischtumoren,
werden Herkunft und Sitz der einzelnen Geschwulstgruppen besprochen.
Die einfachen Dermoidcysten, durch Abschnürung von der Bauchspalte
stammend, sitzen im Netz und Mesenterium, oder retroperitoneal, in
der Lendengegend von Entodermresten des Wolf f’schen Ganges aus¬
gehend, oder sind schliesslich in seltenen Fällen vom retrorectalen
Gewebe aus weit nach oben in die Bauchhöhle gewachsen. Die com-
plieirten Dermoidcysten stammen bei weiblichen Individuen fast immer
vom Ovarium und sind durch Lostrennung vom Uterus in die freie
Bauchhöhle gelangt. Ihre Herkunft ist, abgesehen von den W i 1 m s-
schen Merkmalen der Ovarialdermoide durch das Fehlen einos Ovariums
zu erkennen. Aehnliche bei Männern beschriebene Cysten müssen als
fötale Implantationen betrachtet werden. In der Ileocöcalgegend kann
ein verirrtes Ovarialdermoid unter entzündlichen Erscheinungen eine
Blinddarmentzündung Vortäuschen, wie ein Fall aus der v. Berg¬
man n’schen Klinik zeigt. Ein sehr seltener Fall von einer intra¬
peritoneal gelegenen mannskopfgrossen Dermoidcyste bei einem
60jährigen Mann ist ebenfalls hier anzureihen, da der im linken
Bauchraum zurückgebliebene Hoden den Ausgang der complicirt ge¬
bauten Cyste bildet.
Die unzweifelhaften Inclusionen, welche nach Ahlfeld auf den
Einschluss einer verkümmerten Fruchtanlage, nach March and auf
ein umwachsenes, befruchtetes Richtungskörperchen zurückzuführen
sind, liegen am häufigsten zwischen den Blättern des Mesocolon trans-
versum, in der Bursa epiploica, vereinzelte im Mesenterium und retro¬
peritoneal links von der Wirbelsäule. Ihr Sitz ist durch Lageverände¬
rungen im Bauchraum des Fötus bedingt. Eine glückliche Operation
des vom Mesenterium umschlossenen Bauchparasiten ist von M a y d 1
beschrieben.
Die teratoiden Mischgeschwülste sind solide und polycystische.
Eine Trennung in mono- und bigeminale Teratome ist unmöglich durch¬
zuführen. In den bisher bekannten acht Fällen hat man parasitäre Ein¬
schlüsse angenommen, da Organanlagen (Auge, Genitalien, Gehirn etc.)
vorgefundeu wurden. Die Lage dieser Geschwülste, welche zweimal
bösartig degenerirt waren, stimmt zum Theile mit dem Sitz der echten
Inclusionen überein. Operationen sind nur dreimal, und zwar mit tödt-
lichem Ausgange ausgeführt worden. In v. Borgmann’s Fall dagegen
ist vollkommene Heilung eingetreten.
(Demonstration der elfjährigen Patientin.) Die zum Theil cystische,
zum Theil solide Geschwulst zeigt Abkömmlinge aller drei Keimblätter
und ist wegen Nachbildung der Athmungswege als fötale Implantation
aufzufassen.
IX. Iloffa (W ürzburg) stellt drei Patientinnen vor, denen er
den Schiefhals nach v. Mikulicz mit Exstirpation des Sterno-
cleidomastoideus geheilt hat. Er will diese Methode in allen schweren
Fällen, oder wenn sich nach anderen Methoden Schwierigkeiten ein¬
stellen, angewendet wissen.
Discussion: Trendelenburg (Leipzig) urgirt das kos¬
metisch schlechte Resultat der M i k u 1 i c z’schen Operation und glaubt,
dass man auch vollkommene Heilung erzielt, wenn man offen operirt
und sorgfältig auch die Fascie durchschneidet.
Franke (Braunschweig) hat auch nach vollkommener Exstir¬
pation des Muskels Recidive erlebt.
Runge (Königsberg) bestätigt dieses Vorkommen und
glaubt, dass die Recidive auf die sklerotische Narbe zurückzu¬
führen ist. Heilung wird durch Exstirpation der Narbe und der
Fascie erzielt.
H e 1 f e r i c h (K iel) macht klar, dass der „Kopfnicker“ ein
I ixationsmuskel des Kopfes ist, dass beim Fehlen desselben die
Patienten sich schwer mit dem Kopf langsam aufrichten und hinlegen
können.
X. S a r w e y (Tübingen) : Experimentale Unters u'
chungen über Händedesinfection.
Die Methode nach Ahlfeld mittelst Heisswasser und Alkohol
und die von Mikulicz, mittelst Seifenspiritus die Hände zur Opera¬
tion vorzubereiten, zeigte wenigstens eine starke Verminderung der
darnach noch zurückbleibeuden Keime, während die Waschung mit
Schleie h scher Marmorseife den Iveimgehalt der Haut nur ungenügend
verringert. Nach der Alkoholwaschung soll kein Desinficiens wieder
angewendet werden.
XI. Vollbrecht (Breslau) demonstrirt einen Seifen¬
spiritus in fester Form zur Hände- und II a u t d e s in¬
fect i o n ohne Wassernothwendigkeit.
Discussion: Blumberg (Leipzig) tritt für Gummihand¬
schuhe ein, die er mit rauhen Handflächen zum besseren Halten der
Instrumente hat versehen lassen.
Bunge (Königsberg) hat mit dem Döder lein - Paul s-
schen Verfahren der Händedesinfection in keinem Falle Sterilität er¬
zielen können. Er lobt die M i k u 1 i c z’schen Handschuhe.
S a m t e r (Königsberg) ist gegen, Sprengel (Braunschweig)
für die Gummihandschuhe.
Krönig (Leipzig) ist weder mit dem A h 1 f e 1 d’schen, noch
mit dem S c h 1 e i c h’schen Verfahren zufiieden. Er hat Versuche
durch Combination der meisten Desinficientien mit Imprägnation von
Quecksilberpräparaten angestellt, die zwar noch nicht vollkommen ab¬
geschlossen sind, aber schon gute Resultate ergeben haben.
XII. Katzenstein (Berlin): Ueber K a t h e t e r steri¬
lisation.
Redner demonstrirt einen Apparat zur Formaldehyddesinfection
der Katheter.
Discussion: Löwenhardt (Breslau) tritt für das Kochen
der Katheter ein, Freudenberg (Berlin) für Kochen im Dampf,
während Katzenstein glaubt, dass das Kochen die Katheter zu
sehr angreift.
Zur Händedesinfection spricht noch Kossmann (Berlin), der
mit einem sterilen, impermeablen Ueberzug von einem von ihm „Chirol“
genannten Präparat zu bedecken empfiehlt.
XIII. Poelchen (Zeitz) zeigt einen von ihm operirten Fall
von Ventilverschluss des Schädels bei Epilepsie.
XIV. Sud eck (Hamburg) demonstrirt einen Elektromotor zur
Trepanation.
XV. Riese-Britz (Berlin) : Trombophlebitis der
Sinus durae matris seltenen Ursprungs.
Vortragender glaubt, dass zwei Drittel aller Sinusthrombosen
vom Ohre ausgehen. Er hat zwei Fälle nach Zahncaries erlebt, die
mit Parotitis, dann Schwindel und Kopfschmerzen sich einleiteten.
Er glaubt, dass hier die Thrombose auf retrogradem Wege ent¬
standen ist.
XVI. Bunge (Königsberg): Zur Pathologie und Thera¬
pie der verschiedenen Formen der Gangrän an den
unteren Extremitäten.
Bunge hat bei den verschiedenen Formen der Gangrän Unter¬
suchungen der Blutgefässe angestellt, die die Ergebnisse von v. Zöge-
M an teuf fei bestätigten. Er hat überall Verdickungen der Intima,
Sclerosa gefunden, mit reichlicher Neubildung von elastischen Ele¬
menten. Diese Sklerosen waren zum Theile so mächtig, dass man von
einer Stenosirung, oft von einem Verschluss der Gefässe sprechen
konnte. Da diese sklerotischen Plaques sich mit Vorliebe an den Ab¬
zweigungsstellen der Gefässe entwickeln, wird auch der Collate) al¬
kreislauf gehindert, und es entstehen häufig an dieser Stelle Thromben.
Schwierig ist die Wahl des Zeitpunktes zum Eingreifen. Jedenfalls
soll man bei einem aufsteigenden Process nicht im Interesse einer
guten Demarcation zu lange warten. Einzig und allein soll das Jod
eine gute Einwirkung auch in den Fällen haben, wo von Syphilis
nicht die Rede sein kann. Auch Bäder, Nauheim z. B., sollen in ein¬
zelnen Fällen den schon geschwundenen Puls in Combination mit Jod¬
behandlung wieder hergestellt haben.
XVII. K öl lick er (Leipzig): Demonstration von Am¬
putations-Neuromen.
XVI II. Payr (Graz) : Blutgefäss- und Nervennaht.
Redner berichtet über eine von ihm an Thieren erprobte neue
technische Methode der Gefässvereinigung mit einer Prothese und Li¬
gatur aus einem resorbirbaren Metalle, Magnesium. Die Resorptions¬
dauer beträgt bei einer Prothese von OT g circa drei Wochen.
Discussion: v. Bergmann (Berlin) fragt, ob Pay r nie¬
mals Thromben bei der Prothese gesehen hat?
Payr hat zuerst Thromben an den Rändern der Prothese ge¬
funden, als er dieselbe in das Gefässlumen hineingebracht hatte, doch
nie eine Obliterirung der Gefässe. Später hat er die Prothese nur
aussen angebracht.
Chlumsky (Breslau) : Die Kenntniss der Resorption des
Magnesiums sei nicht neu. Er habe Versuche mit solchen Darm¬
knöpfen angestellt, die jedoch wegen der durch dio Resorption
sich bildenden scharfen Kanten und Splitter nicht zu brauchen ge¬
wesen seien.
XIX. Bähr (Hannover) : Zur Lehre von der Coxa
vara.
Für die Entstehung der Coxa vara legt Bähr mehr Gewicht
auf die Belastung des Femurs in geneigter Stellung und bringt auch
eine anderweitige Erklärung für die Torsionserscheiuung. Er weist auf
die Variationen des Schenkelhalses in der Länge hin, welche bald
früher, bald später zur Hemmung der Gelenkbewegungen führt. Die
Localisation der Verkürzung zeigt drei Prädilectionsstellen : 1. Die
Ansatzstelle in der Diaphyse, weil dort der Biegungseffect am grössten
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st. 2. Die Epiphysenlinie, weil dort eine besondere Nachgiebigkeit
vorliegt. 3. Die Stelle des Halses dicht unter der Kopfkappe, weil
dort der Hals am schwächsten ist.
*
Nachmittagssitzung.
I. V u 1 p i u s (Heidelberg) :Ueber den Werth des ortho¬
pädischen St iitzcor sette s.
Den Angriffen von Schulthess auf das orthopädische Corsett
werden die Erfahrungen entgegengestellt, welche Y ulpius an 800
in seiner Anstalt verwendeten Stützapparaten gesammelt hat.
Das Corsett kommt in Betracht bei Tabes, Spondylitis, Skoliose.
Bei der Tabes hat es unzweifelhaft eine stützende Wirkung,
ob mehr, ist noch nicht genügend bekannt.
Bei der Spondylitis ist das Corsett erst in der Periode der
Ausheilung indicirt.
Um die Erfolge der Anstaltsbehandlung einer Skoliose zu
sichern, bedürfen wir des Stützcorsettes. Dasselbe gestattet: 1. Stützung
des Rückens. 2. Festhaltung der Correcturstellung der Wirbelsäule.
3. Durch dauernd ausgeübten Druck ist auch eine heilende Wirkung
möglich.
Beziehentlich der Corsettformen wird das starre Corsett
für ernstere, noch wachsende Skoliosen vorgezogen, in leichteren
Fällen das Stoffcorsett mit Stahlgerüst gewählt.
II. Schanz (Dresden): Ueber die Eedression schwerer
Skoliosen.
Vortragender empfiehlt den B e e 1 y’schen Rahmen und will als
Beweis seines Vorzuges anführen, dass dabei eine auffällige Verlän¬
gerung des Rumpfes um 4 — 14 cm stattfindet. Dass wir schwere
Skoliosen nicht vollständig heilen können, liegt daran, dass wir nicht
in Uebercorrection redressiren können, wie z. B. an den Füssen. Es
folgt die Demonstration von Patienten.
III. Fr. Rubinstein (Berlin) : Ueber die Form der
Knochenbrüche durch di recte Gewalt.
Man findet regelmässig aus dem verletzten Knochen ein drei¬
eckiges Stück herausgesprengt. Die Brüche kommen in diesen Fällen
meistens so zu Stande, dass das betreffende Glied gegen eine feste
Unterlage angedrückt war, während die Last darauffiel oder darüber
wegging. Die Kenntniss dieser regulären Bruchform ist Rubinstein
schon einmal praktisch wichtig geworden. Einem Pferdebahnschaffner
sollte die Unfallsrente entzogen werden, weil angeblich nach einem
Unfälle keine Fractuv nacbzuweison war. Rubinstein fand aber
die eben beschriebene Bruchform an der Basalphalanx einer grossen
Zehe in Gestalt eines herausgesprengten, dreieckigen Knochenstückes
und zweifelt nicht, dass dieser Nachweis den Rentenanspruch wirksam
unterstützen wird, da er eine schwere, directe Gewalteinwirkung be¬
weist. Vor Anwendung des R ö n t g e n - Verfahrens wurden gerade
diese Fracturen, die häufig nur in Form von Fissuren die Knochen¬
substanz durchsetzen und oft die bekannten, klinischen Fractur-
Symptome vermissen lassen, nicht selten übersehen.
IV. Wohlgemuth (Berlin) : Zur Pathologie und
Therapie der Fracturen des Tuberculum majus
humeri.
Wohlgemuth glaubt, dass viele Fälle von andauernder
Funcfionsbehinderung des Oberarmes, die besonders in Abductions-
und Rotationshemmung und im Nachlassen der grossen Kraft bestehen,
nach Fractur im oberen Abschnitte des Humerus oder nach Luxation,
nicht selten sogar nach einfacher Contusion der Schulter Zurückbleiben
und die häufig als die Folgen von Callusmassen, Nervenläsionen etc.
angesehen werden, in einer Fractur des Tuberculum majus und einer
heterotopischen Anheilung desselben ihren Grund haben.
V. Holländer (Berlin) : Ueber Blutstillung ohne
Ligatur (Angiopressur).
Seine Methode beruht auf der verschiedenen Widerstandsfähigkeit
der einzelnen Gefässhäute. Er fasst die blutenden Gefässe, wie bisher,
mit den alten und bequemen Peans und Schiebern. Statt nun zu
unterbinden, legt er an die Schieberenden eine Presszange mit seitlich
abgebogenem Maule an ; ein einmaliger energischer Druck genügt
vollkommen zur Erreichung der Blutstillung für kleinere und mittlere
Gefässe. Experimentell hat Holländer das Maximum der Leistungs¬
fähigkeit der Methode am Pferde festgestellt und seit einem halben
Jahre bei einer Reihe von Operationen mit dieser Methode die Blut¬
stillung besorgt. Blutungen aus Gefässen bis zum Caliber der A. maxil-
Jaris ext., A. intercostalis, peronea und Vena saphena stehen prompt.
VI. Zabludowski (Berlin) : Ueber Clavie r spiele r-
krankheit in der chirurgischen Praxis.
In der grössten Zahl von Fällen hat man es mit einer Neuritis
des einen oder des anderen Armnerven zu thun, als mit einer per con-
'tinuitatem entstandenen Entzündung.
Die Therapie der gewöhnlichen, von Trauma herrührenden
Clavierspielerkrankheit besteht in Ruhe und nicht reizenden Massage¬
manipulationen. Uebungen sind nur im Stadium decrementi des Pro¬
cesses und nur in den verschont gebliebenen Nachbargelenken vorzu¬
nehmen. Bei den selteneren, den paralytischen und den Krampfformen
werden energische Massage-, Widerstands- und active Bewegungen an¬
gewandt.
VII. Samter (Königsberg) hat Untersuchungen über die Ur¬
sachen der habituellen Schulterluxationen unbestellt
und berichtet über einen Fall, den er durch Verdoppelung der Gelenks¬
kapsel an der Stelle des Risses geheilt hat.
VIII. Most (Berlin): Ueber die Topographie der
retropharyngealen Drüsenabscesse. •
Most hat Untersuchungen über die retropharyngealen Lymph-
driisen und über die Lymphgefässe des Nasen Rachenraumes angestellt
und an den verschiedenen Stellen constante Lymphknoten, die zu
den Abscessen Veranlassung geben, gefunden.
18. Congress für innere Medicin in Wiesbaden.
Vom 18. bis 21. April 1900.
Referent Albil (Berlin).
(Fortsetzung.)
III. Sitzung.
IV. Aug, Hoffmann (Düsseldorf) : Zur Pathologie der
paroxysmalen Tachycardie.
Nach Vortragendem dürfte es sich bei den plötzlich auftretenden
und wieder verschwindenden Anfällen von ausserordentlich erhöhter
Frequenz der Herzaction um keine einheitliche Erkrankung handeln.
Genaue Beobachtung des Verhaltens der Urinsecretion (Polyurie bei
sinkendem Blutdruck) vor, in und nach dem Anfall, Berücksichtigung
der nervösen Symptome, Migräne, Pupillendifferenz, gastrische Erschei¬
nungen, zwingen zur Annahme eines centralen Leidens nach Analogie
der Epilepsie, dessen Sitz in das verlängerte Mark zu verlegen ist.
Primäre Herzdilatation (M a r t i u s) ist schon deshalb auszuschliessen,
weil viele Fälle ohne Dilatatio cordis einhergehen.
Ueber den Mechanismus der Anfälle gibt die Pulscurve in
solchen Fällen, welche mit Irregularität nach dem Abfall einhergehen,
einigen Aufschluss. Die Ausmessung der Curven ergibt, dass Extra¬
systolen die Ursache dieser Irregularität sind. Der Anfall als solcher
ist als eine continuirliche Reihe von Extrasystolen aufzufassen, die
durch eine vom extracardialen Herzcentrum ausgehende Erhöhung der
Erregbarkeit des Herzmuskels oder durch von diesem ausgehende Ver¬
stärkung der Bewegungsreize hervorgerufen werden. Es gibt keine paro¬
xysmale Tachycardie, sondern tachyeardische Paroxysmen (Anfälle von
„Herzjagen“), die als Complication reflectorisch erzeugt, zu den
verschiedensten Krankheitszuständen hinzutreten können.
Smit h (Marbach): Tachyeardische Anfälle beobachtet man auch
bei Zuständen von Herzschwäche mit Dilatation.
Nothnagel (Wien) hält die paroxysmale Tachycardie für
eine Krankheit sui generis, deren Ausgangspunkt die Medulla
oblongata sei. Dem gegenüber spielen die zahlreichen Gelegenheits¬
ursachen verschiedener Art, welche den Anfall auslösen, eine unter¬
geordnete Rolle.
Rosenstein (Leiden) hat einen typischen Anfall von paroxys¬
maler Tachycardie bei einem Patienten, der keine Dilatation hatte, be¬
obachtet, ohne dass äussere Anstrengung vorausgegangen war. Stellen
auf den Kopf brachte sofort Erleichterung. Ferner sah Rosen stein
bei einem zwölfjährigen Knaben nach dem zweiten Anfall, der mit
sichtbarer Erweiterung des Herzens nach rechts einherging, eine Hemi¬
plegie auftreten, zweifellos embolischen Ursprungs. Es sind also ana¬
tomische Veränderungen zweifellos.
Detter mann (St. Blasien): Gelegentlich kann wohl auch die
abnorme Beweglichkeit des Herzens bei Lageveränderung des Körpers
die Ursache des Anfalles sein.
V. Vierer dt (Tübingen) : Ueber Cyanose.
Hinsichtlich der Entstehung der „Blausucht“ der Haut verwirft
Vortragender die bisher zumeist geltende sogenannte Mischungstheorie
(vermehrte Kohlensäureaufnahme in das sauerstoffhaltige Blut), sondern
nimmt mechanische Ursachen dafür in Anspruch. Die Dicke der Blut¬
schicht und der überliegenden Hautdecke bedingen die blaue Farbe.
Sie ist nur in sehr bedingter Weise als Mass für die Venosität des
Blutes anzusehen.
Stern borg (Wien) widerspricht der Auffassung des Vor¬
tragenden.
VI. Minkowski (Strassburg): Ueber eine eigentüm¬
liche hereditäre Form von Splenomegalie mit chro¬
nischem Ikterus.
542
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Vortragender hat einen eigentlichen chronischen Ikterus bei acht
Mitgliedern (mehrere Erwachsene und deren Kinder) ein und derselben
Familie ermittelt. Sie hatten sämmtlich eine fühlbare grosse Milz und
dunklen Harn seit Kindheit. Leber war nicht vergrössert. Im Harn
kein Gallenfarbstoff, aber Urobilin. Fiices nicht entfärbt. Bei einem
42jährigen, der an Influenzapneumonie zu Grunde ging, hatte Min¬
kowski Gelegenheit, die Section zu machen. Leber unverändert, Milz
stark vergrössert, in den gewundenen Harncanälchen der Nieren Ab¬
lagerung eines grünlichbraunen Pigmentes, das die Eisenreaction gab.
Der Eisengehalt der Nieren war enorm, aber in keiuem anderen Organe
nachzu weisen. Es handelt sich offenbar um eine besondere Anomalie
im Umsatz des Blutpigmentes.
Senator u'ud Albu (Berlin) erwähnen ähnliche Beob¬
achtungen.
VI 1. Gump recht (Jena): Ein neuer Bestandtheil
der normalen Spinalflüssigkeit.
Der neue Körper ist Cholin, ein Zerfallsproduet des Lecithins.
Gump recht hat es in zahlreichen Fällen nie vermisst; auch im
Gehirn und in den Nerven ist es vorhanden, stets allerdings nur in
Spuren. Gumprecht’s Material beträgt einige 20 normale Spinal¬
flüssigkeiten, 10 Paralytiker, 8 Kinder und eine Reihe von Meniugiten.
Der Abbau des Lecithins ist somit ein Ausdruck für den physio¬
logischen Stoffwechsel der Nervensubstanz. In der Spinalflüssigkeit
lassen sich nach Gumprecht auch Producte des Eiweissstoffwechsels
(Milchsäure) nachweisen; es liegt nach alledem die Vorstellung nahe,
dass der Subarachnoidealraum einen grossen Drainageraum darstellt,
der zur raschen Abführung der Stoffwechselproducte des Nerven-
systemes dient.
Riedl (Wien) schliesst sich letzterer Auffassung an. Die Menge
des Liq. cerebrospinal, ist nicht vou physikalischen Factoren abhängig,
sondern auf active Zellthätigkeit zurückzuführen.
*
IV. Sitzung.
I. Born stein (Bad Landeck): Ueber die Methoden
zur Hebung des Eiweissbestandes im Organismus.
Vortragender wendet rieh gegen die forcirte Ueberernährung
bei der W e i r - M i t c h e 1 l’schen Mastern*. Er tritt dafür ein, zur
Hebung des Eiweissbestandes grössere Mengen — 30 — 50^ — Rein-
eiweiss, speciell Caseineiweiss, in Form irgend eines der Milcheiweiss¬
präparate (Nutrose, Plasmon, Sanatogen, Eulactol), beizufügen. Vor¬
tragender glaubt, dass mit dieser Methode der einseitigen Ueber¬
ernährung, speciell mit Milcheiweiss, in leichtester Weise die ge¬
wünschte Hebung des Eiweissbestandes, eine „EiweissmasP1 erreicht
wird, die in fast allen Fällen der W e i r - M i t c h e 1 l’schen Cur vor¬
zuziehen sei. Nur für die wenigen Fälle, wo aus mechanischen Gründen
( Wanderniere) Fettmästung zu wünschen ist, sei die allgemeine Mast
angebracht.
II. Smith (Schloss Marbach) : Ueber einige neue Me¬
thoden zur Bestimmung der Herzgrenzen.
Vortragender bespricht zunächst die Untersuchung mittelst
Röntgen- Strahlen und die von B i a n c h i angegebene Frictions-
methode mittelst des verbesserten Phonendoskops.
Ausser diesen objectiven Methoden hat Vortragender noch eine
subjective gefunden, die die Angaben des Untersuchten zur Unterlage
hat. Wenn man nach Anlegung einer indifferenten Elektrode, am
besten links hinten, die knopfförmige Elektrode in den Bereich der
absoluten Herzdämpfung setzt und den secundären faradischen Strom
langsam verstärkt, so wird bald ein Moment eintreten, wo die Ver¬
suchsperson deutlich fühlt, wie der vorher nur auf der Haut em¬
pfundene Strom Erschütterungen in der Tiefe auslöst. Dieses Gefühl
lässt man genau merken und streicht nun nacheinander von allen
Seiten langsam nach dem Herzen zu. Den Augenblick, in dem die
Versuchsperson zuerst das Gefühl der tiefen Erschütterung fühlt, lässt
man sie durch einen Ausruf bezeichnen und markirt den Punkt, auf
dem sich die Elektrode zur Zeit des Ausrufes befindet. Die Ver¬
bindung der so gefundenen Punkte ergibt die Grenzen des Herzens
und dieselben stimmen genau mit denen nach Bianchi gefundenen
oder durch Palpation festzustellenden überein.
III. J. B o a s (Berlin): Statistisch-klinische Studien
a n 200 Fällen von Oesophagus-, Magen- und Dar m-
carcinomeu.
Redner betont zunächst für die Intestinalcareinome das Ueber-
wiegen des männlichen über das weibliche Geschlecht, besonders auf¬
fallend erkennbar beim Oesophagus- und Magencarcinom. Das Alter
betreffend, so standen 35% in der dritten bis fünften Dekade, G0%
gehörten dem Alter von 50 — 70 Jahren an. Erblichkeit wurde nur in
9% sicher constatirt. Redner bezweifelt daher den Einfluss der here¬
ditären Belastung. Wichtiger dagegen ist das familiäre Vorkommen
von Krebs, das heisst einmal bei Ehegatten, sodann bei Geschwistern.
Redner hat zusammen 22 Fälle dieser Kategorie beobachtet, darunter
drei Fälle bei Ehegatten und zwei Fälle bei Geschwistern, welche
jahrelang dauernd zusammen lebten. Mit Rücksicht auf ähnliche Be¬
obachtungen betont Redner die Nothwendigkeit prophylaktischer Mass-
regeln bezüglich der Se- und Excrete der Carcinomatösen, sowie der
Ess-, Trink- und Pflegeutensilien.
Die Ernährungsart der Carcinomatösen betreffend hat Redner
zwar ein Ueberwiegen der Carcinome bei vorwiegend animalisch leben¬
den Individuen constatirt, betont aber, dass auch die vegetarisch
lebende Landbevölkerung sich keineswegs immun gegen Carcinom
verhält. Besonders auffallend ist der begünstigende Einfluss des Schnaps¬
genusses für Oesophaguscarcinome, den Redner in 40% dieser Kategorie
festgestellt hat. Auch das Trauma wirkt entschieden fördernd auf das
Wachsthum des Carcinoms.
IV. P o e h 1 (St. Petersburg) : Die organotherapeuti
sehen Mittel bei Autointoxicationeu.
Die Gewebsathmung, respective Intraorganoxydation, wird zum
Theile durch ein Ferment, das Spermin, bedingt, welches nur in al¬
kalischem Medium wirksam ist, dagegen in saurem Medium inactiv
wird. Bei Reizungen der Gewebe tritt unter Umständen eine so be¬
trächtliche Milchsäurebildung ein, dass das Spermin inactivirt und die
Oxydationsprocesse herabgesetzt werden. Dieses sind die Momente,
welche die Autointoxicationeu einleiten. Das Spermin, das in allen
Diiisen und im normalem Blute enthalten ist, wirkt bei seiner thera¬
peutischen Verwendung als Ferment der Gewebsathmung direct auf
die Ursache der Autointoxication ein.
V. K raus (Prag) : Züchtung des Typhusbacillus
aus dem Stuhle.
In vier Fällen hat er ein eigenes neues Verfahren bewährt ge
funden, das in der Erkennung der Typhusculturen durch die Gas¬
bildung im Centrum der Colonien besteht, welche nur diesem Bacillus
zukomme, wie Controluntersuchungen mit dem Stuhl Gesunder und
Kranker bewiesen haben. Der Nährboden ist Glycerinagar mit 2%igen
Traubenzucker. Es ist eine millionenfache Verdünnung der Fäces noth-
wendig, von der eine Oese übertragen wird. Nach 20 — 24 Stunden
treten 60- — T00 gut isolirte Colonien hervor, unter denen sich einige
spärliche mit Gasbildung befiuden. Sie lassen sich als Typhusbacillen
identificiren.
Löwit (Innsbruck) hält die P i o r k o w s k i’sche Methode
klinisch für zu schwierig auszuführen, weil der Thermostat stets eine
auf einen halben Grad genaue Temperatur haben muss. Uebrigens
wächst auch das Bacterium alcali sehr ähnlich.
Starke (Heidelberg) schliesst sich diesem Bedenken an. Auch
sei es zu schwierig, den geeigneten Harnnährboden zu finden. Die
Frühdiagnose ist zumeist nicht möglich, die Colonien werden oft erst
auf der dritten oder vierten Platte charakteristisch. Die Methode hat
aber grossen wissenschaftlichen Werth.
Michaelis (Berlin): Auf der L e y d e n’schen Klinik ist
Piorkowski’s Methode nach den Untersuchungen von Schütze für die
Ueberzahl der Fälle ausreichend zur Frühdiagnose, sie sei allen anderen
bisherigen Verfahren überlegen.
VI. Queer olo (Pisa) : Ein neues Verfahren zur Be¬
stimmung der Magengrenzen.
Ueber der Spitze einer weiten Magensonde wird ein Condom
aufgebunden und durch einen Gummischlauch nur mässig aufgeblasen.
Von dem oberen Ende der Magensonde führt ein zweiter Magen¬
schlauch zu einem Registrirapparat mit beweglichem Hebel. Percutirt
man nun mittelst Finger nach Einführung der Magensonde das Ab¬
domen, so erfolgt eine Hebung des Hebels nur innerhalb der Grenzen
des Magens.
*
%
V. Sitzung.
I. Litten (Berlin): Die Endocarditis und ihre Be¬
ziehungen zu anderen Krankheiten.
Die Endocarditis ist mit Ausnahme der atheromatösen Form
niemals eine selbstständige Krankheit, sondern stellt stets eine Com¬
plication dar. Sie kommt fast ausschliesslich im Verlaufe einer In
feetionski ankheit vor und wird, abgesehen von der atheromatösen Form,
durch Mikroparasiten bedingt.
Klinisch unterscheidet Litten eine Endocarditis benigna,
und maligna. Da aber die Entzündung des Endocards nur eine
secundäre Stellung einnimmt, so muss bei Bezeichnung der Endo¬
carditis stets das ätiologische Moment berücksichtigt
werden. Demgemäss ist die Endocarditis einzutheilen in
1. Endocarditis benigna, und zwar: rheumatica, peliotica,
choreatica, gonorrhoica, scarlatinosa, morbillosa, variolosa, diphtheritica,
typhosa, pneumonica, tuberculosa, e Influenza und traumatica.
2. Endocarditis maligna, 1. non-apostematosa,
und zwar: rheumatica, choreatica und gonorrhoica; 2. s e p t i c o-
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
543
p y a e m i c a, apostematosa ; primär oder secundär aus einer der vor¬
genannten durch Infection mit Eitererregern hervorgehend.
Die Endocarditis benigna bewirkt nur geringfügige Veränderungen
an den Klappen, die keine klinischen Erscheinungen hervorzurufen
brauchen, oder sie führt zur Bildung von chronischen Klappenfehlern.
Sie betrifft im extrauterinen Leben stets das linke Herz und führt,
wenn überhaupt, nur zu blanden anämischen Infarcten im
grossen Kreisläufe. Finden sich daneben Lungeninfarcte, so stammen
diese, da die aus dem linken Herz stammenden Emboli die Capillaren
nicht durchwandern können, von Venenthromben oder rechtsseitigen
Herzgerinnseln.
Die maligne Endocarditis stellt an sich unter allen Umständen
eine erhebliche Gefahr für das Leben dar; sie findet sich sowohl
im linken, wie im rechten Herzen und kann anatomisch das
Bild der verrucösen und ulcerösen Form darbieten. Sie führt meist zu
Metastasen. Je nach dem Charakter der Grundkrankheit (Rheumatismus,
Chorea, Gonorrhoe) wirken diese nur mechanisch, oder (Septico-
Pyämie, secundäre und Mischinfection) infectiös; die ersteren sind
daher stets bl and, die letzteren stets eiterig. Demgemäss ist die
Endocarditis maligna zu trennen in eine Form m i t Eiterung und eine
ohne Eiterung. Die Endocartis maligna non apostematosa ist bisher
nur bei Rheumatismus, Chorea und Gonorrhoe beobachtet worden. Bei
der letzteren ist die Aetiologie am besten erforscht; es ist ausser
Zweifel, dass diese Endocarditis durch den Gonococcus hervorgerufen
wird. In allen beschriebenen Fällen wird aber auch übereinstimmend
mitgetheilt, dass die in den verschiedenen Organen gefundenen Infarcte
blande waren und nirgends Eiterung bestand. Man hat es aber n i c h t
mit einer pyämischen Erkrankung zu thun, bei welcher statt der
blanden Infarcte Eiterherde gefunden werden müssten. Bestehen
letztere tliatsächlich bei einer mit Endocarditis complicirten Gonorrhoe,
so bandelt es sich um eine secundäre Infection mit eitererregenden
Baeterien. Dem Befund bei der Endocarditis maligna gonorrhoica ent¬
spricht der bei der rheumatica, von welcher Litten schon vor
20 Jahren eine Anzahl von Fällen als rheumatoide ulceröae beschrieben
hat. Inzwischen hat er aus den angeführten Gründen die Bezeichnung
ulcerös überhaupt verworfen, auch für die alte Form, die er heute
maligna m i t Eiterung nennt.
In drei Fällen von Endocarditis maligna rheumatica hat er
neuerdings in den Auflagerungen an den Herzklappen einen be¬
stimmten, wohlchai akterisirten Streptococcus gefunden. Er kann in¬
dessen weder diesen, noch irgend einen der sonst von den Autoren,
besonders von Singer, aufgeführten Mikroorganismen als Erreger
des acuten Gelenkrheumatismus anerkennen.
Da in Fällen von Endocarditis gonorrhoica benigna vielfach in
gleichzeitig betroffenen Gelenken der Gonococcus gefunden wurde, so
darf man annehmen, dass derselbe auch die Erscheinungen am Endocard
hervorgerufen hat, und dass demgemäss die benigne und maligne Form
nur graduell verschieden sind, je nach der geringeren oder
grösseren Virulenz des Gonococcus. Auch für den acuten Gelenk¬
rheumatismus und die dadurch bedingte Endocarditis ist ein be¬
stimmter Krankheitserreger anzunehmen, dessen Natur noch nicht be¬
kannt ist. Anolog den Verhältnissen bei der Endocarditis gonorrhoica
ist anzunehmen, dass auch die benigne und maligne Endocarditis
rheumatica durch ein und denselben Mikroorganismus be¬
dingt wird.
An der Hand eines absolut einwandfreien Falles aus seiner Beob¬
achtung führt Litten aus, dass auch durch Traumen eine ent¬
zündliche _ Erkrankung des Endocards hervorgerufen weiden kann,
welche alle Charaktere der Endocarditis benigna darbietet und zur
Heilung oder zur Bildung von Klappenfehlern führt. Auch diese Form
kann durch secundäre Infection mit Eitercoccen in eine maligne, septico-
pyämische übergehen.
Discussion: v. J ürgensen (Tübingen): Es gibt keine
Endocarditis als eigene Erkrankung. Sie geht stets mit Myocarditis
einher, und zwar der an den Klappen ansetzenden Muskelfasern. Die
Muskelerkrankung ist das Entscheidende. Die häufigste Ursache der
Endocarditis ist der acute Gelenkrheumatismus. Aber seit Jahren
bekommt Jürgensen die typische Form desselben nicht mehr zu
sehen und die Salicylsäure entfaltet ihre Wirkung nicht mehr. In
wachsender Häufigkeit tritt dagegen eine mehr schleichende Form auf,
die zu schwereren Veränderungen führt und schliesslich nach mehr¬
jährigem Verlaufe das Leben bedroht. Die Temperatur ist monatelang
ganz ungleichmässig über die 24stündige Periode vertheilt, ohne sich
dabei über die Norm zu erheben. Das Verhältniss zwischen Puls¬
frequenz und Athmung ist verringert und hat dadurch diagnostische
Bedeutung. Der Blutstrom ist von Anfang verringert, die Herzkraft
geschwächt, aber erst der Eintritt der Muskelerkrankung liefert die
Entscheidung. Ferner ist das Auftreten eigenthümlicher nervöser
Störungen bemerkenswerth: Chorea und Katalepsie, namentlich bei
Kindern, Störungen der Reflexerregbarkeit, die paradoxe Contraction
Westphal’s und auch schwere spinale Störungen. Therapeutisch
empfiehlt sich vollkommene Schonung bis zum Wiederverschwinden
aller Erscheinungen. Dann bleibt selten etwas an den Klappen
zurück.
Len harts (Leipzig) hält L i 1 1 e n’s Unterscheidung der beiden
Formen der malignen Endocarditis nicht für berechtigt. Die Ver¬
eiterung der embolischen Infarcte ist kein unterscheidendes Merkmal,
weil sie nicht regelmässig in den septischen Fällen auftritt. Doch in
den nichteiterigen Fällen findet man im Blute Baeterien verschiedener
Art. Die Selbstimmunisirung der Gewebssäfte schützt vor der Eiter¬
bildung. Len har tz berichtet über 26 Fälle, in denen Blutunter¬
suchungen gemacht worden sind. Detaillirte Analyse dieser Fälle.
Die septische Endocarditis lässt sich durch die bacteriologische Unter¬
suchung des lebenden Blutes klinisch scharf erkennen. Anatomisch
verläuft sio bald mit, bald ohne Vereiterung der Infarcte.
Bei der rheumatischen Endocarditis, von der es gelegentlich auch eine
maligne Form gibt, findet man niemals Baeterien, weil wir eben den
Erreger der Krankheit noch nicht kennen.
Schott (Nauheim) gibt einige Unterscheidungsmerkmale der
gonorrhoischen Endocarditis an.
His (Leipzig) erwähnt einen Fall einer Verschlimmerung einer
schon bestehenden benignen Endocarditis durch eine hinzutretende
Gonorrhoe.
Michaelis (Berlin) hat bei Gelenkrheumatismus niemals Bac-
terien in der Gelenkflüssigkeit oder der Gelenkkapsel gefunden. Der
Nachweis der Baeterien auf den Klappen sei schwierig. In sechs
Fällen von rheumatischer Endocarditis hat er zarte feine Diplococcen
gefunden, die auf den Nährböden als Streptococcen wuchsen.
v. Leu be (Würzburg): Auch leichte Infectionskrankheiten, wie
die gewöhnliche Angina und der Muskelrheumatismus können Endo¬
carditis nach sich ziehen So erklärt sich vielleicht die Entstehung
mancher kryptogenetischer Fälle.
Wassermann (Berlin) hat in einem Falle von Chorea post-
rheuinatica frische Auflagerung von Streptococcen auf den Klappen ge¬
funden, die, auf Kaninchen überimpft, multiple Gelenkentzündungen
erzeugten, in deren Producten sich wieder diese Streptococcen in Rein-
cultur fanden. In älteren Klappenwucherungen finden sich selten
lebende Baeterien. Alle möglichen Baeterienarten machen gelegentlich
Endocarditis.
Litten (Schlusswort) tritt den Behauptungen L e n h a r t’s ent¬
schieden entgegen. Wo blande Infarcte sind, finden sich niemals Ab-
scesse. Deshalb ist die Unterscheidung der beiden Formen maligner
Endocarditis nothwendig.
II. S t r u b e 1 1 (Breslau^; Eine neue MethodederUri n-
und Blutunter su chu ng.
Vortragender berichtet über Bestimmungen des Brechungsexpo¬
nenten thierischer Flüssigkeiten, speciell von Urin und Blut, mit dem
P u 1 f r i c h’schen Eintauchrefractometer, das bisher noch nicht für
medicinische Zwecke verwerthet ist.
Die Resultate, die Vortragender an einfachen Lösungen von
Kochsalz, Harnstoff, Zucker u. s. w., sowie die Ergebnisse, die er an
normalen und pathologischen Urinen und an ihierischem und mensch¬
lichem Blutserum erhielt, berechtigen zu der Hoffnung, dass die Me¬
thode sowohl pathologisch-klinische, wie physiologisch-chemische Be¬
deutung gewinnen wird.
Von Wichtigkeit ist eine Modification der Methode, die Vor¬
tragender vorschlägt, und welche gestattet, auch an einem einzigen
Flüssigkeitstropfen die Bestimmung auszuführen.
III. II i s jun. (Leipzig): Verhalten und React ionen
der Harnsäure und ihrerSalze in Lösungen (gemeinsam
mit Prof. Paul (Tübingen ).
Indem H i s und Paul die Theorie der Lösungen von Harn¬
säure und ihren Salzen entwickeln, zeigen sie, dass viele empirisch
gefundene Thatsachen mit Nothwendigkeit aus der Theorie hervor¬
gehen. So muss, bei Gegenwart eines anderen, gleichviel welchen
Natronsalzes, die Löslichkeit des primären harnsauren Natrons be¬
trächtlich vermindert werden, wie bereits Roberts gefunden hat.
Gegenwart eines Salzes mit anderem Metalle, z. B. Kalium oder
Lithium, welche an sich leichtlösliche Urate bilden, können die Lös¬
lichkeit des sauren Natronsalzes ebenfalls nicht erhöhen; denn da die
Salze nicht als solche, sondern dissociirt (als Ionen) nebeneinander in
Lösung sind, fällt, falls dessen Löslichkeitsgrenze überschritten wird,
jeweilen das am schwersten lösliche Salz zuerst aus, respective
wird zuletzt gelöst. Es ist demnach nicht möglich, gichtische
Ablagerungen durch Kali- oder Lithionsalze leichter löslich zu
machen.
Minkowski (Strassburg) erwähnt, dass er gleichzeitig mit
Kossel (Marburg) jüngst gefunden hat, dass die Harnsäure natron¬
saure Verbindungen eingeht, aus denen sie mit Salzsäure nicht gefällt
werden kann.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 23
Moritz (München) hat beobachtet, dass die Harnsäurekrystalle
selbst im reinen Zustand beim Auflösen einen Schatten hinterlassen,
welcher sich mit Methylenblau färbt.
*
VI. Sitzung.
I. Friedei Pick (Prag): Eine eigenartige L ä h m u n gs-
erscheinung bei Hysterie.
Vortragender beobachtete einen Hysteriker mit linksseitiger
Hemianästhesie und vollständiger linksseitiger „Perfe de la conscience
musculaire“. Die linksseitigen Extremitäten zeigten bei offenen Augen
starke Parese. Bei geschlossenen Augen konnte der Patient gar nichts
bewegen und passive Bewegungen der linken Extremitäten wurden gar
nicht empfunden oder rechts nachgeahmt. Dagegen wurden passive
Bewegungen der rechten gesunden Seite auf der linken, spontan nicht
bewegbaren Seite prompt nachgeahmt. Es bestand also Unvermögen,
willkürlich zu bewegen, dagegen wurden passive Bewegungen der
anderen prompt nachgeahmt. Dieses Phänomen, das man „Parallelo-
kinesie“ nennen könnte, ist bisher in den Lehr- und Handbüchern
nirgends beschrieben, nur Anton in Graz sah es in drei Fällen von
Hirnherden ausserhalb der motorischen Zone, betont aber ausdrücklich,
dass er es bei Hysterischen mit analogen Erscheinungen vergebens
gesucht habe. Dieses Symptom scheint von Interesse für die Theorie
der motorischen Lähmungen; denn es entspricht ganz dem, was
man unter den Aphasien als transcorticale motorische Aphasie be¬
zeichnet.
II. Bickel (Berlin): Ueber die krampferregende
Wirkung der Galle und der gallensauren Salze.
Demonstration von Kaninchen, bei denen durch die directe Auf¬
tragung geringerer Mengen gallensaurer Salze auf die Hirnrinde,
respective durch Einspritzung derartiger Salzlösungen in die Cerobro-
spinalflüssigkeit ein eigenthümlielies Krankheitsbild experimentell
erzeugt wird, das durch mannigfache Symptome seitens des Central¬
nervensystems, wie fallsweise auftretende tonische und klonische
Kiämpfe, Zwangsbewegungen, maniakalische Anfälle u. s. w. charak-
terisirt ist. Diese Versuche zeigen, dass man berechtigt ist, den
gallensaueren Salzen eine ätiologische Bedeutung für die Cholämie zu¬
zusprechen.
Biedl (Wien) hat durch subdurale Injection von gallensauren
Salzen in geringer Menge und Concentration das typische Krankheits¬
bild der Cholämie bei Thieren erzeugt und hält seine Versuchsanord¬
nung mehr den wirklichen Verhältnissen entsprechend. Die Wirkung
erklärt sich durch directe Berührung mit den Rindenzellen des Gross¬
hirns. Neuerdings hat er sie bei Verwendung isoosmotischer Lösungen
bestätigt gefunden.
III. A g e r o n (Hamburg) : Diagnostische und thera¬
peutische Bemerkungen zum chronischen Magen¬
geschwür.
IV. Starke (Berka): Ueber B 1 u t k ö r p e r c h e n Zahlung.
In der Hämatologie ist in den letzten Jahren ein Streit über die
T h o m a - Z e i 8 s’sche Zählkammer entstanden. Die jüngere Richtung
behauptet, dass dieselbe vom äusseren Luftdiucke abhängig und die
Annahme über die Vermehrung der Blutkörperchen im Höhenklima
hinfällig seien, die ältere Richtung hält an den bisherigen Befunden
und Theorien fest. Vortragender schliesst sich auf Grund eigener
Untersuchungen ersteren an.
V. Weiss (Basel) : Die Erfolge der Urosinbehand-
1 u n g bei harnsaurer Diathese.
Urosin ist chinasaures Lithium. Die Chinasäure beschränkt die
Bildung der Harnsäure im Körper nach den früher mitgetheilten Unter¬
suchungen des Vortragenden. Man gibt etwa zehn Tabletten täglich,
entsprechend 5 g Chinasäure. Ohne Aenderung der gewohnten Lebens¬
und Ernährungsweise kann man mit Urosin bei typischer wie atypi¬
scher Gicht, sowie Fällen abnormer Ilarnsäureablagerung und -Aus¬
scheidung subjective und objective Besserungc n erzielen, auch bei Blei¬
gicht. Auch günstige prophylaktische Wirkungen berichtet. Vortragender.
Man gibt zu diesem Zweck täglich sechs bis acht Tabletten vier bis
sechs Wochen lang.
VI. Leo Schwarz (Prag) : Ueber Aceton au ssc he i-
d u n g.
Die absoluten Mengen Acetons, die ausgeathmet werden, sind
oft sehr beträchtlich (l'l <7 im Mittel täglich). Vom leichten Diabetiker
werden ungefähr 70% des Gesammtacetons durch die Lungen ausge¬
schieden, beim schweren Diabetes nur circa 34%. Diese Unvollkommen¬
heit der Acetonabdunstung durch die Lungen erklärt der Vortragende
dadurch, dass beim schweren Diabetes ausser Aceton auch ß Oxybutter-
säure und Acetessigsäure im Blute kreist, den Lungen daher relativ
weniger Aceton zur Ausscheidung zur Verfügung steht. Seit den Unter¬
suchungen von Rosenfeld, Hirschfeld u. A. ist bekannt, dass
Entziehung der Kohlehydrate aus der Nahrung vermehrte Acetonaus¬
scheidung im Harn im Gefolge hat. Der Acetongehalt der Ausathmungs-
luft nun steigt bei Kohlehydratmangel um das Zwei- bis Dreifache, der
des Harnes um das Acht- bis Zehnfache. Bei zwei Fällen von schwerem
Diabetes hat Schwarz den erwarteten Anstieg der Acetoncurve nach
Kohlehydratentziehung sowohl im Harne, als in der Ausathmungsluft
vermisst. In allen anderen Fällen aber, wTo der Ausschluss der Kohle¬
hydrate acetonvermehrend gewirkt hatte, bewirkte die Zufuhr von
Traubenzucker und verwandter Substanzen eine Verminderung der
Acetonausscheidung. Von solchen hat Schwarz hauptsächlich Glu-
consäure und Zucker säure, die beiden ersten Oxydationspro-
ducte des Traubenzuckers, untersucht. Die neueren einschlägigen Ar¬
beiten, sowie eigene Beobachtungen haben Schwarz zu der An¬
schauunggeführt, dass als Mutter Substanz des Acetons das Fett
zu betrachten sei. Er konnte bei Diabetikern nach Fettfütterung, ins¬
besondere nach Butter, in sieben Versuchsreihen sehr bedeutende Zu¬
nahme der Acetonausscheidung constatiren. Es besteht keine directe
Beziehung zwischen der ausgeschiedenen Aceton- und der aufgenommenen
Fettmenge, sondern je höher schon vorher die Acetonausscheidung,
ein umso grösserer Antheil des Fettes scheint in Aceton umgesetzt
zu werden.
Vortragender resumirt, dass die Acetonausscheidung wohl als
Function gesteigerten Fettzerfalles aufgefasst werden dürfe, womit die
diabetische Acetonurie ihrer Besonderheit entkleidet sei.
VII. Magnus-Levy (Strassburg): Ueber den Bence-
Jones’s c h e n Eiweisskörper.
Es ist dem Vortragenden gelungen, diesen Eiweisskörper in
krystallinischer Form zu erhalten. Während dessen anscheinend con-
stantes Auftreten bei Myelomen in den bisher beobachteten Fällen
von „Bence-Jone s’scher Albuminurie“ die Deutung gefunden hat,
dass dieser Körper in jenen Geschwülsten entstehe, zeigt Vor¬
tragender, dass das angesichts der grossen täglichen Ausscheidung, die
bis auf 36 und 70 <7 ansteigen kann, unmöglich ist. Der Körper ent¬
steht jedenfalls an anderen Stellen, vielleicht in der Darmwand oder
in der Leber.
v. J a k s c h (Prag) : Der Nachweis diems Eiweisskörpers gestattet
keinen sicheren diagnostischen Schluss, da er bei Knochenerkrankungen
öfters fehlt.
Naunyn (Strassburg) : Der positive Befund gestattet doch
einen Rückschluss. Er ist charakteristisch nur für M3relome des
Rumpfes.
Wassermann (Berlin): Die Eiweisskörper der verschiedenen
Thiergattungen lassen sich von einander dadurch genau unterscheiden,
dass jedes Blutserum immer nur dem ihm eigenen Eiweisskörper gegen¬
über specifische agglutinirende Wirkung besitzt.
F. Blum (Frankfurt a. M.) hat schon früher angegeben, dass
auch eine chemische Methode, die Bestimmung der Jodzahl, zur Kenn¬
zeichnung der Eiweisskörper Anhalt bietet.
Matth es (Jena): Die Albumose wird zuweilen nur periodisch
im Harn ausgeschieden.
An der weiteren Discussion betheiligten sich noch die Herren
Senator (Berlin), v. Jaksch (Prag), Naunyn (Strassburg) und
Magnus-Levy (Strassburg).
(Fortsetzung folgt.)
Programm
der am ,
Freitag, den 8. Juni 1900, 7 Uhr Abends,
unter dom Vorsitze des Herrn Oberstabsarztes Docent Dr. Habart
Btattflndend tn
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Prof. Englisch: Zur Hypertrophie der Prostata. (Fortsetzung.)
2. Regimentsarzt Dr. J. Fein: Ueber die sogenannte Cadaverstellung
der Stimmbänder.
Bergmeister, Paltauf.
Geburtshilflich-gynäkologische Gesellschaft in Wien.
Die nächste Wissenschaftliche Sitzung findet
Dienstag, den 12. Juni 1900, 7 Uhr Abends,
im Ilürsaale der II. geburtshilflich-gynäkologischen Klinik statt.
Halban, Lihotzky,
derzeit Schriftführer. derzeit Präsident.
Verantwortlicher Redaeteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, O. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner,
M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann,
R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt, A. v. Vogl,
J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkand!.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Grussenbauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VI 1 1/1, Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang. Wien, 14. Juni 1900. Nr. 24.
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tion sind zu richten an
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gen und Geldsendungen an
die Verlagshandlung.
Redaction :
Telephon Nr. 3373.
ILTHA JLjT:
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel: 1. Aus der Universitäts-Frauenklinik des Herrn Pro¬
fessor Dr. F r i e d r. Schauta in Wien. Agglutinationsversuche
mit mütterlichem und kindlichem Blute, Von Dr. Josef Halban.
2. Ans der Proseetur der k. k Krankenanstalt »Rudolf-Stiftung« in
Wien (Prosector: Prof. R. Paltauf). Zur Kenntuiss des Aktino-
mycespilzes. Von Dr. Carl Sternberg, Prosectursadjuncf.
3. Aus der Proseetur der k. k. Krankenanstalt »Rudolf-Stiftung« in
Wien (Prosector: Prof. E. P a 1 1 a u f). Ein anaerober Strepto¬
coccus. Von Dr. Carl Sternberg, Prosectursadjunct.
4. Ueber das Baden Neugeborener. Von H. Kowarski.
II.
III.
IV.
V.
Referate: I. Die eiterigen Erkrankungen des Schläfebeines. Von Piof.
Dr. Otto Körner. H. Ueber Gewerbekrankbeiten des Obres.
Von Dr. E. Winkler. III. Zur vergleichenden Anatomie und
Physiologie des Gleichgewichtes und Gehörorganes. Von Dr.
Rudolf P a n z e, IV. Die acute Mittelohrentzündung und ihre
Behandlung. Von Dr. Gustav Brülil. Referent Arthur
Singer.
Ans verschiedenen Zeitschriften.
Vermischte Nachrichten.
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften nnd Congressberichte.
Aus der Universitäts-Frauenklinik des Herrn Professor
Dr. Friedr. Schauta in Wien.
Agglutinationsversuche mit mütterlichem und
kindlichem Blute.
Von Dr. Josef Halban.
Seit der weittragenden Entdeckung Gr r u b e r’s ’) wurden
über die merkwürdige Erscheinung der Agglutination reichliche
Untersuchungen angestellt. Wir wissen heute, dass das Phä¬
nomen nicht nur bei Bacterien, sondern auch bei anderen
zeitigen Elementen beobachtet werden kann.
Bordet2) fand, dass, wenn man ein Thier durch sub-
cutane Einspritzung normalen Blutes einer anderen Species
gegen dieses Blut gleichsam immunisirt, das Serum des
immunisirten Thieres schliesslich die rothen Blutkörperchen
des anderen agglutinirt.
Landsteiner3) fand specilische Immunitätsreactionen
für Spermatozoen, v. Düngern4) für Flimmerepithelien,
Metschnikoff5) für Leukocyten.
Wir wissen aber ferner, dass nicht nur bei immunisirten
Thie ren specilische Agglutinine auftreten, sondern dass Agglu-
tinine auch schon im Blute ganz normaler Thiere und Men¬
schen Vorkommen. So ist es bekannt, dass zum Beispiel nor¬
males Serum Cholerabacillen sehr energisch agglutinirt. Hieher
gehört auch, dass das normale Serum die Molecularbewegung
der Bacterien aufhebt und sogar an Sporen Agglutinations¬
phänomene hervorruft. (Halban0), Kraus und Löw7).
Ebenso wie aber schon das normale Serum im Stande ist,
Bacterien zu agglutiniren, so besitzt das Serum gewöhnlich
schon normaler Weise die Fähigkeit, rothe Blutkörperchen zu
agglutiniren, und zwar nicht nur die Blutkörperchen von
einer anderen Species, sondern sogar auch von anderen Indi¬
viduen derselben Species (Landsteiner15).
Meine Untersuchungen waren nun darauf gerichtet, das
Blut der Mutter und des Fötus auf den Gehalt an normalen
Agglutininen zu prüfen und die Ergebnisse dieser Unter¬
suchungen lassen, wie wir sehen werden, gewisse Folge¬
rungen zu.
Technik und Versuche.
Um mütterliches und fötales Blut isolirt zu gewinnen,' bin
ich in der einfachen Weise vorgegangen, dass ich unmittelbar
nach der Geburt des Kindes abnabelte und das fötale Blut aus
dem placentaren Theile der Nabelschnur unter aseptischen Cautelen
entnahm. Ich gewann dadurch sicher fötales Blut.
Die Beschaffung des mütterlichen Blutes gelang einfach in
der Weise, dass ich nach Abgang der Placenta eine vorübergehende
Atonie des Uterus, wie sie so häufig vorkommt, abwartete, und
dann das aus dem Uterus ausfliessende Blut mit einer in die
Vagina eingeführten, sterilen Eprouvette auffing. Ich entnahm aul
diese Weise je zwei Eprouvetten vom fötalen und je zwei vom
mütterlichen Blute. Während ich nun die eine Eprouvette zur Ge¬
winnung des Serums benützte, defibrinirte ich das Blut der anderen
Eprouvette und ich bekam sowohl vom Fötus als von der Mutter
je eine Eprouvette mit Serum und eine mit defibrinirtem Blute.
Ich wiederholte dies bei 14 Gebärenden und stellte nun Agglu¬
tinationsversuche in verschiedenen Combinationen an. Die Proben
wurden entweder im hängenden Tropfen untersucht oder in Eprou¬
vetten. Bei beiden Methoden ist die eingetretene Wirkung schon
sehr leicht makroskopisch, gewöhnlich nach wenigen Minuten zu
beobachten.
Bei der Prüfung auf hämolytische Wirkung wurden die
Proben in den Brutschrank gestellt.
Es ergaben sich nun in der Regel beträchtliche
Unterschiede in der Wirkung des mütterlichen
und fötalen Blutes.
Die Versuche wurden in verschiedenen Reihen an¬
gestellt.
1. Es wurde zunächst die Wirkung sowohl des müttci-
lichen als des kindlichen Serums eines Falles auf das Kindes¬
blut eines anderen Falles geprüft. Von den hallen agglutinine
das mütterliche Blut sechsmal stark, viermal schwach, vennnl
546
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 24
gar nicht. Das kindliche Blut agglutinirte zweimal stark, drei¬
mal wenig, neunmal gar nicht.
Fall 1
Fall 2
Fall 8
| Fall 4
Fall 5
Fall G
Fall 7
Fall 8
Fall 9
Fall 10
Fall 11
i
I
Fall 12
CO
r—i
Fall 14
Mutterserum
stark
stark
1
stark
Ad
In
X
Um
ei
eo
schwach
1
stark
schwach
schwach
sehr
schwach
1
1
Kindesserum
schwach
1
stark
schwach
schwach
1
1
1
1
1
i
stark
1
1
Es folgt daraus, dass das mütterliche Serum öfters
Agglutinationsvermögen besitzt, als das kindliche.
Es folgt weiter, dass das Agglutinationsvermögen
des Kindesblutes nicht abhängig zu sein scheint
von dem des Mutterserums, denn es gibt sowohl Fälle,
wo das mütterliche Blut stark agglutinirt, das kindliche aber
nicht, als auch umgekehrt.
2. Derselbe Erfolg ergab sich, wenn wir die Wirkung
der beiden Sera auf mütterliches Blut eines anderen Falles
prüften, indem sich ebenfalls die gleichen Differenzen in der
Intensität der Wirkung zeigten.
3. Die gleichen Unterschiede traten in der Regel auf,
wenn wir die Sera auf Blutsorten von verschiedenen anderen
Individuen einwirken liessen.
Im Grossen und Ganzen waren die Wirkungen — wenn
auch in der Intensität kleine Differenzen sich ergaben —
doch immer ziemlich gleich, ob man jetzt dieses oder jenes
Blut agglutinirte.
Nur in einem Falle kam es vor, dass das kindliche
Serum eine Blutprobe gar nicht, eine andere sehr stark agglu¬
tinirte.
Es erhellt daraus, dass es doch nicht nur auf
das Serum, sondern auch auf das zu agglu-
t i n i r e n d e Blut ankommt, das heisst, ein Serum kann
sich dem Blute des einen Individuums gegenüber positiv, dem
eines anderen gegenüber aber negativ verhalten. (Es fehlen
also nach Ehrlich manches Mal die »Receptoren«.)
4. Die Sera wurden auch zugleich in ihrem Verhalten
gegen die eigenen Blutkörperchen desselben Individums ge¬
prüft, das heisst es wurde das Serum der Mutter auf die
eigenen Blutkörperchen, ebenso das Serum des Kindes auf die
eigenen kindlichen Blutkörperchen wirken gelassen und stets
— wie nicht anders zu erwarten war — ein vollkommen
negativer Erfog erzielt.
5. In einer weiteren Reihe wurde das Serum der Mutter
auf das Blut des Kindes, das Serum des Kindes auf das Blut
der Mutter einwirken gelassen.
Hiebei ergab sich, dass sich die beiden Sera so verhielten,
wie von zwei ganz verschiedenen Individuen,
indem in den Fällen, wo das mütterliche Blut ein fremdes agglu¬
tinirte, es auch das Blut des eigenen Kindes agglutinirte.
Ebenso agglutinirte das fötale Blut das mütterliche, wo es
überhaupt Agglutinationsvermögen besass.
6. Es wurde die hämolytische Wirkung an beiden Sera
geprüft und es ergab sich in einer Reihe von Fällen, dass
dieselbe, wenn man eine entsprechende Verdünnung vornahm,
in der Regel ungefähr dem Agglutinationsvermögen parallel
ging und sich also die Hämolysine im fötalen und mütterlichen
Blute ungefähr analog, wie die Agglutinine verhalten.
7. Die Agglutinationskraft der beiden Sera wurde auch
in ihrem Verhalten auf Bacterien geprüft (besonders mit
Choleraculturen) und es zeigte sich, dass ihre Wirksamkeit
diesen gegenüber ungefähr die gleiche war, wie gegen rothe
Blutkörperchen. *)
*) Ich zweifle aber nicht, dass sich auch da gewisse Schwankungen
hei ausgedehnten Untersuchungen ergeben werden, wie ja die Agglutinations-
phänome überhaupt niemals einem starren Gesetze unterliegen, sondern
sehr bedeutende individuelle Schwankungen aufweisen. (So z. B. die Ziegen¬
versuche von Ehrlich und Morgenrot!).8)
Es besteht also eine Differenz im Gehalte
des mütterlichen und fötalen Blutes an Agglu-
tininen und Lysine n, und es dürften sich aus
den V ersuchen folgende Schlüsse ergeben:
A. Die Thatsache, dass das mütterliche und fötale Blut
zwei ganz getrennten Kreisläufen angehört, ist feststehend. Es
ist weiterhin bekannt, dass die chemischen Eigenschaften der
beiden Blutsorten verschieden sind, doch wurden darüber nur
spärliche Untersuchungen angestellt. Krüger9) fand, dass das
fötale Blut nur unbedeutend mehr feste Bestandtheile enthält,
als das mütterliche. Der Fibringehalt des fötalen Blutes ist
nach ihm wesentlich geringer. Scherenziss l0) stellte fest,
dass das specifische Gewicht des fötalen Blutes etwas, das
des Serums erheblich niedriger ist als beim Erwachsenen.
Da das fötale Blut sich als hämoglobinarm erwies, so müssen
die rothen Blutkörperchen sehr stromareich sein. Er fand
ferner, dass die rothen Blutkörperchen beim Fötus sehr leicht
zerstörbar sind, und dass der Fibringehalt ein geringer ist.
Dagegen ist das fötale Blut salzreicher, als das Blut Er¬
wachsener, besonders ist der grössere Gehalt an unlöslichen
Salzen auffallend. Ferner ist das fötale Blut natriumreicher,
aber kaliumärmer, und die Summe des an Chlor nicht gebun¬
denen Kaliums und Natriums beträchtlich kleiner, als im Blute
Erwachsener.
Aehnliche Resultate, namentlich im Bezug auf den Hämo¬
globingehalt, erhielten Do ler is und Quinquaud. n)
In neuester Zeit beschäftigte sich J. Veit12) mit diesem
Gegenstände, indem er Gefrierpunktsbestimmungen des fötalen
und mütterlichen Blutes vornahm. Er kam nun zu dem inter¬
essanten Resultate, dass fast constant der Gefrierpunkt des
fötalen Blutes tiefer liege, als der des mütterlichen. Er fand
im Durchschnitt für das kindliche Blut <\ = — 579, für das
mütterliche A = — 551.
Wenn er hieraus die Kochsalzlösung bestimmte, welche
nach Hamburger dem Blut isotonisch ist, so erhält er für
das kindliche Blut 0'955% und für das mütterliche Blut
0 909 °/0, also eine Differenz von 0'045% Na CI.
Diese wenigen Daten sind Alles, was wir über den Unter¬
schied zwischen mütterlichem und kindlichem Blute wissen.
Die Thatsache, -welche nun aus meinen Versuchen erhellt,
dass nämlich kindliches und mütterliches Blut einen verschieden
grossen Gehalt an Agglutininen besitzen, ist als weiterer Befund
in dieser Richtung anzusehen. Es ist dies vielleicht auch des¬
halb von Interesse, weil, während die früheren Untersuchungen
sich hauptsächlich auf die Salze bezogen, die Agglutinine
wahrscheinlich als Eiweisssubstanzen, und zwar nach den
Untersuchungen von Winterberg 13), Widal und S i-
card14), L a n d s t e i n e r 25) als den Globulinen nahestehende
Substanzen aufzufassen sind.
B. Es würde ferner aus dem Befunde, dass das mütter¬
liche Blut häufig Agglutinine enthielt, während im kindlichen
keine Spur davon nachzuweisen war, hervorgehen, dass der
Fötus, welcher sicherlich Eiweisssubstanzen vom mütterlichen
Blute zum Aufbau seines Körpers beziehen muss, nicht alle
Eiweisssubstanzen gleichmässig aufnimmt, sondern eine Aus¬
wahl trifft.
Es wurden bekanntlich schon vielfache Versuche darüber
angestellt, ob Substanzen, welche dem mütterlichen Organismus
einverleibt werden, in das Blut des Fötus übergehen. Diese
Möglichkeit ist für verschiedene Substanzen mit Sicherheit ex¬
perimentell naebgewiesen (Jodkali, Salicylsäure), ebenso für
gewisse lösliche Gifte (Phosphor, Quecksilber, Blei, Alkohol,
Morphium) und namentlich für gasförmige Substanzen und
Dämpfe (Kohlenoxydgas, Leuchtgas, Ammoniak, Chloroform,
Aether).
Mit Eiweisskörpern wurden derartige Experimente aber
nicht unternommen.
Da aber aus den Untersuchungen der früher erwähnten
Autoren hervorgeht, dass die Agglutinine den Globulinen ver¬
wandte Substanzen darstellen, so scheinen Versuche mit Agglu¬
tininen in dieser Hinsicht verwerthbar zu sein.
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
547
Das Nichtübergehen der Agglutinine von Mutter auf
Kind spricht für eine ausserordentlich elective
Resorption von Seiten des Chorionepithels,
dessen vitaler Thätigkeit im Gegensatz zu der
rein physikalischen Diffusion sicherlich eine
höhere Bedeutung für die Nahrungsaufnahme
des Fötus zu kommt, als lange angenommen wurde.
C. Man kann bei diesen Versuchen auch der Frage der
Herkunft der Agglutinine näher treten. Wir wollen hier selbst¬
verständlich nicht die specifischen Agglutinine, sondern die
schon normaler Weise im Blute vorkommenden ins Auge
fassen. Da sich die Agglutinine im Blute der Mutter auch im
nichtschwangeren Zustande vorfinden, wäre die Möglichkeit ge¬
geben, dass die Agglutinine des fötalen Blutes einfach von
der Mutter auf den Fötus übergegangen sind.*)
Dagegen spricht aber die Thatsache, dass es Fälle gibt,
wo sich die Agglutinine wohl im fötalen, nicht aber im Blute
der Mutter fanden.
Wir müssen demnach annehmen, dass diese Substanzen
angeboren — von der Mutter unabhängig — Vor¬
kommen.
Wir werden also zwischen angeborenen und er¬
worbenen Agglutininen und Lysinen unterscheiden müssen.
Diese Unterscheidung dürfte umso nöthiger sein, als jüngst
Ehrlich und Morgenroth8) über interessante V ersuche
berichteten, welche hier berücksichtigt werden müssen.
Ehrlich und Morgenroth fanden nämlich, dass, was
schon früher Landsteiner für menschliches Blut angegeben
hat und was sich auch in meinen Versuchen bestätigte, das
Serum die Fähigkeit hat, nicht nur Blut einer fremden Species
zu agglutiniren, respective zu lösen, sondern auch das von
anderen Individuen derselben Species.
Während Landsteiner und ich diese Eigenschaft bei
normalen Verhältnissen fanden, berichten Ehrlich und
Morgenroth, dass sie die Agglutinine, respective Hämo¬
lyse hervorrufen konnten, wenn sie ein Thier mit dem Blute
eines anderen Individuums immunisirten. Sie spritzten einem
Ziegenbock das Blut einer Ziege ein, und der Ziegenbock
bekam dadurch Hämolysine für das Blut der Ziege. Ehrlich
und Morgenroth nennen nun derartige Hämolysine, welche
durch Immunisirung mit Blut derselben Species entstanden
sind, Isolysine zum Unterschied von den Heterolysinen, welche
nach Immunisirung mit dem Blut einer fremden Species auf-
treten.
Die Isolysine wirkten aber nicht nur specifisch auf die
Ziege, welcher das Blut zur Immunisirung entnommen wurde,
sondern auch auf eine Reihe anderer Ziegen, mit Ausnahme
eines Thieres, welches fast keine Reaction zeigte. Auf das Blut
des Bockes selbst wirkten die Isolysine absolut nicht, es handelt
sich also nach Ehrlich und Morgenroth hiebei nicht um
Autolysine.
Wenn wir diese Erfahrungen auf meinen Versuch über¬
tragen, so sind die Agglutinine, welche im Stande sind, das
Blut anderer Menschen zu agglutiniren, als Isoagglutinine zu
bezeichnen. Dieselben finden sich aber bereits beim Neu¬
geborenen fertig vor und man muss demnach diese ange¬
borenen von den erworbenen Isoagglutininen trennen, welche
bei den Versuchen von Ehrlich und Morgenroth erst
nach der Immunisirung mit dem Blute der betreffenden Species
aufgetreten sind.
Wir wollen die ersteren zur Unterscheidung als I d i o i s o-
agglutinine, respective als I d i o isolysine bezeichnen.
*) Bei Typhus von Schwangeren agglutinirt das mütterliche Blut
den Typhusbacillus sehr starb, während das fötale in der Regel nicht agglu-
tinirt. (Nur Chambrelent und S a i n t- P h i 1 i p p e 13), Mose und
Dannie16) haben in dieser Hinsicht positive Resultate, alle Anderen,
Plaue hu und Galavardin n), Kasel und Mann18), Dogliotti 19),
Etienne50) u. A. berichten über vollständig negative Gruber-Widal-
sche Reaction beim Fötus.) Bei Thieren fanden Remlinger 22), D i en¬
do n n e 23), dass das fötale Blut von Meerschweinchen und Kaninchen nach
Immunisirung der Mutter mit Typhus, respective mit Cholera, viel schwächer
agglutinirte, als das mütterliche, und dass die Agglutinine nach einigen
Monaten verloren gehen. Aehnliche Ergebnisse hatten schon früher Ehr¬
lich und H ü b e n e r M) bei Immunisirung mit Giften (Ricin, Abrin, Robin,
Tetanus).
Es entsteht nun die Frage, woher diese Idioisoagglutinine
stammen und es lag der Gedanke nahe — und dies war auch
der Ausgangspunkt meiner Arbeit — , ob nicht das Auftreten
der Idioagglutinine im mütterlichen und fötalen Blute als der
Ausdruck einer wechselseitigen Immunisirung von
Mutter und Frucht aufzufassen ist.
Dadurch, dass constant Blutzellen im Kreislauf zu Grunde
gehen und ein Austausch der Säfte in der Placenta stattfindet,
wäre eine derartige Immunisirung der beiden Organismen
gegeneinander möglich und wir müssten in diesem Falle die
Idioisoagglutinine und -Lysine in der Weise auffassen, dass sie
nicht von Haus aus sich im Organismus vorfinden, sondern
als ein wechselseitiges Immunisirungsproduct während der
Gestation entstanden sind. Dass sich die Agglutinine im mütter¬
lichen Blute häufiger vorfinden, als im fötalen, wäre vielleicht
darauf zurückzuführen, dass der Fötus auf derartige Immuni
sirungen weniger energisch in Bezug auf die Bildung der
Agglutinine reagirt.
Wenigstens sind solche Analoga vorhanden.
So fanden Kasel und Mann18), Courmont20), dass
Kinder in den ersten Lebensjahren bei Typhusinfectionen im
Allgemeinen schwächere Gruber-Wida l’sche Reaction geben,
als ältere Individuen. Wir wissen zum Beispiel ferner, dass
Neugeborene subcutane Injectionen von so grossen Tuber-
culindosen, welche bei Erwachsenen stets hohes Fieber hervor-
rufen, ohne jede Reaction vertragen (Schreiber21).
Es wäre also denkbar, dass die im Allgemeinen geringere
Agglutinationskraft des fötalen Blutes auf einer geringen Em¬
pfänglichkeit des fötalen Organismus für derartige Stoffe
beruht.
Aber es sprechen doch wieder manche Argumente gegen
die Annahme, dass die Idioagglutinine aus der wechselseitigen
Immunisirung zwischen Mutter und Kind während der
Gestation entstehen. So vor Allem der Umstand, dass wir die
Agglutinine auch bei Frauen fanden, welche nie geboren
haben, ebenso bei Männern. Man müsste für diese Fälle an¬
nehmen, dass sich die Substanzen vom embryonalen Leben her
erhalten haben. Nun sind ja allerdings manche Agglutinine,
zum Beispiel nach Typhusinfection, sehr beständig*), aber es
hat diese Erklärung doch etwas sehr Gezwungenes an sich.
Auch die Erklärung, dass die im normalen Serum vor¬
kommenden Agglutinine durch die fortwährende Aufnahme
von verschiedenen Bacterien stoffen in den Orga¬
nismus (namentlich von Darmbacterien) entstünden, ist nach
meinen Untersuchungen von der Hand zu weisen, da sie sich,
wie wir gesehen haben, schon beim Neugeborenen, dessen
Körper vollständig bacterienfrei ist, vorfinden.**)
Es bleibt also unseres Erachtens nur eine Erklärung,
welche diese Erscheinung in befriedigender Weise lösen könnte,
nämlich dass die Agglutinationsfähigkeit einfach als Eigen¬
schaft irgend welcher schon normaler Weise im Blute vor¬
kommender Eiweissstoffe anzusehen ist. Ob diese Eigenschaften
schon von Haus aus an die bestehenden Stoffe (Globuline?)
gebunden sind oder ob sie vielleicht durch eine Art Selbst-
immunisirung durch den fortwährenden Zerfall von rothen
Blutkörperchen entstehen, ist schwer zu entscheiden. Vielleicht
werden Versuche im Sinne von Ehrlich und Morgenroth
einige Klärung verschaffen, wenn es nämlich gelingen sollte,
durch Einspritzen des eigenen Blutes bei einem Thiere die
Isolysine, respective Isoagglutinine zu vermehren. Der eine
derartige Versuch, von dem Ehrlich und M orgenroth
berichten, fiel allerdings negativ aus, indem es ihnen dabei
nicht gelang, bei einer Ziege durch Einspritzen des eigenen
*) Dass die Agglutinine, welche der Fötus während der Schwanger¬
schaft bei Infection der Mutter von dieser bezieht, wieder nach einigen
Monaten verschwinden (Remlinger, Dieudonne), würde nicht un¬
bedingt dagegen sprechen, da es sich hiebei nur um von der Mutter be¬
zogene Stoffe, also um eine passive Immunisirung handelt, was schon
Ehrlich 24) hervorhebt, während bei der supponirten Gestations-
immunisirung dieselbe als active angesehen werden müsste.
**) Aus einer eben erschienen Arbeit von K r au s und Clair mont -h)
entnehme ich, dass z. B. auch das Taubenserum schon bei neuge¬
borenen Thieren sehr kräftige bacteriolytische Eigenschaften
besitzt.
548
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 24
Blutes Isolysine zu erzeugen. Selbst wenn aber derartige Ver¬
suche positiv ausfallen sollten, so würden sie uns erst die Ent¬
stehung der Hämolysine, respective -agglutinine erklären.
Nun besitzen wir aber in unserem Organismus nicht nur
Idioiso-, sondern auch Idioheteroagglutinine, das heisst Stoffe,
welche zum Beispiel Cholerabacillen, Bacterium coli, fremde
Blutsorten etc. zu agglutiniren im Stande sind. Ob auch diese
durch den Zerfall der rothen Blutkörperchen erklärt werden
können, ist allerdings zweifelhaft und es könnte dies nur
z. B. in der Weise bewiesen werden, wenn es gelänge,
durch Einspritzen von eigenem Blute nicht nur die Idioisi-,
sondern auch die Idioheteroagglutinine zu vermehren. So
lange dies nicht der Fall ist, bleibt es immerhin noch das
Wahrscheinlichste, dass das Agglutinations-, respective Lösungs¬
vermögen des normalen Serums als eine angeborene Eigen¬
schaft von schon normaler Weise im Blute vorkommenden
Substanzen aufzufassen ist.
Literatur.
') Gruber, K. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien. Sitzung' vom
28. Februar 1896.
2) Bordet, Annales de l’Inst. Pasteur. 1899.
3) Landsteiner, Centralblatt für Bacteriologie. 1899. Bd. I,
pag. 546.
4) v. Düngern, Münchener medicinische Wochenschrift. 1899,
Nr. 38.
5) Metschnikoff, Annal. de l’Inst. Pasteur. 1899. October.
6) llalban, Annales de l’Instit. Pasteur. 1898.
") Kraus und L 8 w, Wiener klinische Wochenschrift. 1899.
8) Ehrlich und Morgen roth, Berliner klinische Wochen¬
schrift. 1900.
9) Krüger, Inaugural-Dissertation. Dorpat 1886.
10) Scherenziss, Inaugural-Dissertation. Dorpat 1888.
") Doleris und Quinquaud, citirt nach Runge’s Lehrbuch
der Gebuitshilfe.
12) Veit, Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. 1900 Bd. XLII,
pag. 316.
13) W i n t e r b e r g, Zeitschrift für Hygiene. Bd. XXXII, pag. 374.
u) Widal und S i c a r d, Ann. de l’Inst. Pasteur. 1897, pag. 353.
15) Mose und Dannie, Soc. de Biolog. 27. Februar 1897.
16) Plauchu und Galavar di n, Lyon med. 1898.
*‘) Kasel und Mann, Münchener medicinische Wochenschrift.
1899, Nr. 18.
18) D o g 1 i o 1 1 i, Giorn. di med. Torino. 1897.
19) Etienne, Presse med. 1896.
20) Courmon t, citirt bei Kasel und Mann. Münchener medi¬
cinische Wochenschrift. 1899.
21) Schreiber, Deutsche medicinische Wochenschrift. 1891, Nr. 8.
-2) R e m 1 i n g e r, Annal. de lTust. Pasteur. 1899.
-3) D i e u d o n n e, Festschrift der physiologisch-medicinischen Gesell¬
schaft. Würzburg 1899.
‘24) Ehrlich und Hüben er, Archiv für Hygiene. 1894. —
Ehrlich, Archiv für Hygiene. 1892.
ib) Landsteiner, Centralblatt für Bacteriologie. 1900. Bd. XXVII,
pag. 357.
2Ü) K r a u s und C 1 a i r m o n t, Zeitschrift für Hygiene. 1900.
Aus der Prosectur der k. k. Krankenanstalt > Rudolf-
Stiftung« in Wien (Prosector: Prof. R. Paltauf).
I. Zur Kenntniss des Aktinomycespilzes.
Von Dr. Carl Sternberg, Prosectursadjunct.
Nach einer in der Sitzung am 4. Mai 1900 der k. k. Gesellschaft der
Aerzte gehaltenen Demonstration.
Im Laufe des vorigen Jahres hatte ich Gelegenheit, drei
halle von Aktinomykose, die auf der II. chirurgischen Ab¬
theilung des k. k. Rudolf-Spitales in Behandlung standen, bac-
teriologisch zu untersuchen. In zwei Fällen handelte es sich
um Ij nterkieferaktinomykose, in einem Falle um einen
aktinomykotischen Abscess der Inguinalgegend.
In dem der Prosectur übersandten Eiter fanden sich in
allen drei k allen reichlich die bekannten gelben Körnchen, die
sich bei mikroskopischer Untersuchung als typische Aktino-
mycesdrusen erwiesen, indem sie aus einem dichten Faden¬
gewirre mit radiär gestellten, kolbigen oder keulenförmigen
Endauftreibungen an der Peripherie bestanden. Von einem der
Fälle konnte ich auch ein kleines Stückchen ausgekratzten
Granulationsgewebes untersuchen. Dasselbe zeigte bei der histo¬
logischen Untersuchung central eine kleine Abscesshöhle, in
der zwischen polynucleären Leukocyten mehrere typische
Aktinomycesdrusen lagen, peripher ein gefässreiches Granu¬
lationsgewebe, das gleichfalls von polynucleären Leukocyten
durchsetzt war.
Culturversuche, die in allen drei Fällen vorgenommen
wurden, ergaben nun ein bemerkenswerthes Resultat; da das
Ergebniss der Untersuchung in sämmtlichen Fällen identisch
war, so kann über dieselben zusammenfassend berichtet
werden.
Die Körnchen wurden stets in sterilem Wasser sorgfältig ab¬
gespült und dann von denselben aerobe Culturen auf den gebräuch¬
lichen Nährböden, sowie anaerobe Culturen in überschichtetem Zucker¬
agar angelegt.
In den aeroben Culturen (schräger Agar, Glycerinagar, Kar¬
toffeln] war kein Wachsthum zu beobachten; nur auf Löfflci-
schem Serum bemerkte man, dass die ausgesäeten Körnchen nach
längerer Zeit etwas breiter und grösser wurden. Versuche, von einer
solchen Cultur auf andere Nährböden (darunter auch Löffler-
sches Serum) aerob weiter zu impfen, schlugen stets fehl. In Deck¬
glaspräparaten, die von diesen ersten Culturen auf L ö f f 1 e r’schem
Serum angefertigt wurden, zeigte sich ein nach Gram schwach
färbbarer körniger Detritus, an dem sich keine bestimmten Formen
ausnehmen liessen.
In den anaeroben Culturen in hoch überschichtetem Zucker¬
agar liess sich aber stets ein ziemlich rasches Wachsthum beobachten,
indem die ausgesäeten Körnchen sich sehr beträchtlich vergrösserten
und vermehrten. Wurden zwei Körnchen in geringer Entfernung
von einander auf den Boden eines Zuckeragarröhrchens gelegt, so
waren dieselben nach einiger Zeit zu einem grossen Korn ver¬
schmolzen. Uebertragungsversuche solcher anaerober Culturen auf
andere Nährböden ohne Sauerstoffabschluss (auch auf L ö f f 1 e r’sches
Serum) schlugen stets fehl, während sie sich anaerob auf Zuckeragar
constant fortimpfen liessen; allerdings müssen die Culturen in
ziemlich kurzen Pausen überimpft werden, da sie sonst nicht mehr
angehen.
In einer anaeroben Zuckeragarstichcultur zeigte sich zunächst,
meist schon am zweiten Tage, eine feine, staubförmige Trübung im
ganzen Stichcanal und allmälig entwickeln sich in demselben ein¬
zelne Körner, die immer grösser werden, so dass dieselben an ein¬
zelnen Stellen confluiren und grössere, klumpige Gebilde darstellen;
im Allgemeinen sind die Körner weiss oder weissgelblich. Bei dem
Ueberimpfen ist es von Wichtigkeit, nicht die Körnchen als Ganzes
zu übertragen, sondern dieselben nach Möglichkeit zu zerdrücken; es
macht dies allerdings oft Schwierigkeit, da die Körnchen meist
ziemlich consistent sind.
Das üppigste Wachsthum erhält man in Zuckerbouillonculturen
unter Paraffinabschluss; hier kommt es bald zu einer diffusen Trü¬
bung der Bouillon, namentlich in dem unteren Theile des Kolbens,
während am Grunde sich ein reichlicher Niederschlag bildet, der aus
zahllosen kleineren und grösseren Körnchen besteht; oft schlagen
sich die Körner zu grösseren, zusammenhängenden Massen am Boden
des Kolbens nieder.
Auch in Zuckerbouillonkolben ohne Paraffindecke erhält man
ein Wachsthum; hiebei beobachtet man nur am Boden des Gefässes
Entwicklung von kleineren und grösseren Körnern, während die
übrige Bouillon vollkommen klar bleibt.
Bei Aussäung der direct aus dem Eiter gewonnenen und ge¬
waschenen Körnchen in Zuckerbouillonröhrchen ist häufig, wenn
auch nicht stets, ein Wachsthum erkennbar.
Während, wie früher erwähnt, die erst erhaltenen Culturen
auf L ö f f 1 e r’schem Serum sich unter aeroben Bedingungen nicht
weiterimpfen liessen, gelang es wohl, dieselben anaerob in Zucker-
agarstichculturen abzuimpfen.
In Deckglaspräparaten aus den verschiedenen Culturen (Agar-
und Bouillonculturen) fanden sich stets nach Gra m intensiv färbbare,
leicht gebogene Stäbchen mit keulenförmig verdicktem Ende, die
eine gewisse Aehnlichkeit mit Diphtheriebacillen hatten, oft recht-
öder spitzwinkelig zu einander gestellt waren, auch deutliche Ver¬
zweigungen aufwiesen. Daneben fanden sich in wesentlich geringerer
Anzahl kürzere und längere, schlanke, oft wellig gekrümmte oder
schraubenartig gewundene, verzweigte Fäden und spärliche, coccen-
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
549
ähnliche Gebilde. Diese verschiedenen Formen waren in den ein¬
zelnen Culturen in wechselnder Zahl vorhanden, doch wurde die
Hauptmasse von den erwähnten dipbtherieähnlichen Stäbchen ge¬
bildet, ja oft waren in den Culturen ausschliesslich diese und gar
keine längeren Fäden nachweisbar. Die Länge dieser Stäbchen war
in den verschiedenen Culturen ziemlich ungleich, meist waren sie
länger als echte Diphtheriebacillen, bisweilen sogar bedeutend länger.
Auch die keulenförmigen Endanschwellungen waren bisweilen sehr
gross und dick, bimförmig und glichen dann den Kolben, wie man
sie in den Aktinomycesdrusen zu sehen gewohnt ist.
Aehnliche Bilder boten Schnittpräparate von Agarculturen oder
von einzelnen Körnchen aus Bouillonculturen. Diese Präparate zeigten
in schönster Weise die schon beschriebene Zusammensetzung der
Culturen aus einzelnen Körnchen, die aus dicht gedrängten Bacterien-
massen bestanden. An den Rändern solcher Körnchen, wo sich ein¬
zelne Individuen ausnehmen liessen, sah man ebenfalls, wie in den
Deckglaspräparaten von Culturen, lange, wellig gebogene, verzweigte
Fäden, ferner diphtherieähnliche Stäbchen und coccenähnliche
Gebilde.
Zur Bestimmung der Pathogenität der gefundenen Pilze wurden
verschiedene Mengen üppig gediehener, junger Bouillonculturen an
Kaninchen und Meerschweinchen theils subculan, theils intraperitoneal,
llieils subdural verimpft. Letzterer Infectionsmodus wurde in Anlehnung
an die in neuerer Zeit, erschienenen Arbeiten über das strahlenpilzartige
Wachsthum des Tuberkelbacillus gewählt. Ausserdem wurden auch
mehrere Infectionsversuche an einem Kalb gemacht. In keinem der
angestellten Thierversuche gelang es, eine wirkliche Aktinomykose
zu erzeugen. Die Impfversuche an dem Kalb fielen vollständig
negativ aus; ebenso war bei Kaninchen und Meerschweinchen bei
subduraler und intraperilonealer Einimpfung das Resultat vollkommen
negativ; bei subcutaner Verimpfung zeigten sich die Pilze hingegen
wohl pathogen, bildeten aber, wie aus den folgenden Versuchs¬
protokollen hervorgeht, keine Aktinomycesdrusen im Thierkörper.
Kaninchen 118. Am 2. November 1899 wird dem Thiere in
eine Ilauttasche am Rücken ein mit einer Bouilloncultur getränktes
Fliesspapierstück eingebracht. Es entwickelt sich an der Impfstelle
ein deutliches Infiltrat, das am 9. November excidirt wurde. An
Schnittpräparaten sieht man in der Subcutis die Papierfäserchen und
zwischen diesen reichlich polynucleäre Leukocyten. Gegen die Cutis
ist dieser Herd durch ein Granulationsgewebe abgegrenzt, das in
den an den Abscess angrenzenden Schichten etwas dichter und mehr
streifig erscheint, in den peripheren Antheilen gefässreicher ist und
überaus reichlich eosinophile Zellen enthält, die sich, wenngleich in
bedeutend geringerer Zahl, auch in dem central gelegenen Herde
finden. In den nach Gram gefärbten Präparaten findet man zwischen
den polynucleären Leukocyten ohne bestimmte Anordnung einzeln
und in kleinen Gruppen liegend dieselben diphtherieähnlichen,
deutlich verzweigten Stäbchen mit dem verdickten Ende, die in den
Culturen gefunden wurden. Pilzdrusen waren nicht nachweisbar.
Am 13. November erhielt dasselbe Kaninchen subcutan 2 cm3
Bouilloncultur injicirt; am 13. December ging das Thier ein. Der
Obductionsbefund war im Allgemeinen negativ, nur entsprechend
der Injectionsstelle fand sich subcutan ein ziemlich grosser mit der
Haut und den Bauchdecken verwachsener Knoten. Bei der mikro¬
skopischen Untersuchung desselben fand sich central ein grosser,
unregelmässig begrenzter, aus dicht gedrängten Leukocyten be¬
stehender Abscess, in dessen Umgebung sich ein dichtes streifiges
Gewebe und daran anschliessend ein zellreiches Granulationsgewebe
befand. In diesem, sowie unmittelbar angrenzend an den central
gelegenen Abscess und zwischen den Zügen des streifigen Gewebes
fanden sich reichlich grosse Zellen mit einem relativ kleinen, con-
centrisch gelegenen, meist blassblau gefärbten Kern und einem
grossen, hellen Protoplasma, das feinste netzig-körnige, mit Eosin
blassrosa gefärbte Massen enthielt und dadurch ein wabenartiges
Aussehen bekam; bisweilen enthielt es auch grössere blau gefärbte
Körnchen. Neben diesen Zellen fanden sich reichlich eosinophile
Zellen im Granulationsgewebe. Bei der G r a m’schen Färbung sieht
man in dem Abscesse meist in grösseren Nestern und Zügen ange¬
ordnet, doch auch einzeln liegend und diffus vertheilt, blass gefärbte
Bacillen, deren Stäbchenform nur schwer zu erkennen ist, die viel¬
mehr nur eine Gruppe von Körnchen darstellen.
Kaninchen 2u8. Am 13. November 1899 subcutan injicirt mit
2 cm3 Bouilloncultur. Auftreten eines Infiltrates; am 25. November
Excision desselben.
Der excidirte, zwischen Haut und Bauchmusculatur gelegene
Tumor setzt sich bei mikroskopischer Untersuchung aus mehreren
Knoten zusammen. Die meisten derselben stellen Abscesse dar, die
von einem theilweise, namentlich in den peripheren Antheilen sehr
zellreichen Granulationsgewebe umgeben sind. Einzelne kleinere
Knötchen scheinen fast ausschliesslich aus einem reichlich cpilheloide
Zellen enthaltenden Granulationsgewebe zu bestehen. In dem die
Knötchen bildenden oder umgrenzenden Granulationsgewebefinden sich
ebenso wie in dem dieselben von einander trennenden Bindegewebe
der Cutis reichlich eosinophile Zellen. Vereinzelt finden sich auch
im Centrum kleiner Knötchen, dieselben fast ganz einnehmend,
homogene, hyaline Schollen oder verkalkte, unregelmässig geformte
Gebilde, in deren Umgebung sich Riesenzellen finden. Im Centrum
der Abscesse finden sich bei G ranf scher Färbung grössere Haufen
und Züge blau gefärbter, diphtheriebacillenähnlicher Stäbchen. In der
Umgebung solcher Haufen lassen sich die Bacterien noch eine
Strecke weit, diffus vertheilt, nach weisen und finden sich hier auch
reichlich Zellen, die mit diesen Stäbchen vollgestopft sind. In ein¬
zelnen Präparaten findet man die Bacterien überhaupt nur in Zellen,
nirgends frei.
Kaninchen 299. 2. November subcutane Injection von 2 cm 3
Bouilloncultur; am 13. November nochmalige Injection von 2 cm3
Cultur; am 31. December Exitus.
Entsprechend den Injectionsstellen fanden sich im Zellgewebe
Knoten, die mit der Bauchmusculatur verwachsen sind. Bei mikro¬
skopischer Untersuchung zeigten sie genau dasselbe Bild, wie es in
den früheren Versuchen beschrieben wurde, nur war in diesem
Falle der Reichthum des die Abscesse begrenzenden Granulations¬
gewebes an eosinophilen Zellen ganz besonders auffallend; dieselben
bildeten stellenweise grössere Nester oder Züge. Es fanden sich
ferner sowohl im Innern der Herde als in dem umgebenden Granu-
lationsgewebc nicht selten unregelmässig begrenzte, schollige,
homogene Massen, die sich 1 Heils mit Hämalaun intensiv blauschwarz,
theils mit Eosin roth färbten. Bei G r a nf scher Färbung findet man
im Inneren der Abscesse breite Züge von Bacterien, die sich aber
nur sehr schwach färbten, kaum mehr Stäbchenform erkennen
lassen, sondern eigentlich bloss Gruppen blauer Körnchen dar¬
stellen.
Genau der gleiche Befund ergab sich in einer Anzahl analoger
Versuche. Am zweiten oder dritten Tage nach der Injection trat ein
kleines Knötchen an der Injectionsstelle auf, das in den nächsten
Tagen an Grösse zunahm sich körnig anfühlte und bisweilen eine
ziemlich beträchtliche Grösse erreichte. Nach längerer Zeit trat dann
eine Rückbildung ein, so dass in einzelnen Fällen diese Knötchen
schliesslich vollkommen verschwanden. Bei der mikroskopischen
Untersuchung erwiesen sich diese Knoten als Abscesse, die in einem
Granulationsgewebe lagen. Auch hier war der Reichthum des
letzteren an eosinophilen Zellen auffallend. Im Inneren der Abscesse
liessen sich meist noch die injicirten Bacterien nachweisen, doch
nahmen sie in einzelnen Fällen, namentlich in älteren Knoten, die
G ramsche Färbung nur mehr schwach an; auch ihre Form war
dann nicht mehr deutlich oder gar nicht zu erkennen, während sie
gewöhnlich auch in diesen Abscessen das gleiche Aussehen darboten
wie in den Culturen. Niemals waren Aktinomycesdrusen nach¬
weisbar.
Fassen wir die hier mitgetheilten Untersuchungsergebnisse
zusammen, so wäre hervorzuheben, dass es in drei Fällen
typischer Aktinomykose des Menschen gelungen ist, einen
Pilz zu cultiviren, der fast ausschliesslich anaerob *) in Form
kleinerer und grösserer gelblicher Körnchen wächst, die den
im aktinomykotisch^n Eiter gefundenen gleichen, und in den
Culturen dieselben Formen zeigt, wie sie in den Aktinomyces¬
drusen gefunden werden, der bei Kaninchen und Meer¬
schweinchen bei subcutaner Injection Abscesse erzeugt, in
denen aber niemals typische Aktinomycesdrusen gefunden
wurden.
Er kann nicht als obligater Anaerobier bezeichnet werden, da er
auch in Bouillonculturen ohne Paraffinabschluss wächst.
550
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 24
Wenn wir die in der Literatur vorliegenden Angaben
über die Cultur des Aktinomycespilzes überblicken, so linden
sich bei den einzelnen Autoren mannigfache Widersprüche
bezüglich des morphologischen und biologischen Verhaltens
derselben.
Bostroem züchtete aus Aktinomycesdrusen einen Pilz,
der auf den verschiedenen gewöhnlichen Nährböden, insbeson¬
dere auf Blutserum wuchs, facultativ anaerob war, besser
aber aerob gedieh; die Culturen hatten eine gelbe oder gelb-
röthliche bis ziegelrothe Farbe. Alle Versuche, Aktinomyces¬
drusen auf Thiere zu überimpfen, fielen negativ aus, die
Drusen wurden wie Fremdkörper einfach eingekapselt. Aul
Grund seiner Erfahrungen und der anderer Autoren hält
Bostroem eine Uebertragung der Aktinomykose vom
Menschen auf das Thier nicht für möglich.
Die Angaben Bostroem’s fanden in den Arbeiten
mehrerer Autoren ihre Bestätigung. Ihnen stehen die Befunde
von Wolff und Israel gegenüber, die aus zwei Fällen
menschlicher Aktinomykose einen Pilz cultivirten, der haupt¬
sächlich anaerob wuchs und in dessen Culturen »die vor¬
herrschende und am meisten in die Augen springende Er¬
scheinung die Bildung isolirter Knötchen an der Oberfläche
des Agar« war. Aerob war das Wachsthum sehr schlecht;
desgleichen war in alkalischer Bouillon kein ergiebiges Wachs¬
thum zu beobachten, doch gediehen auch hier die anaeroben
Culturen besser als die aeroben. Auf Gelatine bei Zimmer¬
temperatur fand kein Wachsthum statt. In den Culturen sah
man »kurze und längere Stäbchen, solide oder gegliederte,
einfache oder diehotomisch getheilte Fäden von gradlinig-ge¬
strecktem oder wellig-gebogenem Verlauf, deutlich schrauben¬
artig gewundene Organismen und schliesslich coccenartige
Elemente«. Die Stäbchen waren meist gerade, öfter auch
kommaartig gebogen und »an einem Ende oft deutlich ange¬
schwollen, mit einer kugeligen oder olivenförmigen Anschwel¬
lung versehen«. Die Verfasser sahen aber auch Culturen, in
denen fast sämmtliche Stäbchen mit solchen Endanschwellungen
versehen waren, und berichten über Culturen, in denen auch
bei Fortimpfung durch Generationen stets nur solche Stäb¬
chen auftraten. Diese Stäbchen halten sie für die Grundform
der übrigen Wuchsformen des Aktinomycespilzes. Bei Culturen
in Eiern beobachteten sie sehr gute Entwicklung und zwar im
rohen Ei im Eiweiss und Eidotter, im gekochten Ei an der
Grenzschichte in Form weisser Pünktchen und Klümpchen
oder in Form einer trüben, nasenschleimartigen, bisweilen
auch schmierig-körnigen Masse. In allen Fällen hatten sich
die eingebrachten plumpen Kurzstäbchen zu prachtvollen
Fadennetzen entwickelt, doch fanden sich in der Mehrzahl der
untersuchten Eier neben den langen Fäden auch kurze Stäb¬
chen. Bei intraperitonealer Einbringung von Stückchen einer
Agarcultur bei Thieren fanden sich im Peritoneum bis bohnen¬
grosse Tumoren, die aus einer bindegewebigen Hülle und
einer in derselben gelegenen talgartigen Masse bestanden. In
letzterer fanden sich zwischen polynucleären Eiterkörperchen
und Fettkörnchenzellen Aktinomycescolonien mit einem Strahlen¬
kranz von Keulen an der Peripherie. Die Verfasser hatten an
23 Thieren Versuche angestellt, und zwar wurden 22 mit
Aktinomyoesculturen inficirt, einem Thiere wurden zur Con-
trole sterile Agarstücke in die Bauchhöhle gebracht. 18 Thiere
erhielten intraperitoneal Stücke von zerschnittenen Agar-
culturen, ein Thier eine in Eigelb gezüchtete Cultur, einem
Thiere wurde eine Aufschwemmung einer Agarcultur in Koch¬
salzlösung in die Leber, einem anderen eine solche Auf¬
schwemmung vermengt mit Staphylococcen gleichfalls in die
Leber eingespritzt und einem Thiere endlich wurden Stücke
eines durch Thierimpfung experimentell erzeugten Tumors in
die Bauchhöhle eingebracht. Keines der Thiere zeigte intra
vitam auffallende Krankheitserscheinungen, 18 Thiere wurden
nach Ablaut von vier bis sieben Wochen getödtet, vier blieben
am Leben und befanden sich noch sieben bis neun Monate
nach der Infection ganz wohl, doch waren bei ihnen Tumoren
durch die Bauchdecken durchzufühlen. Die intraperitonealen
Tumoren, die verschiedene Grösse auf wiesen, sassen theils der
Bauchwand, theils den Eingeweiden auf und enthielten mit
einer Ausnahme in allen Fällen typische Aktinomycesdrusen.
In vier von sechs untersuchten Fällen Hessen sich die Pilze
aus diesen Tumoren wieder herauszüchten, in zwei Fällen fiel
der Culturversuch negativ aus, doch wurde eines dieser Thiere
erst sieben Wochen nach der Infection getödtet, wobei sich
zeigte, dass die Aktinomycesdrusen spärlicher als gewöhnlich
vorhanden waren, während das zweite Thier mit einer zehn
Monate lang fortgezüchteten und inzwischen nicht durch den
Thierkörper passirten Cultur geimpft worden war. In einem
Falle wurde auch die Uebertragbarkeit der experimentell ge¬
wonnenen Tumoren auf das Thier mit positivem Ergebniss ge¬
prüft. Aus diesen Versuchen schliessen die Verfasser, dass sie
mit ihren Culturen thatsächlich eine Aktinomykose bei dem
Thiere erzeugen konnten.
Vergleichen wir unsere Befunde mit den Angaben
Wolf f’s und I s r a e l’s, so ergibt sich bezüglich des morpho¬
logischen und culturellen Verhaltens volle Uebereinstimmung,
während die Thier versuche im Vergleiche mit denen der ge¬
nannten Autoren negativ ausfielen, da es nie gelang, wirk¬
liche Aktinomykose bei dem Thiere zu erzeugen. Immerhin
glauben wir aber auf Grund des culturellen Verhaltens des
von uns gefundenen Pilzes denselben mit dem Wolff-
Israel’schen Aktinomyces indentificiren zu können, obschon
er im Thierkörper keine Aktinomycesdrusen bildet.
Die Angaben Wolffs und Israel’s fanden erst in
jüngster Zeit Bestätigung.
Aschoff züchtete aus einem Falle von primärer
Lungenaktinomykose einen Pilz, der anaerob am besten wuchs;
doch wurden bei weiterer Fortimpfung auch aerobe Culturen
erzielt. Mikroskopisch fanden sich in den Culturen die be¬
kannten verschiedenen Formen (Stäbchen und coccenähnliche
Gebilde). Vier Wochen alte Culturen der vierten Generation
wurden Kaninchen in die Bauchhöhle eingebracht; die Thiere
wurden nach drei Monaten getödtet. Bei einem derselben
fanden sich im Peritoneum, Mesenterium und der Leber drei
kleine, erbsengrosse Tumoren, in denen Aktinomycesdrusen
nicht nachweisbar waren. Bei dem zweiten Kauinchen wurden
an der Operationsstelle im Peritoneum drei etwas derbe,
linsengrosse Knoten gefunden, in deren Centrum Aktinomyces-
körner lagen, die jedoch keine Keulenformen in der Peripherie
erkennen Hessen, sondern nur eine leichte, zuweilen sehr
deutliche radiäre Streifung zeigten, während das Centrum von
einer feinkörnigen Masse erfüllt war.
Urban demonstrirte im Hamburger ärztlichen Vereine
Präparate und Culturen in einem Falle menschlicher Aktino-
mykose; in dem Sitzungsberichte findet sich nur die Angabe,
dass die vorgelegten Culturen denen von Wolff und Israel
glichen.
Levy erwähnt gelegentlich einer Mittheilung über
Befunde bei einem Falle von Lepra, dass er in fünf Fällen
von menschlicher Aktinomykose denselben Strahlenpilz wie
Wolff und Israel mit genau denselben Charakteren züch¬
tete und gibt eine Beschreibung der Formen desselben (län¬
gere Fäden mit einem keulenförmig verdickten und einem
peitschenschnurartig zulaufenden Ende, ferner theils schlanke,
theils kolbige oder hantelartige Stäbchen, Verzweigungen nur
selten). Sein Strahlenpilz unterschied sich von dem Wolffs
und Israel’s nur dadurch, dass er streng anaerob wuchs
und sich der aeroben Lebensweise gar nicht anbequemen
wollte.
In einer zweiten Mittheilung betont Levy nochmals die
besondere Bedeutung, die dem anaeroben Aktinomyces in der
Aetiologie der menschlichen Aktinomykose zukomme, und be¬
richtet über einen Befund von B. Lange und P. M a n a s s e,
die aus eiteriger Halsphlegmone eines Hundes einen Strahlen¬
pilz herauszüchteten, der gleichfalls mit dem W o 1 f f-I s r a e 1-
schen Aktinomyces weitgehende Aehnlichkeiten darbot; es war
jedoch auf den gewöhnlichen Nährböden die Fadenentwicklung
stärker ausgeprägt, hie und da an diesen Fäden Verzweigung
nachweisbar. Durch directe Ueberimpfung der sorgfältig ge¬
reinigten Körnchen in das Peritoneum und die Hoden von
gesunden Hunden gelang es, wiederum Aktinomykose zu er¬
zeugen.
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
551
Levy theilt in dieser Arbeit auch mit, dass eine Ueber-
führung des aeroben Aktinomyces in den anaeroben nicht
gelang. .
Bruns fand in einem Falle typischer Aktinomykose
einen Pilz, der wohl aerob besser als anaerob wuchs und der
überhaupt makroskopisch mehr dem B o s t ro e m’schen
Aktinomyces glich, mikroskopisch aber ganz dem Wolff-
Israel’schen entsprach. Er glaubt diesen Pilz mit keinem
der beiden vollständig identificiren zu können und Levy
möchte (in der schon erwähnten Arbeit) in ihm eine Zwischen¬
form zwischen beiden genannten Pilzen erblicken.
Auch Krause fand bei der Untersuchung eines Falles
von Aktinomykose einen Pilz, den er weder mit dem
Bo s t ro e m’schen, noch mit dem Wo 1 f f- I sr a e l’schen
Aktinomyces identificiren konnte, von dem er aber glaubt, dass
er dem Israe l’schen näherstehe.
Endlich wäre noch der Mittheilungen B e r e s t n e w’s in
Kürze zu gedenken.
Derselbe fand in einem Falle typischer Aktinomykose
(subperiostaler Unterkieferabscess) in dem Eiter weisslichgelbe
Körnchen von etwa Mohngrösse, die aus hie und da ver¬
zweigten, geraden und geschlängelten, nach Gram färbbaren
Fäden mit nach dieser Methode nicht gefärbten, kolben¬
förmigen Endauftreibungen bestanden. Aus denselben cultivirte
er einen Pilz, der anaerob besser als aerob gedieh, am besten
in Bouillon wuchs, wo sich auf dem Boden weissliche, un¬
durchsichtige, ziemlich brüchige Körnchen bildeten* die Bouillon
hatte einen unangenehmen Geruch. Auf Gelatine und Kar¬
toffeln wuchs er nicht. Für Kaninchen, Meerschweinchen und
weisse Mäuse war er nicht pathogen. Berestnew trennt
auf Grund seiner Befunde diesen Pilz von dem echten
Aktinomyces und will daher den Krankheitsfall, aus dem er
gezüchtet wurde, als Pseudoaktinomykose bezeichnen, wiewohl
er klinisch vollkommen dem typischen Bilde der echten Aktino¬
mykose entsprochen hatte.
In einer späteren Mittheilung berichtet derselbe Ver¬
fasser über das Ergebniss der Untersuchung eines aktinomyko-
tischen Tumors der Bauchdecken. In dem aus demselben ge¬
wonnenen Eiter fanden sich zahlreiche annähernd mohnkorn¬
grosse, meistentheils weisslichgelbe, hie und da aber grüne
Körner von ziemlich reicher Consistenz * es wurden von ihnen
aerobe und anaerobe Culturen angelegt. In den anaeroben
Culturen erfolgte wohl ein üppiges Wachsthum, doch war
dasselbe hauptsächlich auf Rechnung der Entwicklung eines
nach Gram sich nicht färbenden, langen Bacillus zu setzen,
der auch schon bei Untersuchung der Körnchen selbst ge¬
funden wurde und der bei weiterem Wachsthum in den Cul¬
turen die sich nach Gram färbenden Fäden, die den in den
Körnern nachgewiesenen entsprachen, verdrängte. In den
aeroben Culturen fand nur ein sehr spärliches Wachsthum
statt, indem sich daselbst kleine, feine, sandkornähnliche
Körnchen entwickelten; auch bei weiteren Uebertragungen er¬
folgte dasselbe langsame und spärliche Wachsthum, so dass
Thierversuche gar nicht ausgeführt werden konnten. Verfasser
hält auch diesen Pilz nicht für einen echten Aktinomyces,
weil keine Verzweigungen nachweisbar waren, die Colonien
nicht den für den echten Aktinomyces typischen strahligen
Bau hatten, keine Fortsätze in die Tiefe des Nährbodens
schickten und keine Luftfäden bildeten. Obwohl sein Tumor
»alle Merkmale einer aktinomykotischen Geschwulst« an sich
trug, so glaubt Verfasser doch, »die Identität der gezüchteten,
nach Gram färbbaren Mikrobien mit dem echten Strahlen¬
pilz, wie auch die echte Aktinomycesnatur des Tumors ver¬
neinen zu müssen und den letzteren blos als Pseudoaktino¬
mykose anerkennen zu können.
Dem gegenüber sei aber darauf hingewiesen, dass
Bruns in seiner schon citirten Arbeit den ersterwähnten
Pilz Berestn e w’s mit dem von ihm selbst gefundenen für
identisch hält und im Gegensatz zu diesem Autor meint, dass
man bei Vorhandensein von Körnchen, die strahlenartige Fäden
und Keulen aufweisen, in einem klinisch auch sonst als
Aktinomykose charakterisirten Falle von Strahlenpilzkrankheit
sprechen solle. »Wenn dann die bacteriologische Untersuchung
keinen der bisher bekannten Erreger ergibt, so geht einfach
daraus hervor, dass mehrere Mikrobien, mehrere Strahlenpilz-
species existiren, die ein und dasselbe Krankheitsbild hervor¬
zurufen in der Lage sind.«
In gleicher Weise zählt auch K r a us e den Berestnew-
schen Pseudoaktinomyces in dieselbe Gruppe, zu der der von
ihm und der von Bruns gezüchtete Pilz gehören, und zieht
eben aus diesen Untersuchungen die Folgerung, dass die
Aetiologie der Aktinomykose keine einheitliche sei.
Wie vorstehende Ausführungen zeigen, sind wir zu
dieser Schlussfolgerung heute thatsächlich vollauf berechtigt.
Der Bostroem’sche und der W o 1 f f - 1 s r a e l’sche Aktino¬
myces sind jedenfalls durch ihr culturelles und biologisches
Verhalten streng von einander geschieden, weshalb Kruse
in dem Flügge’schen Lehrbuch bereits vor längerer Zeit beide
Arten von einander getrennt hat. Bezüglich der übrigen hier er¬
wähnten Pilze mag es vorderhand noch unentschieden bleiben,
ob sie blos Varietäten einer der beiden genannten Arten
bilden oder ob auch ihnen eine selbstständigere Stellung zu¬
kommt. Jedenfalls muss aber heute bereits die
Thatsache anerkannt werden, dass der me n sch¬
lich en Aktinomy kose mindestens zwei, in ihrem
culturellen und biologischen Verhalten ver¬
schiedene Pilze zu Grunde liegen, die aber ein
klinisch und anatomisch vollkommen identi¬
sches Krankheitsbild erzeugen.
Literaturverzeichnis s.
Aschoff, Ein Fall von primärer Lungenaktinomykose. Berliner
klinische Wochenschrift. 1895, pag. 738.
Berestnew, Ueber Pseudoaktinomykose. Zeitschrift, für Hygiene.
Bd. XXIX, pag. 94.
Berestnew, Zur Aktinomykosefrage. Prager medicinische Wochen¬
schrift. 1899, pag. 619.
Bostroem, Untersuchungen über die Aktinomykose des Menschen.
Ziegler's Beiträge. Bd. IX, pag. 1.
B r u n s, Zur Morphologie des Aktinomyces. Centralblatt für Bac-
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Krause, Beitrag zur Kenntniss des Aktinomyces. Centralblatt für
Bacteriologie. Bd. XXVI, pag. 209.
Kruse, in F 1 ü g g e’s Mikroorganismen.
Levy, Ein neues, aus einem Falle von Lepra gezüchtetes Bac¬
terium u. s. w. Archiv für Hygiene. Bd. XXX, pag. 168.
Levy, Ueber die Aktinomycesgruppe (Aktinomyceten) und die ihr
verwandten Bacterien. Centralblatt für Bacteriologie. Bd. XXVI, pag. 1.
Urban, Demonstration in der biologischen Abtheilung des ärztlichen
Vereines zu Hamburg. Sitzung vom 10. November 1896. Münchener medi¬
cinische Wochenschrift. 1897, pag. 124.
Wolff und Israel, Ueber Reinculturen des Aktinomyces und
seine Uebertragbarkeit auf Thiere. Virchow’s Archiv. Bd. CXXVI, pag. 11.
II. Ein anaerober Streptococcus.
Von Dr. Carl Sternberg, Prosectursadjunet.
Nach einer in der Sitzung vom 4. Mai 1900 der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien gehaltenen Demonstration.
Im Folgenden sei in Kurzem ein Streptococcus be¬
schrieben, der aus dem Sputum eines Falles von Lungenaktino¬
mykose stammt.
In den Schleimflocken des Sputums fanden sich mässig
reichlich weisslichgelbe Körnchen, die sich bei mikroskopischer
Untersuchung als typische Aktinomycesdrusen erwiesen und
insbesonders schön die radiär angeordneten Keulen an der
Peripherie erkennen Hessen. Einige dieser Körnchen wurden
sorgfältig in sterilem Wasser gereinigt und anaerob verimpft;
jedoch missglückte die Cultur, indem es in diesem Falle nicht
gelang, den Aktinomycespilz zu cultiviren.
Es war wohl am nächsten Tage in den beschickten
Röhrchen ein sehr üppiges Wachsthum zu bemerken, indem
zahlreiche weisse oder weissgelbe Körnchen auftraten, die an
den ' folgenden Tagen an Grösse Zunahmen. Als aber nach
einigen Tagen Deckglaspräparate von solchen Culturen an¬
gefertigt wurden, zeigte sich, dass alle diese Körnchen aus einem
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Nr. 24
oo2
Gewirr ziemlich langer Ketten bestanden, die sich aus ungleich
grossen, runden oder ovalen, ziemlich plumpen, im Allgemeinen
an Streptococcen erinnernden, nach Gram intensiv färbbaren
Gebilden zusammensetzten.
Von den anaeroben Zuckeragarculturen wurden verschie¬
dene Nährböden beschickt:
Auf schrägem Agar bildete sich ein zarter, feiner Belag, der
aus ganz kleinen, distincten Colonien bestand.
In der Agarstichcultur erfolgte gleichfalls nur spärliches
Wachs thum.
Auf einer Zuckeragarplatte kam es zur Entwicklung kleinster,
kaum Stecknadelkopfgrösse erreichender Colonien, die im Mikroskop
dunkelbraun bis schwarz erschienen, eine unregelmässige Oberlläche
und eben solchen Rand hatten, von dem allenthalben wellige Aus¬
läufer sich in die Umgebung erstreckten.
Auf gewöhnlichen Agarplatten fand nur ein spärliches Wachs¬
thum in Form kleiner, im Mikroskop leicht wellig begrenzter, ge¬
körnter und peripher eine Andeutung einer radiären Streifung
zeigender Colonien statt.
Die Bouillon blieb klar und bekam einen spärlichen
Bodensatz
In Zuckerbouillon röhrchen bildete sich ein starker Boden¬
satz: kleine Körnchen schlugen sich auch an der Wand der Eprou¬
vette nieder.
In Gelatinestichculturen kam es bei Zimmertemperatur nur
im Stichcanal zur Entwicklung einer feinen, schleierartigen
Trübung, sowie zur Bildung kleiner, etwa stecknadelkopfgrosser
Körnchen.
Auf L o e f f 1 e r’schem Serum entstanden sehr kleine, höchstens
stecknadelkopfgrosse, dabei leicht erhabene und mässig feuchte
Colonien.
Die Kartoffel (ohne Sodazusatz, also schwach sauer) blieb ent¬
weder ganz unverändert, oder es traten auf ihrer Oberfläche sehr
kleine, weisse Körnchen auf. Durch Deckglaspräparate konnte man
sich aber überzeugen, dass überall auf der Kartoffel ein wenn auch
unsichtbares Wachsthum stattgefunden hatte. Auf Kartoffelculturen
blieben die Bacterien am längsten lebensfähig und konnten auch
nach vier Wochen noch mit Erfolg überimpft werden.
Ein üppiges Wachsthum erfolgte nur in anaeroben Zucker¬
agarstich- und Zuckerbouillonculturen. In ersteren bildeten sich allent¬
halben im Stich die schon beschriebenen Körnchen, in letzteren (unter
I ’araftinabschluss) entwickelten sich bereits nach einem Tage massen¬
haft kleine Körnchen, so dass der Boden des Kolbens bald mit einer
ziemlich hohen Schichte bedeckt war, von der an der Wand des
Kolbens zahlreiche Streifen nach aufwärts zogen; die einzelnen
Körnchen waren verschieden gross, erreichten Hirsekorngrösse und
darüber, bisweilen bildeten sich auch grössere Körner, die aus
mehreren kleineren bestanden.
Ueberimpfte man eine der aeroben Culturen anaerob auf einen
der beiden genannten Nährböden, so erfolgte stets wieder sehr reich¬
liches Wachsthum (von der Kartoffelcultur, wie erwähnt, auch noch
nach vier Wochen).
In Deckglaspräparaten, die von den verschiedenen Culturen an¬
gelegt wurden, fanden sich stets nur die beschriebenen Ketten; die¬
selben bestanden aus ungleich grossen, runden oder ovalen Coccen,
die im Allgemeinen etwa zwei- bis dreimal so gross waren wie ge¬
wöhnliche Streptococcen.
Einem Kaninchen wurden subcutan 1-5 cm3 einer Bouilloncultur
eingespritzt; an der Injectionsstelle entwickelte sich ein Knoten, der
sich bei mikroskopischer Untersuchung als ein von Granulations¬
gewebe umschlossener Abscess erwies. Von hier aus erstreckten sich
allenthalben Züge polynucleärer Leukocyten zwischen die Muskel¬
bündel der Bauchmusculatur hinein, dieselben auseinanderdrängend;
diese selbst waren hyalin und Hessen keine Querstreifung erkennen.
In dem umgebenden Granulationsgewebe fanden sich runde oder
oblonge, meist mit Eosin roth gefärbte schollige Gebilde. Im Inneren
des Abscesses fanden sich mehrere, quer- und längs getroffene, an¬
scheinend struclurlose, mit Eosin blassrosa gefärbte, streifenförmige
Herde, die sich als Nekrosen erwiesen und in denen bei Färbung
nach Gram Anhäufungen von Coccen sichtbar sind. Dieselben sind
jedoch nur in den Randparlien solcher Herde deutlich zu erkennen,
während in der Mitte nur mehr minder zahlreich blass gefärbte
Körnchen liegen. Wo die Bacterien deutlich erkennbar sind, ent¬
sprechen sie vollkommen den beschriebenen Formen.
Wie aus den Ergebnissen der Untersuchung liervorgeht.
dürfte der beschriebene Mikroorganismus wohl zu den Strepto¬
coccen zu zählen sein, allerdings eine besondere Art derselben
darstellen, die durch ihre Grösse und durch ihr vorzugsweise
anaerobes Wachsthum in Form kleinerer und grösserer weiss¬
gelber Körnchen ausgezeichnet ist.
Soweit ich aus der einschlägigen Literatur, insbesondere
aus der Zusammenstellung der verschiedenen Streptococcen in
Migula’s »System der Bacterien« (Bd. II) entnehmen kann,
dürfte der hier beschriebene Streptococcus mit keiner der
bekannten Arten sich vollkommen identificiren lassen.
Ueber das Baden Neugeborener.
Vou H. Kowarski.
Vortrag', gehalten in der raedicinisehen Gesellschaft, zu Wilna.
Bevor ich zu den eigenen Beobachtungen übergehe, erlaube
ich mir, eine kurze Uebersicht der Literatur, diese Frage be
treffend, zu geben.
Dohm1) schlug 1880 folgende Nabelschnurbehandlung
vor: Der Nabelschnurrest wird mit 2 V2°/o igei' Carbollösung
gereinigt, in Wratte gewickelt und mit Pflaster befestigt. Das
Kind wird nicht gebadet. Diese Methode wird auf Grund von
28 Beobachtungen vorgeschlagen.
Artemjeff1) 1887 lässt das Pflaster weg. Im Uebrigen
nach Dohm.
1888 rieth Lwow1) Bepuderung mittelst 1 Jodof.: 10 Bism.
subnitr. an. Das Kind wird gebadet. Aber schon 1892 übt
Lwow folgenden Modus: Nach dem ersten Bade wird der
Nabelschnurrest mittelst Watte getrocknet und in mit Gly¬
cerin getränkte Watte gewickelt. Das Kind wird nicht
gebadet.
Doktor2), angeregt durch Beobachtungen von E ross,
bei welchem 45% der Neugeborenen fieberten (davon circa
die Hälfte, d. h. 22%, in Folge von Infection der Nabel¬
schnur), unternahm eine Reihe von Untersuchungen mit ver¬
schiedenen Moditicationen der Nabelschnurbehandlung und kam
zur Ueberzeugung, dass die beste Methode folgende sei: Kurzer
Nabelrest, permanenter Verband, kein Bad. Es fieberten dabei
1 1 • 8 °/0 (davon 3'4% durch Nabelschnurinfection). Abfall des
Nabelstranges zwischen dritten und sechsten Tag bei 65*78%
der Fälle. Gewichtszunahme der Nichtgebadeten war grösser,
als die der Gebadeten (bei 51% statt 38*5% ; bei Nicht¬
gebadeten Gewichtszunahme durchschnittlich 75*0, bei Gebadeten
Gewichtsabnahme 1*2).
Keilmann3) untersuchte (im Jahre 1895) 400 Kinder
mit folgendem Resultat: Es fieberten fünf Kinder, alle von
den Gebadeten. Gewichtsverlust bei den Gebadeten 1% grösser
als bei Nichtgebadeten. Der Nabelschnurrest fällt bei Nicht¬
gebadeten später ab. Keilmann räth auf Grund dieser
Thatsachen an, die Kinder nicht zu baden; seiner Meinung
nach sei hiedurch die Frage über Behandlung der Nabelschnur
erledigt.
Gleicher Ansicht (nämlich die Kinder nicht zu baden)
ist auch Wain stein4), da nach ihm der Nabelschnurrest
bei solchen Kindern früher mumificirt.
Knapp 5) 1897 glaubt hauptsächlich das Bad bei neu¬
geborenen Mädchen weglassen zu müssen, um die Möglichkeit
einer Gonococceninfection zu vermeiden.
Auf Grund von Keilmann’s und D o k t o r’s Beob¬
achtungen rieth Cohn 6) 1897 nicht zu baden und Neu¬
mann7) in einem Vortrage: »Ueber ein Uebermass bei der
fl S. Wainstein im: Journal Akusclierstwa in schenskich Bolesnei.
1895, Bd. IX, pag. 846.
2) Archiv für Gynäkologie. 1894.
3) Deutsche medicinische Wochenschrift. 1895, Nr. 21.
4) 1. c.
5) Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. 1897.
6) W ratsch. 1897.
") Berliner klinische Wochenschrift. 1898, Nr. 1.
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
553
Säuglingsbehandlung« (1898) erklärt das Baden für schädlich,
ohne eigene Beobachtungen anzuführen.
Andere Forscher auf diesem Gebiete wollen nicht diesen
kategorischen Schluss von Keilmann und Neumann be¬
stätigen.
So fand Anthes8) bei 150 Beobachtungen folgende
Zahlen :
Wie viel Kinder
nahmen zu? und
mittlere Gewichts¬
zunahme in Gramm
bis zum 10. Tage
Wie viel Kinder
nahmen ab? und
mittlere Gewichts¬
abnahme in Gramm
bis zum 10. Tage
Gewicht ohne Vor- ;
änderung bei wie
vielen ?
Nabelschnur mit
üblem Geruch bei
wie vielen?
Fieber bei wie
vielen ?
Gebadet
31
34
1
1
8
(circa 132)
(circa 166)
Nicht gebadet
32
34
9
8
14
(circa 140)
(circa ll5)
Czerwenka9) beobachtete 400 Kinder mit folgendem
Resultat :
Ich gehe jetzt zu eigenen Beobachtungen, die von mir
im Hospital St. Jakob gemacht wurden, über.
Es wurde folgendermassen vorgegangen:
Alle Neugeborenen bekamen das erste Bad. Nabelsehnurrest
4 — 6 cm lang, wurde mit Gyps (nach Su tugin) bepudert, in
hygroskopische Watte gewickelt und mittelst Läppchen befestigt.
Darnach wurden die Kinder in zwei Gruppen getheilt: die gerad¬
zahligen wurden gebadet, die anderen nicht.
Die Kinder wurden von mir täglich zwischen 1 und 2 Uhr
Nachmittags untersucht und in recto gemessen. Dabei machte ich
Notizen auf besonderen Bogen über die Stunde der Geburt der
Kinder, Anfangsgewicht, Temperatur, Abfall der Nabelschnur und
etwaige Complicationen. Tägliche Gewichtsbestimmungen konnten
leider nicht gemacht werden. Ich untersuchte auf diese Weise
420 Kinder. Indem ich aus diesem Materiale Frühgeburten, nicht
genügend genaue Beobachtungen etc. ausschliesse, bleiben nun
3G3 Kinder übrig.
Ich theilte das Material in folgende zwei Gruppen:
I. Gruppe aus 176 Kindern, von denen ein Theil nicht
gebadet wurde, der andere jeden zweiten Tag.
II. Gruppe aus 187 Kindern, von denen ein Theil nicht
gebadet wurde, der andere täglich. Meine Resultate waren
folgende:
8) Berliner klinische Wochenschrift. Artikel von Schrader.
9) Wiener klinische Wochenschrift.. 1898, Nr 11.
Abfall der Nabelschnur in
Stunden (mittlerer Werth)
Spätester Abfall (in Stunden)
Frühester Abfall (in Stunden)
Procentmässiger Abfall
] vor 140 Stunden (zwischen
5 — 6 Tagen)
Fieberten
Complicationen
Ikterus in Procenten
G r
II
p p e I.
Gebadet
(85 Kinder)
111-56
231
49
81-2
1
(38-7°)
1 Herpes
50-6
Nicht gebadet
(91 Kinder)
111-88
209
50
84-6
2 (davon
ein Exitus
letalis)
1 Pemphigus
benign.
2 geringe
Blutungen.
2 Wechsel des
Verbandes
37-4
G r
u p p e
II.
Gebadet
(88 Kinder)
113-3
200
56
85-2
1
(38-5°
Dyspeps.)
—
63-9
Nicht gebadet
(99 Kinder)
115-3
184
57
79-8
1
(37-8°)
3mal Wechsel
des Verbandes
56-2
Ausführliche Tabelle des Nabelschnurabfalles
(in Stunde n).
o
o
cd
1
o
c-
1
o
CO
1
o
05
1
o
o
o
H
O
CG
o
CO
o
o
*o
o
CD
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[>•
o
CO
o
3
<3>
O
o
o
in Stunden
1
7
1
7
7
7
7
1 1'
7
1
7'
j
03
o
o
»o
o
CD
o
[>•
3
CO
o
3
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o
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o
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-s
1—1
O
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o
co
1—1
o
3
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CD
rQ
G
r
u
p
)
e
I.
Gebadet (85)
1
—
3
7
11
9
l!
10
10
7
5
2
5
—
—
2
1—209
1—231
Nicht gebadet (91)
—
3
1
7
6
16
17
9
9
9
2
6
3
1
1
—
1-203
G
r
u
P
P
e
II
Gebadet (88)
—
1
6
5
9
8
15
13
9
7
6
2
3
1
2
1
Nicht gebadet (99)
—
1
1
8
ii
9
15
13
9
12
7
6
5
1
1
—
Der Tod de3 Kindes in Gruppe I von den Nichtgebadeten
scheint durch Sepsis verursacht zu sein. Das Kind erkrankte
einen Tag nach dem Abfalle der Nabelschnur; Exitus letalis
im Laufe von zwei Tagen. Bei der Obduction fand man einen
Abscess in der rechten Lunge, der in die Pleurahöhle durch¬
brach; eiterig-hämorrhagisches Exsudat. Die Eingangspforte
wurde nicht constatirt.
Die Nichtgebadeten gaben also bessere Resultate nur in
Bezug auf Ikterus. Zeit des Nabelschnurabfalles spricht eher
zu Gunsten des Bades, obwohl der Unterschied gering ist. Es
fieberten in beiden Gruppen ungefähr eine gleiche Anzahl
(circa 1 %).
Um jetzt die Frage, ob Neugeborene gebadet, respective
nicht gebadet werden sollen, zu entscheiden, müssen wir
genauer die Motive der Gegner des Badens analysiren.
Diese sind folgende:
1. Das Nässen der Nabelschnur beim Baden hindert die
Mumification.
2. Es kann eine Nabelinfection eintreten.
. 3. Die Gebadeten fiebern häufiger.
4. Es ist beim Baden eine Infection durch Gonococcen
möglich beim Gebrauche eines Schwammes.
5. Schlechte Gewichtszunahme der Gebadeten.
554
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 24
Schon a priori konnte man behaupten, dass täglich ein¬
maliges, 10 — 15 Minuten dauerndes Benässen der Nabelschnur
mit nachfolgendem Abtrocknen kaum einen merkbaren Ein¬
fluss auf die Mumification haben wird, und meine Zahlen be¬
stätigen diese Proposition.
Sollte aber das Bad die Mumification hindern, so ist ja
doch fraglich, inwieferne solcher Erscheinung entgegenzuarbeiten
ist? Denn die mumificirende Nabelschnur gewährt ja einen ge¬
nügenden Schutz gegen jegliche Mikroben. Auch Keil mann
— Gegner des Bades — der eine Verlangsamung des Nabel¬
schnurabfalles beim Baden beobachtete, erklärt dieselbe als
wiinschenswerth, denn dies beweist nach Keilmann, dass bei
Gebadeten die Nabelschnur grösseren Insulten ausgesetzt ist.
Da aber eine granulirende Oberfläche eben so gut gegen Mi¬
kroben schützt, wie die mumificirende, so scheint der Streit
darüber ganz gleichgiltig zu sein. Uebrigens scheint mir die
Discussion über die Zeit des Nabelschnurabfalles auf Missver¬
ständnissen zu beruhen.
Es wurde nämlich die Zeit in zu allgemei nen Zügen be¬
zeichnet: so »zwischen drei bis sechs Tagen«, zwischen fünf
bis sechs Tagen« etc. Ich notirte die Zeit in Stunden und fand
ganz geringe Unterschiede bei beiden Methoden: 111*5 gegen
111*8 und 113*3 gegen 115*3.
Die Menge der Warton’schen Sülze und die Feuchtig¬
keit der Luft scheinen die Hauptrolle bei der Schnelligkeit
des Nabelschnurabfalles zu spielen. Das Gewicht des Kindes
und seine Entwicklung kommen viel weniger in Betracht.
Nehmen wir aber an, dass bei beiden Methoden der
Nabelschnurrest zu gleicher Zeit abfällt, und dass weder die
mumificirende Schnur, noch die granulirende Oberfläche gün¬
stige Bedingungen für die Infection bieten, so fällt eo ipso
damit die Frage über die Häufigkeit des Fiebers. Und in der
That ist die Zahl der Fiebernden bei jeglicher Methode, wenn
sie sorgfältig genug geübt wird, eine sehr geringe (circa 1%).
Die hohe Zahl der Fiebernden bei Erüss und Doktor
muss entweder durch irgend eine Endemie oder durch unge¬
nügende Antiseptik erklärt werden, da bei Eröss z. B. die
Nabelschnurbehandlung den Hebammen überlassen wurde.
Was die Frage über Infection mit Gonococcen anbetrifft,
so muss doch bewiesen werden, dass dieselben sich auch nach
dem ersten Bade auf dem Neugeborenen in lebensfähigem Zu¬
stande befinden (was sehr zu bezweifeln ist), und das erste
Bad wird ja auch von den Gegnern des Bades empfohlen.
Sollten aber auch einzelne Coccen auf der Hautoberfläche des
Kindes bleiben (der Beweis ist noch nicht erbracht worden),
so ist ja kaum anzunehmen, dass schon ein Benässen der Con¬
junctiva mit dem Gonococcen enthaltenden Wasser genügt,
um eine Infection hervorzurufen. Beim Gebrauche desselben
Schwammes für den Körper und das Gesicht können vielleicht
Gonococcen in die Bindehaut eingerieben werden, dasselbe
Unglück wird aber schon ehereinem Niehtgebadeten passiren,
da ja derselbe ebenfalls der Reinheit halber abgewischt werden
muss, und so ein Schwamm enthält jedenfalls Gonococcen in
concentrirterem Zustande, als der beim Baden gebrauchte. Es
ist eher anzunehmen, dass wenn eine Gonoeoceeninfection ein-
tritt, dieselbe durch die Unvorsichtigkeit von Seiten der Mutter
hervorgerufen wurde. Uebrigens könnte man vorsichtshalber
die Augen des Kindes nach dem Bade mit gekochtem Wasser
abspülen.
Was die Gewichtszunahme anbetrifft, so fehlen mir eigene
Beobachtungen. Die Zahlen von Doktor und Keil mann
stimmen aber nicht mit denen von An t lies und Czer-
w e n k a.
Ueber den Ikterus sind weitere Beobachtungen nöthig,
umso mehr, als Fuchs und Andere zu entgegengesetzter
Ansicht gelangt sind, obwohl jene an geringerem Materiale
arbeiteten, als ich.
Wir kommen also zum Schlüsse, dass die bisher er¬
brachten Beweise gegen das Bad lange nicht so stichhaltig
sind, dass wir den alten Usus, Kinder zu baden, über Bord
werfen sollten.
Dem gegenüber sprechen rein praktische Gründe für das
Bad. Wir sahen aus der Tabelle, dass in fünf Fällen die
Watte bei den Niehtgebadeten gewechselt wurde, da dieselbe
stark durchnässt, ja sogar übelriechend war. In mehreren von
mir nicht notirten Fällen, fand ich die Watte nass, was ja
in Folge des unvermeidlichen Benässens durch Urin etc. selbst¬
verständlich erscheint. (Vielleicht ist der — zwar geringe —
Unterschied in der Zeit des Nabelschnurabfalles dadurch zu
erklären, dass die nasse Watte eine feuchte, die Mumification
hindernde Atlnnosphäre um die Nabelschnur schafft.) In Privat¬
häusern bei wenig Bemittelten, wo immer Mangel an Warte¬
personal zu erwarten ist, muss eo ipso eine solche Durch-
nässung öfters stattfinden. Es ist wohl kaum zu bestreiten,
dass diese Beschmutzung von jeglichem Standpunkte aus zu
vermeiden ist. Währenddessen dürften Hebammen, denen in
der Klinik gelehrt worden ist, die Kinder nicht zu baden,
diese Art der Kinderbeliandlung in das Publicum bringen,
und sie wird besonderen Beifall bei der ärmeren Classe finden,
da dabei das Kind weniger Sorgfalt beansprucht. Die Ab¬
waschungen, die bestimmte Uebung fordern, werden sicherlich
entweder schlecht oder gar nicht geübt werden. Das letzte ist
wahrscheinlicher, da das weniger intelligente Publicum ja
nicht im Stande ist, die Gründe zu begreifen, warum ein Kind
nicht gebadet werden soll.
Wain stein und Andere warnten vor der Gefahr der
Ansteckung, da das Kind in demselben Bade gebadet wird,
wo schmutzige Wäsche gewaschen, kranke Wöchnerinnen ge¬
badet werden etc. Würde nicht viel richtiger sein, diesem
Uebel entgegenzuarbeiten indem man vernünftige Ansichten
über Reinlichkeit, richtige Pflege der Wöchnerinnen, der
Neugeborenen, speciell des Nabelstranges zu verbreiten sich
bemüht? Derartige Lehren dürften vom Publicum sehr leicht
verstanden werden. Vom Standpunkte der Aseptik und Rein¬
lichkeit ist die Popularisation der Idee des Nichtbadens als
Rückschritt zu betrachten.
Und da, wie wir sahen, keine schlagenden Beweise gegen
das Baden bis jetzt vorliegen, so sollten wir, nach meiner
Ansicht, die Kinder auch jetzt, wie früher, ruhig täglich
baden.
REFERATE.
I. Die eiterigen Erkrankungen des Schläfebeines.
Von Prof. Dr. Otto Körner.
Wiesbaden, J. F. Bergman n.
II. Ueber Gewerbekrankheiten des Ohres.
Von Dr. E. Winkler in Bremen.
Ueber Fremdkörper (Kupfermünzen) im Oesophagus mit
Radiographie.
Von Prof. Dr. L. Bayer in Brüssel.
Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Nasen-, Ohren-,
Mund- und Halskrankbeiten. In Rücksicht auf allgemeine ärztliche Gesichts¬
punkte herausgegeben von Dr. Maximilian Bresgen in Wies¬
baden.
III. Band, Heft 9 und 10.
Halle a. S., Karl M a r h o 1 d.
III. Zur vergleichenden Anatomie und Physiologie des
Gleichgewichtes und Gehörorganes.
Von Dr. Rudolf Panze.
Klinische Voi träge aus dem Gebiete der Otologie und Pharyngo-Rhinologie.
Herausgegeben von Docent Dr. Haug in München.
III. Band, Heft 6.
Jena, Gustav Fischer.
IV. Die acute Mittelohrentzündung und ihre Behandlung.
Von Dr. Gustav Brühl in Berlin.
Berliner Klinik, Heft 198.
F i s c h e r’s medicinische Buchhandlung II. Kornfeld.
I. Als erster Band eines voraussichtlich sehr umfangreichen
Werkes: »Die Ohrenheilkunde der Gegenwart und ihre Grenzgebiete
in Einzeldarstellungen«, herausgegeben von Dr. 0 1 1 o Körner, er¬
scheint diese über 150 Seiten starke Arbeit als sehr freudig zu
begrüssende Einleitung. Die Chirurgie, insbesondere die Operations¬
methoden zur Beseitigung chronischer Ohr- und Schläfebein-
eiterungen haben durch Zaufal und Stacke in den letzten
Jahren einen solch bedeutenden Aufschwung genommen, dass eine
neue, svstematische Bearbeitung der eiterigen Erkrankungen des
Schläfeheines sich als dringend nothwendig ergab. Das vorliegende,
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
555
geradezu meisterhaft durchgeführte Werk ist eine aut Durcharbeitung
von mehr als 300 sorgfältig geführten Krankengeschichten be¬
gründete Darstellung der eigenen klinischen Erfahrungen des Ver¬
fassers. Sie zerfällt in einen kleinen allgemeinen Theil, der die
Wechselbeziehungen zwischen den Krankheiten des Öhres und des
Schläfebeines behandelt, einige anatomische Vormerkungen, die für
das Verständniss der Entstehung und Verbreitung von Krankheiten
im Schläfebein wichtig sind, wiedergibt und Allgemeines über die
Operationen am Warzenfortsatz und über die Technik derselben
ausführt. Im speciellen Theile werden die Erkrankungen des
Schläfebeines durch die gewöhnlichen Eitercoccen eingetheilt a) in
die acute Ostitis und Osteomyelitis, b) die chronische Ostitis und
c) die Periostitis des Schläfebeines.
Der Tuberculose des Schläfebeines wird mit Recht ein grosser
Rahmen eingeräumt, nur mit wenigen Worten das äusserst seltene
Vorkommniss der Aktinomykose des Schläfebeines berührt, und im
Anhänge werden einige differentialdiangostische Bemerkungen, die
bösartigen Geschwülste des Schläfebeines und hysterischen Er¬
scheinungen, die eine Erkrankung des Schläfebeines Vortäuschen,
wiedergegeben. Die Wichtigkeit und ganz ausgezeichnete Güte des
Buches veranlassen mich, Einiges aus demselben an dieser Stelle
zu erwähnen. Die Krankheiten keines anderen Knochens bringen
so viele und so verschiedenartige Gefahren für das Leben des Be¬
fallenen, wie die des Schläfebeines. Mit zwei seiner grössten Flächen
liegt es dem Schläfelappen des Grosshirns und dem Kleinhirn an;
die Blutleiter der harten Hirnhaut umgeben es allseitig. Der Nervus
facialis und die Carotis durchqueren es auf langer Bahn. Die viel¬
fachen Beziehungen der Krankheiten des Schläfebeines zu den
Krankheiten benachbarter Theile und des ganzen Körpers zwingen
den Arzt in jedem Falle, sorgfältig auf den gesammten Zustand
des Kranken, nicht nur auf das befallene Ohr und den befallenen
Knochen zu achten. Denn nicht nur die Folgeerkrankungen und
Complicationen müssen frühzeitig erkannt werden, auch die Er¬
krankung im Knochen selbst verräth sich oft früher durch Aen-
derungen im Allgemeinbefinden als durch örtliche Zeichen.
Jede acute Mittelohrentzündung kann in eine Erkrankung des
Schläfebeines übergehen und lebensgefährliche Complicationen
herbeiführen. Darum muss sie von Beginn an als eine ernste Er¬
krankung aufgefasst und von einem sachverständigen Arzte behandelt
werden. Wer den Spontandurchbruch des Trommelfelles abwartet,
quält und gefährdet den Kranken. — Ausserordentlich interessant ist
die Zusammenfassung der Ansichten über das Cholesteatom, das er
in zwei von einander vollkommen getrennte Erkrankungen scheidet.
Die eine ist die Otitis media desquamativa, das Pseudo-Cholesteatom
die zweite ist das wahre Cholesteatom des Schläfebeines. Bei
jedem mit Eiterung complicirten Cholesteatom im Warzenfort¬
satze ist die Radicaloperation erforderlich und darl nicht lange
aufgeschoben werden, auch wenn kein gefahrdrohendes Symptom
besteht. — Die Tuberculose des Schläfebeines theilt Verlasser
ein in: 1. Tuberculose Ohr- und Schädelbeineiterungen im End-
stadium der Tuberculose; 2. tuberculose Ohr- und Schläfebein¬
eiterung bei stationärer Lungentuberculose; 3. tuberculose Ohr- und
Schläfebeineiterung, der Lungentuberculose vorangehend; 4. atypische
tuberculose Ohreiterung mit Tuberculose des Schläfebeines. 5. tuber¬
culose Infection der Paukenhöhle und des Schläfebeines auf dem
Wege der Tuben, von einer bestehenden Nasentuberculose aus¬
gehend; 6. Tuberculose des Schläfenbeines durch Infection auf dem
Wege der Blutbahn; 7. Tumorform der Tuberculose im Ohr und
Schläfebein. Ohne viele Worte zu machen, sucht er durch markante
Krankengeschichten das Wesen dieser verschiedenen Bilder zu
skizziren. Wenn wir auch in manchen Einzelheiten nicht überein¬
zustimmen vermögen, wie in der Einschränkung der Indication zur
Radicaloperation gegenüber den von Stacke und anderen Au¬
toren aufgestellten, so erscheint dennoch dieses Buch, als ganz
ausserordentlich empfehlenswerthes jedem Arzt, der sich nur halb¬
wegs für die moderne chirurgische Otiatrie interessirt.
*
II. Der ersten Abhandlung ist nicht die gleiche systematische
Uebersicht der bereits in diesem Blatte erst vor kurzer Zeit be¬
sprochenen gleichen Zusammenstellung Dr. K a h n’s nachzurühmen.
Dagegen ist die Ausführlichkeit der Behandlung dieses Themas
eine grössere. Bei den in Gewerbetriebe vorkommenden Ohrafiec-
tionen ist die Erkältung als ätiologisches Moment nicht zu unter¬
schätzen. Eine Reihe von Berufen ist durch ihre Thätigkeit im
Freien allen Witterungseinflüssen preisgegeben. Grosser Hitze und
strahlender Wärme setzen sich namentlich die Arbeiter der Hoch¬
öfen, Heizer und Maschinisten an Dampfmaschinen, die Schmelzer,
Giesser und Schmiede aus. Unter deft Witterungseinflüssen haben
durch die Arbeit im Freien alle Bauhandwerker, Maurer, Zimmer¬
leute etc., Fischer, Jäger u. s. w. zu leiden. Einen weiteren ge¬
sundheitlichen Nachtheil im Gewerbebetriebe bringt die
Staubbelästigung; besonders schädlich ist die ätzende Eigenschaft
gewisser Staubarten, wie sie in Kalk- und Cementmühlen oder in
Chromfabriken sich entwickeln.
Die heftigen plötzlichen oder die nicht gerade sehr intensiven,
aber doch längere Zeit dauernden Schalleinwirkungen greifen den
schallempfindenden Apparat des Gehörorganes unmittelbar an.
Endlich spielen in der Aetiologie der professionellen Ohren¬
erkrankungen die schnell stattfindenden Veränderungen des
Atmosphärendruckes oder längerer Aufenthalt unter erhöhtem
Atmosphärendrucke eine Rolle.
Am äusseren Ohre handelt es sich vorzugsweise um chroni¬
sche Ekzeme oder Furunculosis des äusseren Gehörganges.
Während aber die Gewerbekrankheiten des äusseren Ohres in der
Regel durch eine geeignete Therapie zur Heilung gebracht werden
können, handelt es sich bei den professionellen Erkrankungen des
Mittelohres und des schallempfindenden Apparates stets um be¬
trächtliche dauernde Herabsetzungen des Hörvermögens, die nur
wenig besserungsfähig sind. Die stärksten Schallreize treffen das
Gehörorgan der in der metallurgischen Industrie beschäftigten Ar¬
beiter, die zur Kesselarbeitertaubheit führen. Nebst der I aubheit
der Kesselschmiede ist von den professionellen Ohrenerkrankungen
die der Maschinisten im Eisenbahnbetriebe die häufigste. Im zweiten
Theile der Arbeit werden wir mit den allgemeinen Schädigungen
und insbesondere denen des Ohres bei den Glasarbeitern, lauchein,
Caissonarbeitern und Diamantenschleifern durch ausführliche Schil¬
derung der Beschäftigungsart vertraut.
Prof. Bayer berichtet über zwei Fälle von Kupfermünzen
im Oesophagus, von denen die eine mittelst Münzenfüngers, die
andere per vias naturales zu Tage befördert wurde.
*
111. Das auffallende Moment, dass die vergleichende Anatomie
und Physiologie unter die »Klinischen Vorträge« aufgenommen
ist, erklärt der Herausgeber damit, dass, da von manchen Ohren¬
ärzten noch immer an der Bedeutung der einzelnen Theile des
inneren Ohres für das Gleichgewicht und das Hörvermögen ge-
zweifelt wird, andererseits der Schwindel bei den verschiedensten
Ohrenkrankheiten eine so hervorragende Rolle spielt, es auch Inr
den praktischen Arzt wichtig sei, sich ein unabhängiges Urtheil über das
Gleichgewichts- und Gehörorgan aus der vergleichenden Anatomie
und Physiologie zu bilden. Während der Thierversuch aul den
meisten Gebieten der Physiologie zu grundlegenden Kenntnissen
und andauernden Fortschritten verholfen hat, sind in dei Leine
von den Verrichtungen der Sinnesorgane, besonders des Gehüi-
organes viele Forscher der Versuchung unterlegen, menschliche
Empfindungen oder die Aeusserungen von solchen mit ähnlichen
Erscheinungen am Thiere für eines zu erachten. Besonders er¬
schwerend war und ist für die Erkenntniss der Verrichtungen des
Gehörorganes die bei den meisten Thieren tief versteckte Lage in
dem härtesten Knochen des Körpers, dazu in der gefährlichen
Nähe lebenswichtiger Organe, so dass eine reine Ausschaltung
einzelner Theile ohne Nebenverletzung des ganzen oder von Nach¬
barorganen zu den allergrössten Schwierigkeiten gehört. Es war
Breuer, welcher zum ersten Male die wunderbaren Erscheinungen
bei Eingriffen an bestimmten Thcilen des inneren Ohres in einer
so scharfen Weise nach physikalischen Gesetzen erklärte
Er stellte für alle Versuche folgende Sätze aut: Druck¬
erhöhung in der Endolymphe ruft in allen Canalen Bewegungen
des Kopfes in der Ebene des betroffenen Ganges und ' in der
Richtung vom Canal zur Ampulle hervor. Mechanische Insul lining
ruft an allen Canälen Bewegungen in der Ebene des betrollem en
Ganges - und nach der anderen Seite hervor Ist dabei der
häutige Gang eröffnet worden, so wird die Richtung der Be¬
wegungen nach kurzer Zeit umgekehrt und sie erfolgen nach
der verletzten Seite. Ist der Vestibularapparat der anderen beite
exstirpirt, so bleibt diese Umkehrung aus, die Bewegungen er-
556
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 24
folgen nur nach der anderen, der Exstirpationsseite. — Eine
werthvolle Ergänzung des Thierversuches bilden die Fälle, wo
hei der Freilegung der Miltelohrräume heim Menschen cariöse
Lücken im horizontalen Bogengang gefunden wurden. Beim Tam-
poniren oder heim Sondendrhck auf diese Stellen treten nystagmus-
ähnliche Bewegungen der Augen und Drehschwindel derart auf,
dass sich das Gesichtsfeld in wagrechter Ebene zu bewegen
scheint.
Der weitaus grössere Abschnitt dieser ausserordentlich fleissi-
gen Arbeit bietet rein specialistisches Interesse und soll hier nicht
weiter besprochen werden.
*
IV. Die acute Mittelohrentzündung beansprucht das besondere
ärztliche Interesse, weil gerade die Erkrankung des Ohres bei recht¬
zeitigem Erkennen und sachgemässer Behandlung ein therapeutisch
dankbares Feld eröffnet. Von der frühen Diagnose der acuten
Mittelohrentzündung kann die Lebenszukunft des Erkrankten ab-
hängen; ihr Uebersehen kann Taubheit und Tod herbeiführen.
Die im Kindesalter durch Mittelohrentzündungen hervor¬
gerufene Schwerhörigkeit oder Taubheit macht die Kinder aus ge¬
sunden Individuen zu Taubstummen und zahlreiche Insassen der
Taubstummenanstalten sind die unglücklichen Zeugen einer zu
späten Diagnose und Therapie.
Es gibt auch heute noch genug Menschen, welche vor einem
Ohrenärzte warnen. Jeder, der solchen Unverstand gewährt, ladet
einen Theil von Schuld auf sich. Eine unerlässliche Forderung ist
es, dass der Arzt das erkrankte Ohr eines Kindes nicht nur genau
mit Ohrentrichter und Reflector untersucht, wenn das Kind Ohren¬
schmerzen hat, sondern, dass er den Verlauf der Ohrenkrankheit
von Anfang an bis zur vollendeten Heilung verfolgt, aber nicht den
Eltern den Trost gibt, mit den Jahren werde das Ohrenleiden
schon gut werden. Jeder Arzt muss sich die Kenntnisse, welche
zur Untersuchung und Beurtheilung des Ohres nöthig sind, ver¬
schaffen und sich nicht durch das Fehlen der Ohrenheilkunde
unter den Examensfächern über die Wichtigkeit der Ohrenkrank¬
heiten hinwegtäuschen. Die acuten Mittelohrentzündungen sind eine
häufige Erkrankung des Ohres. Bis 78% finden sie sich bei ins
Krankenhaus kommenden Säuglingen.
Wenn aber Verfasser mit der Vornahme der Paracentese bis
zum dritten Tage wartet, sobald trotz Antiphlogose Schmerzen be¬
stehen und Fieber vorhanden ist, so dünkt mir dieser Zeitraum
doch zu lange, wenn durch einen kleinen operativen Eingriff sofort
abgeholfen werden kann; sagt doch Dr. Brühl selbst: »eine zu
früh aseptisch ausgeführte Paracentese schadet nie«.
Dr. Arthur Singer.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
159. Die Bedeutung der Tu berculose als Ur¬
sache des vorzeitigen Todes bei erwachsenen Be¬
wohnern des Deutschen Reiches. Von Dr. R a h t s
(Berlin). Es ist ist weniger von Bedeutung festzustellen, wie viele
Personen überhaupt von tausend Lebenden an einer Krankheit ge¬
storben sind, als vielmehr zu beobachten, wie viele Menschen an
einer Krankheit vorzeitig, in voller Lebenskraft, einer bestimmten
Krankheit zum Opfer gefallen sind. In dieser Richtung betrachtet,
ergeben sich ganz andere Folgerungen, als sie aus den sonst üb¬
lichen Statistiken gezogen werden. Nach einem kürzlich veröffent¬
lichten Jahresberichte starben in Preussen an Tuberculose: in den
Landgemeinden 19.636, in den Stadtgemeinden 18.234 Personen
männlichen Geschlechtes; es hätte demnach die Tuberculose unter
der Landbevölkerung mehr Opfer gefordert, als unter der männlichen
Stadtbevölkerung. Das erscheint jedoch in einem anderen Lichte,
wenn man das Lebensalter der an Schwindsucht Gestorbenen ver¬
gleicht. Im lebenskräftigsten Alter von 20—50 Jahren
waren der Tuberculose erlegen: in den Landgemeinden 8977
(45-7%), in den Sladtgemeinden 10.499 (57'6%) der Gesammt-
zahl. Die I uberculose als Todesursache hat demnach in den Städten
eine wesentlich andere Bedeutung, als auf dem Lande; in den
Städten rafft sie vorwiegend Leute in der vollen Erwerbsthätigkeit
dahin, am Lande mehr solche, welche schon über 50 all geworden.
Aehnliche Unterschiede ergeben sich, wenn man die verschiedenen
Staaten des Deutschen Reiches in Vergleich zieht. Bei dieser Be¬
trachtungsweise corrigirt sich auch die Angabe, dass die Tuber-
culosesterbefälle von 1893 — 1898 sich stetig verringert haben. Die
Statistik zeigt nämlich, dass die Zahl der überhaupt im mittleren
Lebensalter Gestorbenen eine kleinere geworden ist, dass die Be¬
deutung der Tuberculose als Todesursache in den letzten Jahren
noch keineswegs geringer, sondern etwas grösser als einige Jahre
vorher gewesen, d. h. trotz der scheinbaren Abnahme der Schwind¬
suchtstodesfälle war die Tuberculose als Ursache des vor Ablauf
von 60 Lebensjahren zu erwartenden Todes erwachsener Bewohner
des Reiches im Jahre 1897 mindestens ebenso wie im Jahre 1893
zu fürchten. — (Zeitschrift für Tuberculose und Heilstättenwesen.
Bd. 1, lieft 1.)
*
160. Die Tröpfcheninfection der Tuberculose
und ihre Verhütung. Von Prof. B. Fraenkel (Berlin).
Masken von Mull, welche von Schwindsüchtigen durch 24 Stunden
getragen worden waren, wurden selbst dann, wenn sie sich makro¬
skopisch als ganz rein erwiesen, mit Tuberkelbacillen inficirt ge¬
funden. Fraenkel befürwortet daher, die Masken überall da ein¬
zuführen, wo Schwindsüchtige mit anderen Menschen in demselben
Raume arbeiten oder schlafen, ohne mehr wie 1 m voneinander
getrennt zu sein. Unter denselben Voraussetzungen empfiehlt es
sich auch, in Krankenzimmern oder Liegehallen die einzelnen Lager¬
stellen durch leicht desinficirbare Schirme aus Segeltuch vonein¬
ander zu sondern. — (Zeitschrift für Tuberculose und Heilstätten¬
wesen. Bd. I, Heft 1.)
*
161. (Aus der medicinischen Klinik zu Strassburg.) Sen¬
sorielle Krisen bei Tabes dorsalis. Von Dr. Umber
(Berlin). Die bei Tabes anfallsweise auftretenden Reizerscheinungen
der motorischen und sensiblen Sphäre, unter diesen besonders
wieder die sogenannten Crises gastriques, sind allgemein bekannt,
weniger jedoch die Störungen im Bereiche der Geruch- und Ge¬
schmacknerven. Solche fanden sich bei einem Tabiker, welcher
sich 1877 eine Syphilisinfection zugezogen. 1884 trat die erste
Crise gastrique auf: plötzlich einsetzende heftige reissende Krämpfe
im Magen unter starkem Erbrechen; ausserdem in den folgenden
Jahren geradezu abundante Pollutionen. Das Interessante lag jedoch
darin, dass programmässig im Anschlüsse an die Magenkrisen, so¬
bald der Patient erschöpft in einen Halbschlummer fiel, jedes Mal
Schwelkmgsgefühl im Halse und Schlunde mit profuser Speichel-
secretion, ferner eine scheussliche Geruchs- und Geschmacksempfin¬
dung auftrat, die sofort schwanden, sobald der Patient aus dem
Halbschlaf erwacht war und sich über seine Umgebung orientirt
hatte. — (Zeitschrift für klinische Medicin. Bd. XXXIX, Heft 5
und 6.)
*
162. ExperimentellerBeitrag zur Wirkung und
Nachwirkung von Schilddrüsengift. Von Dr. Porges
(Marienbad). Bei einem Hunde, der mit Schilddrüsen gefüttert wurde,
zeigte sich neben Fettverlust und Eiweisszerfall noch ein weiteres
Vergiftungssymptom, nämlich eine recht beträchtliche, bis zu 5%
gehende Ausscheidung von Zucker (Lävulose), welche die Schild-
drüsenverfütterung noch um eine Reihe von Tagen überdauerte. Da
bereits auch beim Menschen Glykosurie während der Schilddrüsen¬
therapie beschrieben wurde, bildet dieser Umstand ein neues, zur
Vorsicht mahnendes Moment bei der Behandlung der Fettleibigkeit
mit Schilddrüsenpräparaten. — (Berliner klinische Wochenschrift.
1900, Nr. 14.)
*
163. Ueber einen Fall von Aneurysma der
Aorta descendens mit merkwürdigen Krankheitserscheinungen
berichtete Lenzmann (Duisburg) in der Vereinigung der west¬
deutschen Hals- und Ohrenärzte. Ein 43jähriger Gymnasiallehrer
war 1894 unter den Symptomen eines Ulcus ventriculi erkrankt:
Heftige Schmerzen, besonders nach dem Essen, Schmerz bei Druck
in der Pylorusgegend, Hyperacidität, Erbrechen. Theilweise Besserung
in einer Heilanstalt. 1897 entwickelte sich ein diffuser Bronchial-
katarrh, in der Folgezeit ein hochgradiges Lungenemphysem, eine
immer sich steigernde Alhenmoth mit deutlichem Stridor bei Ab¬
schwächung des linksseitigen Athmungsgeräusches. Man dachte an
eine Stenosirung des linken Bronchus durch ein Sarkom oder tuber-
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
557
culös erkrankte Bronchialdrüsen. Die Radioskopie hatte im Stich
gelassen. Bei fortwährend sich steigernder Athemnoth ward auch
rechts das Athmungsgeräusch schwächer, in letzterer Zeit gesellten
sich dazu Erstickungsanfälle beim Schlucken eines festen Bissens,
sowie blitzartig auftretende Schmerzen in den Beinen. Der Tod
erfolgte unter den Symptomen der Erstickung. Die Obduction ergab
ein bis 12 cm im Durchmesser haltendes Aneurysma der Aorta
descendens, das zwischen Herz und Wirbelsäule eingeklemmt war.
Der Magen zeigte keine Veränderung, der rechte und noch mehr
der linke Bronchus waren bedeutend comprimirt, der linke Vagus
zwischen Bronchus und Geschwulst ganz zusammengedrückt. Die
Magenschmerzen sowie die Hyperacidität erklären sich aus dem
Reize, den der noch kleine Tumor auf den linken Vagus anfangs
ausühte, das Zurückgehen der Magenbeschwerden durch die allmälig
eintretende Lähmung und Functionsuntüchtigkeit des Nerven. Der
Bronchialkatarrh war ein Stauungskatarrh in Folge der Compression
der Lungenvenen, das Emphysem wird durch die Verengerung der
Bronchien erklärt. Die Erstickungsanfälle beim Schlucken fester
Bissen kamen in folgender Weise zu Stande: Der Oesophagus war
durch den Tumor an der entsprechenden Stelle mehr nach rechts
verlagert und geradezu zwischen Aneurysma, welches zum grössten
Theile mit festen Fibringerinnseln ausgefüllt war, und rechtem
Bronchus eingeklemmt worden. Gelangte nun ein Bissen an diese
Stelle, so wurde die einzige Passage in die Lunge, der rechte
Bronchus, noch mehr zusammengedrückt. Die in den unteren Ex¬
tremitäten auftretenden blitzartigen Schmerzen finden ihre Erklärung
in der Reizung der hinteren Rückenmarksstränge; das Aneurysma
hatte die linke Hälfte der Körper des dritten und vierten Brust¬
wirbels vollständig bis zum Periost, theilsweise bis zur Pia usurirt
gehabt. — (Münchener medicini sehe Wochenschrift. 1900, Nr. 15.)
*
164. (Aus dem hygienischen Institute in Berlin.) Ueber
den Einfluss des Sonnenlichtes auf Bacterien.
Von Dr. Kedzior. Der bereits constatirte Einfluss des Sonnen¬
lichtes hat auch dann statt, wenn die Bacterien gegen Sauerstoff
abgeschlossen sind. Milzbrandsporen gingen dabei in l3/4 Stunden
zu Grunde. Muss das Sonnenlicht zuerst Wasser passiren, so ist
dessen keimtödtende Wirkung geringer; eine 1 mm dicke Erdschichte
hemmt die bacterienfeindliche Kraft des Lichtes schon recht be¬
deutend; immerhin konnte nach fünf Stunden dauernder Belichtung
noch eine Verminderung der Keime bis auf ein Fünftel beobachtet
werden. — (Archiv für Hygiene. Bd. XXXVI, Heft 3.)
*
165. Aus dem kaiserlichen Hebammeninstitute in Petersburg.)
Ueber die Pathogenese der Eklampsie. Von Professor
S trog an off. Verfasser hatte reichlich Gelegenheit, die Eklampsie
zu beobachten; in den letzten vier Jahren war dieselbe in 82 Fällen
im Institute aufgetreten, wobei zu bemerken, dass dasselbe all¬
jährlich über drei Monate geschlossen ist. Stroganoff berechnet
für Russland jährlich 5600 Fälle von Eklampsie, d. i. auf circa
1000 Geburten eine Erkrankung. Nach ihm liegt die Ursache der
Eklampsie nicht, wie es jetzt ziemlich allgemein angenommen wird,
in einer .Intoxication, sondern in einer Infection durch ein ziemlich
flüchtiges Contagium, welches durch die Lungen in den Körper der
Frau gelangen soll. Der Krankheitskeim besitzt eine schwache Viru¬
lenz, die aber in Krankenhäusern durch etwa drei Wochen anhält.
Die Incubationsdauer soll etwa 3 — 20 Stunden betragen. Für den
infectiösen Charakter der Eklampsie soll nach Stroganoff
sprechen, dass dieselbe eine den ganzen Körper betreffende, acut
auftretende, mit Fieber einhergehende Erkrankung sei, welche sich
zumeist in grösseren Gebäranstalten, seltener in kleinen Orten
zeige; ganz besonders soll für die Infectiosität das zu Zeiten
gehäufte Auftreten der Eklampsie, mit nur kleinen zeitlichen Inter¬
vallen zwischen den einzelnen Fällen sprechen, wofür Stroganoff
aus den Statistiken der Petersburger Gebäranstalten Belege bringt.
— (Zeitschrift für klinische Medicin. Bd. XXXIX, Heft 5 und 6.)
*
166. Krankhafte Blutungen und Ausfluss im
Klimakterium. Von Landau (Berlin). Es besteht bei den
Frauen ganz allgemein der gefährliche Aberglaube, dass alle un¬
regelmässigen Blutungen zur Zeit des Klimakteriums auf nichts
Anderes, als eben auf die »Wechseljahre« zu beziehen seien, ob¬
wohl gerade jene Jahre den Zeitpunkt bedeuten, in welchem die
verhängnissvollsten Erkrankungen an den Genitalien der Frau auf-
treten. Wie es bei aufgeklärteren Leuten der Brauch ist, dass sie
den Zahnarzt nicht nur dann aufsuchen, wenn der Zahn cariös ist
oder schmerzt, sondern durch eine regelmässige Revision des Ge¬
bisses weiteren Schäden vorzubeugen suchen, so sollten auch
Klimakterische ihre Genitalien einer regelmässigen Untersuchung
unterziehen lassen. Die Blutungen im Klimakterium können bedingt
sein: a) durch Erkrankungen, wie sie in jedem Alter Vorkommen,
oder sie sind b) Folge von Alterserkrankungen. In die erste Gruppe
gehören die Blutungen in Folge von Herzfehler, Nierenentzündung,
Stauungen im Pfortadersystem, Gonorrhoe, Gummen an der Portio,
Ovarialtumoren, Prolapse, Myome, Carcinome, Fremdkörper in der
Scheide etc. In die zweite Gruppe gehören der Ausfluss, beziehungs¬
weise die Blutungen in Folge der senilen Katarrhe: der Kolpitis,
beziehungsweise Endometritis cervicis senilis in Folge Cervixpolypen,
Atheromatose, Phlebektasien, und nur in einem verhältnissmässig
kleinen Theile hat man es mit wirklich essentiellen Blutungen der
Klimax zu thun. Wie selten letztere sind und wie die unregel¬
mässigen Blutungen der Wechseljahre meist auf eine besondere
Erkrankung weisen, geht unter Anderem aus einer Veröffentlichung
von Milton Duff hervor, welcher 187 blutende, in dem Alter
von 45 — 50 Jahren stehende Frauen genauer untersucht hatte. Von
diesen hatten 101 Tumoren (darunter 48 maligne), 53 Myome, und
nur 31 waren darunter, bei denen ein pathologischer Befund nicht
aufzudecken war. Für die Praxis geht aus den Ausführungen
Landau’s hervor, dass jede Frau mit Blutungen und Ausfluss im
Klimakterium mit einer viel grösseren Wahrscheinlichkeit, mit gut-
oder bösartigen Tumoren behaftet ist, als dass sie gar keinen Befund
aufweise. — (Die Therapie der Gegenwart. 1900, Nr. 4.)
*
167. Ueber Glasbläsermund und seine Gornpli-
cationen. Von Dr. Scheele (Wiesbaden). Es handelt sich um
eine Berufskrankheit, um eine Folge angestrengter, jahrelang aus¬
geübter Glasbläserei. Die Mundhöhle ist bedeutend erweitert, die
Backen blähen sich im aufgeblasenen Zustande ballonartig auf,
die Wangenmusculatur ist rareficirt und in einzelnen Fällen kommt
es vor, dass Luft in den Ductus Stenonianus eindringt und dieser
für sich noch bedeutend ausgedehnt wird. — (Berliner klinische
Wochenschrift. 1900, Nr. 10 und 11.)
*
168. Ueber eine seltene Ursache von Pylorus¬
stenose konnte Dr. Meissei im Vereine der Freiburger Aerzte
berichten. Bei der 43jährigen Patientin mit Magenschmerzen und
den Symptomen einer Magenerweiterung war auf Grund eines auf
Kinderfaustgrösse geschätzten palpirten Tumors die Diagnose eines
Pyloruscarcinoms gestellt worden. Bei der Eröffnung der Bauchhöhle
fand man zunächst nichts von einem Tumor; erst bei weiterer
Palpation entdeckte man einen grösseren Fremdkörper im Anfangs-
theile des Duodenums, der sich als ein daselbst eingekeilter Gallen¬
stein erwies. Interessant ist in diesem Falle, dass der Stein gegen
den Magen zu den Weg genommen hatte. — (Münchener medici-
nische Wochenschrift. 1900, Nr. 7.)
*
169. (Aus der Hl. medicinischen Klinik des Prof. Senator
in Berlin.) Experimentelles über den Aderlass bei
Urämie. Von Dr. Richter. Dass der Aderlass bei Urämie,
namentlich in Combinatiou mit darauffolgender Kochsalzinfusion,
oft von vorzüglichem Erfolge ist, ist bekannt, doch wissen wir
nicht, auf welche Weise die therapeutische Beeinflussung der ur¬
ämischen Zustände durch den Aderlass zu Stande kommt. Man ist
geneigt, zu glauben, dass die durch die Niereninsufficienz bedingte
Concentration des Blutes die Urämie erzeuge; Richter konnte
nachweisen, dass die Concentration des Blutes durch den Aderlass
nicht geändert werde, dass demnach die Wirkung der Venaesectio
nicht nach dieser Richtung hin erklärt werden könne. — (Berliner
klinische Wochenschrift. 1900, Nr. 7.)
*
170. (Aus der chirurgischen Klinik von Prof. May dl in
Prag.) Ueber ausgedehnte Darmresectionen. Von Doctor
K u k u I a. Unter fünf Fällen von Darmresection waren zweimal
über 2 ?/*, einmal wegen eines retroperitonealen tuberculösen
Lymphoms 237 cm Dünndarm resecirt worden. Die Patientin hatte
nach diesem Eingriffe noch 2 '/2 Jahre ohne besondere Beschwerden
558
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 24
gelebt. Der zurückgebliebene Dünndarm halte, wie später die Ob-
duction erwies, nur eine Länge von 110 cm gehabt. Für den
Dauererfolg einer grösseren Dünndarmresection wird die primäre
Darmvereinigung als unumgänglich nothwendig angesehen. —
(Archiv für klinische Chirurgie. Bd. LX, Heft 4.)
*
171. (Aus dem Marien-Hospital in Stuttgart.) Angina mit
Endocarditis. Von Dr. Roeger. Es wurden 120 Fälle von
Angina hinsichtlich des Auftretens von Herzgeräuschen untersucht.
Nicht eingerechnet sind hier Fälle, welche mit einem Exanthem
verbunden oder auf Diphtherie verdächtig waren. Unter den ge¬
nannten Fällen waren 24 mit Herzgeräuschen — meist systolischen
an der Herzspitze — complicirt und unter diesen waren sie zehn¬
mal sicher erst während der Erkrankung aufgetreten und in eben-
sovielcn Fällen hatte das Geräusch fortbestanden, während es in
14 wieder verschwand. Dieser nicht geringe Procentsatz (8%) der
Fälle, bei denen im Verlauf einer Angina ein fortdauerndes Herz¬
geräusch, also ein »Herzfehler« acquirirt wurde, scheint dafür zu
sprechen, dass man es hier mit einer echten Entzündung des
Endocards, beziehungsweise Klappenapparates zu thun hatte. In
13 der 24 Fälle waren an den Mandeln oder Gaumenbogen grau¬
gelbe Bläschen aufgetreten, fünfmal war gleichzeitig Herpes labialis
vorhanden gewesen. — (Münchener medicinische Wochenschrift.
1900, Nr. 8.)
*
172. Dr. Jolly demonstrirte in der Gesellschaft der Gharite-
ärzte in Berlin einen 12jährigen Knaben, der in sehr hohem Grade
die Angewöhnung des Fingerlutsche ns halte; derselbe war
auch der Onanie ergeben. Das Eigenthümliche dieses Falles lag
darin, dass der Knabe durch das Kauen seiner Finger Erectionen
hervorrufen konnte. - — (Deutsche medicinische Wochenschrift.
1900, Nr. 5.)
*
173. Präventivimpfungen gegen die Bubonen¬
pest. Von den Prof. Lustig und Galeotti (Florenz). Die Ver¬
fasser haben aus Pestbacillen ein Extract hergestellt, das sie seiner
Zusammensetzung nach unter die Nucleo-Proteide einreihen. Den
damit angestelllen Versuchen zufolge soll es Ratten, Meerschwein¬
chen, Affen gegen eine Pestinfection schützen und die Injection
desselben, wie vorläufig festgestellt wurde, Menschen ungefährlich
sein. — (Brit. med. Journ. 10. Februar 1900.)
*
174. Ueber vorzeitige Unterbrechung der
Schwangerschaft bei abgestorbener Frucht durch
Natrium s a 1 i c y 1 i c u m. Von Dr. H u r w i t z (Memel). Verfasser
hatte zufällig einer schwangeren Frau salicylsaures Natron verab¬
reicht. Im zeitlichen Anschlüsse daran war eine Frühgeburt einge¬
treten. Daraufhin wurde einer Frau, deren abgestorbener Fötus nicht
abging, absichtlich neben Scheidenspülungen Natr. salicyl. verordnet,
worauf am nächsten Tage die Geburt der macerirten Frucht erfolgte.
Bei dem Umstande, als angegeben wird, dass Salicyl Schwangeren
unbedenklich gegeben werden könnte, ist es nicht ohne Bedeutung,
testzustellen, ob dem Präparate eine Bedeutung im gedachten
Sinne zukommt. — (Die Therapie der Gegenwart. 1900, Nr. 2.)
*
175. Einen sehr interessanten Beitrag zur Nephritis
bei Kindern lieferte Dr. Cassel in der Berliner inedicinischen
Gesellschaft. Cassel hatte in den letzten Jahren bei neun Kindern
im Alter von sechs Wochen bis zwei Jahren folgende Symptome
beobachtet: Ohne Scharlach oder eine chronische Infectionskrankheit
und bei inlactem Herzen war Oedem aufgetreten, welches bei drei
Kindern mit Ascites verbunden war. Im täglich mehrmals unter¬
suchten Urin waren nie Eiweiss oder Form eie mente
nachzuweisen gewesen. Drei dieser Kinder sind gestorben. Zwei
bei solchen Kindern ausgeführte Obductionen ergaben das deutliche
Bild einer Nephritis. — (Deutsche medicinische Wochenschrift.
1900, Nr. 7.)
*
176. Zur V erb r e i t u n g der Tuberkel pilze. Von
Dr. Moeller. Von den diesbezüglichen Untersuchungen des Autors
ist unter Anderem hervorzuheben, dass die Bacillen bis auf lw
Entfernung ausgehustet werden können, dass es ihm jedoch nie
gelang, in der Luft von Räumen, die mit Tuberculösen belegt
waren, Bacillen nachzuweisen: ebenso war auch der Staub zumeist
frei von Tuberkelbacillen, wenn derselbe nicht direct mit dem Sputum
vermengt gewesen war. Für die Uebertragung der Bacillen sollen
besonders die Fliegen anzuschuldigen sein, welche mit dem
Sputum in Berührung kommen. — (Zeitschrift für Hygiene und
Infectionskrankheiten. Bd. XXXII, Heft 2.)
*
177. (Aus der Abtheilung des Prof, Dinkier am Louisen-
Spitale zu Aachen.) Ein Fall yon Selbstbeschädigung
auf hysterischer Grundlage. Von Dr. Eversmann.
Es handelt sich um einen nicht gar so seltenen Fall von Selbst¬
beschädigung, welche, sowie die Vortäuschung eines Krankheits-
symptomes, manchmal das einzige Zeichen einer ausgesprochenen
Hysterie sein kann. Bei der Patientin waren öfters linsen- bis
taubeneigrosse Blasen, und zwar während des Spitalsaufenlhalles,
immer über Nacht aufgetreten. Das Allgemeinbefinden war dabei
in keiner Weise gestört. Fortgesetzte Beobachtungen ergaben, dass
die Patientin diese Blasen sich selbst durch Auflegen eines Kan¬
tharidenpflasters beigebracht hatte. — (Münchener medicinische
Wochenschrift. 1900, Nr. 9.)
*
178. (Aus der medicinischen Klinik in Freiburg i. Br.)
Studien über die Functionen des menschlichen
Mundspeichels. Von Dr. Schüle. Die diastatische Kraft des
Speichels nimmt gegen Mittag zu, erreicht in der Zeit von 11 bis
3 Uhr ihre grösste Stärke und nimmt von da an wieder ab. Die
gut mit Speiche] durchmischte Nahrung regt den Magen zur reich¬
licheren Salzsäure- und Pepsinabscheidung an. — (Archiv für Ver¬
dauungskrankheiten. Bd. V.)
*
179. Klinische Beiträge zur Tuberculose. Von
Dr. Henkel (Hamburg). Der Verfasser glaubt, für jene Fälle, in
denen die klinische Beurtheilung einer Lungenerkrankung unklar
bleibt und ein Auswurf fehlt, die Aspiration von Lungengewebssaft
am Orte der ausgesprochensten physikalischen Erscheinungen mittelst
einer P r a v a z-Spritze zum Zwecke des Bacillennachweises em¬
pfehlen zu können. Henkel hat bei der Punction der
Lunge angeblich nie üblere Zufälle bemerken können. —
(Münchener medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 13.)
*
1 80. Beitrag zur operativen Freilegung des
Herzens nach Rotter wegen Schussverletzung.
Von Dr. Stern (Düsseldorf). Rotter hat in Nr. 3 der »Mün¬
chener medicinischen Wochenschrift« zur Ausführung der Herznaht
eine Methode der Freilegung des Herzens auf Grund von Leichen¬
versuchen empfohlen, welche von Stern bei einem Manne wirk¬
lich ausgeführt wurde, der eine Stunde früher sich selbst eine
Schussverletzung des Herzens beigebracht hatte. Stern rühmt die
dadurch erhaltene sehr gute Uebersicht des Herzens, welche das
Gelingen einer Naht an der v o r d er e n Herzwand wohl ermögliche.
Die Operation war in diesem Falle vergeblich unternommen worden,
da das Projectil beide Vorhöfe durchschlagen hatte. — (Münchener
medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 13.)
*
181. Ueber einen Fall von doppelseitiger Fa-
cialislähmung. Von Prof. Jolly (Berlin). Es handelt sich
um eine traumatische Entstehung der Lähmung bei einem 44jährigen
Patienten, der von einem Schwungrade fortgeschleudert, mit dem
Gesichte auf einen Kohlenhaufen gefallen war; daraufhin war keine
Bewusstlosigkeit, nur Benommenheit, Kopfschmerz, Nasenbluten
und Nackensteifigkeit aufgetreten. Die Folge war eine beider¬
seitige Lähmung des Facialis; die Gaumenäste waren jedoch
intact geblieben, die Geschmacksfasern, welche die vorderen zwei
Drittheile der Zunge versorgen, aber mitbetroffen; gleichzeitig
Anästhesie im Gebiete des ersten und zweiten Trigeminusastes.
Jolly schliesst anf eine Läsion des Facialis zwischen Ganglion
geniculi und Abgang der Chorda tympani in Folge einer Querfissur
der Felsenbeine. — (Deutsche medicinische Wochenschrift. 1900,
Nr. 11.)
*
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
559
182. Eine noch nicht beschriebene Form von
Pestpneumonie. Von Dr. Hossack. Im Gegensätze zu der
schon vom Beginne an unter dem Bilde einer schweren Krankheit
verlaufenden Pestpneumonie gibt es nach Autor noch andere Fälle,
in welchen die Lungen den Hauptsitz der Erkrankung darstellen,
dabei aber nur die Symptome einer Bronchitis oder Broncho¬
pneumonie auftreten. Es folgen fünf entsprechende Krankenge¬
schichten. — (British med. Journ. 1900, 10. Februar.)
*
183. Prof. Killian (Freiburg i. Br.) theilt einen Fall mit,
in dem ein vier Jahre lang tief im rechten Haupt¬
bronchus steckendes, 15 mm langes und 11mm breites
Knochenstück bronchoskopisch entdeckt und auf natürlichem
Wege entfernt worden war. — (Deutsche medicinische Wochenschrift.
1900, Nr. 10.)
*
184. Aus einem Berichte der indischen Pestcommission über
die Haffkine’schen Schutzimpfungen gegen diePest
(Brit. med. Journ. 24. Februar) erfahren wir die Darstellung des
Pestserums, weiters, dass die Sterilität desselben zu bemängeln und
dass die Höhe des Immunisirungswerthes ungenau angegeben sei.
Schädliche Nebenwirkungen wurden bis jetzt von den Impfungen
angeblich nicht beobachtet. Hinsichtlich der Resultate konnte fest¬
gestellt werden, dass von den Geimpften weniger erkranken, als
von den Nichtgeimpften, dass aber ein sicherer Schutz gegen eine
Pestinfection selbst durch wiederholte Immunisirung nicht erzielt
werde. Die Immunisirung wird erst nach einigen Tagen erreicht und
hält im Allgemeinen einige Wochen, vielleicht auch Monate an.
Hinsichtlich der Mortalität konnte festgestellt werden, dass von den
mit Serum Vorbehandelten um zehnmal weniger starben, als von
Nichtgeimpften.
*
185. Zur operativen Spaltung der Niere. Von
Dr. Braatz (Königsberg). Bei der 30jährigen Patientin war wegen
heftiger Kolikanfälle die Fixation der beweglichen rechten Niere
vorgenommen worden. Als bald darauf die Schmerzen wieder auf-
traten, wurde die Niere abermals freigelegt, gespalten, aber nichts
Krankhaftes in ihr gefunden. Die Schmerzen blieben nun durch
drei Jahre fort, traten dann wieder auf und machten die Exstir¬
pation des Organes nothwendig. Die Untersuchung der Niere recht¬
fertigt folgenden Gedankengang: An ihrem unteren Pole hatte ein
tuberculöser Herd bestanden, der zwar nicht in den Bereich, aber
in die nächste Nähe des Sectionsschniltes gefallen und ausgeheilt
worden war. Die Schmerzen blieben darauf durch drei Jahre weg;
dann hatten sich aber andere tuberculöse Abscesse gebildet, welche
aufs Neue die Schmerzanfälle verursachten. Verfasser hält die
Nierenspaltung für einen schwer schädigenden Eingriff, da durch
die Operation viele der eigenthümlich angeordneten Gefässe durch¬
trennt werden, was eine, vorzugsweise ventrale Atrophie der Niere
leicht zur Folge haben kann. — (Deutsche medicinische Wochen¬
schrift. 1900, Nr. 10.)
*
186. Dr. Burwinkel (Bad Nauheim) berichtet über einen
Fall äusserer Hämorrhoidalknoten bei einem einen
Monat alten Kinde, die augenscheinlich durch Kotheindickung
und Kothstauung im Rectum entstanden waren. Durch Regelung
des Stuhles wurden die Knoten bald zum Verschwinden gebracht.
— (Münchener medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 12.)
*
187. Eine schwere Gefahr ungeeigneterTrip per¬
spritzen. (Autor nicht genannt.) Da die Spritzenmündung nicht
genau auf die Harnröhre passte, pflegte der Patient das stark
phimotische Präputium an die Spritze heranzuziehen und auch den
Präputialsack mit der Injectionsflüssigkeil anzufüllen, wodurch es
zur Verschleppung von Smegma und pathogenen Keimen in die
Harnröhre kam. Die Folge war eine Epididymitis, Cystitis, Prostatitis
mit folgender Urethrorectalfistel, ein peritonealer Abscess mit all
den subjectiven Erscheinungen, welche die genannten Zustände
begleiten. Die gonorrhoische Affection hatte in diesem Falle eine
mehr als neun Monate dauernde Erkrankung zur Folge gehabt.
— (Münchener medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 12.)
*
188. Ein Fall von acuter C o c a i n v e r g i f tu ng.
Von Dr. Bergman n (Wolfhagen). Bei einer rechtsseitigen Ischias
waren 0 05 g Cocain in die Glutäalmuskeln in die Umgebung des
Nerven injicirt worden, worauf der Schmerz sofort beseitigt war.
Da am folgenden Tage im Unterschenkel noch Schmerzen verspürt
wurden, erfolgte hier eine abermalige Injection von 0'03 cm3 Cocain;
auf das hin sofort Ohnmacht, beschleunigter Puls, vermehrte Re¬
spiration und Krämpfe in sämmtlichen Extremitäten mit Ausnahme
der rechten unteren. Nach einer halben Stunde waren die Er¬
scheinungen geschwunden; die Ischias blieb bis jetzt beseitigt.
Vielleicht kann in dem Falle von einer cumulativen Wirkung die
Rede sein, möglicher Weise war beim zweiten Male auch in eine
Vene injicirt worden. — (Münchener medicinische Wochenschrift.
1900, Nr. 12.)
*
189. Ein neues Fadenbacterium, eine pseud o-
akti nomykotische Erkrankung erzeugend. Von
Dr. Cozzolino (Neapel). Aus einem Aktinomycesgeschwür wurde
vom Autor eine Bacterienform gezüchtet, welche mit Eigenbewe¬
gung ausgestattet ist, keinerlei Verzweigungen besitzt und am
ehesten in die Milzbrandgruppe unterzuordnen ist. Er zeigte sich
für Meerschweinchen und Hausmäuse, nicht aber für weisse Mäuse
und Kaninchen pathogen. — (Zeitschrift für Hygiene und Infections-
krankheiten. Bd. XXXIII, Heft 1.)
*
190. Beobachtungen über den Brustkrebs. Von
W. Banks (Liverpool). Eine auf 33jähriger chirurgischer Thätigkeit
gesammelte Erfahrung hat Banks die Ueberzeugung gebracht, dass
zweifellos die Zahl der Krebserkrankungen im Anwachsen begriffen
ist, dass an dieser Zunahme die Männer mehr als die Frauen be¬
theiligt sind, dass dieselbe nicht blos auf einer besseren Erkennt-
niss der Krankheit, einer grösseren Genauigkeit in der Diagnosen¬
stellung, in der grösseren Zahl von Nekropsien seine Erklärung
finde, sondern, dass sie eine wirkliche, nicht nur scheinbare sei.
Die wirkliche Ursache der Zunahme der Krebserkrankungen beruht
nach Banks darauf, dass viele Menschen jetzt besser, reichlicher
und namentlich mehr thierische Nahrung zu essen gewohnt sind,
als früher; nach seinen Erfahrungen fordert der Krebs unter jenen
Personen, welche sich reichlicher nähren, mehr Opfer, als unter
der anderen Bevölkerungsclasse, welche sich nicht derartig zu nähren
im Stande sei; für das gehäuftere Auftreten von Krebs in einzelnen
Gegenden sind nicht deren geographische Eigenschaften, als vielmehr
die daselbst herrschenden Ernährungsverhältnisse massgebend. Nicht
die Trunksucht, Syphilis, die veränderten hygienischen Verhältnisse,
nicht die Anforderungen, welche das jetzige Zeitalter an unser
Nervensystem gestellt, sind für das Anwachsen der Krebssterblich¬
keit verantwortlich zu machen, sondern die Ernährungsverhältnisse,
welche sich bei den Völkern wesentlich geändert haben. Als
äussere Veranlassungsursache kommt sicher dem Trauma, nament¬
lich für die Entstehung des Brustkrebses, eine besondere Bedeu¬
tung zu. — (Brit. med. Journ. 10. März 1900.)
*
191. (Aus dem physiologischen Institute der deutschen Uni¬
versität in Prag.) U e b e r Todtenstarre am Herzen. Von
Dr. R. Fuchs. Die Untersuchungen haben ergeben, dass ein voll¬
kommen normales Herz unmittelbar nach dem Tode in Folge des
fehlenden Muskeltonus so erschlafft, ist, dass die Atrioventricular-
klappen insufficient sind. Das ändert sich sobald am Herzen die
Todtenstarre auftritt, was durchschnittlich nach drei bis fünf
Stunden der Fall ist; in diesem Falle ist der Klappenapparat
wieder völlig schlussfähig geworden. Das Herz ist nach Fuchs
der erste Muskel, welcher — und zwar noch vor der Skelet-
musculatur — der Todtenstarre anheimfällt. — (Zeitschrift für
Heilkunde. Bd. XXI, Heft 1.)
*
192. Ueber die Bedeutung desLymphganglion-
systemes für die moderne Lehre von der Infection
und Im m u n i t ä t. Von Dr. Manfred i. Unter 85 untersuchten
Fällen konnten bei normalen Thieren 75mal die Lymphdrüsen als
bacterienhaltig festgestellt werden, was der Anschauung entspricht,
dass die Lymphknoten als Filter für die Bacterien gelten. Die
560
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 24
Bacterien können in denselben eine Zeit lang lebensfähig bleiben,
doch wird deren Virulenz in den Lymphdrüsen herabgesetzt oder
ganz vernichtet. — (Virchow’s Archiv. Bd. CLV, Heft 2.)
*
1 93. Myxödem und Hypophysis. Von E. P o n f i c k
(Breslau). In einem zur Obduction gelangten Falle von Myxödem
wurde als auffälligster Befund gänzlicher Schwund des drüsigen
Theiles der auch sonst atrophischen Hypophysis festgestellt. —
(Zeitschrift für klinische Medicin. Bd. XXXVIII, Heft 1.)
*
194. Die Erblichkeit der chronischen Nephri¬
tis. Von Dr. Pel (Amsterdam). Innerhalb drei Generationen waren
18 Fälle von Nephritis vorgekommen, eine Beobachtung, die an die
Möglichkeit einer hereditären Veranlagung auch bei dieser Krank¬
heit denken lässt. — (Zeitschrift für klinische Medicin. Bd. XXXVIII.)
Pi.
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Unter grosser Feierlichkeit und Theilnakme hoher Vertreter der
Staats- und Landesregierung sowie Delegirter mehrerer auswärtiger Uni¬
versitäten wurde in diesen Tagen in Krakau das 500jährige
Jubiläum der dortigen Universität begangen.
*
Ernannt: Der a. o. Professor der Augenheilkunde, Doctor
Julius Hirschberg in Berlin zum ordentlichen Honorar*
profe ssor.
*
Verliehen: Dem Privatdocenten für Krankheiten der Neu¬
geborenen und Säuglinge an der böhmischen Universität in Prag,
Dr. Franz Scherer, der Titel eines ausserordentlichen Universitäts¬
professors. — Dem fürstlich Schwarzenberg’schen Herrschaftsarzte
Wenzel Heyberger in Protivin das goldene Verdienstkreuz
mit der Krone.
*
Habilitirt: Dr. Adolf Oswald für medicinische Chemie
in Z ü r i c h.
*
Gestorben: Dr. Theodor M a t z a 1, k. k. Oberstabsarzt
d. R. in Wien. — Dr. Franz R. Reder v. Schellmann, der
Sohn des allverehrten Päsidenteu des Wiener medicinischen Doctoren-
Collegiums. — Dr. Karl Lange, Professor der pathologischen Ana¬
tomie in Kopenhagen. — Geheimer Medicinalrath Dr. Karl
Eigenbrodt in Darmstadt.
*
Internationale Malariaconferenz in Liverpool.
25. — 28. Juli. Auf Anregung seitens der School of tropical medicine
(University College) in Liverpool wird vom 25. — 28. Juli d. J. eine
internationale Conferenz über die Malaria in Liverpool tagen. Die Prä¬
sidentschaft des Congresses hat Lord Lister übernommen. Gegen¬
stand der Conferenz werden sämmtliche, die Malaria betreffenden
Fragen bilden, Demonstrationen von Präparaten, Färbemethoden und
Untersuchungsbehelfen sind in reicher Auswahl zu gewärtigen. Ganz
besonders sollen jedoch auf Grund unserer bisherigen Kenntnisse über
die Malariainfection die Grundzüge einer rationellen allgemeinen und
persönlichen Prophylaxe festgestellt werden, um dann dieselben
den massgebenden Factoren zur Verfügung zu stellen. Das vielseitige
Vorkommen der Malariakrankheiten in der österreichisch-ungarischen
Monarchie lässt die Leitung der Conferenz hoffen, dass auch die Aerzte
unserer Monarchie dem eminent praktischen und zielbewussten Unter¬
nehmen Interesse und Förderung widmen werden. Theilnehmer an der
Conferenz kann jeder Arzt werden; die Theilnehmerschaft ist unent¬
geltlich. Das Comite in Liverpool wird die fremden Theilnehmer, so¬
weit als möglich, in Privatwohnungen unterbringen. Anmeldungen
bittet der Unterzeichnete ehestens an seine Adresse gelangen zu lassen.
Dr. Mannaberg, Vicepräsident der Conferenz und Secretär für
Oesterreich-Ungarn, Wien, I 1, Opernring 15.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 21. Jahreswoche (vom 20. Mai
bis 26. Mai 1900). Lebend geboren: ehelich 658, unehelich 359, zusammen
1017. Todt geboren: ehelich 30, unehelich 23, zusammen 53. Gesammtzahl
der Todesfälle 7 8 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
22-5 Todesfälle), darunter an Tuberculose 174, Blattern 0, Masern 18,
Scharlach 4, Diphtherie und Croup 6, Pertussis 7, Typhus abdominalis 2,
Typhus exanthematicu8 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 5, Neu¬
bildungen 40. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
48 ( — 3), Masern 350 (-)- 90), Scharlach 56 (-J- 14), Typhus abdominalis
4 ( — 4), Typbus exauthemaricus 0 (=), Erysipel 34 (-{- 9), Croup und
Diphtherie 49 (-(-25), Pertussis 57 (-J- 28), Dysenterie 0 (=), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 4 (-j- 3), Trachom 2 (=), Influenza 2 ( — 1).
Bei der Redaction eingelangte Bücher.
(Mit Vorbehalt weiterer Besprechung.)
Weiss und Schweiger, Therapeutische Indicationen für interne Krankheiten.
2. Auflage. Seitz & Schauer, München. 320 S.
Fuchs, Die Prophylaxe in der Psychiatrie. Ibidem. 52 S.
Kisch, Die Prophylaxe der Sterilität. Ibidem. 24 S.
Andrae, Ueber die Medicin Thomas Sydenham’s. Inaugural-Disser¬
tation. Fock, Leipzig. Preis M. 1.50.
Pfeiffer, XVI. Jahresbericht über die Fortschritte und Leistungen auf
dem Gebiete der Hygiene. Vieweg, Braunschweig. Preis M. 9. — .
Gerber, Goethes Beziehungen zur Medicin. Karger, Berlin. 87 S.
Gerber, Entstehung und Verhütung der Ohreiterungen. Ibidem. 48 S.
Gerber. Massregeln zur Verhütung der Ohreiterungen. Ibidem.
Cornet, Die acute allgemeine Miliartuberculo.se. (Specielle Pathologie und
Therapie, herausgegeben von Hofrath Nothnagel.) Holder, Wien.
Preis M. P50.
Cornet, Die Scrophulose. Ibidem. Preis M. 5.40.
Jürgenseil V., Erkrankungen der Kreislaufsorgane. Endocarditis. Ibidem.
Preis M. 6. — .
Chrobak und Rostliorn, Die Erkrankungen der weiblichen Geschlechts¬
organe. I. Theil, 2. Hälfte. Ibidem. Preis M. 9.60.
Koeppe, Die physikalische Chemie in der Medicin. Holder, Wien. Preis
M. 3,60.
Hughes, Die Mimik des Menschen. Alt, Frankfurt a. M. 423 S.
LeilhartZ, Mikroskopie und Chemie am Krankenbett. 3. Auflage. Springer,
Berlin. 360 S.
Röse, Anleitung zur Zahn- und Mundpflege. 3. Auflage. Fischer, Jena.
61 S.
Braun uud Mager, Ueber die Wirkung der Digitaliskörper auf das
isolirte Säugethierhei z. (Akademie der Wissenschaften in Wien.)
Gerold. Wien 1899.
Brailll und Mager, Ueber die Wirkung der Galle und der gallensaueren
Salze auf das isolirte Säugethierherz. Ibidem.
Sachs, Die Kohlenoxydvergiftung. Vieweg, Braunschweig. Preis M. 4. — .
Bock, Ueber Trachom. Öafar, Wien, Preis K 1.80.
Fehling. Lehrbuch der Frauenkrankheiten. Enke, Stuttgart. 2. Auflage.
Preis M. 11. — .
Seegen. Die Zuckerbildung im Thierkörper. 2. Auflage. Hirschwald, Berlin.
282 S.
Matthes, Lehrbuch der klinischen Hydrotherapie. Fischer, Jena. Preis
M. 8.—.
Israel, Elemente der pathologisch-anatomischen Diagnose. 2. Auflage. Hirsch¬
wald, Berlin. 132 S.
Salkowski, Practieum der physiologischen und pathologischen Chemie.
2. Auflage. Ibidem. 304 S.
Uglietti, Zwischen Aerzten und Clienten. Deutsch von G. G a 1 1 i. 2. Auf¬
lage. Braumüller, Wien, Preis M. 3. — .
Glaessner, Die Leitungsbahnen des Gehirns und Rückenmarkes. Bergmann,
Wiesbaden. Preis M. 3. — .
Benda, Nervenhygiene und Schule. Coblentz, Berlin. Preis M. 1. — .
Rieger, Die Castration in rechtlicher, socialer und vitaler Hinsicht. Fischer,
Jena. Preis M. 3. — .
Freie Stellen.
Gemeindearztesstelle in Zakopane (Bezirk Nowytarg),
Galizien. Bewerber haben den Anforderungen des § 7 des Laudesgesetzes
vom 2. Februar 1891, Nr. 17, zu entsprechen. Der Gemeiudea> zt hat sowohl
die Leichenbeschau, als auch die Vieh- und Fleischbeschau zu besorgen.
Gehalt 1000 K jährlich. Gesuche sind bis zum 30. J u n i 1. J. an den Ge¬
meindevorstand in Zakopane einzusenden.
Districtsarztesstelle in Ryglice, Galizien. Jährlicher Gehalt
1000 K und 500 K Reisepauschale. Gesuche sind bis zum 20. Juni 1. J.
beim Bezirksausschüsse in Tarnow einzubringen.
Gemeindearztesstelle in Schiltern, politischer Bezirk Znaim,
Mähren. Gehalt 600 K jährlich und freie Wohnung. Bewerber haben ihre
Gesuche mit den Belegen über das Alter, die österreichische Staats¬
bürgerschaft, wissenschaftliche Befähigung, sittliche Unbescholtenheit, bis¬
herige Verwendung, sowie über die durch ein staatsärztliches Zeugniss
erwiesene körperliche Eignung bis Ende Juli 1900 an das Gemeindeamt
in Schiltern, politischer Bezirk Znaim, einzusenden.
Gemeindearztesstelle in der Sanitätsgemeindegruppe Kirch-
berg an der Pielach-Loich, politischer Bezirk St. Pölten, mit dem Sitze in
Kirchberg, Niederösterreich. Flächenausmass der Gruppe 88 hn“1.
Einwohnerzahl 2600. Fixe Bezüge 420 K von den Gemeinden, 700 K
Landessubvention, 400 K vom Bezirksarmenrathe, circa 1400 K von den
Krankencassen. Verpflichtung zur Führung einer Hausapotheke. Bewerber
um diese am 1. August, eventuell sofort anzutretende Stelle haben ihre
ordnungsmässig instruirten Gesuche bei dem Obmanne der Gruppe, dem
Gemeindevorsteher in Kirchberg a. d. Pielach, bis 15. Juni 19Ö0 einzu¬
bringen. Persönliche Vorstellung erwünscht.
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
561
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Oongressberichte.
IXSTIÖ
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 8. Juni 1900.
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien. Sitzung vom
22. Mai 1900.
18. Congress für innere Medicin in Wiesbaden. Vom 18. -21. April 1900.
(Schluss.)
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in München.
Vom 17. — 22. September 1899. (Fortsetzung.)
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
Sitzung vom 8. Juni 1900.
Vorsitzender: Oberstabsarzt Habart.
Schriftführer : Föderl.
Prof. Weinlechner bringt einen Fall von Strangulatio
penis in Erinnerung, die ein Jüngling mit einer stählernen
Schraubenmutter in der Länge von gut 2 V2 cm und einer Lich¬
tung von 2 cm und Dicke von 7 mm ausgeführt hatte. Vor einigen
Jahren wurde der Fall besprochen. In dem Falle konnte Wein¬
lechner den Cylinder nach Unterschiebung von gut befetteteu
Leinwandstreifen zwischen Penis und Schraubengängen ziemlich leicht
entfernen. Anders gestaltete es sich bei einem ähnlichen nun an seiner
Abtheilung befindlichen 15 Jahre alten Lehrjungen, welcher sich acht
Tage vor der am 5. Mai d. J. erfolgten Aufnahme in onanistischer
Absicht eine stählerne Schraubenmutter in der Länge von 3 cm, 3 mm
Dicke und 2 cm Lichtung bis gegen die Wurzel des Penis hinauf¬
geschoben hatte. Die aufgetretenen Schmerzen veranlassten ihn, sein
Leiden bekannt zu geben, worauf Feilversuche vergeblich angestellt
wurden. Man fand den peripher gelegenen Penistheil stark ödematös
und eyanotisch, so dass die Länge desselben 8 cm, der Umfang 14 cm
betrug. Von der Länge entfielen 5 cm auf das Präputium, in welcher
Tiefe erst die Sonde auf die Eichel stiess. Das periphere Ende des
Cylinders hat sich unter die Haut eiugegraben, daher sich, abgesehen von
den Schraubengängen, das Herunterziehen, respective Drehen des Cy¬
linders über vier mit Vaselin bestrichene fingerbreite Leinwand¬
streifen trotz der seitlichen Incisionen in das Präputium und des
Ausdrückens des blutigen Serums recht schwierig erwies. Da die Lein¬
wandstreifen nicht genug widerstandskräftig waren, wurden auch zwei Eleva¬
toren zwischengeschoben. Nach der Entfernung des Cylinders sah die
Haut an der Stelle, wo der Cylinder sass, excoriirt und stellenweise
eingerissen aus. Dieser Hautantheil ist späterhin fast in seiner Gänze
gangränös geworden, ist jedoch jetzt nahezu geheilt. Vor einigen
Tagen wurde das diftorme Präputium durch Excision von Keilen und
Naht besser gestaltet. An der Abtheilung haben sich die Aerzte durch
fast zwei Stunden bemüht, den Cylinder mit der G i g 1 i’schen Säge
durchzusägen, was ihnen schliesslich auf eiuer Seite gelang, für die
zweite Seite war der Vorrath an Drahtsägen aufgebraucht und nächt¬
licherweile kein Ersatz zu schaffen.
Sodann stellt Prof. W ein lechner einen 16 Jahre alten Bauern¬
burschen aus Eisenburg in Ungarn vor, welcher bis vor fünf Jahren
stets gesund gewesen sein will. Zu dieser Zeit bemerkte Patient in der
Gegend der Schilddrüse eine hühnoreigrosse Geschwulst, welche lang¬
sam an Grösse zunahm, in der letzten Zeit jedoch rasch gewachsen
ist. Bei der Aufnahme am 11. Mai d. J. fand man den für sein Alter
wenig entwickelten, kleinen Patienten ziemlich stark anämisch. Intel¬
lect gut. Die ganze vordere und die seitlichen Partien des Halses von
einer über kindskopfgrossen Geschwulst eingenommen, aus mehreren
Knollen bestehend, welche sieh elastisch anfühlt und entsprechend den
drei Schilddrüsenlappen äusserlich eine Theilung in drei Partien zeigt,
die durch Hautfurchen deutlich geschieden sind. Am voluminösesten
ist der rechte, darauf kommt der linke und schliesslich der mittlere
Antheil der Geschwulst. Der Kropf reicht mit den Seitentheilen bis
querfingerbreit unter den Kieferiand, der mittlere Knollen lässt das
Zungenbein und die mittlere Partie des Kehlkopfes frei liegen. Daselbst
fühlt man rechts wie links an der vorderen Grenze der Seitenlappen
die convergirend herabsteigenden Arteriae thyreoideae superiores, jede
fast von der Grösse der Carotis communis. Seitlich ragt der Kropf
bis zu einer Senkrechten, welche man hinter dem Ohre herunterzieht;
die Kopfnicker sind nach hinten gedrängt, hinter derselben die Caro-
tiden deutlich fühlbar. Nach unten reicht der Kropf bis an die inneren
Clavieularenden und füllt die Fossa jugularis aus. Die subcutanen
\ enen sind enorm ausgedehnt. Der Halsumfang beträgt 50 cm, Breiten¬
durchmesser 18 cm, Höhendurchmesser seitlich genommen 10 cm,
Dickenndurchmesser von vorne nach hinten 9 cm. Die Stimme ist
gedämpft, das Schlucken fester Substanzen etwas er¬
schwert. Herz normal.
Am 17. Mai unterband Weinlechner die ganz deutlich
fühlbaren Thyreoideae superiores. Die Isolirung der Arterien war
schwierig wegen der innigen Verbindung mit der Umgebung. Gleich
nach der Unterbindung dieser Arterien ging der Halsumfang um
1 cm zurück. In der ersten und zweiten Woche nahm der Ilalsumfang
um je 4 cm ab, ist seitdem constant geblieben. Dabei haben aber auch
der Breitendurchmesser um 4 cm, Höhendurchmesser um 1cm und die
Dicke um 3 cm abgenommen. Die Furchung zwischen den Lappen hat
bedeutend zugenommen, sie sind bedeutend gelockert und das Schlingen
hat sich wesentlich gebessert.
Weinlechner hat vor einigen Jahren eine Frau der Gesell¬
schaft vorgestellt, bei welcher er das gleiche Verfahren einschlug und
durch die Unterbindung der Thyreoideae superiores eine wesentliche
Verkleinerung erzielt hat, und späterhin hat er die Schilddrüse mit
Hinterlassung eines kleinen Restes exstirpirt. Nun will Weinlechner,
nachdem ein Stillstand in der Verkleinerung eingetreten ist, in ähn¬
licher Weise den Kropf exstirpiren, was nun entschieden leichter mög¬
lich sein wird, als wenn er die Exstirpation ohne vorläufige Unter¬
bindung der genannten Arterien vorgenommen hätte. Zudem hat sich
der Kranke wegen des leichteren Sehlingens etwas erholt. Jetzt Hessen
sich auch die Arteriae thyreoideae inferiores viel leichter als vordem
unterbinden, doch glaubt er, damit kein den Kranken vollständig be¬
friedigendes Resultat zu erzielen.
Weiterhin stellt Weinlechner ein 22jähriges Mädchen aus
Meinetschlag in Böhmen vor, welches im Jahre 1894 mit einem Holz¬
schuh einen Schlag auf das Kinn erlitt. In Folge dessen entstand eine
Beule, die nach einigen Wochen aufbrach und eiterte. Die erbsengrosse
Aufbruchstelle soll sich im Laufe der nächsten zwei Jahre wiederholt
auf einige Wochen geschlossen haben und endlich mit Hinterlassung
einer kleinen Narbe geheilt sein. Mit Ende 1895 gebrauchte Patientiu
die Salbe eines Curpfuscbers, worauf eine sofortige Vergrösserung der
Wunde mit gleichzeitiger Schwellung auftrat. Sie Hess sich nun am
10. April 1896 an Weinlechner’s Abtheilung aufnehmen. Die
kräft g gebaute und übrigens gesunde Person zeigte am Kinn ein fast
kreisrundes, 6 cm im Durchmesser betragendes Geschwür, das mit grau¬
braunen Schorfen vollständig bedeckt war, der Rand des Geschwüres
war stark geröthet und die Haut I1/2 cm im Umkreise infiltrirt. Das
Geschwür und die entzündete Umgebung desselben sassen dem Unter¬
kiefer unverschieblich auf. Der augenscheinliche Schorf bestand aus
mumificirten Geweben, der Mundhöhlenboden war ebenfalls derb infil¬
trirt. Die Sondenuntersuchung zeigte den Rand minirt und gelangte
nirgends auf rauhen Knochen. Der kreisrunde, wie verschorft aus¬
sehende Substanzvei lust hat nach allen Riehtnngen noch um 1 cm
zugenommen.
Am 11. April 1896 wurde behufs Begrenzung des einer Noso¬
komialgangrän sehr ähnlichen Geschwüres das G 1 ü li •
eisen sehr energisch angewendet. Nun war dem Fortsehreiten des
Processes ein Ende gemacht. Am 1. Mai 1896 fiel der Schorf ab und
an dessen Stelle waren schöne Granulationen getreten. Der Angulus
mentalis lag nun vollständig bloss, weissgrau verfärbt und unbe¬
weglich.
Am 3. Juli 1896 verliess die Patientin die Abtheilung mit einem
nierenförmigen, zweiguldenstückgrossen Hautdefect am Kinn, aus dessen
Grund der nekrotische, grau gefärbte Knochen des Angulus fest aut-
sitzend hervorragte. Der quere Durchmesser des Defectes betrug 6 cm,
der verticale 4 cm.
Am 7. April 1897 Hess sie sich wieder aufnehmen mit dem
gleich grossen Hautdefecte, wie bei der früheren Entlassung. Der
nekrotische Knochen aber war inzwischen gelockert und
konnte mit Leichtigkeit mittelst einer Zange entfernt werden,
worauf der granulirende Untergrund zu Tage trat.
562
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 24
Am 16. April 1897 war der Status folgender: Es mangelte das
Kinn. An Stelle desselben war eine grubige Vertiefung, welche nach
nuten benarbt war, nach oben noch granulirte. Der Knochendefect
misst iu querer Richtung 2 cm, in sagittaler 8 cm und ist über 1 cm
tief. Nach oben hin sieht man fünf Wurzelspitzen der vier
Schneide- und des linken Eckzahnes vorragend. Die entblösste Grenze
des Defectes bilden seitlich zwei zackenförmige Knochenvorsprünge,
von vascularisirter Narbe bedeckt. Hautnarbe und Knochendefect haben
in frontaler Richtung die Länge von 61/2 cm, in sagittaler Richtung
in der Mittellinie von 4 cm.
Am 17. April 1897 wurde eine Plastik gemacht, bestehend
in zwei seitlichen, theils dem Unterkiefer, theils der Halshaut
entnommenen, bogenförmig verlaufenden H a u 1 1 a p p e n mit der Basis
gegen den Hals gerichtet, convex nach oben, concav nach unten. Nach
Absägung der zwei Knochenvorsprünge wurden die beiden Lappen
an der Spitze untereinander und nach oben hin mit dem angefrischten
Rande des Defectes vernäht. Auf diese Art wurden die Wurzelspitzen
bedeckt, der Defect blieb jedoch nach unten hin theilweise offen.
Am 19. August 1897 wurde die Kranke entlassen. In der Mitte
der Kinngegend bestand nach unten eine linsengrosse Fistelöffnung,
aus der sich Eiter entleerte; die Oeffnung entsprach dem unteren
Winkel der vernähten Seitenlappen. Die langwierige Eiterung wurde
auf die nicht eingeheilten Wurzelspiitzen bezogen, obwohl man sie mit
der Sonde nicht entdecken konnte.
Am 26. Februar 1898 gelaugte die Patientin zum dritten Male
zur Aufnahme; es wurden zwei vorhandene Fistelöffnungen gespalten,
miteinander verbunden und die blossliegenden fünf Zahnwurzeln
abgezwickt. Trotzdem und ungeachtet ausgiebiger Desinfection
trat keine Heilung ein, daher wurden zwei Schneidezähne extrahirt,
worauf wieder zwei Fisteln zurückblieben, welche weniger eiterten,
aber doch nicht zur Heilung kamen. Mit diesen verliess sie am
4. Juni 1898 die Abtheilung.
Wegen Nichtheilung dieser Fisteln liess sie sich am 31. März
1900 bei unverändertem Status wieder aufnehmen.
Am 2. April 1. J. wurde nach Erweiterung der Fisteln wieder
ein Schneidezahn, dessen Wurzel man von unten fühlte, ent¬
fernt. Nun will die Eiterung noch nicht versiegen und es wird nichts
Anderes übrig bleiben, als die noch übrig bleibenden zwei Zähne, einen
Schneide- und einen Eckzahn, deren Wurzelspitzen von Anbeginn vor¬
ragten, zu entfernen.
Professor der Zahnheilkunde R. v. M e t n i t z, welchen W e in¬
lech n e r in dieser Angelegenheit interpellirte, hält nach seiner Er¬
fahrung gleichfalls die Extraction der Zähne für nothwendig mit nach¬
träglicher Anfertigung einer Prothese.
Was nun das Resultat der Plastik anbelangt, mit der die
Patientin vollauf zufrieden ist, so kann dasselbe als ein recht befrie¬
digendes angesehen werden, indem das geringere Vorspringen des
Kinnes wenig auffällig ist.
Die Narben aber sind etwas hypertrophisch. Unter dem Kinn,
beziehungsweise unter den Enden der Lappen, besteht eine benarbte
Vertiefung, welche nur beim Rückwärtsneigen des Kopfes bemerk¬
bar wird.
Zum Schlüsse demonstrirt Weinlechner die betreffende
Zeichnung des Substanzverlustes, den Gypsabguss mit den fünf Wurzel¬
spitzen und endlich den nekrotischen Knochen, welcher nur an der
Kinnspitze die ganze Dicke des Knochens enthält.
Docent Dr. E. Spiegler : Hochgeehrte Versammlung! Ich beehre
mich, hiemit zwei Fälle von vollkommen differenten Krankheiten zu
demonstriren, welche geeignet sind, in Bezug auf die physiologische,
beziehungsweise therapeutische Wirkung der chemisch wirksamen Licht¬
strahlen, wie sie sowohl im natürlichen Sonnenlichte, als auch in den
Strahlen elektrischer Bogenlampen enthalten sind, bestimmte Thatsachen
testzustellen. So verlockend es auch erscheint, bei dieser Gelegenheit
das reiche ^Tatsachenmaterial, welches die Beziehungen allgemein bio¬
logischer Verhältnisse zum Lichte betrifft, auch nur ungefähr zu streifen,
an diesbezügliche Thatsachen aus der Physiologie der Pflanzen, aus
tier Bacteriologie, aus der allgemeinen Stoffwechsellehre zu errinnern,
will ich mich doch ausschliesslich hier auf das beschränken, was die
beiden zu demonstrirenden Fälle unmittelbar betrifft, umsomehr, als
alle hierauf bezüglichen Thatsachen in einer jüngst erschienen aus¬
gezeichneten Monographie von Magnus Möller ausführlich mitge
t hei 1 1 sind.*)
Im ersten Falle handelt es sich um einen Lupus vulgaris
tumidus et exulcerans, den ich vor drei Monaten in einem Status
wieder sah, welche durch die hier von Dr. Henning trefflich au¬
gefertigte Moulage wiedergegeben wird. Es handelte sich bei diesem
20jährigen jungen Manne um einen Lupusherd von 2-3cm Durch¬
messer, der seit fünf Jahren besteht und während dieser Zeit dreimal
*) Magnus M ö 1 I e r, der Einfluss des Lichtes auf die Haut im ge¬
sunden und kranken Zustande. Bibliotheca medica, Heft 8.
kauterisirt wurde, aber immer wieder recidivirte, und der keiner
anderen Methode als der F i n s e n ’sehen Belichtung unter¬
zogen worden war. Dieselbe besteht bekanntlich darin, dass das Licht
einer Bogenlampe, welche durch einen Strom von ungefähr 50 Volt und
80 Ampere von einer Stärke bis 40.000 Lichtkerzen, durch besondere von
Fi n sen angegebene Apparate, deren ich Ihnen einen hier demon-
strire, auf die zu behandelnde Hautpartie concentrirt wird. Es wird
hiedurch auf der betreffenden Stelle eine ganz enorme Lichtstärke
erzielt. Diese Behaudlungsweise wurde seit Monaten mit der durch¬
schnittlichen Beleuchtungsdauer von einer Stunde durchgeführt, in der
allerjüngsten Zeit wurde der Kranke zumeist durch zwei Stunden
täglich beleuchtet. Wie vorerwähnt, fand eine andere Behandlungs¬
methode nicht statt, sondern es wurde nur der Lupusherd mit einer
l%igen Borsalbe verbunden, um die Bildung von Krusten und die
sich hieran knüpfenden Consequenzen zu vermeiden. Das Resultat
dieses Verfahrens wird am anschaulichsten, wenn man die Moulage,
die unmittelbar vor der Behandlung aufgenommen wurde, mit dem
gegenwärtigen Status vergleicht. Während der Lupusherd früher über
das Hautniveau um 2 — 3 mm erhaben und exulcerirt war, ist die Stelle
jetzt vollkommen im Niveau und bis auf eine circa linsengrosse Stelle
überhäutet. Das weicho, schlappe Gewebe, welches beim Lupus dem
tastenden Finger das Gefühl vermittelt, man könnte die ganze Masse
mit dem Fingernagel auskratzen, ist geschwunden und fühlt sich die
Stelle nuntnehr ziemlich derb an, nur am Rande sind noch einige
Lupusknötchen sichtbar. Auch an der noch nicht überhäuteten Stelle
liegt statt des weichen, schlappen, leicht blutenden Gewebes ein an¬
scheinend gesundes Granulationsgewebe vor. Diese Veränderungen in
der Richtung zur Heilung machen nach jeder Belichtung Fortschritte.
Der Fall ist zwar noch keineswegs geheilt, doch zeigt er deutlich den
günstigen Einfluss dieser Methode auf den Lupus und hoffe ich, Ihnen
denselben nach den Ferien ganz geheilt vorstellen zu können. Ich
zeige denselben indessen heute wegen des allgemein medicinischen
Interesses, welches dieser neueren therapeutischen Richtung entgegen¬
gebracht wird und weil die hierauf bezüglichen Untersuchungen hier
noch nicht gezeigt worden sind. In Kopenhagen hingegen bestehen
Einrichtungen, welche es ermöglichen, täglich bei 200 Lupuskranke
zu behandeln und die ganz ausgezeichneten Resultate, von denen ich
mich daselbst persönlich überzeugen konnte, haben mich veranlasst,
diese Versuche zu wiederholen. Namentlich scheint es, dass die kos¬
metischen Erfolge dieser Behandlungsmethode besonders günstige sind,
was darauf zurückzuführen sein dürfte, dass durch die Belichtung blos
neugebildetes lupöses Granulationsgewebe zur Involution gelangt unter
Intacterlialtung der noch vorhandenen Reteschichten und der feinen,
dem Corium angehörenden reticulären Fasern, welche durch Aetzungen
und Auskratzungen zerstört werden. Ein weiterer Vortheil dieser
Methode besteht darin, dass die gefürchteten Gangränen und Derma-
titiden bei diesem Verfahren absolut ousgeschlossen sind. Die dies¬
bezüglichen Veränderungen beziehen sich höchstens auf ganz ober¬
flächliches Lichterythem, das nach wenigen Tagen wieder spurlos
verschwindet.
Diese Methode hat aber auch ihre grossen Nachtheile, deren
grösster der ist, dass sie, wenn auch sicher, so doch ausserordentlich
langsam wirkt, so dass die Heilung eines etwas ausgebreiteteren Lupus¬
herdes mehrere Monate, ja auch ein Jahr und darüber in Anspruch
nehmen kann, wie ich mich in Kopenhagen selbst überzeugen konnte.
Hiezu kommt noch der Umstand, dass die Methode, da zumeist nicht
directes Sonnenlicht zur Verfügung ist, wegen des kolossalen Ver¬
brauches an Elektricität sehr kostspielig ist. Es wird daher wohl
noch für die nächste Zeit die chirurgische Behandlung des Lupus für
die hiezu geeigneten Fälle die übliche bleiben und die F i n s e n’sche
Methode hingegen für solche Fälle indicirt sein, wo kleinere Lupus¬
herde durch dazwischen liegende gesunde Hautpartien isolirt werden.
Worauf die Wirkung des concentrirten Lichtes auf das Lupus¬
gewebe beruht, kann bis jetzt noch nicht mit Sicherheit ausgesprochen
werden. Die Annahme, dass es sich lediglich um Involutionserschei¬
nungen im Anschlüsse an eine Entzündung, in unserem Falle an das
durch das Licht hervorgerufene Erythem handelt, ist deswegen un¬
wahrscheinlich, weil viele andere Mittel, die viel stärkere Entzündungen
erregen, nicht den gleichen Effect haben. Es handelt sich hier offenbar
um eine specifische Lichtwirkung. Die Annahme, dass dieselbe in
Bezug auf den Erreger des Lupus eine bactericide, also eine ätio¬
logische sei, müsste zunächst durch einschlägige Versuche mit Culturen
von Tuberkelbacillen, welche solchem Lichte ausgesetzt werden, er¬
wiesen werden. Doch sei hier erwähnt, dass ein solcher Nachweis mit
anderen Bacterienculturen, wie Pyocyaneus oder Typhus, bereits er¬
bracht wurde.
In vieler Beziehung weit interessanter ist der zweite Fall, eine
ausgebreitete Alopecia areata, den ich mir erlaube zu demonstriren.
Während wir in der Anwendung der Röntgen-Strahlen eine Methode
kennen, welche Haarausfall erzeugen kann, haben die concentrirten
Strahlen des elektrischen Bogenlichtes, dessen ich mich in der früher
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
563
angegebenen Weise auch hier bedient habe, die merkwürdige Eigen¬
schaft, bei jener ganz bestimmten Art des Haarausfalles der Alopecia
areata oder Area Celsi, den Haarwuchs wieder anzuregen. Doch gerade
bei dieser Krankheit ist, um sich vor Täuschungen zu bewahren, strenge
Selbstkritik höchst geboten. Wir wissen nämlich, dass die Alopecia
areata jüngerer Individuen in den meisten Fällen eine gutaitige Affection
ist, welche entweder spontan oder nach irgend einem der etwa an¬
gewandten Mittel ausheilt. Hie und da kommen aber auch bei jüngeren
Individuen Fälle vor, welche den Betroffenen zwingen, den Defect für
immer oder mindestens für sehr lange Zeit durch die Perücke zu decken.
Im vorliegendem Falle bestand die Alopecie, bevor ich sie in Behandlung
nahm, trotz aller Therapie durch zehn Monate. Sie sehen jetzt noch, wie
gross die Ausdehnung derselben war, indem die unregelmässigen Felder
von dunklen und steifen Haaren zeigen, eine wie kleine Fläche, höchstens
ein Vierttheil der ganzen Oberfläche des Capillitiums von der Krank¬
heit verschont geblieben war. Erwähnt sei noch, dass der Haarausfall,
als die Behandlung begonnen wurde, noch immer progredient war, und
zwar in der Weise, dass sich die haarlose Fläche in serpiginösen Linien
vom Centrum der Krankheitsherde gegen die Peripherie immer mehr
ausbreitete.
Die Behandlung bestand nun darin, dass jede einzelne Stelle des
Krankheitsherdes in Partien von nicht viel über Guldenstückgrösse
durch je eine Stunde der Belichtung ausgesetzt wurde. Da es sich aber
zunächst darum handelte, der weiteren Vergrösserung der Krankheits¬
herde Einhalt zu than, wurde an der Grenze ties Haarwuchses zu be¬
lichten begonnen und die übrigens von Finsen angegebene Vorsichts-
massregel beobachtet, einen circa 1 cm breiten Streifen der anscheinend
noch gesunden Partie zu rasiren und in die Belichtung einzubeziehen.
Auf diese Weise gelang es mir denn auch, der Vergrösserung der
Herde zunächst Einhalt zu thun.
Während der Behandlung etablirten sich aber inmitten der stehen
gebliebenen Haare neue kleine Herde, an denen die Haare ausfielen;
sobald etwas dergleichen beobachtet worden war, wurde die betreffende
Stelle sofort rasirt und einer einmaligen einstündigen Belichtung aus¬
gesetzt. Der gewünschte Erfolg trat mit Regelmässigkeit ein, indem
der Haarausfall daselbst sistirte. Wir sehen nun aber deutlich, dass
sich an den belichteten Stellen der Haarwuchs wieder
eingestellt hat, während die unbehandelten nach wie vor
kahl geblieben sind. Die Haarregeneration stellt sich in der
Weise ein, dass zunächst unpigmentirte Lanugohaare wachsen, die lang¬
sam stärker werden und Pigment aufnehmen.
Die Behandlung bestand nun darin, dass die zu behandelnden
Stellen in gleicher Weise wie beim Lupus durch je eine Stunde
je einmal belichtet wurden. Bei der Ausdehnung der Krankheit, die
den grössten Tlieil der Kopfhaut betrifft, währte dies nur drei Monate.
In einem zweiten Falle von beginnender progredienter Alopecia
areata barbae gelang es, durch vier Sitzungen das Vorschreiten sofort zum
Stillstand zu bringen. Nachwuchs ist noch nicht aufgetreten, da dies
erst einige Tage her ist und die Reactionszeit zwischen ein bis sechs
Wochen zu schwanken scheint. Sieben analoge Fälle mit gleich günstigem
Resultate sind übrigens von J e r s i 1 d *) mitgetheilt worden. Ob diese
Erscheinungen auf die Abtödtung des von Sabouraud supponirten
Erregers dieser Krankheit zu beziehen sind, muss dahingestellt bleiben.
Jedenfalls aber sind die hier und anderwärts gewonnenen praktischen
Erfahrungen so ermuthigend, dass sie zu weiteren Untersuchungen auf¬
fordern.
Prof. Englisch demonstrirt an einer Reihe von Präparaten, dass
bei Prostatahypertrophie die äussere Form derselben bereits in der
Anlage -begründet sei.
Regimentarzt Dr. Job. Fein hält seinen augekündigten Vortrag:
Ueber die sogenannte „Cadaver Stellung“ d e r Stimm¬
bänder.
Seit Z i e m s s e n wird dieser Ausdruck für eine zwischen tiefster
Inspirations- und Phonationsstellung die Mitte haltende Position der
Stimmbänder gebraucht, welche angeblich bei den Leichen gesehen wird.
Trotzdem dieser Ausdruck nach dem Urtheil vieler Autoren bereits
genug Verwirrung verschuldet hat und trotzdem vereinzelte Angaben
auftauchten, dass bei Leichen auch andere Stimmbandstellungen beob¬
achtet wurden, fehlten bisher systematisch vorgenommene Unter¬
suchungen an Leichen, und nur die ausgeschnittenen Kehlköpfe bil¬
deten das Object der Beobachtung.
Der Vortragende hat sich für seine Untersuchungen folgende
Fragen gestellt :
Gibt es eine bestimmte Stellung der Stimmbänder in der
Leiche (Cadaverstellung)V
Welche Stellungen nehmen (falls die Antwort auf die erste Frage
negativ lautet) die Stimmbänder in der Leiche ein?
Welches sind die Ursachen für die verschiedenen Stellungen der
Stimmbänder in der Leiche (Leichenstarre u. s. w.) ?
Nebenher wurden auch die Formen, die Weite der cadaverösen
Glottis, die Beschaffenheit der Stimmbänder u. s. w. der Beobachtung
unterworfen.
Es wurden 50 Leichen von Erwachsenen auf dieselbe Weise der
laryngoskopischen Untersuchung unterzogen, wie dies bei Lebenden
üblich ist. Die Untersuchung wurde in liegender und sitzender Position
der Leichen, in verschiedenen Stadien der Todtenstarre vorgenommen
und hiebei die Glottisweite in der Höhe der Proc. vocales in einem
mit einer Millimetereintheilung versehenen Kehlkopfspiegel gemessen.
Die Uutersuchungsergebnisse wurden in einer Tabelle mit
folgenden Rubriken eingetragen: Namen, Alter, Todesursache, Zeit des
Todes, Zeit der Untersuchung, Position der Leiche vor und während
der Untersuchung, Grad der Leichenstarre, Form und Weite der
Glottis, Beschaffenheit der Stimmbänder, Anmerkung.
Fein gelangte zu folgenden Schlüssen:
Die Stimmbänder stehen kurze Zeit nach dem Tode in der
Mittellinie oder nahe derselben.
Die Leichenstarre entfernt die Stimmbänder von der Mittel¬
linie ; mit der Zunahme der Leichenstarre wird die Stimmritze weiter.
Die Weite der Glottis innerhalb der Leiche ist verschieden von
derjenigen im ausgeschnittenen Kehlkopf.
' Nach Ablauf der Starre verbleiben die Stimmbänder in einer
Zwischenstellung, scheinen sich aber eben der Mittellinie wieder etwas
zu nähern.
Es ist unrichtig, von einer „Form der cadaverösen Glottis“ zu
sprechen. Dieselbe ist ebenso vielgestaltig wie die Form der Glottis im
Leben. (Bei 88 Untersuchungen fand der Vortragende bereits zehn ver¬
schiedene Formen.)
Im Zustande vollkommenster Erschlaffung scheint der Dicken¬
durchmesser der Stimmbänder zuzunehmen. Vortragender schlägt als
Ersatz für die unrichtige Bezeichnung „Cadaverstellung“ das Wort
„Zwischenstellung“ vor, da auch die Ausdrücke „Mittelstellung“
und „ Adductionsstellung“ Missdeutungen zulassen.
Zur Ergänzung wurde die Stellung der Stimmbänder an zwei
getödteten Thieren vom Augenblick des Todes angefangen bis zum
nächsten Tag beobachtet und festgestellt, dass auch hier die Stimm¬
bänder unmittelbar nach dem Tode der Mittellinie am nächsten standen,
um bei Beginn der Leichenstarre sich von derselben zu entfernen.
Endlich wurde eine Anzahl Neugeborener laryngoskopirt, welche
todt zur Welt gekommen waren und weder selbstständig einen Atlrem-
zug gemacht hatten, noch auch künstlich geathmet worden waren. Bei
diesen Objecten, bei welchen die Stimmbänder nicht der geringsten
stellungsverändernden Wirkung irgend einer Kraft ausgesetzt gewesen
sein konnten, fand Vortragender die Stimmbänder in der Medianlinie
stehend. Er behält sich für die Feststellung dieser letzteren Beob¬
achtung, welche ja auch durch die Section festzustellen sein muss, um
praktischen Werth zu haben, Untersuchungen in grösserem Umfange
vor, da sie von grosser forensischer Bedeutung für die Frage, sein
kann, ob ein neugeborenes Kind geathmet hat oder nicht. (Die aus¬
führliche Arbeit wird im „Archiv für Laryngologie“ erscheinen).
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien.
Sitzung vom 22. Mai 1900 (Jahresversammlung).
Vorsitzender : Hofrath v. Krafft-Ebing.
Schriftführer: Docent Dr. Elzholz.
Wissenschaftlicher Th eil:
Dr. RudolfNeurath demonstrirt einen Fall von spinaler
Kinderlähmung mit „E 1 o n g a t i o n“ der Knochen der
gelähmten Extremität, den er auf der Nervenabtheilung
(Docent Dr. Redlich) des Kaiser Franz Josefs - Ambulatoriums
beobachtet hat.
Es handelt sich um einen 2 ’/o Jahre alten Knaben mit deut¬
lichen Zeichen einer noch floriden Rachitis. Seit dem sechsten Monat
bemerkt die Mutter, dass das linke gelähmte Bein länger ist als das
rechte gesunde. Ueber den Beginn der Lähmung weiss die Mutter,
die ihr Kind während der ersten Monate fremder Pflege überlassen
hatte, nichts anzugeben. Das linke Bein ist cyanotisch verfärbt, kühl,
schlaff, gelähmt und zeigt nur in Fuss- und Zehengelenken geringe
active Beweglichkeit. Der Fuss hängt in Planusstellung. In der atrophi¬
schen Musculatur des Oberschenkels zeigen sich mitunter fibrilläre
Zuckungen. Das linke Bein ist um 2 cm länger als das rechte, Ober¬
und Unterschenkel participiren in gleichem Masse an der Differenz.
Der Oberschenkel der gelähmten Seite ist um 3 cm, der Unterschenkel
um 2 cm dünner als rechts. Auch die Glutäalmusculatur ist links
schwächer und schlaffer als rechts. In der Länge der Füsse scheint
keine Differenz zu bestehen. Der Patellarsehnenreflex ist rechts sein-
deutlich, links nicht auszulösen. Die Peronealmusculatur ist links
faradisch nicht erregbar; galvanisch keine Entavtungsreaetion.
*) Citirt nach Magnus Möller, 1. c., pag. 116.
564
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1‘JOO.
Nr. 24
Die Differenz der Extremitätenentwieklung zu Gunsten der
gelahmten Seite widerspricht unseren gewöhnlichen Erfahrungen von
einem bald nach Einsetzen der Lähmung beginnenden Zurückbleiben
der Knochenbildung der gelähmten Extremität. Aehnliche Beobachtungen
registrirt S e e 1 i g m ü 1 1 e r *), der über zwei solche Fälle berichtet.
Für die Erklärung der selten beobachteten „Elongation“ der
Knochen auf der gelähmten Seite können die trophischen Centren
kaum herangezogen werden. Man kann sich kaum vorstellen, dass die
trophischen liückenmarkscentren für die Knochen gereizt und gleich¬
zeitig die Centren für die Musculatur derselben Extremität gelähmt
wären. Gegen die Verwerthung jener Thierexperimente, die nach
Ischiadicusdurchschneidung eine pathologische Ueberentwicklung der
Knochen ergeben haben, spricht die Seltenheit des vermehrten Längen¬
wachsthums der Knochen nach Poliomyelitis. Endlich ist auch die
Erklärung S e e 1 i g m ü 1 1 e r’s, dass in Folge Erschlaffung der Ge¬
lenke und Bandapparate der normale Wachsthumswiderstand, den die
Gelenkskörper einander bieten, wegfällt, und so die Knochen intensiv
wachsen, kaum acceptabel, da ja diese Drucktheorie durch neuere
Arbeiten widerlegt erscheint.
Ein (von Dr. Kienböck angefertigtes) Röntgen-Bild des
demonstrirten Falles zeigt nun wichtige Einzelheiten. Zunächst zeigen
sich die Knochen der gesunden Extremität etwas stärker (rachitisch)
gokrümmt als die der gelähmten, jedoch nicht so stark, dass die
Krümmung allein eine Differenz von 2 cm erklären könnte. Ausserdem
aber zeigt das Aktinogramm mit der schönsten Deutlichkeit die
typischen rachitischen Knochenveränderungen an den Epiphysen der
gesunden Seite, während die Appositionszonen der gelähmten Extremi¬
tät fast normal erscheinen.
Es lassen sich nun diese Erscheinungen, auf deren Verwerthbar-
keit Vortragenden Prof. Kolisko in liebenswürdiger Weise auf¬
merksam gemacht hat, zur Erklärung der Längendifferenz der Beine
verwenden. Functionelle Inanspruchnahme und besondere Belastung
prädisponiren die Knochen zur Localisation der rachitischen Erkran¬
kung. Stärker belastete Körpertheile und Knochen zeigen immer
stärker ausgeprägte rachitische Veränderungen, die nicht oder wenig
belasteten Knochen desselben Individuums fehlen können. Diese Ver¬
änderungen bestehen in der Hauptsache in pathologischen Processen
an den Appositionsstellen der Knochen, deren Resultate sich in Ver¬
bildungen und ausgesprochener Wachsthumshemmung der Knochen
erkennen lassen.
In dem demonstrirten Falle wurde nun seit dem Einsetzen der
Lähmung fast lediglich das gesunde rechte Bein benützt. Das Kind
steht zwar erst seit drei bis vier Monaten, die mannigfachen Be¬
wegungen, Beugung und Streckung, Aufstützen gegen feste Gegen¬
stände etc. bildeten sicher Belastung genug, um das gesunde Bein
gegenüber dem schlaffen für die Localisation der Rachitis zu dispouiren.
Wie kommt es nun, dass wir bei der Häufigkeit poliomyelitischer
Monoplegien so selten eine Längendifferenz zu Gunsten der gelähmten
Extremitäten sehen? Es gehört zu einer solchen Beobachtung das Ein¬
setzen der Lähmung zur Zeit einer bestehenden floridon Rachitis, das
Befallensein einer unteren Extremität (mit Rücksicht auf das Be¬
lastungsmoment) und endlich die Untersuchung des Falles zu einer
Zeit, zu der derselbe noch relativ frisch ist. Später wird die selten
ausbleibende Atrophie des gelähmten Beines die gehemmte Entwick¬
lung des gesunden Beines mehr als aufwiegen.
Wir haben also nicht eine Elongation des gelähmten, sondern
eine Entwicklungshemmung des gesunden Beines vor uns, eine An¬
nahme, die auch S e e 1 i g m ü 1 1 e r’s Fälle (ebenfalls rachitische Kinder
betreffend) erklären könnte.
Dr. W. v. II a 1 b a n demonstrirt einen Fall von infantiler
Pseudobulbärparalyse.
Die neun Jahre alte Patientin ist das siebente Kind gesunder,
hereditär nicht belasteter Eltern. Von ihren sechs Geschwistern starb
eines im Alter von drei Monaten an einer unbekannten Krankheit.
Die anderen fünf Kinder sind ganz gesund. An Vorkommnisse während
der Schwangerschaft mit diesem lviude, die eine Beziehung zur Krankheit
der Patientin hätten, kann sich ihre Mutter nicht erinnern.
Die Entbindung war rechtzeitig, ging leicht vor sich, das Kind
kam gut entwickelt zur Welt und war bis zu seinem dritten Lebens¬
jahre ganz gesund; es konnte gut gehen und sprechen.
Zu dieser Zeit stellte sich bei ihr ein fieberhafter Zustand von
achttägiger Dauer ein, der von ziemlich starken Kopfschmerzen be¬
gleitet war. Andere Krankheitserscheinungen wurden an ihr nicht be¬
obachtet. Am achten Tage bemerkte die Mutter, dass die Sprache des
Kindes gestört sei. Fast zugleich traten bei Patientin anfallsweise
Zuckungen, die alle vier Extremitäten gleichmässig betrafen, auf. Die
Anfälle, während welcher das Bewusstsein nicht wesentlich gestört
war, traten 14 Tage hindurch in Pausen von einer Viertel- bis einer
halben Stunde auf. Als schon die Anfälle seltener wurden, bemerkte
die Mutter, dass das Kind gelähmt sei und die Sprachstörung noch
zugenommen habe, so dass Patientin fast ganz sprachlos war. Die
Lähmung der rechten Seite soll viel stärker gewesen sein, als die der
linken, die unteren Extremitäten aber wieder viel stärker befallen, als
die oberen. Das Kind konnte weder stehen, noch sich im Bette allein
aufsetzen, oder überhaupt ohne Stütze sitzen bleiben. Beim Athmen
war ein lautes Schnarchen und Pfeifen vernehmbar; durch den halb
offenen Mund ist dem Kinde Speichel herausgeionnen, die Nahrungs¬
aufnahme war sehr erschwert und zwar durch eine hochgradige Kau-
und Schluckstörung.
Es fiel auch der Mutter auf, dass das Kind nach der Erkrankung
sie nicht mehr geküsst hat.
In den folgenden zwei Jahren besserten sich alle Beschwerden
etwa bis zum jetzigen Zustand. Nur die fast gänzliche Sprachlosigkeit
begann erst nach zwei Jahren zurüekzugehen ; auch jetzt noch soll,
nach Angabe der Mutter, zwar nur allmälig, die Sprache des Kindes
sich bessern.
Die psychische Entwicklung des Kindes soll aber nicht auf¬
fallend gelitten haben. Die Mutter glaubt, dass das Kind geistig nicht
mehr zurückgeblieben ist, als es der fehlenden Schulbildung entspricht.
Das Kind konnte wegen der Lähmungen nicht in die Schule geschickt
werden. Zu Hause hat man versucht, ihr einzelne Buchstaben beizu¬
bringen, und dies soll nicht schwerer gefallen sein, als bei anderen
Kindern.
Patientin ist artig, nicht boshaft oder jähzornig und spielt gerne
mit anderen Kindern, sowie es auch von anderen Kindern gerne
geduldet wird.
Epileptische Anfälle stellten sich nicht ein.
Patientin ist gut genährt und für ihr Alter gilt entwickelt.
Die Untersuchung der inneren Organe ergibt nicht Bemerkens-
werthes. Puls 68. Schädelumfang 47 cm. Keine besonderen Degene¬
rationszeichen.
Die ophthalmoskopische Untersuchung weist beiderseits hoch¬
gradige Myopie, beiderseits Staphyloma posticum Scarpae nach.
Die Pupillen sind ungleich, links )> rechts; ihie Reaction
ist normal.
Beim Geradeaussehen besteht beim Kinde häufig eine Unruhe
der Augen, die sich beim Seitwärtssehen zu einem horizontalen Nystag¬
mus steigert, dessen Intensität jedoch wechselt. Dabei ist hervorznheben,
dass, wenn man das nach aussen sehende Auge scbliesst, das andere
Auge viel weniger oder gar nicht zittert. Schliesst man das nach innen
blickende Auge, so steigert sich der Nystagmus des nach aussen
sehenden Auges. Maximal nach links lassen sich beide Augen, sowie
auch das linke allein oft überhaupt nicht einstellen.
Conjunctival- und Cornealreflex sind vorhanden. Gehör, Geschmack
und Geruch sind normal; die Intelligenz des Kindes genügt gänzlich,
um trotz der hochgradigen Sprachstörung jede Läsion dieser Sinne
auszuschliessen.
Das Gesicht des Kindes macht einen leicht gespannten Eindruck ;
in Ruhe besteht keine Facialisdifferenz. Die Nasolabialfurchen sind
seicht. Der Mund ist gewöhnlich halb offen, wird aber auf Aufforderung
tadellos geschlossen. Das rechte Auge vermag Patientin nicht ganz zu
schliessen ; links wird der Augenschluss vollständig ausgeführt, bleibt
aber auch hier kraftlos. Aufgefordert, die Augen stärker zuzudrücken,
zieht das Kind die Nase, sowie die Nasolabialfalte leicht empor, ver¬
mag aber nicht, dem Wunsche nachzukommen, ebenso wie es auch
nicht im Stande ist, die Stirne willkürlich zu runzeln, weder in hori¬
zontale, noch in verticale Falten zu legen. Den Mund nach den Seiten
verschieben kann Patientin nicht; alle sonstigen Bewegungen mit der
Mundmusculatur, wie sie beim Zähnezeigen, Pfeifen, Spitzen des
Mundes, Blasen, Küssen, ausgeführt Averden, gelingen nur theilweise;
da bemerkt man, dass schon bei geringer Anstrengung, eine dieser
motorischen Leistungen zu vollbringen, eine Hyperinnervation des
Mundfacialis zu Stande kommt.
Andauernder Speichelfluss besteht nicht, aber beim Lachen rinnt
der Patientin öfters der Speichel aus dem Munde heraus. Mimisch
wird der VII beiderseits tadellos innervirt, beim Hiuaufsehen die Stirne
ausgiebig gerunzelt.
Der Unterkiefer wird dem Oberkiefer kräftig genähert, nie aber
nach den Seiten verschoben. Der Masseterenreflex ist sehr gesteigert.
Die Zunge wird gut vorgestreckt; es gelingt jedoch nicht, das Kind
dazu zu bringen, die Zunge ssitwärts zu bewegen, weder in der Mund¬
höhle, noch ausserhalb derselben. Rachen-, Gaumen-, Ohren- und
Nasenreflex nicht gestört. (Genauere laryngologische Untersuchung
nicht durchführbar.) Die Uvula ist nicht nach einer Seite verzogen
und ihre Beweglichkeit scheint unbehindert.
Die Nahrungsaufnahme des Kindes ist nur theilweise gestört.
Flüssigkeiten werden ziemlich gut genommen, feste Speisen nur mittelst
der Vorderzähne, und zwar mit grosser Ungeschicklichkeit gekaut und
dann mit gewisser Mühe geschluckt. Auch beim Essen bewegt das
Kind nie die Zunge nach den Seiten, wodurch, ebenso wie durch das
*) Auch K o 1 i s c h e r, wie Vortragenler nachträglich fand (ein Fall).
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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ausschliessliche Kauen mit den Schneidezähnen das Essen sehr
erschwert wird.
Bei der Sprache ist ausser den Störungen, welche die beider¬
seitige VHparese bedingt (das Kind kann z. B. die Buchstaben
p, b gar nicht aussprechen), noch hochgradiges Stottern bemerkbar,
das jedoch ohne Krämpfe in der Kehlkopf- und Halsmusculatur vor
sich geht. Bevor das Kind ein Wort ausspricht, führt es einige rasche
Mundbewegungen aus, wie wenn es Luft holen wollte. Der Kopf ist
in Ruhe leicht vorgeneigt; die Bewegungen desselben werden nach
beiden Seiten gleichmässig ausgeführt; eine Störung ist nur bemerkbar
bei der Neigung des Kopfes nach den Seiten; sie wird schwach aus¬
geführt und fast nie ohne gleichzeitige Rotation des Kopfes nach der
entgegengesetzten Seite. Fibrilläre Zuckungen oder Atrophien wurden
nirgends gefunden. Die galvanische und faradische Erregbarkeit ist
normal.
Was die oberen Extremitäten anbelangt, so ist die motorische
Kraft derselben, mit Ausnahme der Streckung im Handgelenke, nicht
gestört. Bei der Aufforderung, die Hand zu strecken, sehen wir, dass
diese Bewegung im Handgelenke nur unvollständig ausgeführt wird,
die Finger im Metacarpo-Phalangealgelenke aber hyperextendirt werden,
wodurch die Hand eine bajonnetähnliche Stellung einnimmt. Rigor
besteht nur im Handgelenke. Die Extremitäten sind leicht cyanotisch
und fühlen sich etwas kühler an als der übrige Körper. Die tiefen
Reflexe sind beiderseits sehr gesteigert. Die Sensibilität ist normal.
Feinere Handgriffe werden mit beiden Händen sehr schwer oder gar
nicht ausgeführt; die linke Hand ist noch ungeschickter als die rechte.
Die Wirbelsäule des Kindes ist skoliotisch. Es besteht keine
Störung der Sphinkteren. Die Bauchdeckenreflexe sind beiderseits leb¬
haft, rechts etwas prompter als links. Von den unteren Extremitäten
ist die linke in der Entwicklung leicht zurückgeblieben (links unter
dem Knie 22 cm, rechts 23 cm). Die Bewegungen in den Hüft- und
Kniegelenken sind kräftig, in den Fuss- und Zehengelenken sehr ein¬
geschränkt und kraftlos. Es besteht beiderseits Pes valgus. Die Zehen
sind gespreizt und die grossen Zehen hyperextendirt. Patellar- und
Achillessehnenreflexe beiderseits sehr gesteigert. Auch die unteren
Extremitäten sind leicht cyanotisch; die Sensibilität ungestört. Das
Kind kann nicht allein stehen und gehen; geführt zeigt es einen
spastisch-paretischen Gang.
Die geistige Entwicklung des Kindes ist seinem Alter ent¬
sprechend; sie ist nicht stärker zurückgeblieben, als durch die Läh¬
mungen und die Sprachstörung dies absolut bedingt ist. Das Kind be¬
nimmt sich während der Untersuchung ruhig und leistet allen noch
so schwierigen Anforderungen Folge.
Von den genannten Symptomen wäre besonders hervorzuheben
der eigenartige Nystagmus, die Contractur im Mundfacialis bei inten-
dirter Bewegung und die Intactheit der mimischen Innervation bei
gleichzeitiger, hochgradiger Parese beider Faciales.
Das Verhalten des Mundfacialis, die spastische Innervation des¬
selben im Gegensätze zum Augenfacialis scheint bei der cerebralen
Kinderlähmung sehr selten vorzukommen. Koenig sah unter
35 Fällen, in welchen der VII paretisch war, fünfmal spastische
Innervation und nur einmal ein ungleichmässiges Verhalten des Muud-
und Augenfacialis, wie bei unserer Patientin. Ueber das Verhalten der
mimischen Bewegungen bei bilateraler Vllparese der diplegisehen
Kinderlähmungen liegen nur wenig Befunde vor. Auch in dem vom
Vortragenden vor einem Jahre (Sitzung vom 13. Juni 1899) vor¬
gestellten Falle war die mimische Innervation ziemlich gut erhalten.
Der Fall unterschied sich vom heutigen dadurch, dass in jenem die
Störungen der Extremitäten ganz gering waren und in den Hinter¬
grund traten gegenüber den hochgradigen Läsionen der Hirnnerven;
auch bestand bei dem Kinde Sprachlosigkeit. Damals wies Vortragender
auf die Möglichkeit hin, eine Besserung der Sprache zu erzielen. Das
Kind wurde einem Taubstummen-Institute übergeben, konnte aber
wegen der sich häufenden epileptischen Insulte nicht lange dort ge¬
halten werden. Im vorliegenden Falle, in dem keine Sprachlosigkeit,
nur eine hochgradige, angeblich noch in der letzten Zeit sich bessernde
Sprachstörung besteht, ist zu hoffen, dass in einer Sprachschule ein
bedeutender Erfolg zu erreichen sein wird.
Aus der Anamnese des Falles geht hervor, dass die diplegische
Cerebrallähmung eine extrauterin erworbene sei; die acute, fieberhafte
Erkrankung mit anfallsweise auftretenden Krämpfen im dritten Lebens¬
jahre des Kindes ist zweifelsohne die Ursache der Lähmung.
Was die pathologische Anatomie dieser Fälle anbelangt, so liegt
kein Grund vor, andere Processe anzunehmen, als wie sie bei anderen
Formen der cerebralen Kinderlähmung Vorkommen; es dürfte sich wohl
nur um Unterschiede in der Localisation handeln.
Die infantilen Cerebrallähmungen mit bulbären Symptomen
dürften nicht allzu selten sein. Es ist wahrscheinlich, dass die Kinder
in Folge der fehlenden Sprache oder der hochgradigen Sprachstörung,
wie auch der grossen Ungeschicklichkeit der Extremitäten theilweise
in Anstalten für schwachsinnige oder taubstumme Kinder untergebiaclit
werden.
Dr. Zapp er t stellt einen U/ajährigen Knaben vor, der vor
neun Tagen plötzlich ohne Bewusstseinverlust an Aphasie und
rechtsseitiger Hemiparese (am stärksten unterer Facialisast, am
schwächsten Bein) erkrankte. Patient konnte damals sofort nach dem
Insult gehen, wurde zu Bett gebracht. In den nächsten Tagen bestanden
nur Kopfschmerzen und einige Male Erbrechen.
Eine rasche Verschlechterung hat der Zustand seit vier Tagen
erfahren. Damals bekam Patient, gerade als Vortragender ihn zum
ersten Male sah, einen Anfall von rechtsseitigen Krämpfen mit
Bewusstseins Verlust.
Seither ist der Knabe unruhig, wimmert bei Berührungen, ist
verdrossen, greift sich mit dem Ausdrucke des Schmerzes nach dem
Kopfe. Erbrechen, Krämpfe haben sich mehrfach wiederholt.
Ausserdem besteht jetzt Pulsverlangsamung (64), geringe
Nackensteifigkeit, eingesunkenes Abdomen, die Beine sind im Knie
gebeugt; irgend eine Sprachäusserung gibt Patient nicht von sich,
doch versteht er, was man zu ihm spricht. Der Augenhintergrund ist,
soweit eine Untersuchung möglich war, normal.
Vortragender hält den Krankheitszustand für eine t u ber¬
eu 1 ö s © Meningitis. Der Beginn mit Aphasie wäre der Ausdruck
einer primären Exsudation an der linken Grosshirnconvexität (S y 1 v i-
sche Furche); secundär stellten sich jetzt die Symptome der basalen
Meningitis ein.
Derartige Fälle sind in der Literatur vereinzelt beschrieben
(II u g u e n i n) und schliessen sich an die vom Vortragenden seinerzeit
bearbeiteten Formen der Hemiplegie bei tuberculöser Meningitis an.
Discussion: Prof. v. F rank 1-H oehwart fragt den
Vortragenden, ob in den vorgestellten Fällen Schwankungen in dem
Verhalten der Aphasie beobachtet wurden.
Dr. Z a p p e r t verneint diese Frage.
Prof. v. F rank 1-H oehwart weist darauf hin, dass wegen
der Wichtigkeit der Dififerentialdiagnose der mit Aphasie einsetzenden
Meningitis gegenüber begrenzten Herderkrankungen die Stellungnahme
der Versammlung zu der Frage einer initialen Aphasie bei Meningitis
auf Grund eigener Erfahrungen erwünscht wäre. v. F rank 1-H och-
wart hat nur zweimal ein Einsetzen von Meningitis mit Aphasie be¬
obachtet; das relativ häufige Auftreten der Aphasie im Verlaufe einer
Meningitis kommt dabei nicht in Frage. In beiden vom Redner beob¬
achteten Fällen zeigte nun die Aphasie Eigenthümlichkeiten, die an
die aphasische Sprachstörung der Paralyse erinnerten, ein Kommen
und Gehen der Aphasie innerhalb von Stunden und Tagen, schliesslich
eine Stabilisirung derselben. In dem einen Falle führte ein gleich¬
zeitig vorhandener Spitzenkatarrh zur richtigen Diagnose, im zweiten
Falle, bei dem eine vorausgegangene Lues zu erheben war, wurde die
Diagnose nach der anfänglichen Annahme einer Lues cerebri, be¬
ziehungsweise progressiven Paralyse erst durch später aufgetretenes
Fieber und eine nachweisbare Spitzeninfiltration gesichert.
Docent Schlesinger erklärt die Aphasie als Frühsymptom
einer Meningitis für keine seltene Erscheinung; er erinnere sich an
vier oder fünf Fälle bei mit Tuberculose behaftet gewesenen Individuen;
die von v. Frank 1-H oehwart constatirten Schwankungen habe er
nicht beobachtet; bei einem an der Klinik des Hofrathes Albert
gesehenen Falle handelte es sich um eine eintägige Aphasie, die dann
ganz zurücktrat.
Docent Redlich sah Meningitisfälle mit initialer Aphasie,
die dauernd blieb. Fälle, die mit einer Hemiplegie einsetzten, sind in
der Literatur mehrfach verzeichnet. Redlich berichtet ferner über
einen Fall, den er an der Ohrenklinik sah und bei dem es sich um
eine sensorische Aphasie bei einer linksseitigen Otitis med. supp,
handelte. Es lag nahe, an einem Abscess im linken Schläfelappen zu
denken. Die Annahme stellte sich nach operativem Eingriffe als irr-
thümlich heraus, was unter Rücksichtnahme auf die später erschienene
Mittheilung 0 p p e n h e i m’s, wonach die von Mittelohraffectionen aus¬
gehenden Abscesse ihren Sitz in den tieferen Schläfewindungen haben,
erklärlich erscheint. Die Ursache der Aphasie war eine Meningitis
tuberculosa; das seltene Vorkommniss einer sensorischen Aphasie bei
einer Meningitis tuberculosa hielt der Redner der Mittheilung werth.
Dr. Z a p p e r t betont, dass die Aphasie in den vorgestellten
Fällen als in innerer Beziehung mit der Hemiplegie stehend anzusehen
sei. Ein Einsetzen der Meningitis mit Hemiplegie habe er selbst in
zwei Fällen gesehen; es waren dies Fälle, in denen Convulsionen der
Hemiplegie vorausgegangen sind. Gestützt auf diese, durch Obductionen
gesicherten Erfahrungen hat er auch hier die Diagnose einer Meningitis
tuberculosa gestellt.
Prof. Obersteiner: Demonstration der G 1 i a zellen
in der Mol ecularschichte des Grosshirnes.
Färbt man die Grosshirnrinde erwachsener Menschen nach der
Methode von March i, so sieht man bei schwacher Vergrösserung in
dem äusseren Drittel der Moleeularschichte eine grosse Anzahl schwarzer
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Pünktchen. Bei starker Vergrösserung überzeugt man sich, dass es
sich um Gliazellen handelt, in denen sich eine Anzahl kleinerer oder
grösserer Fettkörnchen abgelagert haben. Beim 172jährigen Kinde sind
diese Körnchen noch ungemein selten, beim 14jährigen Kinde sind
sie bereits recht deutlich und nehmen nun mit fortschreitendem Alter
an Grösse und Zahl zu. Zugleich erhalten sie im höheren Alter eine
gelbbräunliche Farbe. Man hat daher das Auftreten dieses Fettes,
respective Pigmentes in den Gliazellen irriger Weise meist für den
Ausdruck des Seniums, oft sogar der senilen Demenz gehalten.
Ausserdem treten bereits in den mittleren Lebensaltern helle,
lichtbrechende Körnchen in den Gliazellen auf, die im höheren Alter
zu grösseren Kugeln an wachsen und mit dem Zei falle der Zelle wahr¬
scheinlich die Grundlage der Amyloidkörper darstellen. Letztere ent¬
wickeln sich jedenfalls aus der Glia und durchaus nicht aus den
Achsencylindern.
18. Congress für innere Medicin in Wiesbaden.
Vom 18. bis 21. April 1900.
Referent Albu (Berlin).
(Schluss.)
VI. Sitzung.
VI II. Michaelis (Berlin): Ueber Sauerstofftherapie’
Diese Therapie wurde in Deutschland schon 1774 geübt und
ist wegen ihrer Wirkungslosigkeit und schädlichen Nebenwirkungen
immer wieder verworfen worden. Die L e y d e n’sche Klinik hat sie
wieder aufgenommen, nachdem jetzt besseres Gas zur Einathmung zur
Verfügung steht. Es enthält 60 — 63°/o reinen Sauerstoff. Michaelis
be richtet über 150 Beobachtungen bei Zuständen von Dyspnoe in
Folge von Lungen- oder Herzkrankheiten und Vergiftungen. Bei allen
subjectives Wohlbefinden. Als besonders beweisend führt Vortragender
einen Fall von Morphiumintoxication und von Herzschwäche mit Cyanose
an, wo sich nach längerer Einathmung des 0 Puls und Athmung
erheblich besserten. Bei chronischen Fällen lässt sich diese Wirkung
stets von Neuem erzielen. Für Blutgasvergiftung erscheint die Behand¬
lung eine specifische. Vortragender demonstrirt den auf der Leyden-
schen Klinik gebrauchten Apparat. Es müssen grosse Mengen einge-
athmet werden.
v. J aksch (Prag) hat mehrfach auch gute Wirkungen gesehen,
so kehrte z. B. in einem Falle vou Coma diabeticum das Bewusst¬
sein wieder.
Kobert (Rostock) hat auch bei Phthisikern vorübergehende
Besserung der Dyspnoe gesehen, räth aber zur Vorsicht.
K r a u s (Graz) hat keine guten Resultate gehabt. Die Suggestion
des Kranken thut Vieles. Die Wirkung lässt sich auch theoretisch
nicht begründen. Eine vermehrte Sauerstoffaufnahme lässt sich nicht
nachweisen.
Merkel (Nürnberg) hat bei Zuständen von Athemnoth nur
vorübergehende Linderung gesehen, dagegen ist die Therapie für
Kohlenoxydgasvergiftung u. dgl. sehr brauchbar.
Friedei Pick (Prag) hat weniger günstige Resultate
gesehen.
*
VII. Sitzung.
I. H e i n r (Erlangen) : Experimentelle Untersuchun¬
gen über Digitaliswirkung.
Die absolute Herzkraft wird durch Digitalispräparate nicht
vermehrt. Die Herzarbeit zeigt sich durch Digitalis infus
u m 40 — 250% vermehr t.
Kobert (Rostock): Man muss bei der Digitalis die Einwirkung
auf das Herz und ganz unabhängig davon die Wirkung auf die Ge-
fässe unterscheiden.
II. Müller (Leipzig): Zur Entstehung der Lungen¬
entzündungen.
Vortragender hat im Thierversuch Vaguspneumonien erzeugt
und die Lungen in Serienschnitten untersucht. Die Infection verbreitet
sich darnach nicht auf der Oberfläche der Alveolen, sondern von der
Wand derselben aus gleichzeitig nach allen Richtungen, dann in die
Septa und die Saftspalten und die Lymphgefässe. Die Bacterien ver¬
breiten sich also auf demselben interstitiellen Wege, wie der Russ
und Staub. Müller hat festgestellt, dass bei der Aspirations¬
pneumonie der Säuglinge die Infection der Lungen in der gleichen
Weise vor sich geht. Auch für die croupöse Pneumonie ist das wahr¬
scheinlich.
III. Lennhoff (Berlin) gemeinsam mit W. B e c h e r (Berlin):
Weitere Untersuchungen über die Beziehungen
zwischen Körperform und Lage der Nieren.
Stellt man den von uns zur Bestimmung der Körperform gefun¬
denen Index in Beziehung zu dem F ritzsch-Schmid t’schen
Canon, so ergibt sich eine weitere Bestätigung für die Richtigkeit des
Index, den Lennhoff und Becher auf dem vorjährigen Congresse
als massgebend für die Lage der Nieren angegeben haben. Beim
Uebergang aus horizontaler Lagerung in aufgerichtete Körperhaltung
rücken die Nieren allmälig abwärts und liegen beim gerade stehenden
Menschen am tiefsten. Um Klarheit über die Lage der Nieren zu er¬
halten, ist es daher nothwendig, die zu untersuchenden Individuen
sowohl in horizontaler Lage, wie auch in aufrechter Stellung zu unter¬
suchen. Ein erhebliches Moment für die Erklärung der Thatsaehe,
dass bei Frauen die Nieren ungleich häufiger der Palpation zugänglich
sind, als bei Männern, liegt in der den Frauen eigenthiimliehen Ein¬
ziehung des Rumpfes in der Taille. Diese Einziehung und die grössere
Palpabilität der Nieren sind demgemäss als secundäre Sexual-
cliaraktere des weiblichen Geschlechtes anzusehen. Die Verschieden¬
heit der anatomischen Angaben über die Lage der Nieren erklärt
sich aus dem Umstande, dass bei der Untersuchung der Verhältnisse
an der Leiche die allgemeine Körperform bisher nicht berücksichtigt
worden ist.
Rosen stein (Leiden) hält darnach es doch nicht für aufge¬
klärt, warum gerade die rechte Niere häufiger fühlbar wird.
Albu (Berlin): Ausser der vom Vortragenden angegebenen
physiologischen Disposition, deren Bedeutung anerkannt werden müsste,
kommen für die Entstehung der sogenannten Wanderniere — ein
gänzlich zu perhorrescirender Ausdruck — noch eine Reihe pathologi¬
scher Momente in Betracht, wie Nachlassen des allgemeinen Gewebs-
tonus, Lockerung der Aufhängebänder, Schwund des Fettes, Sinken
des intraabdominellen Druckes u. s. w.
Boas (Berlin) schliesst sich dem an.
Strauss (Berlin) macht hauptsächlich Constitutionsanomalien
für die Veränderung der Lage der Nieren verantwortlich. Die Form
des Abdomens wurde aus der runden zu einer mehr cylindrischen.
Lennhoff (Schlusswort): Wenn 80% aller Nieren fühlbar
sind, so muss das eine physiologische Norm sein. Je höher der Index,
desto mehr wird auch die linke Niere fühlbar.
IV. Strauss (Berlin) : Zur Function des Magens.
Vortragender weist nach, dass der osmotische Druck des Magen¬
inhaltes unterhalb desjenigen des Blutes liegt. Es entspricht meistens
einer Gefrierpunktserniedrigung von A — — 0'38° bis A = — 0'44°.
Pathologische Steigerungen kommen vor, wenn Milchsäure im Magen
ist (bis — 1 • 1 1 °). Pathologische Erniedrigungen der Gefrierpunktes hat
Vortragender bei einigen Fällen von „larvirter Hyperacidität“ beob¬
achtet und erklärt das Zustandekommen derselben durch das Vorhanden¬
sein einer „Hydrorrhoea gastrica“. Sobald der osmotische Druck des
Magens (D) die normale Höbe erreicht hat, bleibt er bis zum Schluss
der Verdauung constant und bei der Zufuhr von gastrohypertonischen
Lösungen erscheint freie Salzsäure erst, w’enn D erreicht ist. D steht
in Beziehung zu allen drei Functionen des Magens (Secretion, Resorp¬
tion und Motilität). Die Regulirung des osmotischen Druckes des
Mageninhalts dient dem Organismus als Schutzvorrichtung, die
einerseits eine Schädigung des Darmes, andererseits eine plötzliche
Steigerung des osmotischen Druckes in den Gewebssäften zu verhüten
mag. Diese Schutzvorrichtung hat jedoch eine Grenze, denn es
gelingt im Thierexperiment, durch Zufuhr unmässiger Quantitäten von
Kochsalz eine Steigerung des osmotischen Druckes des Blutes zu er¬
zwingen. Vortragender meint, dass man das Zustandekommen plötzlicher
Steigerungen des osmotischen Drucks im Blute auf dem Ernährungs¬
wege möglichst verhüten soll und zwar ganz besonders bei unge¬
nügender Nierenfunction. Lösungen von hoher moleculärer Concentration,
z. B. concentrirte Zuckerlösung, alkoholische Getränke können unter
Umständen zur Verdünnung des Mageninhaltes oder zur Verbesserung
der Resorption Verwendung finden, doch sind sie bei motovischer In-
sufficienz des Magens zu vermeiden, da sie durch Vermehrung des
Flüssigkeitsgehaltes des Magens die Motilität belasten. Auch für die
Beziehungen gewisser Mineralwässer zum Magen verdient der osmotische
Druck neben anderen Momenten Beachtung.
V. Wassermann (Berlin) : Ueber neue Versuche auf
dem Gebiete der Serumtherapie.
Ausgehend von den Versuchen, die Ehrlich in Gemeinschaft
mit Morgen roth an hämolytischen Sera gemacht hat, zeigt Vor¬
tragender, dass auch zum Auflösen von lebenden Bacterien im Organismus,
also zur Heilung einer Infection zwei verschiedene Substanzen gehören.
Diese beiden Substanzen, welche Ehrlich bei den hämolytischen
Serumarten zuerst studirt hat, sind einerseits der sogenannte Zwischen¬
oder Immunkörper, andererseits das sogenannte Complement oder der End¬
körper. Der Zwischenkörper hat nur die Aufgabe, das Complement,
welches das die lebenden Bacterien auflösende Ferment ist, an die
Bacterien zu ketten. — Im bactericiden Immunserum ist fast nur
Zwischenkörper vorhanden, während das Complement einen Bestaud-
tlieil des frischen normalen Serums bildet. Ehrlich konnte nun
N r. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
567
nachweisen, dass Zwischenkörper und Complement wie zwei Zahnräder
genau in einander passen müssen, um ihre biologische Wirkung aus¬
zuüben. Demnach passt nicht jedes frische Serum irgend einer Thier¬
art auf jedes Immunserum, es müssen vielmehr die passenden End¬
körper experimentell gesucht werden. Vortragender fand nun, dass bei
den bisherigen Heilversuchen mit bactericidem Serum stets nur Immun¬
serum, also Zwischenkörper, dem erkrankten Organismus zugeführt
wurde. Er fügte deshalb demselben noch frisches Rinderserum hinzu
und in der That konnte er nunmehr bei typhusinficirten Meerschwein¬
chen mit dieser neuen Methode eine Infection zum Stillstände bringen,
die mit Immunserum allein nicht mehr beseitigt werden konnte.
Wassermann glaubt, dass die Lehren dieser Experimente vielleicht
auch für die Therapie des Menschen, und zwar auch bei anderen In-
fectionen (Cholera, Pest etc.) nicht unwichtig sind.
Ehrlich (Frankfurt a. M.) macht einige weitere theoretische
Auseinandersetzungen über das vom Vortragenden berührte Thema und
begrüsst es mit Freuden, dass bereits praktische Erfolge erreicht
worden sind.
VI. Biedl und Ko lisch (Wien): Ueber Phloridzin¬
diabetes.
Die Autoren fanden am Hunde und Kaninchen eine Vermehrung
des Blutzuckergehaltes im gesammten Gefässsystem nach Phloridzin¬
darreichung.
In einer weiteren Versuchsreihe wurde festgestellt, dass das
Nierenvenenblut in vielen Fällen zuckerreicher wurde, als das
Arterienblut. Ferner zeigten Versuche, in welchen gleichzeitig
Blut aus der Arteria femoralis und der Vena hepatica
aufgefangen wurde, dass unter der Einwirkung von Phloridzin enorme
Mengen von Zucker aus der Leber in den Kreislauf gelangen.
Biedl und Ko lisch fanden Werthe des Zuckergehaltes des
Lebervenenblutes bis zu 0,8°/o.
In Versuchen, bei welchen die Harnsecretion aufgehoben war,
erwiesen sich die Nieren nach Darreichung von Phloridzin immer
stark zuckerhaltig, bis zu 0‘5°/o. Die Durchblutung der ausgeschnittenen
Niere mit Phloridzinblut ergab zuckerhaltigen Urin. Mit Rücksicht auf
diese Versuchsergebnisse wenden sich die Autoren gegen die Elimi¬
nationstheorie des Phloridzindiabetes und erklären die Glykosurie durch
eine Ueberschwemmung des Blutes mit Zucker. Die Versuche erweisen
als Quellen dieses Zuckers die Leber und Nieren. Es ist jedoch nicht
wahrscheinlich, das3 noch andere Quellen für den Zuckerzufluss zum
Blute bestehen.
K o 1 i s c h wendet sich gegen die herrschende Ansicht von de1’
Zuckerretention in der Niere.
Auf Grund seiner Untersuchungen über den Jecoringehalt des
Blutes kommt er zu der Anschauung, dass Zucker, wenn er im Blute
präformirt vorkommt, unter allen Umständen ausgeschieden werden
muss, dass aber de norma der Zucker gebunden ist.
Zucker, welcher dem Blute auch ausserhalb des Körpers zu¬
gesetzt wird, geht in eine ätherlösliche Verbindung über. In dieser
Verbindung verliert der Zucker auch die Fähigkeit, Kupferoxyd zu
redueiren, und gewinnt sie erst wieder durch Spaltung der Verbindung
mit Mineralsäuren, ein Beweis, dass der Zucker im Blute chemisch
gebunden wird.
Friedei Pick (Prag) macht darauf aufmerksam, dass den
Resultaten des Vortrages die Thatsache entgegensteht, dass der
Phloridzindiabetes noch zu Stande kommt, wenn die Leber glykogen¬
frei gemacht ist.
VII. E d 1 e s s e n (Kiel) : Zum Nachweis des Zuckers
im normalen Harn.
VIII. Lenne (Neuenahr): Die Eiweisszufuhr in der
Diabetiker diät.
Wie die Nahrungszufuhr im Allgemeinen, so ist auch das stick¬
stoffhaltige Nährmaterial dem Diabetiker im Verhältniss zu seinem
Körpergewichte zuzumessen. Diese Menge der Eiweissnahrung darf
nicht höher gegriffen werden, als einer Harnstoffausscheidung von
0 37 g pro Kilogramm Körpergewicht und pro 24 Stunden bei dem
betreffenden Individuum entspricht. Je höher der Eiweissbedarf des
diabetischen Organismus ist und je schwieriger es gelingt, den Eiweiss¬
umsatz auf diese Grenze herabzudrücken, desto schwerer sind die
krankhaften Veränderungen des diabetischen Organismus, umgekehrt
weist ein niedriger Eiweissbedarf auf eine gut erhaltene normale
Körperbeschaffenheit hin.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
in München.
Vom 17. bis 22. September 1899.
(Fortsetzung.)
Section für Kinderheilkunde.
Referent Dr. B. B e n d i x (Berlin).
II. Sitzung, Dienstag, den 19. September 1899.
Vorsitzender: Heubner.
4. Bag in sky (Berlin). Nach einem kleinen historischen Apercu
äussert sich Baginsky dahin, dass nach seiner Meinung ganz sicher
Laryngospasmus ohne Tetanie existirt. Das Facialisphänomen bei Vor¬
handensein von Krämpfen für Tetanie diagnostisch zu verwerthen gegen¬
über der Meningitis, wie Es eher ich vorschlägt, möchte er nicht
empfehlen, da auch bei Meningitis das Facialisphänomen vorkommt.
Der Zusammenhang des Laryngospasmus mit Convulsionen kann
nicht so construirt werden, wie man physiologisch gern möchte, dass
aus dem Schlüsse der Rima glottidis her Apnoe schliesslich Dilatatio
cordis und Circulationsstörungen im Cerebrum auftreten. Der Phosphor
wirkt, wenn er wirkt, sicher nicht gegen die Rachitis als Ursache der
Krämpfe, sondern wahrscheinlich als Nervinum.
5. R. Fisch 1 (Prag) hält Herrn Th im ich gegenüber den
C h e a d 1 e’schen Satz aufrecht, den er für vollkommen logisch hält,
da in der That die verschiedenen Zustände gleichzeitig Vorkommen,
wie auch in einander übergehen. — Auch rascher Temperaturabfall kann
Krämpfe liervorrufen. Sicher existirt Laryngospasmus ohne Tetanie. Die
Phosporeinwirkung manifestirt sich bis zu einem gewissen Grade, denn
Fischl hat auf den Glottiskrampf oft einen glänzenden Einfluss ge¬
sehen, ohne dass allerdings die anderen sonst noch vorhandenen Latenz¬
erscheinungen irgendwie beeinflusst wurden.
6. Ganghofner (Prag) hält mit E s c h e r i c h, dem gegen¬
über er betont, dass er nicht vom Status thymicus sondern vom St.
lymphaticus gesprochen — den Nachweis von Tetanie bei allgemeinen
Convulsionen insbesondere auch bezüglich der Frage, ob Meningitis
vorliegt, nach eigener Erfahrung prognostisch für wichtig. Gegenüber
S o 1 1 m a n n gibt Ganghofner das Ilervorg'ehen des eklamptischen
Anfalles aus dem larygospastischen zu, doch gibt es auch Anfälle von
Eklampsie ohne Laryngospasmus. Auch kommt Laryngospasmus allein
vor ohne Tetanie.
7. II och singer (Wien) hofft, dass der Begriff der Tetanie
durch die von ihm gemachte Trennung der permanenten Dauercontrac-
turen von ihr eine Klärung gewonnen hat. Das vollkommene Fehlen
gerade jeder Uebererregbarkeit des Nervensystems und das unvermin¬
derte persistente Bestehen dieser tonischen Contracturen ist etwas ganz
anderes als Tetanie. Der gewählte Name der Myotonie der Neugebo¬
renen entspricht den Verhältnissen. Auch decken sich die theoretischen
Grundlehren des Redners bezüglich des Muskeltonus bei Neugeborenen
vollkommen mit den Lehren Soltmann’s und laufen denselben nicht,
wie Soltmann meint, zuwieder. Laryngospasmus und Eklampsie be¬
stehen häufig ohne jede Spur von Tetanie. Die Phosphorbehandlung
hat sicher Erfolg, wenn auch die Theorien über die Art seiner Wir¬
kung auseinandergehen mögen.
8. Sonnenberger (Worms) vermisst in den Vorträgen als
ätiologisches Moment für das Entstehen von Krämpfen im Kindesalter
die Autoinfection.
9. Heubner (Berlin). Betreffs der Epilepsiefrage stellt
Heubner sich auf die Seite H e n o c h s. Er stützt sich dabei nicht
auf anamnestische Daten, sondern auf eine Erfahrung, die durch jahre¬
lange Beobachtung gewonnen wurde, nach der er Fälle von scheinbarer
Eklampsie des frühesten Kindesalters direct, wenn auch allnnilig, in
zweifellose Epilepsie (mit negativem Sectionsbefund nach Tod in ge¬
häuften Anfällen) — bei Abstammung aus epileptisch belasteter Fa¬
milie — hat übergehen sehen. Was die Tetanie anbetrifft, so schliesst
sich Heubner nur mit Vorbehalt dem Ausspruch C o m b y’s an.
Möge man doch in v. Frankl-Hochwart’s schöner Monographie
darüber nachlesen, wie Charcot selbst jahrelang keine Tetanie ge¬
sehen habe, bis er auf einmal Gelegenheit fand sich von ihrem
Vorkommen zu überzeugen. Die Tetanie ist eben eine in örtlicher und
zeitlicher Beziehung intermittirende Erkrankung. Lieb ist es Heubner,
wahrzunehmen, dass der Begriff des Laryngospasmus der Gefahr
zu einem pathogenen Begriff gestempelt zu werden, zu entrinnen
beginnt.
10. Lange (Leipzig): Schlusswort: Lange constatirt
eine erfreuliche Uebereinstimmung zwischen T h i e m i c h’s und seinem
Referat insofern, als die Reflextheorie zu Gunsten der Autointoxicationen
stark .zurücktritt. Zugleich im Sinne seines Correferenten erwidert
Lange Herrn Pott, dass sie den Einfluss der Heredität bisher für
nicht ausreichend bewiesen erachten, zum mindesten sei nicht auszu-
schliessen, dass gleiche Ursachen und Verhältnisse eine grosse Rolle
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900
Nr. 24
66S
spielen, umsomehr, da meist ganze Familien als Beweis angeführt
werden. Gegenüber B a g i n s k y hebt Lange hervor, dass die An¬
schauung der steten Combination von Spasmus glottidis mit Zwerch¬
fellkrampf nicht neu ist, da sich bereits Trousseau in diesem
Sinne klar geäussert hat. Die fast „augenblickliche“ Wirkung der
Phosphortherapie, speciell auch bei nicht rachitischen Kindern, glaubt
Referent genügend betont zu haben. Fischl, Ganghofner, Sonne¬
berger habeu dies bestätigt.
Der Einfluss des rapiden Fieberanstieges — mit dem Fieberabfall
dürfte es sich ähnlich verhalten - — ist nicht bestritten worden, ist in¬
dessen durch nichts bewiesen.
11. T h i e m i c h (Breslau, Sclilusswoi t):lleubner gegen¬
über gibt T h i e m i c h zu, dass er nur die Häufigkeit eines Zusammen¬
hanges zwischen Eklampsie und Epilepsie hat bestreiten wollen. Fisch 1
gegenüber weist Thiemich nochmals auf die Haltlosigkeit des Cheadle-
schen Satzes hin. Herrn Esche rieh erwidert er, dass genauere
Angaben für die „Stoffwechselanomalien“ nicht in das Thema gehören,
dass sie aber aus der Klinik mitgetheilt werden sollen. Von einem
Status thymicus habe er überhaupt nicht gesprochen. In Bezug auf
S o 1 t m a u n’s Ausführungen weist Thiemich auf die Wichtigkeit
der Causa pathologica int. hin, für welche sich aus Soltmann’s
Ausführungen kein Aufschluss ergibt. Durch Untersuchung des Breslauer
Kindermaterials ist Vortragender zu Resultaten gekommen, die mit den
von Ganghofner berichteten manche Uebereinstimmung zeigen. Sie
sollen demnächst im Jahrbuch für Kinderheilkunde ausführlich vor¬
gelegt werden.
V. Finkeistein (Berlin) : Referat über Sepsis im
frühen Kindesalter.
Vortragender gruppirt die septischen Erkrankungen in die zwei
Gruppen der Wund- und Schleimhautin fectionen. Erstere sind unserem
Verständniss leicht zugänglich, bei letzteren bedarf es besonderer Ver¬
hältnisse, ehe ein Eindringen von Bacterien in die Gewebe stattfindet,
z. B. katarrhalischer Processe, die zu Erosionen führen oder conti-
nuirliches Tiefergreifen u. A. In ihrer Dignität sind die einzelnen
Schleimhäute verschieden; an der Conjunctiva sah Referent niemals,
an der Nase selten Iufectionen, wichtiger ist schon das Ohr, bei dem
neuerliche Befunde auf interessante Beziehungen zwischen Bacterien-
infection de3 Spinalraums und cerebralen Erscheinungen schliessen
lassen. Von den Lungen aus sieht man entweder Infection der Pleuren
etc. durch Infection ex continuo, oder die multiple eiterige Entzündung
seröser Häute (Heubner’s). Sehr wichtig ist aufsteigende Infection
von den Harnwegen. Eine grosse Bedeutung hat die Lehre von den
Wechselbeziehungen zwischen Darm und Sepsis erlangt. Die An¬
schauungen der Forscher werden erörtert. Es kann einmal die Sepsis
mit Darmerscheinungen verlaufen, und zwar dann, wenn die Symptome
der Allgemeinintoxication sehr hochgradige*sind. Anderseits ist zu unter¬
suchen, ob die Meinung zu Recht besteht, dass die Sepsis ihren einzigen
Ausdruck in einer Gastroenteritis finden kann und ob ferner die
Complicationen hämatogen septischen Ursprungs sind. Die zahlreichen
Untersuchungen des Referenten, durch bacteriologiselie Blutdurch¬
forschung angestellt, ergeben keinerlei Anhaltspunkte dafür, Gastro¬
enteritiden, die nicht schon a priori als besondere Verlaufsart der
Sepsis sich documentiren, als Sepsis aufzufassen. Es handelt sich viel¬
mehr um Complicationen, die einen vorher durch Darmkrankheiten
geschwächten, respective intoxicirten Körper befallen. Gleiehwertliig mit
solchen Organcomplicationen kann natürlich auch eine secundäre septi¬
sche Infection eintreten. Es ist nun zu erörtern, ob diese vom Darm
aus stattfinden. Die Erfahrungen des Referenten lassen dies sehr un¬
wahrscheinlich bleiben und tendiren dahin, zumeist die Haut, respective
andere Körperoberflächen anzuschuldigen; ebenso wie auch die Provenienz
der vaginalen Einwanderung vom Darm recht zweifelhaft ist und zu
Gunsten der Infection von der Haut an Wichtigkeit zurückbleibt. Infection
vom Darm findet nur statt bei sehr seltenen Fällen pseudomembranöser
Enteritis, bei der auch Peritonitis vorhanden war (mit Coli, Proteus,
Pyocyaneus, Staphyloeoccen) und wahrscheinlich bei der Escheric li¬
sch en Streptococcenenteritis. Auch für die Genesis chronisch atrophischer
Zustände ist die Rolle septischer Local- oder Allgemeinprocesse höchstens
eine secundäre.
VI. Seiffert (Correferent) zerlegt den Begriff Sepsis in Sepsis
im alten Sinne, Saprämie, Septikämie, Pyämie.
Die Sepsis im frühen Kindesalter findet in allen drei Gruppen
Repräsentanten.
Für die gegenwärtig actuelle „Darm- und Lungensepsis“ hält
Seiffert genügend anatomische Beweise nicht erbracht und glaubt
er solche nur von einer allgemein-pathologischen, nicht nur baeterio-
logischen Auffassung und Bearbeitung des Gegenstandes zu erhoffen.
Seine eigenen intravitalen Blutuntersuchungen ergaben ihm wie auch
anderen in der Hauptsache negative Resultate. Seiffert fordert des¬
halb zur kritischen Verwerthung der Miki obenbefunde im Blut und
Harn besonders bei den Erkrankungen des Säuglingsalters auf.
VI L Job. II. Spiegelberg (München) : Zur Frage der
Entstehungswege der Lungenentzündungen magen¬
darmkranker und septisch erkrankter Säuglinge.
Entgegen der in jüngster Zeit von den Franzosen und später
auch in Deutschland von Czerny und Moser und verschiedenen
Anderen vertretenen Anschauung von der Allgemeininfection vom
Harne aus und demzufolge auch der Entstehung der Lungenentzün¬
dungen gastroenteritisch erkrankter, kaohektischer u. s. w. Kinder auf
dem Blut-, beziehungsweise Lymphwege ist Spiegelberg auf
Grund ziemlich ausgedehnter histologischer und bacteriologischer
Untersuchungen magen-darmkranker und anderer Säuglinge, sowie
durch Untersuchung eines grossen Theiles der übrigen in Frage
kommenden Organe und Gewebe zu der Ueberzeugung gelangt,
dass die grosse Mehrzahl der lobulären Pneumonieu im Gefolge von
Magen-Darmerkrankungen der Säuglinge im Wesentlichen broncho-
gene Infeetionen bedingt und, begünstigt durch die äusseren und
inneren Krankheitszustände, darstellen ; dass sie allerdings im un¬
günstigsten Falle selbst zur Quelle einer Sepsis werden können, wie
ja alle drei Krankheitsbilder in wechselseitiger Abhängigkeit zu ein¬
ander stehen.
Im Uebrigen sind sie aber von septischer Erkrankung vollständig
zu trennen und dürfen vor allen Dingen keineswegs als unmittelbare
Theilerscheinung einer gastroenteritiseben Allgemeininfection ange¬
sprochen werden.
Discussion: Fischl (Prag) drückt seine grosse Befriedi¬
gung über die so ungemein klaren und logischen Ausführungen von
Fink eiste in aus, welche zugleich eine vollkommene Bestätigung
eigener Untersuchungsresultate bringen. Fischl ist mit Seiffert
nicht darin einverstanden, auf die alten Begriffe und Eintheilungs-
principien wieder zurückzukommen, er hält vielmehr die von Kocher
und Tavel vorgeschlagene Nomenclatur für einen guten Fortschritt.
Auch hält es Fischl nicht für oportun, sogenannte specifische Mi¬
kroben als Erreger der Sepsis zu bezeichnen, da damit der ganze
Begriff der parasitären Specificität aufgegeben wird; er möchte die
Gruppe der Erreger auf jene Mikroben beschränken, die locale, nicht
specifische Entzündungen zu erregen vermögen. Im Uebrigen hat sich
Seiffert auch F i s c h l’s Ausführungen angeschlossen. Bezüglich der
Ausführungen von Spiegelberg bemerkt Fischl, dass er die
Möglichkeit einer vom Darm ihren Ausgang nehmenden Sepsis nie
geleugnet hat, und in der von Esche rieh beschriebenen Strepto¬
coccenenteritis ein genügend fundirtes Beispiel hiefür sieht. Die meisten
Pneumonien bei Gastroenteritis sind jedoch secundärer und nicht em-
bolischer Natur. Fischl vermisst in den Befunden S p i e g e 1 b e r g’s
die nach seinem Ermessen wichtigen Angaben über das Verhalten der
Peribronchialdrüsen. Interstitielle Rundzelleninfiltration der Alveolen-
septa deutet auf septischen Ursprung der Entzündung, so dass Fischl
die bei hereditärer Lues zu machenden derartigen Befunde in diesem
Sinne deuten möchte.
Seiffert (Schlusswort): Die allein bacteriologische Unter¬
suchung kann die Frage der Sepsis im frühen Kindesalter nicht weiter
fördern. Die Ausseracbtlassung anatomischer und allgemein pathologi¬
scher Gesichtspunkte wird die Klärung des Begriffes „Sepsis“ nicht
fördern, sondern verhindern.
VIII. Rille (Innsbruck): Ueber die Behandlung des
Ekzems im Kindesalter.
(Referat unter Hautkrankheiten und Syphilis.)
(Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag, den 15. Juni 1900, 7 Uhr Abends,
unter dem Vorsitze des Herrn Dr. Teleky
stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Docent Dr. Schiff und Dr. Freund: Demonstration einer Reihe
von mit R ö n t g e n - Strahlen behandelten Patienten.
2. Dr. Robert Breuer: Beitrag zur Aetiologie der B a s e d o w’schen
Krankheit und des Thyreoidismus.
Bergmeister, Paltauf.
Verantwortlicher Redactenr: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
Wiener klinische Wochenschrift
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, O. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner,
M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann,
R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt, A. v. Vogl,
J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuekerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gnssenhaner, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/1, Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang. Wien, 21. Juni 1900. Nr. 25.
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tions-Aaftrfige für das In-
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tion sind zn richten an
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Redaction :
Telephon Nr. 3373.
I UNT ZE3I A. IL, T :
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel : 1. Aus der IV. medicinischen Abtheilung des
k. k. Allgemeinen Krankenhauses in Wien. Ein Beitrag zur
Symptomatologie der Alterssklerose. Ein bemerkenswerthes Phäno¬
men bei der Auscultation der Aorta descendens. Von Dr.
Friedrich F r i e d m a n n, Secundararzt.
2. Aus der I. medicinischen Klinik des Herrn Hofratlies Professor
Nothnagel in Wien. Zum radiographischen Verhalten patho¬
logischer Processe der Brustaorta. Von Dr. G. Holzknecht,
Aspirant der Klinik.
3. Notiz über den Thorax der Metalldrucker. Von Privatdocent Dr.
Maximilian Sternberg, Chefarzt des Verbandes der
Genossenschaftskrankencassen Wiens.
4. Aus der Heilanstalt Alland. Einige neue Medicamente in der
Phthiseotherapie. Von Dr. Julius P o 1 1 a k, Hausarzt der
Heilanstalt.
II. Referate: Die Lepra des Auges. Von Dr. Lyder Börthen. Ref.
V. H a n k e. — I. Die ekzematösen (sorophulösen) Augenerkran
kungen. Von Dr. Ludwig Bach. n. Ueber gichtische Augen¬
erkrankungen. Von Dr. Julius Hirsch. III. Die Durchblutung
der Hornhaut. Von Dr. P. Römer. IV. Sehprüfungen. Von Dr.
A. R o t h. V. Ueber Lidgangrän. Von Dr. P. Römer. VI. Ein Bei¬
trag zu den entzündlichen Verletzungen des Auges. Von Dr. G.
Brandenburg. VH. Die operative Behandlung der hoch¬
gradigen Kurzsichtigkeit. Von Dr. Hübner. VIII. Die Impf¬
erkrankungen des Auges. Von Prof. Otto Schirmer. IX. Ueber
die Vererbung von Augenleiden mit besonderer Berücksichtigung
von Neuritis optica in Folge von Heredität und congenitaler An¬
lage (Leber). Von Prof. Dr. A. Vossius. Ref. R. Hitsehmann.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften nnd Congressberichte.
Aus der IV. medicinischen Abtheilung des k. k. Allge¬
meinen Krankenhauses in Wien.
Ein Beitrag zur Symptomatologie der Alters¬
sklerose. Ein bemerkenswerthes Phänomen bei
der Auscultation der Aorta descendens.
Von Dr. Friedrich Friedmann, Secundararzt.
Während die medicinischen Bestrebungen der Gegenwart
sich hauptsächlich der Therapie zuwenden, tritt die Semiotik
immer mehr in den Hintergrund, da es bei dem grossen Fort¬
schritte unserer Wissenschaft zumeist nur weniger Haupt-
symptome betraf, um die Diagnose festzustellen ; doch be¬
hauptet erstere mit Recht noch dort in viel geübter Weise ihr
Feld, wo es sich um die Feststellung der Initialsymptome
eines Leidens handelt, gerade um dem jüngsten Kinde der
Iherapie, der Prophylaxe, in die Hände zu arbeiten. Natürlicher¬
weise sind hiebei die objectiven Symptome am werthvollsten,
da sie uns von den uncontrolirbaren Angaben des Patienten
unabhängig machen.
Bei der Auswahl jener Erkrankungen, welche in der
angegebenen Beziehung unsere Aufmerksamkeit in vollstem
asse zu fesseln beanspruchen dürfen, sind nicht nur jene
hervorzuheben, welche durch den hohen Procentsatz ihres
or ommens oder durch die Chronicität ihres Verlaufes und
1 're Brogression und durch die damit hervorgerufene grössere
oi tali tat imponiren, sondern auch jene, welche fast physio-
ogisc i in innigem Zusammenhänge mit der involutiven
egeneration unseres Organismus sich hervorbilden.
Die wichtigste dieser Erkrankungen ist unstreitig die
iteriosklerose, sowohl durch die Häufigkeit ihres Auf¬
tretens, welches nach A. Fraenkel1) das der Klappenfehler nicht
nur erreicht, sondern vielleicht erheblich Ubertrifft, als auch
durch den Umstand, dass die ausgesprochenen Symptome der¬
selben bereits auf solch irreparable Veränderungen im Gefäss-
systeme hindeuten, dass die therapeutischen Eingriffe nur
problematischen Werth besitzen.
Daher ist es von hohem praktischem Werthe, eine Früh¬
diagnose zu stellen, zu welcher uns eine Anzahl von Initial¬
symptomen leiten werden.
Zur Erweiterung unserer Kenntnisse von der Arterio¬
sklerose und besonders ihrer Initialsymptome haben Huch ar d 2)
und seine Schüler A. W e b e r, Tournier, Faure-Miller,
Kortz, Blind, Mercer eau, Picard beigetragen.
Die symptomatischen Anzeichen einer beginnenden
Krankheit scheinen nicht gerade häufig direct die Störung
des betroffenen Organes zu deelariren, sondern durch consecutive
Veränderungen indirect hervorgerufen zu werden, und so
können wir die Initialsymptome der Arteriosklerose nach
diesen zwei Gesichtspunkten unterscheiden.
Eines der auffallendsten nnd constantesten Frühsymptome
stellt jedenfalls die auf eine Perturbation im Circulations-
gebiete hinweisende arterielle Druck Steigerung dar.
Ja sogar ein prä sklerotisches Stadium der Erkrankung
wird von französischen Autoren angenommenen, welches durch
functioneile, und zwar vasomotorische Störungen charakterisirt
ist, indem die spastischen Contractionen der kleinen Arterien
') Zeitschrift für klinische Medicin. Bd. IV.
~) Ed gren, Die Arteriosklerose, pag. 21, wo die ausführliche
Literatur angeführt erscheint.
570
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
Nr. 25
jenen Factor darstellen, welcher durch Schaffung des ver¬
mehrten peripheren Widerstandes den Blutdruck steigert. 3)
Auch v. Basch4) nimmt eine durch erhöhten arteriellen
Druck veranlasste latente Arteriosklerose an, die er mit dem
Namen Angiorhigosis bezeichnet.
Das Symptom des gesteigerten Blutdruckes, welcher uns
durch tonometrische Zahlenwerthe in ziemlich exacter Weise
vor Augen geführt werden kann (Weiss5), macht sich dem
Patienten durch Palpitationen und Schmerzen bemerkbar und
bietet objectiv bekanntermassen die Zeichen des gespannten
Radialpulses und der Accentuation des zweiten Aortentones.
Die indirecte Symptomenreihe zeigt uns die gestörte
Arbeitsleistung der einzelnen Organe an und bietet die grössten
Verschiedenheiten je nach der Function des betroffenen
Organes.
Diese functionelle InsufHcienz, von französischen Autoren
mit dem Namen Meiopragie bezeichnet, ist besonders
genau am Herzmuskel studirt.
In Folge der durch Erkrankung seiner Ernährungs-
gefässe erzeugten Anämie desselben wird er in der Ruhe
wohl seine Aufgabe erfüllen, bei stärkerer Inanspruchnahme
jedoch besonders im linken Ventrikel versagen, wodurch eine
Stauung im Lungenkreisläufe zu Stande kommt, die sich sub-
jectiv durch das bekannte Frühsymptom der Athemnoth be¬
merkbar macht.
Aber auch die objectiven Zeichen der Ernährungs
Störung, die veränderte Scblagfolge des Herzens (Arhythmie,
Allorhythmie, Hemisystolie) und die Aenderung der Pulsquali¬
täten und der Frequenz desselben (Pulsus tardus, Tachy- und
Bradycardie) sind recht deutlich.
Aequivalente Störungen machen sich auch recht häufig in
der Niere sehr früh geltend (vermehrte Harnmenge, Albumi¬
nurie).
Weniger bekannt dürfte sein, dass gastrische Störungen
(nervöse Dyspepsie) schon in den frühesten Stadien der Arterio¬
sklerose Vorkommen (E d g r e n).
Die Blutungen in den Organen, hauptsächlich die Nasen¬
blutungen treten als Folge der Blutdrucksteigerung schon im
präsklerotischen Stadium auf.
Auch leicht recidivirende Katarrhe des Respirations¬
systems mit verschiedenster Localisation (venöse Stauung) ge¬
hören zu den Anfangserscheinungen (A. Fraenkel).
Recht früh macht sich oft dem Patienten die verminderte
geistige Arbeitsfähigkeit und Abnahme des Gedächtnisses, oft
verbunden mit Congestionen und Schwindelanfällen, bemerkbar,
sowie die Meiopragie der einzelnen Sinnesorgane. Unter diesen
sei insbesondere des verminderten Sehvermögens, sowie
der Veränderungen des Tastsinnes (Parästhesien, Hyper
ästhesien) gedacht.
Auch noch nicht genau erklärte Schmerzen in ver¬
schiedenen Organen (Angiospasmen, vasculäre Schmerzen oder
Neuritiden) scheinen frühzeitig eine grosse Rolle zu spielen
(Kopfschmerzen, Angina pectoris, Schmerzen im Kreuze und
den unteren Extremitäten).
Wir haben bereits auf die Druckerhöhung im Circulations-
system als auf eines der werthvollsten directen Symptome hin¬
gewiesen und auch erwähnt, dass die Pulsspannung und die
Accentuation des zweiten Aortentones uns im Allgemeinen auf
jenes aufmerksam machen, welche Zeichen speciell die Hyper¬
trophie des linken Ventrikels anzeigen. Obwohl nach dem
physikalischen Gesetze die in den meisten Fällen gesteigerte
Intensität und Höhe, sowie die metallische Klangfarbe (bruit
clangoreux der französischen Autoren) des zweiten Aortentones
mit der Entfernung von der normalen Auscultationsstelle
(zweiter Intercostalraum am rechten Sternalrande oder über
dem dritten rechten Rippenknorpel) abnehmen muss, findet
sich gerade bei dieser Erkrankung, wie Edgren
*) Huch a r d, Bull. gen. de therapeutique. Aoüt et sept. 1892.
Citirt nach Edgren.
4) v. Basch, Wiener medicinische Presse. 1893 und 1896. Citirt
nach Edgren.
5) Weiss, Blutdruckmessungen mit Gartner’s Tonometer.
Münchener medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 3 und 4.
hervorhebt, die merkwürdige Erscheinung, dass die Accen-
tuirung im Sinne des Kreislaufes nicht nur im Jugulum,
sondern über den Carotiden, ja sogar auch am Rücken wahr¬
genommen werden kann. Gewöhnlich sei dies der Fall zwi¬
schen den Schulterblättern in der Fossa supraspinata.
v. Schrötter0) nimmt zur Erklärung ganz besonders gün¬
stige Schallleitungsverhältnisse an ; aber worin diese gelegen
sind, lasse sich nicht leicht entscheiden, ebensowenig wie die
Frage, warum man unter normalen Verhältnissen die Herz¬
töne am Rücken sowohl links wie rechts auffallend laut wahr¬
nimmt. Er bringt diese Erscheinung eher mit der Dilatatio
aortae als mit der Sklerose in Zusammenhang.
Bevor wir uns näher mit der Auscultation der Aorta
descendens beschäftigen, müssen wir erst jene Factoren ins
Auge fassen, welche die Fortleitung der Schallphänomene zu
unserem Ohre zu schwächen, respective zu modificiren
geeignet sind.
Von diesem Standpunkte aus, kann man mehr oder
weniger akustisch gebaute Thoraxformen ganz im Allgemeinen
unterscheiden.
Die Form der Brust des Erwachsenen ist nach Merkel7)
mit einem Kegel zu vergleichen, dessen Querschnitte in ihrer
Peripherie nicht kreisförmig, sondern von hinten nach vorne
plattgedrückt erscheinen, nach Bardeleben8) mit einem
Ovoid, welches sich aus der conischen Form der kindlichen
Brust durch Senkung der seitlichen Theile der Rippenränder
hervorgebildet hat.
Schon im physiologischen Sinne sind die indivi¬
duellen Abweichungen von der künstlerisch idealen Thorax¬
form, die Woillez9 *) unter dem Namen der physiologischen
Heteromorphieen (unter anderen Störungen der bilateralen Sym¬
metrie ,0]) zusammengefasst hat, je nach dem Habitus, der
Körperlänge und Entwicklung der Musculatur, sowie des
Panniculus so zahlreich, dass nach genanntem Autor nur in
der Minderzahl von 6 */5 der Gesunden jene Unregelmässigkeiten
nicht gefunden werden.
Obwohl die Geschlechtsverschiedenheiten, welche durch
die Kleinheit der Durchmesser und der Peripherie, sowie durch
die mehr cylindrische (Merkel) oder fassförmige (Barde¬
leben) Gestalt des weiblichen Thorax markirt sind, nicht
übersehen werden dürfen, ist es klar, dass die Altersinvolution
des Brustkorbes unser Interesse in Bezug auf unseren Gegen¬
stand am meisten zu fesseln geeignet ei scheint. Das Wachs¬
thum desselben, welches insbesondere beim Manne mit einer
Vergrösserung seines Umfanges, sowie der Differenz zwischen
dem obersten und untersten Perimeter verbunden ist, erscheint
mit dem 30. Lebensjahre, in welchem die Epiphysen der
Rippen verknöchern, abgeschlossen (Merkel11). Im vierten
und fünften, bei Senilitas praecox schon im dritten Decennium,
bildet sich allmälig die senile Thoraxform heraus, und zwar
wesentlich durch Schwund der Wirbelsäule und der ihre
Haltung bedingenden Musculatur, wodurch sich die normale
Krümmung der ersteren zur senilen Kyphose steigert.
Diese Form ist durch die Vergrösserung des sterno-
vertebralen Durchmessers charakterisirt. Doch auch die untere
Circumferenz nimmt mit der mittleren im Verhältnisse zur
oberen immer mehr zu. 12)
Ferner bringt es der Verlust der Elasticität mit sich,
dass der Brustkorb immer mehr in Exspirationsstellung
fixirt wird.
Unter den pathologischen Thoraxformen wird uns
naturgemäss am meisten die mit einer Vergrösserung des
6) v. Schrötter, Erkrankungen der Gefässe. Nothnagel’s >Specielle
Pathologie und Therapie«. Bd. XV, pag. 105.
’} Merkel, Handbuch der topographischen Anatomie. Bd. II.
8j Bardeleben, »Die Brusthöhle« in Eulenburg’s Realencyclopädie
der gesammten Heilkunde
9) Citirt in Gerhardt’s Lehrbuch der Auscultation und Percussion.
3. Auflage.
luj Die rechte Thoraxhälfte ist in circa 80 der Fälle weiter als die
linke, in 10°/0 überwiegt, die linke Seite, während in gleichfalls 10°’0 beide
Seiten gleich sind. Cfr. 8).
n) Merkel, Handbuch der topographischen Anatomie. Bd. II.
,2) Cfr. die W i n t r i c h’schen Tabellen der Brustmessungen, pag. 263.
Ibidem.
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
571
sterneo vertebralen Durchmessers verlaufende emphysematose
Form interessiren, weniger die paralytische Form Engel’s,
während jene Thoraxdeformitäten, welche durch Verkrümmung
der Wirbelsäule, sowie durch Erkrankung der Brust- und
Baucheingeweide entstehen, für unsere Frage gar nicht in
Betracht kommen.
Nachdem wir mit dieser allgemeinen Betrachtung jene
Momente erwähnt haben, welche zur Modification eines
Schalleindruckes beitragen können (Resonanz), wollen wir auch
jene anführen, welche die Fortleitung desselben von der Aorta
descendens zu unserem Ohre erschweren, das sind die
Schichten der hinteren Brustwand, oder der Rückengegend.
Die Dicke derselben beträgt nach Bardeleben13) 4 — 5 cm
am Schulterblatt, wovon 4'5 mm auf die Haut kommen, und ist
abhängig von der Ausbildung der Musculatur und des Panni-
culus. Sie nimmt jedoch durch die Erhebung des Armes in
Folge der Drehung und Erhebung des Schulterblattes erheb¬
lich ab, welcher Umstand zur auscultativen Untersuchung der
Brustwand von rückwärts benützt werden muss. Die dritte
Schichte, das knöcherne Brustskelet mit den Intercostalmuskeln,
sowie die vierte, die Fascia endothoraciea, sind bezüglich ihrer
Stärke schon weniger inconstant.
Wo werden wir die absteigende Aorta am
besten auscultiren können?
Jedenfalls dort, wo sie am oberflächlichsten zu liegen
kommt, da ja die Verhältnisse bei der Auscultation der Gelasse
viel einfacher liegen, als bei der des Herzens.
Die Aorta stellt ein heberförmig gekrümmtes Gefässrohr
dar u), dessen vorderer Schenkel (A. ascendens) im vorderen
Mittelfellraume hinter dem Sternum (in der Höhe des zweiten
In tercostalra umes nach Henke oder etwas höher nach
L u s c h k a liegt, dessen Bogen (Arcus a.) von rechts vorne
nach links hinten, also diagonal über dem linken Bronchus
ungefähr in der Mitte des geraden Brustdurchmessers sich bis
zur Ebene des zweiten Brustwirbelkörpers erhebt, während
der lange hintere Schenkel (A. descendens) hinter dem linken
Lungenstiel vom vierten Brustwirbel anfangs an der linken
Seite, bald aber an der vorderen Fläche der Wirbelsäule im
hinteren Mittelfellraume (d. i. bis zum neunten Brustwirbel)
herabsteigt.
Aus dem Verlaufe des G e f ä s s e s ergibt sich
also, dass die Auscultation desselben am vor-
theilhaftesten in der linken Hälfte des Inter-
scapularraumes vor genommen werden kann.
Dies ist auch die gewöhnliche Stelle, wo Aneurysmen der
Brustaorta nach Usur der Rippen die Thoraxwand hervor¬
wölben können.
Daselbst werden beim gesunden Menschen zwei Töne
gehört, deren Folge dem Herzrhythmus entspricht.
Die Ronane t’sche Entstehungstheone der Herztöne
sammt ihren Modificationen ist bekannt; doch kommt bei der
Auscultation der Gefässe nicht nur die Fortleitung ersterer
durch die Schwingungen der Blutsäule, sondern auch die selbst¬
ständige Vibration der Gefässwand in Betracht. So kommt
der systolische Ton über der Carotis, Subclavia, Cruralis,
Aorta abdominalis, bei grösserer Spannung im Gefässsystem
auch über den kleineren Arterien, autochthon durch die in
Folge der hineingeworfenen Blutmenge plötzliche Wandan¬
spannung zu Stande 15), und ist noch wahrnehmbar, wenn der
erste Aortenton durch ein Geräusch ersetzt ist, während der
diastolische Ton, welcher durch die Spannung der Semilunar¬
klappen entsteht, einfach durch die Blutsäule fortge¬
leitet wird.
Nach den Untersuchungen P. Guttmann’s l6) sind bei
der Entstehung des ersten Tones über der Aorta nur in sehr
geringem Masse die Atrioventricularklappen betheiligt und
hauptsächlich die Schwingungen der Aortenwand, während
nach der Geigel’schen Lehre ersterer nicht Gefässton sein
,3) Siehe oben.
u) Langer, Lehrbuch der Anatomie des Menschen.
'■’) Sahli, Lehrbuch der klinischen Untersuchungsmethoden.
,(i) P. Guttmann, »Auscultation« in Eulenbur g’s Realencyklo-
pädie der gesammten Heilkunde.
soll. Nach dieser kann man bei der successiven Auscultation
von der Carotis bis zur Herzbasis schon im ersten Intercostal-
raume kurz vor dem ersten Carotiston den eigentlichen ersten
Ilerzton auftauchen hören, welcher nach abwärts deutlich zu¬
nehmen soll.
Auch die Geräusche werden in derselben Weise gebildet
und fortgeleitet, wie die Töne.
Das bei der Insufflcienz der Aortenklappen häufig durch
die unregelmässigen Schwingungen der ihrer Elasticität be¬
raubten Wand entstehende systolische Geräusch wird im Sinne
der Blutwelle sich fortpflanzend oft deutlicher über den grossen
Gefässen percipirt, als das durch die centripetale Regurgitation
des Blutes entstehende diastolische Geräusch.
In ähnlicher Weise liegen die Verhältnisse bei der Aus¬
cultation der Aorta descendens. Der erste Ton ist vasogen,
der zweite cardiogen.
Doch ist hier ein sehr wichtiger Umstand mit zu be¬
rücksichtigen, nämlich die di recte Fortleitung der
Herztöne bis zu unserem Ohre (auch die Erschütte¬
rung der Brustwand durch den Herzstoss). Jeder der drei er¬
wähnten Factoren spielt seine Rolle bei der Perception der
Schalleindrücke, und os werden bei pathologischen Verände¬
rungen im Gebiete derselben, aber auch schon bei der physio¬
logischen Altersinvolution gewisse bemerkenswerthe
Phänomene auftreten.
Schon bezüglich der Intensität, Höhe und Klangfarbe der
Töne ist, abgesehen von den individuellen Verschiedenheiten,
die Herzaction, die Beschaffenheit der Gefässe (Alter) und der
leitenden Medien, besonders der Lunge (Infiltration, Cavernen,
Emphysem), sowie die allgemeine Thoraxbeschaffenheit (siehe
oben) von grosser Wichtigkeit.
Die Zunahme der Zahl der Pfeile deutet in der betreffenden Richtung' die
Verstärkung des Schalleindruckes an. — Das Zeichen * am Scapularwinkel
bedeutet, die Localisation sowie die verstärkte Sehallwahrnehmung Lei der
Arteriosklerose.
Indem wir die erwähnten Umstände wohl berücksichtigten,
konnten wir nach einer Reihe von Untersuchungen sowohl an
liegendem, wie ambulantem Material das Gesetz aufstellen,
dass der Schwerpunkt der akustischen Percep¬
tion der Töne (Rückentöne) in verschiedenen
Altersstufen ungleich liegt, dass er vielmehr
im Sinne der Altersinvolution im linken Inter-
scapular spatium von oben nach unten rückt;
ferner ergab es sich, dass bei der Arteriosklerose
unter sonst normalen Umständen die Rücken-
572
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 25
töne in der Verbindungslinie des linken Sca¬
pular winkeis und des siebenten Brustwirbel-
dorns oder darunter am lautesten und distinc-
testen wahrzunehmen sind (ab, vgl. die Figur) .
Zur näheren Illustration diene die beistehende schematische
Figur. 17)
Bei der Aufsuchung des Phänomens sind folgende Punkte
im Auge zu behalten:
Der Patient hat die Arme vor der Brust zu kreuzen, da
durch die Drehung und Elevation der die zweite bis siebente
Rippe bedeckenden Scapula nicht nur die Auscultation durch
die Verringerung der dazwischen liegenden Schichten erleichtert,
sondern auch der linke Interscapularraum um fast die Hälfte
der Schulterblattbreite vergrössert wird (siehe die Figur).
Ferner muss vermieden werden, dass der Patient den
Athem anhält, da durch die naturgemäss beobachtete Inspira¬
tionsstellung in Folge Vergrösserung des sagittalen Brustdurch¬
messers die Bedingungen für die Wahrnehmung der Rücken¬
töne beeinträchtigt werden.
Im Gegentheil erscheint es opportun, seine Aufmerksam¬
keit nicht auf die Athmung zu lenken, da bei normaler ruhiger
Respiration am leichtesten von dem Athmungsgeräusch abstra-
hirt werden kann.
Schliesslich dürfen die physiologischen Raumschwankungen
des Thorax eben durch die Respiration nicht vernachlässigt
werden, da gerade am Ende der Exspiration durch Ver¬
kleinerung des Brustraumes und Verdichtung der Lunge be¬
sonders bei der d i r e c t e n (durch Anlegen des Ohres)
Auscultation das Ueberklingen der Töne am deutlichsten
auftritt.
Bei der Untersuchung von Individuen unter 45 — 40
Jahren fanden wir, dass die Rückentöne unter normalen Um¬
ständen an der normirten Auscultationsstelle zwar überall doch
nach oben hin stärker und an der Spina scapulae und in
ihrer Verlängerung (sehr oft auch oberhalb) so laut wahrzu¬
nehmen waren, dass der akustische Eindruck (Dröhnen) vom
Ohre unangenehm empfunden wurde (c d, vgl. die Figur). Bei
Individuen über 40 — 45 Jahren verstärkt sich der Eindruck
nach unten, während bei der Arteriosklerose in jeder Alters¬
stufe das Dröhnen am Angulus scapulae und in der Verbin¬
dungslinie desselben mit dem siebenten Brustwirbeldorn wahr¬
zunehmen war (vgl. die Figur).
Wir wollen nun versuchen, eine Erklärung für diese
Erscheinungen zu finden.
Beim jugendlichen knorpeligen und elastischen Thorax
werden die Bedingungen für die directe Wahrnehmung der
Herztöne nicht in dem Masse vorhanden sein, wie bei dem
älteren, verknöcherten und starren; zumindest wird dabei die
Fortleitung derselben durch die Aorta descendens mit ihrer
noch elastischen Gefässwand auch eine Rolle spielen ; daher
die verstärkte Perception an einer Stelle, die dem Herzen
näher liegt und wo die Aorta descendens nach ihrem oben
angegebenen Verlaufe am meisten der Auscultation zugäng¬
lich ist.
Fügen wir noch hinzu, dass mit den zunehmenden Jahren
das Herz nach unten und links sinkt, wodurch die Brustquer¬
schnittssehne für die directe Wahrnehmung der Herztöne sich
noch verkleinert, so werden wir die Verstärkung nach abwärts
erklärlich finden. Hier sei auch erwähnt, dass in der jüngeren
Altersstufe die Herzgeräusche oft nur oben deutlich wahr¬
genommen werden, während nach unten hin nur ganz dumpfe
1 öne zu hören sind, welches Verhältniss sich bezüglich der
Localität in den höheren Jahren umkehrt.
Bei der Arteriosklerose, insbesondere der Alterssklerose,
werden zumeist auch die akustisch günstigen, senilen Thorax¬
veränderungen vorhanden sein. (Erwähnt sei hier, dass diese
\ erhältnisse beim senilen Emphysem trotz der Vergrösserung
des geraden Brustdurchmessers meist nicht tangirt werden, da
dieselbe durch die Zuriickdrängung des Herzens gerade durch
das präcordiale Emphysem wieder ausgeglichen wird.)
) Nach L u s c h k a - W eil, entnommen dem Lehrbuche der klini¬
schen Untersuchungsmethoden von Sahli.
Die Fixation in Exspirationsstellung, das verlängerte leise
Exspirium, sowie die kräftige Thätigkeit des linken Ventrikels
mit der Intensitätsveränderung des zweiten Aortentones sind
gleich günstige Verhältnisse für das Zustandekommen unseres
Auscultationsbefundes. Ob und inwieweit Veränderungen in der
Aortenwand daran betheiligt sind, wagen wir nicht zu be¬
haupten. Nicht von der Hand zu weisen ist die Möglichkeit
der Entstehung localer Geräusche in der Aorta descendens
analog den localen Carotisgeräuschen bei der Arterio¬
sklerose. 1S)
Da nun die Accentuation des zweiten Aortentones als
Ausdruck der Drucksteigerung im Circulationssystem ein Früh¬
symptom der Arteriosklerose darstellt, so können wir das
Dröhnen am Angulus scapulae, als mit dem erwähnten innig
verbunden, mit zu den directen Initialsymptomen
der Gefässerkrankung rechnen.
Zum Schlüsse gestatten wir uns, noch einige Beispiele
anzuführen, aus denen zu entnehmen ist, dass das Phänomen
nicht nur in ausgesprochenen Fällen von Arteriosklerose
(Fall 1, 2, 3) vorhanden ist, sondern auch im Frühstadium
der Erkrankung als Unterstützungsmittel der Diagnose gelten
kann (Fall 4).
Ferner zeigen uns die Fälle 5 und 6 das Vorhandensein
desselben bei der jugendlichen (vorzeitigen) Erkran¬
kung, die Fälle 7 und 8 das Fehlen desselben auch in
höheren Altersstufen bei nicht nachgewiesener Gefässer¬
krankung.
Fall 1. Rosa W., 83jährige Hauerin, hat vor Jahren Abdo¬
minaltyphus und Gelenkrheumatismus überstanden und sucht wegen
Kurzathmigkeit und Herzklopfen das Spital auf. Für Potus und Lues
sind keine Anhaltspunkte vorhanden.
Beide Aa. radial, und temporal, sind perl schnurartig verdickt,
so dass der Puls nicht getastet werden kann. Der Spitzenstoss ist
im sechsten Intercostalraum in der hinteren Axillarlinie hebend und
resistent zu fühlen. Daselbst hört man ein langes, blasendes, systo¬
lisches Geräusch und einen leisen diastolischen Ton. Starke Accen¬
tuation des zweiten Tones über der Aorta. Rechts hinten unten
Pleurit. exsudat. Im Harn Spuren von Albuinen. Dröhnen am Sca-
pularwinkel.
Fall 2. Josef G., 66jähriger Hafnermeister, sucht wegen
Schwellung der Füsse das Spital auf. Potus wird zugestanden.
Die zugänglichen Arterien zeigen bedeutende Rigidität. Das
Herz ist nach links hin vergrössert. Dämpfung am oberen Sternum.
Pulsation im Jugulum. Bradycardie. Leichte Albuminurie. In der
Linie a b (vgl. die Figur) deutliches Ueberklingen des zweiten
Tones.
Fall 3. N. N., 55jähriger Bahnbeamter, welcher sechs Jahre
bei der Marine gedient hat, sucht wegen leichter Oedeme das
Spital auf. Derselbe hat in Alexandrien Malaria durchgemacht.
Deutliche Zeichen der Arteriosklerose, musikalisch klingender
zweiter Aortenton. Erweiterung der Aortenwurzel, Albuminurie.
Phänomen deutlich.
Fall 4. Justina F., 59jährige Schustersgattin, hat Typhus
abdom. überstanden. Während die Aa. radial, keine Rigidität auf¬
weisen, ist der zweite Aortenton in Folge des stark ausgeprägten
Emphysems nur undeutlich accentuirt wahrzunehmen, während am
Scapularwinkel die Intensitätsverstärkung bereits deutlich zu con-
statiren ist.
Fall 5. Ant. D., 34jähriger Strasseneinräumer, hat
Gelenkrheumatismus vor zwölf Jahren überstanden; Potus und
Lues negirt.
Der Puls ist stark rigid und gespannt, die Accentuation des
zweiten Aortentones ausgeprägt vorhanden und die Hypertrophie
des linken Ventrikels auch percutorisch nachweisbar. Rückentöne
in der erwähnten Linie (« b) am deutlichsten.
Fall 6. Einen ähnlichen Befund bietet die 32jährige
Marie S., welche wegen Magenkrebs das Spital aufsucht.
,8) Nicht zu verwechseln sind diese Geräusche mit den arterioskleroti¬
schen Druckgeräuschen, wie sie bei der Carotis und Aorta abdominalis bei
leichtem Druck des Hörrohres hervorgebracht werden und bei letzterer
sogar als palpatorisches Phänomen unter dem Namen des »Spritzeus« von
Litten beschrieben wurden (S a h 1 i).
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
5<3
Fall 7. Marie S., 60jährige Wäscherin, immer gesund
gewesen, hustet seit zehn Jahren. Starkes Emphysem mit diffuser
Bronchitis.
Die Patientin, welche absolut keine Anzeichen von Arterio¬
sklerose bietet, lässt auch deutlich das beschriebene Phänomen
vermissen.
Fall 8. Ein ähnlicher Status ist bei der mit Insufficientia
valv. mitr. et stenosis behafteten 50jährigen Marie F. zu con-
statiren.
Meinem hochverehrten Chef, Herrn Hofrath Scholz,
sage ich für die Ueberlassung des Krankenmateriales herz¬
lichen Dank.
Aus der I. medicinischen Klinik des Herrn Hofrathes Pro¬
fessor Nothnagel in Wien.
Zum radiographischen Verhalten pathologischer
Processe der Brustaorta.
Von Dr. G. Holzknecht, Aspirant der Klinik.
In einer in Nr. 10 dieser Zeitschrift veröffentlichten
Arbeit habe ich die radiologischen Bilder der normalen Brust-
aorta und ihre Deutung erörtert. Die Kenntniss dieser Ver¬
hältnisse musste ich als Grundlage für die Deutung der Bilder
bei pathologischen Zuständen der Aorta ansehen.1)
In der oben citirten Arbeit ist auseinandergesetzt, dass bei
frontaler (querer) Diaskopie des Thorax in dem sonst dunklen Bilde
zwei unscharf begrenzte helle Räume, ein retrosternaler und
ein retrocardialer, sichtbar sind und zur Aorta in gewissen
anatomisch begründeten Beziehungen stehen. Ferner wurde
erörtert, dass man in der schräg von links hinten nach rechts
vorne verlaufenden Durchstrahlungsrichtung die Aorta ascen-
dens, dann die vordere und hintere Hälfte des Bogens aufein¬
ander projicirt als bandförmigen, oben blind endenden pul-
sirenden Schatten, beiderseits von hellem Lungengebiete um¬
geben, zur Linken des Wirbelsäulenschattens vom Herz¬
schatten aufwärts steigen sieht (Fig. 3, einfach ausgezogene
Contour). Bei der radiologischen Untersuchung der Aorta wird
man daher die Durchleuchtung 2) nicht nur in den beiden
sagittalen Richtungen, sondern auch in obiger schräger und
in der frontalen vornehmen müssen. Die Anwendung der letz¬
teren und ihre Ergebnisse sind im Wesentlichen neu. Die
Figur 1 stellt das sagittale Bild des normalen Mittelschattens
des Thorax einer jungen muskelkräftigen Person dar. Fig. 2
zeigt schematisch eine gewisse häufig wiederkehrende patho¬
logische Form desselben, bei welcher links oben in der Höhe
des zweiten Intercostalraumes (frontale Projection) ein rund¬
licher, scharf begrenzter pulsirender Schatten aus dem Mittel¬
schatten austritt. Es ist das jenes Gebilde, das so oft ungerecht¬
fertigter Weise zur Diagnose eines beginnenden Aorten¬
aneurysma geführt hat. Ich habe es circa lOOmal gesehen
und unter diesen Fällen waren nicht mehr als sechs beginnende
Aneurysmen, ein Verhältniss, das auch anderweitig (Levy-
Dorn, Lichtheim u. A.) hervorgehoben wurde und zur
Annahme führte, dass dieser Bildung nur die Bedeutung einer
physiologischen Varietät zukomme. Hier muss ich noch er¬
wähnen, dass ich, aufmerksam gemacht durch die dankens-
werthe Arbeit W e i n b e r g e r’s 3), gefunden habe, dass bei
') Am Schlüsse des Artikels habe ich in Aussicht genommen, dem¬
selben einen zweiten folgen zu lassen, der sich mit dem radiologischen Ver¬
halten der pathologischen Aorta beschäftigt. Aus äusseren Gründen (der
Unmöglichkeit einer ausreichenden Illustration und dem bedeutenden Um¬
tange der Arbeit) muss ich von diesem Vorhaben an dieser Stelle Umgang
nehmen. Im Folgenden sei daher ohne systematische Durchführung nur
derjenige Theil der Arbeit besprochen, der von besonders praktischer Be¬
deutung ist. Ich meine die Ergebnisse der Anwendung der frontalen und
einer schrägen Durchleuchtungsrichtung des Thorax für die Diagnostik der
pathologischen Aortenproeesse.
') graphische Darstellung bleibt hier durchaus hinter der radio-
skopischen Untersuchung (mit Anwendung der Bleiblende an einer ent¬
sprechenden Aufhängevorrichtung) zurück.
3 ) Feber die Röntgenographie des normalen Mediastinums ; in der
Zeitschrift fiir Heilkunde. 1900, 1. Heft, gleichzeitig mit obiger Arbeit er¬
schienen.
einer Anzahl magerer muskelsch wacher Leute mit normalem
Circulationsapparat besonders auf stark exponirten Platten
aber auch am Schirm bilde eine Andeutung einer solchen Vor¬
wölbung oder wenigstens eine eircumscripte Randpulsation des
Mittelschattens an dieser Stelle besteht und so gleichsam obige
pathologische Bildung schon unter normalen Verhältnissen in
nuce vorgebildet ist. Die Untersuchung der erwähnten circa
100 Fälle von sagittal sichtbarer, links obeu austretender,
Fig 1. Schematische Darstellung des normalen radioskopischen Mittel-
schattens des Thorax.
Fig. 2. Schematische Darstellung des Mittelschattens, aus dem in der Höhe
des zweiten Intercostalraumes nach links ein der Aorta angehöriger pul¬
sirender Vorsprung austritt.
pulsirender Vorwölbung ergaben in schräger Durchleuchtungs¬
richtung zwei wesentlich verschiedene Arten von Bildern. Die
sechs Fälle beginnender Aneurysmen weichen vom normalen
Bilde der Durchleuchtung wesentlich ab, die übrigen nur
in geringem Grade.
Fig. 3. Schematische Darstellung des Thoraxbildes bei der schrägen Durch¬
leuchtung (von links hinten nach rechts vorne). Einfach ausgezogene Con¬
tour: Normale Aorta; ausgezogene und punktirte Contour: Allgemeine
Aortendehnung; die übrigen Contouren: Beginnendes Bogenaneuvysma.
Beschäftigen wir uns zunächst mit diesen zahlreichen Fällen,
so können wir constatiren, dass in einer Reihe derselben eine
nennenswerthe Abweichung vom normalen Bilde überhaupt nicht
bestanden hat, dass das vom Herzen aufsteigende Aortenschatten¬
band weder einen erkennbar abnormen Verlauf, noch eine abnorme,
allgemeine oder eircumscripte Verbreiterung zeigte und ferner,
dass der links austretende pulsirende Schatten bei allmäligem
Uebergange aus der sagittalen in die schräge Durchleuchtungs-
richtuiig (durch Drehung des Patienten) zum obersten Ende
des bandförmigen Aortenschattens wurde und sich so als
Schatten des Aortenbogens documentirte. In einer zweiten
574
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 25
Reihe von Fällen war die Verlaufsrichtung ebenfalls normal.
Die Breite des Bandes zeigte zwar keine circumscripte, aber
eine allgemeine Vermehrung in verschiedenem Grade, bis zum
1 ‘/2 fachen Querschnitt (Fig. 3. ausgezogene und punktirte Con¬
tour). Dazu kommt oft eine Verlängerung nach oben bis in
die Nähe der Verbindungslinie der sternalen Clavicularenden
(bei senkrechter Projection auf die Ebene der vorderen Brust¬
wand). In letzteren Fällen war dann regelmässig pulsatio in
jugulo fühlbar.
Als Ursache dieses scheinbaren Widerspruches in der
Verlaufsrichtung des Aortenschattens in sagittaler und schräger
Richtung muss eine abnorm grosse Krümmung und Neigung
des Bogens nach aussen und vorne angenommen werden. Die
tiefere Ursache dieser letzteren war nun festzustellen. In einer
Anzahl von Fällen, Tumormassen, Pneumothorax, pleurale
Ergüsse der rechten, schrumpfende Processe der Lunge und
der Pleura der linken Thoraxseite, lag sie offenbar in einer
Verdrängung, respective Verziehung des Aortenbogens nach
links. Die übrigen Fälle lassen sich auf so grob mechanische
Art nicht erklären. Die klinischen Diagnosen dieser 61 Fälle
lauteten : Arteriosklerose der peripheren Gefässe (14mal), Ne¬
phritis chronica cum hypertrophia cordis (7), Intoxicatio satur-
nina chronica (1), Morbus Basedow ii (3), Emphysema pulmo¬
num chronicum (1), Chlorose (2), überstandene Lues (3), In-
sufficientia valv. aortae (10), Insufficientia valvul. bicuspidalis (7),
Stenosis ostii venosi sinistri et imufficientia valvulae bicuspi¬
dalis (3), Myodegeneratio cordis (2), anscheinend normale In¬
dividuen im Alter von 40 — 50 Jahren (2), über 50 (8).
Zwanglos lässt sich die oben besprochene Erscheinung bei
diesen Grundkrankheiten dahin erklären, dass dieselben zu
einer diffusen, ziemlich gleichmässigen Aorteudehnung geführt
haben, welche bald durch verminderte Widerstandsfähigkeit
der Aortenwand, bald durch vermehrten Anprall der Blutwelle
bei gesteigerter Herzaction, bald durch beide Momente im
Verein bedingt ist, und für die es auch in einzelnen hoch¬
gradigen Fällen nicht an klinischen Anhaltspunkten fehlte.
Diese führt dann bei dem schon physiologisch nach links und
vorne geneigten Bogen zu einer Vermehrung dieser Krümmung
(wie auch zum Hinaufrücken des Bogens). Dieser wird daher
in sagittaler Durchleuchtungsrichtung links vom Wirbelsäulen¬
schatten als pulsirende Vorwölbung sichtbar, während er in
schräger Diaskopie in die Durchleuchtungsebene fällt und so
das Schattenband der Aorta geradlinig, ohne Krümmung, er¬
scheinen lässt.
Die schrägen Durchleuchtungsbilder bei beginnendem
Bogenaneurysma verhalten sich wesentlich auders. Von den
acht beginnenden Bogcnaneuiysmen, die ich in der beschrie¬
benen Weise untersuchen konnte, zeigten zwei wenig sagende
Bilder, aus denen das eine (autoptisek sichergestellt) radio¬
logisch nur vermuthet werden konnte, während das andere
(klinisch fast sicher) radiologisch keinerlei Symptome machte.
Die übrigen sechs schon früher angezogenen Fälle zeigten in
sagittaler Richtung die beschriebene, links oben austretende,
rundliche pulsirende Vorwölbung, ln schräger Durchleuch¬
tung s r i c h t u n g (von hinten links nach vorne rechts) sah man
aber nicht wie bei der allgemeinen Aortendehnung ein annähernd
normales nur etwas verbreitertes, eventuell auch verlängertes
Aortenschattenband, sondern einen halsartig dem Herzen auf¬
sitzenden keulenförmigen, allseitig oder mehrseitig pulsirenden
Schatten, dessen Kopftheil gerade nach oben zeigte (Fig. 3,
punktirte Contour), oder mehr minder nach links in den linken
Lungenraum (gestrichelte Contour), oder nach rechts in den
Wirbelsäulenschatten (punktirte und gestrichelte Contour) ge¬
neigt war. Mit der Grössenzunahme verwischen sich diese an¬
scheinend typischen Bilder aus begreiflichen Gründen; beson¬
ders das halsartige Aufsitzen des pulsirenden Tumors auf dem
Herzschatten verschwindet bald. 1st diese Erscheinung,
besonders in den beiden erstgenannten Varian¬
ten, vorhanden, so erlaubt sie mit grosser
Sicherheit die Annahme eines beginnenden
Bogenaneurysmas; der negativeAusfall spricht
mit minder grosser Sicherheit (100:2, siehe oben)
gegen ein solches.
In frontaler Durchleuchtungsrichtung bleibt der Retro¬
sternalraum bei einfacher allgemeiner Aortendilatation hell,
ebenso bei kleineren (den acht obigen) Bogenaneurysmen. Hier
treten hauptsächlich die Aneurysmen der Aorta ascendens und
die spindelförmigen »aneurysmatischen« Erweiterungen der¬
selben in Erscheinung, indem sie den genannten Raum zum
Theil oder vollständig verdunkeln.
Von einem weiteren Eingehen auf den umfangreichen
Stoff muss ich aus den angeführten Gründen an dieser Stelle
absehen.
Notiz über den Thorax der Metalldrucker.
Von Privatdocent Dr. Maximilian Sternberg, Chefarzt des Verbandes der
Genossensehaftskrankencassen Wiens.
Hofrath Albert hat unlängst auf die Nothwendigkeit
hingewiesen1), die Deformitäten des Skeletes bei
den einzelnen Gewerben gesondert zu studiren. Die
mechanischen Verhältnisse, die Inanspruchnahme des Knochen¬
systems durch Zug und Druck sind in der That bei vielen
Berufen gauz eigenartig. Das Verständniss der Veränderungen
wird wesentlich gefördert werden, wenn man die besondere Art
der Arbeitsleistung untersuchen wird.
Die Berufsdeformitäten des Brustkorbes
sind, mit Ausnahme der allbekannten »Schusterbrust«, bisher
kaum beachtet worden. Die folgende Mittheilung soll auf
eine noch nicht beschriebene typische Deformität auf¬
merksam machen, den Thorax der Metalldrucker.
Sie dürfte durch die klare Art ihrer Entstehung, sowie dadurch,
dass sie eine gewisse diagnostische und differentialdiagnostische
Bedeutung besitzt, nicht uninteressant sein.
Die Metalldruckerei — in Norddeutschland »Drückarbeit«
genannt — wurde Anfangs des XIX. Jahrhunderts in Frankreich
erfunden und j 824 in Wien von Mayer hofer und K 1 i n k o s c h
zunächst für silberplattirte Waaren eingeführt. Die Technik wurde
lange Zeit als Geheinmiss bewahrt. Die Wiener Drechslermeister,
welche für Metallwaarenfirmen lieferten, arbeiteten bei versperrter
Thüre. Bis in die Fünfziger-Jahre galt das Gewerbe als ein specifisch
wienerisches.
Die Arbeit besteht darin, dass ein entsprechend zugeschnittenes,
in der Regel kreisrundes, Stück Blech auf ein röhrendes Modell
(»Futter«) au fge drückt wird. In früheren Jahrhunderten wurden
solche Gegenstände durch Hämmern (»getriebene Arbeit«) von
Spenglern, Kupferschmieden, Silberschmieden u. s. w. hergestellt.
Da der Metalldrucker dasselbe Stück schneller und schöner erzeugt,
hat seine Technik für die Herstellung kleinerer runder und ovaler
Metallwaaren (z. B. Leuchter, Lampengestelle, Klystierspritzen, In¬
halationsapparate u. dgl.) die genannten Gewerbe verdrängt. Auch
grosse Gegenstände, z. B. Aufsätze für Locomotivschornsteine, können
vorn Metalldrucker ausgeführt werden.
Für die Massenproduction ist allerdings in den letzten De-
cennicn die Erzeugung durch Stanzen und Pressen an die Stelle
der Metalldruckerei getreten. Diese ist die beliebte Technik
der Kleinindustrie in Metallwaaren. Sie wird in Wien theils inner¬
halb der Fabriken, theils als selbstständiges Gewerbe in zahlreichen
kleinen Werkstätten betrieben.
Die eigenartige Arbeitsleistung des Metalldruckers ist aus
der Abbildung Fig. 1 ersichtlich. Er presst ein rotirendes kreis¬
rundes Stück Blech auf ein Modell, das gleichfalls in die Dreh¬
bank eingespannt ist. Die rechte Hand führt den »Druckstahl«,
die linke hält ein kurzes Stück Holz dem sich biegenden
Bleche entgegen. Der Druckstahl gleitet frei auf der »Auf¬
lage«, die sich, vom Beschauer gerechnet, hinter dem Arbeits¬
stück befindet (man sieht von ihr in der Abbildung nur den
Fusstheil). Die eigentliche Fixirung des Werkzeuges, welches
den mächtigen Druck zu leisten hat, geschieht dadurch, dass
der Arbeiter den laugen hölzernen Griff an die Seitenfläche
seines Brustkorbes anpresst. Es sind also im Wesentlichen die
Rippe n, welche den Druck übernehmen. Mit anderen kürzeren
') E. Albert, Die seitlichen Kniegelenksvei kriimniungen und die
compensatorischen Fussformen. Wien 1899.
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
575
Druckstählen wird das gedrückte Blech dann feiner ausge¬
arbeitet.
Der Thorax des Metalldruckers formt sich nun ganz
entsprechend der Arbeit,
Fig. 1. Metalldrucker bei der Albeit.
Die rechte Hälfte des Brustkorbes ist von
der fünften Rippe abwärts vorne und in der
Seite eingedrückt, dafür am Rücken stärker
vor gewölbt. Die rechte Brustwarze steht ein
wenig tiefer als die linke.
Die Muskeln der rechten Körperhälfte, ins¬
besondere der Latissimus dors i, sind stärker
entwickelt.
Die Hypertrophie des letzteren vermehrt die von der
Rippenkrtimmung herrührende Vorwölbung der rechten Rücken¬
hälfte. Der tiefste Punkt der seitlichen Abflachung entspricht
meist der sechsten Rippe, die Vorwölbung am Rücken ist
etwa drei Fingerbreiten höher am stärksten.
S
Fig. 2. Cyitometrische Curve in der Höhe des Sternalansatzes der sechsten
Rippe. — S = Sternum, W = Wirbelsäule. 1/5 der natürlichen Grösse.
Die Formveränderung des Thorax sieht man am deut¬
lichsten ander cyrto met rischen Curve (Fig. 2), welche
von einem 30jährigen Metalldrucker in der Höhe des Sternal¬
ansatzes der sechsten Rippe aufgenommen wurde.
Bei vielen Metalldruckern tritt eine leichte linksseitige
Skoliose der Brustwirbelsäule mit tieferem Stand der rechten
Schulter hinzu, bei einigen weicht das untere Ende des Ster¬
nums nach links ab. Die Hypertrophie ist meist noch an den
Lumbalmuskeln der rechten Seite zu erkennen.
Die abgeflachte oder eingedrückte rechte Thoraxhälfte
ist eine ganz typische Verbildung, an der man den Metall¬
drucker in der Regel leicht erkennt. Sie entsteht schon in den
Lehrlingsjahren, tritt aber an älteren Arbeitern, zum Theile
wegen der stärkeren Ausbildung der Muskeln, deutlicher
hervor.
Beziehungen der Thoraxverkrümmung zur Lunge oder
Leber konnte ich klinisch nicht nachweisen. Die Tuber-
culose befällt bei diesen Arbeitern die rechte Lunge nicht
häufiger oder stärker als die linke. Die Metalldrucker er¬
kranken übrigens seltener an Lungentuberculose als die
anderen an der Drehbank beschäftigten Handwerker, was mit
der nur wenig Staub (beim Schleifen und Poliren) erzeugen¬
den Arbeit und den verhältnissmässig besseren Löhnen zu¬
sammenhängt.
Die Kenntniss dieser Berufsdeformität ist für den Inter¬
nisten nicht ohne Werth. Denn die Thoraxverbildung kann
unter Umständen zu diagnostischen Irrthümern führen,
beispielsweise bei einem mittelgi ossen, pleuritischen Ergüsse
der rechten Seite ohne Compressionsathmen zur Annahme
einer pleuritischen Schwarte verleiten.
Dem Gerichtsarzte kann der Metalldruckerthorax
gelegentlich für die Agnoscirung eines unbekannten Häftlings
oder einer Leiche einen brauchbaren Anhaltspunkt liefern.
Aus der Heilanstalt Alland.
Einige neue Medicamente in der Phthiseo-
therapie. )
Von Dr. Julius Pollak, Hausarzt der Heilanstalt.
IV. Fersan.
Eine wichtige Rolle kommt sowohl im Beginne, wie
auch im Verlaufe des tuberculösen Processes dem Blute zu.
Der Tuberculöse bietet in vielen Fällen schon auf den
ersten Blick das Bild eines Anämischen dar. In den vorge¬
schrittenen Fällen sind die blasse Gesichtsfarbe, die grau
scheinende Haut, die bleichen Lippen beinahe typisch.
Desto auffallender muss es erscheinen, dass diesem Bilde
die Veränderung der chemischen und morphologischen Zu¬
sammensetzung des Blutes keineswegs parallel geht. In den
meisten Fällen steht die Zahl der rothen und weissen Blut¬
körperchen, der Hämoglobingehalt des Blutes in keinem Ver¬
hältnisse zu dem anscheinend hochgradig anämischen Zustande
des Kranken. Allerdings ist es wohl anzunehmen, dass wirk¬
lich anämische Individuen schon von vorneherein für die
Tuberculöse mehr disponirt sind, dass sich ihre Anämie dann
durch die Acquisition der Tuberculöse noch mehr verstärkt, ist
ja zweifellos.
Uebrigens ist schon im Anfangsstadium der Tuberculöse
nach Grawitz und Strasse r die Zahl der rothen Blut¬
körperchen weit herabgesetzt, die der weissen unregelmässig,
der Hämoglobingehalt des Blutes ein geringer. Von dem
Augenblicke an, in welchem sich das Allgemeinbefinden des
Tuberculösen im grossen Ganzen bessert, das heisst, wenn ei
an Gewicht zunimmt, sein Lungenbefund ebenfalls ein gün¬
stigerer wird, steigt auch zugleich sowohl die Zahl der rothen
Blutkörperchen, wie auch dor Hämoglobingehalt des Blutes.
Diesen Vorgang zu beschleunigen, ist eine wichtige Aufgabe
der Phthiseotherapie. Tuberculösen wurden deshalb schon seit
jeher die verschiedensten Eisenpräparate gereicht, in "vielen
Fällen auch Arsen.
Die Wirkung des Arsens ist bei Tuberculösen nicht besonders
verlässlich. Oft lässt das Präparat vollkommen im Stich, in anderen
Fällen sind recht schöne Zunahmen zu verzeichnen, jedoch nui so
lange, als das Arsen genommen wird. Bald nachdem man das Medi¬
cament aussetzt, treten in den meisten Fällen wieder Abnahmen
des Körpergewichtes ein.
>) Vide diese Wochenschrift. 19Q0. Nr. 3.
57fi
WIENEK KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 25
Die meisten Eisenpräparate haben ungünstige Neben¬
wirkungen, sie belästigen den Magen, wirken reizend auf den
Darm. Bei Tubereulösen handelt es sich in erster Linie darum,
nur solche Eisenquantitäten zu verabreichen, die leicht resorbirt
werden können. Wenn man sich vor Augen hält, dass wir für
den Menschen höchstens 00479 Eisen auf 1 kg annehmen
dürfen (Bunge, Lehrbuch der physiologischen und patholo¬
gischen Chemie), so ist es einleuchtend, wie ausserordentlich
wenig Eisen schon zur Erhöhung des Hämoglobingehaltes des
Blutes genügt, und wie unnöthig es ist, blutarme Individuen
mit grösseren Eisenmengen zu quälen. Der grösste Theil des
verabreichten Eisens geht unverändert mit dem Kothe ab,
nur wirkt diese unresorbirte Masse häufig sehr unangenehm
auf die Darmschleimhaut. Grössere Mengen verderben den
Appetit vollkommen. Bei Tuberculösen ist aber gerade die
Erhaltung des guten Appetites eine Hauptbedingung für den
Erfolg.
Appetiterregend und zugleich eisen- und phosphorhältig
ist das von Dr. A d. J o 1 1 e s dargestellte Präparat F ersan. Laut
.1 olles ist »dasselbe eine in den Erythrocyten des frischen
Kinderblutes enthaltene Eisenverbindung, welche im chemi¬
schen Sinne eine eisenhaltige Paranucleoproteid- Verbindung
darstellt. Es wurde in aualoger Weise, wie der Eiweisskörper der
Leukocyten, das Nucleohiston, in die Base Histon und in das
saure Leukonuclein zerlegt werden kann, der Eiweisskörper
der Erythrocyten gespalten, und zwar in eine phosphorfreie
Substanz, die in Lösung geht, und ähnliche Eigenschaften
zeigt, wie das Histon (Schulz, Der Ei weisskörper des Hämo¬
globins) und in einen eisen- und phosphorhältigen Eiweiss¬
körper, welcher in seinem Atomcomplex keine Alloxurbasen
enthält und daher durch Behandlung mit Alkalien auch keine
Nuclein säuren gibt. Diese Verbindung (Fersan) wird im Prin¬
cipe in der Weise gewonnen, dass man auf die durch Centri-
fugirung isolirten Erythrocyten Säuren (am besten Salzsäure)
unter bestimmten Bedingungen einwirken lässt.
Der hiebei resultirende Körper enthält das gesammte
Eisen und den Phosphor der Erythrocyten nur in organisch
gebundener Form und die Eiweisssubstanzen im Wesentlichen
als Acidalbumine.«
Das Präparat ist im Wasser leicht löslich, coagulirt beim
Kochen nicht, und ist beinahe geschmacklos.
Ein für die Phthiseotherapie wichtiger Vorzug desselben
ist, dass es den Magen unverändert passirt, und erst im Darme
resorbirt wird.
In vielen Fällen, besonders im Anfangsstadium, ist eine
auffallende Anorexie bei Tuberculösen wahrnehmbar. Zur Be¬
kämpfung derselben müssen wir oft zu verschiedenen Mitteln,
wie Acid, hydrochloric., Tct. chinae, Tct. nucis vomicae etc.
greifen.
Bei Anwendung des Fersans fällt diese Verabreichung
weg, dasselbe scheint an die Verdauungskraft des Magens
keine Anforderungen zu stellen und wird selbst bei ziemlich
schlechter Verdauungsfähigkeit des Magens gut vertragen.
Eine specielle Aufgabe unserer Therapie ist ausgiebige
Ei weisszufuhr. Nach Jolles enthält Fersan 90% lös¬
liche E i w e i s s k ö r p e r, neben dem Eisen wird also dem
Kranken auch Eiweiss in nicht zu unterschätzender Menge
dargereicht.
Das Präparat wurde im Ganzen 50 Patienten gegeben.
Als Indication dazu galt: Constatirte Anämie, auf¬
fallen der Appetitmangel, in manchen Fällen Kopf¬
schmerz, als dessen Ursache Anämie anzunehmen war.
In drei Fällen musste gleich nach Beginn, d. h. schon nach
zwei bis drei lagen mit der Verabreichung des Fersans ausgesetzt
werden: bei einer Patientin trat nach jedesmaligem Einnehmen
sofort Erbrechen ein, in den anderen zwei Fällen war der Wider¬
wille gegen das Medicament so stark, dass ich es nicht für opportun
hielt, die Patientin zum weiteren Gebrauche desselben zu zwingen.
Bei den Uebrigen zeigte sich Fersan recht brauchbar. Besonders
hervorzuheben ist die ungewöhnlich leichte Assimilation und Resor-
birbarkeit; es traten, ausser im oberwähnten Falle, bei keinem
Patienten irgend welche Verdauungsstörungen ein. Die Verabreichungs¬
methode war anfänglich folgende: Ein Kaffeelöffel voll Fersan wurde
in einem Glase mit etwas Wasser angerührt, dann das Glas mit
kalter (abgekochter) Milch angefüllt, umgerührt und auf einmal
ausgetrunken. Diese Dosis (circa 2 [/<l g) wurde dreimal täglich eine
halbe Stunde vor jeder Mahlzeit gegeben, im Ganzen also circa
7 — 8 g pro die. Später jedoch wurde die wässerige Fersanlösung
direct der Suppe, dem Kaffee oder Cacao zugesetzt, und auch in
dieser Form gerne genommen und gut vertragen. Zur näheren
Charakterisirung der Wirkungsweise will ich nur zwei beliebige Fälle
anführen:
Patientin H., 17 Jahre alt, leidet schon seit längerer Zeit an
Gesichtsakne; Lungenbefund sehr günstig, das Körpergewicht blieb
jedoch Wochen hindurch stabil 48 kg. Hämoglobingehalt des Blutes
mit Fleisch l’schem Apparat gemessen 65.
Am 3. März 1900 wurde mit Verabreichung von Fersan
begonnen. Der Appetit besserte sich zusehends; am 10. März Ge¬
wichtszunahme 160%, am 17. März L30%, am 24. März 050%;
dann blieb zwei Wochen unverändertes Gewicht, in der sechsten
Woche neuerliche Zunahme von 1 hg. Hämoglobingehalt 75. Patientin
nimmt seitdem Fersan fort, die Gesichtsakne ist wohl noch vor¬
handen, jedoch viel geringer. Hämoglobingehalt am 22. Mai 80%.
Patientin K., 39 Jahre alt, klagte seit letzterer Zeit über
Appetitlosigkeit, häufigen Kopfschmerz.
16. März. Tuberculöse Veränderungen, auf eine Lungenspitze
beschränkt. Hämoglobingehalt des Blutes Fl ei sc hl 70. Patientin
nimmt täglich dreimal Fersan.
Am 23. März Gewichtszunahme 1 hg; zwei Wochen hindurch
keine Zunahme, in der dritten Woche Zunahme 0'90%; Patientin
nimmt Fersan fort; mässige aber stetige Gewichtszunahme.
Am 17. Mai (zwei Monate später) Fleischl 90.
Diese beiden Fälle können als Paradigmen betrachtet
werden; denn mit wenigen Ausnahmen wurde bei sämmtliehen
Kranken schon innerhalb drei bis vier Wochen der Hämo¬
globingehalt des Blutes grösser, in den meisten Fällen durch¬
schnittlich um 10%, nach zweimonatlichem Gebrauche um
15—20%. Bei besonders anämischen Kranken ging die Er¬
höhung des Hämoglobingehaltes noch viel rascher vor sieh,
als bei weniger anämischen. Der Appetit besserte sich bei den
meisten Kranken schon in der ersten oder zweiten Woche.
Auch die Gewichtszunahme war der Besserung des Blut¬
befundes parallel; nur bei acht Patienten konnte trotz Fersan
keine Zunahme des Körpergewichtes erzielt werden. Auf die
Zähne übt Fersan keinerlei schädliche Wirkung aus.
Zum Schlüsse möchte ich noch bemerken, dass in Folge
der hygienisch-diätetischen Anstaltsbehandlung an und für sich
sehr schöne Gewichtszunahmen und Besserung aller angedeuteten
Beschwerden in der Mehrzahl der Fälle beobachtet werden,
es handelt sich hier, wie ausdrücklich bemerkt werden soll,
nur um solche Kranke, die auf die gewöhnliche »Allgemein¬
behandlung« nicht in genügender Weise reagirt haben, so
dass die Wirkung thatsächlich dem Fersan zugeschrieben
werden kann.
REFERATE.
Die Lepra des Auges.
Klinische Studien von Dr. Lyder Börthen ; mit pathologisch-anatomischen
Untersuchungen von Dr. P. L i e.
Leipzig 1899, W. Engelmann,
Die vorliegende umfangreiche Monographie über die leprösen
Erkrankungen des Auges und seiner Adnexe ist das Resultat lang¬
jähriger eigener Beobachtungen an dem zahlreichen Krankenmateriale
der verschiedenen Leprosenhäuser Norwegens. Mit der ausgedehnten
Erfahrung, welche den Verfassern zur Seite steht, verbindet sich
eine grosse Klarheit der Darstellung, sowie durchwegs gleiche Sorg¬
falt und Genauigkeit in der Besprechung der einzelnen Capitol des
Themas.
An der Spitze des Werkes steht neben einer Uebersicht über
das untersuchte Material eine umfassende Statistik, welche unter
Anderem auch in Form von Diagrammen ein sehr übersichtliches
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
;> ( i
Bild über die Beziehungen der Augenaffectionen bei den ver¬
schiedenen Formen der Lepra sowohl zu den Erkrankungen der
übrigen Organe, als auch rücksichtlich des Geschlechtes, und die
Häufigkeit des Auftretens der leprösen Augenkrankheiten im Ver¬
laufe der allgemeinen Lepra gibt.
Als zweiter Haupttheil folgt eine mit zahlreichen Kranken¬
geschichten belegte, durch sehr viele ausgezeichnete Lichtdruck-
und chromolithographische Tafeln illustrirte klinische Darstellung
der Veränderungen der Bulbusadnexe und einzelnen Bulbustheile
in klarer und bei aller Kürze doch in Details durch geführter Weise.
Und zwar sind zunächst allgemeine Erörterungen über die Er¬
scheinungsformen der Lepra, sowie anatomische Bemerkungen den
einzelnen Unterabtheilungen vorausgeschickt.
Den dritten Abschnitt bilden pathologisch-anatomische Unter¬
suchungen über die Veränderungen der einzelnen Gewebe des
Auges und seiner Umgebung durch die verheerende Infections-
krankheit, welchen sehr schöne chromolithographische Reproductionen
histologischer Präparate beigegeben sind.
Druck und Ausstattung des Werkes sind tadellos, so dass
es als eine werthvolle und in jeder Beziehung vollständig ge¬
lungene Bereicherung der Literatur rückhaltslos empfohlen
werden kann. V. Hanke.
I Die ekzematösen (scrophulösen) Augenerkrankungen
Von Dr. Ludwig Bach.
Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Augenheil¬
kunde.
Bd. III, Heft 1.
Halle 1899, C. Mar hold.
II. Ueber gichtische Augenerkrankungen.
Von Dr. Julius Hirsch, Karlsbad.
Bd. Ill, Heft 2.
Ibidem, 1899.
III. Die Durchblutung der Hornhaut.
Von Dr. P. Römer.
Bd. II, Heft, 8,
Ibidem, 1899.
IV. Sehprüfungen.
Beispiele nebst Fragen und Anworten, ein Unterrichts- und Lernbehelf.
Von Dr. A. Roth. Oberstabsarzt.
II. Auflage.
Berlin 1 899, Otto Enslin.
V. Ueber Lidgangrän.
Von Dr. P. Römer.
VI. Ein Beitrag tu den entzündlichen Verletzungen des
Auges.
Von Dr. G. Brandenburg.
Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Augenheilkunde
Bd. m, Heft 4.
Halle 1899, C. Marhold.
VII. Die operative Behandlung der hochgradigen Kurz¬
sichtigkeit.
Von Dr. Hühner.
Bd. III, Heft 3.
Ibidem, 1899.
VIII. Die Impferkrankungen des Auges.
Von Prof. Otto Schirmer.
Bd. III, Heft 5.
Ibidem, 1900.
IX. Ueber die Vererbung von Augenleiden mit besonderer
Berücksichtigung von Neuritis optica in Folge von Here¬
dität und congenitaler Anlage (Leber).
Ven Prof. Dr. A. Vossilis.
Bd. III, Heft. 6.
Ibidem, 1900.
I. \ erfasset’ zieht den Namen Ekzem der Bezeichnung Kerato¬
conjunctivitis phlyctaenulosa vor, weil sich ersterer vielleicht doch
als tichtig erweist, während der Name »Phlyktäne« bereits fest¬
stehenden Ibatsachen nicht gerecht wird und sich auf Erkrankun¬
gen der Lidbaut und des Lidrandes nicht gut anwenden lässt.
JSach der Schilderung des klinischen Bildes des Ekzems des Lides,
Lid1 arides, der Bindehaut und Hornhaut, sowie der Besprechung der
bishei veröffentlichten anatomischen, bacteriologiscben und experi¬
mentellen Untersuchungen, wobei auch die eigenen des Verfassers
referirt werden, wendet sich Bach den Beziehungen der Krankheit
zm Scrophulose zu. Er versteht unter diesem Begriffe eine Krank¬
heit, vorwiegend der Armuth und des Kindesalters, bei welcher
Vererbung eine grosse Bolle spielt und die durch eine Ernährungs¬
störung, welche in einem verminderten Stoffwechsel besieht, charak-
terisirt wird. Hieraus erklärt sich die abnorme Empfindlichkeit
Scrophulöser auf äussere Reize, die grosse Neigung zu entzündlichen
Vorgängen von eigenthümlichem Charakter, der chronische Verlauf,
die häufigen Recidiven und die geringe Tendenz zur normalen Ge-
wehshildung, die geringe Widerstandsfähigkeit gegen Infection, also
besonders die mit Tuberkelbacillen. Die Scrophulose spielt sicher
in der Genese der ekzematösen Augenerkrankungen eine bedeutende
Rolle; dass sie dieselben aber auf endogenem Wege erzeugt, ist
unwahrscheinlich, sie wirkt nur in hohem Grade prüdisponirend.
Bei dem Zustandekommen der Krankheit, speciell der Effloresccnzen,
wirken äussere Einflüsse in sehr hohem Grade ein. Die bacterio-
logische und besonders experimentelle Forschung beim Menschen
und Thierc haben die ursächliche Bedeutung der Bacterien für die
Genese der Erkrankung zwar nicht bewiesen, aber wahrscheinlich
gemacht. Am wahrscheinlichsten ist es, dass es sich bei dem Ent¬
stehen der Efflorescenzen um eine primäre Epithelalleration und
dann um Einwirkung von Bacterien oder chemischen Substanzen
handelt. Es ist ziemlich gewiss, dass die sogenannte Phlyktäne ge¬
wöhnlich zunächst ein subepithelialcs Knötchen darstellt. Die Mög¬
lichkeit einer ektogenen Genese ist bisher durch die anatomischen
Untersuchungen nicht widerlegt. Dies sind die bisherigen Ergebnisse
der Forschung. Als die weiteren Ziele bezeichnet Bach die Unter¬
suchung frischer Efflorescenzen, speciell auf Zeichen von Epithel-
regeneration, sowie Experimente zur Beobachtung der Epithelrege¬
neration hei minimaler Defectbildung und oberflächlicher Hornhaut-
infection. Bei bacteriologiscben Untersuchungen empfiehlt es sich,
getrennte Platten von den Efflorescenzen, dem Bindehautsack und
den Lidrand anzulegen, sowie bei einseitiger Affection auch Lidrand
und Bindehautsack des gesunden Auges zu untersuchen.
Die Therapie hat zunächst die Besserung des Allgemeinzu¬
standes und der hygienischen Verhältnisse des Patienten anzu¬
streben. Bei der localen Therapie der Lidekzeme kommt die Appli¬
cation der Medicamente hauptsächlich in Salbenform in Betracht,
daneben ist auf Hintanhaltung mechanischer, überhaupt äusserer
Reize möglichst zu achten, sowie auf die Behandlung gleichzeitig
vorhandener Ekzeme an anderen Körperstellen, Katarrhen der Nase
und des Ohres. Bei der localen Therapie der ekzematösen Bindehaut-
und Hornhautaffectionen ist wieder die Fernhaltung äusserer Schäd¬
lichkeiten sehr wichtig, besonders des Wischens mit schmutzigen
Händen und Tüchern; dadurch wird das Abheilen vorhandener Ef¬
florescenzen begünstigt und dem Aufschiessen neuer durch Rein¬
fection der Oberflächendefecte vorgebeugt. Das local allgemein ange-
wendele Kalomel wirkt nach B a c h’s Ansicht nicht nur durch Um¬
wandlung im Bindehautsack zu Sublimat die Keimzahl herabmin¬
dernd, sondern hauptsächlich durch Vermehrung der Thränensecre-
tion rein mechanisch die Bacterien herausspülend. Bei Gebrauch
von Kalomel und Präcipitatsalbe wird vor interner Verabreichung
von Jod gewarnt, weil sich dann im Bindehautsack das stark
reizende Jodquecksilber bildet, aber auch vor localer Anwendung
von Cocain zugleich mit nicht sehr fein verriebener Präcipitatsalbe,
wobei sich stark irritirende Sublimatkörnchen bilden können. Des
Weiteren bespricht Bach die im Allgemeinen übliche Therapie der
ekzematösen Conjunctival- und Cornealaffectionen.
*
II. Die harnsaure Diathese ist nicht so selten Ursache von
Augenaffectionen. Hirsch schätzt die Zahl der uratischen Augen¬
kranken auf 2 °/0 der Gesammturaliker. Zu den Hauterkrankungen,
die das Auge in Mitleidenschaft ziehen und uratische Grundlage
haben, gehören Ekzeme und Psoriasis der Lidhaut und Brauen¬
gegend, sowie eine eigenthümliche, fettig glänzende, wulstige Schwel¬
lung der Lidhaut. In den Lidknorpeln kommen echte Tophi mit
harnsauren Concrementen vor, sie können sich durch Resorption
verkleinern, aber auch unter heftigen Entzündungserscheinungen
vereitern. Sie ähneln ganz den Chalazien. Die Conjunctiva erkrankt
in der Form von acuter und chronischer Entzündung, sowie der
von plötzlich vorübergehenden Schwellungen mit starker Hyper¬
ämie,- Hitzegefühl und Thränenfluss; ferner kommen Blutungen in
der Conjunctiva mit prognostischer Bedeutung als Zeugniss für die
Brüchigkeit der Gefässwand vor. Die Sklera ist manchmal der Silz
echter Tophi, dann der oft schweren, auf Aderhaut, Netzhaut und
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 25
578
Iris sich ausbreitenden Entzündungen, welche das Sehorgan aufs
Höchste gefährden, und der gutartigen Episcleritis periodica fugax
(F uch s).
Oberflächliche Skleritiden führen hei älteren Uratikern im
Stadium der Gefässveränderungen mitunter zu sklerosirender Kera¬
titis. Rasch entstehende und ebenso verschwindende, randständige
kleine Hornhautgeschwüre, welche nie perforiren, aber oft recidi-
viren, sind die häufigste gichtische Augenerkrankung. Als sehr seltene
Hornhaulaffection beobachtete II i r s c h zwei Fälle, bei denen kleine
bläschenartige Efflorescenzen am Limbus auftraten, mit Hinter¬
lassung »weisser Flecke« (nicht sicher als Narben anzusprechen)
heilten, häufig recidivirten und sich dabei flügelfellartig immer mehr
gegen das Hornhautcentrum vorschoben.
Die bekannteste gichtische Augenkrankheit ist die Iritis. Es
werden dann die von B e r g m e is t er als charakteristisch für Gicht
beschriebenen Fälle von feinen Trübungen am hinteren Linsenpol
erwähnt, dann der primären Ilyalitis mit Ausgang in Netzhautab-
ablösung gedacht, endlich zu den eigentlichen Augenhintergrundserkran¬
kungen übergegangen, die alsFolgen der Gefässveränderungen anzusehen
sind und deren einseitiges Vorkommen als charakteristisch für Gicht
Hirsch anerkennt. Solche sind: Süppchen in der Macula, Neuro-
retinitis, hämorrhagische Retinitis. Einen Fall von Glaukom, in dem
der von Manchen behauptete Zusammenhang mit Gicht unzweifel¬
haft gewesen wäre, hat Hirsch nie gesehen.
Als diagnostisch verwerthbare Zeichen werden resumirt: mehr
minder auffallende Hartnäckigkeit, Neigung zu Recidiven, einseitiges
Auftreten, respective seltene Gleichzeitigkeit bei der Erkrankung
beider Augen.
*
III. Verfasser referirt über fremde und eigene Untersuchungen,
betreffend die histologischen Veränderungen und die Genese der
als »Durchblutung« der Hornhaut bezeichneten eigenthümlichen,
scheibenförmigen, centralen, grünlichen Verfärbung der Cornea,
welche mit gleichzeitig bestehenden, traumatischen oder spontanen
intraoeulären Blutungen beobachtet wurde. In den meisten einschlä¬
gigen Publicationen, die Verfasser eingehend bespricht, werden auf¬
fallend stark lichtbrechende Körperchen erwähnt, die jedoch nicht
die Ursache der eigenthümlichen Verfärbung sein können, weil sie
nur in einer Gruppe von solchen Fällen sich finden. Ueber die
Genese und Natur der Gebilde, welche für Fibringerinnungen, Pro-
ducte hyaliner Degeneration, Hämatoidin gehalten wurden, stehen
sich die Anschauungen hart gegenüber. Römer beobachtete selbst
vier Fälle und untersuchte davon zwei anatomisch; in dem einen
fehlten die Körperchen. In Uebereinstimmung mit den bisherigen
Untersuchern fand er sie gegen starke Säuren und Alkalien, Aether,
Alkohol und Chloroform resistent, die W e i g e r t'sche Fibrinfärbung
gelang nur bei intensivster Ueberfärbung; dies, sowie die Unlöslich¬
keit der Körperchen in Neurin, durch welches sie aus der sich
auflösenden Cornea als runde oder ovale Gebilde isolirt werden
können, beweist, dass man es nicht mit Fibringerinnungen zu thun
hat (wie bei der Aspergillus-Keratitis), auch fehlen die charakte¬
ristischen Zeichen der Entzündung. R ö m e r meint nun, dass das
Hämoglobin in verdünnter Lösung die ganze Cornea durchdringe
(dies wird durch die diffus auftretende Eisenreaction bestätigt), und
durch die Gewebs-Kohlensäure in das eisenhaltige gefärbte Hämatin
und seinen farblosenEiweisskörperzerlegt werde. Die Körperchen könnten
daun als Niederschläge vom Eiweisskörper des Hämoglobins aufgefasst
werden, die in krystalloider Form aus der Hämoglobinlösung aus¬
geschieden werden. Wo die Gewebskohlensäure in die Nähe der
Resorptionssphäre der Gefässe glangt, kann sie das Hämoglobin
nicht mehr zerlegen, daher die von Körperchen frei gefundene
Randzone der Hornhaut. Die Körnchen zeigten auch chemische und
tinctorielle Aehnlichkeit mit dem künstlich aus Hämoglobin herge-
slcllten Liweisskörper, doch wurde letzterer vom Neurin gelöst. In
Zukunft wäre an frischen Fällen darauf zu achten, ob das Hämatin
als Zerlegungsproduct des Hämoglobins durch sein charakteristisches
spectroskopisches Verhalten nachzuweisen ist. In Römer’s Fall
fiel die Untersuchung, da das Präparat alt war, nicht überzeugend
aus. Das Photogramm eines gefärbten Schnittes, unter starker Ver-
grösserung angefertigt, und ein Literaturverzeichniss schliessen die
Arbeit.
*
IV. Das kleine Heftchen enthält zunächst Vorbemerkungen ■
über die Stufen des Sehvermögens und den Gang der Augenunter¬
suchung, soweit sie durch Sehstörungen erforderlich wird, sowie
über die Benützung der Sehprobentafeln. Es folgen dann Fragen
zur Prüfung der für die Vornahme von Sehproben nöthigen Vor¬
kenntnisse. Den Haupllheil bilden eine Anzahl von Sehprüfungs¬
protokollen mit anschliessenden Fragen über die Details derselben,
und die aus ihnen zu ziehenden Folgerungen. Den Schluss bilden
die Antworten auf die vorher gestellten Fragen nebst kurzen Er¬
klärungen. Das Heft ist ganz praktisch zur Repetition und zur
Prüfung auf Verständniss und Anwendung des anderweitig Ge¬
lernten.
*
V. Lidgangrän im pathologisch-anatomischen Sinne, als Ein¬
schmelzung unter Zersetzung und Fäulniss ist eine opthalmologisehe
Seltenheit. Die anatomische Beschaffenheit der Lidhaut, dünnes
Corium, lockeres subcutanes Gewebe, Feinheit der Gefässe prädis-
poniren die Region zur schnellen Ausbreitung der Entzündung und
Ernährungsstörung des Gewebes. Der freie Lidrand, welcher am
reichlichsten vascularisirt ist, bleibt sammt den Cilien meist ver¬
schont, die grosse Neigung zur Tiefenausdehnung führt bei even¬
tueller Heilung Stellungsveränderung des Lides herbei. Klinisch ist
die endogene, metastatisch entstandene und die ektogene, durch
locale Affection entstandene Gangrän zu unterscheiden. Für erstere
kommen als Ursachen hauptsächlich Typhus, Scharlach und Masern,
aber auch Influenza, besonders in der Reconvalescenzperiode in
Betracht, ferner infectiöse Embolie hei Pyämie und Sepsis, endlich
Diabetes und Alkoholismus. Bei der ektogenen Form ist die primäre
Liderkrankung von der aus der Nachbarschaft fortgeleiteten zu
trennen. Secundäre Lidnekrosen sind am häufigsten im Anschlüsse
an Erysipelas faciei oder an inficirte Erosionen der Umgebung, ge¬
legentlich auch nach Orbital-Periostitis und Oberkiefereiterungen.
Als primäre, bisweilen zu Gangrän führende Liderkrankungen
kommen in Betracht: Milzbrand, Variola, Pusteln, Eczema impeti-
ginosum, schliesslich Varicellen. Einen Fall letzterer Aeliologie,
den ersten bisher veröffentlichten, theilt Römer nun in extenso
mit. Die bacteriologische Untersuchung ergab Streptococcen und
Proteus vulgaris. Für die Praxis ergibt sich der Wink, dafür zu
sorgen, dass die Kinder sich die Pusteln an den Lidern nicht auf¬
kratzen und inficiren können.
*
VI. Brandenburg gibt die Krankengeschichte eines Falles
von Zündhütchen-Verletzung des Auges, bei welchem es nach der
Lage der vorhandenen Wunden zweifelhaft war, ob ein im Lid
Vorgefundener Kupfersplitter auch die perforirende Hornhaut- und
Linsenverletzung erzeugt habe, oder ob noch ein zweiter in das
Augeninnere eingedrungen sei, und bespricht die sich daraus er¬
gebenden Fragen bezüglich Diagnose und Prognose.
*
VII. Zweck der Arbeit ist, dem Praktiker durch eine einfache
Darlegung der bisher gemachten Erfahrungen über dieses Capitel
der Augenchirurgie ein Urtheil zu ermöglichen. Mit Berücksichtigung
des selbst beobachteten Materiales der Kliniken in Halle und
Giessen, sowie der gesammten Literatur kommt Hübner zu fol¬
genden Schlüssen:
1. Bei der Auswahl von für die Phakolyse geeigneten Fällen
ist nicht nur die Höhe der Myopie, sondern auch die individuellen
Verhältnisse ausschlaggebend. Im Allgemeinen ist als unterste
Grenze 140 D festzuhalten, unter besonderen Umständen (stark
progressive Myopien des Kindesalters, hartnäckige, nur auf die
hochgradige Kurzsichtigkeit zurückzuführende Beschwerden, nament¬
lich für einen Beruf nicht ausreichende Arbeitsweite) kann bis auf
12 0 — 100 D heruntergegangen werden.
2. Bei der Ausführung der Operation ist alles strengstens zu
vermeiden, was den Verfall und etwaigen Verlust von Glaskörper
begünstigt. Als Operationsverfahren empfiehlt sich die Discission mit
nachfolgender Linearextraction in geeigneten Fällen die Extraction
der durchsichtigen Linse.
3. Die Operation verschafft den hochgradig Kurzsichtigen
eine bessere Sehschärfe für die Ferne und die Möglichkeit, in der
Nähe, in jeder durch einen Beruf nöthigen Arbeitsentfernung gut
und andauernd zu sehen. In der bei weitem überwiegenden Mehr¬
zahl der Fälle kommt die Myopie nach Entfernung der Linse zum
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1‘JOü.
57!)
Stillstand, bezüglich der Verminderung der Gefahr der Netzhaut-
J o
ablösung ist ein abschliessendes Urtheil einstweilen nicht abzu¬
gehen .
*
VIII. Schirmer skizzirt zunächst die Krankengeschichte eines
Patienten, der von einem Impfarzte durch Unachtsamkeit inficirt,
mit Bindehaut- und Hornhautgeschwür in seiner Behandlung stand
und bedeutende Schwächung des Sehvermögens davontrug, um auch
Nichtspecialisten auf die Gefahren einer Uebertragung von Vaccine
aufs Auge aufmerksam zu machen.
Die Infection geschieht meist an Pflegepersonen, seltener an
den Geimpften selbst, bei Impfung an den bequemer zu erreichenden
Oberschenkel ist Selbstinfection geimpfter Kinder leichter, daher
Impfverband rathsam.
Es wird sodann die Vaccinola des Lidrandes ge¬
schildert, ihre Aehnlichkeit mit den gewöhnlichen Impfblattern und
ihre Unterschiede von denselben, welche zumeist dem zarten Epithel
des Lidrandes, der Maceration durch Conjunctivalsecret und Thränen,
sowie der mechanischen Wirkung des Lidschlages ihre Entstehung
verdanken, geschildert. Die etwas frappirende Restitutio ad integrum
der anscheinend bösartigen Geschwürsbildung erklärt sich nach
Schirmer’s mikroskopischen Untersuchungen daraus, dass der
nekrotische Process den Papillarkörper nicht erreicht. Besonders
erwähnt wird das Aufschiessen zahlreicher Impferuptionen secun-
därer Art, entstanden zum Theil durch Contact der Lidränder unter¬
einander und mit dem Bulbus, zum Theil dadurch, dass der In-
fectionsstoff nicht wie am Arm durch die Pusteldecke eingeschlossen
gehalten wird, sondern von dem offenen Geschwür aus sich überall
hin leicht ausbreiten und auf dem zarten, stets feuchten Lidraijd-
epithel leicht haften kann. Viel seltener als auf der Lidhaut ist die
primäre Vaccineeruption auf der Conjunctiva, von welcher
Schirmer eigene Beobachtungen mittheilt. Sie stimmt ganz mit
der am Lidrande überein und stellt flache, von einem weisslichen,
abziehbaren Belage bedeckte Substanzverluste dar, die ohne Narben¬
bildung heilten. Primäre Impfinfection der Hornhaut kam nur
einmal durch einen unglücklichen Zufall auf dem Auge des
Arztes zu Stande, wurde aber in den ersten Stadien nicht beob¬
achtet, es ‘lässt auch daher nicht feststellen, ob die darnach aufge¬
tretene Keratitis mit der bei Lidvaccinola auftretenden interstitiellen
Keratitis identisch ist. Diese Complication kann für das Auge ver-
hängnissvoll werden. Die Keratitis profunda postvacci-
nolosa entwickelt sich, nachdem die Lidvaccinola ihren Höhe¬
punkt überschritten hat, unter mässigon Reizerscheinungen als zu¬
nächst diffuse Trübung der mittleren Hornhautschichten, hinter
welchen zunächst ganz unregelmässig angeordnete, hakenförmige
oder gabelige, weissliche Striche liegen, auf die schon in den
tiefsten Schichten, also unmittelbar an der Descemet’schen Membran
kreislörmige oder ovale graue Trübungen folgen. Ob diese Keratitis
von der Oberfläche aus entstanden, oder als Metastase aufzufassen
sei; ist noch strittig. Schirmer sieht darin eine Infection der
Hornhaut mit dem specifischen Virus der Vaccine. Die andere
Form der Complication seitens der Hornhaut: Infiltrate und Ge¬
schwüre, unterscheiden sich nicht von den sonst bei acuten Con¬
junctivitiden auftretenden und sind schwerlich als Vaccineinfection
der Hornhaut zu betrachten.
Zum Schlüsse werden Differentialdiagnose (Variola vera,
syphilitischer Primäraffect, weicher Schanker, Diphtherie), Prognose,
Therapie und Prophylaxe besprochen.
*
IX. In der Aetiologie verschiedener Augenleiden (Glaukom,
Katarakt, Strabismus, Farbenblindheit, Hemeralopie, Refractions-
fehler, speciell Myopie und Astigmatismus, congenitale Anomalien)
spielt die Erblichkeit eine Rolle. Auffallend ist bei einer Reihe,
dass sie in einem gewissen Lebensalter auftreten, bei anderen, dass
sie nur die männlichen, hei anderen nur die weiblichen Familien¬
mitglieder betreffen, ln der Regel wird die Affection in einer
1 amilie durch die Mutter übertragen, welche dabei ein ganz gesundes
Sehorgan haben kann. Eine Eigentümlichkeit hereditärer Augen¬
leiden ist, dass Generationen davon übersprungen werden können.
Consanguinität der Ehen kann besonderen Einfluss haben. Dass es
eine auf hereditärer Grundlage ganz acut auftretende und sich
durch Generationen in verschiedenen Familien sogar um bestimmte
Lebenszeit fast regelmässig wiederholende retrobulbäre Neu¬
ritis optica mit Ausgang in partielle oder totale Atrophie der
Papille aber ohne zwingenden Endausgang in absolute Amaurose
gibt, lehrt die ältere und neuere Literatur. Im klinischen Bilde
spielt die gewöhnlich plötzlich eintretende und bisweilen schon in
wenigen Tagen bis zu fast völliger Erblindung sich steigernde Ab¬
nahme der Sehschärfe die Hauptrolle.
Die Amblyopie entwickelt sich gewöhnlich nicht an beiden
Augen zugleich, sondern in Intervallen von wenigen Tagen oder
auch in längeren, und ist nicht immer beiderseits gleich hoch¬
gradig, doch ist das Sehvermögen in der Regel bis auf excentrische
Erkennung von Fingern in wenigen Metern Abstand herabgesetzt,
dabei besteht Nyktalopie. Nach zwei bis vier Wochen hat die Seh¬
störung in der Regel ihren Höhepunkt erreicht, die Kranken können
sich oft allein schwer zurecht finden. Es besteht ein verschieden
grosses centrales Skotom für weisse und farbige Objecte, besonders
für roth und grün. Die Gesichtsfeldperipherie bleibt in der Regel
normal, auch für Farben. Die centrale Amblyopie bleibt gewöhnlich
in demselben Grade bestehen, oder bessert sich noch etwas. Oph¬
thalmoskopisch findet man nur unbedeutende Veränderungen der
Papille, mässige Trübung und Hyperämie, leichte Verschleierung
der Grenzen oder normalen Befund. Innerhalb zwei bis drei Wochen
entfärbt sich jedoch die Papille manchmal bis zu graugrüner oder
weisslicher Farbe, ohne dass dabei Amaurose besieht. Manchmal
gehen ausser Störung des Allgemeinbefindens convulsivische Zu¬
stände, selbst epileptische Anfälle, sowie ataktische Störungen
voran. In überwiegender Mehrzahl erkranken die männlichen Fa¬
milienmitglieder, doch wird die Krankheit von Familie zu Familie
durch die Frauen übertragen, da diese heiraten, während sie noch
gesunde Augen haben, aber schon den Keim auf ihre Nachkommen
übertragen. Der Mann aber erblindet schon, bevor er an die
Gründung einer Familie denken kann. Meist fällt die Zeit der Er-
krankung in die Periode zwischen dem 17. und 28. Lebensjahre.
Studien über den Einfluss der Consanguinität wären sehr wünschens-
werth. Die hereditäre Neuritis tritt meist idiopathisch bei bis dahin
gesunden Menschen auf. Gelegentlich soll in der Familie Syphilis
geherrscht haben, auch Tabak-, sowie Alkoholmissbrauch wurden
als Ursache angeschuldigt. Sectioncn einschlägiger Fälle fehlen. Ab¬
normitäten im Schädelwachsthum können vielleicht durch Anomalien
im Canalis opticus, die den Sehnerven beeinträchtigen, eine ätio¬
logische Rolle spielen. Therapeutisch kommen vorsichtige Inunctions-
cur, Schwitzcur, Blutentziehungen, Galvanisation des Sympathicus
und Strychnineinspritzungen in Betracht. Von allen diesen Agentien
werden Erfolge behauptet, sogar vom Tragen eines Haarseiles (!).
V o s s i u s bereichert dann die Gasuistik durch die Krankengeschichten
dreier Männer (zweier Brüder und eines Vetters), welche einer
bereits von Leber erwähnten Familie angehören und in seiner
Beobachtung standen. Da zwei an der hereditären Neuritis leidende
Mitglieder dieser Familie eigenthümliche Schädelbildung zeigten,
könnte möglicher Weise eine Anomalie ähnlicher Art auch im
Canalis opticus aufgetreten und Ursache für die Sehnervenerkran¬
kung geworden sein. R. H i t s c h m a n n.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
195. Eine neue Methode der Syphilisbehand¬
lung durch Inhalation. Von Dr. K u t n e r (Berlin), ln einem
geschlossenen Kasten wird mittelst einer Vorrichtung Quecksilber¬
salbe verrieben und die dabei — eventuell durch Erwärmung des
Kastens gefördert — entstehenden Dämpfe werden von dem Patienten
mittelst einer Maske und eines vom Kasten abgehenden Schlauches
in dosirbarer Menge durch eine halbe Stunde täglich eingeathmet.
Vergiftungserscheinungen, Stomatitis wurden nicht beobachtet, Queck¬
silber im Harn nachgewiesen. Die therapeutischen Resultate sollen
befriedigende gewesen sein. — (Berliner klinische Wochenschrift.
1900, Nr. 2.) Pi-
*
196. Zur Lehre von der sogenannten trans-
corticalen motorischen Aphasie. Von Prot. Dr . A. Pick
in Prag. Die transcorticale motorische Aphasie unterscheidet sich
von der corticalen motorischen Aphasie dadurch, dass Nachsprechen,
Dictatschreiben und Lautlesen möglich sind. Die Pathogenese
dieser Form der Aphasie ist noch keineswegs geklärt. Im lalle
580
WIEN Eli KLINISCHE WOCHENSCHKiFT. HXX).
Nr. 25
Pick's handelt es sich um einen 51jährigen Mann; zwei Brüder
desselben starben plötzlich an Schlaganfall. Drei Jahre vor seiner
Aufnahme auf die Klinik erkrankte er an heftigen anhaltenden
Kopfschmerzen und Ohrenbeschwerden, auch wurde er vergesslich.
Ein Jahr später Schlaganfall, darnach Verlust der Sprache; durch
vier Tage konnte er nur einzelne Worte Vorbringen. In den letzten
Wochen vor der Aufnahme psychische Alienation, Unruhe. Patient
suchte zwecklos herum, wähnte hinter den Bildern Leute versteckt,
sein Name sei vertauscht. Die Spontansprache entsprach mehr dem
Typus der Paraphasie (reicher Wortschatz, Verwechseln der Worte,
theilweiser Mangel an Verständnis dafür). Patient zeigte namentlich
anfangs entschieden etwas Worttaubheit. Dabei beim Spontan¬
sprechen häufig sich wiederholender Gebrauch der gleichen Redens¬
art an Stelle von etwas ganz Anderem. Mit Rücksicht auf seinen
Fall neigt Pick zu der Ansicht, dass die motorische, wie die
sensible Partie des Sprachfeldes zu der transcorticalen motorischen
Aphasie in Beziehung zu bringen sind. Bei der Obduction obigen
Falles fand man eine chronische Pachymeningitis interna hämor¬
rhagica im Gehirne, jedoch keine Herderkrankung, wohl aber eine
verbreitete, besonders die linke Hemisphäre betreffende Atrophie
der Windungen, mit welcher man in Bezug auf die deutliche
Atrophie des Stirnlappens, respective der drei Stirn- und einer
Schläfenwindung die in dem Falle vorhanden gewesene Sprach¬
störung in Beziehung bringen muss. Der Fall beweist, dass der als
transcorticalo motorische Aphasie beschriebene Symptomencomplex
durch einen diffusen atrophischen Process der Grosshirnrinde, der
ganz besonders das ganze linksseitige Sprachgebiet betrifft, zu
Stande kommen kann. — (Archiv für Psychiatrie. Bd. XXXlf,
Heft 3.) S.
*
1(J7. (Aus dem Institute für Infectionskrankheiten zu Berlin.)
Die Grenzen der normale n T emperatu r. Von Doctor
Marx. An der Hand einer sehr grossen Reihe von Messungen in
der Achselhöhle Gesunder und Kranker kommt Marx zu dem
Schlüsse, dass die seit Wunderlich bestehenden Deutungen der
Wcrthe der Körpertemperatur nicht zu Recht bestünden. Nach
diesen bedeuten Temperaturen unter 335° letalen, von 335 — 35°
algiden Collaps, von 35 — 36° mässigen Collaps ohne Gefahr; sub-
normale Temperatur 36 — 36‘5°, sicher normale 36 6 — 37-4°, sub¬
febrile 37 5 38° etc. Nach Verfasser bewegt sich die Temperatur
des Gesunden normaler Weise unter 37°, und zwar zwischen 36°
und 37°. Temperaturerhöhungen bis 37 2° werden auch bei Gesunden
beobachtet, sind aber stets auf besondere Ursachen, z. B. Ver-
dauungsfieber, zurückzuführen. Temperaturen über 37‘2I) liegen
ausser dem Bereiche des Normalen, andererseits kommen solche
unter 36° vor, ohne dass es sich um Collaps handelt. Es gibt
genug Phthisiker mit noch in Gang befindlichen, rein tuberculösen
Processen, deren Temperatur sich innerhalb dieser normalen Grenzen
bewegt. — (Zeitschrift für diätetische und physikalische Therapie.
Bd. Ill, Heft 7.) " Pi.
*
198. (Aus der psychiatrischen Klinik der Universität Jena
[Prof. Bin sw anger]). Apop lektische r Insult in Folge
eines Erweichungsherdes in der Brücke und spä¬
tere Dementia paralytica. Von Dr. Karl Voll and.
37jährige Frauensperson, erblich belastet von beiden Eltern. Im
fünften Lebensjahre schwere Affection des Centralnervensystems,
mit zehn Jahren eine heftige Geisteskrankheit, über deren Natur
Näheres nicht verlautet. Patientin hat sich langsam entwickelt,
schon in der Schule trat Schwachsinn zu Tage, später Neigung zu
sexuellen Ausschweifungen, welche die Patientin endlich zur Pro¬
stitution veranlassten. Im 18. Lebensjahre Lues. Nach einigen
Jahren apoplektischer Insult, Lähmung der linken Körperhälfte.
Patientin veränderte sich auch psychisch, wurde kindisch, schwach¬
sinnig. Seit Sommer 1896 Incontinentia urinae. Zwei bis drei
\\ ochen total verwirrt. Bei schweren, nicht geläufigen Worten
Häsitiren, Wiederholen von Silben, Abschwächung, respective Fehlen
aller Reflexe. Gesichtsausdruck und Stimmung dauernd heiter,
starke Demenz. Exitus durch Pneumonie. Bei der Obduction fand
sich in der Mitte der Brücke dicht neben der Rhaphe, 3 mm unter
der Oberfläche ein über erbsengrosser, gezackter, von leicht ge¬
färbter W and umsäumter Verflüssigungsherd. Voll a n d macht das
prädisponirende Moment der hereditären Belastung, dazu die lueti¬
sche Infection für das Entstehen der Krankheit verantwortlich und
versucht die einestheils durch die Dem. paralytica, anderentheils
durch den Erweiehungsherd in der Brücke gesetzten Veränderungen
in den Fasersystemen des Pons, der Medulla oblongata und des
Rückenmarkes zu schildern. — (Archiv für Psychiatrie. Bd. XXXII,
Heft 3) ’S.
*
199. Ueber den Cubitus valgus feminin us. Von
Dr. Hübscher (Basel). Der Vorderarm bildet, wie bekannt, mit
dem Oberarm in Streckstellung einen nach aussen offenen Winkel,
einen Cubitus valgus. Auf Grund von Messungen an 225 Armen
konnte im Allgemeinen festgestellt werden, dass Männer sowie
Knaben, Mädchen jedoch nur bis zum 12. Lebensjahre, also bis
zum Beginne der Pubertät, einen mehr oder minder geradlinigen
Arm besitzen. Ueber dem 13. Jahre tritt beim weiblichen Geschlechte
ein immer stärker werdender Cubitus valgus auf und zwar befindet
sich die Winkelspitze eigentlich nicht im Ellbogengelenke, sondern
am Humerus, und zwar am Uebergange des mittleren Drittels in
das untere. Die Ursache hiefür soll in einer Abdrängung des herab¬
hängenden Vorderarmes durch das in die Breite wachsende Becken,
sowie in einer Zugwirkung der Vorderarmbeuger liegen. In chirur¬
gischer Hinsicht soll dieser Umstand deshalb von Bedeutung sein, weil
bei den Fracturen am unteren Humerusende eine Neigung zur seit¬
lichen Verschiebung der Fracturenden besteht, weshalb Verfasser
die Fixation in Streckstellung empfiehlt. — (Deutsche Zeitschrift
für Chirurgie. Bd. LI1I, Heft 5 und 6.) Pi.
*
200. Beitrag zur Lehre von der chronischen
Schwefelkohlenstoffvergiftung. Von Dr. Georg
Köster, Docent und Assistent in Leipzig. Die umfangreiche
Arbeit Koste r’s zerfällt in einen klinischen und experimentellen
Theil. Der erstere stützt sich auf vier Fälle, deren erster alle Symp¬
tome, die eine C S.2 -Neurose überhaupt aufweisen kann, in deut¬
licher Schärfe zeigt; im Stadium der Excitation: Kopfschmerzen,
Schwindel, Ameisenkriebeln, Steigerung der Potenz, Ohrensausen,
Schmecken und Riechen der Speisen nach CS2, Uebelkeiten,
Appetitlosigkeit, Stuhlunregelmässigkeiten, Unruhe und Reizbarkeit;
im Stadium des Collapses: Objective Gefühlsvertaubung, hoch¬
gradige Schwäche, unruhiger Gang, stockende Sprache, Erlöschen
der Potenz und psychische Depression. Der experimentelle Theil
bezieht sich auf Versuche an Kaninchen, bei welchen durch
wiederholte acute Vergiftungen mit CS., eine chronische Vergiftung
erzeugt wurde. Die histologische Untersuchung des Centralnerven¬
systems ergab eine in Zell- und Markscheidendegenerationen er¬
kennbare Schädigung, die offenbar den schweren somatischen, wie
psychischen Nervenleiden (deren schwerstes unheilbarer Wahnsinn
ist), welche der Schwefelkohlenstoff hervorruft, zu Grunde liegt.
Möglicher Weise ist hier ein Weg gefunden, die anatomische
Natur der Psychosen, insbesondere die Grundzüge der Paranoia
chronica aufzuklären. S.
*
201. Gottschalk berichtete in der Berliner medicinischen
Gesellschaft über einen Fall von Metritis dissecans, bezie¬
hungsweise partieller Gangrän eines puerperalen
Uterus. Nach der trotz drohender Uterusruptur ausgeführten
Wendung trat typisches Puerperalfieber auf, gegen welches vier Tage
später eine Uterusausspülung mit 2 1 einer l°/0igen Lysollösung,
sowie ll/2^ einer 60%’»en Alkohollösung vorgenommen wurde;
am sechsten Tage stündlich eine Kampherinjection und Abends sub-
cutane Infusion von 3/4 1 Kochsalzlösung. Auf das hin besserte sich
sofort der Zustand: die Schweisssecretion kam in Gang, die Urin-
menge, welche sehr verringert war, stieg innerhalb 24 Stunden auf
3000 <j. Nachdem am 15. Tage der Ausfluss übelriechend geworden,
ging am 18. Tage ein Gewebsstück ab, welches ungefähr die
Gestalt des Uterus hatte, auch thatsächlich einen nekrotisch
gewordenen Theil der Uteruswand vorstellte, der ganz und gar mit
Streptococcen durchsetzt war. Die Kranke ist genesen. Die Ursache
für diese Sequestrirung der Uleruswand will Gottschalk in dem
Mangel an Blutzufluss zum Uterus erblicken, der daraus erschlossen
werden konnte, dass durch 24 Stunden der Puls kaum zu fühlen
war und der wahrscheinlich durch die grossen Secalegaben, die
Eisblasen am Unterleibe, die ausgedehnten Verstopfungen der
Lymphbalmen und Venen bedingt war; vielleicht hatte auch die
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
581
Ausspülung mit Alkohol ihren Antheil an der Nekrose gehabt.
(Berliner klinische Wochenschrift. 1900, Nr. 2.) Pi.
*
202. Experimentelle Beiträge zur Pathologie
des Rückenmarke s. Von A. H oche in Strassburg. Koche
hat seinen Versuchsthieren Bouillonculturen von Fraenkel’s
Diplococcus pneumoniae, von Staphylococcus pyogenes aureus und
von Bacterium coli commune arteriell einverleibt und gleichzeitig
mit der Bouilloncultur, um Gewebsverletzungen zu setzen und
damit die Ansiedlung der Mikroorganismen zu begünstigen, feine
verriebene Porzellanerde, die später durch Lykopodium, theils auch
durch Maisstärke ersetzt wurde. Dieses Verfahren soll zum Studium
der acuten Myelitis zweckmässiger sein, als die subcutane und
venöse Impfung. Die Chance der Infection wächst mit der Zahl
und Ausdehnung der embolisch erzeugten Gewebsläsionen im
Rückenmarke. Die auf diese Weise experimentell erzeugten Ver¬
änderungen weisen mit denen bei den acuten infectiösen spinalen
Erkrankungen der Menschen grosse Aehnlichkeit auf. Es erscheint
auf dem von Hoche beschrittenen Wege möglich, durch die
Combination von Embolie körperlicher Elemente mit Injection
pathogener Mikroorganismen ausser den ischämischen solche
Rückenmarksveränderungen zu erzeugen, die als »acute intectiöse
Myelitis« zu bezeichnen sind. (Archiv für Psychiatrie. Bd. XXXlf,
Heft 3.)
*
203. (Aus der Klinik des Prof. v. Wagner in Wien.) Zur
Frage der retrograden Degeneration. Von Dr. Emil
Rai mann, klinischer Assistent. Eine Anzahl von Autoren behaup¬
tete, dass ein durch trennter Nerv nicht nur peripheriewärts, sondern
auch central von der Läsionsstelle degenerire. Diese Degeneration
nannte man »retrograde Degeneration«. Rai mann hat bei neun
Versuchsthieren (fünf Hunden, drei Kaninchen, einer Katze) vom
Nervus facialis der linken Seite ein möglichst grosses Stück rese-
cirt. Er fand, dass es an motorischen Hirnnerven in Folge einer
Zusammenhangstrennung allein nicht zu Degeneration des centralen
Stumpfes und der intracerebralen Wurzelfasern kommt, und dass
die von anderen Autoren als retrograde Degeneration gedeuteten
Bilder der Ausdruck atrophischer oder neuritischer Processe, zum
Theil auch die Folgewirkung eines schweren Traumas, der Aus-
reissung oder Zerrung der Nerven sind. Der Ausdruck »retrograde
Degeneration« sollte fallen, hingegen wäre dort, wo Nervenfasern
einen traumatischen Zerfall zeigen, von degenerative!- Neuritis zu
sprechen. — (Jahrbücher für Psychiatrie. Bd. XIX, Heft 1.) S.
*
204. Der elektrische Mikroheissluftkauter.
Von Dr. Holländer (Berlin). Derselbe wird mit einem Accumu¬
lator und einem Gebläse verbunden und functionirt in der Weise,
dass er einen durch ihn ziehenden Luftstrom auf 300° erhitzt,
welcher auf die zu behandelnde Stelle bei Lupus, Angiomen etc.
geleitet wird. Der Apparat wird bei R e i n i n g e r, G e b b e r t
& Schall hergestellt. — (Dermatologische Zeitschrift. 1899.)
Pi.
*
205. Hundert Beobachtungen von hemi- und
diplegischen infantilen Cerebrallähmungen (mit
besonderer Rücksicht auf nachfolgende Epi¬
lepsie). Von Dr. Alfred Fuchs. Verfasser behandelt an der
Hand von 100 in tabellarischer Uebersicht excerpirten Fällen in¬
fantiler Cerebrallähmung die Frage der Aetiologie und insbesondere
jene der consecutiven Erscheinungen dieser Krankheit, vornehmlich
der Epilepsie und Idiotie. Epilepsie fand sich als wichtigste Con-
secutiverscheinung in seinen Fällen 44mal. Auffallend ist die grosse
Seltenheit psychischer Absenzen in solchen Fällen von Epilepsie.
Fuchs ist der Ansicht, dass dort, wo die epileptischen Anfälle
in einer anatomischen Läsion eine Erklärung finden, die Epilepsie
nur in motorischen Reizphänomenen zum Ausdruck kommt,
während dort, wo eine pathologisch-anatomische Krankheitsursache
nicht greifbar ist, psychische Aequivalente häufiger werden. Auf
letztere Fälle möchte Fuchs den Namen »genuine Epilepsie« be¬
schränken, alle anderen Fälle wären auf das Gebiet der sympto¬
matischen Epilepsie zu verweisen. Die epileptischen Convulsionen
des Kindesalters, die Eklampsie, stünden dann eigentlich der genuinen
Epilepsie näher, als der symptomatischen, insoferne als sie durch
Erkrankung der motorischen Grosshirncentren bei vorausgegangener
Affection der sensiblen Primärelemente des Grosshirns bedingt sind.
— (Jahrbücher für Psychiatrie. Bd. XIX, Heft i.) S.
*
206. (Aus der chirurgischen Klinik des Prof. Nicol ad oni
in Graz.) Melanom des Penis. Von Dr. Payr. Der Fall be¬
trifft einen 63jährigen Mann, der angeblich früher eine »Warze«
an der Eichel gehabt haben soll, nach deren Excision ein typisches
Melanosarkom am gleichen Orte mit bald sich einstellenden
Metastasen auftrat. — (Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. 1899.)
Pi.
*
207. (Aus der Klinik des Prof. v. Wagner in Wien.) Zur
Histologie alter Nervenstümpfe in amputirten
Gliedern. Von Dr. A. Elzholz, klinischer Assistent, ln einer
früheren Arbeit, die sich auf die Veränderungen im centralen
Stumpfe lädirter gemischter Nerven bezog, kam Elzholz zu der
Annahme, dass diese Veränderungen im Wesentlichen in einer
Atrophie bestehen, und dass die spärlichen Degenerationen im cen¬
tralen Stumpfe nicht auf der Aufhebung des trophischen Einflusses
der Mutterganglienzellen beruhen. Literaturangaben über Producte
einer Regeneration in verdickt endigenden alten Nervenstümpfen
Amputirter veranlassten Elzholz zur Klarstellung der an der
Markscheide sich abspielenden Vorgänge in zwei Fällen von Re-
amputation die Nervenstümpfe frisch herauszupräpariren und zu
untersuchen. E 1 z h o 1 z bespricht ausführlich die Resultate dieser
Untersuchungen, durch welche seine in der oben citirten Arbeit
vertretene Auffassung nicht berührt wird. Umfangreichere degene¬
rative Vorgänge in den Nervenstümpfen amputirter Glieder könnten
sich nur im Anschlüsse an accidentelle Momente finden. (Jahr¬
bücher für Psychiatrie. Bd. XIX, Heft 1.) S.
*
208. Zur Bro in oformbehandlung des Keuch¬
hustens. Von Dr. Feer (Basel). Der Artikel enthält eine wieder¬
holte Anempfehlung des Bromoforms gegen Keuchhusten. Man ver¬
schreibt 5 g Bromoform in dunklem Tropfglas und gibt bei Kindern
bis zu sechs Monaten dreimal täglich 1 — 2 Tropfen, von sechs bis
zwölf Monaten dreimal 2 — 3 Tropfen; im Uebrigen dreimal täglich
a-j-2 Tropfen, wobei a die Zahl des laufenden Lebensjahres be¬
deutet. Nach drei Tagen gibt man viermal a-j-2 Tropfen täglich.
Werden die Anfälle nach einigen Tagen nicht milder, so erhöht
man am Anfänge der zweiten Woche die Einzeldosis um einen
Tropfen. Kinder von zwei bis drei Jahren können gegebenen f alles
bis 28, grössere Kinder bis zu 50, Erwachsene bis zu l0 lropfen
nehmen. Sollte Schlafsucht eintreten, so ist das Mittel auszusetzen.
Die Darreichung geschieht in einem Kaffeelöffel Zuckerwasser oder
Milch. Das Medicament muss frisch sein, stark riechen und dart
keine Rothfärbung aufweisen. Heilung gewöhnlich nach vier
Wochen bei uncomplicirten Fällen. Schädliche Folgen, Nebenwir¬
kungen wurden nicht beobachtet. Ein Hauptvorzug des Bromoform
soll darin bestehen, dass es den Appetit anregt, überhaupt das All¬
gemeinbefinden hebt. — (Correspondenzblatt für Schweizer Aerzte.
1899, Nr. 19.) Pi-
*
209. Ein Beitrag zur Kenn ln iss der Pseudo¬
logia phantastica. Von Dr. J o h a n n R e d 1 i c h in Rothen¬
berg-Riga. Die pathologische Lüge, Pseudologia phantastica, hat bei
der Häufigkeit, mit der diese Art Lügner mit Gesetz und Gesell¬
schaft in Conflict gerathen, forensische Bedeutung. Sie ist durch
eine krankhafte Sucht, Dinge zu erfinden, charakterisirt und findet
sich bei den verschiedensten psychischen Krankheitsbildern, zumal
bei Hysterischen, Alkoholikern, Imbecillen und den M agn a n sehen
Degenerirten. Gelegentlich tritt sie bei Degenerirten so sehr hervor,
während andere psychische oder physische Degenerationszeichen
mangeln, dass das ganze Krankheitsbild als Pseudologia phantastica
bezeichnet werden könnte. Redlich theilt einen hieher gehörigen
Fall mit und berührt im Anschluss an die Besprechung desselben
die derzeit noch offene Frage nach Behandlung und Bestrafung
der Grenzfälle und der vermindert Zurechnungsfähigen. — (Zeit¬
schrift für Psychiatrie. Bd. LV1I, Heft 1.) 8.
*
210. Ueber die Behandlung des Eiterungs¬
stadiums der Variola vera. Von Prof. Kotowtschikoft
582
WIEN Eli KLINISCHE WOCHEN SCH lil l'T. 1900
Nr. 25
(Kasan). Verfasser ist der Meinung, dass zweimal täglich wieder¬
holte Impfungen, sowohl im Prodromal-, als auch im Initialstadium,
sogar noch Impfungen am ersten und zweiten Tage der Eruption
das Eiterungsstadium schwerer Blatternfälle merklich leichter ver¬
laufen lassen. Zum Beweise führt Kotowtschikolf drei der¬
artig von ihm behandelte Variolafälle mit günstigem Verlaufe an.
Die Meinungen über den Werth dieser schon vor Jahren in Vor¬
schlag gebrachten Therapie sind aber nach jeder Richtung hin weit
auseinandergehend. Zu bedenken ist dabei freilich, dass viel von
der Zeit, in welcher die Impfungen vorgenommen werden, abhängen
wird, da das Incubalionssladium der Blattern durchschnittlich
14 Tage, das Initialstadium drei Tage beträgt, während die Unem¬
pfänglichkeit in Folge der Vaccine erst am zehnten oder zwölften
Tage nach regelrechter Entwicklung derselben eintritt. — (Zeit¬
schrift für klinische Medicin. Bd. XXXVIII, lieft 1 — 3.) Pi.
*
211. ZurCasuislik des Irreseins bei Zwillingen.
Von Dr. A. Herfel dt in Wern eck. Es ist naheliegend, dass
bei der innigen geistigen und körperlichen Verwandtschaft von
Zwillingen im Falle der Erkrankung des einen Theiles ceteris
paribus der andere stärker zu Geisteskrankheiten disponirt ist, als
eines der übrigen Geschwister. Von einem Zwillingsirresein kann
nur dann die Rede sein, wenn Zwillinge unabhängig von einander
an der gleichen Form psychischer Störung erkranken, welche bei
beiden im weiteren Verlauf den selbstständigen Charakter beibehält.
Derartige Fälle sind rar, es mögen deren nur circa 20 in der
Literatur bekannt sein. II er fei dt bereicherte diese spärliche Lite¬
ratur um drei weitere Fälle. Im ersten handelte es sich um periodi¬
sches Irresein bei Zwillingsbrüdern in der Form von maniakalischen
Exaltationen und Verwirrungszuständen, der zweite Fall betrifft
eine bei Zwillingsschwestern beobachtete Melancholie mit Ausgang
in Genesung, im dritten Falle findet sich bei Zwillingsschwestern
eine angeborene Geistesschärfe, ferner bei beiden erotische Re¬
gungen und andere identische Merkmale. — (Zeitschrift dür Psy¬
chiatrie. Bd. LVR, Heft 1.) S.
*
212. Die Erblichkeit derchronischenNephritis.
Von Prof. Pel (Amsterdam). Verfasser bringt den Stammbaum
einer Familie, in der innerhalb drei Generationen nicht weniger als
18 Fälle chronischer Nephritis Vorkommen. Alle diese waren jedoch
erst mit Ausnahme eines einzigen Individuums in einem verhält-
nissmässig hohen Alter ihren Leiden erlegen. Weiters stellte sich
heraus, dass die Krankheit vom Vater nur auf die Söhne, von der
Mutter nur auf die Töchter übergegangen war. Von der vierten
Generation, welche (30 Enkelkinder umfasst, ist kein Nephritisfall
bis jetzt bekannt, wobei jedoch hervorzuheben ist, dass alle diese
erst in einem jüngeren Aller (2 — 37) stehen. — (Zeitschrift für
klinische Medicin. Bd. XXXVIII, Heft «1 — 3.) Pi.
*
213. Strafrecht und Heilkunde, s p e c i e 1 1 Psy¬
chiatrie. Von Dr. Dees in Gabersee. Die Beziehungen zwischen
Strafrecht und Medicin waren in den letzten Jahren wiederholt
Gegenstand eingehender Erörterung und es exislirt darüber eine
nicht unbedeutende Literatur. Verfasser versucht in seiner Arbeit
die Resultate aus dieser Literatur, so weit sie für die Psychiatrie
von V ichtigkeit sind, darzustellen. Am wichtigsten für den Irren¬
arzt ist die Erörterung der Frage, ob ein Arzt, der ohne Zustimmung
oder gegen den V illen eines Patienten einen Heileingriff vornimmt,
strafbar sei. Beim entmündigten Geisteskranken ist der Wille des
Curators massgebend, dieser ist aber oft ferne, während ein ope¬
rativer Eingriff an seinem Mündel dringend ist u. s. w. Die An¬
sichten der Juristen über obige Frage sind sehr divergirend. Dees
schliesst sich der Ansicht von Stoos an, dass das Wohl des
Patienten die Norm für die ärztliche Behandlung sei, deren Grenzen
dadurch auch bestimmt sind. Dees illustrirt schliesslich letztere
und die Verantwortlichkeit des Arztes durch einige Citato. —
(Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. LVII, Heft 1.) S.
*
214. lieber die Indicationen der Wasserbe¬
schränkung bei Enfettungscuren. Von C. v. Noorden
(Frankfurt a. M.). Die Beschränkung der Flüssigkeitszufuhr hei
Entfettungscuren wurde zuerst von Oertel empfohlen und durch
Schweninger populär gemacht. Beide haben auf verschiedene
Weise die Wirkung dieser therapeutischen Handlungsweise zu be¬
gründen versucht. Nach No orden soll der Werth dieser Cur in
folgender Weise veranschlagt werden: Die Beschränkung der Ge-
tränkezufuhr im Sinne von Oertel und Schweninger hat
nicht den geringsten unmittelbaren Einfluss auf die Einschmelzung
des Körperfettes oder auf die Erhöhung des Fettumsatzes. Dabei
eintretende Verminderung des Körpergewichtes beruht nur auf
Wasserverlusten aus Blut und Geweben; hiedurch wird aber das
hei Fettleibigen oft geschädigte Herz entlastet, seine Leistungs¬
fähigkeit gehoben, der Stoffwechsel und damit auch der Fettumsatz
angeregt; ist jedoch bei dem behandelten Individuum kein Herz¬
fehler, keine Herzmuskelerkrankung, Arteriosklerose, Schrumpfniere
vorhanden, ist der Kreislauf ein normaler, dann ist auch keine
Indication vorhanden, bei der Enlfettungscur die Flüssigkeitszufuhr
zu beschränken. In manchen Fällen hat die Wasserbeschränkung
einen suggestiven Werth; der Patient verliert in wenigen Tagen in
Folge Wasserverarmung der Gewebe einige Kilo und gewinnt da¬
durch Vertrauen für die weitere Cur; ein weiterer Werth liegt in
der schweissbeschränkenden Wirkung der zur Hydrorrhoe neigenden
Patienten. Der Einfluss der Wasserbeschränkung bei Entfettungs¬
curen ist demnach nur ein indirecter und kommt nur in Betracht
1. wenn dadurch etwa vorhandene Kreislaufstörungen ausgeglichen
werden und dadurch die Möglichkeit ausgiebiger, die Verbrennung
des Fettes begünstigender Muskelarbeit gegeben wird; 2. wenn da¬
durch die Aufnahmefähigkeit des Individuums für andere fett-
bildende Kost herabgesetzt wird. Diese Folge tritt manchmal in
hohem, häufiger in geringem Grade, manchmal auch gar nicht ein.
Wenn keine besonderen Indicationen vorliegenden, soll bei Fett¬
leibigen die Wasserzufuhr nicht beschränkt werden, da man ohne
diese Verordnung ebensogut zum Ziele kommt und die Wasser¬
beschränkung in diesen Fällen nur eine unnöthige Quälerei be¬
deuten würde. — (Die Therapie der Gegenwart. 1900, Nr. 4.)
Pi
*
215. Stadtasyle und Irrenversorgung. Von Doctor
Max Fischer in lllenau. Unter Stadlasyl versteht man ein im
Bereiche eines Stadtbildes selbst oder in dessen unmittelbarer
Nähe errichtetes Krankenhaus für Geisteskranke. Fischer
untersucht in seiner Arbeit, wie sich die Institution der Stadtasyle
in eine einheitliche Organisation der Irrenversorgung eines Landes
eingliedern lasse und findet, dass die Sonderstellung der Stadt¬
asyle als Anstalten mit vereinfachtem Aufnahmsverfahren einer ein¬
heitlichen Entwicklung und Ordnung des Irrenwesens eher hinderlich,
als förderlich ist. Es ist daher für eine Trennung zwischen Anstalten
für acute und der Aufnahme dringend bedürftiger Geisteskranker
mit 300 — 500 Betten (Heilanstalten) und andererseits Pflegeanstalten
für chronische Kranke mit 600 — 700 Betten. Dadurch würden
Idioten- und Epileptikeranstalten überflüssig. In eigenen Pavillons
der Pflegeanstalten könnten die chronischen und degenerirten Alko¬
holiker und in anderen die irren Verbrecher und Verbrechernaturen
untergebracht werden. Fälle, die einen chronischen Verlauf nehmen,
müssten aus den Heil- in die Pflegeanstalten gebracht werden. —
(Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. LVII, Heft 1.) S.
*
216. Die Syphilis in Finnland. Fast alle Syphilis¬
fälle werden in Finnland in den Spitälern behandelt. Die Behandlung
geschieht kostenlos und die Behörden haben auch die Macht, in
verdächtigen Fällen die ärztliche Untersuchung zwangsweise durch¬
führen zu lassen. Hiedurch ist es möglich, die Zahl der Erkran¬
kungen in jeder Stadt, jeder Provinz, in jedem Jahre genau fest¬
zustellen. Dabei hat sich gezeigt, dass die Syphilis in Finnland in
den letzten 20 Jahren (1877 — 1897) bedeutend abgenommen, die
Gonorrhoe aber zugenommen hat. Bei den Männern ist das mcist-
betroffendste Alter jenes von 20—50, bei den Frauen das von
10 — 20 Jahren. Die Abnahme ist namentlich seit dem Jahre 1895
eine bedeutende, - — (Brit. med. Journ. 10. März 1900.) Pi.
*
217. Ueber Erschöpfungspsychosen. Von Doctor
Roecke in Frankfurt a. M. So lange die Erkenntniss des Wesens
der »Erschöpfung« mangelt, fehlt der Bezeichnung »Erschöpfungs¬
psychose« die wünschenswerthe Bestimmtheit, und dies umsomehr,
als sich auch in der Anamnese andersartiger Geisteskrankheiten
unter Umständen Erschöpfung als ätiologisches Moment finden kann.
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900
583
Roc eke hat 18 Fälle, durchwegs Individuen im Alter zwischen
20 und 30 Jahren, und zwar vorwiegend Frauen betreffend, beob¬
achtet, in denen ein bisher anscheinend rüstiges Gehirn durch die
Einwirkung äusserer schwächender Momente eine schwere Störung
erlitten hatte, auf welche also der Ausdruck »Erschöpfungspsychose«
passte. Roecke fand, dass es zwei Gruppen dieser Psychose gibt.
Die Fälle der einen Gruppe zeigen einen äusserst stürmischen
Verlauf, die der anderen entwickeln sich langsamer und erstrecken
sich, ohne die gleiche Höhe der Erregung zu erreichen, über einen
grösseren Zeitraum. In beiden Gruppen zeigen sich die drei Sym¬
ptome der Rindenschwäche: Zerfall der Associationen, mangelhafte
Apperception, Auftreten zahlreicher Phantasmen. Die J herapie be¬
steht in der Fernhaltung aller Gehirnreize und in der Hebung des
gesummten Kräftezustandes. Narcotica sind zu vermeiden und sollen
durch protrahirte Bäder und feuchte Einpackungen ersetzt werden.
— (Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. LVII, Heft 1.) S.
*
218. (Aus der chirurgischen Klinik Prof. Dr. Kocher in
Bern.) Ueber Complication en derCholethiasis. Wann
soll man b e i Ch o 1 e 1 i t h i a s is operiren? Von A. Kocher.
Bei jeder Cholelithiasis besteht die Gefahr einer entzündlichen Ver¬
änderung der Gallenblase und ihrer Umgebung, des Gallensteinileus
und schliesslich die Möglichkeit des Entstehens eines Gallenblasen¬
krebses. Man soll daher jedem an Gallensteinen Leidenden zur
Operation rathen, und zwar so frühzeitig als möglich, so lange
noch keine Complicationen vorhanden sind; in diesem Falle ist es
auch möglich, das schonendste Operationsverfahren anzuwenden,
die ideale Gholecystotomie. Aus einer der vier beigegebenen
Krankengeschichten ist zu erwähnen, dass der in Folge des Krebses
der Gallenblase carcinomatös gewordene Theil des rechten Leber¬
lappens nach einem bisher nicht geübten Verfahren resecirt wurde,
indem »eine grosse Kocher’sche Magenzange quer angelegt und
die Leber unterhalb abgetragen wird«. Die Zange wurde bis zum
dritten Tage liegen gelassen und die Wunde tamponirt. Die Pa¬
tientin ist übrigens drei Wochen p. op. einer Pneumonie er¬
legen. — (Correspondenzblatt für Schweizer Aerzte. 1900, Nr. t .)
Pi.
*
219. Klinische Erwägungen aus der Beobach¬
tung sensibler Jackson-Fälle. Von Dr. Alfred luchs
in Purkersdorf-Wien. Die partiellen Convulsionen ohne Bewusst¬
seinsstörung waren schon vor Jackson bekannt. Durch ihn wurde
jedoch auf Grund anatomischer Untersuchungen ein Krankheits¬
typus aufgestellt, der mit Recht seinen Namen trägt. Jackson
selbst beschrieb neben der convulsivischen Form des nach ihm
benannten Krankheitsbildes Anfälle sensorischer Natur, die gleich¬
zeitig mit motorischen Erscheinungen oder als Aequivalent derselben
auftreten können. Später fanden sensible Erscheinunge'n im Anfalle
von Rindenepilepsie vielfach Beachtung. Fuchs theilt elf ein¬
schlägige Fälle mit. Nach ihm gelangt das Phänomen des
sensiblen J a c k s o n - Anfalles zur Beobachtung, und zwar in den
Prodromalstadien der progressiven Paralyse, ferner bei raumbe¬
schränkenden Erkrankungen des Gehirnes (Tumoren, Abscessen,
Cysten, parasitären Erkrankungen und exsudativen Processen der
Meningen etc.), hei der Encephalomalacie und hei der Hemicrania
symptomatica Krafft-Ebing’s (sensibler J a ck s o n - Anfall mit
tardiver Migräne). Immer ist der sensible J a c k s o n - Anfall das
Anzeichen einer anatomischen Centralläsion. — - (Jahrbücher für
Psychiatrie. Bd. XIX, Heft I.) S.
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Hofrath Carl Toi dt, Professor der Anatomie, wurde für das
Studienjahr 1900/1901 zum Decan der medicinischen Facultät in
Wien gewählt.
*
Ernannt: Der a. o. Professor der gerichtlichen Medicin
Dr. Otto Messerer in München zum ordentlichen Honorarprofessor.
*
Verliehen: Dem Regimentsarzte Dr. Gustav Lahmer
der Stabsarztenscharakter ad honoies.
Habil itirt: Dr. Buschke in Berlin für Haut- und Ge¬
schlechtskrankheiten.
*
Gestorben: Dr. II e r m a n n B e n e d i k t, Sohn des gleich¬
namigen Neurologen in Wien. — Geheimer Rath Prof. Dr. W i 1 h e 1 m
Kühne, Director des physiologischen Institutes zu Heidelberg.
Der ehemalige Professor der klinischen Medicin zu Rom, 1 ommaso
C r u d e 1 i.
*
In der Sitzung des Obersten Sanitätsrathes am
9. Juni d. J. referirte Sections Chef Dr. R. v. Kusy über die Ver¬
breitung der Pest im Auslande, insbesondere über das Auftreten
mehrerer Pesterkrankungui in Smyrna und die aus diesem Anlassein
sanitätspolizeilicher Hinsicht nothwendigen Vorkehrungen. Hierauf ge¬
langten nachstehende Referate zur Berathung und Beschlussfassung :
1. Festsetzung eines Nachtrages zur officiellen Arzneitaxe für das
Jahr 1900 mit Rücksicht auf die mit 1. Juli d. J. in Wirksamkeit
tretenden Additamenta zur siebenten Ausgabe der österreichischen
Pharmakopoe. (Referent: Hofrath v. Vogl namens des pharmaceuti-
seben Comb es.) 2. Gutachtliche Aeusserung über die Qualification der
Bewerber um die neusystemisirte Stelle eines Landes SanitätsTnspectors
für Tirol und Vorarlberg. (Referent: Sections-Chef v. Kusy.) 3. Re¬
ferat, betreffend die Massnahmen gegeu die Ausbreitung des Aether-
genusses in Galizien und anderen Ländern. (Referent: Professor
M. Gruber.) 4. Gutachten über die Massnahmen gegen den Ver¬
brauch fusolhaltigen Branntweins als Genussmittel, insbesondere in
Bezug auf die Vorschreibung der technisch durchführbaren Reinigung
des Trinkbranntweins von Fuselöl, welche der Oberste Sanitätsrath be¬
fürwortete. (Referent: Prof. M. Gruber.)
*
In der am 11. Juni d. J. abgehaltenen Sitzung des Landes-
Sanitätsrathes von Niederösterreich wurden folgende Referate
erstattet: 1. Ueber die Errichtung einer neuen Abtheilung für Ge¬
schlechts- und Hautkranke im Kaiser Franz Josef-Spitale in Wien;
2. über die in den communalen Epidemie-Spitälern vorzunehmenden
Adaptirungen; 3. über ein Ansuchen um die Bewilligung zur Auf¬
stellung von Couveusen mit lebenden Kindern behufs öffentlicher
Schaustellung; 4. über die Errichtung einer neuen öffentlichen Apotheke
in einer Marktgemeinde Niederösterreichs und 5. über die Verbesserung
der sanitären Verhältnisse in einem öffentlichen Krankenhause
in Wien.
*
Rudolf Virchow hat in seiner Eigenschaft als Heraus¬
geber des ,, Archivs für pathologische Anatomie und Physiologie“ im
dritten Hefte des Bd. CLIX folgenden Mahnruf an die Autoren
ergehen lassen, der uns für die ganze medieinische Publicistik von so
allgemeiner Bedeutung zu sein scheint, dass wir ihm die weiteste Ver¬
breitung in den interessirten Kreisen wünschen. Wir bringen den¬
selben hiemit grösstentheils zum Abdrucke.
„Obgleich ich schon viel häufiger als mir lieb war, Mahnungen
an die schreibenden Collegen gerichtet habe, so zwingen mich doch
herbe Erfahrungen aus neuerer Zeit zu dem nochmaligen Versuche
einer bestimmenden Einwirkung in Bezug auf Gewohnheiten der Schritt¬
steller, welche schädliche Folgen haben. Blosse Rechthaberei liegt mir
gänzlich ferne.
Vorausschicken will ich die Erklärung, dass meine Ansprache
sich nicht an solche Collegen wenden soll, welche ein Buch oder eine
selbstständige Brochure oder lose Blätter schreiben ; diese mögen ihren
Gewohnheiten nach Belieben nachgehen. Meine Warnungen gelten nur
für die eigentliche Journalistik, vorzugsweise für Wochen-, Monats¬
und Vierteljahrs Schriften, welche in bestimmten Zeiträumen und dann
in einer gewissen Stärke erscheinen und für einen bestimmten Preis
abgegeben werden. Hier ist die Rücksicht auf die Abonnenten ent¬
scheidend für den Umfang der Publication und für die schnellere
oder langsamere Folge der einzelnen Hefte (Lieferungen). Darnach
richtet sich wiederum ein grosser Theil des Einflusses, den das Journal
erlangt.
Wer diese Vordersätze anerkennt, wird auch die Nothwondigkeit
zugeben, dass nicht blos der Redaeteur und Verleger sich bemühen
müssen, die Abonnementspreise und die Publicationszeiten einzuhalten
und die Stärke der einzelnen Hefte, Lieferungen und Bände nicht will¬
kürlich zu erweitern. Daraus folgt auch für die Mitarbeiter der Zwang,
sich einer knappen Schreibweise zu bedienen, um von
dem gegeben und nicht wesentlich zu überschreitenden Raum nicht einen
ungebührlichen Antheil vorwegzunehmen. Dabei ist Alles zu vermeiden,
was für die Darstellung und Beweisführung entbehrlich ist. Das ist aber
erfahrungegomäss sehr schwer zu erreichen. Die Details der Kran
kengcschichten, Sections- und \ ersuchsberichtc.
werden nicht selten in einer Ausdehnung und in einer Zahl gegeben,
welche für den Zweck der Verdeutlichung und Beweisführung nicht
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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erforderlich ist, ja welche die Lecture nur für wenige Leser schmack¬
haft oder überhaupt möglich erscheinen lässt. Die neuerlich aufge¬
kommene Sitte, umfangreiche und zugleich wenig lehrreiche Einzel¬
heiten in Tabellen vorzuführen, bringt sowohl für den Drucker,
als für den Leser grosse Schwierigkeiten. Zusammenfassende Ueber-
sichten würden recht häufig genügen; sie lassen sich durch genaue
Zahlenangaben so beweisend gestalten, dass man auf die Details jedes
einzelnen Falles leicht verzichten kann, zumal wenn einzelne, be¬
sonders illustrative Beispiele beigefügt werden. Grössere Journale
können sich vor der verschwenderischen Consumption von Raum
höchstens dadurch retten, dass sie diese Details in kleiner Schrift
geben, aber auch das betrachten manche Mitglieder, namentlich An¬
fänger, als eine Zurücksetzung und verwahren sich gegen eine
Wiederholung.
Dazu kommen die für unbetheiligte Personen so schwer zu er¬
tragenden Prioritäts-Streitigkeiten, welche so leicht zu
vermeiden wären, wenn jeder Autor sich darauf beschränkte, die
authentischen Angaben in Substanz mitzutheilen, und wenn er nicht
die Gelegenheit benützte, eine in der Regel höchst unvollständige,
nicht selten ungenaue Musterung der Literatur, selbst nur aus
zweiter, dritter oder noch weiter zurückliegender Hand, vorzunehmen.
Wie oft wird der werthvolle Raum dazu benützt, um Citate zu
häufen, w'elche zu verificiren der Verfasser nicht einmal für noting
erachtet hat! Und doch spricht mancher in seinen Citaten, wrie wenn
er die Originalquellen selbst auf das Genaueste studirt hätte! Dabei
verschlechtert sich leicht der Ton der Schriftstücke, statt objectiv
und höflich zu sein, zusehends, bis er einen verletzenden Charakter
angenommen hat.
Man möge diese Klagen eines alten und viel geplagten Redacteurs
mit einiger Geduld aufnehmen und darin den Ausdruck lange zurück¬
gehaltener, möglich tief begründeter Erregung erkennen. Sie haben
nur den Zweck, unsere Journalistik von den Auswüchsen und Ab¬
wegen fernzuhalten, die uns in der medicinischen Fachpresse immer
häufiger begegnen. Solche Auswüchse sollten beschnitten werden; sie
haben für die Gesammtheit keinen Werth, sie dienen nur der Eigen¬
liebe ihrer Urheber. J e m e h r wir unsere Elaborate c o nden-
siren, je sorgfältiger wir sie auf das Objective,
Thatsächliche, und, wenn möglich, Neue beschränken,
umsomehr werden sie dazu beitragen, nicht nur den
alten Ruhm unserer Literatur aufrecht zu erhalten,
sondern auch den einzelnen Autoren eine allgemein
anerkannte Stellung zu sichern.
Mein heutiger Wunsch geht also dahin, dass die Mitarbeiter des
Archives sich stets vor Augen halten möchten, dass sie für eine Z e i t-
schrift in dem eben skizzirten Sinne schreiben, und dass der
Redaeteur durch äussere Verhältnisse gezwungen ist, gewisse Be¬
schränkungen, zumal in dem für die einzelne Arbeit zu bewilligenden
Raum eintreten zu lassen.“
*
Officieller Bericht über die am 9. Juni 1 900 abge-
haltene Centralausschusssitzung der Wiener Aerzteorganisation.
I. Kammer wählen. Der vom Aerztekammer-Wahlcomite
ausgearbeitete Schlüssel wird vom Plenum mit einer kleinen Modification
angenommen. Danach werden 20 Mandate auf die im Verbände ver¬
tretenen Vereine aufgetheilt, während neun Mandate dem Central ,
ausschusse zur Vergebung reservirt bleiben; von den letzten neun
Mandaten wird eines den Hilfsärzten der Wiener Spitäler zur Ver¬
fügung gestellt, wenn sich dieselben bis zur Wahlzeit bereits
organisirt haben. Von den Vereinsmandaten erhalten die Vereine im
ersten, zweiten und neunten Bezirke, sowie der Wiener Aerzteverein
je zwei Mandate, die übrigen Bezirksvereine und die beiden Cassen-
vereine je ein Mandat, die zahnärztlichen Vereine (Wiener und öster-
reichischiseher Zahnärzteverein) zusammen ein Mandat. Die ärzt¬
lichen Vereine norainiren bis zum 20. J uni 1 900 für die
ihnen nach dem Schlüssel zukommenden Mandate ihre Candid aten
beim Präsidenten des Verbandes, können aber ausser
diesen noch solche Collegen ihres oder eines anderen Vereines namhaft
machen, welche sie zur Vertretung der Standesinteressen in der Kammer
für besonders geeignet halten, und aus welchen dann das Wahlcomite
den \ orschlag über die dem Centralausschusse vorbehaltenen Mandate
zusammenzustellen hat.
II. Honorir ung der Unfallparere. Es wurde über
Anregung des Margarethener Vereines beschlossen, das Präsidium des
Verbandes zu beauftragen, die nachfolgenden Punkte mit den Ver¬
sicherungsgesellschaften zu vereinbaren: a) Die ärztliche Schaden¬
anzeige und das Schlussattest sind in Hinkunft von den Unfall¬
versicherungsgesellschaften den Aerzten dirccte und nicht im Wege
der Partei abzuverlangen und von den Aerzten — als vertrauliche
Documente — direct an die Gesellschaften einztfschicken. b) Die
Gesellschaften haben für die Atteste einheitliche Formularien zu ver¬
fassen. c) Die Ausfertigung der Atteste ist von den Gesellschaften
mit mindestens je 6 K für jedes Attest den Aerzten direct zu
honoriren.
III. Ambulatoriumfrage. Um die grosse Frage der
Ambulatorien und des Zahlstockes erschöpfend zu bearbeiten, em¬
pfiehlt der Vorstand die Einberufung einer Enqueto, in welcher
sämmtliche betheiligte Facforen ihre Meinung abzugebtn haben. Bis
zu diesem Momente glaubt der Verband mit der Durchführung fol¬
gender Massnahmen den dringendsten Bedürfnissen vorläufig zu ent¬
sprechen: 1. Sämmtliche Ambulatoriumärzte sind in ge¬
eigneter Fo m von folgenden Beschlüssen des Centralausschusses zu
verständigen, n ) Um dem Missbrauche der Ambulatorien seitens des
zahlungsfähigen Publicums zu steuern, werden alle Ambulatoriumloiter
in collegialster Form aufgefordert, dafür Sorge zu tragen, dass in
allen Ambulatoriumsräumen deutlich zu ersehen sei, dass der Besuch
des Ambulatoriums einzig und allein Unbemittelten ge¬
stattet ist. Dieselbe Bemerkung haben sämmtliche Recept-
formulareundsonst igenfür die Parteienbestimmten
Druck sorten zu tragen, b) Patienten, welche nicht zweifel¬
los zahlungsunfähig sind, haben sich beim zweiten Besuche
des Ambulatoriums durch irgend ein Attest über ihre Mittellosigkeit
auszuweisen. 2. Die Wiener Aerzteorganisation macht sämmtliche
Collegen Wiens und der Provinz aufmerksam, dass die Ambula¬
torien einzig und allein für zahlungsunfähige Pa¬
tienten bestimmt sind und ersucht die Collegen bei der Zuweisung
ihrer Patienten an öffentliche Ambulatorien zum Zwecke von special-
ärztliclier Behandlung auch auf Zahlungsunfähigkeit der Kranken ihr
Augenmerk zu richten (und bemittelte Kranke den Ambulatorien
unter keiner Bedingung zur unentgeltlichen Behandlung über¬
weisen zu wollen).
IV. Leopoldstädter Kinderambulatorium. An¬
lässlich der durch einen eigenen Verein projectirten Errichtung eines
Kinderambulatoriums in der Leopoldstadt ist die Statthalterei in ge¬
eigneter Weise zu ersuchen, die Concession zu diesem höchst über¬
flüssigen und aus sanitären Gründen unzulässigen Privatambulatorium
zurückzuziehen, gleichzeitig ist der Statthalterei nahezulegen, dass sie
in Hinkunft von der Bewilligung der Errichtung von Ambulatorien,
falls sie nicht im Zusammenhänge mit e i n e m S p i t a 1 e
stehen, überhaupt gänzlich absehon und in derartigen Angelegen¬
heiten vor ihrer Entscheidung immer ein Kammergutachten abverlangon
wolle. Dem Leopoldstädter Verein wird vom Vorstande für seine die
Standesinteressen wahrende Thätigkeit der Dank votirt.
V. Sonstige Mittheilungen. Die von verschiedener
Seite eingelangten Begriissungsschreiben (Kammern, Centralvereine)
wurden erwidert. Die Eingabe des Verbandes bezüglich der Kranken¬
hausenquete wurde vom Minister Hartei durch sofortige Einladung
des Präsidenten freundliehst beantwortet. Das Memorandum in An¬
gelegenheit der Zahnärzte (Hintanhaltung der Erweiterung der
Concession von Zahntechnikern, Verbot der ausländischen Assistenten)
wurde dem Ministerpräsidenten Kör her überreicht und der Deputation
an massgebender Stelle versichert, dass den berechtigten Wünschen
der Aerzte Rechnung getragen werde.
*
Krankenverein der Aerzte Wiens. Die Vereins¬
leitung gibt das folgende Verzeichn iss der Beneficien, die
dem Krankenvereine bisher von Seite der österreichischen Curorte-
Verwaltungen eingeräumt wurden und in dieser Sommersaison zur Ver¬
fügung stehen :
Der Curort Giesshübl bietet den Mitgliedern: Kostenfreien
Gebrauch der Curmittel, Befreiung von der Zahlung der Aufenthalts¬
kosten, 50% Ermässigung der tarifmässigen Wohnung^preise. — Der
Curort Gl eichen berg bietet den Mitgliedern: Kostenfreien Ge¬
brauch der Curmittel, Befreiung von Cur- und Musiktaxe, in zwölf Villen
20% Ermässigung der Zimmerpreise. — Der Curort Guttenbrunn
(Dr. G. Laotin) bietet den Mitgliedern: Etmässigung von 50% der
Curmittelpreise. — Der Curort Krapina-Töplitz bietet den Mit¬
gliedern: Befreiung von Cur- und Musiktaxe, kostenlose Benützung
der Bäder und Sodarier, 25% Nachlass bei der Wohnungsmiethe. —
Die Wasserheilanstalt Bad Kreuzen (Dr. O. Fleisch-
h an der!) bietet den Mitgliedern: Freien Curgebraueh, halben Preis
der Wohnung (in berücksichtigungswürdigen Fällen auch mehr). —
Der Curort Krynica bietet den Mitgliedern: Für Mitglieder oder
deren Gemahlinnen 20 Mineral- und 10 Mooi bade karten, eventuell
noch eine Anzahl hydropathischer Proceduren unentgeltlich. — Der
Curort Gross-Ullersdorf (Mähren) bietet den Mitgliedern:
Kostenfreien Gebrauch der Bäder während der ganzen Saison, Be¬
freiung von Cur- und Musiktaxe. Vom 15. Mai bis 30. Juni und vom
20. August bis 30. September 50% Wohnungspreisermässigung. —
Die Badegesellschaft Sanger her g (bei Marienbad) bietet
den Mitgliedern: 30% Ermässigung bei Curanwendungen und Bädern.
Enthebung von der Curtaxe. — Der Curort Trencsin-Teplitz bietet
den Mitgliedern: Befreiung von der Curtaxe, freien Gebrauch der
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Bäder. Vom 1. Mai bis Ende Juni und vom 16. August bis Ende
September 50% Nachlass bei Wolinungspreisen. — Die Wasser¬
heilanstalt Paulin enh of, Vorderbrühl (Dr. S a m u e 1 y) bietet den
Mitgliedern: Einen Freiplatz. — Der Curort Bad Hall, Ober¬
österreich (Jos. Fuchs, Marien-Hof) bietet den Mitgliedern: Vom
1. Mai bis Ende Juni und vom 20. August bis Ende September 25%
Nachlass während der ganzen Saison, im Restaurant und für zwei
Herren Zimmer zu 4 fl. wöchentlich. — Der Curort Mittewaldbei
Villach bietet den Mitgliedern: Freie Benützung der Curmittel und
30% Ermässigung des Miethpreises. — Der Curort T ü f f e r, Franz
Josefs-Bad (Theodor Gunkl) bietet den Mitgliedern : Einen
Freiplatz.
Reflectirende Herren wollen sich an den Obmann des Vereines,
Herrn Dr. Adolf Klein, III., Hauptstrasse 50, wenden.
*
I. Internationaler Congress für ärztliche
Standesinteressen und ärztliche Pflichtenlehre
23. — 28. Juli 1900 zu Paris. Das Pariser Comite dieses Con¬
gresses gibt bekannt, dass den Mitgliedern dieses Congresses nebst den
früher schon erwähnten Beneficien auch der unentgeltliche Eintritt in
die Ausstellung während der Dauer des Congresses gewährt wird.
Ferner theilt das Comite mit, dass Vorträge bis zum 1. Juli 1900 im
Bureau de3 Congresses, 120, Boulevard Saint-Germain, Paris, anzu¬
melden sind. Die Mitgliedskarten, Programme, Berichte etc. können
vom 15. — 23. Juli in oberwähntem Bureau behoben werden, oder
werden auch auf Verlangen zugesendet.
*
Anlässlich des in Paris stattfindenden Congresses
sind die Theilnehmer desselben sammt ihren Angehörigen zu folgenden
Festen geladen: Am 2. August beim Conseilspräsidenten, am 3. August
beim Präsidenten des Congresses; am 5. August ist Empfang beim
Präsidenten der Republik; am 8. August wird im Senatspalais und im
Jardin du Luxembourg vom Congresscomite eine Festlichkeit ver¬
anstaltet werden. Eine solche steht auch von Seiten des Municipiums
in Aussicht; weitere werden von einzelnen Sectionen veranstaltet
werden .
*
Programm der Ferialcurse, welche in den Monaten
August und September 1900 an der Wiener medic ini sehen
Facultät gelesen werden.
(Die Inscription erfolgt bei den betreffenden Herren Doceuten und
ist das Honorar an dieselben direct im Vorhinein zu entrichten.)
I. August Cyclus.
Anatomie: Gustav Alexander, Entwicklungsgeschichte und
Anatomie des Centralnervensystems. — Derselbe, Anatomie des Gehör¬
organes.
Pathologische Anatomie und Bacteriologie: Hein¬
rich Albrecht, Pathologisch-anatomischer Demonstrationscurs. —
Richard Kretz, Ausgewählte Capitel aus der angewandten Bacterio¬
logie. Krankheit, Ansteckung und Seuchenbekämpfung. — Oskar
Stoerck, Pathologische Histologie. — Karl Landsteiner, Curs über
Bacteriologie.
Medicinische Chemie: Sigmund Fränltel, Qualitative
und quantitative Harnanalyse. — Richard v. Zeynek, Chemie der
Verdauung. — Derselbe, Harnanalyse.
Pharmakognosie und Lebens mitteluntersuchung:
Josef H o c k a u f , Anwendung des Mikroskopes auf die offfcinellen
Droguen, Nahrungs- und Genussmittel aus dem Pflanzenreiche.
Interne Medicin: Ludwig Braun, Therapie der Herz¬
krankheiten (mit Krankendemonstationen). — Hermann Schlesinger,
Diagnostik innerer Krankheiten mit besonderer Berücksichtigung der physi¬
kalischen Untersuchungsmethoden (mit Krankendemonstrationen). — Ernst
v. Czyhlarz, Curs über Diagnostik und Therapie innerer Krankheiten
(für Aerzte).
Neurologie und Psychiatrie: Lothar v. Frankl-
Hocli wart, Diagnostik und Therapie der Nervenkrankheiten mit beson¬
derer Berücksichtigung der Elektrotherapie und Diagnostik. — Alexander
P i 1 c z, Klinik der Geisteskrankheiten.
Chirurgie: Karl Ewald, Chirurgische Diagnostik. — Der¬
selbe, Chirurgischer Operationscurs. — Julius Schnitzler, Atypische
Operationen (Uebungen am Cadaver). — Oskar Föderl, Curs über
typische Operationen mit Uebungen an der Leiche. — Derselbe, Curs über
atypische Operationen mit Uebungen an der Leiche.
Augenheilkunde: Karl K u n n, Anomalien der Refraction
und Accommodation des Auges nebst praktischen Uebungen in der Brillen¬
wahl. — Leopold Müller, Operatiousübungen. — Hugo Winter-
feiner, Ophthalmoskopie. — Derselbe, Augenoperationen. — Derselbe,
Pathologische Histologie des meuschlichen Auges. — Richard Fröhlich,
Diagnostik und Therapie äusserer und innerer Augenkrankheiten. — M o r i z
Sachs, Diagnostik und Therapie der äusseren Augenkrankheiten. — Der¬
selbe, Augenoperationen.
Laryngologie und Rhinologie: Michael Gross¬
mann, Curs über Laryngo- und Rhinologie. — Hans Koschier,
Laryngo-rhinologischer Operationscurs mit besonderer Berücksichtigung der
Anatomie. — Leopold Ret hi, Laryngo- und Rhinoskopie mit prak¬
tischen Uebungen. — Leopold Har me r, Laryngo- und Rhinoskopie.
— Derselbe, Laryngologische und rhinologische Operationen an der
Leiche.
Ohrenheilkunde: Ferdinand Alt, Ohrenheilkunde. —
Albert Bing, Praktischer Cursus über Ohrenheilkunde.
Dermatologie und Syphilidologie: Karl Ullmaun,
Hautkrankheiten und Syphilis. Pathologie und Therapie. — K arl Krei-
b i c h, Diagnostik und Therapie der Hautkrankheiten und Syphilis. —
Rudolf Matzenaue r, Curs über Dermatologie und Syphilis.
Geburtshilfe und Gynäkologie: Karl August Herzfeld,
Geburtshilfliche Operationslehre. — - Rudolf Savor, Geburtshilfliche Dia¬
gnostik, Therapie und Operationen. — Derselbe, Gynäkologische Diagnostik
und Therapie. — Adolf Hink, Geburtshilfliche Diagnostik und Therapie.
— Waldstein, Geburtshilfliche Diagnostik und Therapie. — Derselbe,
Geburtshilfliche Operationslehre.
Zahnheilkunde: RudolfLoos, Operative und conservirende
Zahnheilkunde.
*
Vom „Therapeutischen J a h r b u c h“, herausgegeben von
Dr. Nitz einadel bei Deuticke in Wien ist der zehnte Jahr¬
gang erschienen. Derselbe enthält eine Zusammenstellung der in den
deutschen medicinischen Zeitschriften des Jahres 1899 niedergelegten
diagnostischen, therapeutischen und pharmakologischen Angaben.
*
Nach dem 27. Jahresberichte des St. Ludwig-
Kind e r s p i t a 1 e s in Krakau (Vorstand der Kinderklinik: Prof.
J a k u b o w s k i) waren daselbst 1899 334 Säuglinge und 1 127 Kinder
im Alter von 1 bis 12 Jahren neu aufgenommen und verpflegt, 5259
ambulatorisch behandelt worden. 97 Kinder waren wegen Scrophulose
oder Localtuberculose nach dem Badeorte Rabka geschickt worden.
*
Sani tä tsve r hältuissebeiderMannschaftdes k. u. k. Heer es
im Monat März 1900. Mit Ende Februar 1900 waren krank ver¬
blieben bei der Truppe 1777, in Heilanstalten 7814 Mann. Kranken¬
zugang im Monat März 1900 20.054 Mann, entsprechend pro Mille
der durchschnittlichen Kopfstärke 72. Im Monat März 1900 wurden
an Heilanstalten abgegeben 8254 Mann, entsprechend pro Mille der
durchschnittlichen Kopfstärke 30. Im Monat März 1900 sind vom
Gesammtkrankenstande in Abgang gekommen 19.906 Mann, darunter als
diensttauglich (genesen) 18.033 Mann, entsprechend pro Mille des
Abganges 906, durch Tod 80 Mann, entsprechend pro Mille des Ab¬
ganges 4'02, beziehungsweise pro Mille der durchschnittlichen Kopf¬
stärke 0-29. Am Monatsschlusse sind krank verblieben bei der Truppe
2049, in Heilanstalten 7690 Mann.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 22. Jahreswoche (vom 27. Mai
bis 2. Juni 1900). Lebend geboren: ehelich 648, unehelich 353, zusammen
1001. Todt geboren: ehelich 40, unehelich 14, zusammen 54. Gesammtzahl
der Todesfälle 683 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
2P4 Todesfälle), darunter an Tuberculose 140, Blattern 0, Masern 24,
Scharlach 2, Diphtherie und Croup 3, Pertussis 3, Typhus abdominalis 2,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 1, Neu¬
bildungen 39. Angezeigte Infectionskraukheiten: Blattern l (-J- 1), Varicellen
63 (-]-15), Masern 311 ( — 39;, Scharlach 41 ( — 15), Typhus abdominalis
15 (4- 11), Typbus exanthematicus 0 (=), Erysipel 31 ( — 3), Croup und
Diphtherie 29 ( — 20), Pertussis 45 (— 12), Dysenterie 0 (=), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 4 (=), Trachom 3 (-[- 1), Influenza 0 ( — 2).
Von der Bibliothek.
Nachstehende Werke wurden seit 1. März 1900 (siehe
Nr. 9, 1900 der »Wiener klinischen Wochenschrift«) von
dem Gefertigten für die Bibliothek der k. k. Gesellschaft
der Aerzte in Empfang genommen:
IST r_ 1.
Geschenke :
a ) Von Herrn Ilofrath Prof. C h r o b a k.
Specielle Pathologie und Therapie. Herausgegeben von Hofrath Noth¬
nagel:
Bd. V/2 : E. v. L e y d e n und F. B 1 u m e n t h a 1, Der Tetanus.
Wien 1900. 8°.
Bd. V1I/4: Noorden K. v., Die Fettsucht. Wien 1900. 8".
Bd. XIV/2, 2. Abth.: Cornet G., Die acute allgemeine Miliartuber-
culose. Wien 1900. 8°.
Bd. XIV/4: Cornet G., Die Scrophulose. Wien 1900. 8".
Bd. XV/ 1, 3. Abth.: Jürgensen Theodor v., Erkrankungen
der Kreislaufsorgane. Endocarditis. Wien 1900.
Bd. XX/1, 2. Hälfte: Chrobak R. und A. v. Rosthorn, Die
Erkrankungen der weiblichen Geschlechtsorgane I. F heil.
Wien 1900.
*
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 25
5KK
b) Von Herrn Prof. Lang:
»Paracelsus-, Neues Privatkrankenhaus und Augenheilanstalt. Zürich
1S99. 8".
Campana R., Hei morbi sitilitici e venerei. Genova 1889. 8".
Report of tile Leprosy Commission in India. Calcutta 1898. 8°.
•T*
c) Verschiedene :
Czermak w., R. v. Jaksch, M. Saenger, Der Kaiser Franz Josef Pavillon
im k. k. Allgemeinen Krankenhause zu Prag. Prag 1900. Von den
Herausgebern.
Goldman H. F.. Die Ankylostomiasis. Wien und Leipzig 1900. 8U. Vom
Autor.
Untersuchungen und Studien über die Levico-Arsen-Eisenwasser. Berlin
1899. 8°.
Paschkis H , Agenda therapeutica 1900. Wien 1900. 8". Vom Autor.
Report of the Malaria-Expedition of the Livervool School of tropical Medi¬
cine and Medical Parasitology by Ronald Ross, II. E. Anne t t,
E. E. A n s t e n. With Supplementary Reports by Major G. M. j
Giles and R. Fielding-oul d. Liverpool 1900. 4". F. the
Editors.
Sandefjord. Svovl Solbad in Norge. Christiania 1900. 8°. Beilage zu No sk
Magazin. 1900. Nr. 3.
Obersteiner H., Functionelle und organische Nervenkrankheiten. Wiesbaden
1900. 8". Vom Autor.
Orth Johannes, Pathologisch anatomische Diagnostik, nebst Anleitung zur
Ausführung von Obductionen, sowie von pathologisch histologischen
Untersuchungen. Sechste durchgesehene und vermeinte Auflage.
Berlin 1900. 8°. Vom Autor.
Azain, Hypnotisme, double conscience et alterations de la personnalite.
Paris 1887. 8°. Von Herrn Dr. G a 1 a 1 1 i.
Haymerle Franz R. V., Der weibliche Fachuntericht und dessen Organi-
sirung mit Rücksicht auf die praktischen Bedürfnisse des Lebens.
Wien 1900. 8°. Vom Autor.
Seegen J Die Zuckerbildung im Thierkörper, ihr Umfang und ihre Be¬
deutung. Berlin 1900. 8°. Zweite Auflage. Vom Autor.
Arbeiten auf dem Gebiete der pathologischen Anatomie und Bacterio-
logie. Aus dem pathologisch anatomischen Institute zu Tübingen.
Herausgegeben von Paul v. Baumgarten. Braunschweig 1899.
8°. Bd. 111, Heft 1. Vom Herausgeber.
Browicz T., Bau der intereellulären Gänge und ihr Verhältniss zu den
Blutcapillaren. (Separat- Abdruck.) Krakau 1900. 8°. Vom Autor.
Chrobak R. und A. V. Rosthorn, Die Erkrankungen der weiblichen Ge¬
schlechtsorgane. I. Wien 1900. 8°. Von den Autoren.
Kisch E H., Die Prophylaxe der Sterilität. (Separat- Abdruck.) München
1900. 8°. Vom Autor.
Lorenz Adolf, Ueher die Heilung der angeborenen Hüftgelenksverrenkung
durch unblutige Einrenkung und functionelle Belastung. Leipzig und
Wien 1900. 8°. Vom Autor.
Die therapeutischen Leistungen des Jahres 1899. (Jahrgang XI.) Wiesbaden
1900. 8°. Von Herrn Dr. A. Pollatsche k.
Report of the Medical Officer for 1898—1899. London 1900. 8". Fr. Medi¬
cal Officer.
Bericht über die Entwicklung und Leistungen des k. k. zahnärztlichen
Universitätsimtitutes im ersten Decenuium seines Bestehens, erstattet
von Dr. Julius Sch eff. Wien 1900. 8". Vom Verfasser.
*
Augekauft:
Handbuch der Krankheiten der weiblichen Adnexoigane. Herausgegeben
von A. M a r t i n, Leipzig 1895. Enthält:
Bd. 1, Die Krankheiten der Eileiter.
Bd. II, Dio Krankheiten der Eierstöcke und Nebeneierstöcke.
Encyklopädie der Geburtshilfe und Gynäkologie. Herausgegeben von Pro¬
fessor M. 8 ä n g e r und Prof. Dr. O. v. H erf f. Leipzig 1900. 4°.
ZiemsSfin H. V., Klinische Vorträge. 26. und 27. Vortrag : Die klinische
Medicin des XIX. Jahrhunderts. Leipzig 1900. 8°.
Lepra, Bibliotheca internationalis opera consociata viroi um .... Pb. Abra-
h a m. V. Babes.... Edita a Ernest Besnier, Karl
D e h i o, Edvard Ehler s, A r m a u e r H a n s e n, Ja m e s
Nevins Hyde, Jonathan Hutchinson, Albert Neisser.
London, Leipzig, Paris 1900 ff. 8°.
Transactions ol the Pathological Society of London. London 1899 ff. 8".
Beiträge zur experimentellen Therapie. Herausgegeben von Geheimen
Medicinalrath Prof. Dr. E. Behring. Berlin und Wien 1900 ff. 8°.
Sammlung klinischer Abhandlungen über Pathologie und Therapie der
Stoffwechsel- und Ernährungsstörungen. Herausgegeben von Pro¬
fessor Dr. Karl v. N o o r d e n. Berlin 1900 ff. 8".
Centralblatt iiir Stofiwechsel- und Verdauungskranklieiten. Herausgegeben
von Prof. Dr. Karl v. N o o r d e n. Güttingen 1900 ff. 8°.
Wien, im Juni 1900. U n g e r.
Bei der Redaction eingelangte Bücher.
(Mit Vorbehalt weiterer Besprechung.)
Loeweiifeld. Somnambulismus und Spiritismus. Ibidem. Treis M. 8. — .
klaussuer, Ueber Missbildungen der menschlichen Gliedmassen. Ibidem.
Preis M. 8. — .
W il brand und Saenger, Die Neurologie des Auges. Bd. I, 2. Abtheilung.
Preis M. 8.-.
Schede, Atlas der normalen und pathologischen Anatomie in typischen
Röntgen Bildern. 3. Ergänzungsheft. Gräte & Sillem, Hamburg.
Preis M. 8. — .
Thomson. On neuroma neuro-fibromatosis. Turnbull & Spears, Edinburgh.
168 S.
Hoclie. Die Frühdiagnose der progressiven Paralyse. 2. Auflage. Mai hold,
Halle a. S. Preis M. 1.80.
Alf. Allgemeines Bauprogramm für ein Landesasyl zur ausgedehnteren Ein¬
führung der familiären Irrenpfiege. Ibidem. Preis M. 2. — .
Ziegelroth, Die physikalisch-diätetische Therapie der Syphilis. Richter,
Berlin. 266 S.
Kiulak, Die subeutanen Verletzungen der Muskeln. (16. Heft der Ver¬
öffentlichungen aus dem Gebiete des Militär-Sanitäts wesens.) Hirsch¬
wald, Beiliu. 123 S.
Groliniann. Der Schwachsinnige und seine Stellung in der Gesellschaft.
Rascher, Zürich. Preis M. — .50.
Grollmann, Suggestion durch Briefe. Ibidem. Preis M 1.50.
Buxhamn, Lehrbuch der Hydrotherapie. Thieme, Leipzig. Preis M. 8. — .
Enimert, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. Ibidem. Preis M. 14. — .
FucllS, Die Prophylaxe in der Psychiatrie. Seitz & Schauer, München.
52 S.
Kisch, Die Prophylaxe der Sterilität. Ibidem. 24 S.
Erl), Wintereuren im Hochgebirge. (Volkmann’s Sammlung.) Breitkopf
& Härtel, Leipzig.
Franke, Die chirurgische Behandlung des Magengeschwüres. Ibidem,
(’hazan, Die spezifischen Lebenserscheinungen im weiblichen Organismus.
Ibidem.
Bresgen, Ueber die Nothwendigkeit örtlicher Behandlung frischen
Schnupfens. Leineweber, Leipzig. Preis M. 1. — .
Freie Stellen.
Distrietsarztesstelle im Sanitätsdistricte Preschkau (bestehend
aus den Gemeinden Ober- und Nieder-Preschkau, mit 1797 Einwohnern),
Böhmen. Gehalt 800 K und 54 K Reisepauschale. Die Besetzung dieser
Distrietsarztesstelle, mit welcher auch die unentgeltliche Behandlung der
Ortsartneu und die Vornahme der Todtenbeschau verbunden ist, erfolgt
zunächst provisorisch auf ein Jahr, nach dessen Ablauf dieselbe definitiv
verliehen wird. Gesuche sind an das Gemeindeamt Ober-Presehkau, politischer
Bezirk Tetschen, zu richteu.
Gemeindearztesstelle in Gimiuo, politischer Bezirk Mitterburg,
Küstenlan d. Jahresgehalt 2000 K in monatlichen Anticipativraten.
Der Arzt ist verpflichtet, die Armen der ganzen Gemeinde unentgeltlich
zu behandeln, als sanitäres Gemeindeorgan im Sinne des Gesetzes vom
19. März 1874, L. G. u. V. Bl. Nr. 8, zu fungiren und eine Hausapotheke
zu halten. lrür Armenbesuehe ausserhalb des Domicilortes, wie auch für-
sonstige im Aufträge der Gemeinde unternommene Dienstreisen werden die
Reisekosten vergütet. Der Dieustvertrag wird auf drei Jahre geschlossen
und nach Verlauf dieser Frist von Jahr zu Jahr stillschweigend erneuert,
den Fall einer gegenseitig drei Monate vor Ablauf der Jahresfrist zu er¬
folgenden Kündigung ausgenommen. Die Gesuche mit dem ärztlichen
Diplome, den Nachweisen über die österreichische Staatsbürgerschaft, über die
Keuntniss der kroatischen und italienischen Sprache und über andere all¬
fällige Qualificationen sind beim Gemeindeamte in Gimino bis längstens
15. Juli 1. J. einzubringen.
Städtische Bezirksarztesstelle II. Classe in der VI. Rangs-
classe mit dem Jahresgehalte von 2600 K, dem Quartiergelde von 800 K
und dem Ansprüche auf zwei Quadriennien ä 200 K im Status de) Stadt-
physieates der Stadt Wien, Niederösterreich. Bewerber um diese
Stelle haben den Nachweis des an einer inländischen Universität erlangten
Diplomes eines Doctors der gesammten Heilkunde, ferner einer mindestens
zweijährigen spitalärztlichen Dienstleistung nach der Promotion, einer
gründlichen, in allen Zweigen der medicinischen Wissenschaft erworbenen
Ausbildung, eventuell der Verwendung im staatlichen Sanitätsdienste zu
liefern und das Zeugniss über die zur Anstellung im öffentlichen Sanitäts¬
dienste vorgesehriebene, mit gutem Erfolge abgelegte Physicatsprüfuug
beizubringen. Bewerber, welche nicht im städtischen Dienste stehen, haben
dem Gesuche ausserdem den Taufschein oder ein Geburtszeugniss und den
Nachweis der österreichischen Staatsbürgerschaft; diejenigen, w'elche nicht
in Wien wohnen, auch noch ein behördliches Leumundszeugniss und ein
von einem Amtsärzte ausgestelltes Zeugniss über die körperliche Eignung
anzuschliessen. Auf diese Anstellung finden die §§ 1 — 3 der Dienstprag¬
matik für die Gemeiudebeamten der Stadt Wien Anwendung. Bemerkt wird,
dass die Ausschreibung für das ganze Gemeindegebiet von Wien erfolgt,
demnach die Competenz für einen einzelnen bestimmten Bezirk nicht zu¬
lässig ist. Der Dienst ist nach der Ernennung sogleich anzutreten. Die für
jeden Bogen mit einer 1 K Stempelmarke zu versehenden Gesuche um
diese Stelle sind bis längstens 30. Juni 1900, 12 Uhr Mittags, im Ein¬
reichungsprotokolle des Wiener Magistrates zu überreichen. Auf später ein¬
langende Gesuche wird keine Rücksicht genommen.
Gemeindearztesstelle in der Sanitätsgemeindengruppe Neusiedl
a. d. Zaya. Beiträge der Gemeinden Neusiedl, Hauskirchen, Dober-
mannsdorf und Palterndorf 400 K- Landessubvention 400 K. Natural-
wohnung, Hausapotheke. Bewerber um diese am 1. Juli zu besetzende Stelle
wollen ihre Gesuche au die Gemeindevorstehung in Neusiedl a. d. Zaya,
Post Palterndorf, Niederösterreich, richten.
Distrietsarztesstelle in Drachenburg, Sleiermark. Fixe
Bezüge 2000 K. Hausapotheke erforderlich. Bewerber, welche der sloveni-
schen oder einer anderen slavischen Sprache mächtig sind, wollen ihre
belegten Gesuche ehestens an den Bezirksausschuss in Drachenburg
einsendeu.
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
587
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
IMHALT:
Officielle« Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 15. Juni 1900.
Nachtrag zum Protokolle der Sitzung der k. k. Gesellschaft der
Aerzte vom 8. Juni 1900.
Wiener laryngologische Gesellschaft. Sitzung vom 3. Mai 1900.
Verein deutscher Aerzte in Prag. Sitzung vom 2G. Januar, 2. und
9. Marz 1900.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in München.
Vom 17. — 22. September 1899. (Fortsetzung.)
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
Sitzung vom 15. Juni 1900.
Vorsitzender: Dr. Teleky.
Schriftführer : Dr. E. Knauer.
Der Vorsitzende macht der Gesellschaft Mittheilung von dem
Ableben des Mitgliedes Dr. Hermann Benedikt. (Die Versam¬
melten erheben sich zum Zeichen der Trauer von ihren Sitzen.)
Prof. Weinlecliner demoustrirt einen 15jährigen Burschen, über
welchen er in der letzten Sitzung in Betreff der Strangulatio
penis mit einer stählernen Schraubenmutter Mit¬
teilung machte. Die durch die Strangulation bedingte Hautgangrän
ist nun bis auf eiuen kleinen Theil geheilt. Ferner referirt er über den
in der vorletzten Sitzung besprochenen Fall von ungewöhnlich grossem
Echinococcus der Milz und Leber, welcher sich einer
Radicaloperation, welche zum Mindesten in einer Exstirpation der Milz
bestünde, nicht entsehliessen kann und daher inzwischen au mehreren
Stellen, wo Eckblasen sassen, punctirt und wenn Flüssigkeit entleert
werden konnte, mit je 20 <j Jodtinetur injicirt wurde. An der Milz¬
gegend geschahen vier Functionen, sie ergaben zweimal eine mehr weniger
klare Flüssigkeit, an einer Stelle war der Inhalt solid, wahrscheinlich
von Membranen erfüllt ; in der Lebergegend waren zwei Functionen vor¬
geblich; durch eine Wunde wurde seröse Flüssigkeit entfernt. Die Reaction
war eine minimale. Späterhin wurde an der Milz an einem grösseren
Höcker mit einem Hydrocelentroikart punctirt und derselbe liegen ge
lassen und späterhin durch den F lour a n t’schen Troikart und end¬
lich durch ein ziemlich dickes Drainrohr ersetzt. Tag für Tag wurde
die Höhle, in welche man anfänglich mit der Sonde 22 cm tief ein-
dringeu konnte, mit Kochsalzlösung ausgespült, worauf sich Unmassen
von Eehinococcushlasen bis zur Walnussgrösse entleerten. Sie zwängten
sieh durch die eingelegte Röhre langgestreckt durch, bekamen dann
die rundliche Form wieder oder lagen, wenn zersprengt, wie leere
Weinbeeren in der Tasse. Skolices wurden jetzt keine gefunden.
Eine Sammlung (l4 l) Echinococcusblasen, welche in den letzten zwei
Tagen abgingen, wurden demonstrirt. Schliesslich wurde das Drainrohr
während des Ausspritzens der Höhle entfernt, worauf das Heraus-
kommen der Blasen erleichtert war.
Endlich kam zur Demonstration ein 34jähriger Monteur, welcher
im September 1899 von einer Leiter 3 m tief auf die Knie, besonders
auf das linke fiel. Seit dieser Zeit hat er Schmerzen heim Gehen, be¬
sonders Morgens, im Verlaufe des Tages hörten sie auf. Seit sieben
Wochen ist das linke Knie geschwellt. Bei der Aufnahme am
2. Mai 1. J. Schwellung des Kniegelenkes handbreit Uber der Patella
und weniger weit über die Patella sich erstreckend. Ballotement der
Patella. Streckung schmerzlos, Beugung nur bis zu 90° ohne Schmerzen
möglich. An der Innenseite der Patella fühlt man einen etwa 3 — 4 cm
langen Wulst sich vordräugen, der, wenn man mit dem Finger darüber
streicht und walkt, beim Verlassen des äussersten Randes sich zum
grossen Theil hinter der Patella versteckt. Der Wulst fühlt sich klein-
höckerig an und ist, so weit man ihn tasten kann, 2 — 3 cm breit. Eine etwa
zwetschkenkerngrosse Geschwulst nimmt man aussen zwischen Patella¬
spitze und äusserem Rand des Ligamentum patellare proprium wahr.
Es wurde angenommen, dass beide Geschwülste unter dem Ligamentum
proprium miteinander Zusammenhängen. Nach wiederholter Unter¬
suchung wurde die Diagnose auf Lipoma aborescens gestellt
und vermuthet, dass die Geschwulst unter der Spitze der Patella in
der Gegend des Ligamentum patellare proprium im unteren Knie-
gelenksantheil ihren Sitz habe.
Am 7. Mai d. J. wurde die Geschwulst, die an einem kleinen
Stiel befestigt war und sich mit den Fingern leicht auslösen liess,
exstirpirt und das hiebei eröffnete Gelenk, in dem circa V-i ^ serös-
hämorrhagischer Flüssigkeit sieh befand, wieder ohne Drainage ver¬
näht. Heilung per primarn.
Das Piäparat war nach seiner Structur ein Lipom von stark
gelblich rother Färbung, an den Rändern lappig, mit einem Dicken-
durchmesser von 1 '/2 cm, 1 1 cm lang und 41/ ■> cm breit. Die Geschwulst
war nach unten und aussen mit der Gelenkskapsel locker verwachsen
und konnte bis auf einen kleinen Stiel, dem man ligirte oder ab-
schnitt, stumpf ahgelüst weiden. Es hatte den Anschein, als oh die
Geschwulst normaler Weise so situirt lag, dass der äussere Antheil
fast um einen rechten Winkel nach abwärts gedreht war.
Patient kann gut gehen, kann das Knie vollkommen strecken,
aber nur bis zu einem YVinkel von 130° beugen.
W ein le ebner erwähnt, dass er schon mehrere, bedeutend
grössere derartige Lipome untersucht, aber keine operirt habe. Dagegen
erinnert er sich, eigenthümliehe, gestielte, am köpf förmigen
Ende verknöcherte Wucherungen aus dem Kniegelenke
eines jungen Mädchens durch den Schnitt und die flachen Wuche¬
rungen mittelst Thermokauter mit gutem Erfolg und Brauchbarkeit des
Beines entfernt zu haben.
Von drei operirten Gelenksmäusen ist ein F all zur
septischen Zeit gestorben (Schn h), eine subaqual (nach Nussbaum)
von Zigmondy operirte und eine vor einigen Jahren von ihm
aseptisch entfernte genesen. Im letzten Falle bei einer Köchin musste
man die Kranke aus der Narkose aufwachen lassen, um die versteckte
Maus, welche für Weinlecli ne r unauffindbar war, wieder an die
Oberfläche zu bringen.
Endlich stellt Weinlecliner einen 20 Jahre alten Knecht
vor, welcher bereits im Jahre 1896 wegen angeborenen, beider¬
seitigen Hallux valgus hei W einlech ne r in operativer
Behandlung stand. Seine Schwester und seine Tante wollen an einer
ähnlichen Fussdifformität gelitten haben. Beide Füsse waren platt; der
Kopf des Sprungbeines und das Kahnbein standen nach innen stark
vor, und die inneren Fussränder waren stark eoncav. Der Hallux
valgus war links stärker ausgeprägt als rechts. An beiden Füssen
wurde die Resection des Köpfchens des Mittelfussknocliens der grossen
Zehen links Anfangs März 1896 in der Länge von gut 3 cm und
rechts kaum 3 cm Anfangs Mai vorgenommen. Mitte October 1896
wurde Patient geheilt entlassen. Am 20. April 1. J. liess er sich wegen
einer beginnenden rechtsseitigen Leistenhernie
wieder aufnehmen. Bei dieser Gelegenheit fand man die rechte Zehe
so schön geheilt und beweglich, dass Weinlecliner die da¬
selbst vorgenommene Operation bezweifelte. Die linke grosso Zehe war
wider Erwarten verkürzt, aber frei beweglich. Die Verkürzung er¬
klärte sieh hei genauer Untersuchung dadurch, dass die erste Phalanx
neben dem resecirten Mittelfussknocheu nach innen und rückwärts ver¬
schoben und subluxirt war. Durch Zug liess sie sich beträchtlich ver¬
längern.
In der rechten Inguinalgegend hatte er eine interstitielle
Hernie, hei welcher Weinlecliner die Vorwölbung am
11. Mai 1. J. nach Witzei durch eine fortlaufende Silberdrahtnaht
in querer Richtung der Pfeiler vereinigte und durch Anlegung von
parallel mit den Pfeilern verlaufenden Nähten ein Silber drahtgitter
einfügte. Durch dieses wird bis nun jedwede Vorwölbung hintangehalten,
ja es kommt, wenn sich der Patient frei ohne Stütze autsetzt, sogar
zu einer massigen Einziehung während der Wirkung der Bauchpresse
an dieser Stelle. Dieses Gitter genirte den Kranken, als er aufstand,
nur durch einige Tage; jetzt ist er vollkommen zufrieden.
Zum Schlüsse stellte Weinlecliner einen 49 Jahre alten
Bauer, wohnhaft in Paasdorf in Niederösterreich vor, welcher am
29. November vorigen Jahres von einem Wagen überfahren wurde,
wobei er sieh eine offene offene Fractur des linken Unter¬
schenkels zuzog.
Es wurde ein Schienenverband angelegt. In der sechsten V oclie
nach dem erlittenen Unfälle bemerkte man unter dem Verbände,
welcher heftiger Schmerzen wegen abgenommen wurde, an der Bruch¬
stelle eine Geschwulst, welche von wechselnder Grösse war. Lei der
Aufnahme am 9. April d. J. fand man den linken Unterschenkel in
588
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 25
toto angosclnvollen, in der Mitte desselben eine bedeutende Anschwel¬
lung mit glänzender, fluctuirender Hautdecke. An der medialen und
lateralen Seite des Unterschenkels, entsprechend der Tibia und Fibula,
war ein stark entwickelter Callus zu fühlen. Zwischen beiden lag die
fluctuirende Geschwulst, und 2 cm oberhalb derselben war eine 2 cm
lange, quer verlaufende Narbe zu sehen. Weinlechner hielt die
Geselnvulst für einen Abscess, machte eine Incision, worauf sich tlieils
flüssiges, tlieils altes coagulirtes Blut entleerte. Nun gelangte er zur
Ueberzeugung, dass ein diffuses traumatisches Aneurysma
vorliege. Sofort wurde ein Gummischlauch oberhalb angelegt und die
sehr unregelmässig begrenzte Höhle von allen Coagulis gereinigt,
worauf man die stark arrodirte Tibia und Fibula, und zwischen diesen
Knochen und der Wadenmusculatur der Fibula angelagert, die A r-
teria tibialis antica mit einem linsengrossen Loche
versehen vorfand. Beim Lockern des Schlauches sprang hier arterielles
Blut hervor. Die Arterie wurde ober- und unterhalb der Oeffnung
ligirt und das Mittelstück durchtrennt. Die Höhle wurde mit Jodoform¬
tanningaze austamponirt und aus der Mitte der Wunde herausgeleitet.
Die Ränder der Wunde an den beiden Enden 'vernäht. Fieberloser
Verlauf. Die Höhle ist jetzt vollständig geschlossen und die äussere
Wunde bis auf einen kleinen Granulationsstreifen geheilt. Patient geht
herum, es besteht keine Verkürzung, eher eine Verlängerung um 1 cm.
Der Peroneus profundus mag, sei es durch die Fractur, sei es durch
das Aneurysma, gelitten haben, da die Sensibilität an der grossen und
zweiten Zehe herabgesetzt ist.
Es scheint, dass das Loch durch einen spitzen Knochen erzeugt
wurde. Das Aneurysma hat sich erst nach sechs Wochen durch die
Schwellung bemerkbar gemacht. Hätte man an ein Aneurysma gedacht
und auscultirt, so hätte man dasselbe vor dem Einschnitt ohne Zweifel
nachweisen können. Wäre die Tibialis antica ganz durchstossen worden,
und hätte sie sich gut zurückziehen können, so hätte auch Heilung
ohne Aneurysma entstehen können. Indess erinnert sich Wein¬
lechner an einen Fall, bei welchem bei Durchreissung einer Unter-
schcnkelarterie sich so viel Blut ergoss, dass wegen Mangel der Circu¬
lation Gangrän eintrat.
Bei der gewaltsamen Streckung eines ankylosirten Kniegelenkes
hat We inlechner einmal ein Aneurysma der Arteria poplitea be¬
obachtet, und ein anderes Mal ist nach unter lautem Gekrach gelun¬
gener Streckung des eontracten Kniegelenkes der Unterschenkel sofort
leichenfarbig geworden und es musste später wegen trockener
Gangrän der Unterschenkel amputirt werden. Diese beiden Fälle sind
genesen.
In dem letzten Falle ist die Arteria poplitea gänzlich durch-
rissen worden.
Schiff und Freund demonstriren in Dr. E Schiffs Institut
für Radiographie und Radiotherapie 13 mit Röntgen behan¬
delte Patienten, und zwar:
2 Fälle von Favus,
4 „ „ Lupus vulgaris,
3 „ „ Sykosis,
1 Fall „ Lupus erythematodes,
3 Fälle „ Hypertrichosis.
Seit den letzten Mittheilungen über diesen Gegenstand lag es
in der Absicht S c h i f f’s und F r e u n d’s, weniger neue Indieationen
für die Radiotherapie aufzustellen, als vielmehr die bisherigen Er¬
fahrungen zu vervollkommnen und auf Grund derselben Verein¬
fachungen, respective Verbesserungen der Methodik einzuführen. Bei
dem gegenwärtigen Stande der Beobachtungen lässt sich Folgendes
sagen :
Lupus und Hypertrichosis sind Affectionen, die mittelst der
Röntgen- Bestrahlung unzweifelhaft radical zu beseitigen sind,
doch erfordern dieselben eine längere (bei Hypertrichosis D/2 Jahre
dauernde, jedoch intermittirende, bei Lupus eiue continuirliche) metho¬
dische Behandlung. Bei beiden Affectionen ist aber schon nach kurzer
Zeit ein Effect constatirbar, der dem günstigen Endresultate vollkommen
ähnelt.
Dieser ändert sich während der ganzen übrigen Behandlungs¬
dauer bei Consequonz des Patienten nicht; unterbricht jedoch der
Patient die Behandlung, so treten Recidiverscheinungen auf. Die fort¬
gesetzte monatelange Bestrahlung der normalen Haut bringt un¬
zweifelhaft atrophische Erscheinungen in derselben hervor, welche sich
durch geringe Unterschiede in der Farbennuance und winzige punkt¬
förmige Depressionen äussern.
Diese durchaus nicht auffälligen Veränderungen müssen jedoch
als Folgeerscheinungen der Bestrahlung aufgefasst und die Patienten
darüber belehrt werden, dass solche eventuell auftreten können.
Hervorgehoben muss werden, dass solche atrophische Veränderungen
keineswegs so entstellend wirken, wie die durch Elektrolyse erzeugten
Narben. In Anbetracht des letzteren Umstandes, sowie der Thatsache,
dass umfangreiche Hautbezirke in kurzer Zeit bereits enthaart sein
können und in absehbarer Zeit ein wirklich definitives, brauchbares
Resultat zu erzielen ist, stellen wir folgende Indication bei Hyper¬
trichosis: Für kleine behaarte Hautmäler, Warzen etc. wäre die Elek¬
trolyse vorzuziehen, grosse behaarte Hautpartien sind unbedingt mit
R ö n t g e n - Strahlen zu behandeln und dies mit Rücksicht auf die
Schmerzlosigkeit, das unauffällige, die Patienten nicht in ununter¬
brochener Behandlung haltende und wesentlich kürzere Verfahren gegen¬
über der Elektrolyse. (Demonstration ven Patienten.)
Bei Lupus vulgaris haben wir die letzten Fälle mit bedeutend
weniger Energie, und zwar nur mit Sitzungen von fünf bis zehn Minuten
Dauer, behandelt. Unter diesen Verhältnissen blieb eine entzündliche
Reaction fast vollständig aus, nichtsdestoweniger machte sich der
günstige Einfluss der Bestrahlung ebenso geltend, wie bei der früheren
intensiven Behandlung. Als Beweis hiefür wird ein Patient aus der
Klinik des Herrn Hofrathes Prof. Neumann demonstrirt, dessen
Gesicht zum grössten Theile von einem exulcerirten und stark infil-
trirten Lupusherde eingenommen war, welcher sich auf die Nasen- und
Mundschleimhaut fortsetzte und die Functionen dieser Organe stark
beeinträchtigte. Patient war für die Operation und Plastik bestimmt,
wurde aber hiefür von einer Abtheilung des Allgemeinen Kranken¬
hauses abgelehnt. Der Patient wurde uns nun vor fünf Wochen zu¬
gewiesen. Nachdem die frambösieformen Wucherungen an den Mund¬
winkeln mit dem scharfen Löffel entfernt worden, wurde Patient
täglich durch fünf Minuten bestrahlt. Wiewohl der Kranke gegenwärtig
noch keineswegs als geheilt zu betrachten ist, und man noch deutliche
Lupusknötchen bei ihm bemerken kann, ist der Unterschied zwischen
seinem jetzigen und dem ursprünglichen Status, wie aus der Photo¬
graphie zu constatiren, ein auffälliger: die infiltrirten Partien zumeist
abgeflacht, der ganze Herd von zahlreichen, flachen, breiten Narben¬
streifen durchzogen, die Uebergänge von der Haut zu den Schleim¬
häuten normal. Ein anderer Fall zeigt nach 39 Sitzungen ein ähnliches
günstiges Resultat, obzwar keinerlei operative Eingriffe vorgenommen
wurden. Derselbe wurde vor einigen Jahren von einem Chirurgen
schon mittelst Exstirpation und Transplantation behandelt, doch traten
in dem operirten narbigen Gebiete sehr umfangreiche Recidiven und
Exulcerationen auf (Demonstration von Photographien). Diese Partien
sind gegenwärtig nach der Röntgen- Behandlung vernarbt und wenn
auch in denselben noch Knötchen zu constatiren, so muss doch immer¬
hin das gegenwärtige Resultat als zufriedenstellend betrachtet werden;
wir zweifeln nicht, dass eine Fortsetzung dieser bisher kurzen Behand¬
lung auch die gegenwärtig noch vorhandenen kiaukbaften Erscheinungen
zum Schwinden bringen werde.
Gibt die Radiotherapie bei Lupus und Hypertrichosis schon so
günstige Erfolge, so müssen wir ihre Resultate bei Sykosis und Favus
als überraschend und auf das Vortheilhafteste sich von jenen unter¬
scheidend, die mit anderen Methoden erzielt werden, bezeichnen. Wir
konnten bei äusserst chronischen, Jahrzehnte lang dauernden und
wiederholt von verschiedenen Seiten behandelten Processen in wenigen
Wochen eine vollständige Abheilung beobachten. Die kranken Haut¬
stellen werden in der gewöhnlichen Weise bestrahlt und nach Ausfall
der Haare mit irgend einer Salbe oder einem Fette bestrichen. (De¬
monstration von Kranken aus den Ambulatorien der Hofräthe Kaposi
und Neumann.) Wir können nicht umhin, diese Methode nochmals
besonders für jene Gegenden zu empfehlen, wo mykotische Affectionen
des Haarbodens endemisch Vorkommen.
Zum Schlüsse sei noch zweier Erscheinungen Erwähnung gethan,
die wir als Folgen sehr intensiver Bestrahlung beobachteten. Die erste
betrifft ein Fräulein, das in Russland im Gesichte röntgensirt wurde
und eine heftige Dermatitis davon trug; nach Abheilung der letzteren
bildete sich im Gesichte und an der Brust eine grosse Narbe, in
welcher Gefässneubildungen in Form zahlreicher Teleangiektasien auf¬
traten. Das zweite auffällige Symptom constatirten wir bei einem
Kranken, der wegen Lupus im Gesichte bestrahlt wurde und bei dem
an einer Schläfe eine accidentelle Alopecie auftrat. Obgleich hier
sonst keine weiteren Entzündungserscheinengen bemerkbar wurden,
entwickelte sich eine überaus intensive Pigmentation an dieser Stelle.
Wir erinnern übrigens, dass wir schon früher auf die Alteration des
Pigmentes in der Haut und in den Haaren aufmerksam gemacht
haben. Schiff und Freund verweisen zu wiederholten Malen
darauf, dass bei der Röntgen- Bestrahlung jede auffällige Reaction
vermeidbar ist und Dermatitiden unter normalen Verhältnissen und bei
Einhaltung der richtigen Methodik nicht mehr befürchtet zu werden
brauchen.
Dr. Robert Breuer hält seinen Vortrag: Beitrag zur
Aetiologie der Basedo w’schen Krankheit und des
Thyreoidismus. (Der Vortrag erscheint als Originalmittheilung
in der Wiener klinischen Wochenschrift.)
Der Vorsitzende schliessf, nachdem sich die Mitglieder durch
Erheben der Hände damit einverstanden erklärt haben, die letzte
Sitzung vor den Ferien.
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
689
Nachtrag zum Protokolle der Sitzung der k. k. Gesell¬
schaft der Aerzte vom 8. Juni 1900.
Prof. Dr. Englisch: (Fortsetzung seines Vortrages.)
Wie verhält es sich nun bei vergrösserten Vorsteherdrüsen?
Wir finden genau dieselben Verhältnisse vor.
1. Vorsteherdrüsen mit zwei seitlichen Lappen ohne Mittel¬
lappen,
a) von gleicher Grösse,
b) von ungleicher Grösse, bald der rechte, bald der linke
grösser.
Besonders schön lassen sich diese Verhältnisse an rein aus¬
geschälten Vorsteherdrüsen zeigen. Sogar jene Form, bei welcher sich der
eine oder beide Lappen gegen den Harnröhrencanal vorwölben, finden
sich vorgebildet. Die verschiedensten Formen finden sich aber bei Vor¬
steherdrüsen mit drei Lappen vor.
Da es unmöglich ist, alle an Präparaten darstellbaren Formen
in der Versammlung vorzuführen, da dieses viel zu viel Zeit in An¬
spruch nehmen würde, so sollen nur die vorzüglichsten Formen vor¬
gelegt werden.
Wir unterscheiden:
1. Vergrösserung des mittleren Lappens, ohne Vergrösserung
der beiden Seitenlappen; letztere wieder d) gleich, b) ungleich.
2. Vergrösserung beider Seitenlappen bei kleinen mittleren
Lappen. Seitenlappen a ) gleich, b) ungleich.
3. Vergrösserung aller drei Lappen:
a ) alle gleichmässig,
b) der mittlere Lappen über wiegt; derselbe ist schon an
kleinen Vorsteherdrüsen deutlich nachweisbar und bildet
a) einen gestielten Lappen, d. h. einen solchen, welcher
mit schmaler Basis dem hinteren Umfange der inneren Harnröhren-
öffnung aufsitzt und sich, allmälig an Breite abnehmend, bis zum
Samenhügel fortsetzt;
ß) der mittlere Lappen bildet eine Art Wall um die
innere Harnröhrenöflfnung, und zwar beide entweder gleichmässig, oder
durch Einschnitte in mehrere Theile gesondert.
Alle diese Formen lassen sich an den vorliegenden Präparaten
von der kleinsten Vorsteherdrüse mit zur weitgehendsten Vergrösserung
verfolgen, so dass die Präparate eine zusammenhängende Kette
bilden.
Wenn wir demnach das Vorstehende zusammenfassen, so er¬
gibt sich :
1. Die verschiedensten Formen der Vorsteherdrüse finden sich
vom Neugeborenen durch alle Altersstufen.
2. Dieselben Formen finden sich in kleinen Vorsteherdrüsen und
vergrösserten.
Die äussere Form der vergrösserten Vorsteher¬
drüsen findet sich schon im Neugeborenen vor¬
gebildet, d. h. die äussere Form der vergrösserten
Vorsteherdrüsen ist in der Anlage derselben be¬
gründet.
Selbst die excessivsten Formen, sowie seltene Formen, zeigen
dieselbe Anlage.
Zum Beweise der Begründung der Form in der Anlage können
jene Präparate angeführt werden, wo sich im prostatischen Theile am
Winkel der horizontalen mit dem aufsteigenden Theile eine nach hinten
gerichtete Ausbuchtung findet. Diese Ausbuchtung, als der ver¬
grösserten Vorsteherdrüse angehörig und mit der Vergrösserung ent¬
standen, findet sich schon bei Neugeborenen.
Was Vergrösserung in ihren grössten Durchmessern anlangt, so
gibt die Betrachtung der Präparate:
1. Dass Vorsteherdrüsen mit blos zwei Lappen keine solche
Grösse erreichen, als dreilappige.
2. Jene Vorsteherdrüsen werden umso grösser, in welchen die
Drüsensubstanz überwiegt. Daher die adenoide Form die grössten
Exemplare aufweist, die geringsten Vergrösserungen jene, in welchen
die Muskelmasse überwiegt.
Da die dreilappigen Vorsteherdrüsen ent¬
schieden schon in der Entwicklung eine grössere
Vitalität zeigen, als die zweilappigen, so lässt sich
die enorme Grösse, welche dreilappige Vorsteher¬
drüsen erreichen können, aus grösserer Vitalität
derselben gegenüber den zweilappigen erklären.
In einom zweiten Vortrage werden die näheren anatomischen
Verhältnisse in Betrachtung gezogen werden, sowie jene Umstände,
welche auf die Vitalität Einfluss nehmen können.
Dazu kommen noch Formen, die in einer excessiven Anlage des
einen oder anderen Lappens begründet sind. Auch für diese Formen
wurden die entsprechenden Reihen der Präparate, wie für alle obigen
Darstellungen, vorgelegt.
Wiener laryngologische Gesellschaft.
Sitzung vom 3. Mai 1900.
Vorsitzender: Docent Dr. Rotli.
Schriftführer : Dr. Karl AI ülloi*.
I. Dr. Ebstein demon strirt ein Compressorium
für Blutungen nach Tonsillotomie, angegeben von
Dr, Michele Depangher in Triest.
Das vorliegende Instrument besteht aus zwei, in einem Charnier
beweglichen flachen Armen, die geschlossen eine langgestreckte Huf¬
eisenform haben. An der Grenze des hinteren und mittleren Drittels
wird die (beim Einfuhren des Instrumentes zu öffnende) Verbindung
zwischen den Armen durch eine bewegliche Flügelschraube hergestellt,
welche nach Einsenken in einen Spalt durch Zuschrauben die Arme
einander nähert. Am vorderen Ende der Arme ist je ein 2 cm langer
Schlitz angebracht, der die Pelotten trägt. Beide sind dadurch um
diese Distanz gegeneinander verschiebbar. Die äussere, an den Kiefer¬
winkel anzulegende, ist halbmondförmig gebogen, die innere ist eine
schräg auf dem Führungsstab aufsitzende runde Platte, die mit Jodo¬
formgaze zu polstern ist. Durch diese geneigte Stellung, die mittelst
einer Schraubenmutter nach verschiedenen Richtungen gewendet werden
kann, soll bezweckt weiden, dem Orte der Blutung das Instrument
genauestens anzupassen. Dies soll auch dadurch unterstützt werden,
dass durch geeignete Fixirung der beiden Pelotten in verschiedenen
Frontalebenen mit Hilfe der beiden Schlitze eine senkrechte Druck¬
richtung resultirt.
Discussion: Docent Dr. L. R e t h i : Bei dem vorgezeigten
Apparate sind — von vornherein wenigstens — die grosse Beweglich¬
keit der einzelnen Theile und die vielen zum Fixiren bestimmten
Schrauben kein Vorzug gegenüber dem M i k u 1 i c z’schen Compressor.
Bei Instrumenten, die energisch zugreifen und wirken sollen, ist es
besser, wenn sie möglichst aus einem Stücke gearbeitet sind. Von
Vortheil könnte wohl die excentrisch angebrachte und nach verschiedenen
Richtungen einstellbare grösste Convexität der Pelotte sein, aber ob
sie auch ganz genau auf der blutenden Stelle festgehalten werden kann,
ist fraglich; ist dies nicht der Fall, so geht der Vortheil einer ex¬
centrisch angebrachten Convexität verloren und ist eine Pelotte mit
gleichmässig convexer Oberfläche vorzuziehen.
Docent Dr. M. Hajek: Ich kann natürlich nicht sagen, ob die
von Dr. Ebstein hervorgehobenen Modifieationen des demonstrirten
Instrumentes sich in der Praxis als Vortheile erweisen werden. Ich
möchte nur kurz über zwei Fälle von Tonsillarblutung referiren. In
einem Falle konnte ich die Blutung auch durch das M i k u 1 i c z’sche
Compressorium nicht stillen; trotz zwölfstündigen Verharrens des Com-
pressoriums sickerte das Blut von allen Seiten hervor. Da kam mir
die Idee, durch Hervordrängen der Weichtheile in der Submaxillar-
gegend der blutenden Seite gegen den Pharynx zu die blutenden
Stellen besser zugänglich zu machen, und nach Abtupfen mittelst
Peans die blutenden Partien en masse zu fassen, was mir auch
gelang. Nach Verweilen der Peans zwei Stunden hindurch stand die
Blutung vollkommen. Auf Grund dieser Erfahrung wandte ich die
beschriebene Methode in noch einem Falle an, ebenfalls mit gutem
Erfolge.
Dr. Weil wendet zur Stillung schwerer Nachblutungen nach
Tonsillotomie einen sehr einfachen, und wie ihm scheint, wenig be¬
kannten Kunstgriff an. Er stellt aus gewöhnlichem weichem Brennholz
einen Wattepinsel her, drückt die mit Tannin oder Alaunpulver
reichlich bestreute Watte fest gegen die blutende Stelle und lässt dann
den Kranken kräftig zusammenbeissen und so den Pinsel an seinem
breiten, mehr spatelförmigen äusseren Ende durch die Eck- und
Backenzähne der entgegengesetzten Seite fixiren; er hat Operirte bis
zu zwei Stunden so sitzen lassen und bisher noch niemals noting
gehabt, ein Compressorium anzuwenden. Zwischendurch kann man auch
Trichloressigsäure appliciren, die in mittelschweren Fällen allein
ausreicht.
Docent Dr. L. R e t h i : Das Fassen der blutenden Stelle ist in
Fällen, in denen eine mehr oder weniger vollständige Entfernung der
Tonsille vorgenommen wurde, nicht leicht möglich, namentlich dann,
Avenn die Abtragung in der Ebene der Kapsel stattfand; und gerade
in diesen Fällen kann es zu stärkeren Blutungen kommen, weil das
Lumen des Gefässes, wie O. Zuckerkandl zeigte, durch die straffe
Kapsel offen erhalten wird.
Docent Dr. Hajek: Die Untersuchungen Zuckerkand l’s
über die Tonsillarblutung geben Aufschluss über die Ursache und
nicht über die Stillung der Blutung. Warum die Blutung in einzelnen
Fällen sehr stark ist, lässt sich ja gleich nach der Tonsillotomie selten
feststellen, und es eväre auch sehr miissig, darüber Untersuchungen
anzustellen, da man ja die Blutung stillen soll. Ob die Blutung aus
den Tonsillenresten oder aus der verletzten Kapsel der Tonsille her¬
rührt, ist, w’enn man das Gewebe en masse fasst, gleichgiltig. Haupt¬
sache ist Compression der blutenden Partien.
590
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 25
Dr. Ebstein: So weit ich meinnr Meinung vor einer Erpro¬
bung des Instrumentes Ausdruck geben darf, möchte ich die An¬
bringung einer in verschiedener Stellung zu fixirenden und zu neigenden
inneren Pelotte als sehr zweckmässig betrachten. Ein Druck nach
einem gewissen Punkte hin erscheint dadurch gewiss möglich. Im
Uebrigen muss natürlich die Erprobung den praktischen Werth er¬
weisen.
II. Dr. Ebstein berichtet ferner über einen Fall
der Klinik, bei dem de n E rscheinungen eines E m-
]) v e m s der hinteren Siebbeinzellen und Keilbein-
höhle eine ausgebreitete Caries tuberculosa des
Keilbeines zu Grunde lag.
Der 25jährige Patient, der seit vier Jahren an eiterigem Aus¬
flüsse aus der rechten Nase und Kopfschmerzen litt, wiederholt
anderwärts operirt worden war, kam am 21. Februar zur Aufnahme,
und bot, abgesehen von Dämpfung über dem linken überlappen der
Lunge und Tuberkelbacillen im Sputum, rec.hterseits einen Nasen¬
befund, der zur Annahme eines hinteren Siebbeinempyems, eventuell
mit Keilbeinhöhlenempyem verbunden, berechtigte. Das vordere Drittel
der mittleren Concha fehlte, der mittlere Nasengang vorne mit glatter
Schleimhaut überzogen.
Hei der Rhinoscopia posterior war ersichtlich, dass der Strom
des Eiters sich aus dem oberen Nasengang herleitete.
Die eingeleitete Therapie bestand zunächst darin, dass die
Granulationen im hinteren Theile des mittleren Nasenganges und der
restliche Theil der mittleren Muschel abgetragen wurden. Aus den er-
öffneten Siebbeinzellen entleerte sich eine Menge Eiter; auch aus der
Keilbeinhöhle liess sich eiteriges Secret, ausspritzen. Auffallend war
schon zu dieser Zeit eine Rauhigkeit der vorderen Keilbeinfläche. Das
stinkende Secret entsprach dem bei einer Knochennekrose, und war
sehr reichlich. Entsprechende Nachbehandlung in der Folge.
Seit Mitte März begann Patient unter Verschlechterung dos
Lungenbefundes heftig zu fiebern. Gegen Ende März konnte ein ge¬
lockertes Knochenstück in der Keilbeingegend constatirt werden,
welches, entfernt, eine Länge von 2 cm, Breite lcm zeigte. Von da an
nahm Secret und Fötor ab, der quälende Kopfschmerz verschwand
vollständig.
In den ersten Tagen des April klagte Patient über Schmerzen
in der Halswirbelsäule und Schwerbeweglichkeit des Kopfes. Unter
einer Febris continua in der nächsten Woche rapider Verfall unter
Zunahme der Schmerzen. Der Kranke konnte sich ohne Stützung des
Kopfes überhaupt kaum bewegen. Am 16. April trat Regurgitiren der
Speisen unter grossen Schmerzen auf. Die Untersuchung zeigte damals
eine an der hinteren Pharynxwand bis zum Larynx hinabreichende,
düster geröthete Mucosa, eine convexe Vorwölbung von teigig weicher
Consistenz nebst starker Druckschmerzhaftigkeit. Unter den Erschei¬
nungen der Herzparalyse starb Patient am 19. April.
Die Obduction ergab nekrotisirende Caries tuberculosa des
Keilbeines, den Körper desselben von käsigen Massen durchsetzt,
eiterig-jauchige Affection der Keilbeinhöhle und der Siebbeinzellen,
absteigende retropharyngeale stinkende Phlegmone. Cariöse Ver¬
änderungen im Epistropheus. Beginnende Pachymeningitis in der
hinteren Schädelgrube. Im Uebrigen fanden sich tuberculöse Erkran¬
kungen in den Lungen, den Lymplidrüsen, im Darme.
Von grossem Interesse ist bei dem Falle der Umstand, dass die
Erscheinungen, die der Patient zunächst bot, die eines chronischen
Empyems waren, und dass erst der weitere Verlauf einen cariösen
Process auf tuberculöser Grundlage erwies. Nach dem Obductions-
befunde ist es wahrscheinlich, dass der Patient beim Fortschreiten des
Processes an einer Meningitis zu Grunde gegangen wäre, wenn nicht
die absteigende jauchige Phlegmone eingetreten wäre.
Discussion: Docent Dr. M. Ilajek: Der Fall Ebstein’s
ist dadurch besonders bemerkenswert!), dass eine tuberculöse Erkran¬
kung des Knochens und der Höhlenschleimhaut vorliegt; diese Fälle
sind sehr selten.
Dr. Weil fragt, ob Vortragender nicht den Eindruck ge¬
wonnen habe, dass die Rachenphlegmone und Sepsis unmittelbar durch
die Sequesterextraction und die damit verbundenen unvermeidlichen
Verletzungen hervorgerufen worden sei und ob die Section nicht be¬
stimmte Anhaltspunkte nach dieser Richtung hin geboten habe.
Dr. Ebstein: Auf diese Anfrage kann ich erwidern, dass die
vorderen Siebbeinzellen nicht erkrankt waren. Auch das Vorkommen
der erwähnten Granulationen und des Eiters hinten im mittleren
Nasengange spricht nicht dagegen, weil der Eiter, und damit die
Granulationsbildung, nicht einen streng vorgezeichneten Weg
nehmen.
Nachdem es sich um eine tuberculöse Caries handelt, ist es
wohl ausgeschlossen, dass die Lockerung und Extraction des Sequesters
an und für sich ein Fortschreiten des Processes nach abwärts bewirkt
haben können.
Docent Dr. Rethi weist auf die grosse Seltenheit der Neben-
höhlentubercuiose hin; es sind bisher im Ganzen 16 Fälle bekannt
geworden, und zwar neunmal Tuberculöse der Kieferhöhle und einmal
der Stirnhöhle. In sechs Fällen, von denen zwei durch Rethi be¬
kannt wurden, war eine tuberculöse Knochenaffection vorhanden, fünf¬
mal mit Empyem, einmal ohne ein solches; in drei Fällen bestand
keine nachweisbare Knochenerkrankung, doch wurden Tnberkel-
bacillen im Eiter gefunden. Eine tuberculöse Keilbeinhöhlenerkrankung
ist bisher nicht bekannt geworden.
III. Dr. Karl Müller demonstrirt eine von ihm exstirpirte
Dermoidgeschwulst, die vom weichen Gaumen einer 37jährigen Pa¬
tientin stammt. (Erscheint demnächst ausführlich.)
Verein deutscher Aerzte in Prag.
Sitzung vom 26. Januar 1900.
Vorsitzender: Prof. Gad.
Schriftführer: Dr. Scheib.
Dr. Scheib beschreibt einen Fall von eiteriger Meningitis, die
im Anschluss an eine beiderseitige Otitis media suppurutiva bei einem
8 Tage alten Mädchen aufgetreten war, welcher wegen seines bacterio-
logischen Befundes besonderes Interesse in Anspruch nimmt. Verfasser
fand sowohl in Ausstrichpräparaten vom Eiter aus den beiden Pauken¬
höhlen wie dem Meningealeiter eine einzige Art von kurzen, an den
Enden abgerundeten Bacillen, die auch in mikroskopischen Schnitten
der eiterig infiltrirten Meningen in reichlichster Menge vorhanden waren;
grösstentlieils waren dieselben intracellular gelagert und entfärbten
sich alle nach der G r a m’schen Methode. Behufs Frage der Identi-
ficirung dieses Mikroorganismus konnte durch das cult.urelle Verfahren
mit Rücksicht auf die absolute Unbeweglichkeit des Bacillus, das
ausserordentlich üppige Wachsthum auf allen Nährböden, das intensive
Gährungsvermögen, die mangelnde Indolreaction, das nagelförmige
Wachsthum in Gelatinestichen das Bacterium coli commune aus¬
geschlossen werden. Vom Bacillus pneumoniae Friedländer unter¬
schied sich der in Frage stehende Bacillus durch sein üppiges Gährungs-
vormögen und die fehlende Braunfärbung des Nährbodens in alten
Gelatinestichculturen.
Daher glaubt Scheib den in Reincultur aus dem Meningealeiter
gezüchteten Bacillus auf Grund der erwähnten Merkmale und seiner
hochgradigen Pathogenität Mäusen, Meerschweinchen und Kaninchen
gegenüber mit dem von Esche ric h zuerst beschriebenen Bacillus
1 a c t. i s aerogenes identificiren zu müssen, welcher bisher nur als
Erreger von Cystitis, Pyelitis und Pyelonephritis beschrieben wurde.
*
Sitzung vom 2. März 1900.
Vorsitzender: Prof. Gad.
Schriftführer: Dr. Schenk.
Dr. P i e r in g : U e b e r manuelle Behandlung (T h u r o
H r a ndt-Sc h a u t a) in der Gynäkologi e. Gegenüber der
Unterschätzung und sogar der directen Ablehnung seitens einzelner
neuerer Autoren (Olshauscn) erscheint es wichtig, von Neuem auf
den wirklich hohen Werth und die grosse praktische Bedeutung der
manuellen Behandlung hinzuweisen. Der heilgymnastische Theil des
B r a n d t’schen Verfahrens ist allmälig eingeschränkt, dann fast, ganz
weggelassen worden; sowohl die physiologischen Erklärungsversuche,
als die klinische Erfahrung ergaben, dass die Wirkung der manuellen
Behandlung durch diese Weglassung (mit wenigen Ausnahmen) nicht
weiter beeinträchtigt wurde. Die Ausführung der Bewegungen geschieht
am besten in einem medico-mechanischen Institute (Sänger), da
privat die nöthige Ausdauer leicht erlahmt. Die Technik der manuellen
Behandlung ist heute eine feststehende, die mannigfachen Aenderungen
haben sich nicht einzubürgern vermocht, nur die Zitterdrückung (mit
Uterushebung), wie sie von K u m p f bei Atonia uteri mit so grossem
Erfolge angewendet wurde, ist eine werthvolle Bereicherung, ebenso
die Sänge r’sche instrumentale Zugmassage. Das Kriterium für die
richtige Ausführung der manuellen Behandlung ist, dass die Patientin
weder während, noch nach der Behandlung Schmerzen haben darf. IJeble
Folgen oder Schädigungen sind bei richtiger Auswahl der Fälle und
nach gewisser Ausführung unbedingt zu vermeiden. Absolute Gegen¬
anzeigen sind: 1. alle acuten und fieberhaften Entzündungen (frische
Exudate); 2. gonorrhoische Infection (ebenso septische) mit Eitersaek-
bildung; 3. Allgemeinerkrankungen, z. B. Tuberculöse u. s. w. ;
4. Neoplasmen (auch extrauterine Schwangerschaft); 5. hochgradige
Erregung des Nervensystemes (Vaginismus). Relative Gegenanzeigen
sind: Gravidität und Menstruation. Nur bei hartnäckigen Fixationen
ist die manuelle Behandlung gerade während der Regel von Vortheil.
Unzweifelhafte Erfolge gibt die manuelle Behandlung 1. bei chronischer
Entzündung des Beckenzellgewebes mit oder ohne Dislocation des
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
591
Uterus, ältere Parametritis exsud. Bei Parametritis exsud. muss das
acute Stadium genügend lange vorüber sein, es dürfen keine Tempe¬
ratursteigerungen und keine Druckempfindliclikeit mehr vorhanden sein,
kein Verdacht eiterigen Inhaltes. In veralteten Fällen muss die Behand¬
lung genügend lange fortgesetzt werden. Auch wenn es nicht gelingt,
die Verwachsungen zu beseitigen, ist mit der Besserung oder Heilung der
Beschwerden doch das Ziel der Behandlung erreicht; 2. Lageveränderungen
des Uterus. Wenn Kumpf unter 82 fixirten Retrodeviationen GG,
Hertzsch unter 64 Fällen sogar 62 Heilungen erzielte, so sind das
Zahlen, geeignet, das ungünstige Urtheil 0 1 s h a u s e n’s zu entkräften.
Jeder Köliotomie wegen Retroflexio muss ein rationelle Massagebehand¬
lung vorausgehen; 3. Metritis chronica; 4. Dislocation und Fixation
der Ovarien. Weniger sicher sind die Erfolge; 5. bei Hämatokelen,
welche erst sehr spät in Angriff genommen werden dürfen; 6. weiter
ist von Werth die manuelle Behandlung bei Erschlaffung des mus-
culösen Apparates (Descensus, Prolaps). Hier wurden die Erwartungen
aber am wenigsten erfüllt. Sicher ist die Wirkung 7. bei Sterilität
in geeigneten Fällen, und 8. bei Salpingitis, jedoch nur in Fällen, wo
leichte Verdickungen der Tube, jedenfalls aber keine Eiteransammlung vor¬
handen ist und so weder die Schwere der Symptome, noch die sociale
Stellung der Patientin einen Eingriff erheischt. Die guten Erfolge
Schauta’s in solchen Fällen kannPiering bestätigen, doch eignet
sich die manuelle Behandlung in diesen Fällen nicht für den praktischen
Arzt. Genaue Diagnose ist besonders hier unerlässliche Vorbedingung. Wählt
man die Fälle richtig aus und hält man sich streng an die Vorschriften,
so wird Jeder, der diese Heilmethode übt, ihr Erfolge danken, welche
ihn berechtigen, den Worten Schauta’s beizustimmen: „Die Massage
ist mir selbst bei mehrjähriger Anwendung ein unentbehrliches thera¬
peutisches Hilfsmittel geworden, und ich würde heute geradezu eine
Lücke in meinem ärztlichen Können empönden, müsste ich die Massage
entbehren.“
Dr. Leo Schwarz: Vorstellung eines Falles von Syringomyelie.
25jähriges Mädchen. Seit 12 Jahren krank; damals fiel sie aus einer
Höhe von 2 1j%m auf den Boden, fiel mit der rechten Schulter auf,
konnte sofort allein aufstehen und ihrer Beschäftigung nachgehen. Keine
Schmerzen. Erst späterStechen in der rechten Schulter. Einen Monat nach
dem Fall bemerkt die Umgebung, dass die rechte Schulter höher und ein
rechtsseitiger Rippenbuckel vorhanden ist, welche Veränderungen nach
einem Jahre die jetzige Ausbildung erreichen. Zwei bis drei Monate nach
dem Fall Schwellungder kleinen Gelenke der rech ten, später der linken Hand;
nach einem Jahre auch die Veränderungen beider Hände voll entwickelt.
Erst vor D/2 Jahren wieder Gelenksschwellung am kleinen Finger;
nie Schmerzen, nur leichte Parästhesien im rechten Arme. Jetzt be¬
steht beiderseitige hochgradige Atrophie sämmtliclier kleinen Hand¬
muskeln; Atrophie der Vorder- und Oberarme und des Schultergürtels
besteht nicht. Steigerung der Patellarsehnenreflexe, so dass beim An¬
schlägen der einen Sehne auch ein Mitzucken des anderen Fusses er¬
folgt. Die linke Pupille ist constant etwas weiter als die rechte
(1 — D/a mm Differenz). Ueber dem Rippenbuekel eine hühnereigrosse
pigmentlose Hautnarbe, welche von einer Verbrennung herrührt, die
sich Patientin durch Anlehnen an einen heissen Ofen zuzog; erst als
die Kleider brannten, bemerkte sie den Vorfall. Im Bereiche der
oberen Extremitäten, des Rumpfes bis in Nabelhöhe Verminderung der
Wärme- und Kälteempfindung und Hypalgesie, während Tast- und
Drucksinn normal sind. Leichte Beugecontractur der Finger, active
Beugung und Streckung nicht möglich. Elektrische Untersuchung der
atrophischen Theile (an denen auch fibrilläres Jucken beobachtet wurde)
ergibt vollkommene Unerregbarkeit; die Musculatur ist eben ganz
geschwunden.
Es handelt sich um einen Fall von Syringomyelie, bei dem die
Rückenmarksveränderungen in der ganzen Ausdehnung vom dritten Cer-
vicalsegmeut bis zum zehnten Dorsalsegment zu suchen sind. Interessant
sind in diesem Falle: das frühzeitige Auftreten der Kypho-Skoliose, die
Pathogenese, insoferne als das Trauma offenbar eine sehr wichtige
Rolle in diesem Falle spielt, die lange Constanz, das so lange Jahre
fast unveränderte Bestehen der Erscheinungen.
*
Sitzung am 9. März 1900.
Vorsitzender: Prof. Gad.
Schriftführer: Dr. Scheib.
Docent Dr. Münzer: Ueber langdauernde Fieber-
zustände unklaren Ursp rungs (Endocarditis septic a.
Aufgabe der vorliegenden Mittheilung ist es, die Aufmerksam¬
keit der Collegen auf die in der Privatpraxis gar nicht so selten zu
beobachtenden, langdauernden unklaren Fieberzustände zu lenken und
zu erhöhtem Studium dieser Fälle anzuregen, andererseits eine Gruppe
dieser Fälle, die Endocarditis chronica (recidivans) septica (Litten),
speciell hervorzuhebeu, da es sich hier um ein wohlbekanntes, nur zu
wenig gewürdigtes Krankheitsbild handelt.
Zunächst sei eine Reihe casuistischer Beobachtungen mitgetheilt,
die sich kurz folgendermassen resumiren lassen:
1. Fünfjähriger Knabe R., bisher gesund; Beginn mit leichtem
Fieber, Appetitlosigkeit und fortwährendem Hustenreiz; schliesslich
ausserordentlich gesteigerte Athem- und Herzfrequenz, starke Cyanose;
Exitus nach circa dreimonatlicher Krankheitsdauer am 3. März 1896.
Im Auswurfe keine Tuberkelbacillen. Diagnose: unklar; Tuberculose
unwahrscheinlich. Gastrointestinale S e p s i s ?
2. 6 ljähriger Herr M. erkrankt Ende October 1895 unter
leichtem Fieber an Husten und Schnupfen; später Blasenparalyse, Ik¬
terus, starke Leberschwellung, Entwicklung kleiner Ilautabscesso; dann
Schwindon aller Localsymptome bei andauernden
abendlichen Fieber Steigerungen. Allmäliger Rückgang
des Fiebers, vollständige Heilung. Dauer der Krankheit über fünf
Monate. Diagnose : unsicher ; pulmonale Sepsis?
3. 28jährige Frau F. erkrankte im letzten Monate der ersten
Schwangerschaft (December 1895) an einer Pleuritis diaphragmatica,
deren Symptome auf Salicyl prompt zurückgehen; zweimal auftretende
leichte Recidiven schwinden sofort bei neuerlicher Darreichung der
Salicylpräparate. Normale Entbindung und Wochenbett. Drei Monate
später allgemeine Gelenkschwellungen und Steifheit der Gelenke; häu¬
fig Fieber. Alle Versuche, den Rheumatismus zu bekämpfen, sind ver¬
geblich. Juli 1896 Pericarditis sicca, die rasch abheilt. Vom
März 1897 an ausserordentliche Abmagerung, schliesslich nach mehr
als zweijähriger Krankheitsdauer Exitus an Erschöpfung am 16. Fe¬
bruar 1898. Im Auswurfe keine Tuberkelbacillen. Diagnose: Rheu¬
matismus febrilis recidivans (septicu s?).
Die nun folgenden Fälle bilden eine gemeinsame Gruppe:
4. 25jähriger Herr II. Im Jahre 1893 Polyarthritis acuta
mit nachfolgender Aorteninsuff icienz; October 1895 Schnupfen,
Husten, leichtes Fieber; Schmerzhaftigkeit der Fingergelenke. Von da
an langdauernder Fieberzustand, für welchen sich kein Grund nach-
weisen liess ; hie und da Schüttelfrost. Die anfängliche Diagnose Ty¬
phus wurde bald fallen gelassen und eine Endocarditis chro¬
nica recidivans (septica) angenommen; endlich trat Leber- und
Milzschwellung ein und Exitus nach achtmonatlicher Krankheitsdauer.
5. 28jähriger Herr II. in K. 1883 und 1891 acuter Ge¬
lenkrheumatismus mit consecutiver Aorteninsufdcienz ; seit 1890
Albuminurie. 3. November 1896 Beginn des Fiebers, von da an täg¬
liche abendliche Fiebersteigerungen; starke Müdigkeit in den Beinen;
Schmerzen bei Beklopfen der Tibiae; hie und da vorübergehende Ge¬
lenkschmerzen, starke Milzschwellung. Im Blute keine Leukocytose,
keine Malaria. Tod am 3. April 1897 nach siebenmonatlicher Krank¬
heitsdauer. Diagnose : Endocarditis chronica recidivans
(septica).
6. GOjähriger Herr B. Im Winter 1 898 Muskel r h e u m a t i s-
mus (linksseitiger Lumbago); im Anschluss daran Entwicklung einer
geringen Endocarditis. In der Sommerfrische plötzlich Eintreten von
Fieber, sehr bald Schüttelfröste, die immer wiederkehren; dabei der
Körperbefund ganz negativ, nur im Augenhintergrunde des rechten
Auges Netzhautblutung; im Blute keine Leukocytose; keine
Malaria ; schliesslich Geräusche in der Aorta. Wenige Tage vor dem
Tode Sopor, schliesslich tiefstes Koma. Diagnose: Endocarditis
(chronica) septica.
7. 28jähriger Herr Sch. Seit Kindheit mit Schüttelfrost ein¬
setzende Anfälle paroxysmaler Hämoglobinurie; in den
letzten zwei Jahren hie und da Schüttelfröste ohne Hämoglobinurie
und anschliessend mehrtägiges Fieber, so vor zwei Jahren (1897); da¬
mals wurde anfangs Typhus vermuthet, bis das plötzliche Schwinden
des Fiebers die Diagnose unsicher machte, dann in ähnlicher V eise
im nächsten Jahre (1898); um diese Zeit schon etwas unreiner erster
Herzton. 22. September 1899 neuerdings Fieber, grosse Mattigkeit.
„Füsse wie Blei“. Objectiver Befund negativ, bis auf das erste Ge¬
räusch an der Herzspitze, das jetzt sicherer war als früher. Das Fieber
von jetzt ab continuirlich, nach einigen Wochen beginnen sich
Schüttelfröste einzustellen, Schmerzen in den Gelenken, bald
da, bald dort. Die anfängliche Diagnose schwankte zwischen Malaria,
Typhus, septischem Rheumatismus. Untersuchung auf Typhus (Widal;
Piorkowski, im Stuhle) negativ; dagegen Malariaplasmodien im
Blute; entsprechende Chinintheiapie, Arsen, dann Methylenblau: kein
Erfolg. Die Schüttelfröste häufen sich, Milzinfarct, pleurale
Reizungen treten ein. Die Geräusche an der Herzspitze nehmen
zu, auch an der Aorta werden solche hörbar. Nochmalige Blutunter¬
suchung ergibt bezüglich Malariaplasmodien ein negatives
Resultat, dagegen wächst in allen Culturen der Staphylococcus
pyogenes albus. Exitus am 17. Januar 1900 nach viermonatlicher
Krankheitsdauer. Diagnose: Endocarditis chronica septic a.
Die Zuletzt mitgetheilten vier Fälle zeigen, dass es unter den ver¬
schiedenen Formen der chronischen fieberhaften Erkrankungen eine
wohl chavakterisirte gibt, die wir nach dem \ orschlage Lit tens als
Endocarditis septica bezeichnen können, ein Krankheitsbild,
592
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
>7 - S.'.
Nr. 25
das vor Allem von Litten, dann von v. Leyden und Heubner
eingehend beschrieben wurde und bezüglich dessen wir vor Allem
daran festhalten wollen, dass die Endocarditis höchst wahr¬
scheinlich nur ein Symptom der vorhandenen S epti-
k ä m i e dar stellt.
Es zeigen drei der mitgetheilten Fälle sicher rheumatische
Aetiologie (oder Combination)?, bei zweien war die Endocarditis nach
acutem Gelenksrheumatismus, bei einem nach Muskelrheuma einge¬
treten und nur in einem, dem letzten Falle, fehlt jede diesbezügliche
Angabe. Es kann also die septische Erkrankung des
Endocards auch ohne Vermittlung einer Gelenks¬
erkrankung e i n t r e t e n, wie das Trousseau (Medicinische
Klinik. III, 322) für die rheumatische Endocarditis
betonte.
Nochmals sei hervorgehoben, dass Herzerscheinungen im Be¬
ginne der Erkrankung fast regelmässig fehlen; man darf also zur Dia¬
gnose diese Affection nicht auf Erscheinungen gestörter Herzaccommo-
dation rechnen; die Diagnose stützt sich auf den Fieber ver¬
lauf (anfangs abendliche Fiebersteigerungen, späterhin erratische
Schüttelfröste), die Milzschwellung (Milzinfarct), p a s s a-
g e r e Gelenks- und Knochenschmerzen, II a u t b 1 u t u n-
gen, Netzhautblutungen. Differentialdiagnostisch kommt anfangs Ty¬
phus, später Tuberculose und Malaria in Frage; es wird nicht allzu
schwer sein, in der grossen Mehrzahl der Fälle diesbezüglich zur
Klarheit zu kommen. Die Prognose ist ernst, aber nicht in jeder
Attaque von vorneherein letal. Bezüglich der Therapie heisst es
vor Allem, alle Erregungen thunlichst zu vermeiden, blande
Diät und strenge Bettruhe.
Schliesslich dürfte die Frage des Zusammenhanges der rheuma¬
tischen Infection mit der septischen Endocarditis interessiren. Der
Zusammenhang zwischen Rheumatismus und Endocarditis ist allgemein
anerkannt; dass die Endocarditis rheumatica bacteriellen Ursprungs,
entspricht der Ansicht der überwiegenden Mehrzahl der Bearbeiter
dieser Frage; die gleichen Mikroorganismen als bei der rheumatischen
findet man auch bei der septischen Endocarditis. Auch klinisch scheint
es, wenn ein Kranker mit Endocarditis rheumatica ein fieberhaftes
„Recidive“ bekommt, unter den oben mitgetheilten Umständen unmög¬
lich, festzustellen, wie lange wir es mit einem Recidiv des Rheuma
zu thun haben, respective wann der Zustand als septische Erkrankung
aufzufassen ist. Es bestehen also zweifellos Ueb ergänge
der rheumatischen Infection in eine solche septi¬
schen Charakters und demnach hält der Autor es für berech¬
tigt, eine gewisse Zusammengehörigkeit zwischen
der rheumatischen und der septischen Endocarditis
anzunehmen.
I. Dr. F. Schl eis sn er demonstrirt einen typischen Favus
bei einem Neugeborenen, bei welchem die Erkrankung am achten
Lebenstage aufgetreten und innerhalb einiger Tage sich über den
ganzen Kopf, Gesicht, Hals und Oberkörper ausgebreitet hat. Bei
näherer Untersuchung fand man bei der Mutter des Kindes Favus des
behaarten Kopfes, der aber seit Jahren stationär war. Ein zweiter
Säugling, der nur kurze Zeit mit dem erkrankten in demselben Bett-
chen gelegen hatte, zeigte sechs Tage später dieselbe Affection. Soviel
dem Demonstrirenden bekannt, wurde bisher in der Literatur Favus
bei Säuglingen nicht erwähnt. Diese sind, offenbar durch die Beschaffen¬
heit ihrer Haut, sehr disponirt, wie man bei beiden Fällen sieht, wo
die Uebertragung so rasch erfolgte, während bei Erwachsenen der
Favus für sehr schwer übertragbar gilt.
II. Dr. Luk sch demonstrirt Präparate von einem Fall von
Hermaphroditismus spurius masculinus internus.
54 Jahre altes Individuum, das 1880 in die Irrenanstalt auf¬
genommen worden war. Ein kräftig gebauter Mann mit stark ent¬
wickeltem Barte, Hals und Brust männlich, Penis, Hodensack normal.
Links im llodensack Hernie, kein Hode; rechts ein bohnengrosser
Körper zu tasten. Paranoia chronica, starb October 1899 an Tuber¬
culose. Section zeigte geräumigen Kehlkopf, gut gewölbten Thorax,
llodensack enthält beiderseits keinen Hoden, besonders links Hernien.
Chronische Tuberculose, serös-eiterige Peritonitis durch Perforation
eines tuberculösen Darmgeschwüres. Von der normalen Prostata auf¬
steigend ein 2 cm breites Muskelbündel, welches 1 cm über den Blasen¬
scheitel emporsteigt und ein eigenes Mesometrium besitzt; es ist 10cm
lang. Dieses Gebilde entspricht dem Uterus, beiderseits entspringen
demselben die Tuben; die linke Tube geht in den Leistenbruch,
wendet sich dann oben und endet ohne Fibrien und ohne abdominale
Oeffnung; etwas kleiner ist die rechte Tube. Hinter den Tuben, vom
Peritoneum überzogen, ein hodenähnliches Gebilde; von Ovarien auch
mikroskopisch keine Spur. Neben dem Uterus, parallel mit demselben
und unten mit ihm zusammenfliessend, jederseits ein Vas deferens.
Mikroskopisch hochgradige Hypoplasie des Hodens wie bei fibröser
Degeneration. Der Uterus zeigt ein Lumen, das sich vom Utriculus
prostaticus aus sondiren lässt. Aeussere Genitalien, ebenso wie Prostata
und C o w p e r’sche Drüsen normal.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
in München.
Vom 17. bis 22. September 1899.
(Fortsetzung.)
Section für Kinderheilkunde.
Referent Dr. B. Bend ix (Berlin).
II. Sitzung, Dienstag, den 19. September 1899.
Vorsitzender: Heubner.
IX. Leo (Bonn): Ueber Tympanitis bei Kindern.
Gasauftreibungen des Abdomens treten bekanntlich im Säuglings¬
alter häufiger auf, als im späteren Kindesalter und bei Erwachsenen.
Zwei Momente kommen als Ursache dieser Erscheinung in Betracht.
Erstens die geringere Widerstandsfähigkeit der Wandung des Verdau-
ungscanales und der Bauchdecken, und zweitens die Quantität und
Qualität der den Magen, respective Darm ausfüllenden Gase.
Der Vortragende hat sich seit längerer Zeit mit der Untersuchung
der aus dem kindlichen Magen direct entnommenen Gase beschäftigt
und theilt die Ergebnisse seiner Untersuchungen mit. Bei gesunden
Kindern findet man stets Stickstoff (im Mittel 79’8°/o), Sauerstoff (im
Mittel 1 8*22°/o), und Kohlensäure (im Mittel 4-19°/0). Sonstige Gase
fehlen. Es handelt sich hiebei offenbar lediglich um verschluckte
atmosphärische Luft, deren hoher Kohlensäuregehalt durch die der Ex¬
spirationsluft beigemengte Kohlensäure bedingt ist. Die Ursache, dass
auch normale Kinder so häufig einen stark aufgetriebenen Magen
haben, liegt wohl ausser in der geringeren Widerstandsfähigkeit der
Wandung darin, dass sie häufig abnorm viel Luft schlucken. Dies gilt
besonders für Flaschenkinder.
Die bei dyspeptischen Kindern gefundene Gasmenge kann man
in mehrere Gruppen eintheilen.
In der ersten Gruppe ist die Zusammensetzung der Magengase
dieselbe wie bei gesunden Kindern, es handelt sich nur um verschluckte
Luft. In den hieher gehörigen Fällen finden also keine mit Gasbildung
verbundenen Gährungen im Magen statt. Bei der zweiten Gruppe sind
auch nur N,, 02 und C02 im Mageninhalt vorhanden, aber der Gehalt
an C02 ist ausgesprochen höher als normaler Weise, d. h. er beträgt
mehr als 5 ’5% (im Maximum 17°/o)> Hier muss C02 im Magen neu
gebildet sein, offenbar als Folge von Ilefegährung. Die dritte Gruppe
umfasst diejenigen Fälle, wo ausser den drei erwähnten Gasarten noch
Wasserstoff (im Maximum 32'6G%) oder Sumpfgas (im Maximum
9'48°/o) oder diese beiden Gase gleichzeitig vorhanden sind. Diese Zu¬
sammensetzung fand sich bei Dyspepsien acuter und chronischer Art,
die mit Atonie des Magens und Stagnation seines Inhaltes einhergehen.
Der Vortragende weist schliesslich auf die Bedeutung dieses Umstandes
neben der bacteriellen Infection für das Entstehen und die rationelle
Bekämpfung der Gasgährungen hin.
X. Wertheimber (München) spricht über die Behand¬
lung der Scharlachnephritis.
Er hebt insbesondere ein Verfahren hervor, auf das er durch
eine zufällige Beobachtung hingeleitet wurde und das sich ihm in der
Folge als ein schätzbares Unterstützungsmittel in der Behandlung der
genannten Krankheitsform erwiesen hat. Das Verfahren besteht in
der methodischen Anwendung von Eingiess ungen
schwacher (physiologischer Kochsalzlösungen in
den Darm. Wie der Vortragende unter Anführung einschlägiger
Krankheitsfälle darlegt, tritt der Erfolg dieser Darmirrigationen am
augenfälligsten zu Tage in solchen Fällen, wo es sich darum handelt,
die stark verminderte Harnabsonderung zu steigern, beziehungsweise die
Anurie zu beseitigen, odor urämische Erscheinungen zu bekämpfen. Die
weiteren Erörterungen des Vortragenden beziehen sich auf die Aus¬
führung des in Rede stehenden Verfahrens, sowie auf die Art seiner
Wirkung, die wohl vorwiegend, aber nicht ausschliesslich auf der An¬
regung der Diurese beruht.
(Fortsetzung folgt.)
Oesterreichische Otologische Gesellschaft.
Wissenschaftliche Hauptversammlung am 29. Juni 1900.
4 Uhr nachmittags.
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, O. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner,
M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann,
R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt, A. v. Vogl,
J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gaissenbauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VI 1 1/1, Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang. Wien, 28. Juni 1900. Kr. 26.
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komrnen.
Verlagshandlung :
Telephon Nr. 6094.
Die „Wiener klinische
Wochenschrift“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von minde¬
stens zwei Bogen Gross¬
quart.
Zuschriften für die Redac¬
tion sind zu richten an
Dr. Alexander Fraenkel,
IX/3, Maximilianplatz,
Günthergassei. Bestellun¬
gen nnd Geldsendungen an
die Verlagshandlung.
Redaction :
Telephon Nr. 3373.
INHALT:
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel : 1. Ueber eine erprobte Trachealcanule. Von R.
Gers u n y.
2. Zur blutigen Behandlung der Luxatio claviculae acromialis und
der Brüche des Nasenbeines. Von Dr. Konrad Büdinger.
3. Aus der chirurgischen Abtheilung des Prof. H o c h e n e g- g an
der Allgemeinen Poliklinik. Ein Fall von Gallensteinwandel ung.
Von Robert P o r g e s, Assistent des Prof. H o c h e n e g g.
If. Feuilleton: Materialien zu einer Geschichte der Pharaoneiunedicin.
VI. Aegyptische Pneumalehre im Auslände. Von Oefele.
III. Referate: I. La maladie de Carrion ou la Verruga peruvienne. Par
Ernesto 0 d r i o z o 1 a. II. Der krankmachende Einfluss atmo¬
sphärischer Luftdruckschwankungen (barometrische Minima). Von
Dr. Heinrich L a h m a n n. III. Die Veränderungen an den
inneren Organen bei hochgradigen Skoliosen und Kyphoskoliosen.
Von Dr. M. Bachmann. IV. Stereoskopisch-photographischer
Atlas der pathologischen Anatomie des Herzens und der grösseren
Blutgefässe. Von Sanitätsrath Dr. G. Schm or 1. V. Die Immuni¬
sation gegen die Rinderpest nach den im Institut für experimen¬
telle Medicin in St. Petersburg und auf der Station »Iknewi« im
Gouvernement Tiflis gesammelten Erfahrungen. Von M. N e n c k i,
N. Sieber und W. Wyznikiewicz. VI. Technik und
Diagnostik am Sectionstische. Von Dr. Richard G r a u p n e r
und Dr. Felix Zimmermann. Referent Dr. R. Kretz. —
I. Vorfragen der Biologie. Von Eugen Albrecht. II. Grundriss
der Physik zum Gebrauche für Mediciner. Von Dr. Bruno
Borchardt. Referent Paul i.
IV. Therapeutische Notizen.
V. Vermischte Nachrichten.
VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressbericlite.
lieber eine erprobte Tracheal cars is S e.
Von R. Gersuny.
Wenn ich an dieser Stelle über alte Dinge schreibe, so
bedarf ich einer besonderen Entschuldigung und einer aus¬
reichenden Motivirung dafür.
Im Jahresberichte des Karolinen-Ivinderspitales für 1881
beschrieb ich eine »neue« Trachealcanule, die ich construirt
hatte und für eine Verbesserung hielt; in den vielen Jahren,
die seither verflossen sind, hatte ich reichlich Gelegenheit,
mich von den Vorzügen des Instrumentes zu überzeugen und
gerade der Umstand, dass es eine so lange Probezeit bestanden
bat, ohne die verdiente Verbreitung zu Anden, veranlasst mich,
nochmals darüber zu sprechen, an einem Orte, minder abseits
von der Oeffentlichkeit, als ein Kinderspitalsbericht.
Die 1 rachealcanule, welche ich wegen ihrer stark co-
nischen Form »Trichtercanule« nennen möchte, fand haupt¬
sächlich bei Kindern und nach der tiefen Tracheotomie Ver¬
wendung.
Die Tracheotomia inferior ist in den Wiener Kinder¬
spitälern die gewöhnlich geübte Methode der Eröffnung der
Respirationswege bei acuter Kehlkopfstenose, und, wie ich glaube,
mit Recht; sie ist bei Kindern (im Gegensätze zu der gleichen
Jperation bei Erwachsenen) ganz einfach und gewiss nicht
sc wieriger als die Laryngotomie oder die hohe Tracheotomie.
Ich will auf die detaillirte Darlegung ihrer Vorzüge hier
”lc iji ; n^her eingehen, und nur zur Illustration ihrer leichten
usführbarkeit anführen, dass während der letzten Jahre
meiner Thätigkeit am Karolinen-Kinderspitale, diese Operation
■son den jungen Aerzten des Hauses, oft unter der Assistenz
nui Diner Wärterin, selbstständig ausgeführt wurde; diese
Aerzte hatten keine specielle chirurgische Vorbildung und er¬
lernten die Operation jeder von seinem Vorgänger.
Allerdings halle man mich anfangs durch mehrere Jahre zu
jeder Tracheotomie geholt, bis durch die Verwendung des federnden
Doppelhakens die Operationsteclmik so einfach geworden war,
dass die jungen Aerzte die Scheu verloren, sich ohne die Assistenz
eines Erfahreneren daran zu wagen.
Der federnde Haken ist in der »Wiener Medicinischen
Wochenschrift« (in Nr. 52 des Jahrganges 1887) beschrieben und
abgebildet und ich weise hier nochmals darauf hin, weil er nur
eine geringe Verbreitung gefunden hat, obgleich er die Ansprüche
die man an ein solches Instrument stellen kann, weit überbietet,
indem er wirklich einen geschulten Assistenten ersetzt. Ich muss
nur bemerken, dass seine Feder nicht zu stark sein darf; eine zu
starke Feder macht ihn unbrauchbar.
Schon nach meinen ersten Tracheotomien empfand ich
die Nachtheile, welche die Verwendung der üblichen Tracheal¬
canule im Gefolge hat; die Form des Kreisbogens, welche
diese Canulen haben, ist die einfachste Lösung der Aufgabe,
eine genau passende Doppelcanule herzustellen und der
Vortheil, den die Innencanule gewährt, musste so hoch ange¬
schlagen weiden, dass man die Nachtheile, welche diese Form
bedingt, in den Kauf nahm.
Diese Naclitheile sind hauptsächlich folgende: Die Canule
braucht wegen der Art ihrer Krümmung so viel Raum in der
Trachea, dass man ihr Caliber verhältnissmässig eng wählen
muss,- dabei liegt ihr unterer Rand der vorderen Tracheal-
wand an und verursacht dort durch Druck oder Reibung
leicht Decubitus mit seinen Folgen, besonders Blutungen,
Granulationsgeschwülste. Narbenstenosen; endlich ist die Länge
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 26
des Theiles der Canule, welcher in der Trachea zu liegen
kommt, im Voraus nicht zu bestimmen, sie hängt von der
Dicke der Weichtheile des Halses zwischen Haut und Trachea ab.
Dadurch kommt es, das3 die Lage des Fensters nicht immer
correct ist, und dass öfters dessen vorderer Theil innerhalb des
Wundcananales (statt in der Trachea) liegt, wodurch die
Bildung von Granulationspolypen am oberen Ende der Tracheal-
wunde begünstigt wird.
Dieser Umstand veranlasste häufig spätere Schwierig¬
keiten, besonders beim Versuche, die Canule wegzulassen.
C. Stoerk wendete darum Canulen an, welche an der
Stelle des Fensters viele kleine Löcher haben. A. Thost1)
empfiehlt, in das Fenster ein feines Drahtsieb einzusetzen.
Auf eine bisher nicht beachtete Folge der üblichen
Canulen macht J. Bodea'2) aufmerksam, nämlich auf die
»Ventilstenose«, die dadurch entsteht, dass oberhalb der
Trachealwunde die vordere Wand der Trachea durch die unter
einem spitzen Winkel zu ihr herantretende Canule so einge¬
drückt wird, dass sie nach dem Entfernen der Canule wie ein
Ventil, das nach unten zu gerichtet ist, die Inspiration gestattet,
die Exspiration durch den Kehlkopf aber verhindert.
Die nachtheiligen Folgen der Canulen, welche ich nach
meinen ersten Operationen selbst beobachtet batte, veranlassten
mich, eine Canulenform zu suchen, durch welche jene ver¬
mieden würden, ohne dass man den unersetzlichen Vortheil,
den eine gut passende Innencanule gewährt, aufgeben müsste.
Die rationelle Form: ein gerades Rohr in der Trachea,
das in einem kleinen Bogen durch die Wunde nach aussen
zum Schild geht, erlaubt nur dann die Verwendung einer
steifen, gut passenden Innencanule, wenn man die Röhren
von unten nach oben trichterförmig sich erweitern lässt.
Die Anwendung flexibler Metallcanulen (Koni g’s Spiral-
canule oder die »Krebsschwanzcanule«) hat immerhin noch gewisse
Nachtheile: Die etwas grössere Wandstärke, die geringere Festigkeit,
den Mangel einer glatten Oberfläche.
Der gerade Theil des Trichters, welcher in der Trachea
zu liegen bestimmt war, sollte nach meiner Absicht in seinem
obersten (der Trachealwunde angrenzenden) Theil das ganze
Lumen der Luftröhre ausfüllen und sich nach unten, gegen
sein freies Ende, etwas verjüngen, der nach aussen führende,
bogenförmige Theil hingegen musste sich beträchtlich er¬
weitern.
Nach meinen Detailangaben wurde vom Herrn Instru¬
mentenfabrikanten T hürriegl in Wien die Canule angefertigt,
welche in der nebenstehenden Abbildung dargestellt ist.
b ür Kinder verschiedenen Alters werden natürlich auch
verschiedene Caliber verwendet. Die zweite Abbildung stellt
einen Durchschnitt der Canule vor, mit einer Andeutung ihrer
Lage in der Trachea.
') Monatsschrift für Ohrenheilkunde. 30. Jahrgang, pag. 529.
-) Jahrbuch für Kinderheilkunde. Bd. XLVI, pag. 360.
(Die Entfernung vom Fenster der Canule bis zum
Schild ist auffallend gross, aber bei tieferer Lage der Trachea
nothwendig, bei oberflächlicher Lage nicht von Nachtheil.)
Das Schild der Canule ist nicht, wie sonst, in der Mitte
mit einem Loch versehen, sondern hat einen nach unten
offenen Ausschnitt; dadurch fehlt der Theil seines Randes,
welcher leicht Decubitus an der Haut macht und es ist somit
überflüssig, zwischen Schild und Haut Verbandzeug zum
Schutz einzulegen.
Beim Gebrauche bewährte sich diese Canule so gut, dass
sie auch nach meinem Rücktritt vom Karolinen-Kinderspitale
(seit mehreren Jahren) dort in Verwendung blieb.
Die Trichtercanule zeigt im Gebrauch folgende Vorzüge:
Ihr weites Caliber gestattet freie Respiration; ihr tracheales
Ende liegt nirgends der Wand der Luftröhre an, so dass man
nicht genöthigt ist, wie zuweilen bei der bisherigen Form, ab¬
wechselnd längere oder kürzere Röhren einzulegen, um Decu¬
bitus zu verhüten, oder, wenn er entstanden ist, ihn zur Heilung
zu bringen.
Das Fenster liegt genau an der richtigen Stelle in der
Achse der Luftröhre, so dass niemals Wundgranulationen
hineinwachsen.
Der weiteste Theil des in der Trachea liegenden Rohr¬
stückes füllt ihr Lumen vollständig aus und verhindert so das
Einfliessen von Blut, von Wundsecret und von Secreten aus
dem Kehlkopf in die Luftröhre und erschwert so bei Fällen
von Diphtheritis ein Weiterschreiten des Processes nach
abwärts.
Die Manipulation mit der Canule ist einfach; das Wechseln
der Innencanule erfordert keine geübte Hand, und wenn man
die ganze Canule herausgenommen hat, klafft die Wunde so
weit, dass die Wiedereinführung noch nach Stunden leicht
gelingt. Man braucht also nicht eine zweite Canule zum
raschen Wechseln bereit zu haben und auch das definitive
Entfernen der Canule ist erleichtert, indem die Luftzufuhr
durch die Halswunde nur ganz allmälig abnimmt. Ein kleiner,
aber nicht zu unterschätzender Vortheil besteht darin, dass die
Canule leicht zu reinigen ist.
Als Nachtheil der trichterförmigen Canule könnte die
grössere Länge des Schnittes in der Trachea, die zu ihrer Ein¬
führung noting ist, angesehen werden, doch habe ich davon
nie eine üble Folge gesehen, auch wird die Operation selbst
nicht erschwert, denn bei grosser Athemnoth braucht man zu¬
nächst die Trachea nur an einer ganz kleinen Stelle blosszu-
legen und zu eröffnen, dann wird die Respiration sogleich
ruhig und man hat bequem Zeit, die Trachea weiterhin frei¬
zulegen und den Schnitt in ihrer vorderen Wand zu ver¬
längern.
Es empfiehlt sich, die Verlängerung der Oeffnung in der
Trachea nicht nach unten, sondern in der Richtung nach oben
zu machen, denn dadurch erzielt man eine festere Lage der
eingeführten Canule zwischen dem unteren Winkel der Tracheal¬
wunde und dem oberen Winkel des Hautschnittes. Auch kann
bei Verlängerung des Schnittes nach abwärts bei nicht mehr
überstrecktem Hals die Trachealwunde hinter das Sternum zu
liegen kommen, so dass die Canule herausgleitet, weil sie zu
kurz wird.
Ein Nachtheil der Trichtercanule, den ich übrigens gering
anschlage, ist der Umstand, dass sie aus Metall hergestellt
werden muss und dadurch mehr kostet, als die Hartgummi-
canulen. Wenn man nur in einigen Fällen Hartgummicanulen ver¬
wendet hat, findet man sie wegen ihrer geringen Dauerhaftig¬
keit theurer, als solche aus Metall.
Meine eigenen Erfahrungen mit der Verwendung der
Trichtercanulen datiren, wie schon erwähnt, seit dem Jahre 1881
und beziehen sich auf mehr als 200 Fälle; die oben angeführten
Vorzüge der Trichtercanule waren auch der Grund für ihre
weitere Verwendung im Karolinen-Kinderspitale durch meinen
Nachfolger, Herrn Alex. Fraenkel.
In Bezug auf einen wichtigen Punkt, den »Canulen-
decubitus«, steht mir ausser der klinischen Beobachtung noch
das besonders schwerwiegende Zeugniss des Anatomen zu
Gebote.
Nr. 2fi
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Herr Prof. K o 1 i s k o, welcher durch Jahre alle Sectionen
für das Karolinen-Kinderspital machte, sagte mir auf meine
Frage, er habe bei den dort nach der Tracheotomie gestorbenen
Kindern (im Gegensatz zu seinen, in einem anderen Spitale
gemachten Beobachtungen) k e i n e n Canulendecubitus gesehen,
und gab mir die Erlaubnis, mich auf diesen Ausspruch zu
berufen.
Die grosse Weite der äusseren OefFnung der Canule ist
beim ersten Anblick befremdend, hat aber ausser den oben
angeführten noch andere Vortheile: dass bei Dampfinhalation
mehr von den Dampf eingeathmet wird, dass beim Heraus¬
nehmen des Instrumentes die weitklaffende Wunde nicht nur
einigen Einblick in die Trachea gestattet, sondern auch die
Einführung von Instrumenten nach oben in den Kehlkopf
ermöglicht; in einem Falle von narbiger Kehlkopfstenose wurde
dadurch die Behandlung sehr erleichtert.
Zur blutigen Behandlung der Luxatio claviculae
acromialis und der Brüche des Nasenbeines.
Von Dr. Konrad Büdinger.
Die blutige Knochennaht gilt gegenwärtig bei den Frac-
turen der Patella und des Olecranon als das Normalverfahren,
welches der Chirurg in jedem derartigen Falle in erster Linie
in Vorschlag bringen muss. In gleicher Weise verdient aber
das operative Verfahren bei einigen anderen Verletzungen am
Knochensystem zur dominirenden Methode zu werden, von der
nur auf Grund besonderer Indicationen abgegangen werden
sollte. Dazu gehören die acromialen Luxationen der Clavicula
und einige Formen von Fracturen der Nasenbeine, für welche
viele Methoden der Reposition oder Retention ersonnen, aber
nur die blutigen erfolgreich und des heutigen Standes der
Chirurgie würdig sind.
I. Die Luxatio claviculae acromialis ist be¬
kanntlich keine gar so seltene Verletzung; sie ist schon den
Alten bekannt gewesen und macht nach Gurlt- Krönlein
2 4 — 2'7 %, nach Defranceschi 6%; nach Albers 3%
aller Luxationen aus. Zu ihrer Heilung ist eine imponirende
Menge von Methoden angegeben worden, ohne dass bisher
eine von ihnen allgemeinen Anklang gefunden hätte.
Es soll an dieser Stelle nicht auf die Aetiologie und
Symptomatologie dieser Verletzung eingegangen werden, welche
bereits eine eingehende Würdigung erfahren hat (Barden¬
heuer, König, Glück etc.), es scheint mir aber doch von
Wichtigkeit, auf die Meinungsverschiedenheiten hinzuweisen,
welche darüber bestehen, ob die Luxation eine functionelle
Schädigung verursacht oder nicht, ob die Behandlung nur ein
rein kosmetisches Interesse verfolgt oder ein für den Gebrauch
der Extremität noth wendiger Eingriff ist. Von einigen Autoren
wird nämlich angegeben, dass die anfängliche Functionsstörung
nur durch den Schmerz bedingt sei, und das definitive Resul¬
tat fast immer auch ohne besondere Behandlung ein sehr
günstiges werde.
Dieser Ansicht ist unter Anderen auch T h i e m, der
ausdrücklich sagt, dass »diese Verletzungen höchst selten eine
wirkliche Erwerbsbeschränkung zur Folge haben«, aber auch
hinzusetzt, dass die Verunglückten ihnen eine zu grosse Be¬
deutung zuschreiben und »bei der nachweisbaren objectiven
Veränderung« auch eine Rente verlangen und erhalten. Da
sich aus dem vorzüglichen Lehrbuche von T h i e m Tausende
von Unfallsärzten Rath holen, ist wohl anzunehmen, dass das
Gutachten vor den Schiedsgerichten meist ähnlich ausfallen
wird. Trotzdem bekommen die Verunglückten nach Thiem
10 1 5°/o, also selbst bei extrem optimistischer Betrachtung
der I rage kommt unsere modernste Indication — der Säckel
der Unfallscassen — hinzu, um eine genaue Behandlung zu
fordern.
Die Erfahrungen anderer Beobachter über die Functions¬
fähigkeit des Armes nach der Luxatio acromialis sind weit
ungünstiger und es sind Fälle bekannt, bei denen zu Anfang
eine fast normale Beweglichkeit bestand, während in späterer
Zeit eine sehr beträchtliche Störung eintrat. Betrachten wir
das Schultergelenk und seine Umgebung bei der Lux. clav.
acr., so ist es einleuchtend, dass die ausgedehnte Bänderzer-
reissung um das Gelenk zwischen Clavicula und Acromion
sich in der Mehrzahl der Fälle auch auf den bänderigen Appa¬
rat des Schultergelenkes fortsetzen wird, unter allen Um¬
ständen aber muss die Musculatur eine bedeutende Einbusse
erleiden, welche zur partiellen oder ausgedehnten Atrophie führt.
Dies Schicksal erleidet vor Allem der M. deltoideus, der in
der Clavicularportion stark ausgezogen wird, wobei es selten
ohne ausgiebige Muskelzerreissung abgehen dürfte, besonders
am mittleren acromialen Theil des Muskels. Dass ältere Leute
nur sehr selten in der Lage sein werden, solche Veränderungen
zu repariren, ist selbstverständlich.
Ein specieller Nachtheil erwächst dem Patienten aus dem
Vorspringen des freien Knochenendes dann, wenn er gezwungen
ist, die Schulter zum Tragen, Stemmen zu benützen. Unter
allen Umständen aber ist die Haut an dieser Stelle mehr als
gewöhnlich Insulten ausgesetzt; so war auch bei dem Kranken,
an dem die blutige Reposition vorgenommen wurde, die Haut
über dem Acromialende der Clavicula schon nach wenigen
Tagen in der Ausdehnung eines Guldenstückes geröthet, ge¬
spannt und sehr empfindlich. Es scheint mir daher auch, dass
die Lux. clav. acr. als Unfallsverletzung in der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle eine andere Beurtheilung verdient, als ihr
bisher zu Theil geworden sein dürfte.
So ziemlich alle Autoren geben die vollkommene Unzu¬
verlässigkeit der Verbände zu, welche mindesten 4 — 6 Wochen
liegen bleiben müssten, wenn damit der gewünschte Erfolg er¬
zielt werden soll. Erfüllt aber der Verband die an ihn ge¬
stellten Anforderungen, indem er wirklich fest genug einer¬
seits gegen die Clavicula, andererseits gegen das Ellbogen¬
gelenk drückt, so sind Gangrän, Decubitus u. dgl. die unver¬
meidlichen Folgen. Der einzige Fall, bei welchem eine Heilung
auf diesem Wege überliefert ist, ist die berühmte Kranken¬
geschichte Galen’s, der sich angeblich sechs Wochen lang —
mit schliessliehem Erfolg — in einem solchen Schraubstock
quälte. Mir erscheint diese oft citirte Krankengeschichte
mit Rücksicht auf die nach unseren Begriffen unmöglichen
Zuthaten ebenfalls höchst zweifelhaft.
Die ersten Versuche, die Clavicula auf operativem Wege
an Ort und Stelle zu halten, rühren von Baum und Cooper
her. Ersterer legte eine subcutane Bändernaht an, indem er
durch die Reste des Ligamentum acromio-claviculare und
coraco-claviculare je einen Faden von carbolisirter Seide hin¬
durchzog, die Luxation reponirte, und ähnlich wie bei der
V o 1 k m a n n’schen Patellarsehnennakt die Fäden unter einer
aussen liegenden Heftpflasterrolle oder einem Drain stück
knüpfte (Hüter-Lossen). Bardenheuer empfahl später
für Fälle, in denen seine Extensionsbehandlung nicht zum
Ziele führt, die Anwendung der M a 1 g a i g n e’schen Klammer.
Die offene Kuochennaht wurde zuerst von Cooper,
später von Poirier und Rieffel, Paci, Albers, LeBec
angewendet, von Letzterem in Analogie der Arthrodese mit
Anfrischung der Enden von Clavicula und Acromion bei einem
Fall von veralteter beiderseitiger Luxation, auch Tillmans
empfiehlt die Naht der Ligamente oder der Knochen. In den
Fällen von Cooper, Poirier und Rieffel, Paci, Al¬
bers, Le Bec wurde die Naht mit Silberdrähten ausgeführt,
und zwar bedurften sie meist dreier Nähte, welche durch
Acromion und Clavicula gelegt wurden.
Gegen die Methode der Silberdrahtnaht der Knochen¬
enden ist Einiges einzuwenden. Zunächst bedarf es mehrerer
Nähte, deren Anlegung, wie man sich durch den Versuch an
der Leiche leicht überzeugen kann, oft genug bedeutende
Schwierigkeiten macht, bevor die genaue Adaption des Ge¬
lenkes erzielt ist, da sich die Clavicula ungeahnt renitent
zeigt. Nebenbei sei nur bemerkt, dass von einer Bändernaht
allein überhaupt nichts zu erwarten ist, da die Ligamente
knapp an der Clavicula reissen, so dass diese mit ihrem acro¬
mialen Ende förmlich skeletirt erscheint, und von einem ge¬
nügenden Materiale zur Naht gar nicht die Rede sein kann.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 26
69ß
Ausser der Schwierigkeit, welche die Anlegung der
Knochennaht in manchen Fällen macht, haben die Silberdrähte
noch einen anderen und recht wichtigen Nachtheil, der auch
von Albers angedeutet wird und im Falle Le Bec wirk¬
lich zu Unannehmlichkeiten führte. Die Nähte liegen sehr
nahe unter der Haut und können daher mit dem zusammen¬
gedrehten Theil leicht Decubitus machen ; tritt dies ein,
so kann man sie zwar, wie es Le Bec that, nachträglich
wieder herausnehmen, was aber weder für den Patienten, noch
für den Arzt ein Vergnügen ist; danach entstehen zudem adhä-
rente und empfindliche Narben an einer Stelle, welche vielen
äusseren Verletzungen ausgesetzt ist.
In dem nachfolgenden Falle habe ich ein Verfahren ge¬
wählt, welches bisher noch nicht angewendet worden sein
dürfte, und von dem es mir scheint, dass es recht geeignet
wäre, als Normalverfahren bei der Behandlung der Luxatio
elaviculae acromialis aufgenommen zu werden, da es einfach
und leicht ausführbar ist und den Vortheil hat, dass keine
Metallnähte zurückgelassen zu werden brauchen. Das Wesentliche
besteht darin, dass vom äusseren Ende des Acromion ein län¬
gerer Drillbohrerstift durch dieses und weiter eine Strecke weit
in die Clavicula der Längsachse derselben entsprechend ein¬
gebracht wird. Der Stift bleibt eine Zeit lang, circa 14 Tage
liegen, garantirt unterdessen die solideste Fixation und kann
nachher leicht entfernt werden. Gerade durch den Reiz des
Fremdkörpers dürfte die definitive Befestigung schneller vor
sich gehen — also das Princip der Güssen baue Eschen
Klammern. Ein ähnlicher Vorschlag wird von König theore¬
tisch angedeutet: »Bei extremen Fällen würden wir doch auch
keinen Anstoss nehmen, durch eine Incision den Arm und die
Schulter zu heben, Acromion und Schlüsselbein sich nahe zu
bringen und selbe entweder durch Naht oder durch Elfenbein¬
oder Stahlstift zu vereinigen.«
J. K., Bahnwächter, 38 Jahre alt, wurde am 21. Februar 1900
ins St. Rochus-Spital gebracht.
Ueber den Unfall, der ihn betroffen, weiss Patient nichts aus¬
zusagen, als dass er beim Ueberqueren der Geleise plötzlich von
einem Zuge erfasst und niedergeworfen wurde. Er fiel in Bewusst¬
losigkeit, aus der er nach circa einer Stunde erwachte, ohne aber
bei der Ankunft im Spital das klare Bewusstsein wieder gewonnen
zu haben.
Status praesens: Patient äusserst blass, theilnahmslos
gegen die Umgebung, Extremitäten kühl, Puls klein, frequent (160),
Temperatur subnormal. Fractur der neunten und zehnten Rippe in der
linken vorderen Axillarlinie, enorme Schmerzhaftigkeit im Epigastrium,
sonst nichts Abnormes in Brust und Bauch nachzuweisen. Die
linke Schulter zeigte eine auffallende Veränderung der Gestalt, ihre
Wölbung ist verschwunden, der Contour geht, von vorne gesehen,
in beinahe rechtem Winkel, der Querdurchmesser erscheint ver¬
kürzt. Nach oben springt dicht unter der stark gespannten Haut
ein ziemlich scharfer Vorsprung vor, der sich als das acromiale
Schlüsselbeinende erweist, und unter welchem sich eine tiefe Grube
befindet; der Abstand zwischen Clavicula und Acromion beträgt
circa 4 c/?i, wobei das Schlüsselbein auch nach hinten, das Acro¬
mion nach vorne abgewichen ist. Das freie Ende der Clavicula ist
sehr beweglich und lässt sich leicht an seine normale Stelle bringen,
wenn man gleichzeitig die Schulter nach rückwärts zieht und das
vorspringende Knochenstück niederdrückt. Den Arm vermag Patient
im Schulterblatt activ nur wenig zu eleviren, während die passive
Beweglichkeit nahezu ganz frei ist.
Zuerst konnte der Schlüsselbeinverrenkung nur wenig Auf¬
merksamkeit geschenkt werden, da die übrigen Symptome zu sehr
im Vordergrund standen. Erst am 15. Mai wurde zur Operation in
Narkose geschritten.
Der Schnitt ist etwa 4 cm lang, geht bogenförmig am oberen
Rande der Spina scapulae bis zur Spitze des Acromion. Nachdem
der Lappen nach oben zurückpräparirt ist, zeigt sich das Ende der
Clavicula, von welchem sämmtliche Bänder knapp am Periost ab¬
gerissen sind. Nach Reposition der Clavicula wurde der Versuch
gemacht, die Knochennaht mit starker Seide vorzunehmen und es
wurden daher die beiden Knochenden mit dem Drillbohrer durch¬
löchert und durch diese Canäle starke Seidenfäden gezogen. Da
aber auf diese Weise ein genaues Aneinanderfügen der Knochen
nicht gelingen wollte, wurde der längste und stärkste Stift in den
Drillbohrer eingesetzt und mit diesem, während die Knochen reponirt
gehalten wurden, von dem äussersten lateralen Ende des Acromion
beginnend, dieses quer und die Clavicula entsprechend ihrer Längs¬
achse angebohrl, so dass der Bohrstift fast 5 cm tief eindrang. Die
Bohrvorrichtung wurde dann abgenommen, der Stift aber in loco
belassen. Nun waren die Knochen tadellos adaptirt. Die Bänder
werden mit drei Nähten an das Periost der Clavicula fixirt, die
übrige Wunde genau verschlossen.
Die Heilung erfolgte per primam, der Stift wurde am 5. März
entfernt, war also 18 Tage liegen geblieben; am 12. März wurde
Patient geheilt entlassen.
*
II. Die Fracturen der Nase haben erst vor Kurzem
durch E. v. Bergmann in Heymann’s Handbuch eine so
eingehende Behandlung erfahren, dass ich mich in den folgen¬
der Zeilen, welche den Zweck haben, für bestimmte Formen
dieser Verletzung die operative Behandlung als principiell zu
empfehlen, fast ausschliesslich auf diesen Artikel berufen kann.
Bergmann hat in vielen Beziehungen mit alt überlieferten
Anschauungen energisch aufgeräumt. Denn selbst in einigen
der besten Lehrbücher findet man noch immer eine ganze
Menge jener Vorrichtungen angeführt, welche sich im Laufe
der Zeit aufgestapelt haben, trotzdem sie kaum als etwas
Anderes, als eine Spielerei angesehen werden können, bei
anderen Autoren heisst es wieder kurz, dass die Deformität
in frischen Fällen durch Eingehen mit einer Kornzange be¬
hoben werden kann.
In starkem Contraste hiezu steht die Mahnung Berg¬
man n’s, »dass keine schief geheilte Fractur von den Patienten
und deren Angehörigen so übel dem Arzte vermerkt wird,
als die der Nase, wenn sie nach Abfall der Schwellung offen¬
kundig geworden ist«. Die Wichtigkeit der therapeutischen
Indicationsstellung wird noch dadurch gesteigert, dass die Re¬
position der Nasenfracturen durchaus nicht vorwiegend dem
Chirurgen von Fach, sondern in den meisten Fällen dem
praktischen Arzte zufällt. Hoffentlich wird das gewichtige
Wort Bergman n’s den Erfolg haben, dass alle Apparate,
welche zur Reposition der Fragmente dienen sollen, besonders
aber die ganz ungenügenden Vorrichtungen aufgegeben werden,
welche das Gerüste der Nase von innen oder aussen stützen
sollen, wie Pflasterverbände, Rhineurynter, Pince-nez, Durch¬
stechung der Nase etc.
Zu der Manipulation bei der Reposition der Fragmente
braucht man niemals etwas Anderes, als die Finger, eine flache
Korn- oder Polypenzange und eventuell eine Sonde, zur Stütze
lange Jodoformgazestreifen, die bis weit nach hinten eingeführt
werden und sich der Form der Nasenhöhle auf das Genaueste
anpassen. Damit gelingt es wohl ohne Ausnahme, die typischen
Querbrüche im unteren Drittel der Nasenbeine auszugleichen
und zu tadelloser Heilung zu bringen.
Kommt man mit den Digital- und Instrumentalversuchen
nicht aus, so räth Bergmann, sofort zur Blosslegung der
Bruchstelle überzugehen und die Reposition auf blutigem W ege
vorzunehmen. Die Indication zur blutigen, d. h. operativen
Reposition ist unzweifelhaft in sämmtlichen Fällen gegeben,
bei welchen anderweitige Versuche gescheitert sind, im Spe-
ciellen lässt sie sich aber noch für eine ziemlich typische
Form der Nasenbrüche genauer formuliren und ich habe ge¬
glaubt, diese Indication hier ausführlicher besprechen zu sollen,
weil gerade bei dieser Form die Operation nicht das Ultimum
refugium, sondern das einzig Mögliche ist und es auch hie
und da von Uebel sein kann, fruchtlose Repositionsversuche
voranzuschicken.
Während für das unter Drittel der Nasenbeine die reine
Querfractur typisch ist (H a m i 1 1 o n), tritt bei den Brüchen,
welche mehr frontalwärts in den Nasenbeinen zu Stande
kommen, ihre Combination mit Längsbrüchen immer mehr und
mehr in den Vordergrund. Zur Erläuterung dessen sei auch
auf die Abbildungen in Zuckerkand l’s Anatomie der
Nasenhöhle (Bd. II, Tafel I und II) verwiesen. Da das Nasen¬
bein von oben nach unten immer dünner wird (seine Dicke
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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beträgt nach Zucker kan dl im oberen Antheile 2-5 — 7 , im
unteren 0'5 — 15 mm), wobei sich der Durchschnitt im unteren
Drittel sehr schnell verjüngt, so sind es natürlich die schwereren
Insulte, bei denen die oberen Antheile des Knochens frac-
turiren.
Ausserdem ruhen die Nasenbeine mit mehr als ihrem
oberen Drittel der Spina nasalis ossis front, auf; das Ende
dieses Knochenfortsatzes kann man als den Punkt bezeichnen,
bis zu welchem die Fractur bei den mittelschweren Fracturen
geht (Z u c k e r k a n d 1, Tafel I, Fig. 8, 9, 10), und erst sehr
starke und besonders die direct einwirkenden Insulte führen
auch zur Fractur der obersten Theile der Nasen knochen. In
beiden Fällen verlaufen die Längsbrüche entweder in Form
von Diastasen in den Nähten zwischen Oberkieferfortsatz und
Nasenbeinen einerseits, zwischen den beiden Nasenbeinen an¬
dererseits, wo man dann mit Longuet von einer Luxation
sprechen kann, oder die Sprünge gehen durch den Knochen ;
klinisch bleibt sich das übrigens gleich.
Bei allen Brüchen dieser Art, welche ich gesehen habe,
seien sie nun einseitig oder beiderseitig, kommt es zu einer
Verschiebung der Fragmente in seitlicher Richtung, und zwar
am häufigsten nach aussen d. h. lateral und mit Einwärts¬
drehung, so dass sich das Fragment unter dem Oberkiefer¬
fortsatz verkeilt. Dass es hiebei niemals ohne Fractur des
Septums abgehen dürfte, lehrt ein Blick auf die Abbildungen
von Zuckerkand 1. Die Verschiebung ist am unteren Ende
am stärksten, dafür kann aber, wie es in einem meiner Fälle
zutraf, die Verkeilung des oberen Stückes eine so starke sein,
dass es sich nur schwer auslösen lässt.
Diese combinirten Längs- und Querfracturen der Nasen
beine, welche bis über das Niveau der Spina nas. oss. front,
hinaufreichend, mit seitlicher Dislocation einhergehen, sind es
nun, für welche ich unbedingt die operative Reposition in An¬
spruch nehmen möchte. In diesen Fällen richtet man auf
anderem Wege nichts aus, es sollten sogar alle Repositions¬
versuche besser unterbleiben. Von Manipulationen mit der
Kornzange ist ohnehin nichts zu erwarten, und mit der Sonde
wird man höchstens die Schleimhautverletzungen grösser
machen und damit den Knochen von innen her entblossen.
Schreitet man von Anfang an zur Operation, so ist der Erfolg
ein sicherer und man vermeidet die Gefahren, denen man den
Patienten durch langes Herumstöbern in der Nase aussetzt.
Der Schnitt muss genau in der Mittellinie geführt werden,
und zwar der ganzen Länge der Fractur entsprechend bis
auf den Knochen. Es gelingt dann leicht, mit feinen Hacken-
pincetten, kleinen Raspatorien, die Fragmente zu fassen und
sie zu reponiren, während die geknickte Nasenscheidewand
entweder von vorne her oder von oben und unten zu gleicher
Zeit aufgerichtet wird. Ich habe in meinen beiden Fällen die
Fragmente mit einigen Nähten von feinster Seide aneinander
fixirt, weil sie die Tendenz hatten, im Sinne der früheren
pathologischen Stellung zurückzusinken. Bergmann räth,
bei der Naht zwischen den einzelnen Nähten kleine Lücken
zu lassen, damit die über den Wundspalt gebreitete Gaze
durch sie die zwischen Haut und Knochen sich ansammelnden
flüssigen Wundproducte ansammeln kann; in meinen Fällen
wurde dicht genäht und kein Verband angelegt.
In kosmetischer Beziehung ist das Resultat ein sehr
günstiges; eine mediale Narbe auf dem Nasenrücken, welche
die Symmetrie nicht beeinflusst, stört so gut wie gar nicht ;
übrigens pflegt sie nach verhältnissmässig kurzer Zeit zu ver¬
schwinden.
Von den beiden Patienten, welche ich in der geschil¬
derten W eise behandelt habe, war dem Einen beim Canalbau
ein schwerer Pfosten auf die Nase gefallen. Das linke Nasen¬
bein war knapp unter der Naht gegen das Os frontale und
dicht neben dem Oberkieferfortsatz gebrochen, beinahe sym¬
metrisch auch das rechte Nasenbein. Beide Knochen dehiscirten
in der Mittelnaht, die Fragmente waren, und zwar links stark,
rechts weniger gedreht, indem besonders ihre distalen Antheile
lateral verschoben und einwärts gewendet waren. Im zweiten
Falle erzeugte ein mächtiger Faustschlag eine Fractur, welche
rechterseits an der typischen Stelle im unteren Drittel sass,
links aber von der entsprechenden Stelle aufsteigend etwas
schief nach aussen gegen die Mittellinie verlief und bei Lösung
der Seitennaht zu einem tiefen Einsinken des Knochens mit
Verkeilung gegen den Proc. nas. max. sup. führte.
Aus der chirurgischen Abtheilung des Prof. Hochenegg
an der Allgemeinen Poliklinik.
Ein Fall von Gallensteinwanderung.
Von Robert Porges, Assistent des Prof. Hochenegg.
Vor ungefähr einem halben Jahre wurde ich von einem
hiesigen Collegen zu seiner Mutter gebeten; ich fand eine gut
genährte Frau von 47 Jahren, welche seit circa iy2 Jahren
an Fisteln des rechten Oberschenkels litt. Ueber die Ent¬
stehungsgeschichte derselben erfuhr ich von dem Collegen
folgende, zum Theil erst nach der Operation ergänzte Daten:
Patientin hat fünfmal normal entbunden, niemals abqrtirt.
Kinder leben und sind gesund. Seit ungefähr 20 Jahren ist sie
magenleidend, seit acht Jahren leidet sie im Anschluss an einen
acuten Magen- Darmkatarrh an anfallsweise auftretenden Schmerzen
in der rechten oberen Bauchgegend, die gegen den Rücken aus¬
strahlen. Es handelte sich um schwere Gallensteinkoliken, die in
den nächsten sechs Jahren immer häufiger wiederkehrten, so dass
Patientin fast beständig Schmerzen hatte und einige Male auch
Wochen lang ans Bett gefesselt war. Während dieser Jahre soll
Ikterus massigen Grades beständig vorhanden gewesen sein. Nach
einer Karlsbader Cur vor vier Jahren nahmen der Ikterus und die
Schmerzen ab. Dann trat eine fieberhafte, sieben Wochen dauernde
Erkrankung auf, die mit lebhaften, aber mehr constanten Schmerzen
in der Lebergegend und im Rücken einherging (Cholecystitis?).
Nach Ablauf dieser Krankheit bestanden noch durch einige Wochen
Schmerzen in der Cöcalgegend, die aber später nicht wiederkehrten.
Seither machte Patientin jedes Jahr eine Karlsbader Cur durch, ob¬
wohl sie in der Zwischenzeit nicht an Gallensteinkoliken litt. Im
Jahre 1898 hatte Patientin (angeblich nach stärkerer, körperlicher
und psychischer Aufregung) den letzten, circa acht Tage andauern¬
den Anfall mit exacerbirendem Ikterus. Darauf traten Schmerzen
in der Gegend hinter und ober dem rechten Trochanter auf, die
als Ischias gedeutet und behandelt wurden. Während einer neuer¬
lichen Cur in Karlsbad schwoll der rechte Oberschenkel in der
Gegend des Trochanters an, die schmerzhafte Geschwulst nahm,
nach unten fortschreitend, an Grösse immer mehr zu, so dass man,
selbst wenn Patientin vollständig angekleidet war, eine Ungleichheit
der Hüftgegend bemerkte. Unter grossen Schmerzen brach die Ge¬
schwulst an der Hinterseile des Oberschenkels, ungefähr in der
Mitte desselben spontan auf, wobei sich eine grosse Menge Eiter
entleerte. Die Schmerzen haben niemals aufgehört und steigerten
sich in letzter Zeit immer mehr. Im Stuhle bemerkte Patientin nie
Gallensteine. Seither bestehen am Oberschenkel zwei Fisteln, aus
welchen sich in wechselnder Menge ein eiteriges Secret entleert.
Knochen oder andere feste Bestandtheile sind aus den Fisteln nie
abgegangen.
Status praesens: Patientin mittelgross, gut genährt; sehr
starker Panniculus adiposus. Die Conjunctiven, sowie die Haut
normal gefärbt. Keine Oedeme. Temperatur, Puls, Respiration normal.
In den Lungen kein pathologischer Befund. Geringe Adipositas
cordis. Sehr dicke Bauchdecken, Abdomen etwas aufgetrieben.
Leberdämpfung nicht vergrössert, Leberrand nicht palpabel, ebenso¬
wenig die Gallenblase. Ungefähr zwei Querfmger unter dem Rippen¬
bogen in der Mamillarlinie eine ganz circumscripte Stelle, die auf
Druck schmerzhaft ist; daselbst eine kleine Resistenz tastbar. Sonst
ergibt die Palpation des Abdomens ein negatives Resultat.
An der Hinterseite des rechten Oberschenkels, ungefähr in
der Mitte, fand ich zwei circa linsengrosse Fistelöffnungen, deren
Grund speckig belegt war. Die Ränder waren etwas gewulstet, nicht
unterminirt. Durch die Oeffungen konnte man mit einer gewöhn¬
lichen Meisseisonde nach oben gegen den Trochanter Vordringen;
die Fistelwand war weich, locker, nicht leicht blutend. Durch die
Oeffnungen entleerte sich ein grüngelbes, fad riechendes, eiteriges
Secret; eine Communication zwischen den Fisteln war nicht nach-
598
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 26
weisbar. Oberhalb der Fisteln war die Haut des Oberschenkels in
einer Ausdehnung von mindestens zwei Handtellern glänzend,
ödematös, hart und die darunter gelegenen Weichtheilpartien prall
infiltrirt, auf Druck schmerzhaft; die infiltrirte Zone reichte nach
abwärts über die Fisteln, nach oben hin in die Höhe des
Trochanters.
Die Patientin, die schon viele Aerzte consultirt hatte,
hatte bisher nur antiseptische Verbände, Umschläge mit essig¬
saurer Thonerde aufgelegt; ein Arzt hatte Emplastrum cinereum
angewendet, aber nur durch ganz kurze Zeit und ohne Erfolg.
Welche Diagnose war nun zu stellen? Die Diagnose auf
Tuberculose, welche eigentlich am nächsten lag, war bei der
Beschaffenheit der Fisteln und dem guten Aussehen der
Patientin trotz des langen Bestandes der Erkrankung aus-
zuschliessen ; es waren keine unterminirten Ränder da, die
Beschaffenheit des Secretes sprach dagegen, die Sonde stiess
nirgends auf rauhen Knochen. Ich dachte an Aktinomykose;
aber eine Untersuchung des Eiters ergab ein negatives Resultat.
Am meisten schien mir trots der negativen Anamnese der
Befund für Lues zu sprechen; und ich dachte hiebei an einen
Fall von Myositis luetica des Quadriceps femoris, den ich vor
mehreren Jahren zu beobachten Gelegenheit hatte und bei dem
es zur Ausheilung unter Bildung mehrerer Fisteln am Ober¬
schenkel kam. Die Beschaffenheit der Fisteln sprach in unserem
Falle entschieden für den luetischen Charakter; auf Befragen
gab Patientin an, dass die Schmerzen besonders in der Nacht
auftraten. Ich machte daher dem Collegen den Vorschlag, da
meine Diagnose nur eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose sei, einen
Dermatologen zuzuziehen. Da ihm jedoch der Gedanke an
eine luetische Erkrankung seiner Mutter ein qualvoller war
und er den Zweifel der Unsicherheit einer positiven Be¬
stätigung vorzog, entschlossen wir uns, auf Grund der ge¬
stellten Wahrscheinlichkeitsdiagnose Jodnatrium innerlich zu
geben und auf die Fisteln und das Infiltrat Empl. einer, zu
legen. Diese Behandlungsweise wurde durch sechs Wochen
ohne den geringsten Erfolg fortgesetzt. Die Schmerzen blieben
dieselben, das Infiltrat breitete sich in den Partien unterhalb
der Fistelöffnungen noch mehr aus; die Schmerzen waren
qualvoll; die Secretion wurde noch reichlicher und belästigte
Patientin so sehr, dass sie mich vor ungefähr sieben Wochen
wieder aufsuchte. Ich nahm eine neuerliche Sondirung der
Fisteln vor, deren Oeffnungen sich nicht geändert hatten. Nach
abwärts konnte ich nicht weit Vordringen; ich fühlte nur
weichen Widerstand, keinen Knochen. Nach oben zu konnte ich
mit einer 25 cm langen Meisseisonde bis in die Gegend ober¬
halb des Trochanters, zwischen diesem und Tuber ossis ischii
eingehen, immer parallel der Hautoberfläche, ohne auf festen
Widerstand oder ein Hinderniss zu stossen; nach vorne zu
ging eine Abzweigung, in die ich auch tief eindringen konnte.
Obwohl ich nun über die Diagnose auch nicht mehr aufgeklärt
war als vorher, so war es mir doch klar, dass hier nur eine
Operation helfen könne. Da sowohl die Patientin, als auch
ihr Sohn damit einverstanden waren, nahm ich die Kranke
auf die Abtheilung meines Chefs, Herrn Proftssor PI o eben egg,
in der Allgemeinen Poliklinik auf. Vor der Operation äusserte
ich dem Collegen gegenüber den Verdacht, dass es sich auch
um einen Fremdkörper handeln könnte, der vom Rectum,
oder von der Scheide, oder auch direct eingedrungen sein
und die langwierige Eiterung und Fistelbildung verursacht
haben konnte. Von einer Durchleuchtung mit Röntgen-Strahlen
nahm ich Abstand, da durch ein positives oder negatives
Resultat derselben der Entschluss, die Operation vorzunehmen,
nicht mehr beeinflusst werden konnte und die Diagnose am
sichersten bei der Operation zu stellen sein würde.
Am 1. Mai wurde die Operation in Chloroformnarkose
vorgenommen. Ich ging mit einer Hohlsonde in die Fistel
ein, spaltete die auf dieselbe aufgelagerte, aus Haut, Unter¬
hautzellgewebe und I ett bestehende Gewebapartie, und gelangte
so, die Sonde immer weiter vorschiebend, bis in die Gegend
zwischen Crista ilei und Trochanter; da hörte der Fistelgang,
der überall oberhalb der Fascie lag, auf. Von diesem Haupt-
gang gingen nun eine Reihe von Seitengängen aus, deren
einer die Communication mit der anderen Fistelöffnung her¬
stellte, so dass die ganze Haut des Oberschenkels auch nach
vorne bis gegen die Mitte des Oberschenkels von einem Netz
von Hohlgängen unterwühlt war. Indem ich nun diesen
Taschen und Gängen nachging, fand ich endlich in den
untersten Partien dieses Lacunennetzes die Ursache des Pro¬
cesses: eine grosse Menge von Gallensteinen, zum Theile in
schönen Tetraederformen, zum Theile in kleineren oder grösseren
Stücken. Die einzelnen Gänge wurden nun freigelegt; nach
vorne zu, wo eine Tasche bis über die Mitte des Oberschenkels
reichte, wurde eine Gegenincision gemacht und ein starkes
Drainrohr eingeführt, hierauf dieganze grosse Wundfläche, deren
Längsdurchmesser über 30 cm betrug, mit Jodoformgaze tam-
ponirt und ein grosser Verband darüber angelegt. Die Heilung
ging glatt von statten; jetzt, nach circa sieben Wochen, ist
bis auf eine kleine, schön granulirende Fläche an der Hinter¬
seite des Oberschenkels Alles verheilt.
Die durch Herrn Regierungsrath Professor Mauthner
vorgenommene Untersuchung der Concremente ergab folgendes
Resultat: »Die Concremente sind Gallensteine: sie bestehen
der Hauptmasse nach aus Cholesterin neben Bilirubinkalk; das
Gesammtgewicht beträgt 9'4y.« (Ein Theil ist bei der Operation
verloren gegangen.)
Nach diesem überraschenden Operationsbefunde und unter
dem Eindrücke desselben wurde nun die oben angeführte
genaue Krankengeschichte aufgenommen, durch die nach¬
träglich mancher bisher dunkle Punkt aufgeklärt wurde. Vor
der Operation hatte ich auf die Geschichte der Gallenstein¬
erkrankung kein Gewicht gelegt; es ist ja verzeihlich, wenn
man bei einer Fistel am Oberschenkel nicht an einen directen
Zusammenhang dieses Leidens mit einem Leberleiden denkt.
Alle Collegen, die den Fall vor mir gesehen haben, haben
denselben Fehler begangen, und die Publication dieser seltenen
Ausheilungsform der Cholelithiasis dürfte vielleicht dazu bei¬
tragen, gerade nach dieser Richtung hin die Aufmerksamkeit
der Collegen bei ähnlichen Fällen in die richtige Bahn zu
lenken.
Aus den genauen Daten der Anamnese lässt sich der
durch die Operation erhobene Befund in ungezwungener Weise
erklären. Die vor längerer Zeit bestandene fieberhafte Er¬
krankung, deren Sitz jedenfalls die Gallenblase war, hatte zur
Fixation der Gallenblase mit der Umgebung geführt. Es war
zum Durchbruch der Gallensteine in die Umgebung gekommen
und dieselben waren bei der länger bestehenden Rückenlage
der Patientin, ihrer eigenen Schwere folgend, nach rückwärts
zu bis in die Fascia dorso lumbalis vorgedrungen. Inzwischen
war die Cholecystitis zur Ausheilung gekommen, die Patientin
ist aufgestanden und die Gallensteine senkten sich mit dem
sie umspülenden Eiter längs der Fascie nach abwärts; sie
führten nun in der Gegend des Trochanters zu einer einen
kalten Abscess vortäuschenden Erkrankung und waren dann,
immer ihrer eigenen Schwere folgend, nach Durchbruch des
Eiters mehr und mehr längs der Oberschenkelfascie nach ab¬
wärts gedrungen.
Es sind in der Literatur mehrere Fälle von Gallenstein¬
wanderung angegeben. Bei einem von K r ö n 1 e i n mitgetheilten
Fall bildete sich eine Gallenblasen-Harnblasenfistel aus, so dass
Gallensteine durch die Harnröhre abgingen. Courvoisier
gibt in einer statistischen Zusammenstellung von 169 Fällen
von äusseren Gallenfisteln an, dass sich die Fistelöffnungen
meist einfach, seltener zwei- oder mehrfach gebildet hatten:
Zehnmal in der rechten Regio iliaca,
zwölfmal im Nabel,
elfmal unter dem Nabel und
einmal in der linken Leiste.
Bei einem interessanten Fall, den v. Bergmann beobachtet
hat, fand sich eine Fistelöffnung am Nabel. Mit der Sonde
stiess man, nach der Symphyse hin vordringend, auf Gallen¬
steine, die operativ entfernt wurden. Der Fistelgang war in
diesem Fall — es handelte sich um eine ältere Frau — vom
offen gebliebenen Urachus gebildet. II u g n i e r (citirt von
Courvoisier) fand einmal multiple Gallenfisteln der Bauch¬
wand, welche alle durch Gänge untereinander verbunden
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
599
waren. Die Fistelöffnungen befanden sich am Nabel, im mitt¬
leren Hypogastrium, am Mons Veneris und sogar neben der
Clitoris. Was die Aetiologie betrifft, war in diesem merk¬
würdigen Falle ein Trauma der Lebergegend (Fall auf eine
Kante) vorausgegangen.
Professor Weinlechner bat einen Fall publicirt, bei
welchem in einem periproktitischen Abscess ein Gallenstein
gefunden wurde. Herr Dr. Itzinger theilt mir mit, dass er
bei einer 86jährigen Frau mit einem starken Hängebauch an
der tiefsten Stelle desselben, ungefähr zwischen Nabel und
Symphyse, in einem Abscess einen ungefähr gänseeigrossen
Gallenstein fand, nach dessen Entfernung der Abscess spontan
ausheilte. Eine so weit fortschreitende Wanderung von Gallen¬
steinen, wie in meinem Fall, habe ich bisher nirgends publicirt
gefunden, und halte mich daher berechtigt, diesen seltenen
Fall mitzutheilen.
FEUILLETON.
Materialien zu einer Geschichte der Pharaonen-
medicin.
VI. Aegyptische Pneumalehre im Auslande.
In der Pneumalehre habe ich einen Ueberblick über die
Wichtigkeit pneumatischer Anschauungen der Alten gegeben.
Die grössten Schwierigkeiten entstanden in geschichtlich-medi-
cinischen Arbeiten für Philologen, welche natürlich nur mit
Mühe in moderner Physiologie sich zu recht finden, sich im
Geiste in uns ganz fernliegende physiologische Ansichten hin¬
einzudenken. Und doch ist dies noting zum Verständnisse der
alten medicinischen Autoren.
Wir dürfen hier nie vergessen, dass es ein Anachronismus
der schlimmsten und verhängnissvollsten Art ist, bei den Alten
das Hirn als Centrum der Nerventhätigkeit, die Lunge als
Hauptorgan der Athmung und das Herz als Centralorgan für
die Blutbewegung anzusehen. Es lassen sich ja Anklänge an
diese Erkenntniss nachweisen ; aber es sind dann nur immer
ganz vereinzelte Stellen einzelner Autoren, welche nie consequent
diese Lehre durchführen. Die Keime der heutigen Erkenntniss
lassen sich in den Darlegungen der Alten nachweisen, aber
nicht die ausgewachsene Erkenntniss. Es wäre auch das nieder-
schlagendste Armuthszeugniss, wenn seit einigen tausend Jahren
gar kein Schritt vorwärts gethan wäre. Wir dürfen die Alten
nicht überschätzen. Wir dürfen sie auch nicht unterschätzen.
In dem, was damals erreicht war, standen sie zeitenweise sehr
hoch. Es wäre aber auf anderem Gebiete auch ungereimt, einen
Aufsatz schreiben zu wollen, warum Hannibal den Uebergang
über die Alpen nicht mit Lydditkanonen erzwungen hat. Ganz
curios würde ein Aufsatz wirken, welcher darthun wollte, dass
vielleicht Hannibal doch schon die Lydditwirkung kannte, aber
die Anwendung für unerlaubt hielt. Leider sind in der Be¬
handlung der Hippokrates-Frage ähnliche curiöse Nebenfragen
nicht völlig vermieden worden. Und so dürften Einblicke in
die Physiologie der Pneumatiker in ältester Zeit hier ange¬
bracht sein, auch ausserhalb Aegyptens.
Die Physiologie blieb natürlich im Laufe der Jahr¬
tausende nicht unverändert. Bald wurde hier, bald dort ein
Satz bekämpft. Aber mehr oder weniger kam man doch immer
wieder auf den alten Kern zurück, welchen ich hier dar¬
bieten will.
Ich habe die Zusammensetzung des Körpers aus Hart-
theilen, Weichtheilen, Flüssigkeiten und Gasen (Pneuma) schon
erwähnt. Für letztere Bestandtheile war die Gefahr des Ver¬
lustes vorhanden. Darum scheiden sich in den Weichtheilen
besondere Bahnen dafür ab als Venen und Arterien, und über¬
zieht sich ausserdem der Körper mit einem besonderen Weich-
theil: der Haut. Das Centralorgan für die Athmung ist die
Nase (modern: Lunge). In das innere Arteriensystem gelangt
das Pneuma durch die Herzohren, wie das gesprochene Wort
durch die Ohren des Kopfes geht. Das Herz des Alterthumes
entspricht in der Function aber modern dem Gehirne. Und
was wir als Nerventhätigkeit bezeichnen, wurde meist den
lufthaltigen Arterien zugeschrieben. Das, was modern dem
Herzen zukommt, wurde der Leber zugeschrieben. Die Leber
ist das Centrum der Blutbereitung und der Venen.
Ueberall erscheinen die späteren vier Grundflüssigkeiten
von Schleim, gelber Galle, schwarzer Galle und Blut. Ursprüng¬
lich können auch diese oder ihre Ausgangspunkte nur einer
objectiven missverstandenen Naturbeobachtung entnommen sein.
Nach meiner Ueberzeugung liegen hier Beobachtungen bei
der Blutgerinnung zu Grunde. Die Spaltung in schwarzen
Blutkuchen und überstellendes gelbliches Serum ergab die
erste Zweitheilung. Die Möglichkeit der Fibrinausrührung im
frischen Blute ergab eine weitere Zweitheilung des Blutkuchens,
in das Fibrin und in die färbende Substanz. Letztere wurde
für identisch mit der Galle angesehen und mit ihr gleich ge¬
nannt. Die Erhöhung des Fibringehaltes des Blutes bei allen
entzündlichen Processen musste bei dem hohen Alter des
Aderlasses eine alte medicinische Beobachtung sein. Die Con-
fundiruDg des Fibrins mit Eiterung lag auch sehr nahe. Es
ergab dies den sehr verschwommenen Begriff des Phlegma¬
schleimes. Das Blutserum musste später gleichfalls eine dua¬
listische Spaltung erhalten. Und es lag nahe, hier einen hellen
Farbstoff, nämlich die gelbe Galle, neben Wasser anzunehmen.
Diese Eintheilung scheint aber in einem fortwährenden Wechsel
gelebt zu haben. Nur der altägyptische Hang an den Zahlen
2, 4, 8, 16 etc. drückt sich auch in dem Festhalten von
Griechen und Körnern an der Vierzahl der Grundsäfte aus.
Im dritten Capitel des hippokratischen de genitura sind
die vier Flüssigkeiten: Blut, Galle, Wasser und Schleim. Hier
muss das arterielle Blut als Grundstoff verstanden werden,
während das venöse Blut nur als Mischung von arteriellen
Blute, Galle, Wasser und Schleim gedacht werden kann.
Arterielles wie venöses Blut sind im Geiste jener Zeit im
gleichen Venensystem enthalten, so dass durch eine leicht er¬
klärliche Täuschung in der Beobachtung beim Aderlässe aus
der Vene anfänglich venöses und zum Schlüsse arterielles Blut
fliesst. In einer Anmerkung von Robert Fuchs sah ich
nachträglich, dass Baum hau er eine ähnliche Erklärung der
Grundstoffe wie ich aufgestellt hat. Die wegwerfende Be¬
merkung von Fuchs als Philologen über eine Sache, welche
man mit medicinischer Selbstbeobachtung gesehen haben muss,
gegenüber Baumhauer ist gänzlich unangebracht und muss
scharf zurückgewiesen werden, da Fuchs sicherlich noch
keinen Aderlass mit eigenen Augen zu sehen bekam.
Genau die vier gleichen Grundflüssigkeiten, wie in de
genitura sind auch im ersten Capitel des vierten Buches de
morbis angeführt. Eine Zusammenstellung aller Bücher und
Stellen mit gleichen Ansichten ist hier nicht beabsichtigt. Ich
will nur Beispiele anführen, und auch diese Entnahme von
Beispielen aus Hippokrates findet nicht unmittelbar im Interesse
der Hi ppokrates-Forschung statt, sondern, wie schon dieUeber-
schrift ergibt zum Verständniss der vorhippokratischen Medicin,
welche natürlich und erweislich in der hippokratischen Medicin
fortlebt.
Am weitesten von der ursprünglichen Aufstellung ent¬
fernt sich der Flüssigkeitsbestand, wenn er, wie im vierten
Capitel de natura hominis als Blut, Schleim, gelbe Galle und
schwarze Galle aufgestellt wird. Im zweiten Capitel dieser
Schrift ist weniger consequent nur die Dreitheilung in Blut,
Galle und Schleim aufgestellt.
Ich habe schon darauf hingewiesen, dass die Vierheit:
Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle in der Ge¬
schichte der Medicin unendliche Male zu Tage tritt. Man
kann diese Ausgestaltung als die Grundlage jedes orthodoxen
Humoralpathologen annehmen. Wenn auch Galen os der
scheinbare Gewährsmann ist, welcher bis in das späteste
Mittelalter diese Vierheit als unantastbar überliefert hat, so
ist dies jenem Arzte weder zum Verdienste noch zum Ver¬
brechen aufzurechnen. In seiner Zeit . war diese Gestalt der
Humoralpathologie schon so festgefügt, dass alle Widersprüche
dagegen nur Nadelstiche waren. Und selbst ein Gale no s
hätte durch Angriffe dagegen eher seine eigene Autorität ver¬
nichtet, als wirksame Bresche gelegt.
600
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
Nr. 26
Ebenso war ein alter Bestand, welchen G a 1 e n o s über¬
nehmen musste, die Qualitätslehre mit den Eigenschaften des
Warmen und Kalten, des Feuchten und Trockenen. Dass
schon sofort der erste Satz in de prisca medicina von diesen
vier Qualitäten spricht, beweist, dass die Lehre von den¬
selben auch schon der Zeit des Hippokrates, als alt¬
überliefert galt. Auch diese Lehre musste von Galenos ohne
Widerspruch angenommen und bis in das späteste Mittelalter
überliefert werden.
Die ursprüngliche Theilung in die Vierheit von Fest,
Weich, Flüssig und Gasförmig und die abermalige Theilung
der Flüssigkeiten in die Vierheit von Blut, Galle, Wasser und
Schleim gibt eigentlich keinen Raum mehr für die Viertheiluug
der Qualitäten von Warm und Kalt, Feucht und Trocken.
Die hellenistische Speculation, welche später in der Religion
den widersinnigsten Gnosticismus hervorbringen konnte, fand
es auch in der Medicin für geistreich, widersprechende Theorien
in die gleiche Wurst zu verarbeiten. Sie brachte es fertig
zwei Flüssigkeiten für feucht und zwei F 1 ü s s i g k e i t e n für
trocken zu erklären.
Das sind späte Ausgeburten, als die Medicin schon
anfing, sich von directer, wenn auch naiver Naturbeobachtung
zu entfernen. Gerade diese äusserlich glänzende Zeit hat uns
aber die meisten Literaturdenkmäler überliefert, so dass die
künstlichen Vermengungen verschiedener Viertelungstheorien
literarisch gut belegbar Objecte philologischer Forschungen
sind, während natürlich Reconstructionen der einzelnen Be-
standtheile dieser Vermengungen zu den mühseligsten und
unsichersten Arbeiten gehören, so lange wir dafür keine
directen Belege haben. Solche directe Belege verspricht aber
die Hieroglyphen- und Keilschriftmedicin zu liefern, nachdem
alle bisherigen Anzeichen den engen Zusammenhang mit der
griechischen Medicin ergeben haben.
Zu der Lehre von den vier Qualitäten des Trocken und
Feucht. Warm und Kalt kommt die Forderung des Tempera¬
mentes. Jede dieser Qualitäten besass eine Quantität. Und wenn
die Quantität des Warmen so ziemlich der Quantität des Kalten
gleich war, so waren diese Qualitäten temperirt. Das Gleiche
war zwischen trockener und feuchter Qualität der Fall. Zur
Förderung der Gesundheit des menschlichen Körpers gehörte
es, dass die beiden Qualitätspaare temperirt waren.
Die Wahrheit dieser Lehre Hess sich im Geiste der
Alten auf Schritt und Tritt erweisen. Das Aderlassblut des
Fiebernden gerinnt in Folge des höheren Fibringehaltes rascher
als das Blut beim Gewohnheitsaderlasse i m Frühjahr. Also
musste das Blut des Fiebernden zu viele Troekenbestandtheile
enthalten. Natürlich war hier der vermehrte Durst; denn der
Kranke musste zu richtiger Temperirung mehr Flüssigkeit
aufnehmen. So sonderbar uns diese Ansicht erscheinen mag,
für jeden Satz ergaben sich scheinbar ebenso stichhaltige
demonstrirbare Beweise, so dass sich die Gesammtlehre zu
einem festen Bau fügte, der, trotz kleiner Zutkaten und Weg¬
nahmen im Laufe der Zeit, viele Jahrtausende überdauerte.
Diese Erfahrung ist so recht geeignet auch unser heutiges
Lehrgebäude trotz der unendlichen Ausarbeitung und Beweise
nicht als die endgültige Erkenntniss der Wahrheit erscheinen
zu lassen. Die Zukunft wird etwas noch Besseres in Jahr¬
tausenden bringen.
Ein so festes Gefüge der Qualitätslehre griff aber überall
in das Alltagsleben ein, wie es heute die Antiseptik thut. Und
auch heute noch ist unser Leben von Atavismen der Qualitäts¬
lehre durchsetzt. Ich will statt aller anderen Beispiele nur an
den gepfefferten Gurkensalat erinnern. »Ungepfeflferter Gurken¬
salat ist gesundheitsschädlich« wird an jedem Sommerabend
von Tausenden von Lippen ausgesprochen. So sagte schon die
Urgrossmutter, so sagt heute noch die Enkelin. Der Arzt hört
es so oft, dass er es glaubt, ohne sich darüber Rechenschaft
zu geben. Durchsuchen wir unser modernes Lehrgebäude nach
Gründen, so tritt uns höchstens die Schwerverdaulichkeit der
unreifen Frucht Gurke und die Anregung der Verdauungs-
sätte durch das Gewürz entgegen. Warum lassen wir aber
die Gurke nicht völlig reifen? Solche und ähnliche Fragen
müssen uns aufstossen.
Die Lösung ist einfach. Wir haben ein altvererbtes, in
früheren Zeiten nach medicinischen Grundsätzen in die Küche
übergegangenes »Temperament« vor uns. Die Gurke ist über¬
mässig kalt und der Pfeffer ist heiss. Der Pfeffer bringt daher
auch den Mann (als heiss) aufs Pferd und die Frau (als kalt)
unter die Erd’. Mit Gurken kann man sich den Magen ver-
kälten. Auf das Pfund Gurke ein halbes Loth Pfeffer gibt das
nötkige Temperament, und zwar mit einer alten Verhältniss-
zahl 1 : 64. Das ist atavistische Hygiene, gemäss der Qualitäts¬
lehre. Es wird hier der gefürchteten Schädigung von Seite
der Kälte durch genügende Wärme vorgebeugt.
Auch in den Qualitäten spricht sich die Vierzahl aus,
auf welche ich schon als altägyptische Zahlen hingewiesen
habe. Wollen wir aber einen Sinn in die Vierheit von Kalt
und Warm, Feucht und Trocken bringen und dem gegenüber
Blut, Galle, Wasser und Phlegma corrigiren, so müssen wir
für Blut das Pneuma einsetzen. Und dies dürfte der alt-
ägyptischen Lehre entsprechen. Das Blut müsste dann erst
später vor Entstehung der entsprechenden griechischen Schule
eingetreten sein. Hier muss ein streng hämatisches Dogma
die Höhe der Pneumalehre im Allgemeinen anerkannt haben,
aber wegen Aeusserlichkeiten auch nur rein äusserlich das
hämatische Dogma beibehalten haben. Hier Beweise zu
bringen, würde zu weit führen. Ich will es darum hier einst¬
weilen als ganz un gestützte Theorie geben, wie ich mir den
ganzen Zusammenhang zurecht gelegt habe.
Zwischen Sardes und Aegypten fand, durch Herodot
mehrfach belegt, ein reger Verkehr statt. Sardes war aber, wie
mehrfach zu erweisen, ursprünglich streng hämatisch. Wie
sehr solche hämatische Lehre in die Opfer, die Religion und
religiöse Vorschriften eingreifen kann, zeigt das mosaische
Gesetz. Für Altlydien war dies wohl nicht anders. Wenn zu
irgend einer Zeit die pneumatische Medicin Aegyptens nach
Lydien verpflanzt wurde, so musste dies mit den entsprechenden
Zugeständnissen an die alte heimische Tradition geschehen.
Und dies Zugeständniss war eine äusserliche Ilämatisirung.
Dass diese äusserliche Ilämatisirung einfach für die vier Grund¬
stoffe: Pneuma, Wasser, Galle und Fibrin die vier Flüssig¬
keiten: Blut, Wasser, Galle und Schleim einsetzte und damit
ganz sinnlos zwei Flüssigkeiten als trocken erklären musste,
war bei solchen Zwangsanpassungen, wie sich solche auch
manche Götter gefallen lassen mussten, etwas, wobei man zwei
Augen zudrückte. Die älteste Medicin von Kroton, Knidos und
Kos war schon nach der geographischen Lage ganz abhängig
von Sardes. So kann es auch gar nicht auffallen, dass in die
griechische Medicin der alten Blüthezeit die dialektisch sehr gut
darlegbare Lehre von den vier Flüssigkeiten: Blut, Wasser,
Galle und Schleim und gleichzeitig die Qualitätslehre kam,
welche empirisch materiell ein widersinniger Compromiss
waren.
Wir dürfen uns aber zum Verständniss dieser seit Harvey
uns sehr ferne liegenden Lehren nicht philologisch an den
Wortschall in den hippokratischen Schriften klammern, sondern
müssen mit modern wissenschaftlicher Untersuchungsmethode
die Phylogenie der verschiedenen medicinischen Dogmen zu
ergründen suchen. Hier ist ein Archäopteryx von grösserem
Werthe als hundert Pterodaktylenfunde. Aber es zeigen sich
noch mehr Zwischenglieder, wenn wir in den hippokratischen
Schriften nur genau zusehen. Und zwar sind dies ganz
gewichtige Zwischenglieder.
Im zwölften Capitel de arte ist die Vierheit: Feuer,
Pneuma, Phlegma und Wasser. Auch diese Darstellung dürfte
auf relativ hohes Alter Anspruch machen. Gegen die eben
besprochene Vierheit zeigt sich das Feuer an Stelle der Galle,
so dass nur noch an Stelle des Phlegma die Erde nötkig
wäre, um eine Aufzählung der Elemente des Empedokles zu
erhalten. Wir kommen aber damit auf einen Standpunkt,
welcher nach D i o d o r jener der ägyptischen Physiologie ist.
Und diese möchte ich ja nach meiner Ueberzeugung, so weit
nicht hämatische Lehren aus dem Osten stammen, als Grund¬
lage aller dickotomirenden Lehrgebäude annehmen.
Im sogenannten hippokratischen Corpus haben die
Alexandriner Gelehrten örtlich und zeitlich sehr Verschieden-
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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artiges gesammelt. Bei dem mir unverkennbaren Zusammen¬
hänge des Inhaltes der hippokratischen Bücher mit der alt-
ägyptischen Medicin möchte ich hier nochmals eine un¬
bewiesene Hypothese einführen. Die Alexandrinischen Ge¬
lehrten hielten diese gesammelten Schriften durchwegs für
Weiterbildungen und Verbesserungen des ägyptischen Lehr¬
gutes und schrieben sie daher dem Verdienste ihrer Lands¬
leute zu, was sich zuletzt auf die eine Person des Hippokrates
zusammendräDgte. Darnach müsste die ägyptische Grundlage
überall verändert oder nur fragmentarisch eingestreut in dem
überliefert sein, was uns als Corpus hippocraticum erhalten
blieb. Werthvoll zur Reconstruction bleiben uns auch die
Fragmente neben den ägyptischen Papyri.
Trotz des Compromisses dürfte aber auch in Sardes die
alte Orthodoxie nicht die Lehre von der Vierheit des Blutes,
des Wassers, der Galle und des Schleimes angenommen haben,
sondern dieselbe blieb auf der Einheit des Blutes stehen.
Althämatische Schriften, welche ohne »Wenn« und »Aber«
nach Art verschiedener biblischer Stellen aussprechen, dass
das Blut das Leben ist, sind von den Alexandrinern nicht in
das Corpus hippocraticum aufgenommen. Im Gegentheil, es
finden sich scharfe Absagen an die Monisten, d. h. jene
Physiologen, welche eine einzige Grundlage für das Leben
annahmen. Und die gehasstesten Monisten waren die orthodoxen
Hämatiker. Der alte Gegensatz zwischen Aegypten und Meso¬
potamien dauerte ja auch in der Ptolemäerzeit noch fort. Und
wenn für Mesopotamien zeitweise Syrien eintrat, so übernahm
Syrien die politische wie medicinisch-toxologische Erbschaft
des Zweistromlandes. Iu meinen Aufsätzen über Keilschrift-
medicin habe ich noch aus der späten Zeit der Byzantiner
in Asien ziemlich reine Reste der hämatischen Medicin nach-
weisen können.
Ein weiterer Widerspruch gegen die Compromissmedicin
Kleinasiens der vier galenischen Grundsäfte erhob sich, als
die Griechen directen Zutritt zu einzelnen ägyptischen Priester¬
schulen erhielten, z. B. Platon. Damals entstand die pneumatische
Schule in Griechenland, welche als pneumatische Renaissance
bezeichnet werden kann.
Der ursprüngliche Ausgangspunkt für alle folgenden
medicinischen Schulen war der Gegensatz der Hämatiker und
Pneumatiker. Und hiefür ergeben sich wieder ethnographisch¬
religiöse Grundlagen. In Aegypten war die Fürsorge für die
Leiche eine religiöse Pflicht, welche eingehende Kenntniss der
Leiche nothwendig machte. In Asien war jede Berührung
mit Leichen eine Verunreinigung, welche gemieden werden
musste. In Aegypten musste also die Entdeckung der Blut¬
leere der Leichenarterie beim Menschen in frühester Zeit ge¬
macht werden. In Asien war diese Entdeckung an mensch¬
lichen Leichen ganz unmöglich. Es musste sich nothwendig
ein Gegensatz herausbilden. Dem Asiaten war der Verblutungstod
das Urbild des Todes, dem Aegypter der Erstickungstod. Dass
augenscheinliche Naturerscheinungen von beiden anerkannt
wurden, ist natürlich. Aber meritorisch beurtheilten sie die¬
selben verschieden. Der Asiate war Hämatiker und erkannte
die Athmung an, aber mit untergeordneter Bedeutung. Der
Aegypter war Pneumatiker und erkannte die Wichtigkeit des
Blutes an, aber im Verhältnisse zur Athmung doch nur als
untergeordnet. So war auch dem Hämatiker die Nase der Sitz
der Athmung. Aber die Nase war damit für den Hämatiker
kein Organ erster Ordnung. Und ebensowenig war die Leber
dein Pneumatiker ein Organ erster Ordnung, wenn auch dieser
ebenso wie der Hämatiker vorhippokratischer Zeiten die Leber
als Oentralorgan des Blutes ansieht.
Die Träume werden im Buche de flatibus aus dem Ein¬
tritt des Schlafes und der Eintritt des Schlafes aus einer Ab¬
kühlung des Blutes abgeleitet. Es findet sich diese Darlegung
im letzten Abschnitte von der heiligen Krankheit. Wenn selbst
ein ausgesprochener Pneumatiker in dieser Weise die Träume
hämatisch erklärt, so müssen wir die Träumeverwerthung im
Alterthume als unbestrittenes Gebiet der Hämatiker annehmen.
Der Pneumatiker leugnete ja das Blut nicht, sondern er
leugnete nur dessen ausschlaggebenden Einfluss auf das Leben
im Verhältnis zum Pneuma. Ein Einfluss des Blutes und der
daraus entstandenen Träume kann darum für die Kranken¬
behandlung vom Pneumatiker nie zugestanden werden. Es ist
diese Feststellung um so wichtiger, als uns die gelegentlichen
Bemerkungen von Träumen oder von absichtlichen Tempel¬
träumen einen werthvollen Fingerzeig für hämatische Einflüsse
abgeben.
Dem gegenüber sind epileptische und kataleptisehe Zu¬
stände nach dem Buche de flatibus Krankheiten, welche der
Pneumatiker gerne erwähnt, da er sie durch das Pneuma
glaubte erklären zu können.
Krankheiten, welche aus dem Blute stammen sollten,
waren alle Hautausschläge. Auch die heutige Volksmedicin
erklärt in ererbter Weise diese Krankheiten noch hämatisch.
Ein Lieblingsthema der Hämatiker ist zu allen Zeiten der
Aussatz.
Das pneumatische Buch de flatibus dagegen leitet zu¬
nächst alle wichtigen Krankheiten aus einem Zuviel oder
einem Zuwenig oder aus qualitativ schlechtem Pneuma ab.
Die Gegenmittel als Räucherung und als Mittel zum Erzeugen
von Flatus und Ructus sind schon besprochen. Sie entsprechen
völlig der therapeutischen Forderung zu Beginn des Buches
de flatibus: »Die Heilkunst besteht nämlich im Hinzufügen
und Wegnehmen, im Wegnehmen der überflüssigen und im
Zusetzen der fehlenden Dinge.«
Dann wird von den einzelnen Krankheiten ganz in dem
Sinne des menonischen Berichtes erklärt, dass sie vom Pneuma
hervorgerufen werden. Die schwer verständlichen Darlegungen
müssen sich aus anderen hippokratischen Schriften erklären.
Im zehnten Capitel de arte steht: »Alle Ivörpertheile nämlich,
welche ringsum sogenanntes Muskelfleisch haben, besitzen einen
Hohlraum; denn Alles, was nicht zusammengewachsen ist,
mag es nun mit Haut oder Fleisch umkleidet sein, ist hohl
und in gesundem Zustande mit Pneuma gefüllt, in leidendem
aber mit Ichor. Solches Fleisch besitzen die Arme, es besitzeu’s
die Schenkel, es besitzend auch die Waden; es ist aber aueh
in den fleischlosen Theilen in derselben Form vorhanden, die
bei den fleischigen Theilen nachgewiesen wurde.«
Zu dem Ichor gehören alle krankhaften flüssigen Körper-
producte, vor Allem auch die Ascites- und Anasarkaflüssig-
keiten. So wird es mit kurzen Worten erklärlich, was im
Buche de flatibus sehr lange ausgeführt wird, dass Wasser¬
sucht eine Pneumakrankheit sei. Eine Modekrankheit für Bei¬
spiele, Flüche und Aehnliches bei Anhängern der Pneumalelire
wird dadurch die Wassersucht, wie es der Aussatz für die
Hämatiker ist.
Wo ohne zwingenden Grund so zu sagen vom Zaune
gebrochen im Alterthume die Wassersucht erwähnt wird, gibt
dies einen Fingerzeig für pneumatische Einflüsse. Um freilich
eine bewusst pneumatische Schule annehmen zu können, müssen
noch andere Beweise hinzutreten. Dagegen ist eine ausge¬
sprochene hämatische Schule in jeder zeitlich und örtlich be¬
grenzten Cultur sehr fraglich, iu deren Schriftdenkmälern die
Wassersucht h e r v o r gehoben wird.
Natürlich haben in einem Laude einzelne Patienten in
demselben Masse an Ascites und Anasarka gelitten, ob die
Ansichten pneumatisch oder hämatisch waren. Aber auch heute
braucht man nur Arzt in verschiedenen ländlichen Bezirken
gewesen zu sein, um die Sucht zu kennen, alle Krankheits¬
fälle so weit als möglich auf einen Krankheitsnamen zu be¬
ziehen. Rheumatismus articulorum ist in der einen Gegend
Gelenkgicht, in der anderen Gelenkwassersucht und in der
dritten sind es Flüsse. Durch solche willkürliche Deutungen
wird es natürlich leicht möglich, dass je nach Schule irgend
eine Diagnose überwiegt. Und in diesem Sinne war die Wasser¬
sucht die Modekrankheit der alten pneumatischen Schule.
Mit der Wassersucht zusammen ist auch die Bildung
der Schweisse nach dem zwölften Capitel de arte aus Pneuma
zu erwähnen.
Das Buch de flatibus erklärt durch pneumatische Ein¬
flüsse die heilige Krankheit, welche epilept'sche und kata-
leptische Zustände umfasst, dann Fieber, Ructus, Kopfschmerz,
Schläfeklopfen, Phthisis und Apoplexie. Bei der conservativen
Natur der Pneumalehre müssen alle diese Krankheiten be-
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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sonders beliebte Studienobjecte der Pneumatiker aller Zeiten
gewesen sein und können darum mit Wahrscheinlichkeit in
pneumatischen Schriften gesucht werden.
Die Pneumalehre leistet der Verbreitung der Parfumirung
grossen Vorschub. Im ersten Capitel de medico, einem Buche
der hippokratischen Sammlung, welches durchaus nicht pneu¬
matische Lehrmeinungen verficht, wird vom Arzte verlangt,
dass er sich mit wohlriechenden Salben parfumiren soll.
Fuchs eitirt dazu, dass schon in der Ilias (23, 186) Rosen¬
salbe erwähnt wird. In Delos wurden berühmte Salben be¬
reitet, in Korinth das Irinum, in Rhodos das Crocinum, in
Adramyttos das Oenanthinum, in Kos das Amaracinum und
Melinum, in Cypern und in Mytilene das Sampsuchinum. Wie
alt diese Parfumindustrie war, beweist, dass für Alasia, d. h.
Cypern. schon die Keilschrifttafeln von Amarna den Export
solcher Salbe nach Aegypten berichten. Wie sehr diese Wohl¬
gerüche in die ärztliche Kunst eingriflen, zeigt der breite
Raum, welchen ihnen Diosco rides widmet. Wenn auch die
Salbungen als alltägliches Bedürfniss galten, so wurde bei
Symposien und Hochzeiten mit ganz besonderen Aufwande
diese Salbungen vorgenommen. Im zehnten Capitel der hippo¬
kratischen Präcepta wird der junge Arzt gewarnt, sich durch
zu kostbare Parfumirung Patienten verschaffen zu wollen.
Fuchs führt als Literatur an: Sigismund, Die Aromate
in ihrer Bedeutung für Religion, Sitten, Gebräuche, Handel
und Geographie des Alterthums. Leipzig 1884, und: Othmar
Lenz, Botanik der alten Griechen und Römer. Gotha 1859.
Für den vorliegenden Artikel konnte ich von einer Ein¬
sichtnahme dieser Literatur Abstand nehmen, da ich lieber
primäre als secundäre Quellen benütze.
Wir müssen hier den übermässig parfumirten jungen
Arzt zu verstehen suchen. Und das ist gerade in unserem
Zeitalter sehr begreiflich. Wir brauchen nur an die Bacillo-
pliobie einer Hysterica denken. Das Leben und Treiben eines
solchen Musterexemplares ist mir in einer Beamtentochter
aus Budapest bekannt. Sie schliesst ganze Kategorien von
ihrem persönlichen Umgänge aus, darunter auch alle Aerzte,
weil diese mit bacillentragenden Patienten in Berührung
kommen. Kinder und Verwandte von Kindern und Aerzten
sind ausgeschlossen, da auch Kinder besonders leicht für
Ungeziefer, also auch für Bacillen empfänglich sind. Natürlich
hat sie stets Handschuhe an. Aber auch mit Handschuhen
will sie nichts berühren, was Andere berührt haben und soll
auch die unmittelbare Dienerschaft nichts berühren, was Ba¬
cillen enthalten könnte. So werden vor Allem die Thürklinken
gefürchtet und darf daher selbst im Winter keine Thüre
völlig geschlossen werden, um das Thiirklinkenberühren ver¬
meiden zu können. Als eine der gefährlichsten Personen er¬
scheint auch der Briefträger. Alle Hausbewohner müssen vor
der Oeffnung eines Briefes die Hände waschen, ein Tuch über
den Tisch breiten und nun das Couvert ohne Berührung des
Briefes vom Brief entfernen. Dann wird sofort jedes bacillen-
verdächtige Couvert den Flammen übergeben, die Hände wieder
gewaschen und der Brief unter aller Vorsicht gelesen. Wenn
der Brief aufgehoben werden muss, so kommt er sofort in
eine bacillendichte Schublade.
Diese Narrheit ist weiter verbreitet als man denkt. Ich
hätte auch einen Apotheker schildern können, den ich kenne
und bei welchem die Bacillophobie sich in standesgemäss ge¬
änderter Form äussert. Dass ein Millionärskind in New York
mit allen Chicanen der Bacillophobie erzogen wird, hat erst
in den letzten Tagen die Presse besprochen. Narren, welche
nichts zu thun haben, als ihren Narrheiten zu leben, gibt es
aber immer und überall. Dieselben passen sich unverdauten
modernen Lehren an und halten sich nun für Uebermenschen der
Weisheit. Zur Zeit der pneumatischen Anschauungen musste
die Miasmophobie an der Tagesordnung gewesen sein. Die
Miasmophoben bevorzugten natürlich jenen Arzt, welcher
antimiastisch von ferne nach allen Salben roch. Dass diese
Richtung bis zur Fratze getrieben wurde, selbst bei jungen
Aerzten — wer denkt da nicht an den modernen jungen
Mediciner. welcher die ganze Strasse entlang, welche er
wandelt, an seinem übertriebenen Carbolgeruche erkannt wird,
oder wollen wir noch moderner Formaldehydduft sagen —
ersehen wir aus der Warnung in den Präcepta. Dass ein
grosser Meister für den Standpunkt seiner Zeit mit der
Pneumalehre sogar Praktisches geleistet hat, können wir an¬
nehmen. Aber die praktische Ausführung war, wie noch heute,
nicht immer gleich werthig.
Eine Theorie, wie die Pneumalehre, welche Jahrtausende
geherrscht hat, greift gewaltig in die Entwicklung der Medicin,
wie religiös- hygienischer Gebräuche ein. Eine zusammenfassende
Darstellung der Pneumalehre besitzen wir in einem schon er¬
wähnten Buche, welches sich in der Summe der Bücher mit
dem Namen des Hippokrates findet. Gerade die neuere
kritische Richtung wollte dieses Buch als eines hinstellen, von
dem es am wenigsten möglich sei, dass es Hippokrates
geschrieben habe. Da ergab plötzlich ein griechischer Papyrus¬
fund des Fajum die Noth wendigkeit diese negative Kritik
nochmals zu prüfen. Es sind Excerpte in jenem Papyrus ent¬
halten, welche auf eine Geschichte der Medicin von Me non,
dem Schüler des Aristoteles zurückgehen, also mit wenigen
Jahren Unterschied fast zeitgenössische Berichte mit Hippo¬
krates sind.
Ich will hier die einschlägige Stelle in der Uebersetzung
von Beckh und Spät geben:
»Hippokrates aber sagt, die Ursachen der Krank¬
heiten seien die Blähungen (cpöaat), wie Aristoteles von
ihm auseinander gesetzt hat. Hippokrates gibt nämlich
für die Entstehung der Krankheiten folgende Erklärung: Ent¬
weder in Folge der zugeführten Nahrung oder ihrer Ungleich¬
artigkeit oder in Folge davon, dass die zugeführte Nahrung
grob und schwer zu verarbeiten ist, enstünden Perissomata
(Ueberschiisse, Schlacken) und wenn das Zugeführte zu viel ist,
so wird die, die Verdauung bewirkende Wärme überwältigt
von Seiten der vielen Speisen und befördert nicht mehr die
Verdauung. Dadurch aber, dass diese gestört ist, entstehen
Perissomata.
Wenn aber die Bestandtheile der zugeführten Nahrung
verschiedenartig sind, so vertragen sie sich im Leibe nicht
miteinander und die Folge davon ist, die Umwandlung in
Perissomata. Wenn endlich die genossenen Speisen recht dick
und schwer zu verdauen sind, entsteht auf diese Weise eine
Hemmung der Verdauung durch die Schwierigkeit der Ver¬
arbeitung und so eine Umwandlung in Perissomata. Aus den
Perissomata aber steigen die Blähungen auf und führen hie¬
durch die Krankheiten herbei . und von der Verschieden¬
heit der Blähungen entstehen die Krankheiten. Denn, wenn
sie viele sind, machen sie krank, wenn aber zu wenige, führen
sie wieder Krankheiten herbei. Auch die Veränderung der
Blähungen hat Einfluss auf die Art der Krankheiten: sie
verändern sich auf zweierlei Art, entweder zur übermässigen
Hitze oder zu übermässiger Kälte, und wie die Veränderung
ausfällt, so auch die Krankheit, welche sie herbeiführt. Dies
ist das Resume des Aristoteles aus Hippokrates«.
Die hier dargelegte Lehre findet sieh gerade in Jtctio-
%p dzooQ TrspL cfoawv, so dass wir hier den echten Hippokrates
besässen. In der Uebersetzung von Grimm werden noch
mehr Belege gegeben. So führen auch Erotian und Galen
dieses Buch als eine echte Schrift des Hippokrates an und
auch C e 1 s u s war nach seiner Einleitung der gleichen Meinung.
Und selbst Foesius zählte noch die Abhandlung zu den
echten hippokratischen Schriften. Die Neueren, in ihrem Be¬
streben, nur das für echt zu halten, was mehr oder weniger
mit den Ansichten nach über zweitausend Jahren überein¬
stimmt, hatten das Buch aus der Reihe der echten hippokra¬
tischen Schriften gestrichen. Man versuchte durchwegs die
Schrift nachhippokratisch zu erklären und hätte Celsus nicht
Citate daraus entlehnt, so wäre dieselbe sicherlich in die Zeit
nach Celsus, in die römische Kaiserzeit verlegt worden.
Ich habe nach Auffindung des griechischen Papyrus als
Erster erklärt, dass das Bestreben Hippokrates möglichst
ideal erscheinen zu lassen, kein Grund sein darf, ein so wich¬
tiges Zeugnis, wie den Menoniabericht als falsch zu bezeichnen.
Die Philologen erkennen diesen Standpunkt aber nicht an.
Ich halte das Buch de flatibus auch heute noch für echt
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hippokratisch. In meinen Ausführungen können aber auch die
Gegner der Echtheit dieser Schrift mit mir übereinstimmen,
da diese sich gar nicht, um die Person des Hippo k rates,
sondern um den sachlichen Inhalt der Schrift drehen. Und
dieser Inhalt ist sogar viel älter wie Hippok rates, da sich
unter Anderem ganz ähnliche Ansichten wie in de flatibus im
Papyrus Ebers und in Redensarten des jahvistischen Theiles
der Genesis finden.
Ich habe auch schon gezeigt, welche Einwirkungen
direct auf die Athemluft ausgeübt wurden und auch darin
manchen Beweispunkt für eine Pneumalehre längst vor Ilippo-
krates eingeflochten. Jetzt sollen sozusagen nur die an¬
geblichen Ausgeburten des Pueuma ihre Besprechung finden.
In mittelalterlichen anatomischen Tafeln, welche mir
durch Ritter v. T ö p 1 y in Photogramm vorliegen *), beginnt
das Arteriensystem mit der Trachea, welche als »vocalis
arteria, per quam intrat aer«, bezeichnet ist. Wenn somit die
Nase als Anfang der lebenswichtigsten Function betrachtet
wird, so ist es nur consequent, wenn wir immer und immer
wieder ägyptische Könige dargestellt sehen, welchen von einem
gütigen Gotte das Lebenszeichen unter die Nase gehalten
wird. Der Gott kann als bestes Geschenk nur immer wieder
Gesundheit und als deren erste Grundlage Lebensluft natürlich
für die Nase schenken. Amen ophis IV., welcher als schroffer
Reformator Alles umstürzte, lässt sich aber auch noch in der
Weise darstellen, dass ihm sein henotheistischer Gott »Sonnen¬
scheibe« mit Strahlenhand das »Leben« an die Nase hält.
Nichts kann die Festigkeit der Pneumalehre in der
ägyptischen Medicin und der Nase als Athmungsorgan so dar-
thun als diese stillschweigende Anerkennung bei Amen ophis IV.
Das hippokratische Buch de anatomia, ein kleines
Fragment, gibt einen sehr cursorischen, aber dennoch äusserst
werthvollen Ueberblick über die Anatomie in pneumatischem
Geiste. Die ganze Anordnung erfolgt nach den beiden Röhren¬
systemen der Arterien und Venen. Die Betrachtung des
Ärteriensystemes beginnt mit der Trachea, des Venensystemes
mit dem Oesophagus. Dabei erhält das Arteriensystem den
ersten Platz als Ehrenplatz. Leider wird dabei nur auf innere
Organe eingegangen.
In ganz merkwürdige Beziehungen zum Adernsysteme
brachte das Alterthum Haare und Nägel. Im Hippokrates oder
vielmehr den Schriften, welche unter seinem Namen gehen,
ist überall schon die histologische Einheit von Haaren und
Nägeln eine unbezweifelte Lehre. Nach dem Buche de natura
pueri stellen die Haare und Nägel Gebilde dar, welche lockere
Epidermis als örtliche Disposition und viele Feuchtigkeit als
Nahrung bedürfen. Nach der ganzen Darstellung von Oapitel 8
und 9 ist aber wieder das Pneuma das, was die ganze Neu¬
bildung dieser Organe veranlasst, übereinstimmend mit Papyrus
Ebers, Tafel 99.
Bei den ägyptischen Priestern wurden alle Haare gründlich
entfernt, so dass sie aut den bildlichen Darstellungen kahl¬
köpfig und glatt rasirt erscheinen. Bekannt ist auch die steife
Haltung der ägyptischen Darstellung menschlicher Körper,
welche mit der Pneumalehre direct nichts zu thun hat. Aber
merkwürdig zeigen die ältesten Darstellungen aus Mesopotamien,
welche von Paris aus veröffentlicht wurden, dieselbe Haltung
der Personen, wie wir sie in Aegypten gewohnt sind, nämlich
Gesicht in Profil, Brust en face, Bauch in Halbprofil und Beine
in Profil. Aber die weitere Merkwürdigkeit ist es, dass hier
der Priesterkönig mit seinen Söhnen ebenso glattrasirt erscheint
und ebenso kahlgeschoren, wie die ägyptischen Priesterdar¬
stellungen. Nur die archaistischen Beischriften in Keilschrift
zeigen zweifellos, dass es sich um Mesopotamien handelt.
Haare, Nägel und wohl auch Präputium müssen als
Perissomata erschienen sein. Neben Blutentziehung, Ructus,
I latus, Brechwirkung und Abführwirkung war das Beschneiden
von Haaren, Nägeln und Präputium ein geeignetes Mittel in
d.en Augen des Älterthums die Perissomata zu bekämpfen.
Sicherlich waren dies nicht die einzigen massgebenden Gründe.
*) ^ ür Interessenten sei hier erwähnt, dass diese Bilder im Tausch¬
verein tür Abbildungen zur Geschichte der Medicin und Naturwissenschaften
von mir erhalten wurden.
Unsere modernen Gründe der Antisepsis und der Reinlichkeit
dürfen wir aber nicht allzu bewusst beim Alterthume suchen,
als es die Beschneidung von Haaren, Nägeln und Präputium
einführte. Dass in ganz dunklen Vorstellungen diese Ein¬
führungen durch die Erfolge der Reinlichkeit und Antisepsis
später sich zähe erhielten, muss ich noch näher ausführen.
Die Einführung kann auch wesentlich — - da wir dies
nicht sicher bisher beweisen können, sage ich ausdrücklich
»kann« — durch die Haararmuth herrschender Eroberer
bedingt sein. Nach der Einführung kann die Enthaarung durch
falsche medicinische Theorie jener Zeiten gehalten worden
sein und der ^tatsächliche Nutzen blieb in der richtigen Weise
unerkannt.
Die Hypothese haararmer Träger der ursprünglichen
Culturen in Aegypten und Mesopotamien würde zu einem
engen Zusammenhänge dieser Culturen mit den alten Culturen
in Ostasien hin weisen. Und thatsächlich ersehe ich aus dem
Literaturverzeichnisse der Zeitschrift für Assyriologie, dass
eine nicht unwidersprochene Forschung zu diesem Resultate
gekommen ist.
Der Ausgangspunkt bleibt hier aber gleichgültig. Die Ent¬
fernung der Haare war zu irgend einem Zeitpunkte vorhanden. Da
der Mensch bis in verhältnissmässig neue Zeit die Anwendung von
Quecksilber bei Parasiten nicht kannte, so war er besonders den
verschiedenen Läusearten gegenüber sehr ohnmächtig. Richard
Landau hat einige Zusammenstellungen geliefert, welche er¬
weisen, dass bis in das späteste Mittelalter hinein selbst Ver¬
treter der besten Gesellschaftskreise sehr unter Läusen, und
selbst unter Läusen in den Augenbrauen zu leiden hatten.
Wenn im Alterthume selbst Könige von Läusen aufgefressen
worden sein sollen, so biieb die Beschneiduug und völlige
Entfernung der Haare ein ausgezeichnetes Mittel gegen die
Verbreitung dieser Parasiten, welche man sich aus generatio
aequivoca entstanden dachte. Natürlich spielte auch hier das
verdorbene Pneuma eine Rolle in der generatio aequivoca von
Ungeziefer. Dies erhielt den Gebrauch der Entfernung von
Haar und Bart unter pneumatischer Begründung. Ebenso
blieb die Entfernung des Präputiums, welche als Präservativ
gegen Schanker sich bewährt hatte, mit pneumatischer Be¬
gründung. Wie sehr sich aber für eine einmal gefasste Meinung
Scheingründe ergeben können, zeigt sich auch hier wieder.
Ein plötzlich erweckter Pneumatiker würde bei der modernen
Therapie wieder jubeln. Was er durch Entfernung der pneu¬
matischen Perissomata d. h. Haare und Präputium vorbeugte,
wird modern einheitlich mit grauer Salbe behandelt. Das
müsste wieder ex juvantibus ein herrlicher Beweis tür die
Richtigkeit der Pneumalehre sein, wenn wir nicht die Blut-
haltigkeit der Arterien während des Lebens unbezweifelbar
kennen würden.
Für das Alterthum ist schon beachtenswert!), dass der
Assyrerkönig Asurbanipal, welcher durch Gründung der
Aerzteschule Ninive zeitweise der Pneumalehre auch in Meso¬
potamien). zum Uebergewicht verhalf, eine ganz besondere
Vorliebe dafür hatte, seine Feinde durch Abziehen der Haut
bei lebendigem Leibe hinzurichten. Es war dies ein Massen¬
experiment eines Henkers auf die Ansicht, der Mensch habe
die Haut als Schutz gegen abnorme Pneumaverluste nöthig.
Natürlich wurde im Geiste jener Zeit die Serumabgabe des
blossgelegten hypodermalen Bindegewebes als eine vermehrte
Schweissbildung, condensirt aus dem übermässig ausströmenden
Pneuma, angesehen. Es ist dies Alles Hypothese. Aber eine
Stütze erhält d eselbe dadurch, dass ich glaube, Asurbanipal
habe ein ganz persönliches Interesse an der Erforschung der
Pneumalehre gehabt.
In der Bibliothek des Asurbanipal sind eine Menge
Krankheitsbeschwörungen entdeckt worden und ein Theil
davon ist veröffentlicht. So viel mir bis jetzt zu Gesicht ge¬
kommen ist, und darin allerdings könnte der Zufall eine grosse
Rolle spielen, nimmt der Kopfschmerz eine Häufigkeit der Er¬
wähnung ein, welche in gar keinem Verhältniss zu der geringen
medicinischen Wichtigkeit dieser Krankheit steht. Im orientali¬
schen Geiste liegt es sicher, die Ursache für diese auffällige
Erscheinung in der Person des Königs selbst zu suchen und
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ihn an Kopfschmerzen leiden zu lassen. Was wir von seiner
Person wissen, spricht in keiner Weise gegen diese Annahme.
Kopfschmerz und Schläleklopfen ist schon als »Studienobject
der Pneumatiker erwähnt. Und so sind diese Massenhäutungen,
welche plötzlich an Stelle von Pfählung etc. treten, untei
Asurbanipal unter dieser Hypothese verständlich.
Was haben wir uns dabei aber als praktischen Erfolg
für die Therapie zu denken? Ich glaube, dass dadurch bei
Kopfschmerz die Nothwendigkeit erwiesen wurde, in der Nähe
local die Epidermis zu entfernen, um dem Pneuma als Serum
condensirt ungehinderten Abfluss zu gewähren. Praktisch mag
hier das Kantharidenpflaster hinter dem Ohre oder die Moxe
im Nacken für Kopfschmerz empfohlen gewesen sein, um dem
zustrümendnn schlechten Pneuma einen Ausweg zu geben. Das
Experiment der Häutung Verurtheilter konnte auch zeigen,
wie weit man gehen durfte in der Legung von Kanthariden¬
pflastern oder Moxen, ohne das Leben zu gefährden.
Die Erfahrung der Praxis und die Theorie des Pneuma,
welches nach Tafel 103 des Papyrus Ebers durchs rechte Ohr
als Lebenspneuma und durchs linke Ohr als Todespneuma
strömen sollte, schien durch die Häufigkeit der linksseitigen
Hemicranie und der Seltenheit der rechtsseitigen Hemicranie
eine Uebereinstimmung zu erhalten. Ebenso sprach die Apo¬
plexie mit Sprachstörungen, wie eine solche den Elamiten-
könig M inan u traf, für diese Seite, da sie häufiger ist als die
Apoplexie in der rechten Hirnseite.
Wenn ich vielleicht auch mit der Hypothese des habi¬
tuellen Kopfschmerzes bei Asurbanipal auf falscher Fährte
sein sollte, so ergab dies doch Gelegenheit, einen Einblick zu
geben, wie sich falsche Theorien mit thatsächlichen Beob¬
achtungen abfinden konnten. Es ist jedenfalls sehr wahrschein¬
lich, dass das heute noch gebräuchliche Blasenpflaster hinter
dem Ohre bei Kopf- und Zahnschmerz eine vererbte pneuma¬
tische Grossmuttertherapie ist. Wir w'enden dies Mittel unter
Umständen heute erfolgreich an, ohne Pneumatiker oder
Methodiker zu sein, sondern als eklektische Empiriker ohne
sichere Erklärung.
Die pneumatische Circumcision des Präputiums konnte
im Laufe der Zeit sogar zu einer Culthandlung einer Religion
werden, welche in ihren späteren Speise- und Opfervorschriften
ausgesprochen hämatischen Ansichten huldigt. Und so wurde
auch diese Folge der Pneumalehre bis heute fortgeschleppt.
Am unverkennbarsten ist der Einfluss auf die Haarpflege
bis in unsere Tage. Betrachten wir bartarme Völker, welche
sicherlich frei vom Einflüsse pneumatischer Lehre blieben, also
z. B. ethnographische Bilder der amerikanischen Völker, so
zeigt sich häufig auch hier das Haupthaar des Weibes etwas
länger, als das Haar des Mannes. Die starken Unterschiede
der Geschlechter wie in Europa machen sich nirgends geltend.
Aber auch die schwachen Anklänge an Unterschiede zeigen
sich meist nur bei Völkern, welche auch sonst Spuren euro¬
päischer Cultur angenommen haben. Bei den wirklich natur¬
wüchsigen Rothhäuten ist im Haupthaar von Mann und Frau
kein Unterschied zu erkennen.
Anders in der alten Welt. Die altägyptischen Bilder
zeigen eine verschiedene Bedachtnahme auf das Pneuma. Hier
werden beim Priester und später daher ziemlich allgemein in
den besseren Ständen beim männlichen Geschlechte die Haare
als Auswüchse des Pneuma (Papyrus Ebers, Tafel 99) mit der
Gefahr von Nestern schlechten Pneumas gründlich entfernt.
Die Frau war ja der Acquirirung von Läusen weniger aus¬
gesetzt. Hier sehen wir stets eine Blume im Haar oder einen
Salbenstempel über der Frisur. Die Frau fand also in der
Haarpflege und der Parfumirung der Haare eine genügende
Bekämpfung des schlechten Pneumas. Beim Mann ergab die
Praxis das Ungenügende dieser Hygiene. Beim Manne müssen
darum die Haare fallen. Die alte Theorie fand auch hiefür
Gründe. Bei der Frau überwog die Feuchtigkeit ein wenig
über die genaue Temperirung und beim Manne die Trocken¬
heit. Der Mann musste somit mehr Pneuma und weiter auch
mehr schlechtes Pneuma haben. Doch genug von diesen
Theorien! Wir sehen beim Aegypter eine Neigung zur Ent¬
haarung und bei der Aegypterin eine vicariirende Parfumirung
der Haare. Auch das bat sich durch Länder und Zeiten ver¬
erbt. Und wenn wir heute Bauernburschen und Bauernmädchen
vergleichen, so lässt sich in atavistischem Hochgefühl der
Bauernbursche mit Verachtung von Rosenöl und ähnlichen
Wohlgerüchen für den Kirchweihtanz die Haare schneiden,
während er es für sehr schön und angebracht hält, dass seine
angebetete Dorfschöne sich — wollen wir sagen: atavistisch¬
antiparasitisch — die Haare mit Töpfen Pomade verklebt.
Die längst aufgegebeue und vergessene Pneumalehre
spielt somit überall noch heute in Körperpflege und Hygiene
des Volkes herein. Wer solche wichtige Lehren aus Aegypten
nach Hellas verpflanzte und den Grund legte für die Weiter¬
verbreitung derselben in einer Weise, dass wir heute noch in
der ärztlichen Praxis beim Verkehre mit Laien auf Schritt
und Tritt über pneumatische Vererbungen stolpern, muss in
den Augen seiner Landsleute eine Autorität erlangt haben,
welche ihn als Vater der Medicin erscheinen Hess. Wenn somit
die Griechen den Anfang der ärztlichen Wissenschaft auf
Hippokrates zurückführen und andererseits alle ärztlichen
Schriften, welche sich um seine Zeit gruppiren, mit dem bun¬
testen Wechsel von Lehrmeinungen auf seinen Namen häufen
und drittens Aristoteles- Mcnon gerade diesen Hippo¬
krates als ausgesprochenen und ersten griechischen Pneuma¬
tiker hinstellt, so kann ich darin keinen Widerspruch finden.
Den Philologen, welche sich dagegen sträuben wollen, fehlen
dazu alle Vorkenntnisse, welche sich aus der Beobachtung der
Vererbungsreste in der Volksmedicin ergeben. Dem Philologen
von 1880 ist natürlich jenes H i pp o kr a t e s - Buch das
echteste, in welches sich antiseptische Grundsätze durch kleine
Buckstabenänderungen hineinlegen und hineindeuten lassen. Im
Jahre 1910 geht es in gleicher Weise mit Gewebssafttherapie.
Nach dieser Art erhält jedes Menschenalter ein anderes
echtestes Buch. Daneben ist der Philologe geneigt, die hippo¬
kratischen Schriften danach zu beurtheilen, in welcher die
schönsten und consequentesten Declinations- und Conjugations-
formen und die gewandtesten syntaktischen Phrasen enthalten
sind. Auch dies gibt eine völlige Verkennung der ärztlichen
Wissenschaft.
Der ärztliche Schriftsteller schreibt nie nach den Regeln der
schönen Literatur. Die Probe kann jeder College machen, wie
ich sie unwillkürlich gemacht hatte. Ich hatte mich in dänische,
in holländische, in englische medicinische Fachblätter eingelesen;
aber ich sah, dass ich trotz vollen Verständnisses dieser Fach¬
texte nicht im Stande war, die einfachste Novelle in einer dieser
Sprachen zu verstehen. Dasselbe wiederholte sich bei meinen
Hieroglyphenstudien. In medicinischen ägyptischen Texten
vermag ich mich einigermassen zurechtzufinden. In anderen
Texten könnte ich geradezu glauben, es sei gar nicht die
gleiche Sprache. Umgekehrt muss es aber dem Philologen
gehen und ich möchte darum hier nachdrücklich auf diese
Fehlerquellen für Philologen und ärztliche Historiker, welche
auf philologischen Funden weiterbauen, Hinweisen, und zwar
that ich das an dieser Stelle, da ohne genaue Würdigung der
Pneumalehre heute die Hippokrates - Frage nicht mehr
behandelt werden kann.
Aber auch auf andere Gebiete, welche uns heute noch
interessiren, greift die Pneumalehre über. Auf die Räucherungen
mit Weihrauch kam ich schon im vorigen Abschnitte zu
sprechen. Als das Christenthum entstand, mussten ganz neue
Symbole und Benennungen gefunden werden. Die Räucherung
im ägyptischen Gottesdienste ist ursprünglich ein Todtenopfer
einer Religion mit Ahnendienst im pneumatischen Geiste. Zu
Beginn unserer Zeitrechnung muss wohl der Weihrauch schon
vorübergehend an Stelle älterer Räuchermittel getreten gewiesen
sein. Für den von den Todten erstandenen Christus war das
todtenerweckende Räucheropfer in pneumatischer An¬
schauung sehr sinnvoll. Was der Christ dabei dachte, ist Sache
der Untersuchung von Theologen. Aber der Ausgang für die
Weibrauchverwendung ergibt sich aus der Geschichte der
Medicin.
Auch die Vorstellung und die Kämpfe über die gegen¬
seitige Stellung der drei Personen in der Dreieinigkeit in der
ersten Zeit haben die Theologen zu betrachten. Der Begriff
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
605
des dreieinigen Gottes war aber etwas völlig Neues. Die
Sprache bis zu jener Zeit batte keine Worte dafür. Es musste
darum alten Worten eine übertragene Bedeutung beigelegt
werden. Das innige Verhältniss von menschlichem Vater und
Sohn wurde für die Bezeichnung der beiden ersten Personen
gewählt. Die medicinische Vorstellung von Pneuma, das den
Körper von Vater und Sohn durchdringen muss, um nicht
Vater und Sohn als Leichen denken zu müssen, wurde hier
auf die Gottheit übertragen, um einen Namen der dritten
Person in menschlicher Sprache zu erhalten. Nur der Zusatz
»heilig« weist auf die Gottheit hin. Ich glaube, dass die Leser
bei der Wichtigkeit der Pneumalehre mir diese Abschweifungen
vom rein ägyptischen Thema verzeihen und die allgemeine
culturhistorische Wichtigkeit der Geschichte der Nied icin zu¬
gestehen werden.
Bad Neuenahr, Rhein preussen.
O e f e 1 e.
REFERATE.
I. La maladie de Carrion ou la Verruga peruvienne
Par Ernesto Odriozola.
Paris 1898, Georges Carre etC. Naud.
II. Der krankmachende Einfluss atmosphärischer Luft¬
druckschwankungen (barometrische Minima).
Von Dr. Heinrich Lahmann.
Stuttgart 1899, A. Zimer’s Verlag (Ernst Mohrmann).
III. Die Veränderungen an den inneren Organen bei
hochgradigen Skoliosen und Kyphoskoliosen
Von Dr M. Bachmann.
Mit 14 Tafeln.
Bibliotheca medica. Abtheilung Dl, Heft 4.
Stuttgart 1899, Erwin Nägele.
IV. Stereoskopisch - photographischer Atlas der patho¬
logischen Anatomie des Herzens und der grösseren
Blutgefässe.
Von Sanitätsrath Dr. G. Schmorl.
München 1899, J. F. Lehmann.
V. Die Immunisation gegen die Rinderpest nach dem
im Institut für experimentelle Medicin in St. Petersburg
und auf der Station »Iknewi« im Gouvernement Tiflis
gesammelten Erfahrungen.
Von M. Nencki, N. Sieber und W. Wyznikiewicz.
Separatabdrücke aus: Archives internationales de Pharmacodynamic. Vol. V,
fascicle 5 et 6.
Gand, Paris 1899, H. E n g e 1 k e, O. D o i n.
VI. Technik und Diagnostik am Sectionstische.
Von Dr. Richard Graupner und Dr. Felix Zimmermann.
Mit 65 Tafeln in Farbendruck und 25 Abbildungen im Texte.
2 Bände.
Zwickau (Sachsen) 1 899, Förster & Bor ries.
I. An der Westküste Südamerikas kommt in Thälern, welche
von dem steil abfallenden Gebirgszuge der Anden zur Küste des
paciüschen Oceans führen, eine eigenartige Infectionskrankheit vor,
die theils als malariaähnliche Erkrankung, theils als knötchen- oder
knotenbildende Hauterkrankung auftritt. Diese zwei Erscheinungs¬
formen der Krankheit wurden ursprünglich getrennt, sie sind bisher
als Fieber von »Oriola«, anämisches Fieber, Fieber de las quadrebas
für die eine, als Verruga peruvienne, Verruga de sang, Verruga
molle, Verruga andicola, Verruga de Castille, Verruga de quinua,
und Bouton des Andes für die andere Form beschrieben worden.
Beiden Krankheiten ist die Localisation auf die Mitteltheile der
Thalbildungen gemeinsam, im Küstengebiet, wie im Gebirge selbst
ist die Krankheit nicht bekannt; sie ist anscheinend durch die
Kranken nicht leicht übertragbar, wird aber ähnlich der Malaria in
gewissen Districten leicht spontan erworben. Das Leiden ist meist
ein ziemlich ernstes, namentlich durch das Fieber, aber auch bei
der disseminirten Hautaffection und durch secundäre Wundinfection
der exulcerirten weichen Warzen kann der Tod eintreten. Anläss¬
lich der Ausführung von Eisenbahnbauten traten unter den hiebei
beschäftigten Ingenieuren und Arbeitern in gewissen Districten zahl¬
reiche Erkrankungen auf und lenkte die Coincidenz von Fieber-
und Warzenfällen neuerlich zur Annahme, das Fieber und die in
vielen I ällen nachfolgende Hautaffection seien Etappen ein und des¬
selben Processes. Am 27. August 1885 unternahm der Hörer der
Medicin in Lima Daniel A. Carrion an sich selbst ein Experi-
mentum crucis für diese Theorie: er liess sich mit Blut von einem
Kranken mit Peruwarzen impfen und erkrankte nach dreiwöchent¬
licher Incubation an dem typischen Fieber von Oriozola, dem er
am 5. October erlag. Der Infectionsstoff der Peruwarze erzeugt also
auch die malariaartige Erkrankung, welche mit ihr die geographische
Verbreitung theilt und die in vielen Fällen der Warzeneruption
vorangeht; zur Erinnerung an G a r ri o n’s Selbstaufopferung für die
Wissenschaft schlägt Odriozola für die Krankheit den Namen
Maladie de Carrion vor. Als Infectionserreger wird mit
grosser Wahrscheinlichkeit ein dem Tuberkelbacillus ähnlicher
Mikroorganismus angesehen, der ein gefäss- und transsudat¬
reiches, n i e verkäsendes Granulationsgewebe erzeugt. Das Buch ist
bei manchen Breiten sehr anschaulich geschrieben und enthält
nebst einer vollständigen Geschichte und Geographie der Krankheit
eine ausführliche, durch zum Theil sehr gute Illustrationen unter¬
stützte Beschreibung der Klinik der Peruwarze in ihren verschie¬
denen Formen und Stadien; eine von Letulle in Paris verfasste
Studie über die Histologie der Hautaffection ergänzt die Ausführungen
über die Pathologie dieser interessanten endemischen Krankheit.
*
II. Dr. Lahmann spricht am Schlüsse seiner Monographie
den Wunsch aus, man möge aus seinen Darlegungen Einiges lernen,
»um in Zukunft wenigstens den Frühjahrs- und Herbsterkrankungen
und der Influenza gegenüber besser gerüstet zu sein.« Referent
weiss nicht, ob diese Hoffnung sich erfüllen wird, ehe die Physio¬
logie die privaten Meinungen des Autors, die eine völlig kritiklose
Phantasie aus Gefühlsberichten nervöser Badegäste ableitete, zu
den ihren macht.
*
III. Die Monographie Bachmann’s ist durch den Tod des
Autors vor dem gänzlichen Abschluss der Publication in ihrem
klinischen Theile unverhältnissmässig weniger ausführlich, als in
dem anatomischen; die Zusammenstellung der Literatur ist so aus¬
führlich (auch ein Theil der wichtigsten Abbildungen aus früheren
Arbeiten ist reproducirt), dass sie für sich allein schon eine werth¬
volle Bereicherung der Arbeiten über das vorliegende Thema bildet;
der Hauptwerth liegt in den Untersuchungen über die Eingeweide¬
verlagerung nach einer grossen Anzahl von Sectionsbefunden aus dem
Breslauer pathologisch- anatomischen Institute; wenn dadurch auch keine
wesentlich neuen Thatsachen gefunden werden konnten, so bildet
doch das eingehend und klar geschilderte Untersuchungsmaterial
eine breite und gute Unterlage für die richtige Beurtheilung der
häufigeren und selteneren Abweichung der Topographie der Einge¬
weide in den missstalteten Körperhöhlen; die zahlreichen dem
Werke beigegebenen Tafeln enthalten die Abbildungen einer Reihe
von Frontalschnitten durch einen hochgradig kyplioskoliolischen
Thorax und Reproductionen aus den Werken älterer Autoren, wie
B a r k o w, V r o 1 i k, B o u v i e r u. A. m.
*
IV. Die 50 Tafeln des stereoskopischen Atlas von Schmorl
sind, Dank ihrer plastischen Wirkung, ausgezeichnet geeignet, als
Unterrichtsbehelf und zum Studium der pathologischen Anatomie
des Circulationssystemes zu dienen; die Auswahl der Präparate,
welche alle wichtigeren pathologischen Abweichungen zur An¬
schauung bringen, ist ebenso gelungen, wie die Wahl der Präpa¬
rationsmethode und die Schnittführung, welche eine leichte und
sichere Orientirung im Organe jederzeit ermöglicht; die Tafeln,
(kleiner als die des N e i s s e Eschen Atlas) sind in den Dimensionen
so gehalten, dass sie in die gewöhnlichen Stereoskopapparate passen
(8 1/2 X 18 cm Cartongrösse).
*
V. Nencki, Sieber und W y z n i k ie w i c z empfehlen als
beste Methode der Immunisirung gegen die Rinderpest ein com-
binirtes Verfahren, das sie unabhängig von den deutschen Unter¬
suchern in Südafrika gefunden haben; sie injiciren zuerst 0'2 cm3
virulentes Blut und zwei Stunden später circa 20 «3 eines Serums
von activ inmiunisirten Thieren; diese Methode hat vor der ein¬
fachen Seruminjection mit passiver Immunisirung den Vorzug des
längeren Bestandes der activen Immunität und ist der Gallenimpfung
nach ausgedehnten Untersuchungen durch die absolute Ungefährlich¬
keit und grössere Sicherheit bei Weitem vorzuziehen.
*
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 26
606
VI. Die Dreifarbendrucktafeln in der »Technik und Diagnostik
am Sectionstische« von Grau p n e r und Zimmermann sind
in der Wiedergabe des farbigen Bildes pathologischer Gewebs¬
veränderungen so ausgezeichnet, dass sie neben der gewöhnlichen
einfarbigen Zeichnung und Photographie als Abbildung betrachtet,
den weit höheren Werth der Anschaulichkeit des farbigen Bildes
als Unterrichtsbehelf aufs Eindringlichste documentiren; einzelne
Gruppen von pathologischen Processen sind geradezu glänzend
vertreten durch die reproducirten Objecte: die verschiedenen Formen
von Endocarditis, Darmulcerationen, Nierenkrankheiten, die Ver-
älzungen; bei anderen dürften wohl die Abbildungen ebenso natur¬
getreu sein, aber die Objecto waren minder typisch, so z. B. die
eingerollte Fibrinmembran bei Group, die ment, die gewöhnlichen
lichtgraugelben Farben frischer Exsudatmembranen zeigt, oder der
septische Mi) ztumor, der neben der Typhusmilz dieser in Farbenton und
dunkler Röthe zu ähnlich ist. Doch allen Tafeln gemeinsam ist die
schon erwähnte ausserordentlich zutreffende Wiedergabe der Farben¬
charakteristik des individuellen Objectes, die bei der Betrachtung
der Tafeln bei Tageslicht das Auge sofort gefangen nimmt. Die
textlichen Ausführungen sind übersichtlich gruppirt und ohne Weit¬
schweifigkeit doch ziemlich ausführlich gehalten. Das Buch stammt
aus dem Kreise der Schüler B i r ch - H i r s c h f e 1 d's, der als er¬
fahrener akademischer Lehrer die Mangelhaftigkeit des Farbensehens
und Farbenbeurtheilens vieler Mediciner kennend, die Herausgabe
farbenrichtiger Bilder mit den reichen Mitteln seines Institutes
unterstützte.
Die hohe technische Vollendung des Dreifarbendruckes hat
es ermöglicht, gerade in der angestrebten Richtung einen neuen
Schritt vorwärts zu kommen. Kretz.
I Vorfragen der Biologie.
Von Eugen Albrecht.
Wiesbade n 1899, J. Berg m a n n.
II. Grundriss der Physik zum Gebrauche für Mediciner.
Von Dr. Bruno Borchardt.
Zweite, neu bearbeitete Auflage.
Stuttgart 1900, F. Enke.
I. Jene mächpge Gährung der Begriffe in den Naturwissen¬
schaften, welche die Arbeiten Mach’s, vor Allem seine »Analyse
der Empfindungen« eingeleitet haben, tritt nun immer mehr in dem
Bestreben hervor, die einzelnen Wissensgebiete von »Scheinpro¬
blemen« zu befreien. In die Arbeiten dieser Richtung fällt auch
die vorliegende, auf deren Inhalt hier nicht näher eingegangen
werden kann. Es ist in derselben der Versuch gemacht, die Lehre
vom psychophysischen Parallelismus auf die Beziehungen der me¬
chanistischen und vitalistischen Seite der Lebenserscheinungen zu
übertragen. Die kleine Schrift sei hiemit einem weiteren Kreise
bestens empfohlen, doch möchte Referent jedem Leser derselben
die soeben erschienene Umarbeitung des erwähnten Mach’schen
Werkes als Berather bei der Lectüre mitgeben.
*
II. Eine einfache und klare Darstellungsweise, elementare,
auf das Nothwendigsle beschränkte Heranziehung der Mathematik,
und die im Rahmen eines Compendiums mögliche Darstellung der
neueren Fortschritte der Physik machen das Buch für seinen Zweck
durchaus geeignet. Die Auffassung der Vorgänge als Bewegungs¬
erscheinungen kann wohl nur als eine unter Umständen nützliche
Hypothese, jedoch nicht als eigentliche Aufgabe der Physik be¬
zeichnet werden. Pauli.
THERAPEUTISCHE NOTIZEN.
lgazol ist eine pulverfürmige Verbindung von Formaldehyd,
Trioxymethylen und einem Jodkörper, in welchem Prof. Cervello
in Parma ein hervorragendes Unterstützungsmittel bei der
Behandlung der Tuberculose gefunden haben will. Dasselbe wird im
Krankenzimmer durch einen vom Genannten hergestellten Apparat
verdampft und die Dämpfe vom Patienten eingeathmet. Anfangs ent¬
stehen leichte Reizerscheinungen. Cervello will mit seiner neuen
Behandlungsart innerhalb zwei Monaten von 26 Lungenkranken zehn
geheilt, neun fast geheilt und zwei bedeutend gebessert haben. —
(Therapeutische Monatshefte. 1900, Nr. 6)
*
Das C h i r o 1 wird von R. Kossma n n als eine gelbliche
Flüssigkeit beschrieben, die aus einer Lösung verschiedener Harze
und fetter Oele in Aether und Alkohol hergestellt ist. Die einge¬
tauchte Hand bedeckt sich mit einem in zwei bis drei Minuten trocken
werdenden Ueberzug, der durch Sublimat und Formalin nicht, wohl
aber durch Lösungen mit freien Alkalien und Lysol geschädigt wird.
Zur Entfernung des Chirol genügt eine Waschung mit Spiritus. Koss¬
ma n n empfiehlt die Verwendung des Chirol zur Sterilisiruug der
Hände und des Operationsfeldes. — (Centralblatt für Chirurgie. 1900,
Nr. 22.)
*
Zur Trachombehandlung. Von Dr. E b e r s o n (Tarnow).
Verfasser unterscheidet zwei Formen von Trachom: eine leichte,
trockene und eine schwere, succulente, mit starker Röthung der Binde¬
haut, Secretion und grossen Körnern. Bei der Thatsache, dass man
bei manchen Trachomfällen bei Innehaltung einer Methode oft
schwer oder nie zum Ziele kommt, scheint folgende, nur bei der
schweren Form angeblich wirksame Behandlung, einer besonderen Be¬
achtung werth zu sein. Die Conjunctiva wird nach Umstülpung des
Lides mit 20/001ger Sublimatlösung sehr leicht abgewischt (Wattebausch),
Schleim und Eiter dadurch entfernt und einige Tropfen reinen
Ichthyols gleichmässig aufgetragen; nach kurzer Zeit hört das
entstandene Brennen auf, worauf das Medicament mit reinem Wasser
weggewischt wird. Das wird täglich wiederholt. Subjectiv zeigt sich
sofort eine bedeutende Erleichterung, objectiv Vermehrung der Hyper¬
ämie und Secretion, dann Auftreten von hellgefärbten Inseln, die sich
vergrössern, bis die ganze Bindehaut so gefärbt ist, was schon nach
einigen Tagen der Fall ist. In ungünstigen Fällen bleiben rothe
Stellen zurück, gegen welche einmal wöchentlich mit dem Cuprumstift
vorgegangen wird. Vortheilhafter ist es. anfangs einige Tage blos eine
50%ige Ichthyollösung zu benützen und dann für circa acht Tage
reines Ichthyol, worauf das Leiden vollständig geschwunden oder in
die angegebsne leichte Form mit den rothen Inseln umgewandelt ist.
— (Therapeutische Monatshefte. 1900, Nr. 6.)
*
Hämaturie und Gelatine. Von Dr. Schwabe
(Langensalza). Carnot hat 1896 und nach ihm Dastre und
Floresco in Frankreich die blutstillende Wirkung der Gelatine er¬
kannt; später hat Lance reaux die Gelatine zur Behandlung der
Aneurysmen verwendet. Die Nachprüfungen dieser Gelatinetherapie
haben bis jetzt so günstige Erfolge ergeben, dass die Indieations-
grenzen für sie immer weiter gesteckt werden; so haben sich Gelatine-
tamjmnaden bei localer Blutstillung, selbst bei Blutern, als sehr ver¬
lässlich erwiesen. Schwabe berichtet einen Fall von hämorrhagischer
Nephritis, in dem die schweren Nierenblutungen in nicht zu ver¬
kennender Weise durch Gelatine beeinflusst wurden. Er hat von der
in üblicher Weise hergestellten Gelatine je 25 cmz unterhalb beide
Schlüsselbeine subcutan eingespritzt; ausserdem liess er acht Tage
hintereinander Us l einer 10%igen Gelatinelösung trinken. Schon am
achten Tage waren alle rothen Blutkörperchen aus dem Urin ver¬
schwunden. — (Therapeutische Monatshefte. 1900, Nr. 6.)
*
Leberthraninjeetiouen bei Tuberculose. Von
Dr. Zeuner (Berlin). Eine grosse Mengo leicht resorbirbaren Fettes
kann durch folgendes Nährklystier dem Körper zugeführt
werden :
Rp. Pancreatini puriss. 5 0,
Fel. tauri inspissati 0 5,
Natr. chlorati 15.
Solve in aq. font. 50 0
Diger horas 2 cum
Ol. jecoris aselli citrin. 250 0.
Adde
Ol. Eucalypt. aeth. gtts. III.
Von dieser etwas erwärmten und umgeschüttelten Leberthranemulsion
werden unter sanftem Drucke, nachdem etwa eine Stunde vorher ein
Reinigungsklystier gegeben worden ist, 60 — 100# langsam in Knie-
Ellenbogenlage in den Darm gebracht. Eine Untersuchung hat ergeben,
dass von 100 <7 derart verabfolgter Leberthranemulsion, und zwar
ohne dass früher ein Reinigungsklystier verabfolgt w7orden wäre,
zehn Stunden später nur 24# ausgeschieden worden waren, dass 75#
Leberthran dem Kranken demnach zu Gute gekommen sind. Zeuner
übte diese Methode mit sehr gutem Erfolge bei einem in Görbersdorf
nicht mehr aufgenommenen Phthisiker. — (Therapeutische Monatshefte.
1900, Nr. 6.)
*
Ueber die therapeutische Verwendbarkeit des
Ferratogen (Eisennuclei n). Von Dr. C 1 0 e 1 1 a (Zürich).
Das Präparat v.rird in der Weise hergestellt, dass man Hefe auf eisen¬
haltigen Nährböden cultivirt. Es hat einen Eisengehalt von 1%,
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
607
wurde bei Versuchen von Hunden und weissen Mäusen gut resorbirt
und bei ihnen in Leber und Milz nachgewiesen. Das Mittel unter¬
scheidet sich dadurch von allen übrigen Eisenpräparaten, dass es im
Magen unlöslich ist ; demzufolge dürfte es sich besonders bei Chlorosen
empfehlen, überhaupt da, wo sich sonst der Magen gegenüber den
Eisenpräparaten sonst als intolerant erweist. — (Münchener medicinische
Wochenschrift. 1900, Nr. 22.)
*
Ueber das lösliche Silber und seinen thera¬
peutischen Werth. Von Dr. Brunner. Es handelt sich um
das von Crede empfohlene Präparat, welchem nach den Thierversuchen
des Verfassers bei allgemeinen pyämischen Processen kein therapeutischer
Werth, wohl aber bei Abscessen und Furunkeln zukommt. - — (Fortschritte
der Medicin. 1900, Nr. 20.)
*
Ueber Hetolbehandlung. Von C. Ewald (Berlin).
Prof. Länderer hat seinerzeit zur Behandlung der Phthise Injec-
tionen von Hetol (zimmtsaurem Natron) empfohlen, durch welche eine
bindegewebige Durch Wucherung der tuberculösen Herde erreicht werden
sollte. Ewald hat 25 den Forderungen L andere r’s gemäss ausge¬
wählte Fälle genau nach der Vorschrift mit Hetol behandelt. Vor
Allem Hessen sich zwei Nebenwirkungen beobachten : eine Neigung
zu Hämoptisen, sowie das Auftreten einer auffallenden Müdigkeit und
Neigung zum Schlafen nach den Injectionen. Auf das Verhalten der
Tuberkelbacillen, der Temperatur, dem Schweisse konnte kein Einfluss
bemerkt werden. Der allgemeine Eindruck war der, dass die durch
Hetolbehandlung erzielten Erfolge zwar den Erwartungen nicht ent¬
sprachen, dass jedoch dieses Verfahren einer weiteren Prüfung werth
sei. — (Berliner klinische Wochenschrift. 1900, Nr. 21.)
*
Die Behandlung der puerperalen Eklampsie
mittelst Injection diuretisch wirkender Salze in
die Gefässe hat R. Jardine versucht. Von 22 Eklamptischen
sind bei dieser Behandlung nur vier gestorben. — (Brit. med. Journ.
26. Mai 1900.)
*
Heisse Bäderbehandlung zur Bekämpfung der
klimakterischen Wallungen. Von Dr. Gottschalk
(Berlin). Oophorinbehandlung ist kostspielig und nicht selten unsicher.
Seit drei Jahren verordnet Verfasser bei klimakterischen Wallungen
„heisse Bäder von 32 — 33° R. und 20 Minuten Dauer allabendlich
nach 1 1 Uhr“ zu nehmen. Meist kommt man mit 26 — 28 Bädern aus
und die Wirkung soll sich schon nach der ersten Woche in günstiger
Weise kund thun. — (Deutsche medicinische Wochenschrift. 1900,
Nr. 23.)
*
Bemerkungen über H e d o n a 1. Von A. Eulenburg.
H e d o n a 1, ein Urethanderivat, wird bei ne ur asthenischer
Schlaflosigkeit als Hypnoticum empfohlen. Am besten wird es
in Pulverform in Dosen von 10 (bei leichten Fällen), oder zu L5 bis
2 0, oder in Combination mit Trional (0 5: 1’0 Hedonal) verabreicht,
wobei es zweckdienlich ist, als Geschmackscorrigens einen Theelöffel
aromatisches Zimmtwasser mit einigen Tropfen Orangenöles nachtrinken
zu lassen. Schädliche Nebenwirkungen wurden keine beobachtet. —
(Deutsche medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 23.)
*
Prof. R a b o w und Prof. Galli-V alerio haben das Ich-
thoform. geprüft und es bei den entsprechenden Darmaffectionen
für die Praxis als empfehlenswerth gefunden. — (Therapeutische
Monatshefte. 1900, Nr. 4.)
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Ernannt: Der Oberbezirksarzt Jur. et Med. Dr. Franz
Ritter v. Hab er ler zum Landes-Sanitätsinspector von Tirol und
Vorarlberg. Prof. Harnack in Halle zum Geheimen Medicinalrath.
*
Habilitirt: Dr. Hof mann für innere Medicin in Halle,
Dr. Edwin Faust für Pharmakologie in Strassburg.
*
In der Sitzung des nieder österreichischen Landes -
Sanitätsrathes am 18. Juni d. J. wurde das Project zur Er¬
richtung des Kaiser Franz Josef-Regierungs-Jubiläums-Kinderspitales
dei Gemeinde AVien und der Georg Keller man n’schen Stiftung
einer eingehenden Begutachtung unterzogen, und wurden über Ein¬
ladung der Statthalterei zwei Mitglieder des Larrdes-Sanitätsrathes als
Vertreter desselben bei der Bauverhandlung delegirt.
*
XIII. Internationaler medicinischer Congress in
Paris. Theilnehmer haben sich mittelst eines Unterzeichnungszettels
unter Beilage ihrer Visitkarte mit genauer Adresse bei dem General
secretär und Tresorier des österreichischen Comites, Prof. Dr. Adam
Politzer (Wien, L, Gonzagagasse 19), zu melden, worauf sie die
definitive Mitgliedskarte zugeschickt erhalten. Die Fahrtbegürrstigung
besteht darin, dass die Congressmitglieder auf den französischen
Bahnen von der Grenzstation bis Paris den Preis für die einfache
Fahrt zu erlegen haben, der gleichzeitig zur unentgeltlichen Rückfahrt
bis an die französische Grenze berechtigt, welche aber auf derselben
Route erfolgen muss. Die Congressmitglieder erhalten in dem Central¬
bureau in Paris eine Freikarte zum Besuche der Ausstellung während
der Congresstage. Alle Auskünfte über AVohnungen ertheilt das
Wohnungsbureau des Congresses in Paris, 21, Rue de l’Eeole de
Medecine. Ausserdem hat sich eine Reihe von Reisebureaux zur Aus¬
kunftsleistung für den Reiseverkehr nach Paris und zur Wohnungs¬
vermittlung augeboten. Diese sind: 1. Die Agentie der Voyages
modernes, Rue de l’Echelle 1, bietet comfortabel eingerichtete Zimmer
zum Preise von 6 Francs pro Tag, sowie die ganze Pension zum
Preise von 15 Francs an. 2. Soeiete fran9aiso des „Voyages
Duchemin“, Paris, 20, Rue de Grammont. Der Pr» is eines Zimmers
sammt ganzer Arerpflcgung beträgt 140 — 180 Francs pro AVoche, der
eines Zimmers ohne Verpflegung nur mit erstem Frühstück beträgt
70- — 120 Francs pro AVoche. 3. Voyages pratiques, 9, Rue de Rome,
Paris. Dieses Reisebureau ist bereit, unentgeltlich alle Auskünfte an
die Comites und Mitglieder des Congresses zu ertheilen, besonders
was die Kosten der Reise, die Eundreisebillets, die Preise in den
Hotels, in den verschiedenen Hauptstädten und den Preis des Auf¬
enthaltes in Paris betrifft. Das Bureau vermittelt Wohnungen zum
Preise von 6 Francs 50 Centimes pro Tag und Person. Das Bureau
übernimmt auch die Besorgung des Gepäckes, sowie den Transport
der Reisenden vom Bahnhofe zu dem Absteigequartier in Paris. Endlich
werden gemeinsame Ausflüge per Post, Bahn und Schiff veranstaltet.
4. Agence Desroches, 21, Rue du Faubourg Montmartre, Paris. Bei der
Ankunft werden die Congressmitglieder auf dem Bahnhofe die Agenten
dieses Bureaus vorfinden, welche durch ihre rothe Kopfbedeckung er¬
kennbar sind und den Auftrag haben, die Fremden in die für sie vor¬
bereiteten AVohnungen zu dirigiren. Zimmer 10 Francs pro Tag, in¬
begriffen Beleuchtung und Service, sowie das erste Frühstück. Der
erste Tag kostet. 20 Francs, wobei inbegriffen ist der Transport des
Gepäckes und die Fahrt vom Bahnhofe in’s Absteigequartier.
Der letzte Tag kostet aus den gleichen Gründen 15 Francs. Die
Reisenden werden gebeten, sich acht Tage früher bei dem Bureau
zu melden. 5. Agence Lu bin, 36, Boulevard Haussmann, Paris. Diese
Agentie liefert Zimmer mit einem Bett zu 12 Francs pro Tag und
Zimmer für zwei Personen zu 20 Francs pro Tag (inbegriffen Service
und Beleuchtung). 6. Hotel Schenker in Paris, 191, Rue de
l’Universite. Ein Zimmer mit zwei Betten sammt erstem Frühstück
32 Francs, ein Cabinet mit einem Bett sammt erstem Frühstück
16 Francs. 7. Hotel Cecil in Paris, 119 bis 121, Rue Caulaincourt
Zimmer mit ein bis zwei Betten (inclusive Beleuchtung und Ser¬
vice) sammt erstem Frühstück und Diner pro Person zu 12 bis
15 Francs.
*
Die Herausgeber des „International Directory of Laryngologists
and Otologists“ haben zu diesem einen Nachtrag in Vorbereitung, zu
welchem Zwecke alle Laryngo-, Rhino- und Otologen ihre Adressen
an das genannte Unternehmen in London, AAL C. 129, Shaftesbury
A venire einsenden wollen.
*
Das Organisationscomite des Congresses für Elektrologie
und medicinische Radiologie hat für seine Mitglieder auf
verschiedenen französischen Bahnen (Ouest, Nord, Est, Paris-Lyon-
Mediterranee, Orleans et Etat) eine 50°/0ige und auf sämmtlichen
italienischen Bahnen eine 30 — 50%igo Fahrpreisermässigung erwirkt.
Nähere Auskünfte sind noch vor 1. Juli vom Generalsecretär
M. Doumer, 57, Rue Nicolas-Leblanc in Lille zu erlangen.
*
Im Folgenden eine Zusammenstellung der ärztlichen
Congresse in Paris während der Ausstellung: Vom 23. — 28. Juli
für ärztliche Standesinteressen, vom 2.- — 9. August der XIII. inter¬
nationale medicinische Congress, vom 8.- — 14. August für Zahnärzte,
vom 12. — 16. August für Hypnotismus, für Elektro- und Radiologie.
*
Programm der Ferialcurse, welche in den Monaten
August und September 1900 an der AVien er medicini sehen
Facultät gelesen werden.
(Die Inscription erfolgt bei den betreffenden Herren Docenten und
ist das Honorar an dieselben direct im Vorhinein zu entrichten.)
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 26
608
II. September Cyclns.
Anatomie: Julius Tandler, Topographische Anatomie. —
Derselbe, Anatomie der Nasenhöhle. — Derselbe, Anatomie des weiblichen
Genitales.
Pathologische Anatomie und Bacteriologie: Hein¬
rich Albrecht, Pathologisch-anatomischer Demonstrationscurs. —
Richard Kretz, Erworbene Immunität und Serumtherapie (mit Demon¬
strationen und Experimenten). — Anton Glion, Bacteriologischer Curs
mit praktischen Uebungen. — Friedrich Schlagenhaufe r, Prak¬
tisches Arbeiten in der pathologischen Anatomie, Histologie und Bac¬
teriologie.
Experimentalpathologie: Arthur Biedl, Experimentelle
Methodik.
Medicinische Chemie: Sigmund Frankel, Qualitative
und quantitative Harnanalyse.
Pharmakologie, Pharmakognosie und Lebensmittel-
Untersuchung: Josef H o c k a u f, Anwendung des Mikroskopes
auf die officinellen Droguen, Nahrungs- und Genussmittel aus dem Pflanzen¬
reiche. — Wilhelm Mitlacher, Pharmakologie und Receptirkunde
mit Demonstration der Präparate. — Derselbe, Pharmakognosie mit An¬
wendung des Mikroskopes für Physicatscandidaten.
Interne Medicin: Jakob Pal, Diagnostik innerer Krank¬
heiten. — Julius Donath, Diagnostik und Therapie innerer Er¬
krankungen. — Alois Strasser, Hydrotherapie innerer Krankheiten mit
praktischen Uebungen.
Kinderkrankheiten: Karl Folger, Ueber Kinder¬
krankheiten.
Neurologie und Psychiatrie: Lothar v. Frankl-
Hoch wart, Diagnostik und Therapie der Nervenkrankheiten mit beson¬
derer Berücksichtigung der Elektrotherapie und Diagnostik. — Adolf
E 1 z h o 1 z, Klinik und Therapie der psychischen Krankheiten.
Chirurgie: Konrad B ii d i n g e r, Typischer Operationscurs
— Derselbe, Atypischer Operationscurs. — Karl Ewald, Chirurgische
Diagnostik. — Derselbe, Chirurgischer Operationscurs. — Alexander
F r a e n k e 1, Diagnose und Therapie chirurgischer Krankheiten mit prak¬
tischen Uebungen. — Julius Schnitzler, Atypische Operationen
(Uebungen am Cadaver). — Friedrich v. Friedländer, Abdominal¬
chirurgie mit Uebungen an der Leiche. — Derselbe, Chirurgische Diagnostik
für Aerzte.
Augenheilkunde: Anton Elschnig, Diagnostik und
Therapie der äusseren und inneren Augenkrankheiten. — Leopold
Müller, Ophthalmoskopie. — Hugo Wintersteiner, Ophthalmo¬
skopie. — Derselbe, Augenoperationen. — Derselbe, Pathologische Histo¬
logie des menschlichen Auges. - — Maximilian Bondi, Repetitorium
der praktischen Augenheilkunde (inclusive Ophthalmoskopie. — Victor
Hanke, Diagnostik und Therapie der äusseren Augenkrankheiten. —
Derselbe, Augenoperationen.
Laryngologie und Rhinologie: Michael Gross-
man n, Curs über Laryngo- und Rhinologie. — Hans Koschier,
Laryngo rhinologischer Operationscurs mit besonderer Berücksichtigung der
Anatomie. — Leopold Re t hi, Laryngo- und Rhinoskopie mit prak¬
tischen Uebungen. — Ludwig Ebstein, Curs über Laryngologie und
Rhinologie.
Ohrenheilkunde: Ferdinand Alt, Ohrenheilkunde. —
Albert Bing, Praktischer Cursus über Ohrenheilkunde.
Dermatologie und Syphilidologie: Eduard Spiegler,
Hautkrankheiten und Syphilis mit besonderer Berücksichtigung der Therapie.
— Karl U 1 1 m a n n, Acute und chronische Blennorrhoe der Sexualorgane,
Pathologie und Therapie. — Rudolf Matzenaue r, Curs über Dermato¬
logie und Syphilis. — Derselbe und Georg Löwe ubach, Curs über
normale und pathologische Histologie der Haut. Laboratoriumsarbeiten
während des ganzen Tages.
Geburtshilfe und Gynäkologie: Egon v. Braun-
Fernwald, Gynäkologische Diagnostik. — Leopold v. Dittel,
Gynäkologischer Operationscurs. — Emil Knauer, Geburtshilflich-dia¬
gnostischer Curs. — Ludwig Mandl, Gynäkologischer Operationscurs
am Phantom und am Cadaver. — Julius Neumann, Gynäkologischer
Operationscurs am Cadaver mit vorwiegender Berücksichtigung der nicht
peritonealen gynäkologischen Operationen. — Josef Halban, Geburtshilf¬
liche Diagnostik und Therapie. — Derselbe, Geburtshilflicher Operationscurs. — !
Hugo II ii b 1, Geburtshilfliche Diagnostik und Therapie. — Rudolf Savor,
Gynäkologische Diagnostik und Therapie. — Heinrich Schmit, Gynäko¬
logische Diagnostik und Therapie.
Nachtrag: Otto Marburg, Ueber normale Histologie und
topische Durchsicht des Centralnervensystems. — Derselbe, Pathologische
Histologie des Centralnervensystems mit besonderer Berücksichtigung der
klinischen Symptomatologie.
*
Nach dem Jahresberichte des I. Allgemeinen St. Annen-
K inderspitales in Wien — Director Hofrath Dr. Herma nn
I reihen- v. Widerhofer — sind 1899 im genannten Spitale
30.420 Kinder ambulatarisch behandelt, 152 geimpft, 1698 im
Spitale selbst verpflegt worden. Die Wirksamkeit des Institutes hatte
sich somit im vergangenen Jahre auf 32 270 Kinder erstreckt, von
denen 164 unentgeltlich verpflegt und 30.420 unentgeltlich ambula-
torisch behandelt und mit Medicamenten, beziehungsweise Verbänden
versehen worden waren.
483 an Diphtherie erkrankte Kinder sind mit Heilserum be¬
handelt worden; davon starben 50, das ist ein Mortalitätsprocent von
10 35 gegen 11 36 im Jahre 1898 und gegen 13 63 im Jahre 1897.
Von diesen 50 erlagen fünf an Scharlach und fünf in den ersten
24 Stunden nach der Aufnahme; wenn man nun von diesen zehn ver¬
storbenen Kindern absieht, so erhält man ein Mortalitätsprocent von
845. Die diphtheritische Larynxstenose wurde bei 123 Kindern
mittelst Intubation allein behandelt, neun Kinder gingen mit Tod ab;
und zwar acht durch Lungenentzündung, eines durch Scharlach. Bei
49 Kindern genügte die Intubation nicht und es musste anschliessend
an dieselbe die Tracheotomie ausgeführt werden; hievon starben 20
(davon zwei an Scharlach). 16 Kinder kamen nahezu sterbend ins
Spital, so dass von der Intubation abgesehen und nur noch die
Tracheotomie versucht werden konnte; von diesen starben zwölf (davon
zwei an Scharlach). Es wurde also die diphtheritische Larynxstenose
bei 188 Kindern theils mit der Intubation allein, theils mit Intubation
und nachfolgender Tracheotomie, die schwersten Fälle mit der pri¬
mären Tracheotomie behandelt, von welchen 188 Kindern 41 starben,
was ein Mortalitätsprocent von 2L8 ergibt.
*
„D i e s p e c i e 1 1 e Chirurgie in 60 Vorlesunge n“,
herausgegeben bei G. Fischer, Jena, von Prof. Leser (Halle) ist
in vierter Auflage erschienen. Abgesehen von einer Aenderung in der
Eintheilung des Materiales hat das genannte Werk eine wesentliche
Bereicherung um das Capitel der Röntgenographie im Hinblicke auf
die Chirurgie erfahren.
*
Von dem bekannten Compendium: „Die typischen Ope¬
rationen und ihreUebung an der Leich e“, herausgegeben
im Verlage von Lehmann, München, von Oberstabsarzt Rotter,
ist die sechste Auflage erschienen.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 23. Jahreswoche (vom 3. Juni
bis 9, Juni 1900). Lebend geboren: ehelich 618, unehelich 317, zusammen
935. Todt geboren: ehelich 48. unehelich 16, zusammen 64. Gesammtzahl
der Todesfälle 683 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
214 Todesfälle), darunter an Tuberculose 131, Blattern 0, Masern 16,
Scharlach 4, Diphtherie und Croup 2, Pertussis 2, Typhus abdominalis 3,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 3, Neu¬
bildungen 32. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 ( — 1), Varicellen
50 ( — 13), Masern 297 ( — 14), Scharlach 45 (-(- 4), Typhus abdominalis
19 (-|- 4), Typbus exanthematicus 0 (=), Erysipel 22 ( — 9), Croup und
Diphtherie 27 ( — 2), Pertussis 49 (-|- 4), Dysenterie 0 (=), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 2 ( — 2), Trachom 5 (-j- 2), Influenza 0 (=).
Freie Stellen.
Gemeindearzte stelle in Tullnerbach, politischer Bezirk
Hietzing-Umgebung, Niederösterreich. Fixe Bezüge: Gemeindebeiträge
und Subvention aus dem Landesfonde je 600 K. Bewerber um diese Stelle
wollen ihre vorschriftsmässig gestempelten, mit dem Diplome, dem Alters¬
nachweise (Tauf- oder Geburtsscheine), einem Gesundheitszeugnisse und
dem Nachweise über ihre bisherige ärztliche Thätigkeit versehenen Gesuche
bis längstens 30. Juni 1900 bei dem Gemeindeamte Tullnerbach (Post
Tullnerbach II) einbringen.
Directorsstelle im k. k. Kaiserin Elisabethspitale in
Wien. Im Status der Directoren der Wiener k. k. Krankenanstalten ge¬
langt mit 1. August 1900 die neusystemisirte Stelle eines Directors in der
VI. Rangsclasse mit den dieser Rangsclasse entsprechenden Bezügen, d. i. dem
Gehalte von 6400 K, der halben Activitätszulage von 800 K jährlich und der
Naturalwohnung, sowie dem Ansprüche auf zwei Quinquennalzulagen von
je 800 K zur Besetzung. Bewerber um diese Stelle haben ihre mit dem
Tauf- oder Geburtsscheine, dem Heimatscheine, den Nachweisen über die
Erfüllung der Stellungs-, beziehungsweise Wehrpflicht und sonstigen
Personaldocumenten, ferner dem Diplome über die Erlangung des Doctorates
der gesammten Heilkunde an einer öffentlichen Universität, endlich mit den
Zeugnissen über ihre bisherige Verwendung belegten Gesuche längstens
bis 10. Juli 1900, und zwar solche Bewerber, welche bereits in einem öffent¬
lichen Dienste stehen, im Wege ihrer Vorgesetzten Dienstbehörde, andere
Bewerber unmittelbar beim Präsidium der k. k. niederösterreichischen Statt¬
halterei in Wien einzubringen.
Aspirantenstelle an der gynäkologischen Abtheilung des
St. Elisabeth-Spitales, Wien, III., Hauptstrasse Nr. 4, ist zu besetzen. Be¬
werber mögen sich an den Abtheilungsvorstand ebendort wenden.
Zweite städtische Polizeiarztesstelle in G^az, Steiermark, in
der IX. Rangsclasse, 1. Gehaltskategorie, mit 3000 K Gehalt, 700 K Quar¬
tiergeld, einer in die Pension nicht einrechenbaren Personalzulage von
lOüOA'und dem Ansprüche auf zwei Quadriennalzulagen ä 200 K. Doctoren
der gesammten Heilkunde, welche sich um diese Stelle bewerben wollen,
haben ihre ordnungsmässig gestempelten, mit dem Nachweise des Alters,
der Heimats- und Familienverhältnisse, über die mit Erfolg abgelegte
Physicatsprüfung und über eine allfällige bisherige dienstliche Verwendung
versehenen Gesuche bis längstens Samstag den 30. Juni 1900, 12 Uhr
Mittags im Präsidial-Einreichungsprotokolle des Stadtrathes in Graz (Rath¬
haus, II. Stock, Thür 125), die bereits in öffentlicher Stellung Befindlichen
durch ihre Vorgesetzte Behörde zu überreichen. Die Dienstesinstruction für
die städtischen Polizeiärzte kann im Bürgermeisteramte eingesehen werden.
Bezüglich der Pensionsansprüche der Polizeiärzte ist die Pensionsvorschrift für
die Beamten und Diener der Stadtgemeinde Graz massgebend.
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
609
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Oongressberichte.
HN’HLAJL.T:
Verein deutscher Aerzte in Prag. Sitzung' vom 16. März 1900.
Verhandlungen des Physiologischen Clubs zu Wien. Sitzung vom
8. und 22. Mai 1900.
Verhandlungen der Wiener dermatologischen Gesellschaft. Sitzung
vom 23. Mai 1900.
Geburtshilflich-gynäkologische Gesellschaft in Wien. Sitzung vom
23. Januar 1900.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzto in München
Vom 17. — 22. September 1899. (Fortsetzung.)
Verein deutscher Aerzte in Prag.
Sitzung vom 16. März 1900.
Vorsitzender: Prof. Gad.
Schriftführer: Dr. Schenk.
Schenk und Z a u f a 1 : Bacteriologisches zur
mechanisch - chemischen Desinfection der Hände.
(Münchener medicinische Wochenschrift. Nr. 15, pag. 503.)
Da die bis jetzt geübten Verfahren der bacteriologischen Prüfung
bei Desinfectionsversuchen zum grossen Theile unzureichend erschienen,
war es nothwendig, eine möglichst einfache, dabei aber auch möglichst
einwandfreie Prüfungsmethode in Anwendung zu bringen. Dieselbe
bestand darin, dass die entsprechend vorbereiteten und desinficirten
Hände in eine grössere Doppelschale mit Bouillon gehalten und unter
sorgfältigem und energischem Abschaben der Epidermis der ganzen
Hand mit Bouillon in die Schale abgeschwemmt wurden. Zunächst
wurde die erst in neuerer Zeit von Sänger und Schleich em¬
pfohlene mechanische Desinfection mit Sandseife und Marmorstaubseife,
theils für sich allein, theils in Verbindung mit chemischen Des-
inficientien einer eingehenden Prüfung unterzogen.
Des Weiteren wurde auch die Sterilisation und Prüfung des Keim¬
gehaltes der Bürsten durch eine grössere Zahl von Versuchen in Angriff
genommen.
In Kurzem waren die Resultate, welche hiebei erzielt wurden,
folgende :
1. Die mechanische Desinfection mit Sandseife allein, sei 63 die
von Schleich empfohleue complicirte Marmorstaubceralseife, welche
den ganzen Desinfectionsvorgang in einen Act zusammenfassen soll,
sei es die einfachere, von Sänger empfohlene Sandseife, genügt
nicht, um die Haut keimfrei zu machen, denn alle diesbezüglichen Ver¬
suche lieferten ein auf Bacterien positives Resultat.
2. Der mechanischen Desinfection mit Sandseife muss eine
chemische Desinfection folgen. Die Untersucher erhielten bei Desinfection
mit S c h 1 e i c h’scher Sandseife und Sublimat in 73% der Versuche,
bei einer solchen mit Sanger’s Sandseife in 80% keimfreie Hände.
Betont wird, dass die zur Waschung benützten Lösungen möglichst
heiss verwendet werden müssen.
3. Auf die Bürsten wurde nicht ganz verzichtet, sondern die¬
selben nach zweimaliger fractionirter Sterilisation theils durch gespannten
Dampf, theils im Trockenofen zur Bearbeitung der Nägel und Finger¬
kuppen in der Sublimatlösung verwendet.
4. Versuche mit anderen chemischen Desinficientien, wie Alkohol,
Kaliumpermangat und Hydrargyrum oxycyanatum ergaben für die
ersten zwei Präparate ungünstige Resultate, während bei dem
letzteren, allerdings in einer stärkeren Concentration als der gebräuch¬
lichen, die Resultate ganz gute zu nennen waren. Was die Desinfection
nach 1 ürbringer anlangt, hat es sich als wahrscheinlich heraus¬
gestellt, dass die vielfach berichteten ungünstigen Resultate wohl haupt¬
sächlich auf Rechnung der unreinen Bürsten zu setzen sind.
Neben der unerlässlichen chemischen Desinfection ist aber das
Hanptgewicht auf eine gründliche mechanische Desinfection zu
legen, welche durch die Sandseifen waschung gewährleistet wird und
gegenüber den bisher geübten Methoden der Händedesinfection einen
Fortschritt bedeutet.
Discussion: Prof Saenger: Es sei erstaunlich, wie lauge
es gedauert, bis man einigermassen lernte, sich die Hände für den
Verkehr mit Wunden zu reinigen. Erst die bacteriologischen Fest¬
stellungen haben uns die Ursachen für die ausserordentlichen Schwierig¬
keiten der Aufgabe, das Hautorgan völlig keimfrei zu machen, dar-
get an, zugleich als Erklärung, weshalb die Desinficientia, die im
Reagenzglase Alles tödten, auf der Haut versagen.
neue Aera von der Erkennung des Wesens der Puerperal-
infection, also der Wundinfection durch Semmel weis, setzte auch
gleich mit der chemischen Desinfection ein mittelst Chlor.
Auch dies war ein genialer Griff, das stärkste und sicherste Des-
infectionsmittel zu wählen, das nur wegen seiner schweren Unanehm-
lichkeiten sich nicht erhalten konnte, aber auch heute noch vielfach
(z. B. von H e g a r) verwendet wird.
Im Gegensätze zu chemischer Desinfection erzielten die engli¬
schen Bauchhöhlen-Chirurgen (Th. Keith, Spencer Wells,
B a n t o c k, Lawson-Tait) bei blosser Seifenwaschung der Hände
glänzende Ergebnisse. Sie erhielten sie aber nicht durch diese höchst
mangelhaften Händewaschungen, sondern durch die Ueberlegenheit
ihrer neuen Technik, ihre allgemeine Reinlichkeit, ihre persönliche
Geschicklichkeit.
Mit dem Listerismus kam der Ueberschwang der chemi¬
schen Antisepsis, welche aber doch bald nach ihrer wissenschaft¬
lichen Begründung durch R. Koch, Kümmel, in Beschränkung auf
wenige als wirksamst erprobte Droguen (Alkohol, Sublimat, Kali
hypermang.) in glücklicher Vereinigung mit der physikalischen Asepsis
bisher das Feld behauptete, ohne voll zu befriedigen.
Bei der Unzulänglichkeit der chemischen Desinfection wurde nun
die schon längst erkannte Wichtigkeit der mechanischen Des¬
infection aufs Neue betont und für eine ausgedehntere Anwendung
derselben in der Praxis gewirkt. Das geeignetste mechanische Vehi-
culum in Verbindung mit Seife sei der Sand, Quarzsand oder Marmor¬
sand. Säen g er bediene sich der mechanischen Sanddesinfection
schon seit circa zwölf Jahren, habe sich durch Schüler und Aerzte
weiter verbreitet, auch in einem Werkchen über Asepsis beschrieben.
Mit angeregt durch Schleich sei er selbst nun bemüht, dieser
guten Sache der mechanischen Desinfection, welcher die Zukunft ge¬
hören müsse, weitere Ausbreitung zu verschaffen, wie dies durch seine
Antrittsvorlesung, wie durch die Arbeiten seiner Assistenten ge¬
schehen sei.
Die Herren Schenk und Zaufal würden auf dem betretenen
Wege fortfahren, die bacteriologischen Grandlagen des Verfahrens fest¬
zustellen.
Schon jetzt habe sich ergeben, dass wohl die mechanische Sand¬
seifenwaschung allein für eine absolute Desinfection der Haut nicht
ausreiche, dass aber die Hinzufügung eines einzigen chemischen Des-
inficiens dies vollkommen leiste.
Docent Dr. A. Kohn spricht über innere Secretion.
Unter Secretion verstand man stets die Bereitung und Aus-
stossung gewisser Stoffe durch bestimmte, für diese Thätigkeit be¬
sonders differenzirte Zellen — die secretorischen Zellen, welche das
dieser Thätigkeit dienende Rohmaterial dem strömenden Blute ent¬
nehmen. Durch diese Definition wird der Begriff „Secretion“ ziemlich
scharf abgegrenzt von der Function des Stoffwechsels, welche natürlich
jeder einzelnen Zelle zukommt. Die Secretion ist eine äussere, wenn
sich das Secret durch einen Ausführungsgang nach aussen ergiesst
(direct oder indirect), oder eine innere, wenn die Drüse keinen Aus¬
führungsgang hat, das Secret also in die Lymph- oder Blutcirculation
gebracht wird. Beispiel einer Drüse mit nur innerer Secretion ist die
Schilddrüse, welche noch Drüsenbau hat, oder die Epithelkörperchen
der Schilddrüse und Thymus, welche auch keinen Drüsenbau mehr
haben, sondern einfach aus Epithelbalken mit reichlich eiugelagerten
Gefässen bestehen.
Manche Drüsen vollziehen beiderlei Functionen, haben sowohl eine
äussere, als eine innere Secretion, z. B. die Leber, welche einerseits
die Galle in den Darm ergiesst, andererseits Glykogen in das Blut
abgibt. Für gewisse Drüsen ist es neuerdings wahrscheinlich gemacht,
dass sie aus zweierlei, histologisch sehr deutlich von einander unter¬
schiedenen Formationen bestehen, welche den beiden Functionen vor¬
stehen. So ist es für das Pankreas wahrscheinlich, dass die äussere
Secretion an das typische Drüsengewebe, die innere Secretion an die
sogenannten intertabulären Zellhaufen gebunden sind, welche dieselbe
Formation zeigen, wie die oben beschriebenen Epithelkörperchen der
Schilddrüse und Thymus, Epithelleisten mit dazwischen liegenden lllut-
und Lymphgefässen. Der Vortragende kommt dann auf die moderne
610
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 26
Substitutionstherapie zu sprechen, deren Berechtigung und Erfolge er
anerkannt, so lange man den Ausfall gewisser Functionen durch die
Extracte der entsprechenden Organe ersetzen will. Diejenige Richtung
der Modicin aber, welche ohne Rücksicht auf die Art der Erkrankung
je Je Nierenaffection mit dem Nephrin, jede Lungenerkrankung mit
Lungenextracten etc. behandeln will, darf sich absolut nicht auf die
innere Secretion als wissenschaftliche Basis beziehen.
Verhandlungen des Physiologischen Clubs zu Wien.
Jahrgang 1899 — 1900.
Sitzung am 8. Mai 1900.
Vorsitzender: Herr Sigm. Exner.
Schriftführer: Herr Sigm. Fuchs.
Herr A. Weiss (a. G.) hält den angekündigten Vortrag: Ein
postoccipitaler Wirbelkörper hei Rattenemhryouen.
(Vorläufige Mittheilung.)
Bei Embryonen der weissen Ratte findet sich zwischen Atlas
und Occipitalanlage, im Verlaufe des Ligamentum Suspensorium dentis,
typisch die rudimentäre Anlage eines Wirbelkörpers, welche später
mit der Anlage des Atlaskörpers verschmilzt und die Spitze des Dens
epistrophei bildet. Dieser Befund bietet deshalb grösseres Interesse,
da bereits seit Langem zwischen Atlas und Occipitale in verschiedenen
Thierclassen Rudimente eines Wirbels bekannt sind. Diese Rudimente
werden von den vergleichenden Anatomen unter dem Namen
„Proatlas“ zusammengefasst und sollen dem bei Amnioten aus¬
gefallenen Atlas der Anamnier entsprechen, sei es, dass derselbe bei
den ersteren thatsächlich verloren gegangen, sei es, dass er beim
„caudalen Vorrücken des Schädels“ zum Aufbau desselben aufge¬
braucht würde.
Der Erste, der derartige rudimentäre Bildungen zwischen Atlas
und Occipitale beschrieb, war R a t h k e. Derselbe fand Rudimente
oberer Bogen bei Krokodiliern, die den oberen Bogen des Atlas cranial
aufsitzen. Es wurden in der Folge noch bei einer Reihe von Thieren
Rudimente eines derartigen Wirbels gefunden, und zwar:
Neuroapophysen (obere Bogen):
a) Als constante Rudimente bei: Rhynchocephalen, Dinosauriern
(fossil) und Lacertiliern.
b) als accidentelle atavistische Rudimente bei : Marsupialiern,
Inseetivoren, Edentaten und Primaten.
C e n t r a (W i r beikörper): bei Lacertiliern, Carnivoren und
Primaten.
Neuere Untersuchungen B a u r’s ergaben das Vorhandensein
oberer Bogen bei einer Schildkröte.
Die interessantesten und zu vorliegendem Befund in nächster
Beziehung stehenden Beobachtungen sind die Ergebnisse der makro¬
skopischen Untersuchungen Albrecht’s und D o 1 1 o’s bei Primaten.
Diese fanden Centra eines Proatlas im Verlaufe des Liga¬
mentum Suspensorium dentis bei einem Macacus (Albrecht), bei
einem Macacus, einem Cynocephalus und einem Hund (Dollo). Beide
Autoren halten das Knöchelchen nach seiner Lage und Form für ein
selbstständiges Gebilde, das keineswegs mit der cranialen Atlasepiphyse
identisch ist. Es ist bei Macacus und beim Hund rundlich, bei Cyno¬
cephalus trapezoidal mit abgerundeten Ecken. Die Grösse ist 3 — 5 mm
im grössten Durchmesser. Interessant ist, dass bereits H e n 1 o und
Luschka, wie es den betreffenden Handbüchern der Anatomie zu
entnehmen ist, das Vorhandensein von Knorpelstreifen im Innern des
fibrösen Ligamentum Suspensorium gelegentlich beobachtet haben.
Was nun meine Beobachtungen bei der weissen Ratte anlangt,
so gilt Folgendes : Die Entwicklungsverhältnisse der typischen Wirbel
sind im Princip ebenso, wie sie Froriep bei Rinds- und Hühnchen¬
embryoneu beschrieben hat, wenn die Ratte auch im Einzelnen nicht
unbedeutende Abweichungen bietet, deren ausführliche Darstellung
demnächst erfolgen wird. Hier möge nur das Fehlen der hypoehordalen
Spange, abgesehen vom unteren Bogen des Atlas, Erwähnung linden.
Die Region zwischen Atlas und Occipitale aber bietet wohl bei
der Ratte wesentlich andere Verhältnisse als bei Rindsembryonen.
Die Grenze dieses Bezirkes bildet cranial ursprünglich der
Primitivwirbelbogen des Occipitalwirbels, der seine Zugehörigkeit zum
Schädel nur durch seine Lage cranial von der Arteria vertebralis
documentirt, und dessen Bogen seitlich der Nervus hypoglossus als
modificirter Spinalnerv durchsetzt. Froriep fand nun bei Rinds¬
embryonen in dem zum Occipitalwirbel gehörigen Körperbezirk die
Anlage eines Knorpelherdes, der sich seitlich mit den Oecipitalwirbel-
anlagen, vorne mit dem sogenannten „scheinbar ungegliederten Ab¬
schnitt“, der auch ein selbstständiges Knorpelcentrum bildet, verbindet.
Bei der Ratte sind die Verhältnisse der Bogen völlig überein¬
stimmend mit denen beim Rind. Der selbstständige Knorpelherd
jedoch, den Froriep bei Rindsembryonen als Occipitalkörper be¬
schrieb, der bei der Ratte ebenfalls vorhanden ist und ziemlich lange
gegen den scheinbar ungegliederten Abschnitt durch eine Lücke, die
von zwei Venen passirt wird, abgegrenzt erscheint, kann hier nicht
als Körper gedeutet werden, da die Chorda ihn nicht durchsetzt,
sondern seiner cranialen Fläche aufsitzt. Diese Lage besitzt die Chorda
auch im Gebiete des scheinbar ungegliederten Abschnittes bis an das
Keilbein.
Dadurch erscheint das dem Wirbelkörper des Occipitalwirbels
bei Rindsembryonen entsprechende Knorpelstück als ventrale Ver¬
bindungsbrücke der Bogen. In dem caudal von ihm gelegenen Körper¬
bezirke zeigt sich nun eine eigenthümliche Bildung. Das hier befin-
liche vordere Ende der Perichordalschicht, die längs der Chorda der
ganzen Wirbelsäule entlang verläuft und aus 3 — 4 Zellreihen besteht,
zeigt eine deutliche, aus dicht gedrängten Zellen bestehende kugelige
Anschwellung, die in der Folge immer mehr und mehr an Grösse zu-
nimmt, und in deren Centrum schliesslich Knorpel auftritt, wie sich
durch die deutliche Reaction auf Hämatoxylin nachweisen lässt.
Dieser rundliche Knorpelherd verschmilzt aber schon kurz nach
dem Auftreten von typischem Knorpel in der Mitte mit dem Körper
des Atlas und bildet die Spitze des Dens epistrophei. Seitlich ist die
Grenze zwischen beiden Anlagen durch mehrere, noch unverknorpelte
Zellreihen gegeben. Aber auch nach dem völligen Verschmelzen beider
Stücke ist eine Grenze zwischen ihnen leicht kenntlich, und zwar
einerseits durch die Anordnung der Zellen, die um zwei verschiedene
Centra geordnet sind, andererseits durch eine Einziehung an der
dorsalen Seite. Uebrigens findet man beim neugeborenen Thiere an
der Grenze eine Chordaanschwellung, wie sie sich zwischen zwei
Wirbeln bei älteren Embryonen stets findet. Eigentliümlich ist auch
die Verschiebung, die die Wirbelsäule gegenüber der Schädelbasis im
Wachsthumsverlauf erfährt, wodurch die oben beschriebene rudimentäre
Wirbelkörperanlage immer mehr in das Foramen occipitale
magnum hinaufgedrängt wird. Eine Folge dieser Verschiebung ist
an dem Uebergang der Chorda in die Schädelbasis wabrzunehmen.
Während dieselbe nämlich an jüngeren Embryonen in gleichmässigem
Bogen auf die Schädelbasis übergeht, zeigt dieselbe an älteren Stadien,
wo die Spitze des Zahnes hoch hinaufragt, an der Uebergangsstelle
eine scharfe, nahezu rechtwinkelige Knickung. In Folge Hochstehens
des Zahnes ist auch das Ligamentum Suspensorium dentis bei der Ratte
sehr kurz.
Was nun die morphologische Dignität des Befundes anlangt, so
halte ich es für unmöglich, aus dieser Beobachtung bei einer einzelnen
Thiorspecies eine einheitliche Deutung geben zu sollen. Sicher ist
diese Bildung die rudimentäre Anlage eines Wirbelkörpers aus zwei
Gründen : Erstens seinem Auftreten in einem Körperbezirk nach, und
zweitens, da die Chorda ihn durchsetzt.
Seiner Zugehörigkeit nach könnte er zwei Bildungen angehören:
1. Dem „Proatlas“ als rudimentärer Körper, dessen zuge¬
hörige Bogen fehlen ; dafür sprechen Bogenfunde zwischen Atlas und
Hinterhaupt bei verschiedenen Thieren. Dann wäre die ventrale Ver¬
bindungsspange des Occipitalwirbels identisch mit dem Occipital wirbel¬
körper bei Rindsembryonen, trotzdem die Chorda ihn nicht durchsetzt,
wenn man eben dabei den allgemein bekannten unregelmässigen Verlauf
derselben berücksichtigt.
2. Dem Hinterhaupte, und zwar als rudimentärer Körper
des Occipitalwirbels, der sich mit dem Körper des Atlas verband,
während sich die zugehörigen Bogen selbstständig ventral vereinigten.
Dafür spricht : 1. das Auftreten des Körpers im Körperbezirke des
Occipitalwirbels und 2. die eigenthümliche Lage der Verbindungsspange
der Bogen, ventral von der Chorda.
Zweifellos aber ist diese Bildung mit den Befunden Albrecht’s
und D o 1 1 o’s identisch, die von ihnen unter dem Namen Centrum des
Proatlas beschrieben wurden.
Die vorliegenden Untersuchungen wurden im Institute des Herrn
Hofrath Zucker kan dl ausgeführt.
*
Sitzung am 22. Mai 1900.
Vorsitzender: Herr Sigm. Exner.
Schriftführer: Herr Sigm. Fachs.
1. Herr E. Zucke rkandl hält den angekündigten Vortrag:
Ueber die Entwickelung des Balkens und des Ge¬
wölbes. (Mit Demonstrationen.)
Das Vorkommen einer dem nasalen Ende des Gewölbes an¬
geschlossenen Faserkreuzung bei den Beutelthieren, welche ähnlich dem
Balken aus den vorderen Theilen der Hemisphären Bündel bezieht,
veraulasste mich, die Entwicklung der grossen Gehirncommissurtn zu
studiren. Ich wollte mich darüber orientiren, ob etwa am embryonalen
Gehirn placentaler Thiere ähnliche Verhältnisse vorliegen. Ohne hier
auf die Literatur des Gegenstandes eingehen zu wollen, sei erwähnt,
dass wir weder über die Stelle, an welcher sich der Balken entwickelt,
noch über die Frage, ob in der Anlage der Balken als Ganzes ent-
N(. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
611
halten sei, unterrichtet sind; ferner ist unbekannt, in welcher Weise
die Balkenstrahlungen beider Hemisphären in der Mitte zur Vereinigung
kommen. Einige liessen die Balkenbündel in der Lamina terminalis oder
im cranialen Anschlüsse an diese entstehen, Andere wieder nehmen an,
dass der Bildung des Balkens eine Verwachsung der medialen Hemi¬
sphärenwände vorausgehe.
Von der medialen Hemisphären wand kommen in Bezug auf die
Entwicklung des Balkens und des Gewölbes der Randbogen und die
Massa commissuralis in Betracht. Letztere repräsentirt eine vor dem
Foramen Monroi befindliche, dreieckig begrenzte Stelle, welche wulst¬
artig gegen den Gauglienliügel der Seitenkammer vorspringt. Die Be¬
zeichnung Septum pellucidum für die erwähnte Stelle ist schon aus dem
Grunde nicht gut gewählt, weil nur ein Theil der Massa commissuralis
zum Aufbaue des späteren Septum pellucidum verwendet wird. Das
hintere Ende der Massa commissuralis geht in den Randbogen über, welcher
am embryonalen Gehirne der Ratte, auf dessen Verhalten sich meine
Angaben beziehen, ktine Gliederung in einen äusseren und inneren
Rand bogen zeigt. Erst wenn der Balken gebildet ist, kann von einem
äusseren und inneren Randbogen die Rede sein. Auch die Bogenfurche
fehlt und in Folge dessen eine Abgrenzung des Randbogens gegen die
übrige Hemisphärenwand.
Die erste Andeutung von Commissurenbildung beobachtete ich
in der Massa commissuralis eines 12 mm langen Rattenembryos. Man
findet vor der Lamina terminalis zwei übereinandergelagerte, schmale,
kurze, aus Zellen aufgebaute Verbindungsstränge zwischen den medialen
Hemisphärenwänden. Im Bereiche der Stränge ist die Sichel durch¬
brochen. Da die Verbindungsbrücken fertig gebildet sind, ist ihre Ent¬
wicklung aus dem vorliegenden Falle nicht zu ersehen. Die Unter¬
suchung älterer Stadien wird sowohl über dieses Verhalten, als auch
über den Schwund der Sichel Aufklärung geben. Am 15 mm langen
Ratteuembryo hat die Verwachsung der medialen Hemisphärenwände
Fortschritte gemacht. Neben schmalen Zellsträngen, wie im früheren
Stadium, findet man Stellen, an welchen die medialen Flächen der
Massa commissuralis enge an die verschmälerte, wie comprimirt aus¬
sehende Sichel herangeschoben sind, ferner eine breite Verwachsung
zwischen der Massa commissuralis, der ents]3i echend die Sichel verkürzt
erscheint. In der breiten Verwachsungsstelle und den anschliessenden
Theilen der Massa commissuralis hat sich überdies eine Faserfigur aus¬
gebildet, deren Form mit der der grauen Substanz am Querschnitte des
Rückenmarkes eine Aehnlichkeit besitzt. Die vorderen Hörner der Faser¬
figur reichen medial bis an die Sichel und nach vorne bis an die ge¬
schichtete Rinde. Die hinteren Hörner umschliessen einen noch nicht
differenzirten Zellkeil der verwachsenen Massa commissuralis, dessen
Kante nasalwärts eingestellt ist. Eine faserige Verbindung zwischen
den beiden Hälften der Faserfigur fehlt noch, da der eben erwähnte
Zellkeil, die beiden Hälften trennend, sich bis an den freien Sichel¬
rand nach vorne erstreckt. Die vorderen, gegen die geschichtete Rinde
verlaufenden Hörner der Faserfigur sind Theile der Balkenstrahlen¬
anlage, die hinteren sind Theile des Gewölbes. Ein weiterer Fortschritt
besteht darin, dass der Verwachsungsprocess der medialen Hemisphären¬
wände sich über das Foramen Monroi hinaus aufwärts bis zur
lateralen Adergeflechtfalte ausdehnt, uud an dieser Stelle ist es möglich,
die Form zu studiren, unter welcher sich die Verwachsung der medialen
Hemisphärenwände abwickelt. Man sieht, dass die Zellschichten der
sonst geradlinig und scharf gegen Sie Sichel begrenzten Hemisphären¬
wände wulstartige Vorsprünge einander entgegen wachsen lassen, denen
entspiechend die Sichel gebuchtete Einschnitte zeigt. Die Vorsprünge
drängen sich förmlich an die Sichel heran, beziehungsweise in das
Sichelgewebe hinein, und gleichzeitig verwischt sich an einzelnen Punkten
die Grenzlinie zwischen den beiden Gewebsarten. Zwischen der Stelle
mit den Vorsprüngen und der tiefer gelegenen mit der Faserfigur be¬
gegnet man Schnitten, in welchen die Vorsprünge der medialen Hemi¬
sphärenwände schon miteinander verwachsen sind und die Sichel von
der lela chorioidea superior vollständig abgetrennt ist. Am 17 mm
langen Rattenembryo bietet sich ein ähnliches Bild dar, doch lässt sich
ein Fortschritt in der Entwicklung der Commissuren iusoferne con-
statiien, als das vordere Ende des Zellkeiles sich aufgelichtet hat und
dadurch die Hälften der Faserfigur bereits durch eine Commissur Zu¬
sammenhängen. Am 19 mm langen Rattenembryo ist die Commissur
zwischen den Hälften der Faserfigur viel breiter geworden und die Ver¬
wachsung. der Massae commissurales so weit gediehen, dass der auf
diese Region entfallende Antheil der Sichel total geschwunden ist. Im
Bereiche der lateralen Adergeflechtfalte sind die in den früheren Stadien
gebildeten Vorsprünge der medialen Hemisphärenwände zur Verwachsung
gekommen, und mehrere solcher Vorsprünge haben sich hinter den älteren
ausgebildet. Noch weiter ist der geschilderte Process am 26 mm langen
Rattenembryo fortgeschritten, indem die Verwachsung über die Gegend
dei lateralen Adergeflechtfalte hinaus auf den Randbogen (äusseren der
Autoren) übergegriffen hat.
Ich halte es für überflüssig, an dieser Stelle den Verwachsungs¬
process der medialen Hemisphärenwände, sowie andere Details der
Commissurenbildung noch weiter zu besprechen, da für das, was ich
darzulegen beabsichtigte, das Vorgebrachte genügt. Es erübrigt viel¬
mehr nur noch, die Umwandlungen der entstandenen Verwachsungen
zwischen den medialen Hemisphärenwänden, sowie den Schwund der
Sichel zu besprechen. Sobald die Vorsprünge der medialen Hemi¬
sphärenwände verwachsen sind, lockert sich die Zellmasse auf, die
Zellen schwinden zum Theile und machen einem zellenarmen, fein¬
faserigen Gewebe Platz, dessen Aussehen an das Bild erinnert, welches
W. H i s von dem der Markbildung vorausgehenden Gliageriiste ent¬
worfen hat.
In Bezug auf das Verhalten der Sichel sei Folgendes bemerkt:
Sie muss selbstverständlich da, wo sieh Verwachsungen zwischen den
medialen Hemisphärenwänden ausbilden, schwinden; hiebei handelt es
sieh aber nicht etwa um ein Durchwachsenwerden der intacten, sich
den Veränderungen der medialen Hemisphärenwände gegenüber passiv
verhaltenden Sichel; es handelt sich vielmehr um eine der Wand¬
verdickung und Verwachsung parallel laufende Atrophie, hinsichtlich
der ich nicht bestimmen kann, inwieweit dabei ein von den Vorsprüngen
ausgeübter Druck in Betracht kommt. Vor dem Auftreten von Ver¬
wachsungen ist die gefässhaltige Sichel breit und reichlich mit Zellen
versehen, deren Fortsätze untereinander zusammenhängend ein relativ
weitmaschiges Netzwerk bilden. An den Stellen, wo die medialen Hemi¬
sphärenwände durch aufgetretene Verdickungen sich aneinander heran¬
drängen, ist die Sichel dünn, zellenarm, um bei eingetretener Ver¬
wachsung an der betreffenden Stelle vollständig zu schwinden.
Die geschilderten Befunde beantworten die Hauptfragen über die
Balken- und Fornixentwicklung in nachstehender Weise: Die erste An¬
lage der genannten Commissuren findet sich in den Massae commissu¬
rales; von hier aus greift sie auf den Randbogen über. Die primitive
Balkenanlage repräsentitt demnach nicht den Balken in toto, sondern
nur ein ventronasales Stück desselben, welches der Lamina rostralis
entsprechen dürfte. Der der Commissurenbildung vorausgehende Process
beruht auf Verdickungen der medialen Hemisphärenwände (Massae
commissurales, Randbogen), die verschiedene Formen zeigen und zu
Verwachsungen der Hemisphärenwände führen, denen entsprechend die
Sichel zu Grunde geht. Die Verwachsungsstellen repräsentiren die Strasse,
auf welcher die Balken- und die Commissurenfasern des Fornix von
einer Hemisphäre in die andere gelangen.
2. Herr Th. Beer hält den angekündigten Vortrag: Ueber
primitive Sehorgane. (Mit Demonstrationen.)
Verhandlungen der Wiener dermatologischen Gesellschaft.
Sitzung vom 23. Mai 1900.
Vorsitzender : Kaposi.
Schriftführer : Kreibich.
Kreibich stellt im Anschlüsse an den in einer der letzten
Sitzungen von Kaposi demonstrirten Naevus verucosus hemilateralis
einen ähnlichen Fall von Naevus pigmentosus verucosus
vor; bei einem 20jährigen Mädchen zieht dieser zunächst vom Nabel aus in
einem dem linken Rippenbogen parallelen, braunen Streifen, der sich aus
dicht neben einanderstehenden, linsengrossen, bräunlichen, durch
reichere oberflächliche Schuppung schmutzig grünlich verfärbten,
flachen, warzenartigen Erhebungen zusammensetzt und halbgürtel¬
förmig auf den Rücken bis handbreit vor die Wirbelsäule reicht. Von
ihm aus zieht ein kleinerer Streifen gegen das Kreuzbein, ein zweiter
an der Hinterfläche des Oberschenkels bis in die Kniekehle. Der
letztere löst sich in drei bis vier schmälere Längsstreifen auf, die,
durch zahlreiche Quer- und Schrägbalken verbunden, ein mattbraunes
Netz darbieten. Spärliche Fortsätze in gleicher Zusammensetzung wie
der Streifen am Bauche erblickt man au der vorderen Tibiafläche und
am Fussrücken.
Ehr mann weist auf die eigentlnimliche, bestimmte Verlaufs¬
weise solcher halbseitiger Naevi hin, der manche Autoren, zuletzt
B 1 a s c h k o eine besondere Aufmerksamkeit zugewendet. Dr. Okamura
führt auf Grund eigener Injectionspräparate diese Curven auf das
Wachsthum der Haare und die Anordnung der Haarströme zurück.
Die eigenthtimliche, an bestimmte Linien gebundene Verlaufsweise
findet sich ebenso wie bei hypertrophischen Processen auch bei Pig¬
mentatrophien, wie die Abbildung von Albinismus bei einer Negerin
in Hutchinson’s kleinem Atlas zeigt.
Kaposi weist mit Rücksicht auf den von Ehr mann er¬
wähnten Erklärungsversuch Okamura's darauf hin, dass er in jeder
Auflage seines Lehrbuches bei Besprechung der Nervennaevi und der
dieser Bezeichnung zu Grunde liegenden, neueren Auffassung von
trophoneurotischeu Plautveränderungen mit grossem Nachdrucke die
Lehren Voigi’s von der Entwicklung der Haut uud ihrer Gebilde
betont; sie zeigt, dass die Haut überhaupt, ebenso wie Nerven, Ge-
fässe, Bindegewebe sich in bestimmter, an den Extremitäten in Spiral-
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
Nr. 26
richtung entwickelt, und dass daher auch jede Anomalie und jeder
Wachst humsexcess, möge er welchen Bestandtheil immer betreffen, ob
Haar, Pigment, Gefässe oder llornschichte, diese Verlaufsweise ein-
seldägt. Ehrmann’s Erklärung bedeutet diesbezüglich nur die
specielle Anwendung eines Gliedes der allgemeinen Entwicklungsreihe
von Voigt.
E hrmann stellt vor :
1 . Einen Fall von gummöser Infiltration des linken
Unterschenkels bei einem Patienten, der vor Jahren mit Lues be¬
handelt, vor drei Monaten die Haut des Unterschenkels verdickt,
schmerzhaft und braunroth verfärbt zeigte.
Wegen bestehender Venenektasien wurde zur Feststellung der
Diagnose zunächst antiphlogistisch behandelt, ohne Erfolg. Erst nach
Jodkali und einer Schmiereur Heilung.
Dieser Fall bestätigt, wie viele andere, die Prädilection gum¬
möser Geschwürsbildung an Stellen, die durch bestehende Stauung
einen locus minoris resistentiae bilden.
2. Ein scharf umschriebenes Ekzem der Kniekehle,
das klinisch dem von Anderen beschriebenen mykotischen Ekzem
gleicht, ohne dass die bactcriologische Untersuchung ein positives
Resultat ergeben hätte.
3. Einen Patienten mit serpiginösem Syphilid am
linken Vorderarme und Symptomen einer beginnenden Nervenerkran¬
kung, wie lancinirenden Schmerzen in den Beinen, Crises gastriques
und Intentionszittern. W e s t p h a 1- und R o m b e r g’sches Symptom
nicht ausgesprochen.
Nobl demonstrirt:
1 . Einen operativ geheilten Fall von ausgebrei¬
tetem Lupus der Nase und linken Wange bei einer 42jäbrigen
Frau. Seit der Operation sind drei Jahre vergangen.
2. Aus G r ü n f e 1 d’s Abtheilung ein tiefgreifendes
gummöses Syphilid. Bei der 50jährigen Frau finden sich ein
bis an die Fibula reichendes, ganseingrosses, typisch gummöses Ge¬
schwür über dem linken Malleolus externus, zwei ähnliche Geschwüre
am Oberschenkel und über dem Kniegelenk. Die seit 21 Jahren ver¬
heiratete Frau hat zehnmal geboren, die vierte und fünfte Gebnrt
war ein Abortus. Frühere Erkrankung nicht bekannt.
Lang zeigt einen vorwiegend auf den unteren Theil des
Stammes bis zum Nabel und die Streckseiten der Extremitäten loca-
lisirteu Lichen ruber accuminatus.
Kaposi verweist auf einen Fall seiner Klinik, der durch die
über den ganzen Körper ausgebreitete starke Schuppung leicht mit
Psoriasis universalis verwechselt werden könnte, am Rande
aber deutliche Knötchen und Knötchenreihen zeigt.
Schreiber demonstrirt aus Lang’s Abtheilung zwei
Fälle von ulcer irten Papeln an der Conjunctiva
bulbi.
Die erste Patientin mit Papeln am Genitale, dem linken Mund¬
winkel, an den Nasenöffnungen und am rechten äusseren Lidwinkel,
wurde zunächst local behandelt. Sie hatte im sechsten Lebensjahre
und 1S97 bereits mehrwöchentliche Augenerkrankungen durchgemacht.
Bald nach der Spitalsaufnahme bildete sich in der Nähe des inneren
Cornealrandes am rechten Auge ein knötchenartiges, grauweisses In¬
filtrat mit circumseripter Injection ; iu rascher Reihenfolge schossen
rings um den Limbus sieben ähnliche, hanfkorn- bis linsengrosse
Knötchen auf, die alle zerfielen und graugelb belegte, sulzige Geschwüre
bildeten, von denen das grösste am äusseren Cornealrand 1 mm weit
auf die Cornea reichte. Subjective Beschwerden in Form geringer
Lichtscheu und eines Fremdkörpergefühles im Auge. Nach der am
16. Mai eingeleiteten Allgemeinbehandlung mit Injectionen von 01.
cinereum gingen die geschwürigen Infiltrate rasch zurück, am längsten
persistirtfl die auf die Cornea übergreifende Papel am äusseren Rande.
Bei der zweiten Patientin, einer 45jährigen Frau, mit einer
gangränösen Sklerose am linken kleinen Labium, Papeln am Genitale
und After, Plaques an den Lippen und der Zunge, hatte früher nie
eine Augenerkrankung bestanden. Sie verspürte Ende April Brennen
im linken Auge, dessen Conjunctiva bulbi eine leichte Gefässinjection
zeigte. An dieser Stelle entstand nun ein hirsekorngrosses, bald
exulcerirendes, grauröthlieh verfärbtes Knötchen. Am 16. April Beginn
der Allgemeintherapie. Die exuleerirte Papel ist jetzt fast ganz
resorbirt.
A on beiden Krankheitsformen werden von Herrn Docent
Dr. El sehnig verfertigte stereoskojnsche Bilder herumgereicht.
Kaposi demonstrirt:
1. Einen 35jährigen Mann, der seit vielen Jahren an Lupus
erythematosus beider Wangen leidet, der mit Hinterlassung zahl¬
reicher atrophischer Narben abgeheilt ist. Im Januar wurde beiderseits
je ein Krankheitsherd durch Excision entfernt. Seit zwei Wochen sind
nun daneben und an der Stirne, dem Kinn- und Kieferrande mehrere
linsen- bis hellergrosse frische Herde von Lupus erythematodes
entstanden.
Lang ergänzt den Fall dahin, dass er in der Discussion über
Ehrmann’s Fall von Combination des Lupus erythem. mit Lupus
vulgaris einen solchen Fall aus seiner Erfahrung erwähnt habe. Es
sei dies der vorgestellte Patient, bei dem zwei Herde von Lupus vul¬
garis exstirpirt und auch diesbezüglich histologisch geprüft wurden.
2. Ein Erythema multiforme vesiculosum, das bei
einem 15jälirigen Knaben unter Fieber auftrat, zu einem über den
ganzen Körper dicht ausgebreiteten papulösen Erythem führte, dessen
Efflorescenzen fast durchwegs zu centraler Bläschenbildung neigten.
3. Ein hahnenkammartiges Epitheliom der häutigen Nasen-
scheidewand.
4. Traumatische eiterige Geschwüre an der
Glans penis bei einem 69jährigen Bauer. Am Dorsum ein über
linsengrosses, flaches, am Rande überhäutendes, central eiterig belegtes
Geschwür, das nicht so sehr, wie das tiefere Glansgewebe um das
Orificium urethrae grössere Derbheit zeigt. An der unteren Glansfläche
mehrere stecknadelkopfgrosse, gelbe Geschwürehen. Drüsen in inguine
nicht vergrössert. Beim Alter des Patienten ist die Differentialdiagnose
gegenüber einem oberflächlichen Careinom nicht unwichtig.
Geburtshilflich-gynäkologische Gesellschaft in Wien.
Sitzung am 23. Januar 1900.
Vorsitzender: Lihotzky.
Schriftführer: Regnier.
I. Ludwig stellt vor:
1. Einen Fall von vollständigem Verschluss der
Corpushöhle in Folge Tuberculose des Uterus,
welche bei einer 25jähiigen Patientin gelegentlich der operativen Be¬
seitigung einer Retroflexion constatirt wurde.
Es wurde sofort die Totalexstirpation des Uterus und der
rechten Adnexe angeschlossen. Das Corpus uteri ist in einen compacten
Tumor ohne Coipushöhle umgewandelt; das Myometrium ist weisslich,
wie speckig und enthält viele, mit käsigem Eiter erfüllte Herde. Die
rechte Tube nur 3 cm lang, atretisch, ihr Lumen mit käsigen Massen
erfüllt.
Im Ovarium dieser Seite keine käsigen Massen. Der Cervix
4 7 cm lang, seine Schleimhaut von normalem Aussehen. Die mikro¬
skopische Untersuchung ergibt vollkommenes Fehlen der Corpus-
schleimhaut, spärliches Vorhandensein von Tubeikeln mit epitheloiden
und Riesenzelltn im Myometrium, die Cervix frei von Tuberculose,
ebenso das exstirpirte rechte Ovarium.
2. Einen Fall von Lostrennung des Corpus uteri
von der Portio vaginalis und Dehiscenz der Cervix,
bewirkt durch Zug seitens einer hoch liegenden
Eier stockgeschwulst.
Bei einem zwölfjährigen Kinde fand sich bei der Laparotomie
eine dem rechten Ovarium entsprechende, kopfgrosse Dermoidcyste,
welche mit ihrem unteren Pole bis zur Spina ant. sup. herabreichte
und nach oben sich bis an den Leberrand erstreckte. Links im kleinen
Becken befand sich ein Ovarium und eine dünne, sehr lange Tube,
welche sich gegen den unteren Geschwulstpol hin verfolgen iiess. Das
Corpus uteri, welches dem Alter entsprechend entwickelt ist und eine
nach unten zu blind endigende Höhle besitzt, lag dem Tumor an ;
zwischen dem Scheidengewölbe und dem Corpus eine dünne Ligament¬
platte.
Bei der Untersuchung per vaginam sehen Sie eine kleine Portio
mit einem circa 3 mm tiefen Orificium. In diesem Falle hat also eine
vollkommene Trennung von Uterus und Portio mit Dehiscenz des
Cervix dadurch stattgefunden, dass das Corpus von einer nach oben
zu wachsenden Cyste aus dem kleinen Becken heraus und hoch
hinauf gezerrt wurde.
3. Einen Fall von Gynatresia cervico-vaginalis.
Eine 22jährige Patientin, Nullipara, die sich an keine über¬
standene Kinderkrankheit erinnern kann, hatte seit ihrem 14. Lebens¬
jahre allmonatlich durch einige Tage heftige kolikartige Bauch¬
schmerzen. Sie hat nie einen Blutabgang aus dem Genitale bemerkt.
Die Vagina stellt einen auf 7 cm einstülpbaren Blindsack dar, an
dessen oberem Ende u’eder ein Muttermund, noch eine Portio, noch
irgend eine Spur einer Narbe sichtbar ist.
Eingedenk der Schwierigkeiten, die uns bei Eröffnung von
vaginalen Adnexen mit einer möglicher Weise vorhandenen Hämatometra
von der Vagina aus schon einige Male begegnet waren, babe ich im
Einverständnisse mit meinen Chef hier von vorneherein auf den vagi¬
nalen Weg verzichtet und die Laparotomie ausgeführt. Es fand sich
ein gut entwickelter Uteruskörper in Retroflexionsstellung, mit dem
Fundus mittelst einiger schwacher Membranen adbärent. Zugleich er¬
blickte man am Beckenboden einen Esslöffel voll schwarzbraunen,
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
618
dickflüssigen Blutes. Beide Tuben und Ovarien waren
vollkommen frei, die ersteren ziemlich stark geschlängelt.
Es wurde nun der Uterus aufgerichtet, durch einen vorderen
Längsschnitt eröffnet und beide Tuben sondirt. Sie erwiesen sich als
leicht durchgängig. Die Corpusschleimhaut stark injicirt, die Corpus-
höhle klein, die Wanddicke des Uterus 2 cm. Zwischen dem Corpus
und dem Vaginalgewölbe fühlt man einen den Cervix substituirenden
kleinfingerdicken bindegewebigen Strang von 3 — 4 cm Länge. Unreine
Communication der Corpushöhle mit der Vagina herzustellen wurde
ein Troikart durch diesen Strang in die Vagina hinabgestossen, der
Stachel des Troikarts zurückgezogen und das Rohr liegen gelassen.
Darauf Schluss der Uterus- und der Bauchwunde.
Der Verlauf war bis jetzt ein vollkommen glatter. Das ätiolo¬
gische Moment für die Entstehung der Scheiden- Cervix- Atresie muss
hier, trotz negativer Anamnese, bei dem Umstande, dass es sich um
ein normal gebildetes Corpus und normale Adnexe handelt, in einer
localen, in früher Jugend, jedenfalls, da die Patientin nie durch die
Vagina menstruirt hat, noch vor Eintritt der Pubertät durchgemachten
Entzündung gesucht werden. Der Mangel jeglicher Narbenbildung in
der Vagina kann nicht dagegen sprechen; wissen wir doch, dass selbst
bei Erwachsenen im Anschlüsse an Geburten Scheidenatresien ent¬
stehen können, die nicht eine Spur von Narbenbilduug später er¬
kennen lassen.
Dass sich aber seit Jahren das Menstrualblut in die Bauchhöhle
ergoss, dafür sprechen verschiedene Momente: Der Mangel jeglicher
Ausdehnung der Corpushöhle und der Tuben, der letzteren vollkommene
Durchgängigkeit, die allmonatlich wiederkehreden heftigen, kolik¬
artigen Schmerzen, die kräftige Entwicklung von Uterus und Ovarien
und endlich der Befund von schwärzlichem Blute im Cavum
peritonei.
Es ist ein ähnlicher Fall von L a n d a u beschrieben worden,
dem allerdings erst R. Meyer die richtige Deutung gegeben hat.
Ich war mir im Momente der Operation der Gefahren, welche der
Patientin im Falle einer späteren Gravidität erwachsen können, voll¬
kommen bewusst, allein ich konnte mich nicht entschliessen, die
jugendliche Frau ihrer sonst wohlentwickelten inneren Genitalien ver¬
lustig zu machen. Der künstliche Abortus, beziehungsweise die Sectio
caesarea dürften freilich in fast sicherer Aussicht stehen.
Discussion ad Fall 1: Wertheim weist auf ein Operations¬
verfahren bei partieller Obliteration des Uterus hin, das er vor einigen
Jahren im Centralblatte für Gynäkologie angegeben hatte. Es handelte
sich um einen Uterus, der nach einer rüde vorgenommenen Aus¬
kratzung, und zwar im Verlaufe des ganzen Cervicalcanales bis über
das Orificium internum obliterirt war. Da die Eröffnung von unten
mittelst Sonden nicht möglich war, wurde die Blase vom' Uterus ab¬
gelöst und so der untere Abschnitt des Corpus an der vorderen
Wand freigelegt; dann wurde mittelst eines sagittalen Medianschnittes
in die Tiefe gedrungen und so der unterste Theil der Corpushöhle
zur Eröffnung gebracht. Es fanden sich einige Kaffeelöffel alten
flüssigen Blutes. Dann wurde die Schleimhaut der Körperhöhle mit
der Vaginalschleimhaut des vorderen Scheidengewölbes fest vernäht.
Die Frau bekam wieder ihre normale Menstruation, nachdem sie
vorher die heftigsten Molimina menstrualia auszustehen gehabt hatte.
Wertheim glaubt, dass in dem von Ludwig vorgestellten
Falle eine nachträgliche Stricturirung kaum zu vermeiden sein dürfte,
wenn es nicht gelingen sollte, den durch den Troikart geschaffenen
Canal mit Schleimhaut zu überkleiden.
Ludwig bemerkt, dass bei der Unsicherheit des Befundes an
den vaginalen Weg nicht gedacht werden konnte.
II. Schmit: Implantation der Tube in den Uterus
(Krankenvorstellung).
Der Vortragende berichtet über eine am 2. Januar 1900 ausge¬
führte Laparotomie, bei welcher wegen Tubargravidität die rechten
Adnexe exstirpirt wurden. Bei der Revision der linken Adnexe erwies
sich Tube und Ovarium normal, aber gerade an der Ansatzstelle der
Tube fand sich ein Myomknoten, der die Tube anscheinend ganz ver¬
drängte und comprimirte. Da nach diesem Befunde entweder Sterilität
zu erwarten oder eine neuerliche Tubargravidität (auch auf der linken
Seite) möglich erschien, nahm der Vortragende die Excision dieses
Knotens vor und implantirte nach dem Vorschläge Prof. Schauta’s
die abgetrennte Tube in die Uterushöhle, womit die Möglichkeit neuer¬
licher Conception gegeben erscheint. Der Heilungsverlauf war voll¬
kommen ungestört.
III. Halban: Ein Fall von completer Uterus-
l’upt u r.
Halban stellt eine Frau vor, bei welcher er vor zwölf Tagen
die Totalexstirpation des Uterus per laparotomiam ausführte,
und zwar wegen completer Uterusruptur intra partum und
Austritt der Frucht in die Bauchhöhle.
Die 28jährigo II para war früher stets gesund. Letzte Menstrua¬
tion am 5. April 1899.
Wehenbeginn am 7. Januar um 8 Uhr Abends; die ganze Nacht
starke Wehen. Um 6 Uhr Früh Blasensprung. Um 8 Früh hörten
dann die Wehen plötzlich auf, ohne dass die Frau um diese Zeit
einen besonderen Schmerz, der auf den Eintritt der Ruptur deuten
Hesse, verspürt hätte. Dagegen trat um 9 Uhr Vormittags eine geringe
Blutung ein.
Eine Hebamme untersuchte die Frau, constatirte einen
Nabelschnurvorfall und wies sie an die Klinik.
Die um 10 Uhr in den Kreisssaal kommende Frau zeigte ein
frisches Aussehen. Temperatur 37'5°. Puls 76. Rachitisches Skelet.
Becken allgemein verengt, rachitisch. Uterustumor längsoval, Fundus
einen Finger unter dem Proc. xiph. Schädel beweglich über dem Becken¬
eingang, gegen den rechten Darmbeinteller abgewichen, grössere Resi¬
stenz rechts, Herztöne nicht zu hören. Da keine Wehen thätigkeit be¬
stand, auch keine Blutung vorlag, Puls und Temperatur normal
waren, wurde die Frau nur flüchtig vom diensthabendem Arzte unter¬
sucht; derselbe fand, dass es sich um Vorfall einer pulslosen Nabel¬
schnurschlinge und um Placenta praevia handle. Da, wie erwähnt,
keine besondere Indication zum Eingreifen gegeben war, blieb die
Frau ruhig liegen und ich kam erst Abends nach 8 Uhr dazu, die
Frau selbst zu untersuchen, wobei sich allerdings ein überraschender
Befund ergab.
Die Schlinge, welche als Nabelschnur imponirt hatte, erwies
sich als die quer abgerissene, nur an ihren seitlichen Theilen
noch mit der Portio zusammenhängende hintere Muttermunds¬
lippe, die allerdings bei flüchtiger Untersuchung eine kleine Nabel¬
schnurschlinge Vortäuschen konnte. Die vordere Muttermundslippe war
intact. Beim Eindringen in den Cervicalcanal, welcher collabirt und auf
ungefähr drei Finger zu spreizen ist, gelangt man auf schwammiges Gewebe,
welches im ersten Moment für Placenta gehalten werden kann. Bei
genauerer Untersuchung zeigt sich aber, dass es sich um einen
tiefen Riss handelt, welcher in der Höhe des inneren Mutter¬
mundes quer die vordere Gebärmuttergegend durchläuft und mit
seinem Hauptantheile gegen das rechte Parametrium zieht. Wenn man
in den Riss tiefer eindringt, gelangt man auf den Schädel, welcher
auf dem rechten Darmbeinteller liegt und sich scheinbar voll¬
ständig in der Bauchhöhle befindet.
Vor dem Schädel eine Membran, wie eine schlotternde Frucht¬
blase, möglicher Weise das abgerissene Peritoneum. In der Narkose
erweist sich die Uterushöhle als leer, der Uteruskörper contrahirt, auch
die Placenta ist nicht zu finden.
Ich schritt nun sofort zur Laparotomie (10 Uhr Abends).
Nach Eröffnung der Bauchhöhle, präsentirt sich sofort die
Frucht, welche frei in ihr liegt, und zwar in Schädellage, zweite Po¬
sition. Die Frucht wird extrahirt, desgleichen die Placenta, welche
ebenfalls in der freien Bauchhöhle liegt. Daselbst auch eine
minimale Blutmenge. Der Uterus zeigt einen vollständigen Riss
in der vorderen Wand und rechts, und zwar in der Höhe des Blasen¬
scheitels. Da die Möglichkeit einer Infection vorlag — die Frau war
auswärts von einer Hebamme untersucht worden, machte ich die
Totalexstirpation des Uterus und der Adnexe mit breiter Drainage
gegen die Scheide. Die Frucht zeigte Zeichen frischer Maceration;
3400#, 50 cm. Die Frau machte einen vollständig fieberlosen, unge¬
störten Wund verlauf durch und wird morgen geheilt entlassen.
An diesem Falle sind mehrere Momente interessant. Vor Allem
der Umstand, dass offenbar bereits zwei Stunden nach dem
Blasensprunge die Ruptur ein getreten ist. Um 6 Uhr
Früh Blasensprung, um 8 Uhr Früh vollständiges Cessiren der bis
dahin sehr kräftigen Wehen, Aufhören der Kindesbewegungen, um
9 Uhr eine allerdings geringe Blutung nach Aussen.
Wir können kaum fehlgehen, wenn wir schon nach dieser
Anamnese annehmen, dass die Ruptur um 8 Uhr ungefähr erfolgt ist.
Dazu kommt, dass schon beim Eintritt der Frau in unsere Anstalt
um 10 Uhr Vormittags der Riss offenbar nach dem Touchirbefunde
vorhanden war.
Der Eintritt einer Ruptur zwei Stunden nach dem Blasensprunge
bei einer jungen Il-para ist nun sehr auffallend. Die Besichtigung des
Präparates ergab aber mit Sicherheit, dass es sich dabei nicht um
eine frische Verletzung handeln konnte, da der Riss nirgends blutend,
sondern im Gegentheil übernarbt war. Es muss also angenommen
werden, dass diese Verletzung bei der ersten Geburt stattgefunden
habe und damals durch eine Usurirung der hinteren Muttermundlippe,
welche lange Zeit zwischen Schädel und Promontorium gequetscht
wurde, entstanden ist. Thatsächlich erwies sich das Becken als hoch¬
gradig verengt, die Conj. diag. betrug 10*1, die erste Geburt war
von langer Dauer und musste mit Forceps beendigt werden.
Wir können nun ohne Zwang annehmen, dass bei dieser ersten
Geburt ebenso wie die hintere Cervicalwand, auch die vordere sein-
stark zwischen Schädel und Symphyse gequetscht wurde, und dass an
dieser Stelle vielleicht eine Verdünnung der Uteruswand zurückgeblieben
ist, welche nunmehr bei der zweiten Geburt leicht einriss, nachdem
614
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 26
die Dehnung des unteren Uterinsegmentes grössere Fortschritte
gemacht hat.
Auffallend an diesem Falle ist ferner der Umstand, dass die
Frucht sicher 14 Stunden in der freien Bauchhöhle lag
( frische Maceration), ohne dass es zu irgendwelchen peritonealen lieiz-
erscheinungen oder zu einer Infection gekommen wäre. Die Frau klagte
über keinerlei Schmerzen und fühlte sich — wie wiederholt erwähnt
_ vollständig wohl. Sie wurde offenbar zu ihrem Glücke nicht
inficirt und hat wohl diesem Umstande den günstigen Ausgang zu
danken.
Discussion: R. v. Braun fragt, ob die Gebärende ausser¬
halb der Klinik untersucht worden sei.
Hal ban erwidert, dass die Patientin nur einmal draussen von
der Hebamme untersucht worden ist.
Schauta: Die Frage R. v. Braun’s sei vollkommen be¬
rechtigt. Der vorgestellte Fall ist mit zwei gleichartigen Fällen an
zwei aneinanderfolgenden Tagen an die Klinik gekommen ; der eine
Fall war eine incomplete Ruptur, das Peritoneum also nicht eröffnet,
die anderen zwei Fälle (darunter der vorgestellte) waren complete
Rupturen. In den beiden anderen Fällen, in denen das Kind noch
nicht aus der Uterushöhle ausgetreten war, und daher auf natürlichem
Wege entwickelt werden konnte, wurde tamponirt, doch gingen beide
Patientinnen zu Grunde.
Dagegen kam dieser Fall, bei dem das Kind in die Bauchhöhle
ausgetreten war und daselbst 14 Stuuden verblieb, davon.
In den beiden letalen Fällen sind Operationsversuche voraus¬
gegangen, Aerzte und Hebammen haben untersucht, die Frauen wurden
maltraitirt und inficirt, während dieser Fall nur einmal von der Heb¬
amme untersucht, nicht inficirt an die Klinik kam und daher auch
günstig verlief.
R. v. Braun hat auch an der Klinik seines Chefs dieselben
Erfahrungen gemacht; er fragt, ob der Fall von incompleter Ruptur
an Sepsis oder an Anämie zu Grunde gegangen sei.
Schauta erwidert, dass alle Fälle an Sepsis zu Grunde ge¬
gangen seien. Natürlich spielt die Anämie auch eine grosse Rolle, da
anämische Personen leicht septisch werden. An reinem Verblutungs¬
tode ist jedoch keine zu Grunde gegangen.
D i 1 1 e 1 fragt, ob bei der Totalexstirpation der Beckenboden
geschlossen oder drainirt wurde?
H a 1 b a n : Es wurde drainirt.
Dittel: Der Grund der raschen Ruptur ist allerdings in der
Beckenverengerung zu suchen, doch wäre es rathsam, in diesem Falle
darnach zu forschen, ob nicht ein Mangel an elastischen Fasern
bestand.
Hal ban: Die histologische Untersuchung des unteren Uterin¬
segmentes und der Cervix, speciell auf elastische Fasern, ist noch nicht
abgeschlossen.
Schmit: Seitdem Prof. Schauta die Klinik leitet, kamen
19 Fälle von Uterusruptur zur Beobachtung, und zwar 9 incomplete,
10 complete mit einer Mortalität von 9 Fällen, i. e. 52'6°/o Heilung.
Die meisten Fälle waren ausserhalb untersucht und an ihnen oft viel¬
fache Eutbindungsversuche vorgenommen worden. Von den an der
Klinik entstandenen Rupturen ist keine Patientin gestorben. Alle letal
geendigten Fälle starben an Sepsis. Bei den mit Tamponade Behan¬
delten findet sich ein Heilungsprocent von 6L5, bei den Operirten
von 50. Bei dieser Berechnung zeigt es sich, dass mittelst der Tam¬
ponade mehr Frauen du,-chgebracbt wurden, als mittelst der Operation.
Wenn die Anämie nicht so hochgradig ist, dass die Patientin von
vornherein an derselben stirbt — und thatsächlich sind die Fälle von
so hochgradiger Anämie nicht so häufig, da ja die Blutung meist nach
Uterusruptur steht — so hat diese Art der Behandlung schon theo¬
retisch betrachtet viel Wahrscheinlichkeit auf günstigen Erfolg für
sich. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ein Entbindungsverfahren, bei
dem die Bauchhöhle weiterhin nicht mehr mit dem inficirten Organe
und Kinde in Berührung gebracht wird, eher ein günstiges Resultat
geben kann, zudem das Wundbett drainirt wird und ein dauerndes
Antisepticum acht bis zehn Tage, je nach den Umständen noch länger
liegen bleibt. Dieses Verhältniss zwischen Tamponade und Operation
stellt sich, wenn man die Fälle aus der Literatur sammelt, auch hier
zu Gunsten der Tamponade, respective Drainage. Von 83 aus dem
Materiale verschiedener Kliniken gesammelten Fällen (einzelne
casuistische Mittheilungen blieben unberücksichtigt), die mit Drainage
behandelt wurden, starben 40, was 51-8°/o Heilung ergibt; bei 32
operativ behandelten Fällen betrug das Heilungsprocent blos 25.
R. v. B r a u n bemerkt, dass auch er herausgebracht habe, dass
die incomplete Ruptur bei der Tamponade eine bessere Prognose gebe.
Stern (als Gast) berichtet über einen Fall, der bei Professor
Winter in Königsberg zur Beobachtung kam, aber nach einer
anderen Methode behandelt wurde. Es handelte sich um eine Frau,
bei der eine totale Uterusruptur seit 12 Stunden bestand, und wo sich
in Folge Diastase der Recti das Kind unmittelbar unter der Haut
tasten liess. Es wurde die Laparotomie gemacht, das Kiud sammt der
Placenta extrahirt und sofort der Bauch durch Naht geschlossen.
Hierauf wurde die Totalexstirpation per vaginam angeschlossen. Die
ganze Operation dauerte 40 Minuten. Die Frau wurde vollständig
geheilt. Seines Wissens jedoch wurde diese Methode nicht weiter
verfolgt.
R. v. Brau n erwidert, es sei eine bekannte Thatsache, dass
Prof. Winter die Extraction des Kindes durch die Laparotomie be¬
vorzugt und er hat schon vor einer Reihe von Jahren publicirt, dass
man das Kind extrahiren und den Uterus in Ruhe lassen solle,
v. Braun möchte Vorschlägen, bei schwerer Ruptur den Uterus per
vaginam und dann durch die so geschaffene Oeffnung das Kind zu
entfernen. Er selbst habe es nicht versucht, hält es aber für technisch
durchführbar und von Werth.
Wertheim glaubt, dass die Extraction der grossen Frucht
einen ungünstigen Einfluss auf die Stümpfe nehmen würde; es könnten
Zerreissungen stattfinden, Ligaturen abiutschen; das ganze Verfahren
wäre nicht schonend für die Wunde.
R. v. Braun erwidert, es müsse nicht immer eine grosse
Frucht vorhanden sein und bezweifelt ferner, dass die nach der Total¬
exstirpation zurückbleibende Wunde das Kind nicht durchlassen sollte.
Man könne so vorsichtig operiren, dass keine Ligaturen abgleiten;
höchstens, dass das Peritoneum einreisst, und so eine Blutung entsteht.
Wenn der frisch entbundene Uterus durch die Vagina durchgehe, so
werde das Kind auch durchgehen.
Ludwig glaubt, dass die vaginale Totalexstirpation den
Vortheil, den sie bei der Entfernung des septisch inficirten Uterus
bietet, in vielen Fällen durch den Nachtheil aufgewogen werde, der
durch die Complicirtheit der anatomischen' Verhältnisse bedingt sei.
Es sind nicht immer die Wunden des Uterus, welche zu schweren se-
cundären Blutungen und Anämie Veranlassung geben, sondern auch
die paracervicalen Gefässe, die Uterina und ihre Verzweigungen
machen oft schwere Nachblutungen. Die Gefässe ziehen sich oft stark
zurück und können von der Vagina aus nicht mit Sicherheit in
Klemmen gefasst oder umstochen werden.
Solche Gefässe können oft nach Stunden, ja selbst nach Tagen,
wo die Operirte längst für gerettet gehalten wurde, zu Nachblutungen
Veranlassirng geben.
R. v. Braun bemerkt, dass er selbst seinerzeit darauf hinge¬
wiesen habe, dass Abhebungen des Peritoneums bis zur Niere enorme
Schwierigkeiten bei der Blutstillung machen. Wo die Ruptur nicht
eine quere ist oder wo die Diagnose nicht sicher zu stellen ist, wird
es Braun nicht einfallen, die vaginale Totalexstirpation zu machen,
da man die Gefässe weder sehen, noch ligiren kann.
IV. Halban demonstrirt Harnröhren- und Blasensteine, welche
von einer 79jährigen Frau stammen, die seit 25 Jahren an einem
Prolapsus uteri et vaginae mit bedeutender Cystokele leidet. Seit
sechs Jahren wiederholte Harnverhaltung oder Harnträufeln. Die
Harnröhre war vollständig mit fünf bohnen- bis über haselnussgrossen
Steinen ausgefüllt, von denen der erste bereits aus dem Orific. urethrae
ext. heraussah. Nach Entfernung der Steine mittelst einer Kornzarge
konnte die Blase ganz gut mit dem Finger ausgetastet werden, wobei
sich dieselbe ebenfalls als mit Steinen ausgefüllt erwies. Auch diese
konnten, trotzdem einzelne fast nussgross waren, durch die stark er¬
weiterte Harnröhre einfach mit einer Kornzange herausgezogen werden.
Die Steine (Harnsäureconcremente mit Phosphatmantel) fanden für
ihre Bildung offenbar einen günstigen Boden in der so lange Zeit
vernachlässigten Cystokele.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
in München.
Vom 17. bis 22. September 1899.
(Fortsetzung.)
Section für Kinderheilkunde.
Referent Dr. B. B e n d i x (Berlin).
III. Sitzungsfag: Mittwoch, den 20. September 1899.
I. Escherich (Graz) : Studien über die Morbidität
der Kinder in verschiedenen Altersclassen.
Im Kindesalter, bilden nur die derselben Alters¬
stufe angeh origen Fälle ein vergleichbares und zu
statistischer Bearbeitung verwendbares Material.
Ausgehend von diesem Grundsätze hat der Vortragende die
innerhalb der letzten vier Jahre 1895 — 1898 inclusive im Ambula¬
torium des Grazer Anna Kinderspitales zur Behandlung gekommenen
Erkrankungen nach einem Schema zusammengestellt, welches für jeden
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
615
einzelnen Fall die Gruppirung nach dem Lebensalter und dem
Jahresmonat, in welchem er beobachtet wurde, gestattet. Bei der Be¬
arbeitung dieses 35.000 Fälle umfassenden Zahlenmateriales hatte er
sich der Mitarbeiterschaft des Statistikers Prof. E. Mischler und
einer Subvention seitens der königl. Akademie der Wissenschaften zu
erfreuen.
Die Zusammenstellung geschah nach verschiedenen Gesichts¬
punkten:
a) Sämmtliche gleichartige Fälle wurden addirt und daraus eine
Morbiditätscurve des Kindesalters construirt.
b) Sämmtliche Erkrankungen wurden nach der in Lehrbüchern
üblichen Weise in natürliche Gruppen eingetheilt und die Betheiligung
jeder Gruppe an der Gesammtmorbidität jedes Lebensjahres berechnet
und graphisch dargestellt. Es ergab sich dabei eine gesetzmässig fort¬
schreitende Verschiebung der Gruppen untereinander. Noch deutlicher
sind die Unterschiede bei der Auflösung der Gruppe in die einzelnen
dieselbe zusammensetzenden Erkrankungen.
c) Es wurden sämmtliche beobachtete Fälle einer Erkrankung
addirt und der Antheil, welcher auf jedes einzelne Lebensjahr entfällt,
procentisch berechnet. Man erhält so für jede Krankheit eine Alters-
curve, deren Gipfel auf diejenigen Jahre fällt, in welchen sie am häu¬
figsten vorkommt. Durch Zusammenstellung der in gleicher Curve ver¬
laufenden Krankheiten ergibt sich die der betreffenden Altersstufe zu¬
kommende Krankheitsphysiognomie.
d) Es wird für jede Erkrankung die Monatscurve festgestellt.
Da, wo deutliche und constante Unterschiede vorhanden, ergeben sich
wichtige Fingerzeige für die Aetiologie und Pathogenese.
Die Resultate der unter 1, 2 und 4 angeführten Berechnungen
werden an einer Anzahl farbiger Tafeln demonstrirt und die wichtig¬
sten Ergebnisse in folgenden Schlusssätzen zusammengefasst:
1. Das Kindesalter zeigt eine hohe, vom ersten Lebensjahre an
rasch abnehmende Morbidität, die bezüglich der Art und des Ver¬
laufes der vorherrschenden Erkrankungen einen gesetzmässigen, den
Altersstufen entsprechenden Wechsel erkennen lässt. Dieser Wechsel
ist begründet einestheils in den physiologischen Besonderheiten des
Organismus, anderentheils in den äusseren Verhältnissen und Lebens¬
gewohnheiten der Kinder, die innerhalb derselben Alterstufe eine
sehr viel grössere Gleichmässigkeit aufweisen als diejenigen der Er¬
wachsenen.
2. In der Säuglingsperiode äussert sich die rückständige Ent¬
wicklung der Organe in der functioneilen Schwäche insbesondere des
Verdauungsapparates und in ungenügender Anpassungsfähigkeit an die
Bedingungen des extrauterinen Lebens. Diese werden in dem Masse,
in welchem sie sich von dem nur mit einem gewissen Aufwande her¬
stellbaren Optimum entfernen, von der zarten äusseren Decke und den
reizbaren Schleimhäuten als krankmachende Schädigungen empfunden.
Dazu kommt der Mangel an Schutzvorrichtungen gegen bacterielle In¬
vasion und Toxine, der sich beim Neugeborenen in der Häufigkeit und
Schwere der septischen Erkrankungen, beim Säugling in Form der in-
fectiösen Schleimhautkatarrhe äussert.
3. Schon in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres beginnen
die constitutionellen Erkrankungen und ihre Folgezustände, welche sich
als Störungen in dem Aufbau des wachsenden Organismus charak-
terisiren (Rachitis, Anämie, Scrophulose). Ihren Höhepunkt erreichen
sie im zweiten und dritten Lebensjahre und bestimmen somit das Krank¬
heitsbild der Milchgebissperiode. Dazu kommen als Folge der unrein¬
lichen Lebensgewohnheiten der Kinder dieses Alters die sogenannten
Schmutz- oder Schnaierinfectionen (Diphtherie, Pertussis, Localtuber-
culose, Stomatitis, Helminthiasis etc.).
4. Vom fünften Lebensjahre (Pueritia) an treten gleichzeitig mit dem
Beginne -des Schulbesuches die acuten Exantheme mit ihren Folge¬
erkrankungen an Herz und Niere an die erste Stelle. Ausserdem haben
die gesteigerten Anforderungen, welche jetzt an den noch im Waclis-
thume begriffenen Körper und die sich entwickelnden Geisteskräfte des
Kindes gestellt werden, functioneile Schädigungen (sogenannte Schul¬
krankheiten) zur Folge, die den Berufskrankheiten des späteren Lebens
vergleichbar sind.
Im Uebrigen nähert sich der Krankheits-Charakter dieser Periode
mehr und mehr dem des Erwachsenen (Rheumatismus artic., Endo¬
carditis, Typhus, croupöse Pneumonie, Chorea, functioneile Neurosen,
traumatische Erkrankungen).
5. Von den chronischen Infectionskrankheiten zeigt die Lues
eine von dem Zeitpunkte der Geburt an rasch abnehmende, die Tuber-
culose eine mit den Jahren stetig zunehmende Frequenz. Während
des ganzen Kindesalters überwiegt die Neigung zur Localtubereulose,
insbesondere des Lymphapparates, der auch der Ausgangspunkt eines
besonderen Typus der Lungeninfection, der sogenannten Hilusphthise
wird. Auch die miliaren Formen sind bis zum vierten Lebensjahre
am häufigsten.
6. Insofern das Ueberwinden der allmälig wachsenden Anforde¬
rungen die Leistungsfähigkeit der Organe steigert und das Uebersteben
der Infectionen in vielen Fällen einen dauernden Schutz hinterlässt,
stellt sich das Kindesalter vom Standpunkte des Arztes aus betrachtet
als die Vorbereitungszeit dar, in deren Verlauf der Organismus durch
die Entwicklung der in dem Neugeborenen schlummernden Anlagen
und Schutzvorrichtungen einerseits die wunderbare Anpassungsfähig¬
keit an die verschiedensten Klimate und Lebensbedingungen, anderer¬
seits Schutz gegenüber den gefährlichsten Feinden des Menschenge¬
schlechtes erwirbt, um dann im erwachsenen Alter den Kampf ums
Dasein mit Erfolg zu überstehen. Aufgabe des Arztes ist es, diesen
Acclimatisationsprocess zu überwachen und ein Missverhältnis zwischen
den einwirkenden Schädlichkeiten und dem jeweils vorhandenen Kräfte¬
zustand hintanzuhalten.
II. Biedert (Hagenau) : Eine Versuchsanstalt für
Ernährung, eine wissenschaftliche, staatliche und
humanitäre Noth Wendigkeit.
Auf dem Gebiet der Ernährungslehre zeigen sich gegenwärtig
Verwirrung und Widersprüche, ein Hinwegsehen über scheinbar längst
Feststehendes, Verwerfen von Dingen durch den Einen, welche der
Andere für unumgänglich hält oder als äusserst erfolgreich in der Praxis
schildert. Das ist ein bedauerlicher Zustand und lässt einen alten Vor¬
schlag von Biedert als dringend wieder auftauchen, in einer wohl¬
eingerichteten Versuchsanstalt die praktisch wichtige Lösung solcher
Fragen zu fördern. Eine gleichlaufende Forderung von Harnaek für
Untersuchung neuer Arzneimittel bestärkt Biedert jetzt in seinem
Bestreben, nur ist sein Gegenstand viel dringender, weil Klarheit über
Ernährung der Gesunden und Kranken viel unentbehrlicher ist, als eine
solche über neue Arzneien. Zur Begründung seiner Forderung hat
Biedert ein Schema drucken und vertheilen lassen, in dem theils
die Widersprüche und das Fragliche bezüglich der Ernährungslehre
beim Kind wie beim Erwachsenen, direct angegeben, theils einfach
Behauptungen aufgestellt sind, um sie sämmtlich als einer weiteren
Prüfung bedürftig hinzustellen. Daraus sei nur nur das Wichtigste hervor¬
gehoben, zunächst mit der
Ernährung des Kindes beginnend. Wenn hiefür die
Muttermilch als Muster angenommen wird, kommt deren quantitative
Zusammensetzung, die chemischen Eigenthümlichkeiten ihrer einzelnen
Stoffe (Biedert, E. Pfeiffer, Cam er er und Söldner, Schloss¬
mann, Siegfried, Wroblewski, Szontagh, Knöpfe] m acher),
ihre verhältnissmässige bacteriologische Reinheit in Frage. Für die
Kuhmilch als Ersatz ist die Individualität und Gesundheit des Milch¬
viehs insbesondere die noch nicht genügend umrissene Gefahr der
Tuberculose Uebertragung, die Art der Fütterung, und zwar die zu¬
gleich gute und doch nicht übertheuerte, endlich die Milchbebandlung
massgebend. Noch als Ideal steht uns für letztere die aseptische Milch¬
gewinnung vor Augen, auf Reinlichkeit, thierärztliche Viehcontrole
(Tuberculin-Injection), Benützung der letzten Hälfte des Euterinhaltes,
Eiskühlung begründet. Jetzt wo diese infectionsfreie Milch noch nicht
gegeben ist, herrscht die Desinfection derselben, und zwar die Pasteuri¬
sation, welche durch längere Einwirkung von circa 70° pathogene und
Säurepilze zerstört, ohne Geschmack und Eiweiss zu ändern, und
Sterilisation, welche mit Kochtemperatur und darüber auch noch sonst
lebenbleibende Fäulnissbacterien, Coli und Proteus, zerstört (Flügge).
Dies ist ein Vortheil der Sterilisation, während für irgend einen Vorzug
der Pasteurisation ein Nachweis noch nicht unternommen worden, selbst
im Geschmack gegen sofort gekühlte Kochmilch nicht merkbar ist.
Zahlreiche Modificationen der Sterilisation sind aber noch zu erproben.
In den Methoden der Säuglingsernährung herrscht jetzt der ge¬
waltigste Zwiespalt: Reine Kuhmilch ohne jede Veränderung wfird wieder
der altbewährten Verdünnung entgegengestellt, ihr schwer verdauliches
Casein soll auf einmal unbedenklich sein und für die Nährwerthe von
Fett und Kohlehydrate in der Muttermilch eintreten können; Andere
wieder sehen selbst von dem vermeintlich vollkommen und normal
verdauten Kuhcasein im Blut erst schwere Nachtheile (Säurevergiftung,
irreguläre Stoffe). Dann wird das Fett als Giftbringer angeklagt und
an seiner Stelle ein ganz bestimmtes Kohlehydrat (M a 1 t o n) entgegen
dem früher empfohlenen Milchzucker gepriesen, während jenes doch in
der Muttermilch tadellos erscheint und auch von den verschiedenen
Fettmilcharten die bestechendsten Resultate berichtet werden. Derselbe
Mangel an Uebereinstimmung herrscht in der Verabreichung der
Nahrung; die Einen wollen nur eine einzige Mischung für die ganze
Säuglingszeit, die Anderen steigende Gewöhnung an Vollmilch; das
Volum, die Zahl der Mahlzeiten werden ganz verschieden regulirt, und
das Nahrungsbedürfniss zur Erzielung guten Ergebnisses hat sich bis
jetzt bei einzelnen Idividuen sowohl an der Brust wie bei der Flasche
als ganz verschieden herausgestellt. Offenbar ist hier bei anscheinend
guter Resorption die Assimilirfähigkeit der Individuen massgebend, und
das weitere Schicksal noch ganz unsicher (B e n d i x und Anderer Unter¬
suchungsergebnisse). Insbesondere ist die jetzt hochbewerthete Aus¬
nutzung kein unzweideutiges Mass der Verdaulichkeit und des Nutz¬
effectes. Abgesehen von der Untersuchung auf den Nahrungsrest sollten
die Stühle mehr als seither zur Auskunft herangezogen werden: prin-
616
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 26
cipiell verschiedene Reaction bei Menschen- und Kuhmilchstühlen,
Nuclein nach Knöpfelmache r, Nachweis der Fäulniss in Kuh¬
milchstühlen mit A. Schmidt’s Methode nach Pusch, abnorme
Verdauungsrückstände.
Für Störungen kann Contaetinfection der Nahrung und Kinder
und Luftinfection der letzten verantwortlich sein unter Mitwirkung des
schädlichen Nahrungsrestes. Spitalschäden, wohl auf beiden beruhend,
sind durch scharfe Prüfung in den Anstalten klarzustellen.
Nach einigen Bemerkungen über Beinahrung und über Ernährung
älterer Kinder geht Biedert zur Ernährung Erwachsene r,
insbesondere kranker Erwachsener über. Es herrschen hier zwei For¬
men: die Hypopepsie und llyperpepsie. Bei Hypopepsie ist eben aus¬
reichende leichte Ernährung am Platze. Werth der Fabricate zweifel¬
haft; die peptonisirte wegen Darmreizung bedenklich (V o i t), löslich
gemachte bleiben nicht zuverlässig löslich gegenüber der Salzsäure im
Magen (Biedert), und bei Allen ist der Nachweis ihres Nutzeffectes
bis jetzt noch durchaus ungenügend (P r a u s s n i t z). Die Salzsäure
wird empfohlen bei llyp- und Anacidität: Säurevergiftung und Ent¬
ziehung von Körperalkalien (Limbec k) hier wahrscheinlich nicht zu
fürchten, da nur der Defect gedeckt wird; eher bei Hyperacidität, wo
indess Amoniak schützend eintritt. Bei llyperpepsie wird zu viel Salz¬
säure abgesondert, als für die zugeführte Nahrung nöthig wäre; bei
den larvirten Formen zeigt sieh nach dem Probefrühstück einmal ge¬
ringe, dann nach Fleischnahrung übermässige Salzsäure, ein andermal
bei jener mässige, bei dieser ungenügende Absonderung. Es ist deshalb
jeder Kranke nach dem Genüsse verschiedener Speisen zu untersuchen
und dann nach dem Ergebniss zu behandeln; so löst sich vielleicht
der Streit über Ernährung der Hyperaciden ; für ihre Behandlung
empfiehlt Biedert Nachspülung von Tanninlösung und Magnesia, be¬
sonders günstig vor dem Schlafengehen. Frühspülung hat lediglich
diagnostischen Werth. Flüssigkeit ist nur bei Dilatation zu beschränken;
ein allgemeines Verbot bei Verdauungsstörungen hat keinen Sinn,
allenfalls noch bei Hypopepsie, im Gegensatz zur Apepsie, wo alle
Saftabsonderung fehlt und bei den Mahlzeiten, auch Flüssigkeiten
eventuell mit Salzsäure zuzführen sind.
Wenn neben dem Gesagten noch eine grössere Zahl von Ein¬
griffen und Massnahmen für Lebensweise und Lebensführung zur Dis¬
cussion gestellt worden, .so sollen nur die wichtigsten Aufgaben für eine
systematische Untersuchung angedeutet sein.
Die Nothwendigkeit einer reich ausgestatteten Anstalt ist durch
die aufgezählte Menge der Untersuchungsobjecte ebenso bewiesen, wie
durch das Bedürfniss, an einheitlichem Material von Kranken und Ge¬
sunden, unter gleich gearteten Verhältnissen und mit gleich werthigem
Nährmaterial und gleichgeordneter Methode Prüfungen vorzunehmen.
Die Urmaterialien und die Bearbeitung der Nahrung sind an verschie¬
denen Orten und aus verschiedenen Stellen so verschieden, die Ergeb¬
nisse an verschiedenen Anstalten, sogar in einer gleich grossen Stadt,
durch äussere Umstände u. s. w. so abweichend, dass nur die ver¬
langte Anstalt die nüthigen langgedehnten und umfassenden systema¬
tischen Beobachtungen zu machen und prompte Ergebnisse in dieser
wirklichen Lebensfrage zu liefern im Stande ist.
Es ist Pflicht des Staates und der Wissenschaft, eine tadellose
und auch nicht zu theuere Lieferung von Nahrungsmitteln für Gesunde
und Kranke vorzuschreiben und ins Werk zu setzen. Dies gilt von
der Production guter Kuhmilch wie auch von den feinsten technischen
Fabricaten der Ernährungsindustrie.
Sonach haben Wissenschaft, Staat und die Humanität, der das
Wohl des Einzelnen am Herzen liegt, gleiches Interesse an der zu
begründenden Anstalt. Jene hat als Einrichtung klinische Stationen,
verschwenderisch mit llilfs- und Pflegepersonal und allen Isolirvor-
richtungen ausgcstattot, eigene poliklinische Abtheilung, physiologisch¬
chemische und bacteriologische Laboratorien, eigene Milchwirtschaft
zu verlangen. Zu den ständigen Leitern und Hilfsarbeitern muss es
jedem befähigten wissenschaftlichen Forscher gestattet sein, behufs
Mitbeobachtung oder nach Möglichkeit eigener Arbeit sich zu gesellen;
auch selbst geschäftlichen Interessenten, eventuell gegen Platzgebühr.
Diese Vorschläge werden den Fachgenossen zur Beurteilung
unterbreitet und je nachdem Zustimmung oder Abstimmung überwiegt,
wird der Plan fallen, oder Staaten, Städten und menschenfreundlichen
Gemüthern zur Ausführung nahegebracht werden.
Discussion zum Vortrage Biedert’s:
1. Ranke befürwortet, wie alle folgenden Redner, die Gründung
einer solchen von Biedert vorgeschlagenen Versuchsanstalt, nur be¬
zweifelt derselbe, dass augenblicklich der günstige Zeitpunkt für die
Erlangung der dazu nöthigen Geldmittel da sei.
2. S t o o s s (Bern) greift unter den vielen von Biedert namhaft
gemachten Divergenzen eine heraus, den Einfluss der steril isirten Milch
auf das Entstehen gewisser Krankheiten, wie Anämie und Barlow-
scher Krankheit; Stooss hat nur zwei Fälle von der letzten Krank¬
heit gesehen und zwar nach G ä r t n e r’scher Fettmilch, sonst nie,
trotzdem alle Kinder mit sterilisirter Milch ernährt wurden. Vielleicht
werden die Nachtheile der sterilisirten Milch in dieser Beziehung über¬
schätzt. Vielleicht sollte mehr Gewicht auf die Kuhfütterungsfrage
gelegt werden.
3. Cam er er (Urach) hält die Gründung von einer Centrale
z. B. in Berlin, an der ein tüchtiger Chemiker, Bacteriologe, Pathologe
und Kinderarzt gemeinsam wirken, vorläufig für aussichtsvoller als die
Errichtung grosser Anstalten.
4. Schlossmann (Dresden): Da z. B. im Königreich Sachsen
die Kuhmilchfrage augenblicklich sehr im Vordergrund stehe, an der
naturgemäss die gesammte Landwirthschaft grosses Interesse habe, so
wäre es immerhin nicht ganz ausgeschlossen, weite Kreise für die
B i e d e r t’schen Ideen und Pläne zu gewinnen lind sie auch zur Ver¬
wirklichung zu bringen.
5. Mein er t (Dresden) hält die Gründung von Versuchs¬
anstalten für dringend nothwendig und auch die Verwirklichung des
Planes für aussichtsvoll, wenn man handelte. Mein er t schlägt die
Bildung einer Commission, die sich an die medicinischen Körperschaften
und nach Sammlung von genügend Unterschriften an die massgebenden
Behörden wendet, vor.
6. Esche rieh (Graz) : Man brauche nur an das Staats¬
institut zur Controle des B e h r i n g’schen Heilserums zu denken, um
einzusehen, dass derartige Anstalten zu erreichen möglich sind.
Esch er ich hat einmal trotz vieler Versuche mit G ä r t n e r’scher
Fettmilch darnach eine B a r 1 o w’sche ' Krankheit auftreten sehen,
und meint nicht, dass die zwei von Stooss beobachteten Fälle dieser
Krankheit mit dieser Ernährung in Zusammenhang gebracht werden
können.
7. Biedert (Schlusswort) hält das von Mein er t vorge¬
schlagene Vorgehen für das Fördenidste.
III. Jules Co m b y (Paris) : Lithiase renale chez les
nourrissona.
Les calculs du rein sont tres frequents chez les enfants en bas
äge. Sans parier de ces raies jaunes des pyramides (infarctus uriques)
qui se montrent ä la coupe des reins de beaucoup de nouveau-nes,
on trouve chez les enfants de quelques mois, mal nourris, athrepsies,
de veritables pierres dans les calices, bassinets, ureteres. Com by a
observe 48 de ces cas ä l’höpital des enfants malades, dans l’espace
de deux aus. La lithiase renale est done ties commune, quand on veut
bien la chercher dans les autopsies d’enfants morts ä l’höpital. Cette
lithiase coincide le plus souvent avec la deshydratation, l’amaigrissement,
l’atrophie. Elle ne se voit pas chez l’enfant bien nurri, allaite par
sa mere ou par uno bonne nourrice. Elle n’est pas hereiitaire, mais
acquise; eile peut done etre evitee. Elle resulte de la concentration
des urines par les pertes abor.dantes et non reparees de l’enfant. L’acide
urique se precipite sous forme d’urate de soude ou de ammoniaque et
on trouve des graniers arrondis ou irreguliers, durs capables parfois
d’obstruer les ureteres, d’amener l’hydronephrose, de determiner la
colique nephretique. Plus tard les calculs peuvent se fixer dans la
vessie, augmenter de volume par des apports nouveaux, et eutrainer
tons les desordres du calcul vesical.
La Symptomatologie propre ä la lithiase renale est obscure ä
cause du jeune äge des enfants, qui ne savent rien dire et ne peuvent
renseigner sur leurs souffrances. On ne peut que soup^onner le mal
pendant la vie et la lithiase renale est bien souvent une trouvaille
d’autopsie. Le pronostic est reserve. Si les enfants survivent, la lithiase
peut persister et donner plus tard les accidents; les calculs du rein,
de la vessie constates ä l’äge adulte ne remontent-ils pas h la pre¬
miere enfanc? On peut l’admettre dans plusieurs cas.
Le prophylaxie et le traitement consistent a bien nouirir les
enfants en bas äge, ä leur assurer la quantite de lait qui est neeessaire
au bon equilibre do leur nutrition. Ils doivent boire beaucoup afin do
laver leurs tissus, de diluer leurs urines, etc. L’allaitement naturel
me parait le plus sür preservatif en meine temps que le meilleur trai¬
tement hygienique.
Discussion: 1. Ranke (München) ist der Meinung, dass
die Steinbildung bei jungen Kindern mit dem Harnsäureinfarct des
Neugeborenen Zusammenhänge.
2. Heubner’s (Berlin) Fragen, wie alt die diesbezüglichen
Kinder und welchem Material sie entstammen, erwidert C o m b y,
dass die Kinder 2, 3, 6 und 0 Monate waren und der Poliklinik an¬
gehörten.
(Fortsetzung folgt.)
Verantwortlicher Red&ctenr: Ludwig Werner.
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unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, O. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner,
M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann,
R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt, A. v. Vogl,
J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gussenbauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Recligirt von Dr. Alexander Fraenkel.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/1, Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang. Wien, 5. Juli 1900. Nr. 27.
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Die „Wiener klinische
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tion sind zu richten an
Dr. Alexander Fraenkel,
IX, 3, Maximilianplatz,
Günthergasse 1. Bestellun¬
gen und Geldsendungen an
die Verlagshandlung.
Redaction :
Telephon Nr. 3373.
X INT JBC _A_ T :
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel: 1. Ueber die Gasteiner Thermen. Von Prof. E. L u d- |
w i g nnd Dr. Th. Panzer.
2. Aus der neurologischen Klinik in Wien (Vorstand Prof. Freiherr
v. Krafft-Ebin g). Basedow’sche Krankheit mit Myxödemsyni-
ptomen. Von Docent Dr. Josef A, Hirschl, klinischem Assistenten, j
3. Ueber Kolikschmerzen. Von Dr.med. Robert Lucke in Altenburg. |
II. Referate: I. Ueber die Indicationen der Entfettungseuren. II. Die 1 ett-
sucht. Von Karl v. Noorden. Referent Ortn er. — Anleitung
zur Zahn- und Mundpflege. Von C. Böse. Referent W. Roux.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften nnd Congressberichte.
Ueber die Gasteiner Thermen.
Von Prof. E. Ludwig und Dr. Th. Panzer.
Der Curort Bad Gastein mit seinen weltberühmten
Thermen liegt im Herzogthume Salzburg am Nordabhange
des Hauptzuges der norischen Alpen unter 47° 6' 54" nörd¬
licher Breite und 30°48'8" östlicher Länge (von Ferro)
1023 m über der Meeresfläche. Man erreicht denselben von
der Station Lend der k. k. österreichischen Staatsbahnen
nach ungefähr vierstündiger Wagenfahrt, während welcher
sich dem Reisenden in der grossartigen, wechselnden Scenerie
reicher Naturgenuss darbietet, der am Reiseziele, nämlich in
dem Curorte selbst, durch den von der Gasteiner Ache
gebildeten 204 m hohen Wasserfall aufs Höchste gesteigert wird.
Die Geschichte von Bad Gastein ist wiederholt bearbeitet
worden und es liegen mehrere diesbezügliche Publicationen
vor, so von Koch- Sternfeld, Much er, Vierthaler.
Kurze Darstellungen der Geschichte und Entwicklung des
Curortes findet man in dem Buche von Reissacher1), so¬
wie in’den Badeschriften von Dr. C. Gager2), Dr. E. Sclii-
d e r 3), Dr. A. Was sing4) und Dr. L. Wiek5 6). Die Bade¬
schrift von Dr. v. Hönigsberg0) enthält eine Zusammen¬
stellung der Literatur über Bad Gastein.
Das Gasteiner Thermal wasser hat schon vor sehr langer
Zeit das Interesse der Chemiker auf sich gelenkt und sich
’) Der Curort Wildbad Gastein. Mit besonderer Rücksicht auf die
Thermalquellen. Von Karl Reissacher, k. k. Bergverwalter. Salzburg
1865, Mayrische Buchhandlung.
2) Bad Gastein. Nach den neuesten Hilfsquellen bearbeitet von
Dr. Karl Gager. Berlin 1897, Verlag von A. Hirscliwald.
3) Gastein. Für Curgäste und Touristen. Zehnte Auflage. Von
Dr. Eduard S c h i d e r. Salzburg 1899, Mayrische Buch- und Kunst¬
handlung.
4) Der Curort Wildbad Gastein. Von Dr. Ant. W a s s i n g. Zweite
Auflage. Wien und Leipzig 1899, Wilhelm Braumüller.
5) Die warmen Quellen Gasteins. Von Dr. Ludwig Wiek. Zweite
Auflage. Wien und Leipzig 1897, Wilhelm Braumüller.
6) Wildhad Gastein im Jahre 1856. Von Dr. Benedikt Edlen, v.
Hönigsberg. Besonders abgedruckt aus der Zeitschrift der k. k. Ge¬
sellschaft der Aerzte. Wien 1857, Karl Gerold’s Sohn.
dasselbe bis auf den heutigen Tag erhalten. So haben schon
Theophrastus Paracelsus, Leonhard T h u r n ei s s e r
und Taber naemontanus über dasselbe geschrieben. Das
Badebüchlein 7) des berühmten Iatrochemikers enthält dies¬
bezüglich Folgendes :
Von dem Bad Castein.
»Das sibendt Capitel.
Das Bad in Castein im Saltzburger Fürstentlmmb —
nimpt seyn Ursprung auß dem kalch der Margazichen —
Antimony und deß selbigen salniters — laufft auß dem sechsten
theil der Globel on ander einfallende wasser — seyn gang
ist durch die matrices der wilden roten Granate auch der
göldischen kisigen Granaten mit vil anhangendem ärtz deß
silbers und unzeytigen golds — behalt seyn tilgend und
krafft biß an den tag — auch den grad der hitz am letsten
wie am ersten — hat auch ein zugaeg unnd sterckung auß
dem kupfferischen vitriol — unnd zeucht auß den mineralibus
den arsenic und das auripiginent — schumpt auch von jm
ein schwebel fix und unfix.
Seyn tugend vergleichen sich den tugenden Pfäfers —
aber mit sorglicherem grad — auß ursach — seyn art ist
das alle die Geschwür im leib sich in diesem bad eröffnen
unnd brechen mit gewalt — darumb solchen kranclcen leuten
so an geschwäre brestbafftig weren das bad Castein nicht
tüglich ist — es hat ein krafft an jm — das es im dritten
jar genügsam ist zuheilen die offnen Schäden — mit der
correction wie nachuolget. Dergleichen im vierdten jar ist es
gnügsam zuuertreiben die contractur — mit sampt seiner
correction. Solche art nimpts auß dem wachsen des zufallenden
salniters — der in das fünfft jahr seyn augmentum gibt —
Der arsenic im vierdten jar — Auripigmentum im dritten jar.
7) Baderbücblin. Sechs köstliche Tractat — armen und reychen
nuczlich und notwendig' — - von wasserbädern. Durch den hocherfarnen
Herren T h e o p h r a s t u m Paracels um. Mit Fleyß und miie \
Doctor Adams von Boden stein — zu einem guten neuwen j#ir
publicirt. Gedruckt zu Mülhausen — im oberen Elsaß — durch 1 eter
Schmid. 1562.
618
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 27
Auß diesen dreyen het es die beraelt tilgend und krafft. Die
art deß zerbrechens der gesell wären nimpt es auß den
Margazichen — welcher gleich ist in der wirckung der
selbigen — weiter von seinen tagenden — • vergleicht es sich
den andren bederen unnd warmem wasser — sonderlich im
grien zuuertreiben — mit sampt der zugehörenden correction.«
Im XIX. Jahrhunderte ist, soweit man dies aus der
Literatur ersehen kann, das Gasteiner Thermalwasser viermal
analysirt worden, und zwar von Hiihnefeld (1828), von
Holtmann (1836), von Wolf (1845) und von F. Ullik
(1863). Auf die Ergebnisse dieser Analysen werden wir noch
später zurückkommen.
Dermalen tritt das Thermalwasser in Bad Gastein an
18 verschiedenen Stellen zu Tage, das heisst es bestehen da¬
selbst 18 Thermalquellen, von denen 15 am rechten Ufer,
drei am linken Ufer der Gasteiner Ache liegen.
Diese 18 Quellen liefern, nach Reis sache Fs Messun¬
gen, zusammen 132.824 Cubikfuss = 41.946/// Thermal¬
wasser in 24 Stunden. Ungefähr zwei Drittel dieser Wasser¬
menge liefert die Haupt quelle, auch Elisabeth-Quelle
genannt, welche mittelst eines 47 m langen Stollens aufge¬
schlossen wurde, aus dem das Thermalwasser in einer Leitung
aus Thonröhren den Badehäusern zufliesst, während ein Theil
desselben in Holzröhren nach Hof Gastein geleitet wird. Das
Thermal wasser hat nicht in allen 18 Quellen dieselbe Tem¬
peratur, es bestehen vielmehr bedeutende Temperatur¬
differenzen. Die niederste Quellentemperatur beträgt 19 5° R.
(24 4° C.), die höchste 39 5° R. (49‘4° C.); die Temperatur der
Elisabeth-Quelle beträgt 491° C. 8).
Ueber die geologischen Verhältnisse von Bad Gastein
hat uns Herr Prof. Dr. Fr. Be r wertli die folgenden werth¬
vollen Mittheilungen zukommen lassen, für welche wir ihm
unseren besten Dank sagen:
»Die weltbekannten Gasteiner Thermen gehören zu den
merkwürdigsten geologischen Erscheinungen in den Ostalpen.
Im ganzen weiten Gebiete derselben treten nirgend anderswo
heisse oder warme Quellen unter den gleichen örtlichen Ver¬
hältnissen und zugleich von derselben Beschaffenheit zu Tage,
wie die Gasteiner Quellen. Die warmen Quellen von Bormio,
die warme Brennerbadquelle und die warme Kaiserbrunnquelle
im Tuxer-Thal lassen sich mit den warmen Quellen von Gastein
nicht unmittelbar parallelisiren. Angeblich soll auch im
Rauriser-Thal und im Grossartthal je eine warme Quelle vor¬
handen sein, über deren Auftreten, wie es scheint, bisher
keine verlässlichen Nachrichten bekannt geworden sind. Die
Quellen von Bormio haben ihren Ursprung im Kalkgebirge,
die Tuxer Quelle entspringt in Kalk, der auf Gneiss lagert
und die Brennerbadquelle fliesst aus phyllitischen Gesteins¬
lagen. Die Thermen von Gastein entströmen dagegen dem
Gneisse der Centralkette und sind nebst ihrer sonstigen Be¬
schaffenheit durch die Lage des Ursprungsortes auch in geolo¬
gischer Beziehung das alleinige Vorkommniss dieser Art in
den Ostalpen.
Eine geologische Darlegung des Quellenterrains in Bad
Gastein erheischt eine kurze Bekanntmachung mit der weiteren
Gebirgsumgebung. Der auf einen verhältnissmässig kleinen
Flächenraum beschränkte Ursprungsort der Thermen in Bad
Gastein liegt an der nördlichen Abdachung des Gasteiner
Gneissgebirges, das in den beiden Gipfeln des Rathhausberges,
dem Kreuz- und dem Rathhauskogel seine Culminationspunkte
besitzt. Das Gasteiner Gneissgebirge fügt sich als ein Glied
in die Centralmasse des östlichsten Flügels der Hohen Tauern
ein, der seine natürliche geologische Abgrenzung im Westen
in der Einsenkung westlich des Sonnblick im Hochthor und
im Osten bei Gmünd im Lieserthal besitzt. Dieser Abschnitt
der Hohen Tauern, dessen Eckpfeiler der Hohe Sonnblick
und die Hochalmspitze bilden, ist ein geologisch für sich ab¬
geschlossener einheitlicher Theil der Hohen Tauernkette, der
in seiner Mittellage oder in seinem Kerne aus Gneiss besteht
und in seiner Gesammtheit nach allen Himmelsrichtungen von
glimmerigen und kalkigen Schiefern der sogenannten »Schiefer-
8) Nach Reissache r’s Messungen.
hülle« mantelförmig umlagert ist. In ihrer architektonischen
Gliederung zerfällt die genannte Tauerngneissmasse in drei von
einander an der Oberfläche getrennte Gneisskörper. Die
Trennung wird von zwei Zügen krystalliner Schiefer herbei¬
geführt; der eine geht aus dem Seebachthal über das Ebeneck
und die Grubenkaarscharte gegen Nordosten und der zweite
Nordwest streichende Schieferzug, aus phyllitischen Glimmer¬
und Kalkschiefern bestehend, zieht aus dem unteren Möllthale
herauf, setzt die Lonza, die Goiselspitze und das Schareck
zusammen, streicht über die Riffelscharte in die Rauris und
bildet mit seinen tieferen Gliedern den Fuss des Sonnblick
und des Hochnarr. Der erstere Schieferzug trennt die Hochalm¬
masse von der Rathhaus- Gamskaarlmasse und der zweite
Schieferzug scheidet die letztere mittlere Gneissmasse von der
Sonnblickgneissmasse. Von Süden herüber legt sich auch über
die Woisgenköpfe ein Schieferlappen in den Rathhausberg,
über dessen Vorhandensein in der Tiefe des Berges nur die
bevorstehenden Tunnelbohrungen Aufschluss geben werden.
Wird auf der Nordsüd-Linie des Gasteiner Thaies eine Querung
des Centralkammes von Norden gegen Süden oder auch um¬
gekehrt vorgenommen, so überschreitet man auf beiden Seiten
zuerst die Gesteine der Schieferhülle und gelangt dann in das
Mittelglied des Gebirges, den Gneiss. Die Gesteinsbänke der
phyllitischen Schieferhülle sind im Süden des Gebirgszuges
bei Ober-Vellach im Möllthal und im Norden des Schiefer¬
zuges in der Gasteiner Klamm steil aufgerichtet, auf der Nord¬
seite gegen Norden und im Süden gegen Süden einfallend.
Der nördliche Schieferflügel, im Allgemeinen ein Streichen
in Nordwesten einhaltend, reicht von Lend bis nahe unterhalb
Bad Gastein und ist somit die ganze Hof-Gasteiner Thalstufe
quer in dieses Schichtensystem eingeschnitten. Von Norden nach
Süden gehend, trifft man am untersten Gasteiner Wasserfall
bei Lend triadische Rauchwacke, in der Klamm dunkle
thonige, wenig krystalline und holzscheitartig brechende Kalk-
phyllite. Darauf folgen von Dorf Gastein aufwärts bis nach
Remsach plattige Kalkglimmerschiefer in mächtiger Entwick¬
lung mit concordanten Einlagen von sericitischen und Grün¬
schiefern (Felsnase von Hof-Gastein, Pyrkershöhe). Am Ingelsberg
bei Hof- Gastein steckt auch ein kleiner Stock von dunklem
Serpentin zwischen Grünschiefer und Kalkglimmerschiefer.
Je näher man zum Gneisskerne des Gebirges herangeht,
iindet man eine allmälig eintretende flachere Lagerung der
Schieferschichten, deren südlicher Flügel auf den aus Kalk¬
glimmerschiefern bestehenden Gipfeln des Centralkammes eine
Neigung von circa 25° gegen Süden einhalten, während der
nördliche Flügel unterhalb Bad Gastein sich mit einer Neigung
von 15° gegen Norden concordant an den Gneiss der Rath¬
hausberger Masse auflagert. Aus diesen Lagerungsverhältnissen
der Schieferhülle zum Gneiss ist der domtörmige Aufbau des
Ostflügels der Hohen Tauern untrüglich zu erkennen, von
dessen Gewölbe heute nur die beiden Nord- und Südschenkel
erhalten sind. Prüft man weiterhin die mineralogische Zu¬
sammensetzung und Textur des Gneisses, so erkennt man in
demselben einen Abkömmling granitischer Massen oder einen
Granitgneiss. Durch den petrographischen Befund und die
Lagerungsverhältnisse zum Schiefer ist der Granit als eine
echte Intrus i vmasse und insbesondere als Batholith
charakterisirt, der von unten nach oben Keile in die Schichten
der Schieferhülle getrieben hat. Contactzonen und verästelte
Injectionen von Gneiss in Schiefer wurden bisher nicht auf¬
gefunden und scheinen hier vollständig zu fehlen. Die intru¬
sive Natur des Gneisses gegenüber dem Schiefer ist jedoch in
den Grenzzonen durch Einlagerung von Gneissbänken zwischen
die Schiefer gut gekennzeichnet. Diese Erscheinung lässt sich
gerade in der Nähe von Bad Gastein oberhalb des Cafb
Gamskaar (ehemaliger Lutherhof) an der Bergnase, die vom
wunderbaren Aussichtsgipfel des Gamskaar nach Kötschach
herunterzieht, in trefflicher Weise beobachten. Verlässt man
an dieser Stelle das Hauptmassiv des Gneisses, so überschreitet
man viermal Lagerbänke von Gneiss zwischen weissem Marmor
und Schiefern. Eine Gneissbank in Kalkglimmerschiefer trifft
man auch hoch oben auf der Felskante, die vom Gipfel des
Schareck in das Nassfeld abfällt.
Nr. 27
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
619
Wir wollen nun kurz das Gneissmassiv etwas genauer
betrachten, aus dem die Heilbrunnen bekanntermassen seit un¬
gezählten Jahren in gleichbleibender unerschöpflicher Fülle
fliessen.
Das Gebiet des Rathhausberger Gneissmassivs lässt sich
auf die zugänglichste Weise umgrenzen, wenn wir statt auf
den Höhen in den Thälern wandern und dabei erfahren, dass
das Angerthal, das Kötschachthal, das Thal oberhalb Bad
Gastein bis in das Nassfeld, das Anlaufthal, das Weissenbach-
thal, das Nassfeld und auch der unterste Theil des Siglitz-
thales in das Massiv des Rathhausberger Gneisses eingeschnitten
sind. An der mineralogischen Zusammensetzung der Gasteiner
Gneisse betheiligen sich folgende Gemengtheile geordnet in
eine Reihe nach absteigendem Mengenverhältnisse: Feldspathe
(Mikroklin, Mikroklinperthit, Albit), Quarz, Muscovit (Sericit),
Biotit, Epidot (Klinozoisit), Chlorit, Calcit, Granat, Titanit,
Rutil auch Orthit. Alle genannten Minerale sind nicht in allen
Gneissen vorhanden. Als wesentliche Gemengtheile in allen
Abarten erscheinen die genannten Feldspathe, Quarz, Muscovit,
Biotit, Epidot, in der Regel auch Chlorit.
Aus verschiedenen Eruptivgebieten ist uns bekannt, dass
ein geologisch einheitlicher Gesteinskörper in seinen einzelnen
Theilen chemisch verschieden zusammengesetzt und petro-
graphisch verschiedenartig ausgebildet sein kann. Auch das
Gasteiner Gneissmassiv lässt eine chemische Differenzirung des
ursprünglichen Magmas und eine verschiedenartige petro-
graphische Ausbildung erkenneu. Die Kerntheile der Gneiss-
masse haben eine mehr basische Natur und entsprechen einem
Granodiorit (körniges Gestein der Asten), während die Rand-
theile einen ausgesprochen sauren Charakter tragen und
einem echten Granit entsprechen. Ueber die petrographische
Ausbildung ist zu bemerken, dass der Kern eines eruptiven
Gesteinskörpers von den gebirgsbildenden Kräften schwächer
beeinflusst wird, als die Randzonen und dementsprechend sich
im Allgemeinen, wenn sonst keine Störungen in der Gesteins¬
lagerung vorliegen, von Aussen nach Innen vorschreitend ver¬
schiedene Ausbildungsweisen ergeben werden. Die Asten oder
das Nassfelderthal, der schlauchartige Durchbruch der Gasteiner
Ache zwischen Nassfeld und Böckstein ist der tiefste Einschnitt
in die Kernmasse des Gneisses. Hier liegen am Wege zwischen
dem Kesselfall und Bärenfall hellfarbige Gesteinsblöcke von
granitisch-körniger Ausbildung, auf deren lichtem Grunde sich
dunkle Glimmeraggregate abheben, die meist ganz deutliche,
scharf begrenzte Umrisse erkennen lassen. Es sind die schon
von Tschermak erkannten Pseudomorphosen von Biotit
nach Hornblende. Dasselbe schöne Gestein habe ich auch im
obersten Hierkaar angetroffen. In höheren Niveaux trifft man
körnigflaserige und sehr stark grobflaserige Gneisse mit Aus¬
scheidungen von grossen Feldspathen (Augengneisse) an. In
dieser Ausbildungsform macht sich mehr als in anderen Arten
eine deutliche Kataklase bemerkbar, wofür die Gneisse des
Kötschacbthales und des Graukogels gute Beispiele liefern. In
den obersten Zonen stellt sich schieferige Textur ein und der
Gneiss wird dem Glimmerschiefer sehr ähnlich. Solche
schieferige Varietäten erscheinen in typischer Ausbildung im
Angerthaie und bei Remsach.
Eine Veränderung im Typus des normalen Gesteines
wird auch durch den Wechsel in der Mineralführung herbei¬
geführt. Es geschieht dies im Gasteiner Gneissgebiete insbe¬
sondere durch das Zurücktreten des Biotits, wodurch sehr helle
Gneisse zu Stande kommen, in denen von den Glimmern der
Muscovit (Sericit) vorherrscht. Solche zonenweise auftretende
helle Gneisse bezeichnen wir als aplitische Gneisse. Wir
treffen solche in typischer Entwicklung am Felsriegel in Bad
Gastein, am Feuerseng und im unteren Anlaufthal. Echte
Aplite als Linsen und Adern im Gneiss sind vielfach vorhanden,
zu denen z. B. das zuckerkörnig ausgebildete weisse Gestein
gehört, das man am Fuss- und Fahrwege zu den Werks¬
gebäuden am Rathhausberge anstehend findet. Ein reiches
Aplitgeäder im Gneiss ist auch unmittelbar oberhalb dem
Kesselfall im Flussbette vorzüglich zu beobachten.
Was nun die Schichtenstellung und die Structur dieses
mächtigen Gneissgebirges anbelangt, so sei hier mitgetheilt,
dass in der nächsten Umgebung Bad Gasteins die Gneiss-
schichten ein Streichen von Ostwest einhalten und nach
Norden einfallen. Gegen Westen wendet sich das Gesteins¬
streichen allmälig in die Nordost- bis Süd west- Richtung und
erreicht in der Bockartgegend ein Streichen in Nordsüd mit
Einfallen in Westen. In den hohen Felswänden, die das Nass¬
feld nach Süden abgrenzen, besteht der Sockel aus Gneiss und
hat ein Streichen von Südost bis Nordwest, Fallen Südwest.
In den mittleren Partien des Gneisskörpers compliciren sich
die Lagerverhältnisse und können hier nicht erörtert werden ;
es sei nur hervorgehoben, dass ein nördliches Zusitzen des
Schmelzwassers zu dem Thermengebiete auf Schichtflächen aus
den höchsten Gebirgslagen nicht angenommen werden kann.
Ueber die Structur des Gneisses ist anzuführen, dass er
parallel der Schichtung mächtige Bänke bildet, die durch je
zwei auf der Bankung senkrecht stehende Flächenpaare in
parallelopipedische Felsstücke oder Cuboide zerlegt werden.
Diese regelmässige Zerklüftung ist auf dem Steinmeere, ober¬
halb der Reedalpe in grossartiger Weise blossgelegt. Die
Richtung dieser Klüfte ändert sich natürlich mit dem Wechsel
der Streichrichtung. Bei Bad Gastein haben dieselben einen
Verlauf von Ostwest und Nordsüd. Mit der Thalbildung steht
diese regelmässige Zerklüftung im innigen Zusammenhänge.
Der Ursprungsort der Gasteiner Thermen liegt, vom
Nordrande der Gneismasse gemessen, ungefähr 1 hn tief im
Gneisskörper. Von den heute bekannten 18 Quellen entspringen
16 auf der rechten und 2 auf der linken Seite des Bad
Gasteiner Wasserfalles am sogenannten Badberge, einem Fels¬
riegel, welcher die unterste Hof- Gasteiner Thalstufe von der
Böcksteiner Tlialebnung trennt. In früherer Zeit war die
Doctorquelle als die einzige bekannt, die sichtbar aus dem
festen Gestein entspringt. Heute sind sieben Quellen im festen
Gestein bekannt, wovon fünf durch Stollenbau gefasst sind,
alle übrigen finden ihren Ausgang in angeschwemmtem Schutt.
Ich habe die Quellen im Franz Josef-Stollen, Rudolf Stollen,
Elisabeth-Stollen, Chorinski-Stollen, die offen austretende
Fledermaus-Quelle und jene unter dem Speisesaale des Hotel
Straubinger frei entspringende Quelle besichtigt.
Im 60 m tiefen Franz Josef-Stollen sind durch Reiss-
acher zwei Quellen freigelegt worden, deren Wasser um
einige Temperaturgrade von einander verschieden sind. Die
Spalte der Quelle mit Wasser höherer Temperatur streicht
Ostwest mit geringer Abweichung gegen Südnord und ist fünf
Schritte von der Zwillingsspalte entfernt. Die Spalte bildet
mit dem Streichen des festen Gesteins und dem Spalt der
Zwillingsquelle einen sehr spitzen Winkel. Die Spalten dieser
beiden Quellen setzen in aplitischem Gneiss mit breiten, grün¬
lich schimmernden Flasern von schuppigem Sericit auf. Er
besteht aus Mikroklin, Albit, Quarz, Muscovit (Sericit), wenig
Chlorit, Epidotkörnchen, Rutilfasern in Chlorit und führt kleine
Würfelchen und Körnchen von Schwefelkies.
Die Quellspalte im Rudolf-Stollen hat ein Streichen von
Ostwest mit geringer Abweichung gegen Südnord, in
ihrem Verlauf übereinstimmend mit der weniger heisses Wasser
liefernden Quellspalte des Franz Josef-Stollens. Eine von der
Decke der Quellhöhle genommene Gesteinsprobe ist ein körnig-
flasiger, durch Biotit dunkel gefleckter, Kataklase zeigender
Gneiss, bestehend aus Mikroklinperthit (die grossen Individuen),
Albit, Quarz, Chloritpseudomorphosen nach Biotit, wenig
Muscovit, Epidot (auch Orthit), Titanit und Schwefelkies¬
körnchen. Die Probe gleicht dem Gneiss des Rathhausberges
und ich halte es für möglich, dass sie nicht dem anstehenden
Fels angehört.
Die Quellen im Elisabeth- Stollen und Chorinski-Stollen
sind vollständig mit Mauerwerk verkleidet und für eine
genauere Beobachtung der Quellenspalten unzugänglich.
Die unmittelbar unter dem Speisesaal des Hotel Strau¬
binger entspringende und ungefasste Quelle tritt aus einer
Felsspalte aus, die eine Streichrichtung von Siidostost nach
Nordnordwest hat und im selben aplitischen Gneiss aufsitzt,
wie die Quellen im Franz Josef-Stollen. Stellenweise sind die
Wände der Spalte mit einer dünnen Kruste von Kalksinter
überzogen.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 27
P.20
Die Fledermausquelle rieselt aus einem mannshohen
offenen Höhlenraum hervor, dessen Ausweitung seinerzeit
künstlich hergestellt wurde. Im Streichen des Höhlenganges
begleitet die Spalte ein an der Decke auftretender, 1 m mäch¬
tiger weisser Gang von Quarz mit einer Streichrichtung von
Nordnordost nach Südsüdwest. Das Nebengestein ist ebenfalls
kieselhaltiger, aplitischer Gneiss.
Die sachkundigsten Beobachtungen im Quellenterrain
hat Reissacher angestellt. Seine Aufzeichnungen stimmen
mit den obigen nahe überein. Zieht man auch dessen Auf¬
zeichnungen über die Grabenbäckerquelle und die Wasserfall¬
quelle zum Vergleiche heran und stellt man alle an den Spalt¬
öffnungen bestimmten Streichrichtungen zusammen, so ergibt
sich die Thatsache, dass die Quellspalten zwei Spaltensystemen
angehören, von denen das eine an der Ostwestlinie und das
andere an der Nordsüdlinie sich zusammenschaart. Beide Spal¬
tensysteme gehen einander ins Kreuz. Diese beiden Richtungen
fallen mit den Kluftflächen zusammen, nach denen die Gneiss-
bänke sich in parallelopipedische Stücke absondern. Man
könnte also diese Klüfte als die wahrscheinlichen Rinnen be¬
zeichnen, auf denen das Wasser den Quellen zufliesst. Es ist
aber gewiss nicht wahr, dass das Thermalwasser von weit her
auf diesen Kluftrichtungen andringt. Die Bankung und die
erwähnte regelmässige Zerklüftung des Gneisses ist mehr eine
Function an der Oberfläche des Gesteins und kann nicht in
ungemessene Tiefen hinabgreifen. Cotta hat die Quellen von
Gastein ebenfalls besucht und die Ansicht ausgesprochen, dass
das Hervortreten der heissen Quellen in Bad Gastein nach
Art der communicirenden Röhren zu erklären sei, wobei er
an das Zusitzen der Gewässer aus den höher gelegenen Gebirgs-
theilen dachte. Erst vor kurzer Zeit hat auch Geheimrath
v. Gümbel gelegentlich des Studiums der Quellenverhält¬
nisse von Bormio die Ansicht ausgesprochen, »es sei auch für
die Thermen von Gastein wahrscheinlich, dass einfach
ein Niedersinken von Schmelzwasser auf den benachbarten
höchsten Gebirgstheilen der Tauernkette in das Innere des
Gebirgsmassivs bis auf das Niveau von Gastein genügt, um
dem Wasser den hohen Wärmegrad zu ertheilen, mit dem es
zu Gastein gleichfalls ohne irgend beträchtlichen Druck wahr¬
nehmen zu lassen, zu Tage tritt.« Ich habe schon oben er¬
wähnt, dass die Tektonik des Rathhausberger Gneissmassivs
für diese Anschauung über die Entstehung der Quellen un¬
günstig ist.
Reissacher hält für das Andringen der Quellen die
Trennungsflächen des Gneisses für massgebend. Es muss nun
zugegeben werden, dass die Trennungsflächen des Gneisses für
das Andringen des The. mal wassers in der Nähe der Ober¬
fläche entschieden von Bedeutung ist. Bei der Vertheilung von
18 Quellen auf einem Flächenraum von nicht mehr als 200 m2
ist es wahrscheinlich, dass der Wasserzufluss auf eine einzige
Urquelle zurückzuführen ist, die auf einem Risse in der Tiefe
des Gneisses aufsteigt und sich erst in der Nähe der Gneiss-
oberfläehe nach den Kluftflächen des Gneisses verzweigt.
Solche Erscheinungen kann ein Erdbeben hervorrufen. Ein
durch ein Erdbeben in Bewegung gebrachter Gneisskörper
wird sich an der Oberfläche unbedingt nach seinen Kluftflächen
theilen und parallele Spalten werfen. Ein Auseinandersitzen
der Felsen nach Kluftflächen kann man in schichtigen Hoch¬
gebirgen vielerorts sehen. Man dürfte der Wahrheit am
nächsten kommen, wenn man die Entstehung der Gasteiner
Quellen mit einem tektonischen Vorgänge, der sich an der
Nordgrenze des Gneissgebirges abgespielt hat, in Verbindung
bringt.
Der älteste kenntnisreiche Schilderet' des Gasteiner Ge¬
birges, Rus segge r, äussert eine ähnliche Anschauung und
»setzt die Entstehung der Quellen in die Zeit jener zer¬
störenden Katastrophe, die den Einsturz des Stuhlgebirges und
des Graukogels bewirkte, eine Periode, in die vielleicht auch
die Geburt der benachbarten Mineralquellen in Rauris, Fusch
und Grossari fällt«. Ergänzend fügt er hinzu: »Eine ähnliche
Erscheinung kann sie auch wieder verschwinden machen,
denn Erdbeben sind in der Centralkette keineswegs fremd «
O
*
Die letzte Analyse des Gasteiner Thermalwassers stammt
aus dem Jahre 1863; seither sind also nahezu vier Decennien
verflossen und die Curcommission in Bad Gastein hielt es
daher für angemessen, eine neue Analyse zu veranlassen. Wir
haben dem an uns ergangenen Ansuchen entsprochen und das
Wasser der Hauptquelle (oder Elisabeth-Quelle) aualysirt. Die
erforderlichen Vorarbeiten haben wir am 5. September 1899
an der Quelle vorgenommen und am selben Tage die für die
Analvse nöthige Wassermenge in Flaschen gefüllt, die dann,
gut verkorkt, ins Laboratorium transportirt wurden.
Für die physikalische Untersuchung des Wassers haben
wir dasselbe an der Quelle in Flaschen aus geeignetem Glase
und in einer Flasche aus Platin aufgefangen; diese Flaschen
wurden vollständig mit dem Wasser gefüllt und mit gut
passenden Glasstöpseln, respective mit eingeschliffenem Platin¬
stöpsel dicht verschlossen.
Das frisch geschöpfte Thermalwasser ist vollkommen
klar, farblos, geruchlos und ohne auffallenden Geschmack; es
reagirt neutral. Bei längerer Berührung mit der Luft scheidet
sich ein spärlicher weisser Niederschlag ab, der sich in ver¬
dünnter Salzsäure löst, rasch erfolgt diese Ausscheidung, wenn
das Wasser gekocht wird.
Nach dem Ergebniss der qualitativen Analyse sind in
dem Thermalwasser folgende Bestandtheile gelöst: Kalium,
Cäsium, Rubidium, Natrium, Lithium, Calcium, Strontium,
Magnesium, Eisen, Aluminium, Mangan, Arsen, Chlor, Fluor,
Schwefelsäure, Borsäure, Kieselsäure, Phosphorsäure, Titan¬
säure, Kohlensäure, flüchtige organische Säuren.
Cäsium, Rubidium, Aluminium, Arsen, Titansäure und
die flüchtigen organischen Säuren finden sich in dem Wasser
nur spurenweise vor, sie wurden daher nur qualitativ nach¬
gewiesen, alle übrigen gelösten Bestandtheile wurden quanti¬
tativ bestimmt.
Diese Bestimmungen ergaben folgende Mittelwerthe für
10.000 Gewiehtstheile des Thermalwassers:
Kaliumoxyd .
Natrium oxyd .
Lithiumoxyd .
Calciumoxyd .
Strontiumoxyd .
Magnesiumoxyd .
Eisenoxyd .
Manganoxyduloxyd .
Schwefelsäureanhydrid .
Borsäureanhydrid .
Kieselsäureanhydrid .
Kohlensäureanhydrid .
Phosphorsäureanhydrid .
Chlor .
Fluor .
Organische Substanz .
Cäsium, Rubidium, Aluminium, Arsen, \
Titansäure, flüchtige organische Säuren j
Controlsulfate gefunden . 3'312
Controlsulfate berechnet . 3"291
Specifisches Gewicht . 1 '000367
Quellentemperatur . 491° C.
Wenn man diese Bestandtheile zu Salzen gruppirt,
so erhält man für 10.000 Gewiehtstheile Wasser folgende
Zahlen:
Schwefelsaures Kalium . 0'067
Schwefelsaures Natrium . L859
Borsaures Natrium . 0 059
Phosphorsaures Natrium . 0 002
Chlornatrium . 0 416
Fluornatrium . 0012
Fluorlithium . 0007
Fluorcalcium . 0030
Kohlensaures Calcium . 0'496 9)
0036
1061
0004
0-299
0-006
0007
0020
0 002
1078
0 041
0410
0507
0001
0 252
0025
0 008
Spuren
9) Entspricht 0'804 Calciumbicarbonat.
Nr. 27
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
621
Kohlensaures Strontium . 0009’°)
Kohlensaures Magnesium . 0015 u)
Kohlensaures Eisen . 0 029 12)
Kohlensaures Mangan . 0 004 l3)
Kieselsäureanhydrid . 0410
Organische Substanz . 0‘008
Cäsium, Rubidium, Aluminium, Arsen,} g en
Titansäure, flüchtige organische Säuren ) 1
Kohlensäure, halb gebunden . 0"242
Kohlensäure, frei . 0023
Summe der festen Bestandtheile . . . 3"415.
Wenn man nach dem Vorschläge von C. v. Than die
chemische Zusammensetzung des Gasteiner Thermalwassers in
Aequivalentprocenten der Bestandtheile ausdrückt, so ergibt
sich die folgende Darstellung:
Quelle einerseits in einer Platinflasche, andererseits in Glas¬
flaschen aufgefangen ,0). Der Widerstand dieses Wassers wurde
in einem Gefässchen, dessen Widerstandscapacität P2455 ' 10
betrug, bei verschiedenen Temperaturen ermittelt. Dabei
wurden folgende Werthe für das in der Platinflasche verwahrte
Wasser erhalten:
Temperatur in
Leitvermögen in
Graden Celsius
reciproken Ohms
45-7
0-6851 • IO-7
455
0-6797 • IO-7
44-4
0-6675 • IO-7
40-2
0 6186 • 10 7
230
0-4409 • IO-7
200
0-4152 • 10~7
7 0
0-3006 • 10 -7
5-2
0-2826 • 10- 7
K .
Na .
Li .
y2 Ca
V2Sr
Va Mg
V2 Fe
v2 Mn
y2 & o.j .
V‘2 B4 O7
CO3H .
CI . .
Fl . .
C02
Si 09
1-636
72-849
0-616
22-796
0234
0701
1062
0 106
57 340
1-253
23-476
15148
2783
1-126
14-531.
100
100
*
Die in dem Thermalwasser absorbirten Gase wurden
durch Auskochen unter Anwendung einer G e i s s 1 e r’schen
Quecksilber-Luftpumpe gewonnen. Dabei erhielt man aus 1 1
Wasser 33-84cm31t) eines Gasgemenges, welches bei der Ana¬
lyse folgende Zusammensetzung zeigte:
Kohlensäureanhydrid 10"9%
Sauerstoff .... 15"3%
Stickstoff .... 73”8%
100-0.
Frei aufsteigende Quellengase wurden an keiner Stelle
des Stollens der Elisabeth Quelle beobachtet, dagegen zeigen
sich in der Grabenbäcker Quelle ab und zu Gasblasen, die aus
Gesteinsspalten am Boden des Quellbeckens austreten.
Mit Aufwand von viel Geduld ist es gelungen, im Ver¬
laufe von zwei Tagen ungefähr 20 cm* von diesem Gase auf¬
zusammeln. Die Analyse desselben ergab:
Kohlensäureanhydrid 2-86%
Sauerstoff .... 2 "36%
Stickstoff .... 94-78% 15).
Ein brennbares Gas ist weder in dem durch Auskochen
aus dem Thermalwasser gewonnenen Gasgemische, noch in
dem Quellengas der Grabenbäckerquelle enthalten.
*
Zur Bestimmung des elektrolytischen Leitvermögens
wurde, wie schon früher erwähnt, das Thermalwasser an der
lu) Entspricht 0'013 Strontiumbicavbonat.
n) Entspricht 0’026 Magnesiumbicarbonat.
13) Entspricht 0 045 Eisenbicarbonat.
13) Entspricht 0 006 Manganbicarbonat.
,4) Auf 0° und 1 Atmosphäre berechnet.
15) Uie Prüfung auf Argon war wegen der kleinen Menge des zu)-
Verfügung stehenden Gases nicht auszuführen,
Analoge Bestimmungen wurden mit dem in Glasflaschen
verwahrten Thermalwasser ausgeführt; das Leitvermögen dieser
Wasserproben wurde regelmässig etwas grösser gefunden, wie
die folgenden Zahlen zeigen:
Temperatur in
Graden Celsius
455
4P2
16-6
16-4
Leitvermögen in
reciproken Ohms
0-6920 • 10 7
0-6374 • 10 7
0 3913 • IO-7
0 3940 • IO-7.
Wiener Hochquellenwasser gab bei solchen Bestim¬
mungen :
Temperatur in
Graden Celsius
15-0
15 1
Leitvermögen in
reciproken Ohms
0-2417 • 10 7
0-2422 • IO-7.
Vor ungefähr 15 Jahren hat A. v. Waltenhofen17)
die Leitfähigkeit des Gasteiner Thermalwassers aus neun
Quellen bestimmt. Zwischen den Resultaten dieser Bestim¬
mungen und den hier verzeichneten bestehen keine erheblichen
Differenzen.
Die Gefrierpunktsdepression wurde für das Thermal¬
wasser der Elisabeth Quelle im Mittel aus drei A ersuchen zu
0'012° C. gefunden. 18)
Gasteiner Trink wasser aus der Schachenleitung zeigte
keine wahrnehmbare Depression des Gefrierpunktes, seilte
Leitfähigkeit wurde gefunden :
Temperatur in
Graden Celsius
110
10-6
Leitvermögen in
reciproken Ohms
5-211 • 10~9
5-121 • IO-9.
Die Frage, ob die chemische Zusammensetzung des
Gasteiner Thermalwassers im Laufe der Zeit unverändert
geblieben ist, lässt sich nur mit Hilfe der Resultate solcliei
Analysen erörtern, welche nach verlässlichen Methoden aus¬
geführt sind; als solche können erst die Analysen aus dem
XIX. Jahrhunderte gelten, deren Ergebnisse in der folgenden
Tabelle zusammengestellt sind.
Aus den Untersuchungen von A. v. Waltenhofen
über das elektrolytische Leitvermögen, welches sich auf das
Thermalwasser von neun Gasteiner Quellen erstrecken, kann
in Folge der übereinstimmenden Resultate geschlossen werden,
dass das Wasser dieser neun Quellen gleich oder doch nahezu
leich zusammengesetzt ist.
'0 Diese Bestimmungen, sowie die Ermittlung des Gefrierpunktes bat
err Dr. R. v. Z e y n e k ausgeführt.
17) A. v. Waltenhofen, lieber die Thermen von
tzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften
. Abtheilung, Bd. XCII. . •>
iq V. Ko stk e wie* fand die Gefrierpunktsermedrigung des
hermalwassers 0 010°; siehe: Therapeutische Monatshefte. 1899, Hett 11.
m
Gastein.
Wien.
622
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 27
P
1828
1836
1845
1863
1900
Kaliumoxyd ....
0T15
0-038
0008
0-073
0036
Natriumoxyd
1086
1085
1-146
1137
1061
Lithiumoxyd
—
—
—
0009
0-004
Calciumoxyd
0247
0-289
0-265
0109
0-299
Strontiumoxyd . . .
—
Spur
Spur
Spur
0 006
Magnesiumoxyd
0006
0 021
0017
0-008
0007
Eisenoxyd ....
0 043
0-019
0046
0 004
0-020
Aluminiumoxyd
0016
0027
0022
0003
Spur
Manganoxyduloxyd .
0011
Spur
0017
Spur
0002
Schwefelsäureanhydrid
1051
1129
1-118
1-236
1-078
Borsäureanhydrid .
—
—
—
—
0041
Phosphorsäureanhydrid
0022
0038
0031
0-004
0001
Kieselsäureanhydrid .
0-431
0 263
0314
0-496
0-410
Kohlensäureanhydrid .
0-526
0 524
0-351
0-502
0-507
Chlor .
0-311
0-268
0-289
0283
0251
Fluor .
Spur
—
Spur
Spur
0025
Cäsium, Rubidium, |
Arsen, Titan säure |
Organische Substanz .
Spuren
Spuren
—
Spur
Spur
—
0-008 ,9)
Summe der festen Be-
standtheile
3539
3380
3490
3-899
3-415.
Diese tabellarische Zusammensetzung lehrt zunächst, dass
die zu verschiedenen Zeiten ausgeführten Analysen gleich-
bleibende Concentration des Gasteiner Thermalwassers nach¬
gewiesen haben, denn die vorhandenen Differenzen liegen in
den Grenzen der Versuchsfehler, zumal, wenn man erwägt,
dass die Zahlen nach verschiedenen Methoden und von ver¬
schiedenen Analytikern gewonnen wurden. Auch bezüglich
der einzelnen Bestandteile, soweit dieselben quantitativ be¬
stimmt wurden, herrscht genügende Uebereinstimmung. Grosse
Sorgfalt hat F. U 1 1 i k auf die Analyse verwendet, wie dem
Einen von uns20) aus eigener Anschauung bekannt ist; wenn
gleichwohl zwischen den Resultaten von Ul lik’s Analyse und den
unseren in manchen Stücken, wie z. B. in der Kalkbestim¬
mung, erheblichere Unterschiede bestehen, so dürfte dies
darauf zurückzuführen sein, dass Ullik zu den meisten Be¬
stimmungen leider den Abdampfrückstand verwendete, welcher
in Gastein durch Abdampfen von Thermalwasser in einer
Porzellan schale dargestellt worden war.
Was die durch unsere Analyse erlangten Fortschritte in
der Kenntniss der Zusammensetzung des Gasteiner Thermal¬
wassers betrifft, so ist vor Allem hervorzuheben, dass wir die
Borsäure als Bestandtheil desselben nachgewiesen haben, ferner
dass wir zuerst Strontium, Mangan, Fluor und die organische
Subst anz quantitativ bestimmt haben. In keiner der älteren
Analysen wurde die Borsäure aufgefunden und die vier
genannten Bestandteile sind früher nur qualitativ nachgewiesen
worden.
Die Gasteiner Thermen, welche zu den Akratothermen
gezählt werden, gehören zweifellos zu den interessantesten
Mineralquellen, deren chemische Zusammensetzung wir kennen;
das W asser derselben, relativ arm an festen Stoffen, ist durch
die grosse Mannigfaltigkeit derselben ausgezeichnet, ja in
dieser Hinsicht ein Unicum. Während die Gesammtmenge der
festen Bestandteile nicht mehr beträgt, als in einem gewöhn¬
lichen, etwas härteren Quell- oder Brunnenwasser, finden sich
in quantitativ bestimmbarer Menge Lithium, Strontium, Mangan,
Bors äure, Phosphorsäure, Fluor, und überdies qualitativ
deutlich nachweisbar: Cäsium, Rubidium, Arsen, Titan¬
säure. Alle diese Bestandtheile kommen bekanntlich in Mineral¬
wässern gewöhnlich nur neben grossen Quantitäten
von Salzen der Alkalien und alkalischen Erden vor.
*
l9) Inclusive flüchtige organische Säuren.
'") Ich habe gleichzeitig mit U 1 1 i k in den Sechziger-Jahren im
Laboratorium von Jos. Redtenbacher gearbeitet. E. Ludwig.
Zum Schlüsse wollen wir noch die Resultate der Unter¬
suchung von zwei Trinkwässern anftihren, mit welchen durch
zwei Leitungen, Schachenleitung und Kohlgrubenleitung, Bad
Gastein versorgt wird.
Das Wasser aus beiden Leitungen ist klar, farblos,
geruchlos und geschmacklos; aus demselben scheidet sich selbst
nach monatelangem Stehen in verkorkten Flaschen kein Boden¬
satz ab. Durch die qualitative Analyse wurde die Abwesenheit
von Ammoniak, salpetriger Säure und Salpetersäure, sowie das
nur spuren weise Vorhandensein von Chloriden und Sulfaten
festgestellt.
Die quantitative Analyse
ergab für 1 l
Wasser:
Schachen-
Kohlgruben-
leitung
leitung
Summe der festen Bestandtheile 00510*7
0 0270*7
Kieselsäureanhydrid
. . 0 0038*7
0 0017*7
Calciumoxyd .
. . 0-0179 g
0 0047 <7
Magnesiumoxyd ....
. . 0 0010^
0-0006 g
Organische Substanz . .
. . 00026 t/
0-0056y.
Bemerkenswerth ist die geringe Härte dieser beiden
Wässer, besonders die des Wassers der Kohlgrubenleitung,
welche nur 05 deutsche Härtegrade beträgt.
Aus der neurologischen Klinik in Wien (Vorstand: Prof.
Freiherr v. Krafft-Ebing).
Basedow’sche Krankheit mit Myxödem-
symptomen.
Yon Docent Dr. Josef A. Hil'SChl, klinischem Assistenten.
Nach einer Demonstration im Vereine für Psychiatrie und Neurologie am
14. November 1899. Siebe: Wiener klinische Wochenschrift. 1899, Bd. XII,
pag. 1271.
Kowalewsky beobachtete im Jahre 1890 bei einer
Basedow- Kranken Myxödemsymptome. Seither ist über eine
Reihe von ähnlichen Fällen in der Literatur berichtet worden.
Diese Fälle sind nicht sehr zahlreich. Sie lassen sich im Allge¬
meinen in zwei Gruppen sondern.
Die erste Gruppe umfasst Fälle, in denen zunächst eine
Erkrankung an Morbus Basedowii sich constatiren liess, nach¬
her die Symptome der B a s e d o w’sehen Krankheit z trück-
traten, und nach dem Zurücktreten der B as e d o w’schen
Krankheit sich ein typisches Myxödem entwickelte. Solche
Fälle veröffentlichten Joffroy und Achard, H. Williams,
J. Put n a m und W. W. Bald w i n.
In die zweite Gruppe gehören die Fälle von P. Sol Her
und v. Jak sch, in denen im Verlaufe eines Morbus Base¬
dowii einzelne Symptome des Myxödems auftraten. Solche
Einzelsymptome waren meist Symptome von Seite der Haut;
im Falle von v. Jaksch kam zu den myxödematösen Ver¬
änderungen der Haut noch eine sehr wichtige Erscheinung
hinzu: die Steigerung der mechanischen Erregbarkeit des
Nervus facialis.
Die eben citirten Fälle standen P. J. Möbius1) zur
Verfügung, als er 1896 seine Monographie Uber den Morbus
Basedowii veröffentlichte.
Möbius vertritt in dieser Arbeit folgenden Standpunkt:
Die B a s e d ow’sche Krankheit ist eine Vergiftung des Körpers
durch krankhafte Thätigkeit der Schilddrüse. Der Drüsen¬
erkrankung folgt nicht nur eine Hyperthyroidisation, sondern
auch eine Dysthyroidisation ; es wird also nicht nur zuviel,
sondern auch schlechter Drüsensaft geliefert. An die Base-
d o w’schen Veränderungen der Schilddrüse kann sich Schwund
des Drüsenparenchyms anschliessen, daher können Myxödem¬
symptome zu denen der B a s e d o w’schen Krankheit hinzu¬
treten oder ihnen folgen. Den Beweis dieses letzteren Satzes
sucht Möbius durch die oben erwähnten Fälle der Literatur
zu erbringen.
!) P. J. Möbius, Die Basedow’sche Krankheit. Wien 1896,
Holder. Bd. XXII der 8peciellen Pathologie und Therapie, herausgegeben von
Nothnagel.
Nr. 27
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
623
Beobachtungen, welche geeignet sind, das Verhältniss
zwischen Myxödem und Morbus Basedowii zu klären, sind seit
dem Erscheinen des Möbius’schen Buches nur in geringer
Zahl gemacht worden.
L. Gautier2) berichtet einen Fall, indem ein typischer
Morbus Basedowii von einem typischen Myxödem abgelöst
wurde, Mackenzie3) und Loew4) veröffentlichten Fälle
von Bas edow’scher Krankheit, in welchen Hautverände¬
rungen an den unteren Extremitäten beobachtet wurden, die
an Myxödem erinnerten.
Erwähnenswerth ist, dass die Hautveränderungen im Falle
von Mackenzie, nicht eindrückbare Schwellungen an den
unteren Extremitäten, durch Thyreoidinbehandlung nicht be¬
einflussbar waren.
Der folgende Fall, der sich den ziemlich spärlichen Be¬
obachtungen der zweiten Gruppe anreiht, wurde an der Wiener
Nervenklinik beobachtet:
Emma M., 33 Jahre alt, Kellnersfrau aus Lemberg, wurde am
13. November 1899 in die Klinik aufgenommen.
Der Vater der Kranken starb im Alter von 54 Jahren an
Wassersucht. Die Mutter ist gegenwärtig 70 Jahre alt und vollkommen
gesund. Drei Geschwister leben und sind ebenfalls gesund. Keiner
der Verwandten der Kranken litt jemals an einer Nerven- oder
Geisteskrankheit.
Die Kranke ist seit dem Jahre 1891 verheiratet, hat vier
Kinder im Alter zwischen sieben und drei Jahren. Die Kinder sind
vollkommen gesund. Im December 1898 abortirte die Kranke in der
sechsten Graviditätswoche ohne bekannte Veranlassung.
Lotus wird negirt. Für Lues findet sich kein Anhaltspunkt.
Im Januar 1899 erkrankte Frau M. an Typhus abdominalis. Sie
war durch zwei Monate ans Bett gefesselt und konnte sich seither
nicht mehr recht erholen.
Anfangs August 1899 fiel die Kranke über eine Treppe, stürzte
einen Halbstock herunter, ohne sich zu verletzen und ohne bewusstlos
zu werden, erschrak aber dabei sehr heftig. Im Anschluss an diesen
Schrecken entwickelte sich allmälig ein Krankheitsbild, bestehend in
starkem Herzklopfen, Vergrösserung der Schilddrüse, Exophthalmus,
auffallend häufigen Stuhlentleerungen meist diarrhoischen Cha¬
rakters.
Die Kranke wurde leichter erregbar und häufig zornig.
Ende October 1899 Hessen die Herzpalpitationen etwas nach,
die Struma wurde härter, esentwickelte sich eine psychische Störung,
bestehend in Vergesslichkeit, es schwoll an den unteren Extremi¬
täten die Haut an, wurde hart, gleichzeitig trat eine Verdickung der
Gesichtshaut auf, die Haut wurde »für das Gesicht zu gross«, so dass
über den unteren Rand des Unterkiefers zu beiden Seifen ein Haut-
säckchen herabhing, während das Gesicht früher vollkommen
glatt war.
Die Menses, welche das erste Mal im 14. Lebensjahre aufge¬
treten waren, erschienen bis zum Zeitpunkte der Typhuserkrankung,
von den Graviditätsanomalien abgesehen, vollkommen regelmässig in
vierwöchentlichen Lausen, drei bis fünf Tage dauernd, mässig reich¬
lich, gut gefärbt. Nach dem Typhus traten sie nur noch im August
und September in ihrer gewöhnlichen Form auf und sind seither
(mehr als zwei Monate) ausgeblieben.
Status praesens, aufgenommen am 13. November 1899:
Mittelgross, graciler Knochenbau, Cranium hydrocephal, mit
blasiger Vorwölbung der Seitenwandbeine und Lrotuberanz der
Tubera frontalia, Horizontalumfang 530 mm.
Lanniculus adiposus ziemlich reichlich, Musculatur im Allge¬
meinen kräftig, die Hautdecke blass, trocken, die sichtbaren Schleim¬
häute blass.
Im Gesichte am unteren Rande des Unterkiefers beiderseits
ist die Haut wulstartig verdickt, die Haut daselbst zeigt keine siclit-
2) Gautier Leon, Symptomes de myxoedeme ä debut cliez une
femme anterieurement atteinte de goitre exoplithalmique. Rev. mod. de
la Suisse rom. Nr. 11. Referirt im: Jahresbericht für Neurologie und Psy¬
chiatrie. 1898, pag. 899.
3) Mackenzie H., On oedema iu Graves’ disease. Edinb. med.
Journal. April 1897. Referirt im: Jahresbericht für Neurologie und Psy¬
chiatrie. 1897, pag. 933.
4) Loew J., Ueber das Auftreten von Oedemen bei Morbus Basedo¬
wii. Wiener medicinische Presse. 1897, Bd. XXXVIII, pag. 721.
bare Veränderung, beim Tasten zeigt sich eine teigige Consistenz
des verdickten Unterhautzellgewebes.
Der linke Unterschenkel erscheint insbesondere im Antheile
der Diaphyse stark verbreitert. Die Verbreiterung entspricht einer
Verdickung der Haut und des Unterhautzellgewebes. Die Haut er¬
scheint rothbraun verfärbt, glanzlos, wie schmutzig, vollkommen
faltenlos, an manchen Stellen abschilfernd, mit erweiterten Follikel¬
öffnungen, in denen die Haare meist fehlen. Beim Anfühlen erweist
sich die veränderte Haut als deutlich kälter als die umgebenden
Hautstellen, sie ist trocken, hart, straff gespannt, die Faltenbildung
ist unmöglich, die Haut ist nur mit der Musculatur über dem Knochen
verschiebbar; durch Fingerdruck ist die Haut nicht eindrückbar, auch
die braunrothe Verfärbung wird nur an manchen Stellen bei Druck
um eine Nuance blässer. Diese Hautverdickung setzt sich gegen die
normale Haut über dem Fussgelenke ringförmig ziemlich scharf,
geradezu stufenförmig ab, während die Uebergänge in die normale
Haut über dem Kniegelenke ganz allmälige sind. An der Haut des
Fusses ist kein Oedem nachweisbar. Die grösste Circumferenz des
linken Unterschenkels beträgt 355 mm, die Circumferenz in der Mitte
desselben 335mm und die Circumferenz in der Supramalleolargegend
242 mm. Die Sensibilität der veränderten Haut ist nicht gestört.
An der rechten unteren Extremität besteht in geringerer Aus¬
dehnung eine ähnliche Veränderung mit derselben Localisation.
Hier lässt sich die Haut noch in Falten legen, wenn auch diese sehr
breit sind. Die grösste Circumferenz dieses Unterschenkels beträgt
gleichfalls 355mm, der Umfang in der Mitte 345 mm und der in der
Supramalleolargegend 225 mm. Die Sensibilität über den veränderten
Hautstellen ist intact.
Die Kranke hat einen beiderseits gleichmässig ausgeprägten
starken Exophthalmus, die Augenbewegungen sind prompt, das
Gr aefe’sche Symptom fehlt, es besteht Insufficienz der Musculi
interni, im Verlaufe einer Minute werden vier Lidschläge gezählt.
Es besteht Struma, der rechte Schilddrüsenlappen ist apfel¬
gross, der linke ist über walnussgross, die Struma ist ziemlich con¬
sistent, fibrös; an der Struma hört man laute, blasende, systolische
Geräusche neben der Carotidenpulsation.
Luis 96, beim Aufsetzen 108, ohne Besonderheiten; Herzpalpi¬
tationen gegenwärtig fast vollkommen fehlend, jedenfalls geringer
als früher.
Herzdämpfung in normalen Grenzen; die Auscultation des
Herzens ergibt normale Verhältnisse.
Feinwelliger Tremor der Finger.
Die Reflexe sind normal, keine gesteigerte Erregbarkeit des
Nervus facialis, die Latellarsehnenretlexe lebhaft.
Der Uterus ist klein, derb, in Anteversion, frei beweglich (nach
der Begutachtung durch die Klinik Schauta ist der Uterus
atrophisch).
Harnmenge 1400, speciflsches Gewicht 1020, kein Eiweiss, kein
Zucker im Harn; alimentäre Glykosurie besteht nicht: nach Ein¬
führung von 150 (j chemisch reinen Traubenzuckers nach dem Er¬
wachen beträgt die Harnmenge 1110#, specitisches Gewicht 1023, die
T r o m m e r’sche Lrobe fällt negativ aus.
Bei der Kranken ist objectiv eine psychische Störung nicht
festzustellen, die Intelligenz der Latientin ist eine mässige, die Merk¬
fähigkeit erscheint nicht auffallend gestört. Dies steht jedoch im
Widerspruche mit der Angabe der Latientin, dass in der letzten Zeit
ihr Gedächtniss schlechter geworden sei. Die Kranke ist meist traurig
gestimmt, motivirt diese Stimmung mit der Kränkung über ihr
Leiden.
16. November. Luisfrequenz 144, sonst Status idem.
22. November. Luisfrequenz 152; die Sehwellung der Haut an
den unteren Extremitäten scheint etwas abgenommen zu haben, die
Consistenz der Haut ist jedenfalls eine etwas geringere, bei Finger¬
druck wird die röthliche Verfärbung an mehr Stellen blässer, als es
zu Anfang der Beobachtung der Fall war, jedoch ist die Abnahme
der Verfärbung nur eine geringe.
Latientin wird am 22. November aus der Klinik entlassen,
eine projectirt gewesene Thyreoidinbehandlung musste deshalb
unterbleiben.
Wiederholen wir aus dieser Krankheitsskizze das Wesent¬
lichste, so erhalten wir folgendes Bild:
Eine unbelastete Frau erkrankt an Typhus a b d o-
mi'nalis; sie wird durch diese Erkrankung geschwächt, ein
624
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 27
psychisches Trauma leitet die Entwicklung einer typi¬
schen Basededow’schen Krankheit ein.
Nach kurzer Zeit, circa zwei Monaten, lassen die
Herzpalpitationen nach — ein Ausdruck des Zurück¬
gehens des typischen Morbus Basedowii — und es entwickelt
sich nun eine Erkrankung der Gesichtshaut und
derHaut der unteren Extremitäten, eineUterus-
atrophie und eine allerdings nur der Kranken wahrnehm¬
bare Vergesslichkeit.
Die Struma ist nunmehr als eine vergrösserte
fibröse Schilddrüse zu tasten.
Es entsprechen diese Symptome einem Krankheitsbilde,
welches als Uebergang der Basedo w’s chen Krank¬
heit in das Myxödem mehrmals beschrieben worden ist.
Die Veränderung derHaut im Gesichte ist
wohl der des Myxödems in den Anfangsstadien gleichzustellen,
die Hautveränderungen an den unteren Extre¬
mitäten entsprechen zwar nicht vollkommen jenen Ver¬
änderungen der Haut, die beim Myxödem beschrieben worden
sind, doch sind einzelne Veränderungen an der Haut der
unteren Extremitäten, die beim Uebergange des Morbus Base¬
dowii in Myxödem beobachtet wurden, mit unserem Befunde
fast congruent.
Sehr bemerkenswerth ist das Auftreten der Genital-
at r o p hie im Verlaufe unseres Falles. Während einige Autoren5)
die Atrophie der Genitalien als eine häufige Erscheinung bei
Morbus Basedowii bezeichnen, gehört sie nach den Unter¬
suchungen von Busch an6) und Möbius7) nicht zum
Krankheitsbilde der B a s e d o w’schen Krankheit. Möbius
hält die Genitalatrophie, wenn sie beim Morbus Basedowii auf-
tritt, direct für ein Myxödemsymptom. Ist diese Anschauung
richtig, dann hätten wir ein zweites Symptom des Myxödems
in unserem Falle.
Als ein drittes Symptom des Myxödems, freilich ein
wenig ausgesprochenes, kann vielleicht die psychische
Veränderung gelten, welche allerdings objectiv nicht nach¬
weisbar war.
Von grossem Interesse ist das Fehlen einer Reihe von
Erscheinungen, die wir gewohnt sind, beim Morbus Basedowii
zu sehen; ein Theil dieser Erscheinungen war früher gewiss
vorhanden und ist nunmehr zurückgetreten, ein Zeichen für
das Abklingen des Morbus Basedowii.
Es ist das zunächst das Fehlen der Herzpalpi¬
tationen, und im Anschluss daran die für einen Morbus
Basedowii niedrige Pulsfrequenz.
Interessant ist die Beobachtung, dass sich schliesslich an
der veränderten Haut des Unterschenkels mit einer Steigerung
der Frequenz eine wenn auch geringe, doch sichere Consistenz-
verminderung feststellen liess. Es ist möglich, dass die Bezie¬
hung zwischen Pulsfrequenz und Hautveränderung wenigstens
für den Anfang einer derartigen Krankheit constant ist.
Die allgemeine Hautdecke zeigte in unserem
F alle eine auffallende Trockenheit, es traten bei der
Kranken während ihres Aufenthaltes in der Klinik keine
Schweisse auf. Die Struma, die vordem vasculös gewesen
sein mag, war zur Zeit der Beobachtung hart, fibrös.
Es möge noch hervorgehoben werden, dass in unserem
F alle keine alimentäre Glykosurie zu consta-
tiren war.
Kraus und Ludwig8), sowie C h v o s t e k 9) consta-
tirten bei Morbus Basedowii alimentäre Glykosurie; Chvostek
bezeichnete diese Glykosurie als ein pathognomonisches Sym¬
ptom der Basedowschen Krankheit, weil er sie in nahezu
70% der untersuchten Basedow-Fälle nachweisen konnte.
5) Friedrich P i n e 1 e s, Die Beziehungen der Akromegalie zum
Myxödem und zu anderen Blutdrüsenerkrankuugen. V o 1 k m a u n's Samm¬
lung klinischer Vorträge. 1899, Neue Folge. Nr. 242, pag. 1445.
fi) B u s c h a n, Die Basedo w’sche Krankheit. Leipzig- und
Wien 1894, Deuticke.
") Möbius, 1. c., pag. 64.
8) Kraus und Ludwig, Klinische Beiträge zur alimentären Gly¬
kosurie. Wiener klinische Wochenschrift. 1891, IV, pag. 855.
°) Chvostek, Ueber alimentäre Glykosurie bei Morbus Basedowii.
Wiener klinische Wochenschrift. 1892, V, pag. 251.
Dieser Befund würde sehr gut mit einer später gemachten
Erfahrung stimmen; es gelang nämlich, bei mit Thyreoidea
gefütterten Individuen gleichfalls alimentäre Glykosurie nach¬
zuweisen. Die alimentäre Glykosurie erschien somit einfach als
ein klinisches Zeichen der Hyperthyreoidisation.
Hermann Strauss10), welcher die Verhältnisse bei
Morbus Basedowii nachuntersuchte, fand jedoch unter 19 Fällen
nur bei drei alimentäre Glykosurie, ein Befund, der zu den
Befunden von K raus und Ludwig, sowie von Chvostek
eiuen auffallenden Gegensatz bildet.
Da die Krankengeschichten von Chvostek, sowie die
von Kraus und Ludwig nicht erkennen lassen, ob es sich
in ihren Fällen um ein florides Stadium des Morbus Basedowii
handelte, oder ob die Erkrankung nicht einfach ein sehr
chronischer nervöser Zustand war, welcher durch residuäre
B a s e d o w - Symptome complicirt wurde; da ferner bei
Strauss Krankengeschichten überhaupt nicht publieirt sind,
so ist nicht festzustellen, ob nicht vielleicht die alimentäre
Glykosurie einem gewissen Stadium des Morbus Basedowii
entspricht. Vielleicht werden weitere Untersuchungen lehren,
dass die acut sich entwickelnde Basedo w’sche Krankheit
auf der Höhe der Erkrankung stets das Symptom der alimen¬
tären Glykosurie zeigt, während im Ablaufe des Morbus Base¬
dowii, namentlich beim Uebergange zur Genesung, die ali¬
mentäre Glykosurie nicht mehr nachzuweisen ist.
Verhält sich die alimentäre Glykosurie beim Morbus
Basedowii wirklich in dieser Weise, dann entspricht dieses
Verhalten vollkommen den Befunden der alimentären Gly¬
kosurie bei Thyreoideaverftitterung und der Theorie des Morbus
Basedowii von Möbius. In diesem Falle würde auch das
Fehlen der alimentären Glykosurie bei unserer Kranken dem
Abklingen des Morbus Basedowii entsprechen.
Für jene Gruppe von Fällen, an welche sich unser Fall
anreiht, hat Möbius11) folgende Erklärung :
»Man muss wohl annehmen, dass die Schilddrüse in
solchen Fällen zu einem Theile atrophisch ist, während in
einem anderen Theile noch die Basedo w’sche Veränderung
besteht.«
Es könnte nun folgende Frage gestellt werden: Wäre
nicht zu erwarten, dass der Athyreoidisation, welche von Myx¬
ödemveränderung der Schilddrüse veranlasst ist, entgegengewirkt
wird durch die Hypersecretion des wenn auch schlechtes
Secret secernirenden Drüsentheiles, der noch die Basedow-
Veränderungen zeigt?
Gleichgiltig, ob diese Frage berechtigt ist oder nicht,
könnte man in Anlehnung an ältere Anschauungen sich Fol¬
gendes vorstellen: Die Hyper- und Parasecretion der Schild¬
drüse erzeugt eine Reihe von Symptomen dadurch, dass zunächst
gewisse Veränderungen an bestimmten Stellen des Nerven-
systemes hervorgerufen werden.
Diese Veränderungen im Nervensystem — und mit
ihnen die entsprechende Reihe von B a s e d o w - Symptomen
— könnten noch fortbestehen, wenn die Hypersecretion der
Schilddrüse bereits zu existiren aufgehört hat; klinisch ent¬
spräche diesem Zustande eine Heilung des Processes mit
Zurückbleiben von B a s e d o w - Symptomen.
Diese Veränderungen im Nervensysteme könnten dann
auch jenen Zeitpunkt überdauern, in welchem die Hyper¬
trophie der Schilddrüse bereits durch ihre Atrophie abgelöst
wird. In diesem Sinne gedeutet ist das Vorkommen von
Basedow- und Myxödemsymptomen bei einem Individuum
verständlich.
Ueber Kolikschmerzen.
Von Dr. med. Robert Lucke in Altenburg.
Unter Kolikschmerzen verstehen wir nur von Organen
der Bauchhöhle einschliesslich des Harnapparates ausgelöste,
I0) Strauss Hermann, Zur Lehre von der neurogenen und
der thyreogenen Glykosurie. Deutsche medicinisclie Wochenschrift. 1897,
pag. 275.
n) Möbius, 1. c., pag. 64.
Nr. 27
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
625
oder iü die Bauchhöhle projicirte krampfartige, mehr oder
weniger starke, anfallsweise auftretende Schmerzen. Falls der
Charakter der Schmerzen nicht krampfartig ist, sprechen wir
nicht von Kolikschmerzen, also z. B. sind die beim Durch¬
bruche eines Hohlorganes in die freie Bauchhöhle auftretenden
Schmerzen nicht Kolikschmerzen. Kolikschmerzen kommen
vor bei Erkrankungen des Magen-Darmcanales, der grossen
Bauchdrüsen (Pankreas, Niere) und ihrer Ausführungswege ’);
ferner ist es möglich, dass dieselben Schmerzen entstehen nur
von den diese Organe versorgenden Nerven aus, ohne dass
die Organe selbst nachweisbar erkrankt sind, endlich können
sie entstehen nur durch abnorme Vorgänge im Centralnerven¬
system selbst. Diese beiden letzteren Kategorien sollen hier
unberücksichtigt bleiben; von den dann noch in Etage kom¬
menden Krankheiten seien genannt Verengerungen des Pylorus,
Darmkatarrhe, Darmstenosen, Darmverschluss, Gallenstein¬
krankheit, Nierenentzündungen, Harnsteinkrankbeit, Pankreas¬
entzündungen und Geschwülste, Pankreassteinkrankheit.
Haben die Organe, von denen Kolikschmerzen ausgehen
können, etwas Gemeinsames, was zur Erklärung der Schmerzen
herangezogen werden könnte? Allen gemeinsam ist nur die
Beziehung zum Bauchfell, mit dieser aber ist für die Er¬
klärung, wie die Schmerzen zu Stande kommen, nichts anzu¬
fangen; eine Gruppe der Organe sind Drüsen, die andere ent¬
hält musculäre Wände. Von Alters her hat man gemeint, dass
Kolikschmerzen durch krampfhafte Muskelcontractionen ver¬
ursacht werden. Sollte damit nicht eine Erklärungsmöglichkeit
gegeben sein? Nun, auf alle Fälle können damit nur die von
den Hohlorganen ausgehenden Schmerzen erklärt werden, da
z. B. Kolikschmerzen bei Nephritis auf diese Weise wohl
kaum erklärt werden können. Zunächst aber müssen wir ver¬
suchen, eine gemeinsame Ursache für die Kolikschmerzen zu
finden, und nur wenn dies nicht gelingt, müssten wir uns zu
der Annahme bequemen, verschiedene Entstehungsursachen für
die Kolikschmerzen zuzulassen.
Vielleicht kommen wir weiter, wenn wir auf anderem
Wege an die Frage herangehlen! Setzen wir den Fall, eine an¬
geblich bisher ganz gesunde Frau, Mitte der Dreissiger Jahre, die
drei normale Geburten gehabt hat, wird um Mitternacht
plötzlich von einer sehr heftigen Kolik befallen, deren Sitz
das Epigastrium, wie die Kranke meint, der Magen ist. Der
Schmerz strahlt in den Rücken, zumal in die rechte Schulter
aus. Der Patientin ist furchtbar übel, sie muss erbrechen und
fürchtet zu Grunde zu gehen. Man schickt zum Hausarzte,
der die Frau mit erhöhter Temperatur und kleinem, beschleu¬
nigtem Puls stark mitgenommen findet. Der Leib ist hart
gespannt, gegen jede Berührung sehr empfindlich, anscheinend
mehr in der rechten Hälfte; Näheres lässt sieh nicht fest¬
stellen. Blähungen sollen nicht abgehen, die Kranke würgt
heftig und erbricht einige Male gallige Flüssigkeit. Patientin
hat das Unglück gehabt in die Hände eines Arztes zu
fallen, der mit dem Morphium zurückhaltend ist, und jeden¬
falls, ehe er sich entschlösse es zu geben, die Dia¬
gnose gestellt haben möchte. Seine Verordnungen sind heisse
Umschläge auf den Bauch und Enthaltung jeglicher Aufnahme
von Speise und Trank. Am anderen Morgen sieht der Arzt
wieder nach, er trifft die Kranke im Allgemeinen kaum ver¬
ändert, nur sind die Schmerzen zur Zeit etwas geringer, Ikterus
besteht nicht. Es gelingt jetzt festzustellen, dass hinter der
rechten vorderen Bauchwand ein Tumor liegt, seine untere
Grenze liegt etwas oberhalb der Verbindungslinie beider
Spinae sup. ant., seine Gestalt ist annähernd gurkenförmig,
nach dem Rippenbogen zu wird er breiter und lässt sich von
der Leber nicht abgrenzen; respiratorische Verschieblichkeit
ist vorhanden, aber in wenig ausgesprochener Weise, der Tu¬
mor liegt unter dem Muscul. rectus und ist sehr druck¬
empfindlich. Der Arzt hält die Geschwulst für die vergrösserte
Gallenblase.
Wegen der immer noch schweren Erscheinungen zieht
er einen Chirurgen hinzu, der sich der Meinung des Collegen
]) Von den weiblichen Genitalorganen ausgehende, sogenannte Ko¬
liken bleiben hier unberücksichtigt, ausserdem die duicli Gifte (Blei,
Veratrin, Physostigmin) hrrvorgerufpueji Koliken.
anschliesst und zur Operation räth. Gegen Abend, also noch
nicht 24 Stunden nach Beginn der Erkrankung, wird die
Operation gemacht. Nach Eröffnung der Bauchhöhle — die
Geschwulst war streckenweise mit dem Parietalperitoneum
verklebt — tritt sogleich die sehr vergrösserte dunkelblau-
rothe Gallenblase zu Tage; sie ist zum Platzen prall gespannt
und mit Netz und Colon ebenfalls verklebt. Nach Lösung der
frischen Adhäsionen wird sie aus der Bauchhöhle herausge¬
hoben, sie überragt den Leberrand, der zungenförmig ausge¬
zogen ist, um 4 oder 5 cm.
Der Inhalt der Blase, deren Wand sehr verdickt ist, ist
tiübe seröse Flüssigkeit — mindestens 100cm:i werden ent¬
leert — ferner eine grosse Zahl grösserer und kleinerer Maul¬
beersteine; nachdem nicht ohne Mühe ein grosser, festsitzender
Stein aus dem Blasenhals hervorgezogen ist, fliesst Galle, und
durch Palpation sind weitere Concremente nicht nachweisbar.
Die Blase wird eingenäht und durch ein Gummirohr drainirt
etc. Während der Nachbehandlung wird die Blase bei jedem
Verbandwechsel gehörig ausgespült und dabei wird jedes Mal
die Beobachtung gemacht, dass die Patientin bei der Anfüllung
der Blase mit der Spülflüssigkeit eine Kolik bekommt, genau
gleich denjenigen, welche sie in ihrer Erkrankung hatte. So¬
bald die Katheterspritze entfernt wird, hört auch der Schmerz
auf. Diese experimentelle Kolik kann nur hervorgerufen sein
durch die acute Spannung der Blasenwände in Folge der
schnellen Zunahme des Innendruckes.2) Der Flüssigkeits¬
zufluss geschieht so schnell, dass wenn wirklich etwas Flüssig¬
keit durch den Cysticus abläuft, doch in ganz kurzer Zeit
der Innendruck über die Norm wächst. Genau dieselbe Beob¬
achtung kann man an operativ angelegten Hepaticus- und
Choledochusfisteln machen. Es ist klar, dass nichts näher liegt,
als auf dieselbe Art den Kolikschmerz bei der natürlichen
Kolik auch zu erklären.
Der Abfluss weg, also der Ductus cysticus war bei
obigem Beispiel durch den Stein im Blasenhals verlegt, die
schnelle Flüssigkeitsvermehrung in der Blase und damit die
schnelle Zunahme des I unendruckes ist auf die entzündliche
Secretion der Blasenschleimhaut zurückzuführen, dadurch über¬
schritt ganz acut die Spannung der Blasenwand die Norm, es
wurde der acute Spannungsschinerz hervorgebracht, der sich
als Kolik äusserte.
Dass die Flüssigkeitsvermehrung das Product entzünd¬
licher Vorgänge ist, das geht wohl aus der Krankengeschichte
genügend deutlich hervor. 3) Ist zum Zustandekommen der
abnorm grossen Spannung Muskelwirkung noting? Bei der
experimentellen Kolik gewiss nicht, und bei der natürlichen
sind wir überzeugt, dass eine Muskel Wirkung nicht besteht;
Jeder, der eine acut entzündete Gallenblase auch nur einmal
in vivo gesehen hat, wird nicht zweifeln, dass bei einer derart
entzündlich veränderten Blase die Musculatur, deren Stärke
an der Gallenblase überhaupt nicht hervorragend ist, leistungsun¬
fähig ist.
Die Gallensteine spielen also beim Zustandekommen der
Kolik eine ganz mechanische Rolle; durch den wachsenden
Flüssigkeitsdruck in der Blase werden sie in den Blasenhals
oder auch weiter gedrängt und bleiben dann eingekeilt
stecken, wenn sie an einem Punkte angelangt sind, wo das
Missverhältniss zwischen Umfang des Steines und Lichtung
des Ganges zu gross ist, als dass es von der Vis a tergo, d. h.
dem Druck in der Blase noch überwunden werden könnte.
Wir glauben nicht, dass sich der Gang bei der Einkeilung
der Steine anders als passiv verhielte; unter keinen Umständen
ist die Annahme plausibel, dass die Contraction der Musculatur
der Gänge im Stande sein sollte, den Stein auf- oder gar fest¬
zuhalten, gegenüber der so mächtigen treibenden Kraft in
Gestalt des in der Blase herrschenden Druckes. Die Möglich¬
keit, dass durch die Eiukeilung eines Steines Einkeilungs-
schmerzen entstehen, soll nicht in Abrede gestellt werden, aber
bei der Gallensteinkolik spielt diese Möglichkeit kaum eine
2) Für diese Beobachtung, siehe: Kehr, Diagnostik der Gallensteiu-
kraukheit. Pag. 12, pag. 9.
a) siehe darüber übrigens: Riedel, Erfahrungen über die Gallen-
steinki ankheit und au anderen Orten.
626
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 27
Rolle gegenüber dem acuten Spannungsschmerz; durchaus kein
Beweis liegt vor, dass derartige Schmerzen den Charakter von
Kolikschmerzen haben. Es sei übrigens erwähnt, dass acute
Cholecystitiden mit den heftigsten Koliken Vorkommen, ohne
dass Steine vorhanden wären. ') Damit ist wohl die Entbehr¬
lichkeit der Annahme des durch Steinincarceration hervor¬
gerufenen Kolikschinerzes erwiesen. Ist das Verhältnis der
austreibenden Kraft zu den Widerständen derart, dass letztere
überwindbar sind, mit anderen Worten, sind die Steine klein
genug, um die, wenn auch erst gedehnten Gänge passiren zu
können, so gehen Steine ab.
Andere erklären den typischen Gallensteinkolikanfall
anders; so sagt z. B. L e i c h t e n s t e r n 5) : » Der typische
Gallensteinkolikanfall hat ganz zweifellos seinen Grund in der
Einklemmung des wandernden Steines in irgend
einem Abschnitte der engen Canäle.« Die Wanderlust des
Steines entpuppt sich bei näherer Betrachtung vielmehr als
die Angst des verfolgten Verbrechers, der Mühe hat, seine
umfangreiche Person durch enge Canäle zu flüchten.
Zum Zustandekommen des abnormen Innendruckes ist
bei allen Hohlorganen eine mehr oder weniger vollkommene
Verlegung der Abführungswege Voraussetzung, und das trifft
auch in der That zu, nur kann diese Verlegung auf sehr ver¬
schiedene W eise bewirkt werden, nämlich durch Steine, be¬
ziehungsweise Fremdkörper, spastische Contraction, Lähmung
der Musculatur auf eine gewisse Strecke, entzündliche Pro-
cesse, Narben, Neubildungen, Druck von aussen etc.
Welch es sind bei den Hohlorganen die Ursachen des
acuten Ansteigens des Innendruckes, abgesehen von der Ver¬
legung der Abführungswege?
Besteht überhaupt eine einheitliche Ursache?
Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir die ein¬
zelnen Organe betrachten.
Bei der Gallenblase haben wir als Ursache eine auf ent¬
zündliche Vorgänge zurückzuführende schnelle Flüssigkeits¬
zunahme gefunden; dieselbe Ursache gilt auch für Hepaticus
und Choledochus.
Wir müssen auch hier entzündliche Processe annehmen
und können uns nicht mit der einfachen Zunahme des Druckes
durch die weiter dauernde Gallensecretion zufrieden geben.
In derselben Weise können wir eine Nierensteinkolik er¬
klären, wrenn auch wohl im Einzelnen die Analogie nicht voll¬
kommen ist. Jedenfalls ist der Kolikschmerz auch hier acuter
Spannungsschmerz.
Wie aber ist die Zunahme des Innendruckes bei
einer Darmkolik zu erklären? Hier müssen wir wohl an¬
nehmen, dass nicht allein die Zunahme der Fltissigkeits- und
besonders der Gasmenge, die ja aus entzündlichen Vorgängen
in der Darmschleimhaut und Gährungsvorgängen, die sich im
Inhalt abspielen, verständlich ist, die Ursache für die Zunahme
des Innendruckes abgibt, sondern auch die Contraction der
Ringmusculatur (oberhalb des Hindernisses) zur Vermehrung
des Druckes beiträgt.
Möglicher Weise wirken locale entzündliche oder chemische
Reize auf die Ringmusculatur ein, aber auch mechanische
scheinen nicht ausgeschlossen, indem sich der Darm gewisser-
massen gegen eine Ueberdehnung in Folge Zunahme der Gas¬
menge durch Contraction seiner Ringmusculatur wehrt. Es ist
bekannt, dass man durch Entfernung der Darmgase Darm¬
koliken beseitigen kann, andererseits verschwinden Koliken,
wenn die Darmmusculatur gelähmt wird, wie bei Peritonitis.
Es kann vermuthet werden, dass die Musculatur eines
Hohlorganes eine in dem Masse grössere Rolle bei der Ent¬
stehung der Kolikschmerzen spielt, als sie kräftiger ent¬
wickelt ist.
Wenn wir so auch den Kolikschmerz als acuten Span¬
nungsschmerz in Folge abnorm gesteigerten Innendruckes bei
den Hohlorganen erklären können, so ist doch nicht ohne
Weiteres ersichtlich, wie dieselbe Erklärung für nephritische
D Vergl.: Langenbueli, Chirurgie der Leber und Gallenblase.
Tlieil II, pag. 178.
5) Pentzoldt & S t i n t z i n g, Handbuch der Therapie. 2. Aufl.
Bd. IV, pag. 815.
Nierenkoliken Geltung haben soll. Die in diesem Falle be¬
stehenden Schwierigkeiten sind durch eine Veröffentlichung
Israel’s0) in glücklicher Weise aus dem Wege geräumt
worden. Ich kann auf die Arbeit verweisen un 1 führe hier
nur folgende Sätze wörtlich an: »Man muss die bisher von
den Meisten festgehaltene irrige Ansicht aufgeben, dass Nieren¬
koliken nur durch plötzliche Unterbrechung des Harnabflusses
in Folge von Occlusion des Ureters hervorgerufen werden
können. Vielmehr hat uns eine vielfältige Erfahrung gelehrt,
dass alle Momente, welche zu einer plötzlichen Drucksteigerung
im Nierenparenchym selbst, bei völliger Intaetbeit der Abfluss¬
wege führen, einen Kolikanfall hervorrufen können. So erklären
sich manche Koliken bei Torsionen des Gefässstieles beweg¬
licher Nieren ohne Ureterverschluss, so die bei plötzlicher Con¬
gestion maligner gefassreieher Tumoren ohne Hämaturie auf¬
tretenden Koliken etc.« Die feste fibröse Kapsel ermöglicht
erst recht eine acute congestive Spannungszunahme der Niere.
Nach Art der Gallenstein- und nephritiseben Koliken
dürfen wir uns wohl auch die Pankreaskoliken erklären.
Damit hätten wir einen einheitlichen Erklärungsversuch
für die Kolikschmerzen gegeben ; er lautet : Kolik schmerz
ist acuter S p a n u u n g s s c h m e r z.
Wenn die Drucksteigerung so allmälig erfolgt, dass eir.e
Anpassung möglich ist, bleiben Kolikschmerzen aus. Das be¬
weisen die ohne Kolikschmerzen sich entwickelnden Fälle von
Hydrops der Gallenblase.
Für die Therapie der Kolikschmerzen gewinnen wir aus
den beiden Ursachen der acuten Drucksteigerung Anhalts¬
punkte.
In Fällen, wo wir Aussicht haben, die Verlegung der
Abflusswege aufzulieben, wo also die spastische Contraction
eine Rolle spielt, nach obiger Vermuthung bei den Hohlorganen
mit stärker entwickelter Ringmusculatur, wären krampflösende
Mittel am Platze, in anderen Fällen, wo eine Muskelwirkung
unwesentlich ist, aber die schnelle Drucksteigerung die Folge
entzündlicher Vorgänge ist, müssten wir versuchen, auf den
Rückgang derselben einzuwirken, also vielleicht die entzünd¬
liche Hyperämie durch ableitende Mittel verringern. Wenn es
uns gelingt, auf diese Weise die Kolikschmerzen aufzuheben,
so dürfen wir doch nicht vergessen, dass wir in den letzt¬
genannten Fällen vorwärts getriebenen Fremdkörpern die
treibende Kraft rauben, also einen Heilversuch der Natur ver¬
eiteln. Falls dieser Heilversuch von vorneherein aussichtslos ist,
also in Fällen, wo die austreibenden Kräfte durchaus unfähig
sind, die entgegenstehenden Widerstände zu überwinden, wäre
unsere Therapie an sich rationell, nicht aber in den für den
Heilversuch der Natur aussichtsreichen Fällen. Ob aber nicht
für die Therapie andere Gesichtspunkte als nur die Beseitigung
der Kolikschmerzen öfters ausschlaggebend sein müssen, soll
jetzt nicht erörtert werden.
REFERATE.
I. Ueber die Indicationen der Entfettungscuren.
Von Karl v. Noorden.
Sammlung klinischer Abhandlungen über Pathologie uml Therapie der Stoff¬
wechsel- und Ernährungsstörungen. Herausgegeben von Prot’. Dr. K a r 1
v. Noorden. 1. lieft.
Berlin 1 900, Hirsch w aid.
II. Die Fettsucht.
Von Prof. Dr. K. v. Noorden in Frankfurt a. M.
Nothnagel’a Specielle Pathologie und Therapie. Bd. VII, 4. Theil.
Wien 1900, Holder.
I. Das vorliegende Heft, welches einen Cyklus zwanglos er¬
scheinender »Aufsätze über praktisch wichtige Fragen aus dem
Gebiete der Stoffwechsel- und Ernährungsstörungen« aus der Feder
des Verfassers, respective seiner Assistenten und Schüler eröffnet,
entnimmt seinen Inhalt v. Noorden’s Monographie über »Fett¬
sucht« (Noth n age l’s Specielle Pathologie und Therapie).
v. Noorden beantwortet in dem Heftchen zwei Hauptfragen,
die eine, wann eine Entfeltungscur bei fettleibigen, sonst gesunden
6) Mittheilungeu aus den Grenzgebieten der Mtdicin und Chirurgie.
Bd. V, lieft 3, pag. 471, besonders 475, 506.
Nr. 2?
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
627
Personen vorzunehmen ist, und die zweite, wann Enlfettungscuren
bei anderweitig ccmplicirler Fettleibigkeit (Complication mit Erkran¬
kungen des Girculationsapparates, der Nieren, der Lungen, chroni¬
schem Gelenkrheumatismus, Gicht, sonstigen Erkrankungen des Be¬
wegungsapparates, des Nervensystems, Diabetes mellitus, Lungen-
tuberculose) indicirt sind. Hervorgehoben sei, dass v. Noorden
sich vor Allem mit Nachdruck gegen das schablonenhafte Vorgehen
bei Enlfettungscuren (ausschliessliche Befolgung der Vorschriften
etwa Banting’s oder Ebstein’s etc.) wendet. Nur eine dem
Einzelkranken angepasste Curvorschrift kann am Platze sein. Er
verweist weiter darauf, wie wenig begreiflicher Weise in vielen
Fällen eine einmalige oder von Jahr zu Jahr einmal wiederholte
Badecur (Homburg, Kissingen, Marienbad etc.) zu nützen vermag,
da nach derselben der Kranke oft nur zu rasch wieder in seine
alte fehlerhafte Ernährungsweise zurückfällt; er verweist auf die
grosse Bedeutung der von geschulten Aerzten geleiteten Sanatorien,
ihren grossen erziehlichen Einfluss auf den Kranken.
v. Noorden betont, wie Entfettung auch bei Menschen des
Oefteren angezeigt ist, welche an sich nicht zu fettreich genannt
werden können, bei denen aber Fettreduction in Folge Complicativ-
erkrankung (z. B. im Circulations- oder Bewegungsapparate) vollauf
begründet ist.
Vorzügliches Augenmerk lenkt v. Noorden auf den Werth
der Fiüssigkeitsentziehung bei Enlfettungscuren, die volle Beachtung
bei complicirenden Erkrankungszuständen des Herzens und der
Niere (Schrumpfniere) verdient, zu Beginn einer Entfettungscur auch
bei nicht complicirter Fettleibigkeit durcbgeführt werden mag, sonst
aber keine wissenschaftliche Berechtigung besitzt.
Der Verfasser wendet sich weiters gegen den Abusus, bei
Kranken mit Lungenluberculose die grösstmögliche Fetlmästung er¬
reichen zu wollen. Hier nütze maximaler Fettansatz ohne gleich¬
zeitige Muskelzunahme lange nicht, was mittlerer Fettansatz bei
gekräfligler Musculatur fruchtet. Ersterer kann sogar Schaden
stiften : aus dem Tuberculösen wird ein leistungsunfähiger Fettling
gemacht, dessen Widerstandskraft äusserst gering ist.
Noch viele ansprechende Gedanken stecken in dem kleinen
Büchlein. Gar mancher Leser wird es aber trotzdem nicht ganz
befriedigt durchblättert haben: sein bei der Lecture vielfach er¬
wachter Wunsch, zu wissen, wie v. Noorden entfettet, was er
unter schneller und langsamer Entfettungscur versteht, bleibt un¬
erfüllt. Kein Vorwurf für v. Noorden, der sich strenge, fast
möchte ich sagen zu strenge, an sein Thema gehalten hat. Wer
von den Lesern mehr wünscht, lese v. Noorden’s schöne Mono¬
graphie über Fettsucht; keine Frage bleibt ohne klärende Antwort.
*
II. Ich kenne nicht viele Bücher medicinischen Inhaltes,
welche ich mit solcher Freude und solchem Gewinne gelesen habe,
wie v. Noorden’s Monographie über die Fettsucht. In ihr spricht
allenthalben der wissenschaftlich hochstehende und hochstrebende
Forscher, der gewiegte Kliniker und Chemiker, respective Stoff¬
wechselpathologe ebenso vernehmlich und klar, wie der umsichtige
Praktiker. Nicht blos den gegenwärtigen Wissensstandpunkt von
der Lehre der Fettsucht verkündet die Arbeit, sondern sie erzählt
uns in der anschaulichsten und bestbegründeten Form, wie der
Autor persönlich über die vorliegende Erkrankung denkt und
wie seinem vielfach selbst gewonnenen Einblicke in das Wesen
der Erkrankung selbslentwickelte therapeutische Actionen entsprungen
sind, welche das gesteckte Ziel mit Sicherheit zu erreichen ver¬
mögen. Eigene reichlichste Erfahrung klingt aus jedem Satze wieder,
eigenes, selbsterrungenes, feststehendes Urtheil.
Ich möchte, wie ich glaube mit vollem Hechte, v. Noorden’s
Buch eines der allerbesten aus Noth nage l’s Sammelwerke nennen.
0 r t n e r.
Anleitung zur Zahn- und Mundpflege.
Von C. Röse.
Dritte, völlig umgeai beitete Auflage. 59 Seiten. 38 Figuren im Text.
Ladenpreis 60 Pfennige.
Jena, Gustav Fischer.
Die gesammte Heilkunde steht heutzutage im Zeichen der
Hygiene. Doch ein wichtiges Gebiet der individuellen Hygiene erfreut
sich wohl selbst bei manchen Aerzten noch nicht der Beachtung,
die ihm gebührt, die Zahn- und Mundpflege. Es wird vielfach nicht
genügend gewürdigt, in wie engem Zusammenhänge manche Krank¬
heiten, wie Blutarmuth, Nervosität, Magenbeschwerden etc. zu kranken
Zähnen stehen.
Es ist das Verdienst einiger hervorragender Zahnärzte, das
allgemeine Interesse an der Zahn- und Mundpflege geweckt und
wachgehalten zu haben. Insbesondere hat Böse im Laufe des
letzten Jahrzehntes das ganze Gebiet der Mund- und Zahnhygiene
systematischer bearbeitet. Im vorliegenden Heftchen legt der auf
anatomischem Gebiete in Folge seiner bedeutenden Untersuchungen
hochangesehene Autor einen knappen Auszug seiner zahnhygienischen
Arbeiten der Allgemeinheit vor.
R ö s e’s Brochure ist in erster Linie für das grosse Publicum
bestimmt und daher populär gehalten, und zwar im guten Sinne.
Aber auch wohl der Arzt und der Zahnarzt wird mancherlei An¬
regungen streng wissenschaftlichen Charakters darin finden; anderer¬
seits ist auch jeder gebildete Laie im Stande, der klaren Darstel¬
lung des Autors ohne Schwierigkeit zu folgen. Die 38 vorzüglichen
Abbildungen erleichtern wesentlich das Verständniss.
Einem kurzen Gapitel über den Zweck der Zähne folgt eine
Darstellung des anatomischen Baues der Mundorgane. Es folgen
übersichtlich gehaltene Abschnitte über die directen und indirecten
Ursachen der Zahnverderbniss, über Schleimhauterkrankungen, Zahn¬
stein u. s. w. Den grössten Raum nimmt der Abschnitt über künst¬
liche Zahnpflege ein. Der Autor setzt zunächst auseinander, warum die
natürlichen Mundreinigungsvorrichtungen bei den Culturmenschen
nicht mehr ausreichen, warum wir genöthigt sind, zur künstlichen
Zahnpflege unsere Zuflucht zu nehmen.
Sehr eingehend ist daher das Capitol der mechanischen
Mundpflege behandelt. Röse legt mit Recht den allergrössten
Werth auf die mechanische Reinigung der Mundhöhle und hat zu
dem Zwecke eine neue, den anatomischen Verhält¬
nissen sehr gut angepasste Zahnbürste construirt,
für deren gute und zugleich billige Herstellung aber leider noch
kein geeigneter Unternehmer gefunden werden konnte.
Die Art und Weise, wie die Zähne am besten mechanisch
frereiniat werden, ist an der Hand mehrerer Abbildungen Übersicht-
o O 7 CJ
lieh dargestellt.
Von den antiseptischen Mundwässern verlangt R ö s e in erster
Linie, dass sie unschädlich sind. »Die Wirkung der in der
Mundhöhle anwendbaren Antiseptica ist nicht so bedeutend, dass
wir ihretwegen auch nur die geringste schädliche Nebenwirkung
mit in Kauf nehmen dürften.« Weitaus die meisten der gebräuch¬
lichen Mundwässer haben irgend eine schädliche Nebenwirkung. Ent¬
weder sie sind giftig, oder sie entkalken die Zähne, oder sie ätzen
die Mundschleimhaut, wie z. B. Sublimat, Formaldehyd (Kosmin),
Seife. Als beste Mundwässer für den täglichen Gebrauch empfiehlt
Röse physiologische Kochsalzlösung und, »trotz der
damit getriebenen übermässigen Reclame«, das Handelspräparat Odol.
Ein weiterer kurzer Abschnitt ist der Mundpflege bei Schwer¬
kranken gewidmet. In dem Capitel über zahnärztliche Behandlung
sucht der Autor die Laienwelt darüber aufzuklären, welcher Art die
Behandlung sein soll, die sie bei einem gewissenhaften Zahnarzte
zu erwarten haben. Es wird aber andererseits auch eindringlich
darauf hingewiesen, dass das Publicum in Folge von mangelhafter
Selbstzucht geradezu darauf hinarbeitet, die Pfuscherei auf zahn¬
ärztlichem Gebiete gross zu ziehen.
Im sechsten Abschnitte wird angedeutet, wie durch zweck¬
mässige Ernährung im jugendlichen Alter der histologische Bau
der Zähne verbessert werden kann. »Das beste Beförderungsmittel
für einen guten Zahnbau des Kindes ist und bleibt die natürliche
Muttermilch«.
Nach Einschaltung von zehn Grundregeln der Zahn- und
Mundpflege folgt ein Schlusscapitel, in dem die staatlichen und
städtischen Behörden, sowie die private Wohlthätigkeit auf die
Nothwendigkeit der Zahnbehandlung bei armen Kindern hinge-
wiesen wird.
Der dem Gemeinwohle dienenden und in Rücksicht auf die
erstrebte ausgedehnte Wirkung überaus billig abgegebenen und
trotzdem buchhändlerisch sehr gut ausgestatteten Schrift ist die
weiteste Verbreitung zu wünschen, weshalb den Herren Aerzten die
Weiterempfehlung an das Publicum ans Herz gelegt sei.
W. R o u x.
628
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 2?
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
220. (Aus dem Laboratorium der niederösterreichischen
Landes-Irrenanstalt in Wien.) Beitrag zur Lehre von der
sensorischen Aphasie nebst Bemerkungen über
die Symptomatik doppelseitiger Schläfelappen¬
erkrankung. Von Dr. E. Bi sch off. Bi sch off beschreibt
zwei Fälle, in deren ersterem anatomisch Atrophie beider Schläfe¬
lappen (links stärker als rechts), klinisch transcorticale Wort¬
taubheit vorhanden war, diese jedoch nicht rein, indem das Wort-
verständniss nicht erloschen, sondern nur schwer gestört war und
das Nachsprechen eine Störung leichten Grades anfwies. Im
zweiten Falle bestand eine Läsion, die sich auf einen Tlieil der
Ilörstrahlung, auf nahezu das ganze Mark der Insel und die
dritte llinterhauptswindung links, den Grund der zweiten Schläfen¬
furche und den Lohns lingualis rechts bezog. Hier bestand ein
ähnliches Krankheitsbild, doch war hier das Wortverständniss er¬
loschen. Patient zeigte herabgesetzte Aufmerksamkeit für akustische
und optische Eindrücke, ohne dass grobe Hör- und Sehstörungen
bestanden hätten. Im Anhänge wird noch ein Fall doppelseitiger
Schläfelappenatrophie mitgetheilt, der sich jedoch in Folge vor¬
handener Complicationen klinisch anders äusserte, als die obigen
Fälle. Bisch off kommt zu dem Schlüsse, dass sich bei doppel¬
seitiger Schläfelappenerkrankung bald »transcorticale« Worttaubheit,
das Anzeichen partieller Läsion des acustisehen Sp rachcentrums
oder seiner associativen Verbindungen, bald »subcorticale« (reine)
Worttaubheit findet, bald fehlt es völlig an Anhaltspunkten zur
Annahme einer sensorischen Sprachstörung. — (Archiv für Psy¬
chiatrie. Bd. XXXIf, Heft 3.) S. J
*
221. Ueber chronischen Gelenkrheumatismus
und Arthritis deformans im Kindesalter. Von
Prof. Johan nessen (Christiania). Die drei ausführlich beschrie¬
benen, mit Photographie und Röntgenogrammen belegten Fälle, be¬
trafen Kinder im Alter von vier, fünf und neun Jahren. — (Zeit¬
schrift für klinische Medicin. Bd. XXXIX, Heft 3 und 4.) Pi.
•ft
222. lieber einen Fall genuiner Epilepsie mit
sich daran anschliessender Dementia paralytica.
Von Dr. 0. Wattenberg in Lübeck. In dem von Watten¬
berg mitgetheilten Falle finden sich tliessende Uebergangs-
erscheinungen von genuiner Epilepsie zur progressiven Paralyse.
Weder Trauma, noch Potus oder Lues können in diesem Falle als
ursächliche oder auslösende Momente augenommen werden, so dass
ein pathogenetischer Zusammenhang zwischen Epilepsie und pro¬
gressiver Paralyse nicht von der Hand zu weisen ist. Der Fall
beweist, dass die genuine Epilepsie der progressiven Paralyse
vorangehen und fiiessend in sie übergehen kann, dass ferner
letztere nicht an vorausgegangene Lues gebunden ist., und legt die
Vermuthung nahe, dass es sich bei der genuinen Epilepsie und bei
der progressiven Paralyse um pathogenetisch nahe verwandle Stoff¬
wechselerkrankungen handle, die in einem ab origine dazu dis-
ponirlen Körper auftreten. S.
*
223. Ueber die Aufnahme und Ausscheidung
des Eisens der Eisensomatose im thierischen Or¬
ganismus. Von Dr. Nathan (Eberfeld). Bei mehrtägiger Ver-
fülterung von Eisensomatose an Mäuse konnte durch mikroskopische
Untersuchung fesfgeslelll werden, dass eine sehr starke Eisen¬
resorption im Dünndarme statlfindet. Das von den Zotten auf¬
genommene Eisen wird durch deren Centralcanal dem Lymphgefäss-
svstem zugeführt. Im Dickdarme wurde eine deutliche Eisenaus¬
scheidung durch die Leukocyten beobachtet. Die in der Praxis
constatirten klinischen Erfolge der Eisensomatose, über welche
auch in diesen Blättern (Nr. 10, 1898) schon berichtet worden
ist. scheinen demnach nicht blos der appetitanregenden Wirkung
der Somatose, sondern der Eisenresorption zuzuschreiben sein.
(Deutsche medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 8.)
*
224. Bacteriologische Untersuchungen über
den Keim ge halt und die Sterilisirbarkeit der
Bürste n. Von Prof. W i n t e r n i t z (Tübingen). Gegenüber
Schleich, welcher die Bürsten als Universallabyrinth für Schmutz
und Schmieren bezeichnet, das auf keine Weise sicher sterilisirl
werden kann, stellt Winternitz fest, dass es möglich ist, eine
Bürste, auch wenn sie infieirt ist, durch zehn Minuten langes Aus¬
kochen in einer l°/0igen Sodalösung keimfrei zu machen, was die
Bürsten beliebig lange Zeit aushalten können. Hiebei ist jedoch
vorauszusetzen, dass keine Keime in ihnen Vorkommen, die durch
so langes Kochen überhaupt nicht abgelödlet werden können, was
unter gewöhnlichen Verhältnissen kaum der Fall ist. Ausgekochte
Bürsten bleiben in l°/oo Sublimat aufbewahrt, steril. — (Berliner
klinische Wochenschrift. 1900, Nr. 9.)
*
225. Zur Gasuisik der Sehnenzerrciss ungen.
Von O. Vulpius (Heidelberg!. Von sieben in den letzten drei
Jahren beobachteten Fällen bieten einige ein ganz besonderes In¬
teresse. Ein Fall betrifft den Abriss der langen Sehne des Biceps
oberhalb des Muskelbauches. Die Verletzung war ohne bekannte
Ursache entstanden und hat keine functionelle Störung hinterlassen.
Eine weitere Beobachtung betraf einen Riss des Latissimus dorsi,
der bei einer Hebung (Kippe) am Barren entstanden war. Auch
hier hatte der Unfall keine nennenswerthe Störung zur Folge ge¬
habt, In einem dritten Falle war die Quadricepssehne am oberen
Rande der Patella anlässlich eines unbedeutenden Fehltrittes ein¬
gerissen und fünf Jahre später war dasselbe am anderen Fusse
beim ruhigen Gehen auf glattem Boden geschehen. Die Unter¬
suchung ergab eine sehr erhebliche fettige Degeneration der Sehne
bei einem Individuum, welches seine Beinmusculatur jahrelang
ausserordentlich anzustrengen bemüssigt war. Die ausgeführte
Sehnennaht hat vollständig gehalten und die Function wieder zu
einer normalen gemacht. In einem weiteren Falle war die Abreissung
des Ligamentum patellae proprium sammt der Tuberositas tibiae
durch ein den Knochen substituirendes myelogenes Riesenzellen¬
sarkom bedingt worden. — (Münchener medicinische Wochenschrift.
1900, Nr. 17.)
*
220. Ueber die Transplantation d e s N e t z e s auf
Blasen defect e. Von Prof. E n d e r 1 e n (Marburg). Eine Reihe
von Thierexperimenten ergab, dass es möglich sei, Blasen-
defecte mit Netz zu decken. Das Blasenepithel überzieht in kurzer
Zeit das Iransplantirte Stück, welches selber aber der Schrumpfung
anheimfällt. Mehrfache Ueberlegungen aber ergeben, dass diese Me¬
thode, einen Blasendefect. zu decken, nur in sehr wenigen Fällen in
Erwägung gezogen werden könnte. — (Deutsche Zeitschrift für
Chirurgie. Bd. LV.) Pi.
*
227. Aus der psychiatrischen Klinik zu Tübingen (Professor
S i e m e r 1 i n g). Beitrag zur K e n n l n i s s der acut ent¬
standenen Psychosen und der katatonischen Zu¬
stände. Von Dr. E. Meyer, Assistenzarzt. Meyer hat in der
vorliegenden Arbeit aus dem Material der Tübinger Klinik eine
grössere Zahl acut entstandener Psychosen (mit Ausnahme von
Manie und Melancholie) zusammengestellt und hiebei, was sich
durch die Häufigkeit der sogenannten katatonischen Erscheinungen
im Verlaufe acut entstandener Psychosen erklärt, diesen Erschei¬
nungen seine Aufmerksamkeit zugewendet. Um die Bedeutung der
letzteren besser würdigen zu können, finden sieb in der Arbeit
auch Fälle, die strenge genommen nicht zu den acut entstandenen
gehören. Unter katatonischen Erscheinungen versteht Meyer
Stupor verschiedenen Grades, stereotype Haltungen und Bewegungen.
Flexibilitas cerea und verwandte Erscheinungen. Er bespricht vor¬
wiegend die stuporösen Zustände. Unter Stupor versteht er die
durch psychische Störungen bedingte mehr oder weniger hoch¬
gradige Bewegungungs- und Regungslosigkeit auf psychischem, wie
motorischem Gebiete. In manchen Fällen sind die stereotypen Be¬
wegungen, Haltungen, Manieren, Tics durch bestimmte Empfindungen
und Vorstellungen hervorgerufen, wie sich auch der Negativismus
in seinen verschiedenen Ausdrucksformen, die sogenannte Befehls-
automatie und verwandle Erscheinungen ohne primäre Störung der
Willensantriebe blos mit dem Bewusstseinsinhalte in Einklang
bringen lassen. In anderen Fällen dürfte eine Störung des Wollens
mit sehr früh einsetzender geistiger Schwäche die Grundlage der
gesummten oben angeführten Erscheinungen sein. Acut entstandene
Nr. 27
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
629
Psychosen mit katatonischen Erscheinungen verlaufen relativ un¬
günstiger als die ohne solche, kommen jedoch zu weitgehender
Besserung, respective Wiederherstellung. Die ungünstig verlaufenden
dieser Fälle von den günstig endenden auf Grund gewisser Grund¬
züge zu trennen, erscheint Meyer nicht möglich. Bezüglich der
weiteren Ausführungen der umfangreichen Arbeit, muss auf das
Original verwiesen werden. — (Archiv für Psychiatrie. Bd. XXXII,
Heft 3.) S.
*
228. In der Freien Vereinigung der Chirurgen Berlins konnte
Langenbuch das Präparat eines ausserordentlich er¬
weiterten Ductus choledoch us vorweisen. Dasselbe
stammte von einer Frau, bei welcher regelrecht die Cholecyslomie
ausgeführt worden war. Bei der Section stellte es sich heraus, dass
nicht die Gallenblase, sondern der Choledochus eröffnet worden
war, dessen Verschluss und Erweiterung ein Darmcareinom
bedingt hatte. — (Deutsche medicinische Wochenschrift. 1900,
Nr. 10.)
229. Spontane Aufsaugung seniler S t a a r e in
geschlossener Kapsel. Von Prof. v. Reuss (Wien). Autor
beobachtete abermals einen Fall, in welchem eine Kapselkatarakt
bestanden, welche bis auf kleine Reste resorbirt worden war, ohne
dass eine Verletzung der Linsenkapsel vorausgegangen wäre. Viel¬
leicht besteht ein Zusammenhang zwischen dieser Linsenresorption
und einem Glaukomanfall, der ein Jahr zuvor aufgetreten war. Von
den 34 bis jetzt bekannt gewordenen Fällen spontan verschwin¬
dender Staare (darunter zwei Eigenbeobachtungen von Professor
v. Reuss) waren 15 theils durch Glaukom, theils mit Er¬
krankungen der Iris und des übrigen Uvealtractus complicirt ge¬
wesen. — (Centralblatt für praktische Augenheilkunde. Februar 1900.)
*
230. (Aus der chirurgischen Klinik des Prof. Kocher in
Bern.) Eine Methode früher Radicaloperation bei
Perityphlitis. Von A. Kocher. Zuerst wird die Eröffnung
des Abscesses ausgeführt, die Abscesshöhlc ausgespült, eventuell
mit Lysol desinficirt; die Entfernung des Appendix wird erst am
nächsten oder zweitnächsten Tage vorgenommen. Die Abscesshöhle
wird mit Jodoformgaze tamponirt und für die Dauer der folgenden
Operation provisorisch vernäht, die Nahtlinie mit sterilem Tuch
bedeckt. Hierauf erst wird die Haut gereinigt, am Rectusrand
schräg incidirt, das Peritoneum eröffnet und auf den Wurmfortsatz
vorgedrungen. Die Hautwunde wird erst am zweiten Tage secundär
geschlossen. — (Correspondenzblatt für Schweizer Aerzte. 1900, Nr. 8.)
*
231. (Aus der medicinischen Klinik des Prof. M a r a g 1 i a n o
in Genua.) lieber den pyogenen Ursprung der Chorea
rheumatic a und der rheumatischen Process e. Von
Prof. Mircoli. Anlässlich einer Controverse über den ätiologischen
Zusammenhang zwischen Chorea und polyarticulärem Gelenk¬
rheumatismus betont Mircoli, dass nach seiner Ueberzeugung
beide genannten Krankheiten durch Staphylococcen, beziehungs¬
weise Streptococcen bedingt, demnach pyogener Natur und als ab¬
geschwächte Pyämie aufzufassen sind. Die Gelenkserscheinungen
sind zwar bei der einen Erkrankungsform das auffälligste Symptom,
aber weit mehr fällt ins Gewicht, dass auch ebenso gut die inneren
Organe, vor Allem das Herz aber auch Nieren und Gehirn von der
Infection betroffen sein können. - — - (Berliner klinische Wochen¬
schrift. 1900, Nr. 14.)
*
232. Bemerkungen über den üblen Geruch aus
dem Munde. Von B. Fraenkel (Berlin). Zunächst ist festzu¬
stellen, dass wirklich der Mund und nicht die Nase die Quelle des
Geruches ist ; zu diesem Zwecke wird die Nase fest zugehalten
und der Mundathem auf den Geruch hin geprüft. Welche Stelle
im Munde für den Fötor verantwortlich zu machen ist, erfährt
man, wenn man die verdächtigen Stellen mit Watte betupft und
diese dann beriecht. Die häufigte Ursache sind cariöse Zähne,
dann folgen die Tonsillen mit den Pröpfen und käsigen Abscessen
in ihnen, in welchem Falle Abtragung der Mandeln, Incision, be¬
ziehungsweise Behandlung mit Lugol’scher Lösung in Frage
kommt. In dritter Linie zählt die Plica tonsillaris und der Recess us
tonsillaris zu denen, wo sich nicht selten sich zersetzendes Secret
befindet. Lassen sich die genannten Orte nicht als die Quelle des
üblen Geruches feststellen, sind ferner Oesophagus und dietieferen Re-
spirationenswege auszuschalten, dann ist das Secret der ganzen
Schleimhaut als in stinkender Zersetzung begriffen, anzusehen; in
diesem Falle sind Spülungen mit Desodorantien am Platze. In
manchen Fällen hat blos der Kranke das Gefühl, dass seine Athmungs-
luft übel rieche, während objectiv davon nichts wahrzunehmen ist,
ein Zustand, der manchmal als erstes Krankheitssymptom einer
Hypochondrie oder Paranoia auftritt. — (Archiv für Laryngologie
und Rhinologie. Bd. X, Heft 1.)
*
233. Sollen lungenkranke Aerz te Schiffsdienst
nehmen? Von Dr. Freund (Prag). Die Gepflogenheit junger
Aerzte, sobald sie an sich die Spuren einer Lungenerkrankung be¬
merken, als Schiffsärzle zu dienen, hat schon oft zu Missgriffen ge¬
führt. Dieser Dienst ist entschieden zu widerrathen, wenn die
Phthise bereits vorgeschritten ist; leichte Grade derselben und
chronischer Bronchialkatarrh könnten günstig beeinflusst werden,
wenn gewisse im Original näher geschilderte, ungünstige Fahrten
vermieden werden könnten. Das ist bei dem Dienste eines Schiffs¬
arztes nicht leicht möglich, und so kann es geschehen, dass der
der Schonung und Erholung bedürftige brustkranke Schiffsarzt oft
Reisen mitmachen muss, von denen selbst der Robuste geschwächt
und meist mit starkem Körpergewichtsverluste zurückkehrt. -
(Zeitschrift für diätetische und physikalische Therapie. Bd. IV,
Heft 1.)
234. Die klinische Bedeutung und experimen¬
telle Erzeugung körniger Degenerationen in den
r o t h e n Blutkörperchen. Von Prof. G r a w i t z (Charlotten-
burg). ln neuerer Zeit ist über das Auftreten basophiler Körnchen
in den rothen Blutkörperchen berichtet worden, welche von
Grawitz nicht als Zerfallsproducte des Kernes der Erythrocyten,
sondern als degenerative Erscheinungen in Folge der Einwirkung
von Blutgiften gedeutet werden. Sie wurden in reichlicher
Weise bei pernieiöser Anämie, Krebskranken, Leukämie, Bleiver¬
giftung, nicht aber, was unter Umständen diagnostisch wichtig sein
könnte, bei Chlorose, Lungentuberculose, Syphilis, parenchymatöser
Nephritis und Schrumpfniere gefunden. Sie bilden manchmal ein
frühzeitiges Symptom beginnender Blutarmuth. - — (Berliner klinische
Wochenschrift. 1900, Nr. 9.)
*
235. (Aus dem städtischen Krankenhause in Kiel.) Ueber
die Glykosurio der Vaganten. Von G. II o p p e - S e y 1 e r.
Es wurde bei Leuten Glykosurie beobachtet, welche längere Zeit
ein unstetes unregelmässiges Leben geführt, und dabei häufig wohl
auf schlecht zubereitete, ungenügende, schwer verdauliche Nahrung
angewiesen waren, sowie sich verschiedenen Schädlichkeiten aus¬
zusetzen gezwungen waren. In den beobachteten Fällen war allen
gemeinsam: Glykosurie bei der Aufnahme ins Spital, rasches Ver¬
schwinden derselben bei gemischter, kohlehydratreicher Kost, ferner
dass dieselbe auch dann nicht wieder auftrat, wenn Traubenzucker
(100 — 200 g) nüchtern gegeben wurden. Diese Glykosurie konnte
weder auf Störungen in der Medulla, noch auf latenten Diabetes
zurückgeführt werden, dagegen lag es nahe, Störungen im Bereiche
der Verdauungsorgane, der Leber, des Pankreas, überhaupt die
Unterernährung des Körpers mit ihren Folgen zur Vaganten-Glyko-
surie in ursächlichen Zusammenhang zu bringen. — (Münchener
medicinische Wochenscheift. 1900, Nr. IG.)
*
236. Auf Grund der Erfahrungen, die Prof. Robson bei
den von ihm operirten 34 Fällen von Magengeschwür zu
machen Gelegenheit hatte, sowie nach Allem, was bis jetzt darüber
bekannt geworden ist, ist es besser, die Fälle mit acuter Hiimorrhagie
(64'2% Mortalität bei der operativen Behandlung) der internen
Medication zuzuweisen (5 — 10%); bei chronischen Blutungen je¬
doch und bei Silz des Geschwüres am Pylorus wird die Gastro¬
enterostomie nach allen Richtungen hin die Beschwerden beheben.
— (Brit. med. Journ. 10. März 1900-)
*
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 2?
630
21-57. Dr. Stoen berichtet über eine 33jährige Frau, welche,
während sie an einer Diphtherie krank lag, von einem Kinde ent¬
bunden wurde, nachdem sie zwei Inge vorher loOO Antitoxin¬
einheilen injicirt erhalten hatte. Als das Kind vier Tage alt war,
wurde bei demselben ebenfalls Diphtherie constatirt, worauf es
zuerst 350 und am folgenden Tage 1000 Einheiten eingespritzt
erhielt. Es wurden keinerlei üble Nebenwirkungen beobachtet. —
(Brif. med. Journ. 10. März 1000.)
*
238. Dr. Bärri (Jonen) erwähnt einen Fall, in welchem eine
5 cm lange, mit einem erbsengrossen Kopfe versehene Nadel in
die Luftröhre aspirirt und daselbst einen Monat später mittelst
R ön tg e n - Strahlen feslgestellt wurde; zwei Monate darauf wurde
die Fnlfernung der bereits in den linken Hauptbronchus einge-
wanderlen Nadel jedoch vergeblich versucht, obwohl deren nach
oben gerichtete Spitze nach vorausgeschickter Tracheotomia inferior
gefasst werden konnte; angeblich war der Knopf im Bronchus fest-
gewachsen. Tod darauf durch eine Pneumonie. — (Correspondenzblatt
für Schweizer Aerzle. 1900, Nr. 7.)
*
239. (Aus der medicinischen Klinik von Prof. v. Leyden
zu Berlin.) lieber Sidonal (chinasaures Piperazin).
Von Blumenthal und Lew in. Was einzig und allein bis jetzt
in der Pathologie der Gicht unbestritten dasteht, sind die Ab¬
lagerungen von Harnsäure. Gegen diese hat sich zumeist auch in
medicamentöser Hinsicht das therapeutische Handeln gerichtet.
Durch Versuche konnte an der Ley de n'schen Klinik festgestellt
werden, dass das Sidonal, beziehungsweise die Chinasäure die in¬
teressante Eigenschaft besitzt, bei Darreichung von täglich etwa
zehnmal 0‘5 die Bildung der Harnsäure im Organismus zu hemmen
und dafür Hippursäure zu bilden. Ein günstiger Einfluss dos
Sidonal s auf die harnsaure Diathese ist schon von mehreren
Seiten berichtet worden. — (Die Therapie der Gegenwart. 1900,
Nr. 4.) _
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Ernannt: Dr. Cullen und Dr. Kussel zu Professoren
der Gynäkologie an der John II o p k i n s- Universität zu Baltimore;
Dr. Roncoroni zum a. o. Professor der Psychiatrie in Cagliari,
Dr. Calmette zum Professor der Hygiene und Bacteriologie in
Lille, Dr. Bose zum Professor der pathologischen Anatomie in
Montpellier.
*
Verliehen: Dem Stabsarzte Dr. F ranz Ebert in Ragusa
der Oberstabsarztens-Charakter ad honores und das Ritterkreuz des
Franz Joseph-Ordens. — Dem praktischen Arzte Dr. August Som¬
mer in Franzensbad das Ritterkreuz des Franz Joseph-Ordens. —
Hofrath Prof. Rudolf Chrobak in Wien das Comthurkreuz II. CI.
des königlich sächsischen Albrechts-Ordens. — Dem praktischen Arzte
Dr. Wilhelm L i e b 1 e i n in Graz der königlich preussische Rothe
Adler-Orden IV. CI.
*
Habil itirt: Der Privatdocent Dr. Tchermak in Leipzig
für Physiologie in Halle. — Die Doctoren : Patel lani für Geburts¬
hilfe und Gynäkologie und Codi villa für Chirurgie in Bologna,
Secchi für Dermatologie und Syphilidologie in Cagliari, Jamma
für Pädiatrie in Genua, Gangitano für chirurgische Pathologie in
Messina, Graziani für medicinische Pathologie in Neapel, A r s 1 a n
für Laryngologie in Padua und For tu na to für Ophthalmologie in
Palermo.
*
Gestorben: Privatdocent Dr. Hofmann in Halle und der
Professor für die Krankheiten der Harn- und Geschlechtsorgane in
New York, F. N. Otis.
*
Dr. Arthur Schiff, gewesener Assistent der III. medicini¬
schen Klinik, wohnt vom 1. Juli 1900 an: IX., Wasagasse 4
(Ecke Kolingasse).
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 24. Jahreswoche (vom 10. Juni
bis 16. Juni 1900). Lebend geboren: ehelich 620, unehelich 296, zusammen
916. Todt geboren: ehelich 30, unehelich 27, zusammen 57. Gesammtzahl
der Todesfälle 680 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
2P3 Todesfälle), darunter an Tuberculose 125, Blattern 0, Masern 21,
Scharlach 1, Diphtherie und Croup 2, Pertussis 4, Typhus abdominalis 3,
Typbus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 2, Neu¬
bildungen 45. Angezeigte Infectionskrankbeiten : Blattern 1 (-(-1), Varicellen
42 ( — 8), Masern 253 ( — 44), Scharlach 29 ( — 16), Typhus abdominalis
8 ( — 11), Typbus exanthematicus 0 (=), Erysipel 29 (-f- 7), Croup und
Diphtherie 19 ( — 8), Pertussis 45 ( — 4), Dysenterie 0 (=), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 3 (-j- 1), Trachom 1 ( — 4), Influenza 0 (=)■
Bei der Redaction eingelangte Bücher.
(Mit Vorbehalt weiterer Besprechung.)
Ebstein und Schwalbe, Handbuch der praktischen Medicin. Lieferung
14 — 22. Enke, Stuttgart.
Pciper, Fliegenlarven als gelegentliche Parasiten des Menschen. Marcus,
Berlin. 76 S.
Joseph und Loewenbacll, Dermato-histologisehe Technik. Ibidem. 2. Auf¬
lage. Preis M. 3. — .
Schütz und Huppert, Ueber einige quantitative Verhältnisse bei der
Pepsinverdaunng. Separatabdruck aus dem Archive für die gesummte
Physiologie.
Gerhardt, Lehrbuch der Auscultaiion und Percussion. 6. Auflage. Laupp,
Tübingen. 381 S.
Rotter, Die typischen Operationen. 6. Auflage. Lehmann München. Preis
M. 8.— .
Neustiitter, Schattenprobe. Ibidem. Preis M. 1.20.
Annnann, Die Begutachtung der Erwerbsfähigkeit nach Unfall Verletzungen
des Sehorganes. Ibidem. Preis M. 2. — .
Hertoghe, Die Rolle der Schilddrüse. Deutsch von Spiegelberg.
Ibidem. Preis M. 2, — .
II aab, Atlas und Grundriss der Ophthalmoskopie. 3. Auflage. Ibidem.
Preis M. 10. — .
Leser, D e specielle Chirurgie in 60 Vorlesungen. Fischer, Jena. 4. Auflage.
Preis M. 20. — .
Friedmann. Die Pflege und Ernährung des Säuglings. Bergmann, Wies¬
baden. Preis M. 2. — .
Pollatscliek, Die therapeutischen Leistungen des Jahres 1899. Ibidem.
Preis M. 8.—.
Pfeiffer, Verhandlungen der 16. Vei Sammlung der Gesellschaft für Kinder¬
heilkunde. Preis M. 8. — .
Krautz. Diagnose und Therapie der nervö.-en Frauenkrankheiten in Folge
gestörter Mechanik der Sexualorgane. Ibidem. Preis M. 2.80.
Obersteiner, Functionelle und organische Nervenkrankheiten. Ibidem.
Preis M. 1. — .
MöbillS, Ueber Entartung. Ibidem. Preis M. 1. — .
Pflüger, Die operative Beseitigung der durchsichtigen Linse. Ibidem. Preis
M. 7.60.
Brascll, Die anorganischen Salze im menschlichen Organismus. Ibidem.
Preis M. 2.40.
Franke, Der Pemphigus und die essentielle Schrumpfung der Bindehaut
des Auges. Ibidem. Preis M. 3.60.
David, Grundriss der orthopädischen Chirurgie. Karger, Betliu. Preis
M. 4.60.
Kalischer, Die Urogenitalmusculatur des Dammes. Ibidem. Preis
M. 13.40.
Niessen, Beiträge zur Sypliilisforschung. Selbstverlag.
Arbeiten aus dem neurologischen Institute der Wiener Universität.
Herausgegeben von Prof. Obersteiner. 7. Heft. Danticke, Wien.
316 S.
Neuburger, Die Anschauungen über den Mechanismus der specifischen
Ernährung. Ibidem. 105 S.
Bottazzi, Physiologische Chemie. 1. Lieferung. Deutsch von Boruttau.
Ibidem.
Benda, Intermittirende Gelenkwassersucht. Coblentz, Berlin. Preis M. 2. — .
Ziehen. Leitfaden der physiologischen Psychologie. 5. Auflage. Fischer,
Jena, 267 S.
Marcuse, Die Hydrotherapie im Alterthume. Enke, Stuttgart. Preis
M. 2. — .
Baginsky und Janke, Handbuch der Schulhygiene. 3. Auflage. II. Bd.
Ibidem. Preis M. 10. — .
Bergmann, Bruns und Mikulicz, Handbuch der praktischen Chirurgie.
Lieferung 11 — 15. Ibidem.
Freie Ktelleu.
Zur Wiederbesetzung der erledigten Stelle eines Secundararzte»
der Landes-Irrenanstalt Valduna bei R a n k w e i 1 in Vor¬
arlberg wird hiemit die Bewerbung ausgeschrieben und liiefür ein Fach¬
mann gefordert, der in der Anstalt zu wohnen hat. Der Jahresgehalt beti ägt
2000 K und wird in monatlichen Anticipandoraten ausbezahlf. Gleichzeitig
stehen dem Secundararzte eine Wohnung und freie Station zur Verfügung.
Im Uebrigen wird sich auf die bestehenden Statuten und die Instruct ion berufen
und nur noch bemerkt, dass dem Secundararzte jederzeit ein sechsmonat¬
liches Kündigungsrecht zusteht. Bewerber um diese Stelle haben ihre Gesuche
mit den ärztlichen und chirurgischen Diplomen, den Belegen über Alter,
Stand, Sprachenkenntnisse und bisherige Verwendung, insbesondere über ihre
bisherige Dienstleis’ung in Ii ren Anstalten h i s 31. J u 1 i d. J. heim gefertigten
Landesausschusse zu überreichen.
Bregen z, am 13. Juni 1900.
Für den Landesausschuss in Vorarlberg der Landeshauptmann:
Adolf Rhomberg.
Nr. 27
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
631
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Oongressberichte.
INHALT:
Greifswaldei* medicinisclier Verein. Sitzung vom 10. Mürz und 5. Mai 1900.
Verhandlungen des Physiologischen Clubs zu Wien. Sitzung vom
12. Juni 1900.
Wiener laryngologische Gesellschaft. Sitzung vom 7. Juni 1900.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in München
Vom 17. — 22. September 1899. (Fortsetzung.)
Greifswalder medicinischer Verein.
Sitzung vom 10. März 1900.
Vorsitzender: Landois.
Schriftführer: Russe.
I. R i e c k spricht über eine neue, in der M a r t i n’schen
Klinik angewandte Methode von Nabel Versorgung bei Neugeborenen.
Die Nabelschnur wird dicht am Nabelring mit einem Seidenfaden
unterbunden und etwas oberhalb der Ligatur mit einer glühend ge¬
machten Brennscheere abgebrannt. Der Vortheil besteht in der Her¬
stellung eines sehr kleinen trockenen Nabelsclinurstumpfes, in einer
Verkürzung des Heilungsproeesses auf drei bis vier Tage und Herab¬
setzung der Infectionsgefahr. Die bisher an 52 so behandelten Fällen
gewonnenen Erfahrungen werden mifgetheilt und 10 Säuglinge aus
den verschiedensten Stadien der Nabelheilung demonstrirt.
II. A . Martin demonstrirt eine Frau, an welcher er vor neun
Tagen aus relativer Indication den Kaiserschnitt ausgeführt hat. Es
handelt sich dabei um eine 36jährige Primipara, bei der am Ende des
nennten Schwangerschaftsmonates ohne Prodromalerscheinungen Eklamp¬
sie eintrat. Es bestand Orthopnoe und hochgradige Nephritis, ln An¬
betracht der rapiden Verschlechterung des Allgemeinbefindens schien
die Entbindung dringend geboten, und diese wurde durch den Kaiser¬
schnitt nach F r i t s c h ausgeführt. Das Koma ist erst am vierten Tage
ganz geschwunden. Die Heilung verläuft glatt.
III. Bier demonstrirt einen Empyemkranken, der nach
dem von Delorme angegebenen Verfahren operirt und
ohne seitliche Verkrümmungen geheilt ist.
IV. Löffler gibt einen erschöpfenden zusammenfassenden
Bericht über den Stand der Malariaforschung und besonders
die durch die K o c h’schen Untersuchungen gewonnenen Fortschritte.
*
Sitzung vom 5. Mai 1900.
Vorsitzender: Landois.
Schriftführer: Busse.
I. Busse: Ueber die Geschwülste der grossen Harnwege:
Busse gibt unter Demonstration von zahlreichen Präparaten eine
Uebersicht über die Gestalt, den histologischen Bau und das Vor¬
kommen von Geschwülsten in den grossen Harnwegen und betont be¬
sonders, dass aus der Gestalt und Structur der Zotten kein Rück¬
schluss auf den Bau und die Gutartigkeit der Geschwülste gemacht
werden könne. Die Zotten zeigen bei Sarkomen, Carcinomen und Fi¬
bromen gewöhnlich ganz gleiches Aussehen, entscheidend ist die Unter¬
suchung des Geschwulstbodens. Zwei ganz besonders interessante Fälle
von Geschwulstentwicklung in den grossen Harnwegen geben Veran¬
lassung zu diesem Vortrag.
Es handelt sich bei beiden Fällen um Männer von etwa 55 Jahren,
bei denen die ersten Symptome der Erkrankung 20, bezüglich 7 Jahre
zurüekzuverfolgeu sind. Die periodisch auftretenden Blutbeimengungen
des Urins nahmen in den letzten Jahren zu, Druckbeschwerden in der
rechten, im anderen Falle in der linken Nierengegend führten sie ins
Krankenhaus. Hier wurde dann in beiden Fällen ein mächtiger Tumor
festgestellt, der sich bei der Exstirpation als riesenhafte Hydronephrose
auswies. Die Innenfläche des ungeheuer erweiterten und stark ver¬
dickten Nierenbeckens war mit zahllosen papillären Erhebungen besetzt
und als die Patienten einige Zeit (vier Wochen in einem, fünf Monate
im anderen Fall) nach der Operation starben, zeigte sich in beiden
Fällen auch der ganze Ureter mit Zottengeschwülsten angefüllt und
ebenso ein Theil der Blase, und zwar war in dem einen Fall die Er¬
krankung auf die rechte Hälfte beschränkt, so dass also Nierenbecken,
Harnleiter der einen Seite und der zugehörige Theil der Harnblase
von grossen, aber gutartigen Zottengewächsen eingenommen waren.
In dem anderen Falle waren die Geschwülste im linken Nierenbecken
und Harnleiter auch gutartig, in der Blase dagegen fand sich Krebs¬
infiltration der Wand. Hier war auch die Geschwulstentwicklung nicht
auf eine Hälfte beschränkt, sondern hatte den grössten Theil der Harn¬
blase ergriffen. Eine derartige Gesell wulstentartung der gesammten
grossen Harnwege auf einer Seite ist durchaus ungewöhnlich.
II. S o 1 g e r spricht über den Schenkelsporn
(Merkel) und die Involution der Spongiosa des
Femurhalses. Er sieht in dem Schenkelsporn ein Stück der
hinteren Wand des Halses des Femur, das beim Längenwachsthum in
das Innere des Schaftes aufgenommen wurde. Die Involution der
Spongiosa beginnt in der Regel in dem ventral vom Sporn gelegenen
Spongiosagebiet im Bereiche des schon bei jüngeren Individuen durch
zarte Knochenbälkchen ausgezeichneten W a r d’schen Dreiecks, die
aber mit dem Verlaufe von Druck- und Zugcurven zusammenfallen.
Die Communication dieser Resorptionslücke mit der Markhöhle der
Diaphyse ist eine secundäre Erscheinung. Die Krahuentheorie des
Femurhalses ist, wie kürzlich, auf andere Gründe gestützt auch
E. Albert hervorhob, nicht mehr aufrecht zu erhalten. Der Vortrag
wird in den „Anatomischen Heften*1 erscheinen.
III. Grawitz: Ueber Regeneration derKehlkopf-
s c h 1 e i in h a u t. Bei einem dreijährigen Mädchen war nach derCricotomie
ein grösserer Defect im Kehlkopf entstanden, der durch Einpflanzen von
einem Knorpelknochenstückchen aus dem Brustbein durch Herrn Professor
Bier gedeckt wurde. Bei dem etwa sechs Wochen nach der Plastik er¬
folgenden Tode fand sich zwischen den beiden Schenkeln des vorne aus-
einandersteheuden Ringknorpels ein 6 — 10 mm breites Stückchen derbes
Narbengewebe, in dem noch Reste des implantirten Knorpels zu er¬
kennen sind. Innen ist das NarbeDgewebe mit einer meist nur ein¬
fachen Lage cubischer Epithelien bedeckt, von der eine Anlage neuer
Schleimdrüsen ausgeht. Es tritt von Strecke zu Strecke unter dem
Epithel durch Zellenwucherung eine Auflockerung des derben Binde¬
gewebes ein. In dieses weichere Gewebe sendet das Epithel kleine
Sprossen, welche schräg nahe der Innendecke Vordringen, sich gabeln
und schlängeln. Je näher der alten Schleimhaut, desto weiter sind die
Drüsen und Zellen entwickelt. Dieser Fall weist den Weg, wie man
zweckmässig Regeneration von Ephithel und Schleimdrüsen unter¬
suchen kann, weil man hier ganz sicher ist, dass die Regeneration
wirklich von der Oberfläche her und nicht von den in der Tiefe er¬
halten gebliebenen Fundustheilen der Drüsen aus, wie z. B. bei
Decubitalgeschwüren des Darmes oder nach Curettement deä Uterus
vor sich geht.
Verhandlungen des Physiologischen Clubs zu Wien.
Jahrgang 1899 — 1900.
Sitzung vom 12. Juni 1900.
Vorsitzender: Herr Sigm. Exner.
Schriftführer: Herr Sigm. Fuchs.
I. Herr L. Rethi hält den angekündigten Vortrag: Ex¬
perimentelle Untersuchungen über die Luftströmung
in der normalen Nase, sowie bei pathologischen \ er-
änder ungen derselben und des Nasen - R ac h enraume s. l)
Vortragender führt das bisher durch Versuche über die Luft¬
strömung in der Nase bekaunt Gewordene in Kürze an und theil t die
Resultate seiner Untersuchungen mit, die er im physiologischen In¬
stitute der Wiener Universität ausgeführt hat. Die Versuche wurden
an Köpfen von menschlichen Leichen vorgenommen, und zwar theils an
frischen, theils an Trockenpräparaten, weil an letzteren die pathologi¬
schen Veränderungen in der Nase, im Nasen-Kacheuraume und an der
äusseren Nase durch Wachsmodellirung leicht naebgeahmt werden
können. An dem in der Mittellinie durchsägten Schädel wurde die
äussere Nasenwand mit Lakmuspapier belegt und, nach Verschluss von
innen her durch eine Glasplatte, theils Ammoniakdämpfe, theils I abak¬
rauch durchgeleitet — aspirirt oder im Sinne der Exspiration heraus-
i) Die ausführliche Publication erfolgt in den Sitzungsber. d. kais.
Akad. d. Wissenscb. in Wien.
G32
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 27
getrieben, so dass der Weg der Luft durch die Bläuung des Lakmus-
papieres constatirt, beziehungsweise direct verfolgt werden konnte.
Die Resultate dieser Untersuchungen sind folgende: In der
normalen Nase dringt d i o Luft bei der Inspiration
senkrecht auf die Ebene der äusseren N a s o n ö f f n u n-
g e n ein, prallt am Septum an und strömt im Bogen
am vorderen Ende der mittleren Muschel vorbei,
nach innen von derselben zum T h e i 1 e über, zu m
T h e i 1 e unter derselben fast bis zur oberen Fläche
der unteren Muschel hauptsächlich durch den mitt¬
leren N a s e n g a n g nach hinten in den Nasen-ßachen-
raum. Am geringsten ist die Luftbewegung unter dem Naseudache.
Ebenso ist die Luftströmung bei der Exspiration. Bei Stumpfuase flacht
sich der Bogen ab. Die Weite der Nase und der inneihalb normaler
Grenzen verbleibende Turgor der Schleimhaut hat keinen merkbaren
Einfluss auf die Richtung des Luftstromes.
W as die Nebenhöhlen betrifft, so hängt die Luftbewegung in
denselben von der Stärke und dem Wechsel der Luft¬
strömung, der Grösse der Oeffnung, der Art der
Einmündung und der Configuration der nächsten
Umgebung ab.
Pathologische Veränderungen, partielle oder totale Verdickungen
der Muscheln, Polypen, Auswüchse des Septum, adenoide Vegetationen
etc. wurden durch Wachsmodelliiung künstlich nachgeahmt. Es zeigte
sich, dass die Luft entsprechend den sich entgegen¬
stellenden Hindernissen abgelenkt wird, aber stets
die Tendenz hat, die normale Richtung b e i z u be¬
halten. Bei Hypertrophie der mittleien Muschel z. B. strömt die
Luft hauptsächlich unter, nur zum Tlieile über derselben nach hinten.
Bei Vorhandensein von adenoiden Vegetationen fällt der Luftstrom
hinten steil gegen den Nasen Rachem aum ab. Bei Hypertrophie der
unteren Muschel in ihrer Mitte strömt die Luft, wie
in der normalen Nase; durch bedeutend vergrösserte
Enden jedoch wird sie in ihrer Strömung abgelenkt.
Resection dieser Muschel ändert nichts Wesent¬
liches, und der Luftstrom erreicht nicht die R e s e e-
tionsstelle.
Eine Berührung der Luft mit der unteren Muschel kommt
also nur bei beti äehtlichcn pathologischen Veiänderungen, be¬
deutenden Hypertrophien der Muschelenden oder oberhalb dieser
Muschel vor.
Diese Ergebnisse stimmen mit den klinischen Erfahrungen voll¬
kommen überein, denn man sieht oft bedeutende, den ganzen unteren
Nasengang ausfüllende Hypertrophien der unteren Muschel ohne sub-
jeetives Gefühl der Nasenstenose und andererseits bedeutende Nasen¬
stenose bei freiem unteren Nasengang, wenn nämlich die mittlere
Muschel verdeckt, adenoide Vegetationen oder Hypertrophie der Enden
der mittleren Muschel vorhanden sind.
Demnach kann die Schleimhaut der unteren Muschel
auf die Beschaffenheit der du ich strömenden Luft
keinen wesentlichen Einfluss üben und diese weder
wesentlich erwärmen, noch befeuchten, und eine Ab¬
tragung derselben wird in dieser Richtung keine
nennenswerthen Veränderungen zur Folge haben;
in der That geben fast alle Autoren an, nach mehr oder minder
vollständiger Resection der unteren Muschel keine nachtheiligen
Folgen, etwa Trockenheit des Rachens oder Kehlkopfes, gesehen zu
haben .
II. Herr P. Dömcuy (a. G.) hält den angekündigten Vor¬
trag : Die Resultate der M a r c h i - F ä r bung n ach D u r c Il¬
se hneidungsver suchen am Olfactorius.
Experimentelle Untersuchungen am Olfactorius sind weniger an¬
gestellt worden als an anderen Gehirnnerven. Die Marchi’sehe
Methode wurde hier im Jahre 1897 von Löwenbach angewendet.
Er stellte auf Edinger’s Anregung an Kaninchen und Meer¬
schweinchen Durchschneidungsversuche au und studirte die danach
in den cortico-olfactiven Bahnen auftretenden Degenerationen mittelst
der Osmiummethode. Er kappte den Bulbus olfactorius vom Tractus
ab, in einigen Fällen trennte er den Tractus vom Lobus pyriformis.
Die Resultate seiner Versuche fasst er in folgenden Worten zu¬
sammen: „Es degeneriren die Fasern des Tractus olfactorius lateralis.
Dies ist die Gesammtheit der grossen Pinsel- oder Mitralzellenaehsen-
cyliuder. Die Fasern der medialen Seite degeneriren bedeutend
weniger. ln der Nähe des Ventriculus olfactorius degeneriren einige
Fasern vor der Schnittfläche. Dies scheinen Fasern zu sein, die
durch das mediale Riechbündel Zuckerkand i’s nach hinten und
durch die Commisura anterior wieder nach vorne ziehen, also centri-
fugale Fasern.
Wäh rend K ö 1 1 i k e r noch ebenso wie frühere Autoren im
Gyrus fornicatus gleichfalls eine Endslätte des medialen Riechbündels
vermuthet, ist es Edingcr zweifelhaft gewoiden, ob der Gyrus fon i-
eatus zum Riechapparate gehört. Da ich in demselben keine Degenei a-
tionen gefunden habe, muss ich mich dahin aussprechen, dass wenig¬
stens von der Spitze des Lobus olfactorius keine direete Verbindung
zum Gyrus fornicatus besteht. Wird die Spitze des Lobus pyriformis
verletzt, so degeneriren sowohl Bulbus- als auch Tractusfasern : also
der Tractus lateralis, der Tractus medialis oder das sogenannte tiefe
Riechmark Edinger’s; von diesem begibt sich ein Theil der Fasern
in die Rinde des Lobus pyriformis, dann ein Theil in der Bahn des
Alveus zum Subiculum und zur Fascia dentata. Was die Degenera¬
tionen in der Commissura anterior anbetrifft, ergeben dieselben be¬
züglich der Kreuzungsverhältnisse kein klares Bild: Wahrscheinlich
geht vom medialen Riechbündel eine Baliu durch das Septum pellucidum
zum Ammonshorn der anderen Seite.“
So weit Löwenbach. Meine Resultate bestätigen seine Be¬
funde; auch bin ich in der Lage, einiges Neue hinzuzufügen. Ich habe
im Verlaufe der letzten zwei Jahre an Ratten nach Trepanation des
Seitenwand- und Stirnbeines einseitig den Bulbus und theilweise den
Tractus olfactorius mit der Sonde zerstört und die Thiere nach 10 bis
20 Tagen mit der M a r c h i - Methode untersucht.
Aehnliche Versuche sind, wie ich aus Landois' Lehrbuch der
Physiologie entnehme, von Biffi zu physiologischen Zwecken an jungen
Hunden doppelseitig ausgefühlt worden. Seine Resultate sind nicht,
weiter erwähnt, v. Bechterew citirt iu der Neuauflage seiner „Leitungs¬
bahnen“ Untersuchungen über dasselbe Thema von Ponjatowski.
Dieselben blieben in Bezug auf die Degeneration der jenseits des
Tractus olfactorius gelegenen Tlieile resultatslos. Meine Thiere über¬
lebten die Operation recht gut, und in ihren Functionen konnte ich
weiter keine auffällige Veränderung wahrnehmen. Der mikroskopische
Befund war verschieden ergiebig, doch immer constant, und ich erlaube
wir, zwei solche Hirne, welche gut gelungenen Experimenten ent¬
sprechen, zu demonstriren. An denselben lassen sich die hauptsäch¬
lichsten Veränderungen nach einseitiger Zerstörung des Olfactoris
zeigen. Uebereinstimmend mit den Untersuchungen Zuckerkaudl’s,
Edinger’s u. A. sind die meisten mit dem Olfactorius in Verbindung
stehenden Bahnen degenerirt. Nach jeder Verletzung auch nur eines
Olfactorius treten Degenerationen in beiden Cerebralhälften auf, was
durch die vorhandenen zahlreichen Commissuren sich unschwer er¬
klären lässt. Schreiten wir in der Beobachtung von vorne nach hinten
an der Hand des E d i n g e r’schen idealen Sagittalschnittes vor, so
finden wir zerfallen: Den vorderen Schenkel der Commissura
anterior, den medialen und lateralen Riechstreif der gesunden Seite,
letzteren stärker betroffen als erster«. n. Die absteigenden Riechbündel
im Septum pellucidum, welche sich zur Substantia perforata aut. be¬
geben, sind auf der operirten Seite besonders in ihrem lateralen Antheile,
der den Streifenhügelkopf durchsetzt, stark zerfallen. Auch die queren
Fasern im Septum pellucidum, von Löwenbach u. A. nur vermuthet,
aber nicht nachgewiesen, zeigen sehr schön ausgebildete Degenerationen.
Im Alveus und in der Columna fornieis gelang es mir anfangs schwer,
Degenerationen zu erzeugen, in letzter Zeit habe ich sie leicht nacli-
weisen können. Um sie in ausgiebiger Weise zu erhalten, sind um¬
fängliche Verletzungen des Lobus pyriformis nötliig, welche fast immer
letal enden. Doch sind sie auch nach reiner Olfactoriusverletzung gut
nachzuweisen. Von grossem Interesse ist die Degeneration der Stria
medullaris thalami optici der operirten Seite und der Commissura habenulae
(der Commissura posterior). Dadurch, dass diese Degeneration nach
Verletzung der Olfactoriusbahnen erster und zweiter Ordnung entstand,
gewinnt die Ansicht L oth eis sen’s, dass sie durch oberflächliche, im
Cingulum verlaufende Stiänge mit dem Olfactorius verbunden werden,
eine Stütze. Erwähnt sei endlich eine sehr constante doppelseitige,
bis jetzt nicht erklärte Degeneration im Corpus geniculatum laterale
und die Degeneration von Hirnschenkel fasern, welche wohl auf bei der
Operation unvermeidliche, kleine Läsionen des Stirnhirns zurückzu¬
führen ist.
Wiener laryngologische Gesellschaft.
Sitzung vom 7. Juni 19UÜ.
Vorsitzender: Prof. O. Cliiari.
Schriftführer: Regimentsarzt Dr. Riehl.
I. Dr. Falb als Gast demoustrirt einen Fall von Zungen-
Gan men - Kehlkopflähmung.
Der 57jährige Patient, Feldarbeiter, war früher stets gesund,
hat keine lnfectionskrankheiten und angeblich auch keine Lues Über¬
stunden. Kein Potus, kein Trauma. Für chronische Intoxication mit
Blei und anderen Giften keine Anhaltspunkte. Vor vier Jahren Ver¬
schlechterung des Gehörs am rechten Ohr und Verlust des Geruch¬
vermögens. Vor l’/2 Jahren Verschlechterung der Sprache und zu¬
nehmende Unbehilflichkeit der Zunge. Damals traten auch halbseitige
Kopfschmerzen links auf, die vor drei Monaten fast ganz aufhörten
und nun nur manchmal Nachts bei linker Seitenlage wiederkehren.
Nr. 27
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
633
Dafür gesellten sich aber vor drei Monaten Schlingbeschwerden und
eine Woche später Heiserkeit zu seinem Leiden.
Da keine Besserung des Zustandes auftrat, liess sich Patient
am 14. Mai 1900 auf die Klinik des Prof. Chiari aufnehmen.
Bei Aufnahme des Status praesens fällt ein Eingesunkensein des
Nasenrückens auf. Nach Angabe des Kranken soll das jedoch stets so
gewesen sein, er könne sich keines Nasenleidens entsinnen. Die rhino-
logische Untersuchung ergibt deutliche Atrophie der Nasenschleimhaut
auf beiden Seiten. Ausserdem fand sich rechts in der Gegend der
mittleren Muschel eine kleinnussgrosse Geschwulst, die sich nach der
Entfernung mit der kalten Schlinge als eine derbe Hypertrophie mit
einzelnen ödematösen Partien erwies.
Beim Oeffnen des Mundes fällt sofort eine starke Atrophie der
linken Zungenhälfte auf und bei Betastung fühlt sich dieselbe viel
schlaffer und dünner an. Die Zunge kann nur wenig vorgestreckt und
seitlich blos nach rechts bewegt werden. Fibrilläre Zuckungen fehlen.
Im Rachen zeigt sich ein Tieferstehen der linken Hälfte des
weichen Gaumens. Beim Phoniren bleibt diese Hälfte unbeweglich.
Im Nasen-Rachenraum nichts Besonderes.
Am Larynx ist äusserlich nichts Besonderes zu bemerken,
Kehlkopf median, keine seitliche Verschiebung beim Schlucken. Bei
Untersuchung mit dem Spiegel finden sich gewöhnlich zwischen Kehl¬
kopfdeckel und Zunge Speichel, nach Mahlzeiten Speisereste. Epiglottis
hängt links etwas herab. Linker Aryknorpel und linkes Stimmband
vollkommen unbeweglich, letzteres stark excavirt, etwas ausserhalb der
Medianstellung. Rechtes Stimmband in Folge leichter Atrophie in ge¬
ringem Grade excavirt, bewegt sich frei zwischen Median- und Inspi¬
rationsstellung. Eine Bewegung über die Mittellinie nach links findet
nicht statt und daher auch kein Glottisschluss beim PhonireD. Deshalb
spricht Patient rauh, heiser, mit Luftverschwendung.
Es handelt sich also um eine linksseitige Recurrens-
1 ä h m u n g. Die Sensibilität erweist sich bei Sondenberührung
beiderseits, namentlich aber links herabgesetzt, und zwar ist der Kehl¬
decker schwächer als das Kehlkopfinnere betroffen. Wir finden also
eine Hypästhesie im Gebiete beider Nn. laryng. sup.
In der Trachea nichts Besonderes.
Bezüglich der Nervenfunctionen im Speciellen fehlen
psychische Störungen. Der Kranke ist zwar von geringer
Intelligenz, doch soll seit seiner Erkrankung keine Verschlimmerung
eingetreten sein.
Die Sprache ist näselnd, undeutlich. Von den Vocalen wird
blos a deutlich ausgesprochen.
Die Zungenbuchstaben werden sehr schlecht, etwas besser die
Gaumenlaute, relativ am besten die Lippenlaute ausgesprochen.
Die einzelnen Gehirnnerven betreffend, fehlt beiderseits der
Geruch. Die Anosmie ist aber möglicher Weise auf die atrophische
Rhinitis zurückzuführen.
Sehschärfe, Augenmuskelfunction und Augenhintergrund nach
Angabe der Klinik Fuchs normal.
Im Gebiete des Trigeminus die Hautsensibilität intact. In Nase,
Mund und Rachen werden Berührungen gleichfalls prompt empfunden,
nur sind die Nasen- und Rachenreflexe kaum auszulösen. Ein Befund,
aus dem wir keineswegs mit Sicherheit auf eine Affection des Trige¬
minus schliessen dürfen, da das Verschwinden dieser Reflexe von
geringer Bedeutung ist und wir speciell bezüglich der Rachenreflexe
nicht genau wissen, inwieweit bei denselben der Trigeminus eine Rolle
spielt. Motorische Portion des Trigeminus intact.
Bezüglich des Facialis ist zu erwähnen, dass Patient weder
pfeifen noch blasen kann, doch dürfte hieran auch die Unbehilflichkeit
der Zunge Schuld tragen, und was die Gaumenlähmung anbetrifft,
kann sie. nach den jetzt herrschenden Ansichten nicht auf den Facialis
zurückgeführt werden.
Dasselbe gilt für das ab und zu vorkommende Herausfliessen
von Speichel aus dem Munde, woran wohl hauptsächlich die Schluck¬
störung Schuld tragen wird, da der Lippenschluss ein ziemlich prompter.
Doch fällt beim Zeigen der Zähne eine gewisse Schwäche der Ober¬
lippe auf und werden die Lippenbuchstaben nicht ganz gut ausge¬
sprochen, so dass eine leichte Affection des Facialis auf beiden Seiten
möglich ist. Die sonstigen Functionen des Facialis ungestört, keine
Atrophie der Gesichtsmusculatur, speciell der Lippen.
Die elektrische Untersuchung ergibt normale Verhältnisse.
Die Schwerhörigkeit am rechten Ohr hängt mit einer Trommel¬
fellnarbe und mit keiner Acusticusaffection zusammen, wie
uns von Seite der Klinik Politzer mitgetheilt wurde.
Entschieden erkrankt ist der Glossopharyngeo-V agus.
Es besteht eine einseitige Velumparalyse, wreshalb die Speisen und
Flüssigkeiten leicht in die Nase gelangen. Der Schluckact ist sehr
erschwert, der Würgreflex kaum auszulösen, endlich finden wir eine
linksseitige Recurrenslähmung und eine Herabsetzung der Sensibilität
im Gebiete beider Nn. laryng. sup. Patient gibt auch an, sich öfters
zu verschlucken. Puls leicht arhythmisch, bietet sonst ebenso wie die
Respiration nichts Besonderes. Das Gesell mack vei mögen ist entschieden
ein schlechtes, da das aber dem Patienten selbst nicht aufgefallen, ist
möglicher Weise sein Geschmack nie besser gewesen.
Die Mm. sternocl. et cucullar. functioniren beiderseits prompt.
Am Accessorius daher keine Störung, vorausgesetzt, dass er
wirklich mit der motorischen Kehlkopfinnei vation nichts zu thun habe,
wie das in neuerer Zeit angenommen wird.
Die Motilitätsstörungen der einseitig atrophischen Zunge, die
Sprach- und Schluckbeschwerden sind so bedeutend, dass wir eine
doppelseitige Hypoglossuserkrankung wohl annehmen
müssen. Eine Betheiligung der durch die Ansa hypoglossi von den
Cervicalnerven aus innervirten Unterzungenbeinmuskeln lässt sich nicht
erweisen.
V asomoto rische und sec reto rische Störungen nirgends
zu constatiren.
Die Untersuchung des spinalen Nervensystems ergab
ausser einer sehr starken Abschwächung der Kniereflexe nichts
Besonderes. Dieselben sind blos mit Zuhilfenahme besonderer Kunst¬
griffe auslösbar und auch dann kaum wahlzunehmen. Allerdings be¬
nimmt sich Patient bei der Prüfung äusserst ungeschickt und muss
deshalb dieses Symptom mit einer gewissen Reserve verwerthet werden.
Die Untersuchung der Brust- und Bauchorgane, sowie des Urins
ergab keine Besonderheiten. Im Gefässsysteme Arteriosklerose mitt¬
leren Grades.
Wenn wir nun von der Anosmie absehen, finden wir eine un¬
bedeutende Betheiligung des Facialis und eine stärkere des Glosso-
pharingeo-Vagus und Hypoglossus auf beiden Seiten mit vorwiegendem
Ergriffensein der linken Hälfte.
Das Ganze weist uns auf einen sich in der hinteren Schädel¬
grube abspielenden Process, der entweder die aus der Medulla oblong,
entspringenden Nervenwurzeln oder die Medulla selbst mit ihren
Kernen oder aber beides zugleich betrifft.
Bezüglich der Natur des Processes haben wir aber leider keinen
sicheren Anhaltspunkt. Gegen progressive amyotrophische
B ulbär paralyse spricht die vorwiegende Einseitigkeit des Pro¬
cesses, das Vorhandensein sensibler Störungen und die ausserordentlich
geringe Betheiligung des Facialis. Von vorneherein ausgeschlossen sind
alle acut einsetzenden Formen der Bulbär paralyse,
erzeugt durch Embolie oder Thrombose, Myelitis bulbi, acute Neuritis
u. s. w. wegen des schleichenden Verlaufes in unserem Falle. Bulbär-
paralyse ohne anatomischen Befund kommt nicht in Be¬
tracht, da Ptosis, Schwäche der Nackenmuskeln und die für diese
Erkrankung charakteristische leichte Ermüdbarkeit der Muskeln
fehlen.
Pseudobulbärparalyse, wo die bulbären Symptome
durch eine Grosshirnaffection bedingt sind, ist bei dem vollkommenen
Mangel an Grosshirnsymptomen nicht anzunehmen. Auch haben wir
es ja mit einer degenerativen zu Atrophie (Hypoglossus) führenden
Lähmung zu thun, die gegen einen supranucleären Sitz der Erkrankung
spricht. Nicht zu denken ist ferner an die mit bulbären Symptomen
einhergehenden Rückenmarkserkrankungen, wie Tabes,
amyotrophische Lateralsklerose, disseminirte Sklerose, Syringomyelie
etc., da eben nichts für ein Rückenmarksleiden spricht. Möglicher
Weise könnte es sich um einen tubercu lösen Process in der
hinteren Schädelgrube, um eine chronisch tuberculöse Meningitis oder
Tuberkelbildung handeln, allein es fehlt jeder Hinweis auf Tuberculöse.
Patient hat kein Fieber, keine Affection der Knochen oder Lyrnph-
drüsen etc. Auch ein Tumor cerebri könnte uns die Erscheinun¬
gen erklären und spräche das Fehlen von Stauungspapille nicht sehr
dagegen, da gerade so weit hinten sitzende Tumoren oft ohne eine
solche verlaufen. Trotz der negativen Anamnese dürfen wir auch die
Möglichkeit eines luetischen Processes, sei es Gummabildung
oder Meningitis luet. oder beides, nicht von der Hand weisen. Der
Kranke bekommt daher seit einer Woche Jodkali. Doch ist einst¬
weilen noch keine Aenderung des Zustandes eingetreten. Endlich wäre
noch die Möglichkeit eines sich langsam entwickelnden Aneurysmas
der Vertebrales oder Basilar is zu erwägen, da Patient
an Arteriosklerose leidet.
Zum Schlüsse noch einige Worte über die schwachen, vielleicht
im Verschwinden begriffenen Kniereflexe. Ist das Folge derselben Er¬
krankung und wollen wir auch diese Störung in die hintere Schädel¬
grube verlegen, müssen wir eine Kleinhirnaffection annehmen, da eine
solche nach den Beobachtungen von Gowers, Knapp, Mendel
und Anderen zum Auftreten de3 Kniepbänomens führen kann. Allein
es fehlen sonstige Kleinhirnsymptome.
Man wäre daher versucht, auch an einen spinalen Process zu
denken, da, vorausgesetzt, dass das Ganze auf Lues beruhte, cs sich
sehr gut um eine Mitbetheiligung des Rückenmarkes, respective der
Rückenmai ksliäute handeln könnte. Es sind nämlich von S i e m e r-
ling Fälle beobachtet worden, wo bei Lues cerebri aus dem isolirten
Fehlen der Kniereflexe eine gleichseitige Meningitis spinalis
634
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 27
luetica diagnosticirt wurde und die Autopsie die Diagnose be¬
stätigte. Um etwas Aehnliclies könnte es sich daher auch in unserem
Falle handeln. Für die Annahme eines anderen spinalen Processes
haben wir jedoch keine Anhaltspunkte.
II. Prof. Chiari demonstrirt zwei flache, scheibenartige Knöpfe
von etwas über 1 cm Durchmesser, welche er am 29. Mai aus beiden
Nasenhöhlen eines fünfjährigen Knaben entfernte. Das Kind wurde
von dem Vater gebracht, weil es seit einem halben Jahre stinkenden
Ausfluss aus der Nase hatte. Die Extraction gelang mit Hilfe einer
Polypenzange.
Die Knöpfe waren nicht zu sehen, sondern nur zu fühlen. Be¬
merkenswerth ist nur, dass das Kind in beide Nasenhöhlen diese
Knöpfe steckte. Dass sich eine Art Ozaena durch das lange Verweilen
der Fremdkörper entwickelt, ist schon lange bekannt. Den Tag
vorher hatte Chiari bei einem 31/2jährigen Mädchen aus der
rechten Nasenhöhle einen runden stinkenden Fremdkörper entfernt,
der, daselbst seit Monaten verweilend, ebenfalls stinkenden Ausfluss
und Blutung veranlasst hatte. Er hatte das Aussehen eines Maiskornes,
Die histologische Untersuchung wies auch wirklich Pflanzenzellen
nach. Natürlich wussten in beiden Fällen weder Kinder noch Eltern
etwas von den Fremdkörpern. Gewöhnlich finden sich von Kindern
eingebrachte Fremdkörper nur in einer Nasenhöhle, wodurch die Dia¬
gnose erleichtert wird. Dass aber Ausnahmen Vorkommen, beweist der
erste Fall.
III. Prof. Chiari empfiehlt die Vornahme der Laryngofissur
behufs Entfernung von Neubildungen und Infiltraten mit Hilfe der
Schleie h’schen Localanästhesie. Er führte diese bisher in zwei
Fällen aus und überzeugte sich, dass der Eingriff sehr leicht auszu-
führeu ist und dem Patienten nur wenig Schmerz macht. Ein Vortheil
ist auch darin zu finden, dass der Patient auf Verlangen Bewegungen
der Stimmbänder ausfiihren kann, so dass man sich leichter orientirt.
Endlich ist die Gefahr einer Schluckpneumonie geringer, welche bei
Chloroformnarkose trotz Anwendung der Tamponcanule manchmal sich
einstellt.
IV. Dr. Weil demonstrirt das anatomische und das mikro¬
skopische Präparat eines gestielten Epithelialcar cinoms
der Nase. Der etwa pflaumengrosse Tumor ging mit einem dünnen
schmalen Stiele vom hintersten Theile des oberen Nasenganges
aus und war von butterweicher Consistenz. Als einige
Monate später Recidive auftrat, weigerte sich Patient, einen radicalen
Eingriff zu gestatten und soll später unter den Erscheinungen eines
Carcinoms des Rachendaches zu Grunde gegangen sein.
Dr. Weil wird den interessanten Fall im Zusammenhänge mit
anderen Fällen von seltenen Tumoren der Nase und des Rachens aus¬
führlich publiciren.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
in München.
Vom 17. bis 22. September 1899.
(Fortsetzung.)
Section für Kinderheilkunde.
Referent Dr. B. B e n d i x (Berlin).
III. Sitzungstag: Mittwoch, den 20. September 1899.
3. Fink eist ein (Berlin) hat auch in Berlin Concremente im
Nierenbecken bei Sectionen gar nicht selten beobachtet. Dieselben
haben mit dem Ilarnsäureeinfarct (auch nach V i r c h o w’s Ausspruch)
nichts zu thun; sie entstehen vielmehr bei Gewebszerfall (z. B. bei
acuten Darmerkrankungen), wo eine vermehrte Harnsäureabsonderung
statthat. Auch bei älteren Kindern — nicht nur bei Säuglingen —
ist dies beobachtet, wie Mittheilungen von E i c h h o r s t, z. B. an
seinem eigenen Kinde, darthun.
4. Sol t mann (Leipzig) bestätigt auch einerseits die nicht so
seltene Beobachtung von Concrementen der Nieren im Säuglingsalter
nach profusen Säfteverlusten.
5. Meinert (Dresden) meint, dass die Steinchen im Urin ge¬
funden werden unter Verhältnissen, wo derselbe stark eingedickt ist.
6. Fischl (Prag) hält die Steinbildung für eine Folge der
künstlichen Ernährung, indem vielleicht die Sterilisation, die Salze etc.
das Ihrige dazu thun.
*
IV. Sitzungstag: 21. September 1899.
I. Concetti (Rom) : S u r uncassingulier de l'adenom
maligne de la vessie cliez une petite fille de 11 mois.
II. 0. Heubne r (Berlin) : Ueber Prophylaxe der
Tuberculose im Kindesalter, Heimstätten und
Heilstätten.
Nach einem kurzen Hinweis auf den jüngst stattgehabten Tuber-
ctilose-Congress zu Berlin und auf das immer reger werdende Interesse
für die Abwehr dieser so verheerenden Krankeit in allen Volks¬
schichten, indem sich gleichsam zu einem „modernen Kreuzzuge“
Länder, Städte und Berufe zusammen gethan haben, betont Vor¬
tragender das Naheliegende der Betheiligung vor Allem der Kinderärzte
an dem Kampfe gegen die Tuberculose. Ihnen müsste noch mehr als
das therapeutische Vorgehen gegen diese Krankheit, die Prophylaxe
gegen dieselbe im Herzen liegen, da im Kindesalter sicherlich erst
die meisten Infectionen mit Tuberculose zu Stande kommen. Auf
diese Weise würden nicht blos die Kinder gerettet, sondern ganze
Menschengeschlechter vor dem Verderben bewahrt. — Die Heredität
tritt mehr und mehr in den Hintergrund, dagegen erschliessen sich die
Eintrittspforten (auf dem Wege der Einathmung, vom Verdauungs¬
canal, von der Haut etc. aus) des Tuberkelvirus immer weiter, wo¬
durch der Weg erfolgreicher Prophylaxe vorgezeichnet sei.
Heubner wünscht nun im Sinne der Prophylaxe die Errichtung
von H e i mstätten für gesunde Kinder (nicht H e i lstätten für
kranke Kinder).
In diesem Sinne sollen gesunde Kinder aus dem Eltern¬
hause entfernt und in den Heimstätten Aufnahme finden, uud
zwar solche :
1. deren Fltern oder Familienangehörige tuberculös krank sind ;
2. Kinder gesunder Eltern, bei denen eine gewisse Disposition
für Tuberculose durch Constitutionsanomalien (zum Beispiel Lues)
vorliegt;
3. scrophulöse Kinder;
4. Kinder, welche acute Infectionskrankheiten (wTie Masern,
Diphtherie, Keuchhusten, Scharlach) durchgemacht haben, widerstands¬
los geworden und nun aus dem Spitale in die durch gewisse Factoren
(dunkle, luftleere, feuchte Wohnung etc.) gefährliche Häuslichkeit zu¬
rückkehren sollen.
Heubner denkt sich diese Heimstätten in der Nähe grosser
Städte, grosser Bevölkerungscomplexe, in gesunder waldreicher Gegend
angelegt. Das Anlagecapital dürfte nicht zu gross sein, w7ohl aber würden
die Unterhaltungs und Verpflegskosten sich sehr hoch belaufen, da die
Kinder Monate und Jahre Aufnahme finden müssten, die Ernährung
ausserordentlich gut und für Schul- und Turnunterricht gesorgt
sein müsste.
Discussion: 1 . Soltmaun (Leipzig) hält die Heubne lo¬
schen Vorschläge für ausserordentlich gesund. Aehnliche Bestrebungen
und Einrichtungen existiren bereits in der Schweiz und Oberitalien
(zum Beispiel in Davos), wenn auch nicht genau in dem Sinne, wie sie
Heubner befürwortet. Die Gefahren der Hausinfection können gar
nicht hoch genug angeschlagen werden. Ganz besonders wichtig und
ein neuer Gedanke Heubner’s sei es, zu verlangen, dass nicht blos
erblich belastete Kinder in diesen Heilstätten Aufnahme finden sollten,
sondern ganz gesunde, w7ie sie Heubner genauer bezeichnet habe.
Es sei die Pflicht der Kinderärzte, den Heubne r’schen Gedanken
recht ausgiebig in die grosse Masse hineinzutragen und für seine weite
Verbreitung zu sorgen.
2. Pott (Halle a. S.) macht die Mittheilung, dass in Halle
seit drei Jahren eine Einrichtung im Sinne Heubner’s existire, das
Reconvalescentenbeim. Im Sommer wTaren die Erfolge gute, im Winter
jedoch hatten die Anstaltsärzte vor Allem damit zu thun, dafür zu
sorgen, dass die Einschleppung acuter Infectionskrankheiten verhindert
wurde.
3. Bagin sky (Berlin) hat bereits auf dem Tuberculose-
congress für die Errichtung einer Heilstätte für tuberculose Kinder
plaidirt. Doch müsste solchen Einrichtungen gegenüber Vorsicht geübt
werden, erstens weil man dadurch mit den bereits für ähnliche Zwecke
eingerichteten Seehospizen in Conflict kommt, und zweitens, weil die
Kinder jahrelang dort Aufnahme finden müssten. Es ist demnach dort
auch für die besthygienischen Einrichtungen des Schulunterrichtes zu
sorgen.
4. Heubner (Schlusswort) betont B a g i n s k y gegen¬
über, dass er ausdrücklich nicht über Heil-, sondern über Heim¬
stätten habe sprechen wollen. In diese könnten die bereits bestehen¬
den Seehospitze mit eingeschlossen werden, wenngleich man bekennen
müsse, dass mit Ausnahme einer einzigen Mittheilung sichere statisti¬
sche Daten über die Heilungserfolge in den Hospizen bis jetzt nicht
vorlägen.
III. Tr u mp p (München): Die Intubation in der Privat-
25 r a x i s.
T r u m p p veranstaltete eine internationale Sammelforschung,
um festzustellen: a) welche Verbreitung die ausserklinische Intubation
Nr 27
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
635
bisher gefunden, b) welche Resultate sie ergeben hat, c ) unter welchen
Bedingungen sie geübt wird, d) welche Massnahmen von den Autoren
angegeben werden, um die bekannten Missstände der Intubation
thunlichst zu beseitigen. Die von Trum pp gestellten Fragen wurden
von 89 europäischen und amerikanischen Klinikern und praktischen
Aerzten beantwortet. Unter denselben haben 55 zusammen 5468
Hausintubationen ausgeführt. Durchschnittliches Heilresultat in der
Vorserumperiode 356 %, unter Serumbehandlung 81*98 °/o - Auto-
extubationen wurden ziemlich häufig beobachtet (zehn Todesfälle).
Tubusverstopfung selten^ (zwei Todesfälle). Plötzliche Suffocation nach
Extraction der Tube ein Todesfall. Ständige Ueberwachung der Intu-
birten durch den Operateur oder dessen — in der Intubation geübten —
Stellvertreter wird von 15 Autoren unter allen Umständen, von sechs
nur bedingunsweise gefordert; 43 Autoren erachten die Beaufsichtigung
durch geschulte Wärterinnen, im Nothfalle durch intelligente Laien für
genügend.
T r u m p p kommt auf Grund des gesammelten Materiales zum
Schlüsse, dass die Intubation auch in der Privatpraxis in vielen
Fällen an Stelle der Tracheotomie treten darf, und unter Umständen
bei Beachtung gewisser Vorsichtsmassregeln selbst ohne die Einrichtung
ärztlichen Permanenzdienstes durchführbar ist.
Discussion: l.Ganghofner (Prag) betont ganz besonders,
wenn die Einführung der Intubation in der Privatpraxis durch die
praktischen Aerzte grössere Verbreitung finden sollte als bisher, was
gewiss zu befürworten sei, so müsse vor Allem den Aerzten Gelegen¬
heit geboten werden, sich mit dieser Operation genügend vertraut zu
machen. Die ständige Beobachtung durch einen Arzt hält er für noth-
wendig.
2. v. Ranke (München) hält die Verbreitung der Intubation
in der Privatpraxis für ausserordentlich wichtig, umsomehr da, wenn
Gefahr vorhanden, der Arzt — falls nicht sehr geübt — sich zur
Intubation leichter entschliessen möchte als zur Tracheotomie.
3. Soltmann (Leipzig) erklärt sich im Ganzen mit den
T r u m p p’schen Thesen einverstanden, hält indessen die Beibehaltung
des ärztlichen Permanenzdienstes für absolut nothwendig, im anderen
Falle müsste nothwendiger Weise die sonst so schöne und erfolgreiche
Operation wie einst die Tracheotomie durch Misserfolge in Misscredit
gerathen.
4. Carstens (Leipzig) hält die Indication der Intubation im
Hause nur am Platze, wenn die Tracheotomie oder die Aufnahme in
ein Spital von den Angehörigen verweigert wird. In diesem Falle muss
aber der Arzt die Technik der Intubation vollständig beherrschen,
und das kann nur der, der es im Laufe von Monateu und Jahren im
Spital gelernt hat.
5. Galat ti (Wien) hat bei seinen Intubationen — 25, darunter
auch solche ohne dauernde ärztliche Bewachung — niemals etwas
Unangenehmes gesehen. Den Faden lässt er nie liegen, um sich un¬
angenehme Zufälle zu ersparen, z. B. Herausziehen der Tube durch
unberufene Personen.
6. Esch er ich (Graz) wünscht die Verwendung der Intubation
in der Privatpraxis auch bei anderen Erkrankungen als bei Diphtherie.
Die ärztliche Sitzwache ist wünschenswerth, aber da, wo Spitaltransport
verweigert und die Operation nothwendig wird, nicht unbedingt zu
fordern. Schlimme Zufälle sind natürlich möglich, kommen aber auch
im Spitale vor. Es ist das Verdienst des Vortragenden, durch die aus
eigener Initiative durchgeführte Sammelforschung gezeigt zu haben,
dass die schlimmen Zufälle bei der Intubation viel seltener sind, als
man lange Zeit glaubte und als man bei theoretischer Ueberlegung
erwarten möchte.
•7. Trumpp (Schlusswort) bemerkt auch seinerseits, dass auch
im Spital mancher Unglücksfall bei der Intubation vorkommt, und
dass demnach nicht in der Privatpraxis jede Unannehmlickeit auf das
Fehlen des Arztes zu beziehen sei. Wunsch und Hoffnung des Vor¬
tragenden ist es, möglichst bald den Permanenzdienst in der Privat¬
praxis bei der Intubation aufgehoben zu sehen.
IV. R. F i s c h 1 (Prag): Ueber chronisch recidivir ende
exsudative Anginen im Kindesalter.
Es handelt sich um in Intervallen von Wochen bis Monaten
auftretende in der Regel mit hohem Fieber verlaufende lacunäre oder
auf die ganze Tonsillaroberfläche sich erstreckende exsudative Anginen,
die in hygienisch schlecht bestellten Städten besonders häufig sind.
Es besteht entschiedene familiäre Disposition in der Regel mit Ver¬
erbung von mütterlicher Seite, wobei alle oder nur ein Theil der
Kinder ergriffen werden. Daneben kommen Gelegenheitsursachen in
Betracht, unter denen Redner besonders das Vorhandensein von Stal¬
lungen im Hause, sowie gewisse Wetterperioden hervorhebt, während
er den Erkältungseinflüssen keine wichtige Rolle zuweist. Erreger
sind die gewöhnlichen Mundbacterien, vor Allem pyogene Strepto- und
Staphylococcen, sowie der Diplococcus pneumoniae. Man gewinnt den
Eindruck, dass die Mundhöhle solcher Kinder auf eine gewisse Flora
eingestellt sei, deren Virulenz sich von Zeit zu Zeit regenerirt und
dann die entzündlichen Producte hervorbringt. Eine Immunisirung tritt
im Verlaufe der Erkrankung nicht ein, man beobachtet im Gegentheil
nicht selten stetig zunehmende Heftigkeit der Einzelattaquen, die oft
erst mit Eintritt der Pubertät seltener werden, was wohl mit gewissen
Aenderungen im Gebiete der Rachengebilde zusammenbängt. Hyper¬
trophie der Tonsillen ist in solchen Fällen durchaus nicht so häufig,
als gemeinhin angenommen wird, man vermisst sie vielmehr bei reich¬
lich der Hälfte der Beobachtungen. Die einzelnen Attaquen gleichen
sich nicht, sondern zeigen einen bunten Wechsel der Erscheinungsweise.
Als besondere Verlaufsarten hebt Fischl hervor: das Wiederaufflackern
des Processes nach Schwund der ersten Beläge und bei noch andauern¬
dem Fieber, verspätetes Hervorkommen der Exsudatpfröpfe nach sechs-
bis siebentägiger Temperaturerhöhung, subnormale Morgentemperaturen
bei noch durch mehrere Tage sich einstellender abendlicher Exacerbation,
Dinge von diagnostischer und prognostischer Bedeutung. Bemerkens¬
werth sind die direct als Angina gastrica zu bezeichnenden Formen, bei
welchen sich an jede Attaque lang dauernde und schwere Verdauungs¬
störungen anschliessen, welche die Patienten sehr herunterbringen. Die
Infectiosität ist zweifellos, doch genügt eine nicht allzustrenge Isolirung,
da Uebertragung durch dritte Personen zweifelhaft. Der Verlauf des
Einzelanfalles ist in der Regel rasch und günstig, nur selten sieht man
schwere Formen mit Allgemeininfection; unangenehm ist die stete
Wiederkehr des Processes und die dadurch bedingte Schädigung der
Kinder in Bezug auf ihren Ernährungszustand und im Bereiche der
nervösen Sphäre. Leider ist gegen die Disposition als solche nicht
viel zu machen; die Nutzlosigkeit operativer Eingriffe der verschiedensten
Art hat Fischl allmälig von der Anwendung aggressiver Methoden
abgebracht, und beschränkt er sich jetzt auf klimatische Behandlung,
die wenigstens in einem Theil der Fälle unter wiederholtem Gebrauche
von See- und Soolbädern den gewünschten Erfolg hatte.
Discussion: 1. Pott (Halle) macht darauf aufmerksam,
dass der Grund für die häufig recidivii enden chronischen Anginen in
nur mangelhafter Athmung durch die Nase zu suchen ist.
Eintropfungen von Glycerin in die Nase, in verzweifelten Fällen
Aetzungen der Nase mit rauchender Salpetersäure sind eventuell in
Anwendung zu bringen.
2. Seitz (München) macht Mittheilungen über recidivirende
Anginen gerade bei kräftigen abgehärteten Knaben. Der bacteriologische
Befund bestand meist in Streptococcen. Seitz glaubt von L u g o 1-
scher Lösung Erfolge gesehen zu haben.
3. Hochsinger (Wien) empfiehlt als locale Behandlung der
recidivirenden exsudativen Tonsillitiden zwei bis dreimal wöchentlich vor¬
zunehmende Aetzung mit Arg. nitr. in Substanz; diese Therapie hat in
den anfallsfreien Zeiten, zumal während der Sommermonate, zu ge¬
schehen. Während des Anfalls empfiehlt sich die Anwendung von
sogenannten Anginapastillen. Gurgeln hat keinen Nutzen.
4. R e y (Aachen) hält das häufige Recidiviren der folliculären
Angina bedingt durch den Bau der Tonsillaroberfläche der befallenen
Kinder. Dieselbe ist sehr uneben und von zahlreichen mehr weniger
tiefen Höhlen unterbrochen. In diesen Höhlen bleiben Reste des in-
fectiösen Agens zurück, die bei gegebener Gelegenheit (z. B. Erkältung)
zum Recidiv führen. Die Behandlung besteht in vollständiger Glättung
der Tonsillenoberfläche durch Durchziehen aller Brücken und Ver¬
tiefungen mit stumpfen Schieihaken. Gelingt dies vollständig, so bleiben
Recidive aus.
5. Mein er t (Dresden) hält die betonte vorhandene familiäre
Disposition für vorwiegend neuropathischer Natur; hauptsächlich in
Familien, wo durch Generationen hindurch Hysterie und Migräne unter
den weiblichen Mitgliedern aufgetreten war.
6. Fischl (Schlusswort) betont gegenüber Herrn Pott, dass
er nie primäre Erkrankungen der Nase gesehen hat, wohl aber häufig
in schweren Fällen secundäre und wohl auch membranüse Nasen
affectionen. So günstige Resultate wie Hoch singer hat Fischl
nicht zu verzeichnen, er empfiehlt Durchspülungen des Rachens mit
lauwarmer Borlösung. Schlitzungen der Follikel, wie es Rey empfiehlt,
hat auch Fischl nach dem S c h m i d t’schen Verfahren mehrmals,
aber auch ohne Effect vorgenommen.
V. Hirschsprung: Erweiterung und Hypertrophie
des Dickdarms. (Mit Demonstration.)
Hirschsprung hatte in II enoc h’s Festschrift 1890 drei
Fälle von angeborener Hypertrophie und Dilatation des Colons mit-
getlieilt, die alle mit dem Tode endeten, ehe die Kinder das erste
Lebensjahr vollendet hatten. Schon damals wurde es aber als wahr¬
scheinlich hingestellt, dass ein früh eintretender Tod nothwendiger Weise
der Ausgang des angeborenen Zustandes sein müsste; und spätere Er¬
fahrungen haben diese Vermuthung bestätigt, wodurch die Krankheit
ein grösseres klinisches Interesse gewinnt. Redner verfügt jetzt über
636
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Nr. 27
8 eigene und 9 aus der Literatur zusainmengestellte Fälle, 15 Knaben,
2 Mädchen. Von diesen 17 starben 8 im ersten, 1 im zweiten, 1 im
vierten, 1 im zwölften und einer im dreizehnten Jahre. 1 wurde 23 Jahre
alt. In allen Fällen, die mit dem Tode endeten, wurde die Diagnose
durch die Section bestätigt, und es geht mithin mit voller Sicherheit
hervor, dass ein Kind mit angeborener Hypertrophie und Dilatation
des Colons bis weit hinauf in das zweite Kindesalter, ja sogar ins Mannes-
alter hinein, leben kann.
Neben dem öfters enorm aufgetriebenen Unterleib findet sich als
hervortretendes Symptom die ausbleibende Evacuatio alvi. Alle Be
Strebungen sind dann bei den Kindern darauf gerichtet gewesen, durch
Abführmittel und tägliche Wassereingiessungen Entleerung hervor¬
zurufen. Später ist die Elektricität in Anwendung gebracht worden
nach Lennander (Upsala). Die Methode scheint rationell; man
könnte hoffen, durch Hebung des Tonus auf den kranken Darm ein¬
zuwirken, seine Weite zu mindern und Verhältnisse herzustellen, welche
sich den natürlichen nähern.
Indessen erzielte Hochsinger bei zwei Kindern dasselbe
gute Resultat, spontane Oeflnung, bei denen nie eine andere Behand¬
lung in Anwendung gebracht worden ist, als tägliche Wassereiu-
spritzung. Nach der Anschauung des Redners wird man also schwer¬
lich der elektrischen Behandlung eine andere Bedeutung beilegen
können, als eine wesentlich ausleerende. Redner stellt hin, ob es nicht
denkbar wäre, dass die eintretende Besserung in Verbindung gesetzt
werden könnte mit physiologischen Wachsthumsverhältnissen im Colon
des Kindes.
Discussion: 1. Concetti (Rom) theilt gleichfalls zwei
Fälle von congenitaler Dilatation mit Hypertrophie des Colons mit;
das eine Kind kam mit 3V2 Jahren zur Section, das andere war
10 Jahre alt.
2. Meiner t (Dresden) hält nur die Verlagerung und Ver¬
längerung des Colons für angeboren, die Erweiterung und Hyper¬
trophie hält Mein er t für secundär, weil sie seines Wissens noch
niemals bei den Autopsien Neugeborener gefunden wurde.
3. Finkeistein (Berlin) weist auf die scheinbar wenig
bekannte einschlägige Besprechung dieses Gegenstandes von Göppert
aus der Breslauer Kinderklinik hin.
VI. F. Theodor (Königsberg i. P.) : Ueber einen Fall
von essentieller progressiver perniciöser Anämie
im Kindesalter.
Nach einer Einleitung über die verschiedenen Formen von Anämien
bespricht Theodor die im Kindesalter äusserst seltene essentielle
progressive perniciöse Anämie, und speciell einen von ihm beobachteten
Fall, der sich durch einen ganz eigenartigen, ungemein interessanten
Blutbefund von den bisher beobachteten Fällen wesentlich unter¬
scheidet.
Otto Sch., elf Jahre alt, erkrankte Anfang Herbst 1898 an den
typischen Erscheinungen der perniciösen Anämie; sowohl die Blut- wie
Augenuntersuchung, als auch der rapide Verlauf der Krankheit, be¬
stätigten die Diagnose im vollsten Masse. Nach vierwöchentlicher
Behandlungsdauer kam der Patient ad exiturn.
Verfasser gibt eine ausführliche Würdigung des Blutbefundes.
Verminderung der rothen Blutkörperchen. Der Hämoglobingehalt ist
verringert, die Dellen stark verbreitert, dementsprechend der gefärbte
Randsaum verkleinert; einzelne Scheiben zeigen erhöhten Ilämoglobin-
gehalt; ferner zeigte sich der Degenerationsprocess in der ungemein
stark ausgeprägten Poikilocytose, dem Auftreten vom Riesenblut¬
scheiben, Megalocyten, sowie in der nachweisbaren anämischen
oder polychromatischen Degeneration an den rothen Blutkörperchen.
Auch die Vermehrung der Blutplättchen deutet Verfasser im degenera-
tivem Sinne.
Als Regenerationserscheinungen ist das Auftreten
kernhaltiger rother Blutkörperchen, der Erythroblasten, der Vorstufen
der Erythrocyten, zu bezeichnen, die hier namentlich in solcher Massen-
haftigkeit, wie bisher nie beobachtet, angetroffen wurden. Zu Beginn der
Behandlung finden sich 2’4 °/0, drei Tage vor dem Tode 0'3% kernhaltige
rothe Blutkörperchen. Nachdem in Anlehnung an die S c h m a u s’scheu
Studien über Kerndegeneration, Pappen heim und Israel am
embryonalen Blut, Bettmann am arsenvergifteten Knoche n-
rnark die Umwandlung der Erythroblasten zu Erythrocyten studirt
haben, versucht Verfasser es an einem dritten Fundort der kern¬
haltigen rothen Blutkörperchen, am Blut der essentiellen
progressiven perniciösen Anämie obige Ansichten zu er¬
läutern und zu vergleichen. Er kommt ebenfalls zu der Ueberzeugung,
dass die Umwandlung meist durch intracellulären Kernschwund zu
Stande kommt, auch bei den Normoblasten ; auch tritt der Ver¬
fasser der Definition Pappenheim’s über die Normo- und Megalo¬
blasten bei, indem er ihre Unterschiede nicht in der Grösse der
Zellen, sondern in der Form, Structur und Färbbarkeit des Kernes
sieht. Die auf den Blutbildern auftretenden freien Kerne sondert er in
drei Gruppen:
a ) in altersdegenerirte pyknotische,
b ) in jugendliche Kerne, zur Weiterentwicklung fähige,
c ) in Folge Labilität des Blutes entstandene.
Was nun die klinische Würdigung seiner Beobachtungen betriflt,
so fiudet Theodor es auffallend, dass man den Megaloblasten die
schlimmste prognostische Bedeutung zuschreibt, da in seinem Falle
mit der Verschlechterung des Falles die Megaloblasten sich bedeutend
verminderten, die Normoblasten dagegen sich stark vermehrten.
Während auf den ersten Präparaten circa 30% der kernhaltigen
Scheiben Megaloblasten waren, sind auf den letzten Präparaten nur
noch 2%. Der auffallendste Befund bei der Arbeit war jedoch eine
förmliche Ueberschwemmung des Blutes mit Normoblasten, die mit
der Verschlechterung des Falles Hand in Hand gingen und
bis auf 10% der kernlosen Scheiben anstieg. Solche Vermehrung
kommt sonst nur bei den Blutkrisen v. N 0 0 r d e n’s vor, um die es
sich ja hier nicht handeln konnte. Verfasser sucht schliesslich die
Frage zu beantworten, warum ein so maligner Verlauf in seinem Fall
trotz intensivster regenerativer Thätigkeit des Knochenmarks einge¬
treten ist, und fordert zu weiteren sorgfältigen Blutuntersuchungen
bei perniciöser Anämie speciell im kindlichen Alter auf.
Eine grössere Reihe von Abbildungen erläutern den Text.
VII. Soltmann (Leipzig) :Ueber Landr y’sche Paralyse.
Soltmann schildert das Bild der acuten fast apoplektiform
entstehenden aufsteigenden extenso-progressiven Lähmung, die in kurzer
Zeit durch Uebergreifen auf die centralen Centren unter bulbären Er¬
scheinungen zum Tode führt, ohne dass anatomische Veränderungen
im Rückenmark gefunden wurden. Erst in den Siebziger-Jahren fand
dieselbe Beachtung (G o m b a u 1 1, P e t i t f i 1 s, E i s e n 1 0 h r,
Westphal, Strümpell, Kahler, Pick und namentlich
v. Leyden). Soltmann geht auf die historische Entwicklung der
Erkrankung ein, deren Stellung im System erst durch die Lehre von
der Polyneuritis (Leyden) einigermassen fixirt ist. Soltmann
bespricht ferner ihre Beziehungen zu den Infectionskrankheiten
(Tuberculose, Influenza, Typhus, Milzbrand, Beriberi- Kake) und be¬
schreibt einen Fall au eiuem 12jährigen Mädchen, das foudroyant
unter Sehmerzen in 14 Tagen vollständig, mit Beginn der Lähmung
in den Beinen, am ganzen Körper gelähmt wurde. Scheinbar spontaner
Beginn ohne hereditäre Belastung, ohne vorhergehende Infections-
krankheit mitten in blühender Gesundheit, Blase und Mastdarm
intact, Sehnenreflexe aufgehoben, Oedeme, Erytheme, Salivation und
Hydronephrosis. Nach Schmiercur Besserung: Bewegungsfähigkeit
beginnt; nach Unterbrechung der Schmiercur in 14 Tagen Ver¬
schlimmerung: bulbäre Erscheinungen neben völliger Lähmung, Vagus-
erscheiuungen, Zwerchfellslähmung, Embryocardie, Dyspnoe, Cyanose,
Kopf pendelnd.
Zweite Schmiercur: Auffallende Besserung, Beine können ange
zogen, Schultern gehoben werden, mimische Bewegungen treten hervor,
Oedeme und Erytheme schwinden mehr, Bauchdeckenreflexe treten
hervor. Pause: Euphorie.
Dritte Schmiercur: Fortschreitende Besserung, keine bulbäre
Erscheinung wieder, Möglichkeit, Beine im rechten Winkel anzuziehen,
in der Hüfte beweglich, Arme bis Schulterhöhe gehoben, Oedeme und
Erytheme ganz verschwunden. Elektrische Erregbarkeit stark herab¬
gesetzt, partielle Entartungs reaction im Peroneus, leichte Beuge-
contractur im Ellbogengelenk.
Die Krankheit zeigt trotz acutestem Beginn doch protrahirten
Verlauf, Stillstand und trotz bulbärem Erscheinungen erfolgte der Exitus
letalis nicht. Die Eintheilung Jolly’s 1. in Landr y’sche Paralyse
als Polyneuritis, 2. als Myelitis, 3. ohne anatomische Veränderung sind
nach Soltmann nur graduelle Verschiedenheiten. Die acuteste Form
ist die ohne anatomische Veränderungen; die Kranken sterben, ehe es
zu Degenerationen kommt; die subacute Form klinisch und anatomisch
der Polyneuritis entsprechend, die chronische einer Myelitis. Im ersten
Falle keine Veränderung der elektrischen Erregbarkeit und keine
Atrophie, in letzterem zunehmende bis zur Entartungsreaction etc. Es
handelt sich um eine Neuronerkrankung, wo centrale und periphere
Theile des gleichen Neurons coindicirt entzündlich degenerativ er¬
kranken, wie Goldschneider und M 0 x t e s auch bei der Poly¬
neuritis annehmen. Damit ist die Stellung im System begründet.
Discussion: 1. Hoch sing er (Wien) berichtet im An¬
schluss an den Vortrag von Soltmann von einerschlaffen, in hyper-
acuter Weise zu Stande gekommenen, Lähmung der unteren Extremitäten
bei einem 3 '/3 Jahre alten Kinde, welche Hochsinger für eine
acute Polyneuritis hält. Nach zweimonatlicher interner Anwendung
von Hydrargyr. tannicum oxydulatum wurde vollkommene Heilung mit
intacter Locomotionsfähigkeit erzielt.
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637
2. Fritsche (Leipzig) beriehtet über sein eigenes Kind, das
im Anschluss an eine Influenza an einer schnell aufsteigenden schlaffen
Lähmung erkrankte, die in kurzer Zeit die Musculatur der Beine, des
Stammes und der oberen Extremitäten ergriff. Der anfänglich für acute
Landry’sche Parese gehaltene Fall wurde im Verlauf als Poly¬
neuritis acuta aufgefasst und ging gleichfalls zurück nach einer syste¬
matischen Schmiercur.
3. Rau eh fuss (Petersburg) berichtet, dass er die energische
Schmiercur seit 42 Jahren, seit Beginn seiner Praxis, bei Meningitis,
im Beginn der Poliomyelitis acuta und vor der Serumtherapie auch
bei Croup und Diphtherie durch Anregung seines Lehrers Eck ange¬
wendet habe. Rauchfass hat oft eelatante Erfolge gesehen, und
glaubt sich der Ansicht Soltmann’s anschliessen zu müssen, dass
die Erfolge des Quecksilbers hier wesentlich oder zum Theil wenigstens
der Beeinflussung der Toxine zuzuschreiben sind.
4. Soltmann (Schlusswort) kennt den Fritze’sclien Fall,
bei dem es sich um eine echte infectiöse Polyneuritis (ascendens) mit
Wurzelsymptomen handelte. Die von Soltmann eingeleitete Schmier¬
cur war von vorzüglichem Erfolge begleitet. Zu fast gleicher Zeit mit
diesem Fall beobachtete Soltmann sechs Fälle in der Privatpraxis
und zwei Fälle im Krankenhaus, wo es gar nicht zu ausgedehnter
Entwicklung kam, da auch hier unter der Inunctionscur schnelle
Besserung eintrat. Soltmann empfiehlt daher diese Behandlung aufs
Wärmste.
VIII. Rille (Innsbruck) : C reaping disease.
Diese durch eine bisher nicht genauer specificirte Dipterenart
veranlasste sehr seltene Hautaffection kommt vorzugsweise im Kindes¬
alter zur Beobachtung. An der Hand eines Wachsabdruckes erörtert
der Vortragende die klinischen Symptome derselben.
IX. Rille (Innsbruck) : Dermatitis exfoliativa
Rittershain.
Demonstration der Abbildung eines typischen Falles dieser
Affection bei einem am siebenten Lebeustage erkrankten und am
zwölften Tage verstorbenen Kinde.
Discussion: 1. Fischl (Prag) hat seinerzeit im Findel¬
hause zu Prag eine Serie derselben Infectionsquelle entstammender
Fälle gesehen, in denen zu Beginn grosse schlaffe Blasen, mit Serum
gefüllt, auftraten, nach deren Platzen sich ausgedehnte und progressive
Exfoliation der Haut einstellte. Fischl fragt Rille, ob er diese
Fälle als Dermatitis exfoliativa oder als Pemphigus foliaceus be¬
zeichnen würde.
2. H o c h s i n g e r* (Wien) macht darauf aufmerksam, dass die
Dermatitis exfoliativa R i 1 1 e’s eine ganz specifische Erkrankungsform
ist, welche mit diffusem Erythem an den vorspringenden Körperstellen
beginnt, worauf eine Abhebung der Epidermis stattfindet. In der Lite¬
ratur wird die Ichthyosis sebacea Kaposi, Intertrigo universalis und
Pemphigus zusammengeworfen. Vom Pemphigus der Neugeborenen
unterscheidet sich die Dermatitis exfoliativa R i 1 1 e’s im Beginne, später
können analoge Bilder bei Pemphigus und Dermatitis vorliegen. Die
Prognose ist, wenn ausgedehnte Exfoliation stattfindet, bei beiden
Affectionen sehr schlecht.
3. Finkeistein (Berlin) meint, dass die Differentialdiagnose
zwischen Dermatitis und Pemphigus gegeben ist dadurch, dass bei
ersterer eine ganz diffuse Abhebung der Haut stattfindet, deren end-
giltig Ablösung durch mechanische Insulte bedingt wird, während der
Pemphigus circumscripte Blasen macht. Durch die auf der Heubner-
sehen Klinik geübte Trockenbehandlung ist die Affection meist günstig
zu beeinflussen, indessen sind trotzdem alle Kinder zumeist an secun-
dären septischen Infectionen zu Grunde gegangen.
4. Bagin sky (Berlin): Die Fälle von Dermatitis exfoliativa
kommen auf der Berliner Klinik, wie gleichfalls Finkeistein
beobachtet hat, in Gruppen vor. Differentialdiagnostisch hebt B a-
g i n s k y hervor, dass auch bei der Dermatitis im Anfang Blasen auf-
treten können, dass dann allerdings die Abschuppung der Haut rapid
und ausgedehnt vor sich geht. Bisher war die Aussicht auf Erfolg in
der Behandlung stets ungünstig, so lange Bagin sky die Salbenbe¬
handlung angewendet hat. Seit Abänderung der Therapie in Trocken¬
behandlung und Verwendung von Tanninbädern hat Bagin sky zwei
Heilungsfälle beobachtet.
5. Soltmann (Leipzig) hat stets Eichelrindebädef angewendet
(später mit Zusatz von Liquor alum, acet.) und hat darnach Heilungen
gesehen; allerdings gingen die Kinder nach der Abheilung doch an
anderen Affectionen, die sich hinzugesellten, zu Grunde.
X. A. Hecker (München): Demonstration eines
Ventilharnfängers für Säuglinge beiderlei Ge¬
schlechtes.
Der Apparat hat je ein mit einem regulirbaren Luftkissen ver¬
sehenes Ansatzstück für Mädchen und Knaben. Er verhindert das
Zurückfliessen des einmal in das Glas gelangten Urins durch Ein¬
schaltung eines Lippenventils. Der Apparat ist durch ein einfaches
Bracherium am Körper befestigt. Sein Inhalt kann im Bett, ohne Ab¬
nehmen des Apparates durch eine einfache Drehung des Glases ent¬
leert werden. Er ist vorzüglich zur Privat- und poliklinischen Praxis
geeignet. Die Herstellung hat die Firma M e t z e 1 e s & Comp, in
München.
Discussion: 1. Bendix (Berlin): Der von Hecker de¬
monstrate kleine Apparat ist gewiss für das Auffangen von Urin zur
qualitativen Bestimmung gut zu verwerthen, wenngleich man für diesen
Zweck auch ohne besondere Apparate auskommt (Katheterisiren oder
Abhalten des Kindes). Die Nachtheile, welche dem Recipienten an¬
haften, sind die Länge des Gummistückes, welches leicht abknickt,
auch den Harn zurückfliessen lässt und ihn leicht ammoniakalisch
werden lässt. Die Pneumatik an dem abschliessenden Ring hat Ben-
d i x früher auch versucht, aber ohne damit zufrieden gewesen zu
sein. Bendix bedient sich für Stoffwechseluntersuchungen jetzt einer
grossen Glasretorte, die zwischen den Beinen des Säuglings ruht, auf
der ein ganz kurzer, ziemlich weiter Gummihut sitzt, welcher eigent¬
lich nur das Mittel zur Befestigung abgibt, denn der Penis hängt
direct in den Glasrecipienten hinein. Dieser kleine Apparat hat sich
bei mit Finkeis tein gemeinschaftlich ausgeführten Versuchen ausser¬
ordentlich bewährt.
2. J. Lange (Leipzig) demonstrirt einen in Turkestan von der
Bevölkerung (Sarten) wohl seit Jahrhunderten benützten kleinen Apparat
für Knaben und Mädchen zum Harnablassen. Eine kurze Beschreibung
mit Abbildung wird demnächst erscheinen.
XI. Hecker (München) : Neueres zur Pathologie der
congenitalen Syphilis.
Die Schwierigkeit der pathologisch-histologischen Untersuchungen
liegt zum Theil darin, dass wir über die normalen Zustände beim
älteren Fötus und beim Neugeborenen zu wenig unterrichtet sind.
Heck er hat daher zur Controle ein zahlreiches, sicher nicht syphili¬
tisches Vergleichsmaterial gesammelt. Die Untersuchungen sind eine
Fortsetzung der im Jahre 1898 veröffentlichten. Heute ergibt sich
Folgendes: Die Niere ist wegen der später eintretenden Maceration ein
dankbareres Object zur Untersuchung, als die Leber. Sie ist auch viel
regelmässiger an der congenitalen Syphilis betheiligt, als die Leber. Die
Nierensyphilis des Fötus äussert sich durch Wucherungsvorgänge am
Bindegewebe und den Gefässen; die des Säuglings dagegen durch
atrophische und degenerative Processe am Epithel. Sie ist klinisch in
allen Fällen durch Albuminurie und Cylinder manifest. Die structurelle
Entwicklung der Niere ist zur Zeit der Geburt noch nicht abge¬
schlossen. Der Nachweis der charakteristischen Wachsthumszone an der
Peripherie der Niere ist also nicht, wie von verschiedenen Seiten be¬
hauptet wurde, etwas für Syphilis Charakteristisches. Auch die Ent¬
wicklung der Leber ist zur Zeit der Geburt noch nicht beendigt. Ihre
Hauptfunction zur Fötalzeit besteht in der Blutbildung, welche Thätig-
keit sie auch noch eine kurze Zeit lang nach der Geburt beibehält.
Es ist wichtig, in zweifelhaften Fällen lebend Geborener bei vor¬
handener elterlicher Syphilis die Nabelschnur sofort nach der Geburt
zu untersuchen, da man aus ihr allein oft eine zweifellose Diagnose
der Syphilis erhält.
XII. Schlossmann (Dresden) : Zur pathologischen
Anatomie der Lues hereditaria.
Vortragender berichtet über Untersuchungen, die sich alle auf
Kinder, die mehr oder weniger lange gelebt haben (zehn Tage bis
neun Monate) beziehen. Bei allen diesen Kindern fanden sich mehr
oder weniger schwere Veränderungen an den Nieren. Diese erkranken
vorzugsweise bei der Lues hereditaria. Anatomisch kann man drei
Classen unterscheiden : 1. Parenchymatöse Veränderungen, 2. paren¬
chymatöse und interstitielle Veränderungen, 3. vorzugsweise interstitielle
Processe mit Schrumpfung. Alle parenchymatösen Processe und die¬
jenigen Formen, bei denen sich geringe secundäre Veränderungen
finden, ist Vortragender geneigt, nicht der Lues als solcher, sondern
als zu Gastroenteritiden prädisponirendem Moment zuzuschreiben. Da¬
gegen sind die rein interstitiellen Formen als specifisch luetische auf¬
zufassen. In allen Fällen liess sich intra vitam die Nephritis nach-
weisen ; letztere dürfte man überhaupt bei syphilitischen Kindern zu
irgend einer Zeit finden. Die regelmässige Urinuntersuchung kranker
Säuglinge ist daher eine unerlässliche und wohl durchzuführende
Forderung.
Discussion: 1. Hochsinger (Wien) bemerkt, dass er
nicht eine generelle Wachsthumshemmung der Niere durch Syphilis an¬
nimmt, sondern dass er stets nur Abschnürungen von embryonalen
Parenchympartien durch neu gebildetes Bindegewebe als Ursache dieser
Entwicklungsstörungen angenommen hat. Im Uebrigen betont er die
volle Harmonie zwischen seiner und Hecke r’s, sowie Schloss-
m a n n’s Angaben.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 27
2. Soltmann (Leipzig) mahnt zur Vorsicht, den gegebenen
Nierenbefund auf Lues zu beziehen. Säuglinge, zumal luetische, leiden
oft an dyspeptischen Magen-Darmaffectionen, die zu parenchymatöser
Nephritis mit Albuminurie führen (toxische Nephritis); die in den demon-
strirten Präparaten (Uecker) vorhandene interstitielle Nephritis ist,
wenn vorhanden, sehr unbedeutend. Was die Knochenaffectionen an¬
langt, so findet man sie bei älteren verstorbenen luetischen Säuglingen
sehr selten, wohl aber findet man die Osteochondritis fast regelmässig
bei neugeborenen syphilitischen Kindern.
3. Fisch 1 (Prag): Die Divergenz zwischen klinischen und ana¬
tomischen Befunden bei hereditäter Lues ist weiter nicht merkwürdig,
da syphilitische Kinder oft an intercurrenten Krankheiten sterben, ohne
dass die syphilitischen Haut- und Schleimhautmanifestationen auf
innere Organe fortschreiten müssen, zumal ja eine entsprechende
Therapie eingeleitet wird. In der Deutung interstitieller Entzündungen
ist grosse Vorsicht am Platze, da solche auch septischer Natur sein
können. Unbedingt specifisch sind ja doch nur die gummösen und zu
Bindegewebsneubildung führenden Veränderungen.
4. Hecker (München): Schlusswort: Die Specificität der
parenchymatösen Erkrankungen ist auch nach Hecke r's Ansicht, wie
bereits im Vortrage betont, durchaus nicht erwiesen. Auffallend ist
nur die Thatsaehe, dass wirklich parenchymatöse Nephritis fast nur
bei syphilitischen Säuglingen vorkommt. Dass man, wie Soltmann
und Schlossmann hervorheben, bei älteren Kindern fast nie mehr
Knochenerkrankungen findet, liegt wohl daran, dass eben nur
leichtere Fälle zum Leben kommen, die schwereren vorher absterben.
Das Vorkommen von Granulationsgewebe in der „neogenen“ Zone ist
nichts Pathologisches, da eine Unterscheidung desselben von dem nor¬
malen fötalen Gewebe in der Zone kaum zu machen ist. Eine
generelle Einwirkung des Syphilisgiftes auf die Wachsthumsverhältnisse
speciell in der Niere ist, soweit sie nicht rein mechanischer Natur sind
(Abschnürung ganzer Bezirke durch gewuchertes Bindegewebe, Gefäss-
compression und Verstopfung) noch in keiner Weise erwiesen, und
kann Hecker in dieser Hinsicht auch den Befund H o c h s i n g e r’s
von dem persistirenden cubischen Epithel in den Glomerulis nicht
bestätigen.
XIII. Rommel (München) : Beitrag zur Behandlung
frühgeborener Kinder.
Während die Mortalitätsstatistik des ersten Lebenshalbjahres
durch die Todesfälle an Magen Darmerkrankungen beherrscht wird,
tritt in den ersten Lebenswochen noch in beträchtlicher Procentzahl
als Todesursache die angeborene Lebensschwäche meist mit Früh¬
geburt identisch oder doch durch sie hervorgerufen hinzu. Mehr als
ein Drittel aller im ersten Lebensmonate gestorbenen Kinder starb,
wie ich aus den Todtenscheinen zweier Jahrgänge in München ersehen
konnte, an Lebensschwäche, respective Frühgeburt. Wenn dies den
Kinderärzten noch zu wrenig bekannt ist, so liegt das theils daran,
dass die Kinder zu dieser Zeit noch dem Forum der Geburtshelfer
unterstehen, theils daran, dass über 50 °/0 nicht ärztlich behandelt
wurden !
Ich hatte im vorigen und diesem Jahre die ärztliche Leitung
über die Kinderbrutanstalt, welche hier gelegentlich der vorjährigen
und diesjährigen Ausstellung gezeigt wurde. In Anwendung standen
die von Lion construirten Couveusen. Es wurden im Ganzen
16 frühgeborene Kinder behandelt; 9 im vorigen Jahre, 7 heuer.
1 1 davon hatten ein Anfangsgewicht unter 2000 g — das kleinste
wog 1300 g. Fünf waren über 2000 g und wurden zu Anfang aus
Mangel an Material und auf besonderen Wunsch der Eltern genommen.
Die Kinder zeigten bei ihrer Aufnahme sämmtlich subnormale Tem¬
peratur, die jedoch bald zur Norm in den Couveusen anstieg, worauf
dann auch Gewichtszunahme eintrat. Die Ernährung wurde auf das
Peinlichste überwacht. Anfänglich nur Ammenbrust, wobei auf die ge¬
ringen getrunkenen Mengen als Einzelmahlzeit hingewiesen sei, 10
bis 30 g bei zweistündiger Pause. Wenn die Kinder 1800 <7 erreicht
hatten, wurde bei guter Verdauung Beinahrung gegeben, und zwar
wurde verdünnte Kuhmilch (1:3) und verdünnte G ä r t n e r’sche Fett-
milch genommen, mit beiden kam ich gut zum Ziel bei vorsichtigster
Dosirung der Einzelmahlzeit. Die Behandlungsdauer betrug durch¬
schnittlich 41 Tage. Von den 16 behandelten Kindern starben vier,
drei an Eklampsie, eines an Miliartuberculose. Die durchschnittlichen
täglichen Zunahmen betrugen 17 c/. Die erzielten Resultate sind als
günstige zu bezeichnen und ist eine weitere Verbreitung und An¬
wendung der Apparate zu empfehlen.
*
V. Sitzungstag, Freitag den 22. September 1899.
I . Schmorl (Dresden) : Ueber Störung des Knochen-
wachsthums bei Barlo w’scher Krankheit.
Bei sechs Fällen von Barlo w’scher Krankheit, die der Vor¬
tragende auf dem Sectionstische zu beobachten Gelegenheit gehabt
hat, war der grobe anatomische Befund in allen Fällen der von
Barlow in seiner classischen Arbeit beschriebene. Ein Fall war un-
complicirt, bei zwei Fällen lag zugleich eine zum Stillstand gekommene
Rachitis vor, bei drei Fällen concurrirte eine floride Rachitis mässigen
Grades.
Den mikroskopischen Befunden liegen die drei zuerst erwähnten
Fälle zu Grunde. Die Knochenveränderungen sind hier vorwiegend da¬
durch charakterisirt, dass einerseits der Knochen selbst eine Verän¬
derung gegen die Norm erfährt und dass andererseits das Knochenmark
in den peripheren Enden der langen Röhrenknochen, und in den Epi¬
physenkernen seinen lymphoiden Charakter verliert, und dass endlich
periostale und endostale Blutungen eintreten.
Die Verminderung der Knochensubstanz ist durch mangelhafte
Apposition und Resorption bedingt, die in den einzelnen Fällen ver¬
schiedene Intensitätsgrade erreichen und besonders im Gebiet der
endochondralen Ossification zu Veränderungen Veranlassung geben,
welche für das Eintreten der bei Morbus Barlowii so ausserordentlich
häufigen Fracturen in der Nähe der Epiphysenlinie von grosser Bedeu¬
tung sind.
An den Diaphysen führen die genannten Vorgänge zu Osteoporose.
Das Knochenmark hat seinen lymphoiden Charakter eingebüsst und ist
in ein feinfaseriges zell- und gefässarmes Gewebe umgewandelt. Osteo¬
blasten finden sich in ihm sehr spärlich. Blutungen sind meist sehr
zahlreich vorhanden; bei Knochen, an denen Fracturen und Infractionen
vorhanden waren, wurde häufig eine Erfüllung der Markräume mit
fibrinösen Massen gefunden.
Die subperiostalen Blutungen in den langen Röhrenknochen sind,
wie Schmorl glaubt, vorwiegend auf die Fracturen und Infractionen
zurückzuführen. Die Ansicht Barlow’s, dass die Blutungen die
primären Veränderungen darstellen, von denen der Schwund des
Knochengewebes abhängig ist, fand Schmorl nach seinen Unter¬
suchungen nicht bestätigt, im Gegentheil spricht der Umstand, dass
dort, wo subperiostale Blutungen vorhanden sind, eine reichliche
Umbildung von Knochensubstanz statthat, gegen die B a r 1 o w’sche
Ansicht.
Zwar combinirt sich M. Barlowii häufig mit Rachitis, indessen
kann die Erkrankung auch ganz unabhängig von der Rachitis zur Ent¬
wicklung gelangen (N a e g e 1 i, Schmorl). Ob M. Barlowii dem
Scorbut zuzurechnen ist, lässt sich zur Zeit noch nicht entscheiden, da
Untersuchungen über die beim Scorbut vorkommenden Knochenerkran¬
kungen noch nicht vorliegen. Für die Annahme, dass die Barlow-
sche Krankheit infectiösen Ursprunges ist, hat Schmorl keine An¬
haltspunkte gefunden.
Discussion zu dem Vortrage Schmor l’s.
1. Soltmann (Leipzig): Die schönen Präparate Schmorl’s
und die Erläuterungen dazu machen es klar, dass B a r 1 o w’sche
Krankheit keine Rachitis ist, dass die Blutungen und Fracturen nur
secundär sind. Soltmann betont, dass die Blutungen aber nicht nur
subperiostal, sondern auch subcutan und intramusculär, und die Aehn-
lichkeit mit dem Erythema nodosum zumal Anfangs enoim ist. Die
Callusbildung sowohl als auch die Fractur sind bei Rachitis und
Barlo w’scher Krankheit ganz verschieden, bei ersterer stets
diaphysär (meist Infraction), bei letzterer nur epiphysär. Durch die
Callusbildungen bei den meist auf mechanischem Wege mit Blutungen
zu Stande kommenden Infractionen kann ein rachitisches Bild vor¬
getäuscht werden, wie das bei dem von Schmorl vorliegendem
Sternum Rippenpräparat ganz ersichtlich ist. Man könnte demnach von
pseudo rachitischen Knochenveränderungen bei
B a r 1 o w’scher Krankheit reden. Aetiologisch ist wohl sicher
eine Infection respective Intoxication (deletäre Wirkung giftiger Stoff-
wechselproducte) anzunehmen. Mit den Spontanluxationen verhält es
sich ähnlich wie bei Lues. Bei den Phosphorversuchen (grosse Dosen)
von Kassowitz scheinen bezüglich der Blutungen andere Momente
vorzuliegen; die vermehrte Markraumbildung, die strotzende Blutfülle
spricht dagegen, dass es sich um ähnliche Veränderungen, wrie beim
Barlow handelt.
2. Baginsky (Berlin) betont die Schwierigkeit der Differential¬
diagnose zwischen Barlow und Rachitis in einzelnen Fällen. Ba¬
ginsky hat in seinem Krankenhause Fälle beobachtet, welche mit
einer Weichheit und Biegsamkeit der Knochen einhergingen, dass
man an Osteomalaeie denken konnte und bei denen nebenher Ver¬
dickungen an der Diaphyse zu Stande kamen mit hämorrhagischem
Charakter; ein Fall zeichnete sich durch eine ganz ausserordentliche
Verdickung des Periosts aus neben Knochenschwund. Es gibt also
Fälle, welche ein eigenartiges Mischbild zum Mindesten zwischen Ra¬
chitis und Barlow’scher Krankheit, vielleicht auch zwischen beiden und
der Osteomalaeie bieten. Weitere Belege über diese Fälle wird dem¬
nächst der Assistent des Herrn Baginsky, Dr. W eissenberg,
veröffentlichen.
Bezüglich der Aetiologie führt Baginsky zwei Beobachtungen
mit absoluter Sicherheit auf den länger dauernden Genuss von steri-
Nr. 27
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
639
lisirier Milch aus einer Curanstalt zurück, dagegen hat Baginsky
keinen Fall von B a r 1 o w’scher Krankheit gesehen nach dem Genuss
von nach S o x h 1 e t’s Priucip im Haushalt sterilisirter Milch. B a-
g i n s k y glaubt, dass es die Lagerung der sterilisirten Milch ist,
welche derselben die Schädlichkeit gibt.
3. Heubner (Berlin) hebt hervor, dass bezüglich der Bezie¬
hungen des Barlow zum Scorbut und zur Rachitis auch Herr S c h m o r 1
sich heute noch nicht anders äussert, wie Ileubne r es vorsichtiger
Weise in seiner ersten Mittheilung über die Barlow’sche Krankheit
getlian, welche die Affection zuerst in Deutschland bekannt gemacht
hat („scorbutartige Erkrankung rachitischer Säuglinge“, 1893). Eine
wichtige Rolle spielt hier offenbar die Atrophie, die Osteoporose.
Heubner vermisst — das mechanische Moment zugegeben — das
Bindeglied zwischen Infraction oder Fractur und Blutungen, sowie
periostalen Schwellungen. Heubner berichtet noch über eine Beob¬
achtung von Barlo w’scher Krankheit, wo eine Schwellung von so
unerhörter Grösse vorlag, dass von einem ersten Chirurgen die Dia¬
gnose eines Osteosarkoms gestellt wurde. Der Fall ist geheilt. Eine
derartige Ausdehnung von Blutungen und Schwellungen bemerkt man
doch nicht einmal bei Fracturen Erwachsener, die durch ganz andere
Gewalt entstehen als die Spontanfracturen, wie sie hier vorliegen.
4. Schmorl (Schlusswort) hebt hervor, dass es ihm zunächst
daran lag, den wesentlichen Befund festzustellen, verallgemeinert möchte
er seine Beobachtungen nicht wissen. Bezüglich der Rachitis steht
Schmorl streng auf dem Standpunkt Pommer's. Wenn bei den
im Verlauf der Rachitis eintretenden Infractionen oder Fracturen aus¬
gedehnte Blutungen nicht Vorkommen, so möchte dies darauf zurück¬
zuführen sein, dass diese Veränderungen sich bei Rachitis am
weichen Knochen entwickeln, und es in Folge dieser Weichheit
mehr zu Verbiegungen und Einknickungen als zu echten Fracturen
kommt; es werden dabei Blutgefässe weniger leicht verletzt als bei
uncomplicirten Fällen von Barlo w’scher Krankheit, wo der Knochen
hart ist und die spitzen Fragmentenden reichlich Blutgefässe zerreissen.
Bei Barlo w’scher Krankheit kommt es ausserdem nicht selten zu
Einspiessungen der Diaphyse in die Epiphyse (so dass die Epiphyse
wie ein Pilz auf der Diaphyse aufsitzt), was bei Rachitis nie beob¬
achtet wurde.
II. Sonnenberger: «) Ueber eine bisher nicht
genügend beachtete Ursache hoher Säuglings¬
sterblichkeit.
Die Verdauungskrankheiten der kleinen Kinder sind als Intoxi
cationen in den allermeisten Fällen aufzufassen. Dieselben sind theils
secundärer Natur, theils primärer — bacterielle Intoxication — und
sind in letzterem Falle durch mit der Nahrung und speciell mit der
Thiermilch eingeführte chemische Gifte veranlasst. Derartige Milch-
intoxicationen ereignen sich sehr häufig im Säuglingsalter und sind als
Krankbeits- und Todesursache bis jetzt sehr unterschätzt worden. Die
Gifte sind sehr oft im Viehfutter enthalten und gehören in die Classe
der Alkaloide, Glykoside, Amide, Enzyme etc. Sie können sowohl im
Grünfutter enthalten sein (durch giftige Unkräuter, wie solche that-
sächlich auf vielen Wiesen und Kleeäckern Deutschlands und Oester¬
reichs Vorkommen; dann Fütterung mit Hopfen-, Reb-, Kartoffelkraut)
als auch im Trockenfutter (mit Unkrautsamen verunreinigte Kleie,
Schlempe, Oelkuchen etc.). Gelangen diese Gifte durch die Milch in
den Organismus des gegen chemische Noxen sehr empfindlichen Säug¬
lings, so veranlassen sie Verdauungsaffectionen oft sehr schwerer Art,
auch können daneben die specifischen Symptome des eingeführten
Giftes Vorkommen. Die Fütterung müsste auf dem Grundsatz basiren:
Fernhaltung aller Gifte und Giftproducenten (der bisherige Grundsatz:
gleicbmässige Zusammensetzung der Milch ist, in Kürze nachgewiesen,
nicht rationell), also vor Allem reines Futter, welches unter den
jetzigen landwirtschaftlichen Verhältnissen in einem grossen Theile
Deutschlands allerdings nur durch ausgewählte Trockenfütterung zu er¬
reichen ist. Der zunehmenden Verunkrautung der Wiesen und Kleeäcker
ist durch Aufklärung der Landwirthe, eventuell durch gesetzgeberische
Massnahmen entgegenzuarbeiten.
II. Sonnenberger: b) Ueber Kinder milch.
Die Kindermilchfrage, d. h. die Frage, was wir unter „Kinder¬
milch“ zu verstehen haben, ist eine eminent wichtige, denn die hohe
Säuglingssterblichkeit in einem grossen Theile Deutschlands hängt in
erster Linie von der schlechten Beschaffenheit der in vielen Fällen zur
künstlichen Säuglingsernährung verwendeten Milch ab. Es ist, um
eine Besserung zu erreichen, das Volk überall darüber aufzuklären,
was wir unter „Kindermilch“ zu verstehen haben und dass mit der
Sterilisirung allein eine Milch nicht gut gemacht werden kann und der
Zweck der Säuglingsernährung nicht erreicht wird, wenn sie nicht nach
richtigen Principien producirt worden ist. Pflicht der einzelnen Com-
munen ist es, für die Zwecke der Säuglings- und Krankenernährung
ihrer Bevölkerung eine geeignete Milch zu Preisen, die auch den
Minderbemittelten die Beschaffung derselben ermöglichen, zu verschaffen.
Die Städte haben in ihren Bestimmungen über den Vertrieb von Milch
vor Allem die Kindermilch im Auge zu behalten. Die Rechtsprechung
soll sich nicht allein mit den sogenannten Milchfälschungen befassen,
sondern auch darauf achten, dass, was unter der Bezeichnung
„Kindermilch“ verkauft wird, auch wirklich eine solche ist. Obgleich
die jetzige Gesetzgebung zwingende Handhaben hiefür gibt, so wäre
doch eine authentische Regelung dieser Frage — vielleicht auf dem
Wege eines Nachtrages zum Nahrungsmittelgesetz — sehr wiinschens-
werth.
Discussion zu den Vorträgen des Herrn Sonnenberger.
1. Pfaundler (Strassburg) referirt über einen neuen in der
Milch von Wroblewski gefundenen Eiweisskörper, das Opalisin.
Dasselbe ist in der Kuhmilch in weit geringeren Mengen als in der
Frauenmilch vorhanden und scheint durch seine Eigenschaften im
Stande zu sein, die zwischen den G’aseinen beider Milchen vorhandenen
Differenzen aufzuklären. Wenn sich die Untersuchungen Wroblewski’s
bestätigen, so wäre hier ein Weg gezeigt, durch Zusatz von Opalisin
zur Kuhmilch die vorhandenen Differenzen zwischen ihr und der
Frauenmilch auszugleichen.
2. Schlossmann (Dresden): In einigen Städten existiren
bereits genaue Bestimmungen darüber, welche Milch unter dem
Namen „K i n d e r m i 1 c h“ in den Handel kommen darf; in Dresden
werden zur Zeit solche Bestimmungen ausgearbeitet, die äusserst scharf
den Begriff „K i n d e r m i 1 c h“ definiren und für ihren Vertrieb die
Concession verlangen.
3. Baginsky (Berlin): Die Bestrebungen, gute Kindermilch
zu gewinnen, gehen in Berlin unter dem Einfluss der Behörden einen
guten Weg, indem durch ein Gutachten, das auf Veranlassung der
Ministerien von einer Commission abgegeben, fixirt worden ist, was
man unter Kindermilch zu verstehen babe. Im Wesentlichen handelt es
sich dabei um eine Milch von cuberculin geimpften Thieren, um die
Fixirung der Zeitdauer von der Gewinnung der Milch bis zum Ver¬
brauch (12 Stunden) und um ihre Temperatur (10° R.). Baginsky
ist ausserdem in der glücklichen Lage, über einen Musterstall für sein
Krankenhaus in Berlin zu verfügen, wo jede Fütterung des Viehes, die
Reinigung des Stalles und dreimalige tägliche Milchlieferung in be¬
stimmter Weise festgesetzt sind. Auch steht die Milch unter strengster
chemischer und bacteriologhcher Controle durch Dr. Sommerfeld,
dem Assistenten von Baginsky. Die Vortheile, die dem Lieferanten
des Krankenhauses auch sonst erwachsen, haben dazu geführt, dass
sich auch andere Stallbesitzer zu der Controle des Krankenhauses
herandrängen. So verbessere man durch die Praxis die städtischen
Milch Verhältnisse.
4. Conra d (Essen a. d.Ruhr) hält die bisher üblichen Controlen der
Milch auf Fettgehalt und Verdünnung, beziehungsweise Verfälschungen
für unzureichend und verlangt — wenigstens für die „Iv inder¬
milch“ — die allgemeine Einführung einer polizeilichen Controle des
Schmutzgehaltes (nach Renk), sowie des Säuregehaltes der Milch vor
und nach einstiindiger Aufbewahrung im Brutschrank.
5. Sonnenberger (Schlusswort) betont wiederum, dass man
in der Milchfrage nicht pessimistisch genug denken könne, man müsse
durch Belehrung des Publicums, durch polizeiliche Festsetzungen über
den Begriff „Kindermilch“, durch Anregung bei der Gesetzgebung da¬
hin streben, dass die in dieser Beziehung meist sehr schlechten Ver¬
hältnisse gebessert würden.
III. A. Baginsky (Berlin): Ein Beitrag zu den secun-
dären Infectionen der Kinder.
Baginsky bittet zu entschuldigen, wenn er zu verspäteter
Stunde, allerdings nicht ohne den ausdrücklichen Wunsch der Gesell¬
schaft, und weil Unwohlsein ihn bisher abhielt, einige Fälle zum Vor¬
trag bringe, welche zweckmässiger im Anschlüsse an die Referate zu
den septischen Processen der Kinder mitgetheilt worden wären. Die
Fälle, nicht allein an sich interessant, haben auch nach der Richtung
hin bestimmte Bedeutung, dass sie den Nachweis erbringen, wie man
wirklich septische Processe bei Kindern nicht übersieht, sondern sehr
wohl bei einiger Aufmerksamkeit zu entdecken vermag. Dass Kinder,
besonders der jüngsten Altersstufen, leicht septischen Processen anheim¬
fallen, wird kein verständiger und erfahrener Beobachter leugnen. Auf
der anderen Seite ist es aber ein grosser Fehler, auf Grund nicht ge¬
sicherter Verhältnisse, etwa nur auf Grund statistischer Zahlenzusam¬
menstellungen infectiöse und septische Processe herzuleiten, wo solche
nicht vorhanden sind, wo vielmehr Vermuthungen an die Stelle von
Thatsachen treten.
1. Der erste Fall, am 12. Februar 1899 ins Kinderkrankenhaus
eingebracht, betrifft ein 1 Jahr, 4 Monate altes Kind, Erna Kuring.
Baginsky gibt nur ganz kurz die charakteristischen Daten, behält
sich das Weitere, wie auch für die übrigen Fälle, für eine ausgiebige
Publication im Archiv für Kinderheilkunde vor.
Das Kind sieht schwer leidend aus, die physikalische Diagnostik
erweist eine rechtsseitige Pneumonie, nebenher Otitis media. 39'4°C.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 27
Temperatur, leichte Albuminurie. Starke Absonderung aus der Nase
In dem Secret keine charakteristischen Bacterien, insbesondere keine
Löffler- Bacillen.
In den nächsten Tagen zeigt sich an der linken Seite der Nase
eine kleine Schrunde mit bläulicher Verfärbung der infiltrirteu Um¬
gebung. Pneumonie weiter verbreitet. Elendes septisches Aussehen des
Kindes. Temperaturen schwanken bis 40° C. Albuminurie. Auf der
Haut des Rückens sind vereinzelte, bis linsengrosse, grauweisse,
flache Erhebungen aufgetreten, die von einem rothen Hofe um¬
geben sind.
6. März. Die kleinen Hautefflorescenzen haben sich zu höchst
eigenthümlichen Gebilden entwickelt. Auf der linken Scapula befinden
sich drei groschongrosse, kreisrunde Stellen, die 8förmig ineinander,
fliessen. Die Mitte dellenartig eingesunken, scharf umrandet. Um den
centralen, eingesunkenen, gelbgrauen Kreis zieht eine rothe Zone mit
freigelegtem Corium, etwa in der Breite von 2 — 3 mm. Die Umgebung
der ganzen Efflorescenz stark infiltrirt, dick.
Derartige Efflorescenzen treten in der Folge noch an den ver¬
schiedensten Körperstellen vielfach auf, die älteren Efflorescenzen
breiten sich intensiv aus. Die Infiltration um die glänzende und ge¬
schwollene Nase hat intensiv zugenommen. Das Secret ist reichlich.
Rascher Verfall der Kräfte. Diarrhoische Stühle. Pneumonie fort¬
schreitend.
Harn, Blut, Nasensecret werden zur bacteriologiscben Unter¬
suchung entnommen, und aus allen Proben, ebenso wie aus den noch
frischen Efflorescenzen ist mit voller Sicherheit der Bacillus pyocyaneus
nachzuweisen und rein zu cultiviren. Das Kind stirbt unter Convul-
sionen am 8. März. Section sofort post mortem. Aus dem Sections-
befund sei nur erwähnt, dass sich embolische Herde in den Nieren vor¬
fanden, und davon ebenfalls der B. pyocyaneus — ebenso wie aus
den meisten anderen Organen — nur nicht aus der Leber, cultiviren
liess, in einzelnen Organen zunächst von Coccen begleitet; auch im
anatomischen Präparate sind die Bacterienherde nachweisbar.
Der Fall fügt sich den neuerdings mehrfach als Ecthyma gangrae¬
nosum beschriebenen Pyocyaneusinvasionen an. Baginsky hat auf
die Infectionsgefahr durch Pyocyaneus vor einiger Zeit schon, gelegent¬
lich seiner neueren Studien zu den Kinderdiarrhöen, hingewiesen. Hier
handelt es sich also um eine volle septikämische Invasion, die wohl
sicher von der Nase ausging.
2. Der zweite Fall betrifft ein sieben Monate altes Kind, Frida
Gläsel. Das Kind erkrankte plötzlich an Erbrechen und zeigte alsbald
duukelblauröthliche Flecken auf der Haut. Am 5. Mai 1897 auf¬
genommen.
Schwer erkrankt aussehend, gut genährt. Auf der Haut zahl¬
reiche rothblaue, kleine, bis erbsengrosse Flecken, an blutunterlaufenen
Stellen, kreisrund. Am Gesäss bis markstückgrosse, augenscheinlich
hämorrhagische Stellen; ebenso am Oberschenkel. Mundschleimhaut
cyanotisch, keine hämorrhagische Suffusion. Temperatur 38‘6.
Rapider Kräfte verfall mit Ausbreitung der Efflorescenzen. Tod
am 7. Mai. — Section sofort post mortem. Blutentnahme durch Herz-
punction. Sectionsbefund wenig charakteristisch. Nachweis von Strep¬
tococcen und einem Bacillus, der sich bei genauer Untersuchung als
Proteus charakterisirt. Die Infection scheint von der Lunge aus¬
gangen zu sein.
3. Elf Monate altes Kind, Ernst Grossmann, am 20. Mai 1899
aufgenommen. Vor 14 Tagen an einer Otitis media erkrankt; es soll
sofort dabei eine Lähmung einer Gesichtshälfte bestanden haben, die
sich zurückbildete. Anschwellung des linken Fussgelenkes, der linken
Schulter und des rechten Knies sollen gleichzeitig entstanden sein.
Auch dies bildete sich zurück, bis auf die Schwellung der Schulter,
die bei der Aufnahme noch besteht. Lues, so weit nachweisbar, aus¬
geschlossen. Gut genährtes, aber tief bleiches Kind und schwer leidend
aussehend. Beide Arme hängen regungslos herab. Schenkel nach aussen
rotirt. Kniegelenke leicht flectirt. Jede Bewegung schmerzhaft. Hohes
Fieber, indess schwankend zwischen 40° und 38° C. Im Verlaufe
Ikterus. Schwere Dyspnoe. Auftreten von pemphigusähnlichen Blasen
auf der Haut. Eiteransammlung im Schultergelenk, durch Punction
entleert. Tod im Collaps. Section sofort post mortem.
Section ergibt neben parenchymatösen Veränderungen der
Organe und eiteriger Ansammlung im linken Schultergelenk eiterige
Infiltration des rechten Felsenbeines. Sinus frei. Die bacteriologische
Untersuchung des frisch puuctirten Herzblutes ergibt Strepto- und
Diplococcen. Die Organe sind zum Theil frei von Bacterien, indess
finden sich Coccenherde in der Leber und in den Nieren. Dieselben
sind in mächtigen Haufen angesammelt und haben das Gewebe viel¬
fach zur Nekrose gebracht.
4. Paul Dubog, 1 3/4 Jahre alt, am 13. Mai 1899 aufgenommen.
Typischer Scharlach. Schwerer septischer Verlauf. Am 21. Mai
Temperatur 416° C., Puls 152, Respiration 52. Sensorium benommen-
Ueber den ganzen Körper hin zerstreute isolirt stehende rothe Flecken,
scharf umgrenzt, linsen- bis pfennigstückgross. Am rechten Unter¬
schenkel ein etwa thalergrosser, erhabener, rother Fleck. Aus diesem
wird zur bacteriologiscben Untersuchung Blut entnommen.
Tod am 22. Mai. Sofort post mortem Herzpunction und Blut¬
entnahme. Sectionsbefund sonst wenig charakteristisch. Die bacterio¬
logische Untersuchung sowohl des noch in vivo, wie des post mortem
entnommenen Blutes ergibt einen Diplococcus, der meist in kleinen,
runden Colonien wächst, sich hochvirulent für Mäuse erweist. Immer
;n Diplococcen auftretend, ordnet er sich nach Kettchen.
5. Gertrud Hering, elf Monate alt; am 22. März aufgenommen,
leidet seit längerer Zeit an Tussis convulsiva. Im Ganzen gut genährt
und kräftig. Am 7. Mai im Hospital mit Morbillen erkrankt. (Während
bis dahin Morbillen und Keuchhusten, zwar getrennt gehalten waren,
aber in einer Barake, gab dieser Infectionsfalls Anlass zu einer
Trennung der beiden Krankheitsformen in zwei verschiedenen Häusern.)
Schwerer Verlauf bei noch bestehenden schweren Keuchhusten¬
attaquen.
Am 11. Mai bei noch hohem Fieber, 40° C., Cyanose und
Dyspnoe. Am Rücken sind erbsengrosse, mit trübem Serum gefüllte,
mit lividem Rande umgebene Blasen aufgetreten. Aehnliche an den
Nates. Die bacteriologische Cultur aus den intacten Blasen ergibt
einen Diplococcus. Die Blasen entwickeln sich weiter zu tief gehenden,
wie mit einem Locheisen geschlagenen Ulcera.
Das Kind stirbt am 16. Mai. Die Section ergibt Pleuritis, Media
stinitis und Pericarditis purulenta, neben Pneumonia duplex.
Sofort nach dem Tode wurde die Herzpunction gemacht. Aus
dem Blute, ebenso wie aus dem Blaseneiter war ein Diplococcus nach¬
zuweisen, der sich als liochvilurent erwies. Die anatomische Unter¬
suchung der Haut erweist dieselbe in der Umgebung der Ulcera mit
demselben Coccus durchsetzt.
6. Francisca Unger, U/2 Jahre alt. Am 5. August 1899 auf¬
genommen. Das Kind ist vor 17 Tagen an Morbillen erkrankt und
zeigt seit acht Tagen, nach Abblassen des Exanthems, einen blasen¬
bildenden Ausschlag, über den ganzen Körper verbreitet. Das Kind
sieht schwer erkrankt aus, hoch fieberhaft. Temperatur 40'0° C. Blasen
von verschiedener Grösse, mit klarem oder leicht getrübtem Inhalt
über den ganzen Körper, besonders am Rücken verbreitet. Auch
Reste von Blasen, am Fusse Stellen mit freigelegtem Corium, zusammen¬
getrockneten Epidermisfetzen. Bronchitis diffusa. Geringe Albuminurie.
Im Verlaufe schwere Stomatitis mit, den confluirenden Bednar-
schen Aphthen ähnlichen Efflorescenzen, spontan entstanden. (Keine
Diphtherie, keine L ö f fl e r - Bacillen. (Allmäliger Collaps bei schwan¬
kendem, im Ganzen hohem Fieber. Temperaturen in den letzten Tagen
bis 41° C.; indess auch absinkend bis 37° C. Aus den frischen
Blasen entnommener Inhalt ergibt bei bacteriologischer Prüfung
Streptococcen ohne culturelle Besonderheiten ; auch für Mäuse nicht
virulent.
Letaler Ausgang unter Convulsionen am 17. August 1899. Herz
punction sofort post mortem. Section ergibt Otitis media duplex.
Thrombosis sinus longitudinalis. Thrombophlebitis. Meningitis.
Aus dem Herzblut Streptococcen, mit dem, dem Stic, pyogenes
eigenen Verhalten. Hochvirulent. Aus den Organen gezüchtete Strepto¬
coccen der gleichen Art, indess nicht von gleicher Virulenz.
Man sieht aus diesen kurzen Auszügen der bemerkenswerthesten
Angaben über die beobachteten Fälle, dass man bei einiger Aufmerk¬
samkeit septische Infection bei Kindern wohl entdecken, verfolgen und
charakterisiren kann. Aber gerade derartigen Thatsachen sollten davon
abhalten, ohne sichere Grundlage von septischen Infeetionen der
Kinder in Krankenanstalten zu sprechen, und durch Mittheilung nicht
gehörig fundirter und gesicherter Angaben Aerzten, Behörden und
Publicum einen nicht zu rechtfertigenden Schrecken vor den Kinder¬
pflegeanstalten, welcher Art dieselben auch seien, ob Krippe oder
Findelanstalt oder Krankenhaus, einzuimpfen.
Discussion: 1. Escherisch (Graz) hat sich durch
systematische, rasch nach dem Tode vorgeuommene Herzpunction von
der überraschenden Häufigkeit der septischen Erkrankungen bei Neu¬
geborenen und künstlich genährten Säuglingen überzeugt und empfiehlt
diese Methode.
2. Baginsky (Schlusswort) erwähnt bezüglich der Herz¬
punction, dass man sich davor hüten muss, die Lunge zu punctiren,
dies gibt eine Fehlerquelle ab, die vermieden werden muss. Gehäufte
Fälle von Sepsis kleiner Kinder wird man nur in schlecht ausge¬
statteten Anstalten finden, und dies kann vermieden werden.
(Fortsetzung folgt.)
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüiler in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, O. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner,
M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann,
R. Pal tauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt, A. v. Vogl,
J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gnssenbauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Red i girt von Di*. Alexander Fraenkel.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VI 1 1/1, Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang. Wien, 12. Juli 1900. Nr. 28.
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INHALT:
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel: 1. Aus der I. medicinisehen Klinik iu Wien (Hofratli
N o t h n a g e 1). Beitrag zur Aetiologie der B a s e d o w’schen
Krankheit und des Thyreoidisraus. Von Dr. Robert Breuer,
Assistenten.
2. Aus der III. medicinisehen Universitätsklinik in Wien. Beitrag
zur Kenntniss der recurrirenden Tetania gravidarum. Von Dr. C.
Hödlmoser, klinischem Assistenten.
3. Ueber den Ischler Salzbergschlamm. Von Dr. E. Wiener.
4. Bemerkung zum Aufsatze in Nr. 25 dieser Wochenschrift: G.
Holzknecht, Zum radiographischen Verhalten pathologischer
Processe der Brustaorta. Von Dr. Maximilian Wein¬
berger, Assistenten an der III. medicinisehen Klinik.
5. Gegenbemerkung zu Obigem. Von Dr. G. Holzknech t, Aspi¬
ranten der Klinik Nothnagel.
II. Feuilleton : Wilhelm Kühne f . Von Alois K r e i d I.
III. Referate: I. Die paroxysmale Tachycardie (Anfälle von Herzjagen).
Von Dr. August Hoffmann. II. Heart Disease: With
Special Reference to Prognosis and Treatment. By Sir William
H. Broadbent and F. H. J. Broadbent. Ref. Dr. Rudolf
Schmidt. — I. Zur Mechanik und Physiologie der Nahrungs¬
aufnahme der Neugeborenen. Von H. Cramer. II. Die Versuchs¬
anstalt für Ernährung, eine wissenschaftliche, statliche und huma¬
nitäre Nothwendigkeit. Von P h. Biedert. III. Ueber Zer-
reissungen des Nabelstranges und ihre Folgen für den Neugebo¬
renen. Von J. Bayer. IV. Säuglingsernährung. Von B, Bendix.
Ref. Knoepf elmacher,
IV. Aus verschiedenen Zeitschriften.
V. Therapeutische Notizen.
VI. Vermischte Nachrichten.
VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
Aus der I. medicinisehen Klinik in Wien (Hofrath Noth¬
nagel).
Beitrag zur Aetiologie der Basedowschen Krank¬
heit und des Thyreoidismus.
Von Dr. Robert Breuer, Assistenten.
Nach einem am 15. Juni in der Gesellschaft der Aerzte gehaltenen Vortrage.
I.
Die Anschauungen über die Pathogenese des Morbus
Basedowii und seine Stellung im pathologischen System haben
in den letzten 15 Jahren eine gründliche Aenderung erfahren.
Bis zur Mitte der Achtziger- Jahre wurde die Basedow’sche
Krankheit (welche ja ursprünglich als eigenthümliche Herz-
affection gegolten hatte) den Neurosen ohne anatomischen Be¬
fund zugezählt; als diejenige Stelle des Nervensystems, deren
functionelle Erkrankung den B a s e d o w’schen Symptomen-
complex erzeugen sollte, wurde — aus im Ganzen recht wenig
stichhältigen Gründen — bald der Sympathicus, bald der eine
oder andere Hirntheil bezeichnet.
Heute steht wohl die grosse Mehrzahl der Aerzte im
Lager Möbius’ und betrachtet mit ihm den Morbus Basedowii
als das Resultat einer Autointoxication durch krankhafte
Thätigkeit der Schilddrüse.
Die F ormulirung der »Schilddrüsentheorie« durch
Möbius im Jahre 1886 hatte die Aerzte nicht vollkommen
unvorbereitet getroffen. Die chirurgischen Erfolge der Base¬
dow - Behandlung durch Eingriffe an der Schilddrüse einer¬
seits und die Erfahrungen über das spontane und operative
Myxödem auf der anderen Seite hatten ja einer solchen Auf¬
fassung den Boden bereits geebnet, und es war daher begreif¬
lich, dass die neue Anschauung sich sofort eine grosse Zahl
von Anhängern zu verschaffen wusste, vor Allem aus den
Reihen der Chirurgen. Allerdings machte sich sofort auch eine
lebhafte Opposition, namentlich von neurologischer Seite, gel¬
tend. Doch liess sich nicht verkennen, dass die Zahl Derjenigen,
welche die »Neurosentheorie« der B a s e d o w’schen Krankheit
in ihrem alten Umfang vertheidigten, wenigstens in Deutsch¬
land, rasch zusammenschmolz. Und als die Erfahrungen über
den Thyreoidismus bekannt wurden, d. i. denjenigen Complex
von Vergiftungserscheinungen, welcher durch Einfuhr von
Schilddrüsensubstanz in den Körper experimentell erzeugt
wird, da sahen sich auch die überzeugtesten Anhänger der
Neurosentheorie bewogen, Zugeständnisse zu machen. Sie
concedirten, dass es neben dem echten, primären Morbus
Basedowii, welcher von ihnen nach wie vor aut eine
primäre functionelle Neurose eines Theiles des Centralnerven¬
systems zurückgeführt wird, und als dessen Typus die Fälle
von Basedow nach Schreck gelten, einen secundären,
symptomatischen Basedow gebe, d. h. eine Affection,
bei welcher zu einer schon längere Zeit bestehenden Schild-
drüsenaffection (Struma) B a s e d o w - Symptome in mehr oder
weniger grosser Zahl hinzutreten.
Dieser Dualismus wurde von Möbius vom Anfang an aut
das Schärfste bekämpft. Möbius steht auf dem Standpunkte,
dass es nicht angelie, hei zwei Kranken, welche sich durch
nichts unterscheiden, als dass bei dem einen die Struma zu¬
gleich mit den übrigen B a s e d o w - Erscheinungen aufgetreten
ist, während sie hei dem anderen schon längere Zeit vorher
bestanden hat, von ganz differenten Aftectionen zu sprechen
und bei dem einen eine functionelle centrale Neurose, hei dem
anderen eine Vergiftung anzunehmen. In beiden fällen handle
642
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 28
es sich um dieselbe Affection, welche thyreogen, d. h. durch
Vergiftung von der Schilddrüse aus entstanden sei. Nur sei in
dem einen Falle eine Schilddrüsenveränderung schon vor dem
Ausbruch der B a s e d o w - Erscheinungen klinisch nachweisbar;
im anderen Fall (genuiner, echter Morbus Basedowii der
Autoren), in welchem sich die Krankheit bei scheinbar vorher
gesunder Schilddrüse entwickle, lägen, allerdings für die
klinische Beobachtung nicht erkennbar, gleichfalls schon Schild¬
drüsenveränderungen vor, welche durch ein auslösendes Agens
(Schreck, körperliche Anstrengung etc.) plötzlich erst manifest
werden.
Es ist nur eine Consequenz dieser unistischen Auffassung
der Basedow- Erkrankung, dass Möbius, und ihm folgend
andere Autoren, auch jenen oben erwähnten Symptomencomplex,
welcher durch experimentelle oder therapeutische Einfuhr von
Schilddrüsensubstanz hervorgerufen werden kann und der unter
dem Namen des Thyreoidismus bekannt ist, in eine innige
Beziehung zum echten Morbus Basedowii bringen. Besteht
doch dieser Thyreoidismus aus einer Anzahl von Symptomen,
welche auch dem typischen Morbus Basedowii angehören
(Tachycardie, Zittern, psychische Erregung, Stoffwechsel¬
störungen etc.). Zwischen diesem Thyreoidismus, den mannig¬
fachen Formes frustes des Basedow und der vollentwickelten
Krankheit findet Möbius eine Reihe fliessender Uebergänge,
nirgends scharfe Grenzen und principielle Unterschiede.
Die Discussion über diese Fragen ist in der Literatur
der letzten Jahre mit grosser Lebhaftigkeit geführt worden,
eine grosse Menge vielleicht etwas verfrühter Detailhypothesen
sind ersonnen worden, um in einzelnen Differenzpunkten die
streitenden Meinungen zu versöhnen, und wenn sich auch nicht
gerade allzuviele Autoren der extrem scharfen Formulirung
Möbius' ausdrücklich angeschlossen haben, so scheint sie doch
immer mehr an Boden zu gewinnen.
Nur wenige Autoren widersetzen sich der Möbius-
schen Lehre in ihren principiellen Sätzen; so ist Kraus in
der neuesten zusammenfassenden Behandlung des Gegenstandes
(Die Erkrankungen der Schilddrüse in E b s t e i n - S c h w a 1 b e’s
Handbuch der praktischen Medicin. 1898) der Auffassung von
dem rein thyreogenen Ursprung der B a s e d o w’schen Krank¬
heit und ihren nahen Beziehungen zum Thyreoidismus mit
Entschiedenheit entgegengetreten.
Kraus anerkennt im Bilde des Morbus Basedowii eine
Reihe offenbar thyreogener Symptome; trotzdem hält er die
Auffassung der Krankheit als einer rein thyreogenen Affection
für undurchführbar. Er findet neben den thyreogenen Sym¬
ptomen in dem Krankheitsbild andere, welche ihm zweifellos
auf einer anderen (nervös cardio-vasculären) Grundlage er¬
wachsen scheinen; unter diesen vor Allem den Exophthal¬
mus, das eigenartigste, fast pathognomonische, nebenbei auch
beständigste Symptom des Morbus Basedowii. Dieser sei
kein thyreogenes Symptom, komme auch dem experimentellen
Thyreoidismus nicht zu, daher sei dieser letztere vom Morbus
Basedowii streng zu trennen. Kraus spricht sich ent¬
schieden gegen die Erweiterung des klinischen Begriffes »Morbus
Basedowii« aus; er leugnet den fliessenden Uebergang von
diesem zum einfachen Thyreoidismus. Er will die Basedow¬
sche Krankheit reinlich geschieden wissen von den Formes
frustes ohne Exophthalmus, von dem »secundären B as e d o w«,
der in Gestalt einzelner Symptome zu einer bestehenden Struma
hinzutritt, und ebenso auch von jenem Syndrom, welches er
selbst unter dem Namen des Kropfherzens als häufige Er¬
scheinung bei Strumösen geschildert hat. Er anerkennt zwar
eine Scliilddriisenintoxication als die Ursache einer Reihe von
Symptomen der echten B as e d o w’schen Krankheit, aber ihm
ist nicht die Erkrankung der Schilddrüse die erste Ursache
dieser Affection, vielmehr erblickt er das Priinum in einer cardio-
vascu 1 ären Neurose, einer abnorm starken, vielleicht auch quali¬
tativ abweichenden Erregbarkeit des Gefässsystemes. Diese er¬
zeuge unter der Wirkung gewisser Schädlichkeiten einerseits
den Exophthalmus, andererseits (und ihm coordinirt) eine Schild¬
drüsenveränderung, welch letztere dann ihrerseits die thyreo¬
genen Symptome hervorruft.
Die Differenz dieser priucipiell verschiedenen Anschau¬
ungen scheint mir hauptsächlich zu beruhen auf der ver¬
schiedenen Auffassung des Exophthalmus sowie
der anderen Augensymptome (G r a e f e’s Zeichen) und der Streit
dreht sich wohl hauptsächlich darum, ob es möglich sei, in
diesem Cardinalzeichen ein thyreogenes Symptom zu erblicken.
Es ist, wie ich glaube, bei dem heutigen Stande unserer
Kenntnisse noch so schwierig, detaillirtere Vorstellungen über
die Pathogenese der einzelnen Basedow- Zeichen ausreichend
zu begründen, dass es mir werthvoll erscheint, wenn Beobach¬
tungen bekannt werden, in welchen uns, zunächst nur für ge¬
wisse Fälle, der Entstehungsmechanismus der B a s e d o w’schen
Krankheit klarer wird, als in der grossen Masse der alltäg¬
lichen Beobachtungen.
Einige derartige Krankheitsfälle sollen im Folgenden mit-
getheilt werden. Ich beginne mit einem Falle, der mir deshalb
von Wichtigkeit zu sein scheint, weil in ihm die Frage nach
dem thyreogenen Ursprung des Symptomencomplexes sich ein¬
deutig beantworten lässt.
Der 48jährige Schneider L. Gl. wurde am 7. December 1899
in die Klinik aufgenommen. Der sehr intelligente Kranke, in dessen
Familie weder Nervenkrankheiten noch Struma vorgekommen sein
sollen, gab an, in jungen Jahren manchmal an halbseitigen Kopf¬
schmerzen gelitten zu haben; sonst sei er stets gesund gewesen.
Insbesondere habe bei ihm nie auch nur »die Ahnung eines dicken
Halses« bestanden; nie hatte er an Herzklopfen, Zittern etc. zu
leiden, war gar nicht »nervös«.
Anfangs Juni 1899 erkrankte er ganz acut in der Weise,
dass er eines Nachts mit heftigen Schmerzen in der linken Hals¬
seile in der Höhe des Kehlkopfes erwachte. Am nächsten Morgen
bemerkte er eine mächtige schmerzhafte Anschwellung der linken
Halsseite; zu den heftigen Schmerzen an dieser Stelle gesellten
sich Reissen in der linken Kopfhälfte und grosse Mattigkeit; das
Schlucken selbst flüssiger Nahrung war äusserst schmerzhaft. Ob
Fieber bestand, weiss Patient nicht. Nach vier bis fünf Tagen
nahmen die Schmerzen und Schluckbeschwerden ab, die An¬
schwellung der linken Halsseite ging rasch zurück und verlor sich,
wie Patient meint, fast vollständig. In den folgenden Wochen war
der Kranke im Ganzen beschwerdefrei, nur bemerkte er, dass er,
obwohl der Appetit wiedergekehrt war, abmagere, matt und auf¬
geregt werde und häufig, auch in der Ruhe, Herzklopfen be¬
komme.
Anfangs Juli wurde das Herzklopfen stärker und belästigt
seitdem den Kranken stark.
Er magerte nun trotz reichlicher Nahrung und guten Appetites
immer rascher ab.
Ende August bemerkte er, dass der Hals, aber ohne Schmerzen,
neuerdings anschwelle, und zwar beiderseits, rechts stärker als links;
gleichzeitig wurden die Augen grösser. Nun stellten sich auch
Hitzegefühl, Unruhe, Schlaflosigkeit ein; Patient begann an
Händen und Füssen zu zittern.
Seit Mitte September bestehen Schweisse, stärkerer Durst
und vermehrte Harnmenge. Zeitweise Heisshunger; der Stuhlgang
breiig oder flüssig, drei bis vier Entleerungen täglich. In der
letzten Zeit soll die Hautfarbe dunkler geworden sein; der Hals
sei seit dem Sommer nicht mehr gewachsen.
Bei der Aufnahme zeigte der Kranke das Bild eines
typischen Morbus Basedowii mit reich entwickeltem
Symptomenbild. Starke Abmagerung; Körpergewicht 48 hg.
Pulsfrequenz zwischen 90 und 100, leichte Arhythmie. Herzaction
sehr lebhaft, Herzgrösse anscheinend nicht verändert, reine Töne.
Starker doppelseitiger Exophthalmus mit deutlichem
Graefe’schen und Stell wag’schen Zeichen; Insufficienz der
Convergenz angedeutet. Keine Veränderungen der Pupillen. Massig
grosse, auffallend gleichmässig harte Struma, der rechte Lappen
bedeutend grösser als der linke: im unteren Ende des linken
Lappens eine etwa haselnussgrosse knotige Anschwellung, lieber
die Struma ziehen einige erweiterte, stark schwirrende Gefässe. Die
Drüsen an beiden Unterkieferwinkeln leicht geschwollen. Haut
heiss, feucht; der Oberkörper auffallend dunkel pigment irt,
besonders Gesicht, Hals und Hände. Starker, rascher, kleinwelliger
Nr. 28
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Tremor der Hände. Harnmenge circa 2 l. Kein Eiweiss, kein Zucker.
Stühle dünnbreiig, hell, enthalten etwas Schleim.
Therapie: Brom, Galvanisation.
Der Verlauf während des Aufenthaltes in der Klinik bot
zunächst keine Besonderheiten dar. Der Kranke magerte trotz
guten Appetites und völlig ausreichender Nahrungsaufnahme weiter
ab. Stimmung sehr gedrückt; Schlaflosigkeit.
Mitte December brachte eine leichte fieberhafte katarrhalische
Angina Pulsfrequenzen von 120—130 und starke Arhythmie, sehr
heftiges Herzklopfen. Nach leichter Besserung wurde am 26. De¬
cember Patient sehr aufgeregt, unruhig, die Schlaflosigkeit ausser¬
ordentlich hartnäckig; geringe Nahrungsaufnahme.
Am 28. December schon tagsüber hochgradige Verwirrtheit
und Unruhe. In der Nacht ängstliche Hallucinationen von Dieben
etc.; der Kranke spricht fortwährend laut, ist nicht im Bett zu
halten, zeitlich und örtlich desorientirt.
Am 29. December Transferirung auf die psychiatrische Klinik.
Dort bot der Kranke das Bild der Amentia dar, bekam am 29. De¬
cember Abends obne erkennbaren Grund einen Temperaturanstieg
bis 39°; war schlaflos, verweigerte die Nahrungsaufnahme.
Am 30. December fieberfrei; Pulsfrequenz hoch, zunehmende
Schwäche.
Am 1. Januar erfolgte unter Temperaturanstieg bis 40° der
Exitus.
Die Obductionsdiagnose (Prof. W eichseibau m)
lautete: Induration der Schilddrüse und Höhlen¬
bildung im linken Seitenlappen nach acuter
(abscedirender) Thyreoiditis. Schwellung der
beiderseitigen oberen Cervicaldrüsen. Morbus
Basedowii.
Acute Enterititis. Hochgradige parenchymatöse und fettige
Degeneration der Leber, parenchymatöse Degeneration der Nieren.
Atrophie des Herzens. Beiderseitige frische Lobulärpneumonie.
Aus dem Obductionsprotokolle möchte ich noch
folgende Details hervorheben.
Die oberen Cervicaldrüsen beiderseits vergrössert und
namentlich links succulenter und röthlichgrau. Die Thymus nicht
nachweisbar. Kein Druck der Struma oder der Drüsen auf die
Nervenstämme am Halse.
Der linke Schilddrüsenlappen ist 6cm, der rechte
7 cm lang, die grösste Breite beträgt rechts 2 1/2 cm, die Dicke 2 cm,
links ist Breite und Dicke etwas geringer; der Isthmus 3 cm lang.
Die Substanz der Drüse ist derb, ziemlich fein granulirt von blass¬
brauner Farbe; das Stroma in Form weisslicher Züge deutlich
sichtbar.
In der unteren Hälfte des linken Schilddrüsenlappens ein
unregelmässiger, i/2 cm langer, 1 cm breiter, buchtiger Hob lraum
mit einem sehr dicklichen, schmutziggrauen Inhalt und dünner,
bindegewebartiger Wand.
Bei der mikroskopischen Untersuchung erwies sich der Inhalt
dieses Hohlraumes als eingedickter Eiter; Herr Assistent
Dr. S t o e r k, der so freundlich war, bei der Obduction davon abzu¬
impfen, konnte durch Cultivirung Staphylococcus albus darin
nachweisen, welcher aut Agar sehr kräftig wuchs.
Ich habe dann die mikroskopische Untersuchung einiger Or¬
gane vorgenommen und dabei Folgendes gefunden: Die Schild¬
drüse bot in allen ihren Theilen das Bild der tubulären
Hyperplasie, wie es in den meisten Fällen »primärer« Basedow-
Struma gefunden worden ist. Die Acini sehr langgestreckt, im
Lumen nirgends Colloid, sondern eine durch Eosin nicht färbbare,
mit leicht körnigem Detritus und abgestossenen Epithelien unter¬
mischte Masse. Das Bindegewebe zwischen den Läppchen stark
vermehrt, die Vascularisation des Organs eher gering.
Die Hypophysis (äusserlich nicht verändert) ausserordent¬
lich blutreich.
Im Pankreas eine grosse Anzahl kleiner nekrotischer
Herde.
Die Vagi und Sympathici zeigten bei der Untersuchung
nach Marchi keine Veränderungen.
Fassen wir das Wesentlichste aus der vorstehenden Kranken¬
geschichte zusammen, so handelt es sich um einen 43jährigen,
vorher gesunden, nicht nervösen Mann aus gesunder Familie,
bei welchem sich im Anschlüsse an eine acute,
durch Staph ylococcen bedingte abscedirende
Thyreoiditis ein typischer schwerer Morbus
Basedowii mit wohl ausgebildeten Augensymp¬
tomen entwickelt hat. Die Krankheit führte nach circa
einem halben Jahre, zuletzt unter dem Bilde einer acuten
Psychose, zum Tode. Bei der Autopsie fand sich in der
Schilddrüse ausser den Resten des Abscesses eine diffuse
Hyperplasie des Organes mit leichten sklerotischen
Veränderungen. Die parenchymatösen Organe zeigten die
degenerativen Veränderungen, wie sie einer schweren Intoxica¬
tion, respective Infection zukommen.
Derartige Fälle scheinen selten zu sein. Man weiss allerdings
seit Langem, dass sich die Basedow’sche Krankheit manchmal im
Anschlüsse an acute Infectionskrankheiten entwickelt, und Möbius
spricht die Vermuthung aus, dass in solchen Fällen öfters eine
infectiöse Thyreoiditis das Bindeglied zwischen den beiden aufein¬
ander folgenden Affectionen bilden möge. Von Beobachtungen, in denen
dieser Zusammenhang sichergestellt wäre, sind mir aus der Literatur
nur ganz wenige bekannt geworden.
Fall von Reinhold1): Anschwellung der Schilddrüse im
Verlaufe einer Influenza. Rascher Rückgang der Schwellung. Nach
zwei Monaten typischer Basedow.
Fall von Gilbert und Castaigne2): Anschwellung der
Schilddrüse in der Reconvalescenz eines Abdominalthyphus bei
einem 17jährigen Mädchen. Einen Monat später glänzende und
starre Augen. Nach zwei Jahren findet sich classischer Basedow.
Die beiden anderen von Gilbert und Castaigne kurz
mitgetheilten Fälle lassen wohl auch eine andere Deutung zu.
So wenig es im Allgemeinen angeht, aus einer einzelnen
Beobachtung weitreichende Schlüsse aut die Pathogenese von
Krankheiten zu ziehen, so scheint mir der mitgetheilte Fall
doch in mehrfacher Beziehung lehrreich zu sein. Handelt es
sich hier doch um einen typischen Morbus Basedowii,
dessen sämmtliche Symptome (auch der Exophthalmus und die
anderen Augenveränderungen, deren Pathogenese, wie früher
erwähnt, den Kernpunkt vielfacher Controversen bildet),
zweifellos als thyreogen zu betrachten sind. Der Modus, durch
welchen hier die Schilddrüsenveränderung zum Exophthalmus
führte, ist dabei selbstverständlich im Einzelnen ebensowenig
klar, wie die Entstehung anderer, zweifellos thyreogener Sym¬
ptome, wie Zittern, psychische Veränderungen, Schweisse etc.
Aber deshalb wird man in diesem Falle doch nicht geneigt
sein, für den Exophthalmus eine besondere Ursache ausser
der Schilddrüsenerkrankung anzunehmen, mit Kraus etwa
eine » cardio vasculäre Neurose« als primäre Ursache der ganzen
Krankheit vorauszusetzen; — dafür findet sich im ganzen
Verlauf des Falles nicht der mindeste Anhaltspunkt.
Wenn Kraus also behauptet, dass das Bild des echten
Basedow nur auf Grund einer eigentümlichen Neurose ent¬
stehen könne, so zeigt sich, dass diese Auffassung keine
zwingende ist; man sieht, auch der Exophthalmus kann
thyreogen entstehen.
Die Behauptung, dass der Exophthalmus kein thyreogenes
Symptom sei, bildet von jeher eine der Hauptwaffen der Gegner
der * Schilddrüsen theorie«. Sie suchen diese Behauptung damit zu
erweisen, dass das Bild des experimentellen und therapeutischen
Thyreoidismus den Exophthalmus nicht enthalte. Möbius hat, wie
eingangs erwähnt, diesem Schlüsse die Beweiskraft abgesprochen
und ihm von Anfang an den Einwand entgegengesetzt, dass der
Basedow - Exophthalmus auf einer chronischen Erkrankung der
Orbitalgefässe beruhe, und dass man nicht erwarten könne, eine
solche werde sich durch die Einfuhr von Schilddrüsensubstanz so
ohne Weiteres hervorrufen lassen. Dieser Einwand scheint mir
nicht sehr glücklich zu sein, denn es sind genug Fälle bekannt,
in denen zufolge eines Schreckes, einer physischen Ueberanstrengung
(Tanzen) etc. das ganze Symptomenbild des Basedow sich acut
entwickelte und auch der Exophthalmus binnen weniger Tage
auftrat. Da in solchen Fällen wohl Niemand einen Grund
sehen kann, eine schon früher bestehende anatomische Ei-
G44
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 28
krankung der Orbital ge Pässe vorauszusetzen, so entsteht hier that-
sächlich der Exophthalmus »aus freier Hand«. Aber ist es denn
nothwendig, die immer wiederholte Exemplification auf den ex¬
perimentellen Thyreoidismus überhaupt zu acceptiren? Ich wenig¬
stens kann keinen vernünftigen Grund einsehen, warum ein Sym¬
ptom nicht thyreogen sein, das heisst in einer krankhaften Thätig-
keit der Schilddrüse begründet sein kann, obwohl es nicht
ohne Weiteres gelingt, durch Verfüttern fremder (thierischer) Schild¬
drüsensubstanz das Symptom zu imitiren.
Ilebrigens haben einige neuere Beobachtungen, vor Allem die
von v. Notthaft3), den Beweis erbracht, dass durch reichlichen
Schilddrüsengenuss auch Exophthalmus hervorgerufen werden kann.
Sind solche Fälle wie der oben mitgetheilte auch Ausnahms
fälle, so ergibt sich aus ihnen doch wohl die Berechtigung,
auch für die gewöhnlichen Fälle von Morbus Basedowii,
die in Folge von Schreck, Anstrengungen, während der Ent¬
bindung, im Klimakterium etc. sich entwickeln, an eine
rein thyreogene Verursachung des ganzen Symptomencomplexes
zu denken.
Der Zusammenhang der Erscheinungen in dem geschil¬
derten Falle ist doch wohl am ehesten in der Weise zu ver¬
stehen, dass die acute eiterige Entzündung in dem einen Theil
der Schilddrüse zur congestiven Hyperämie des ganzen Or¬
ganes geführt habe, und dass sich auf diese Weise die
»B a s e d o w - Veränderung« und damit die Basedow- Sym¬
ptome entwickelt haben.
Es erscheint nun wohl möglich, dass die so oft beob¬
achteten banalen Momente, die wir in der Leidensgeschichte
der Basedow-Kranken antreffen (psychische Erregung, An¬
strengungen etc.) in ähnlicher Weise zu congestiven Ver¬
änderungen der Schilddrüse führen können, da ja das
Organ vermöge seiner Lage, seines Gefässreiclithums und,
wie es scheint, auch seiner Nervenverbindungen wesent¬
lichen Schwankungen seines Blutgehaltes ausgesetzt ist. Ist
doch ein plötzliches An schwellen der Drüse im Schreck, im
Aerger, während der Entbindung etc. eine bei vielen Menschen
beobachtete Thatsache, der sogar von manchen älteren und
neueren Autoren (Waldeyer, v. Cyon) grosse Wichtigkeit
für die Regulirung der Blutcirculation im Gehirn zugeschrieben
wird. Diese primäre Congestion könnte dann ganz wohl die
B a s e d ow - Veränderung im Gefolge haben.
Selbstverständlich mag für die Leichtigkeit, mit welcher
die genannten banalen Veranlassungen eine Congestion der
Schilddrüse erzeugen und damit zur Basedow- Veränderung
und so zu den Symptomen der Krankheit führen, eine
gewisse Disposition massgebend sein, deren Annahme wir ja
zum Verständniss kaum irgend eines pathogenetischen Vor¬
ganges entbehren können. Ob diese Veranlagung vielleicht in
einer abnorm leichten Erregbarkeit des cardiovasculären
Systems gelegen ist, wie sie Kraus (namentlich mit Bezie¬
hung auf die Arbeiten v. Cyon’s) annimmt, ist vorläufig
schwer zu entscheiden. Aber das ist eine Frage der Dis¬
position, nicht der Aetiologie.
Ob es nothwendig ist, mit Möbius die Annahme zu
machen, dass die bestimmte, vorläufig noch unbekannte »Base¬
dow-Veränderung« in jedem Falle den ersten Symptomen der
Krankheit zeitlich vorhergehe, das scheint mir fraglich. Ich bin
der Meinung, dass man z. B. in denjenigen Fällen, in welchen
ein psychisches Trauma bei einem klinisch vollkommen gesunden
Menschen einen Basedow zur Folge hat, vielleicht auch ohne
die Annahme auskommen kann, es habe schon vor der Einwirkung
des Schrecks, der plötzlichen Angst etc. die Basedow-Ver¬
änderung in der Schilddrüse vollkommen latent bestanden. Davon
wird im Anschlüsse an die Mittheilung einiger weiterer Beobach¬
tungen noch die Rede sein.
(Schluss folgt.)
Aus der III. medicinischen Universitätsklinik in Wien.
Beitrag zur Kenntniss der recurrirenden Tetania
gravidarum.
Von Dr. C. Hödlinoser, klinischem Assistenten.
Wenn auch schon eine ziemliche Reihe von Fällen dieser
Erkrankung bekannt ist, so möge doch die Mittheilung des
folgenden Falles von Tetania gravidarum gestattet sein, weil
derselbe durch das häufige Recidiviren der Tetanie
ausgezeichnet ist.
Ich will im Folgenden kurz einen Auszug aus der Kranken¬
geschichte der Patientin geben, die allerdings leider nur sehr
kurz auf unserer Klinik verweilte, weshalb die Aufnahme des
Nervenstatus in einigen Punkten sich nicht ganz vollständig
gestaltete. Speciell die Resultate der Prüfung der elektrischen
Erregbarkeit muss ich aus diesem Grunde übergehen, weil die¬
selbe nicht genau vorgenommen werden konnte.
Dagegen war, wie aus der Krankengeschichte zu ent¬
nehmen ist, der übrige Symptomencomplex der Tetanie in
unserem Falle so deutlich ausgesprochen, dass ein Zweifel an
der Diagnose wohl nicht bestehen konnte.
Kranken geschieh te.
F. A., 33 Jahre alt, verheiratet, Maurersgattin, gebürtig aus
Hadres in Niederösterreich, auf der Klinik in Behandlung vom 16. Mai
bis 19. Mai 1900 Früh.
Anamnese: Der Vater der Patientin starb im 60. Lebens¬
jahre an einer Lungenkrankheit, die Mutter lebt und soll magen¬
leidend sein. Sechs Geschwister starben in verschiedenem Alter an
der Patientin unbekannten Krankheiten, zwei lebende Geschwister
sind gesund. Patientin soll bis zu ihrem sechsten Lebensjahre immer
gesund gewesen sein. Damals überstand sie bald nach einander
Masern und Blattern, genas jedoch wieder vollständig. In ihrem
14. Lebensjahre wurde sie angeblich von Krämpfen befallen, welche
nach ihrer in Folge geringer Intelligenz allerdings nicht verlässlichen
Angabe plötzlich mit einer krampfartigen Zusammenziehung der
Finger der rechten Hand begannen und sehr schmerzhaft waren.
Patientin konnte die Hände und Finger nicht bewegen. Der Krampf
ging dann auf das Ellbogengelenk desselben Armes über und dann
in derselben Reihenfolge auch auf den linken Arm. Bald darauf
wurden auch eine oder beide Gesichtshälften vom Krampfe befallen,
des Oefteren auch die unteren Extremitäten.
Das Bewusstsein war dabei nie getrübt.
Derartige Krämpfe wiederholten sich drei- bis viermal im
Jahre und dauerten gewöhnlich drei bis vier Stunden. Mit dem
Eintritte der ersten Menstruation im 17. Lebensjahre der Patientin
hörten die Krämpfe auf und erst um die Mitte der ersten Gravi¬
dität, welche in das 20. Jahr der Patientin fiel, stellten sich die
Krämpfe wieder ein, um nahezu alle 14 Tage bis ans Ende der
Gravidität aufzutreten.
Von da an wiederholte sich regelmässig um die Mitte jeder
der sieben folgenden Graviditäten derselbe Zustand, immer zur Zeit,
in der Patientin die ersten Kindesbewegungen verspürte. Patientin,
welche sich gegenwärtig im sechsten Monate ihrer siebenten Gravi¬
dität befindet, leidet seit wenigen Tagen wieder an denselben
Krämpfen in den oberen und unteren Extremitäten. Sie klagt dabei
auch über starke ziehende Schmerzen in der Haut der befallenen
Theile.
Vor vier Jahren soll Patientin »Bauchtyphus« überstanden
haben und durch mehrere Monate zu Bette gelegen sein.
Sie wurde mit 17 Jahren das erste Mal menstruirt, die Menses
waren mitunter unregelmässig und mit Schmerzen verbunden.
Patientin wurde wegen ihrer jetzigen Krämpfe von ihrem
Arzte auf die Frauenklinik des Prof. Chrobak in Wien geschickt,
woselbst sie wieder einen sehr heftigen Krampfanfall bekam. Da
der Zustand der Geburtswege für die nächste Zeit die Entbindung
nicht erwarten liess, wurde sie auf die III. medicinische Klinik
transferirt.
Daselbst wurde am 16. Mai 1900 folgender Status prae¬
sens erhoben :
Kleine Patientin von mittelstarkem Knochenbau, mittelmässig
entwickelter Musculatur und geringem Panniculus adiposus. Tem-
Farbenfabriken vorm, friedr. Bayer & Co., Elberfeld.
Abtlieiliing für ptiai'niac<MiciH<'hc I'roducte.
Can nt gen.
C\
Einige neuere Urtheile
über den
Werth des TANNIGEN’s als Darmadstringens,
Das TANNIGEN ist eine Acetylverbindung des Tannins. Es
bildet ein gelblich-graues, geruch- und geschmackloses, trockenes
Pulver und ist in Wasser und sauren Flüssigkeiten unlöslich. Pis
wandert daher unverändert durch den Magen und wird erst im alkali¬
schen Darmsaft gelöst und gespalten, worauf es im Darmkanal seine
adstringirende Wirkung entfaltet. Hierdurch unterscheidet es sich
vorteilhaft vor dem Tannin, welches infolge seiner gerbenden Wirkung
die Magenwände angreift und die Thätigkeit des Magens stört.
Um das Zusammenballen des Pulvers in Berührung mit Fiüssm-
keit zu verhindern, wird das TANNIGEN zweckmässig mit gleichen
Tb eilen Milchzucker gemischt und entweder als Schachtelpulver zur
messerspitzweisen Verabreichung oder in abgetheilten Pulvern gegeben.
Man lässt etwas Wasser nachtrinken oder verrührt das Pulver in einem
Löffel Wasser oder Milch und lässt dann nach der Einnahme etwas
Wasser nachtrinken. Die Verabreichung in Oblaten ist unzweckmässig.
Uebereinstimmend wird das TANNIGEN als eines der besten
der vorhandenen Antidiarrhoica, als eine wirkliche Bereicherung des
Arzneischatzes und als ein Mittel bezeichnet, das namentlich in der
Kinderpraxis geradezu unentbehrlich ist.
I
m
TANNIGEN wird daher am vortheilhaftesten einige Zeit nach der
Mahlzeit, wo die Magensäureentwicklung am intensivsten ist, oder
in Verbindung mit Salzsäure gegeben.
(Die ärztliche Praxis 1897, Nr. 15; Aerztl. Ceutr. -Anzeiger 1897, Nr. 25).
Dr. Schippers, Amsterdam, stützt seine günstigen Erfah¬
rungen mit TANNIGEN auf die Beobachtung von über 30 Fällen
subacuter, resp. chronischer Darmkatarrhe. Das Mittel wurde auch von
kleinen Kindern stets ohne jede störende Nebenwirkung gut vertragen
und war von zuverlässiger und prompter Wirkung selbst in den Fällen,
wo andere Adstringentien im Stiche Hessen. Zur Behandlung kamen:
1. subacute Diarrhöen, 2. chronische Diarrhöen, ausgehend vom
Dünndarm ; 3. chronische Diarrhöen, ausgehend vom Dünn- und
Dickdarm. Die Resultate stimmen alle darin überein, dass bei den
aufgeführten Gruppen das TANNIGEN mehr leistet als andere Ad¬
stringentien. Man soll bei Kindern bis zu einem Jahre mehr¬
mals täglieh 0,1 grm bis 0,2 grm geben, bei älteren Kindern
entsprechend mehr. Sind die Durchfälle geschwunden, so lasse man
die Patienten trotzdem noch kurze Zeit das TANNIGEN weiter
nehmen, damit keine Rückfälle eintreten.
(Weekblad van het Nederl. Tijdschr. v. Geneesk. 1897, Nr. 9).
Dr. Xi. Poussie, Onzain, berichtet über 42 Fälle, wo das
TANNIGEN bei der Behandlung acuter und chronischer Kinder¬
diarrhöen ausnahmslos gut gewirkt hat, so dass es als ein durchaus
zuverlässiges Antidiarrhoicuni zu bezeichnen ist. Das TANNIGEN
wird von den Kindern gut vertragen und verursacht niemals gastro¬
intestinale Störungen. In Verbindung mit strenger Diät wirkt das
TANNIGEN bei Kinderdiarrhöen sehr rasch. Auch nach erzieltem
Heilelfect ist es rathsam, das Mittel noch einige Zeit lang nehmen
zu lassen. Die Dosis ist je nach dem Alter 0,10—0,30 gr., 6—8
mal täglich. (Gaz. M6dicale 1897, Nr 11).
Den Herren Aerzten stehen Versuclismengen kostenlos
zur Verfügung.
Nr. 28
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
645
peratur 36'9°, Puls 88, Respiration 24. Die äusseren Hautdecken
von leicht bräunlichem Colorit, die sichtbaren Schleimhäute normal
roth gefärbt. An den Unterschenkeln reichliche Varicositäten.
Leichtes Knöchelödem.
Der Befund an den inneren Organen normal. Aeusserliche
Zeichen der Gravidität. Mammae Colostrum entleerend. Uterus bis
zum Nabel reichend, deutlich kleine Kindestheile zu palpiren.
Patientin befindet sich sitzend im Bette, Gesichtsausdruck
schmerzlich, sie stöhnt fast ununterbrochen und krümmt stellen¬
weise ihren Körper zusammen.
Beide Hände befinden sich in Geburtshelferstellung, der
Daumen in extendirler Stellung stark opponirt. Die Patientin äussert
sich dahin, dass sie in den Händen lebhafte Schmerzen empfinde,
es ist unmöglich, die Finger in eine andere Stellung zu bringen,
und bei jedem derartigen Versuche gibt Patientin lebhafte Schmerzes¬
äusserungen von sich. In den unteren Extremitäten nur geringe
Plantarflexion beider Füsse. Ellbogengelenke beiderseits gleichfalls
in leichter Beugestellung fixirt, die übrigen Muskelgebiete des Körpers
in leichtem Hypertonus.
Der nach Ablauf des Anfalles erhobene Nerven status
ergab von Seiten der Hirnnerven keine Störung. Das C h v o s t e k-
sche Phänomen an beiden Nervi faciales in deutlichster Weise vor¬
handen. Die Motilität in den oberen und unteren Extremitäten
intact, das Troussea u’sche Phänomen an beiden Plexus brachiales
gleichfalls exquisit auslösbar. Schon hei relativ geringem Druck
erfolgt ein langsames Uebergehen der entsprechenden Hand in die
Geburtshelferstellung. An den Händen geringer, kleinwelliger Tremor,
keine Ataxie, Sehnen- und Periostreflexe annähernd normal. Die
Sensibilität ist gleichfalls intact in ihren sämmtlichen Qualitäten, es
bestehen keine sensiblen Reizerscheinungen. Eine genaue Prüfung
der elektrischen und mechanischen Erregbarkeit konnte, wie eingangs
erwähnt, leider nicht vorgenommen werden. Hysterische Stigmen
bestehen nicht.
Decursus: Der Anfall dauerte trotz Verabreichung von
Narcoticis ungefähr drei Stunden, dann nahmen die Krampfzustände
langsam ab, und am nächsten Tage befand sich die Patientin fast
vollständig wohl.
Die Behandlung bestand am folgenden Tage in einem lauen
Bade mit kühler Uebergiessung. Der ziemlich hohe Grad von De¬
menz, welcher bei der Patientin bestand, erschwerte die Untersuchung
beträchtlich.
Auch am 18. Mai kehrte kein Anfall wieder und am 19. Mai
Früh erklärte die Patientin plötzlich, die Klinik verlassen zu
wollen.
Die Tetanie, welche im Zusammenhänge mit der Gravi¬
dität auftritt, ist nach allen vorliegenden Berichten zweifellos
bei säugenden Frauen häufiger als bei graviden und im
Wochenbette befindlichen.
Frankl-Hochwart1), wohl einer der besten Kenner
der Tetanie, fand unter 49 derartigen Fällen, welche er der
Literatur entnommen hat und denen er aus seinen eigenen
Beobachtungen in den Jahren 1886 — 1896 zwölf hinzufügte,
23 Gravide, zehnmal setzte die Krankheit nach dem Geburts¬
acte ein, 28mal trat sie bei säugenden Frauen auf. Bei nicht
säugenden Frauen soll nach v. Frankl die Tetanie bedeutend
seltener sein.
Was nun speciell die Tetanie der Schwangeren betrifft,
so veröffentlichte im Jahre 1895 Schauta aus der Klinik
Neumann2) zwei hieher gehörige Fälle, von welchen der
eine dadurch bemerkenswerth war, dass bei demselben sub
partu eine Coincidenz von Uteruscontractionen mit Tetanie¬
krämpfen bestand. In dieser Arbeit betont Neumann die
grosse Seltenheit der Tetanie bei Graviden, indem er erwähnt,
dass die zwei von ihm publicirten Fälle trotz der 3000 weit
überragenden Zahl von Geburten, welche alljährlich an der
Klinik Schauta vor sich gehen, seit langer Zeit die einzigen
dieser Art an der Klinik seien.
Neumann gibt auch eine Uebersicht über die Fälle
von Tetanie bei Graviden, welche er in der Literatur auf¬
finden konnte; er fand im Ganzen nur zwölf Fälle von Tetania
gravidarum, und zwar von Trousseau, Gauche t,
Burresi, Weiss, Meine r t, Löbach, Delpech, Hoff¬
mann und P. Müller, sowie die Fälle von v. Frankl.
Die Zahl der Fälle von Tetania gravidarum, welche
letzterer Autor in seinem letzten ausgezeichneten Werke er¬
wähnt, beträgt, wie erwähnt 23, wobei er jedoch nicht angibt,
wie viele dieser Fälle seinen eigenen Beobachtungen ent¬
stammen.
Zweifellos ist also auch nach dieser Zusammenstellung
die Tetanie bei Graviden eine seltene Erkrankung. Vollends
aber eine derartige häufig recidivir ende Tetanie, wie
sie in unserem Falle besteht, muss nach allen vorliegenden
Berichten als ein sehr seltener Zustand bezeichnet werden.
v. Frankl bemerkt zwar, dass Recidiven der Tetanie
bei neuerlichen Graviditäten uicht ganz selten zu sein scheinen.
Er sah eine Gravide, welche das zweite Mal schwanger war,
und auch in dieser zweiten Gravidität eine Tetanie durch¬
machte, bei einen zweiten Falle war unter zwölf Graviditäten
zweimal Tetanie aufgetreten und bei einer dritten Frau unter
sechs Schwangerschaften dreimal. Löbach3) sah eine Frau
bei wiederholter Gravidität jedes Mal an Tetanie erkranken.
Auch Delpech4) erwähnt einer Frau, bei der wieder¬
holte Graviditäten zu jedesmaligem Aufreten von Tetanie
geführt haben. Unter den Fällen von v. Jak sch5) finden
sich drei Beobachtungen, in welchen am Ende der Gravidität
sich derartige Anfälle einstellten und nach dem Puerperium
verschwanden. Jedoch ist nicht gesagt, ob bei den betreffenden
Patientinnen in jeder Gravidität die Tetanie aufgetreten sei.
Ein derartig häufiges Recidiviren wie bei unserer Pa¬
tientin konnte ich jedoch in der mir zugänglichen Literatur
nirgends finden.
Es wäre nun noch die Frage zu erwägen, ob in unserem
Falle gegen die Diagnose »Tetania g r a v i d a ru m« keine Ein¬
wendung zu erheben sei.
Die Anamnese der Patientin erwähnt, dass die Kranke
in ihrer früheren Jugend öfters Anfälle hatte, welche nach
ihrer Beschreibung der Tetanie sehr ähnlich waren, und die
mit dem Eintritte der ersten Menstruation verschwanden.
Es ist nun nicht anzunehmen, dass es sich bei diesen
Anfällen um Hysterie gehandelt haben dürfte, indem alle
sonstigen anamnestischen Symptome, welche für Hysterie zu
verwerthen gewesen wäreD, absolut fehlten; bei dieser Ge¬
legenheit möchte ich an die von v. Frankl citirte Beob¬
achtung Tonelle’s erinnern, welcher bei drei jungen Mäd¬
chen Tetanie beobachtete, die mit Eintritt der ersten Men¬
struation geheilt wurde.
Auch sonst werden in v. Frankls Buch mehrfache
Beobachtungen mitgetheilt, welche auf einen Zusammenhang
zwischen Tetanie und Vorgängen des weiblichen sexuellen
Lebens hinweisen, so Eintritt der Tetanie im Klimakterium,
und bei Erkrankungen des weiblichen Genitales, ja von frü¬
heren Autoren, wie von Imbert-Gourbeyre, wurde
sogar ein Zusammenhang zwischen vorausgegangener Onanie
und dem Eintritte der Tetanie behauptet.
Ob es sich nun in unserem Falle um ein Recidiviren
einer schon vorher bestandenen Tetanie oder um das Auf¬
treten einer neuen derartigen Erkrankung bei dieser Frau
handelte, wage ich nicht mit Sicherheit zu entscheiden. Zweifel¬
los besteht ein ätiologischer Zusammenhang mit den Gravi¬
ditäten.
Und ich möchte, was gleichfalls in diesem Falle interes¬
sant sein dürfte, besonders hervorheben, dass bei einem Indi¬
viduum, das anscheinend schon an Tetanie gelitten hatte, das
also gewissermassen schon für diese Erkrankung prä-
disponirt war, die Gravidität ein auslösendes
Moment für ein neuerliches Einsetzen der Anfälle bildet.
So trat auch in einem Falle von J. Hoffmann6) bei
einer Frau, welche ihren ersten Anfall im Wochenbette über¬
standen hatte, im nächsten Jahre ein Recidiv durch Kälte¬
einfluss und ein Jahr später ein solches im Wochenbette mit¬
gemacht hatte, erst wieder nach sechs Jahren während einer
Gravidität ein Anfall auf.
Gerade für solche Fälle von Tetanie nun, in welchen
I es zu durch grössere Zwischenräume getrennten Anfällen der
646
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 28
Krankheit mit Intervallen vollständiger Heilung kommt, möchte
ich eher von einer recurrir enden, als von einer
recidivir enden Tetanie sprechen, ebenso wie es S h e r-
wood auf Vorschlag Eichhorst’s und Sorgo7) in ähnlich
sich verhaltenden Fällen von Polyneuritis empfohlen haben.
Dass bei unserer Patientin wirklich Tetanie bestanden
hat. ist wohl nach dem Krankheitsverlaufe zweifellos.
Bekanntlich kommt in differentialdiagnostischer Hinsicht
vorwiegend Hysterie in Betracht. Es wurden unter Anderen
von Nikolajevic (bei diesem auch eine Beobachtung von
Schlesinger) und von B 1 a z i c e k aus der v. Schrotte r-
schen Klinik Fälle publicirt, in welchen es sich um einen
tetanieartigen Symptomencomplex auf Grund von Hysterie
handelte.
Abgesehen nun von dem Fehlen sämmtlicher hysterischer
Stigmen bei unserer Patientin, welche hingegen in den eben
erwähnten Fällen zum Theile vorhanden waren, bot eben
unsere Patientin den typischen Symptomencomplex der Tetanie
dar, wenngleich auch die Prüfung der elektrischen Erreg¬
barkeit der motorischen und sensiblen Nerven leider fehlt,
v. Frankl legt besonders auf das T r o u s s e a u’sche Phä¬
nomen bezüglich der Differentialdiagnose Werth, indem
er behauptet, in Fällen von Hysterie das Phänomen nie in
typischer Weise eintreten gesehen zu haben. Er betont be¬
sonders das langsame Eintreten der Contractur bei Tetanus,
während bei Hysterie, wie z. B. auch in dem Falle von Bla-
ziöek die Contractur auf Druck gegen den Plexus brachialis
plötzlich auftrat.
Das Facialisphänomen nach Chvostek, respec¬
tive die mechanische Uebererregbarkeit der Nerven, welches
unsere Patientin auch in hervorragendem Masse darbot, ist
bekanntlich von geringerem diagnostischem Werthe, indem es
auch bei einer Anzahl anderweitig nervöser Individuen beob¬
achtet wurde.
Die Krämpfe, die Stellung der Hände während des An¬
falles waren bei unserer Patientin so typisch beschaffen, dass
wohl meiner Ansicht nach an der Diagnose der Tetanie nicht
zu zweifeln ist.
Am Schlüsse dieser Mittheilung erlaube ich mir, meinem
hochverehrten Chef, Herrn Hofrath v. Schrotte r, meinen
besten Dank für die Ueberlassung des Falles auszusprechen.
Literatu rverzeichniss.
') v. Frankl-Hochwart, Die nervösen Erkrankungen des
Geschmacks und Geruchs, die Tetanie. In Nothnagel’s Specielle Patho¬
logie und Therapie. Daselbst auch die meisten der übrigen Literatur¬
angaben.
2) NeumanD, Zwei Fälle von Tetania gravidarum. Archiv für
Gynäkologie. Bd. XLVI1I, pag. 499.
3) Löbach, citirt nach v. Frankl-Hochwart, Die Tetanie.
Berlin 1891.
4) Citirt nach v. Frankl-Hochwart.
5) v. Jaksch, Klinische Beiträge zur Kenntniss der Tetanie. Zeit¬
schrift für klinische Medicin. Bd. XVII, pag. 144.
c) J. Hoffmann, Deutsches Archiv für klinische Medicin.
Bd. XLIII, pag. 115.
7) Sorgo, Beitrag zur Kenntniss der recurrirenden Polyneuritis.
Zeitschrift für klinische Medicin. Bd. XXXII, Suppl. Daselbst auch Sher¬
wood citirt.
lieber den Ischler Salzbergschlamm.
Von Dr. E. Wiener.
Im Salzberge zu P e r n e c k bei Ischl wird ein Schlamm
gewonnen, welcher schon seit längerer Zeit zu therapeutischen
Zwecken verwendet wird ') und neuerlich eine Anwendungs¬
weise erfahren hat, welche geeignet erscheint, demselben ein
gewisses Absatzgebiet zu eröffnen.
Der Ischler Salzberg, seiner Formation nach Hasel¬
gebirge, enthält ein mächtiges Soolenlager von einigen 1000 m 2
Ausdehnung und beträchtlicher Tiefe. Durch nachhaltiges
') Schon in den Fünfziger-Jahren hat Dr. P o 1 1 a k diesen Schlamm
als Zusatz zu Bädern verwendet, welchem Beispiele eine grössere Anzahl
von Ischler Curärzten, unter Anderen die Doctoren Stieger, Mayer,
Prochaska folgten,
Auslaugen gewinnt man eine Flüssigkeit von hohem Salz¬
gehalt, die Soole. Das Soolenlager selbst enthält selbstverständ¬
lich nicht nur Chlornatrium, sondern auch die anderen Bestand-
theile des Salzberges beigemengt, demnach hauptsächlich Thon
und Gips, welche sich bei Abfluss der Soole über weite
Strecken in den natürlich vorhandenen oder künstlich herge¬
stellten Gruben und Vertiefungen absetzen. Dieses Gemenge
bildet den sogenannten Leist oder Wehr leist, welcher
dann mit Haspeln zu Tage gefördert, getrocknet, gepocht und
zum Schlüsse gemahlen wird. 2)
Die chemische Analyse, welche im Laboratorium für
medicinische Chemie an der Wiener Universität ausgeführt
wurde, ergab bei der qualitativen Untersuchung auch dem¬
gemäss als Hauptbestandtheile : Kieselsäure, Calcium¬
oxyd, Magnesiumoxyd, Natrium oxyd, Kalium¬
oxyd, Eisenoxyd, Aluminiumoxyd, Schwefel¬
säure und Chlor.
Bei der quantitativen Analyse wurden folgende Werthe
erhalten:
A.
Bestimmungen aus dem G
e sammtschlamm.
Trockensubstanz .
97-038%
Wasser bei 135° abspaltbar .
2-962%
Gesammtkohlensäure .
1151%
Organischer Kohlenstoff3) .
0-336%
Schwefel .
0-275%
Chlor 4) .
3-778%
B.
Bestimmungen aus dem
Theile.
wasserlöslichen
34‘2748 Schlamm wurden erschöpfend mit Wasser ex-
trahirt; die Analyse des wässerigen Auszuges ergab, auf luft-
trockenen Schlamm berechnet 5) :
Kieselsäureanhydrid
3 314%
Calciumoxyd .
4 130%
Magnesiumoxyd . . . .
0-366%
Natriumoxyd .
3-411%
Kaliumoxyd .
0-496%
Schwefelsäureanhydt id
6-980%
Chlor .
3 778%
Organische Substanzen . .
0-027%
G.
Bestimmungen aus dem
Theile.
säurelöslichen
Der Rückstand des wässerigen
Auszuges wurde mit
l%iger kalter Salzsäure durch vier Wochen extrahirt.
Die filtrirte klare, saure Lösung ergab bei der Analyse,
auf lufttrockenen Schlamm berechnet:
Kieselsäureanhydrid . . . l’391°/o
Eisenoxyd . 3T68%
Aluminiumoxyd . 2,887%
Calciumoxyd . P745°/o
Magnesiumoxyd .... 1T520/0
Natriumoxyd . 0 328%
Kaliumoxyd . 0817%
Schwefelsäureanhydrid . . 0 957%
Als wasser- und säureunlöslicher Rückstand nach dem
Trocknen an der Luft wurden 0212% gefunden. Der unlös¬
liche Rückstand besteht aus Silicaten und einer geringen
Gipsmenge, welche trotz eingehenden, mehrwöchentlichen Aus¬
ziehens mit Wasser nicht in Lösung ging. (i)
•) Gütige Mittheilung des Herrn Bergrathes S c h e d 1.
3) Nach Frankland-Armstrong bestimmt.
4) Brom und Jod fehlen; zur Untersuchung auf diese beiden wurde
1 P4992 Substanz verwendet.
3) Lithium war aus 1 8’3 1 80, Borsäure aus 92'9428 Substanz
in Spuren nachweisbar.
6) Nach einer von M e i x n e r herrührenden Analyse des Schlammes
fanden sich in 100 Theilen:
Schwefel ....
. . 56 20
Kieselerde ....
. . 2688
Thonerde ....
. . 4-17
Kalk .
. . 3*09
Bittererde ....
. . 0-84
Eisenoxydul
. . 2-50
Bituminöse Theile
. . 6-32.
Nr. 28
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
617
Herr Prof. Becke hatte die Güte, mir bei Untersuchung der
Formelemente des Schlammes behilflich zu sein. Der nicht ge¬
trocknete, eben entnommene Schlamm zeigte erdige, bald nach dem
Trocknen krümelige Beschaffenheit, ziemlich homogene, nur spär¬
lich von rothen Partien unterbrochene Erdfärbe. Diese rothen
Partien wurden als Eisenocker erkannt, welchem grosse Quarz-
und Anhydridkrystalle beigemengt waren. Die anderen Roh¬
partien zeigten doppeltbrechende Körnchen ; die starke Doppelt¬
brechung Hess nun die Deutung auf Carbonate — feinste
Kalkspatpartikel — zu und erzeugte unter dem Mikroskop
bei verdunkeltem Gesichtsfelde das Bild des gestirnten
Himmels.
Der zu therapeutischen Zwecken getrocknete, gereinigte
und fein gepulverte Schlamm lässt zumeist drei Formelemente
erkennen, und zwar:
1. Quarzkrystalle verschiedener Grösse; es sind dies
sechsseitige Prismen mit der Pyramide, lichtbrechend,
optisch einachsig. Die kleinsten 0 027 mm lang, 0 008 mm breit,
die grössten 0T17?nm lang, 0 035 mm breit.
2. Sehr stark lichtbrechende Körnchen, welche mit den
in dem Rohschlamm gefundenen identisch sind und ebenfalls,
wie in diesem auf Salzsäurebehandlung verschwinden. Eine
Verwechslung dieser Körnchen mit Kalkspat ist aus dem
Grunde ausgeschlossen, weil sie bei Einbettung in Canada-
balsam in allen Stellungen stärker lichtbrechend erscheinen,
während Kalkspatpartikel in gewissen Stellungen schwächer
lichtbrechend erscheinen müssten.
3. Anhydridkrystalle, welche durch den Nicol doppelt¬
brechend erscheinen und zumeist sehr schöne Parallelepipede
von gerader Auslöschung zeigen.
Selbstverständlich sind nicht alle Formen intact; man
tindet auch solche mit muscheligem Bruch, zackigen Kanten
und Spitzen, ferner amorphe Thonerdesilicate in Flockenform,
endlich auch doppeltbrechende Körnchen und Schüppchen,
welche als Silicate gedeutet werden können.
Herrn Prof. v. Vogl war so gütig, den Schlamm auf
seinen Gehalt an organischen Substanzen zu prüfen;
diese Untersuchung ergab ein negatives Resultat.
Nach dieser Analyse ist der Ischler Salzbergschlamm
vermöge seines beträchtlichen Gehaltes an Kochsalz, schwefel¬
sauren Alkalien und Erden unter die salinischen Mineral¬
moore einzureihen.
Ueber die chemische Wirkung der Moorerden auf den
Organismus, wenn dieselben in grösseren oder geringeren
Mengen Wannenbädern zugesetzt werden, haben Cas t e 1 i e r i,
Kisch u. A. eingehende physiologische Experimente durch¬
geführt und ist Kisch") zu dem Resultate gekommen, dass
kleine Mengen von Salzsäuresolutionen durch die Schweiss¬
und Talgdrüsen Aufnahme finden können, ein Resultat, welches
mit den von Guttmann und W i 1 1 i c h 8), ferner von
Wollenstei n <J) au Fröschen vorgenommenen überein¬
stimmen.
Kisch wies überdies nach, dass Moorbäder von 41 bis
46° die Körpertemperatur um ll/2 — 3 1 /2 0 G. steigern können,
dass durch dieselben die Menge des ausgeschiedenen Harnstoffes
vermehrt, dagegen die der phosphorsauren Salze vermindert
wird. Diese Wirkung heisser Moorbäder auf den Stoffwechsel
ist indess durchaus nicht der specifischen Wirkung des Moor¬
zusatzes zuzuschreiben, sondern blos der länger dauernden
Einwirkung heissen Wassers auf den Körper, beziehungsweise
der beträchtlichen Wärmezufuhr, wie Winternitz 10) und
seine Schüler Pospischill, S t r a s s e r 1 ') in höchst genauen
Arbeiten gezeigt haben. Winternitz und Pospischill
haben auch nachgewiesen, dass durch warme Bäder die Quan¬
tität der Kohlensäure in der Exspirationsluft gesteigert, die des
Sauerstoffes hingegen vermindert wird. Schleich'2). Nau-
7) Realencyklopädie. Bd. II.
8) 1. c.
9) 1. c.
10) Blätter für klinische Hydrotherapie. III. Jahrgang, 1893, Nr. 15.
n) Festschrift. Wien 1897, Urban & Schwarzenberg.
l2) Ueber das Verhalten der Harnstoffproduction bei künstlich gestei¬
gerter Körpertemperatur. Archiv für experimentelle Pathologie und Pharma¬
kologie. Bd. IV, pag. 88 ff.
nyn13) sind bei Application einfacher heisser Bäder zu eben
demselben Resultat gekommen, wie Kisch bei Moorbädern,
sie fanden bedeutend gesteigerte Stickstoffausscheidung.
Dass die Einwirkung heissen Schlammes curative Wirkung
aut den Körper ausüben könne, war schon im Alterthum be¬
kannt. Plinius sagt: »Mueus qui in aqua fuerit, podagris
illitus prodest«. Dioseorides schreibt demselben auHösende,
zertheilende Wirkung zu: »Strigmenta, quae in balneis de-
stringuntur calfaciendi, molliendi, discutiendique vim haben t.«
Galen empfiehlt Einreibungen mit Schlamm bei chronischen
Entzündungen, ödematösen Geschwülsten, besonders auch bei
starken Hämorrhoidalflüssen und festsitzenden Schmerzen.
Joannes des Dondis Hess den aus den Thermen bei
Padua gewonnenen Schlamm einreiben und nun den Patienten
in die Sonne legen, bis der Schlamm auf dem Körper eingc-
trocknet war. Eine Art Schlammumschläge verordnete Savo¬
na r o 1 a, indem er den Schlamm mit heissem Wasser ver¬
dünnen und denselben bei Gelenkgeschwülsten in Form von
Einreibungen und Umschlägen appliciren Hess. Guilielmus
Gratariolus ging ähnlich vor wie Joannes de Dondis;
auch er Hess chronisch Kranke aller Art mit fettem, altem
Schlamm bestreichen, an die Sonne stellen und nach dem
Eintrocknen mit warmem Wasser abspülen.
Eine sehr genaue Studie über die physiologische Wirkung
heissen Schlammes auf den Körper aus jüngster Zeit ist die
Arbeit von Maggi or a und Levi14) Diese Autoren führten
ihre Versuche mit dem 74r'igen Wasser der Therme »la Bol-
lente« in Acqui (Stabilimento Nuove Terme) aus. Sie appli-
cirten den Schlamm auf den zu untersuchenden Körpertheil in
einer 6 cm hohen Schichte, wobei die Erfahrung gemacht
wurde, dass Anfangstemperaturen von 52° C. sowohl von
kräftigen, als auch schwächlichen Individuen durch eine halbe
Stunde ganz gut vertragen wurden, während dieselben Indi¬
viduen Vollbäder von 41 — 42° C. höchstens durch fünf bis
zehn Minuten vertrugen, eine Erfahrung, welche mit der von
Mo sso15) und von L. M. Patrizi16) so ziemlich überein¬
stimmt.
Die Ursache der grösseren Toleranz des Organismus für
die Schlammeinpackungen liegt in rein physikalischen
Verhältnissen. Die Wärmezufuhr, welche der in 41 bis
42niges Wasser getauchte Körper erfährt, ist nämlich viel
grösser, als die des mit 52°igem Schlamme umgebenen. Dies
Hegt zunächst in der rascheren Abkühlung des Schlammes,
welche wiederum in dessen geringerer specifischen Wärme und
in dessen geringerer Wärmeleitungsfähigkeit zu suchen ist;
hiedurch tritt die Aequilibrirung zwischen der Wärme des
Körpers und der ihm unmittelbar umgebenden Schlammschichte
leichter ein. Bei dem in heisses Wasser getauchten Körper liegen
die Verhältnisse anders; hier wird nämlich das denselben um¬
gebende Wasser durch Ab- und Zuströmen fortwährend er¬
neuert, und dadurch fortwährend neue Wärmemengen zu¬
geführt.
In diesen physikalischen Verhältnissen Hegen demnach,
wie auch Maggiora und Levi17) hervorheben, die physio¬
logischen Wirkungen heisser Schlammeinpackungen ; auch die
Erfahrungen Davidsohn’s 18, lü), welcher im Berliner Fango¬
institut über eine Anzahl von Beobachtungen verfügte, lassen
keine andere Deutung zu und schliessen eine specifische
Einwirkung, wie etwa durch Resorption chemischer Bestand-
theile aus. Wenn eine derartige Resorption stattfinden sollte,
wie ja dies von manchen Autoren angenommen wird (siehe
weiter oben), so ist der Effect derselben gegenüber dem der
länger dauernden Einwirkung hoher Temperaturgrade sicher¬
lich ein recht geringer.
13) Beiträge zur Fieberlehro. Archiv für Anatomie und Physiologie.
1870, pag. 159 ff.
u) Untersuchungen über die physiologische Wirkung der Schlamm¬
bäder. Archiv für Hygiene. Bd. XXVI.
ir’) Atti della K. Acad, delle Scienze di Torino. 1889, Vol. XXIX.
1U) Giornale della Riunione Academia di Mediciua di Torino. 1892,
Bd. XL.
17) 1. c.
18) Fangobehandlung. Berlin 1898.
19) Berliner klinische Wochenschrift. 1897, Nr. 13.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 28
Dieser physikalische Effect lasst sieh aber nicht nur mit
dem aus heissen Quellen gewonnenen Schlamme, sondern mit
jedem anderen erzielen, wenn die Applicationsweise eine ent¬
sprechende ist, wie dies meine Versuche mit dem Ischl er
Salzbergschlamm beweisen20), welche in ähnlicher
Weise vorgenommen wurden, wie die von Maggi or a und
Levi, und in den meisten Fällen auch den
gleichen Effect hatten.
Dieser äusserte sich in rascherer und viel höherer
arterieller Diastole, langsamerem Uebergang von der Diastole
zur arteriellen Systole, welch letztere rascher und kräftiger
wird, Frequenzvermehrung und Verminderung der Härte des
Pulses. Schon nach wenige Minuten dauernden Einwirkung ist
Rötlning der betreffenden Hautpartie bemerkbar, welche zum
Theile auch auf den Reiz, welchen die Spitzen und Kanten
der im Schlamme enthaltenen Krystalle ausüben, zurückzu-
führen ist.
Die Methode der Application ist sehr einfach; zunächst
ist es vorteilhaft, eine grössere Menge des trockenen Schlam¬
mes auf 55 — 60° zu erwärmen und erst unmittelbar vor dem
Gebrauche Wasser von derselben Temperatur so lange zuzu¬
setzen bis das Gemenge die Consistenz eines zähen Breies
erhält; sodann geht man ungefähr in gleicher Weise vor wie
Maggiora und Lev i; man beschmiert den kranken Körper¬
teil und dessen Umgebung mit einer 5 — 6 cm hohen Schichte
des Breies, lässt den Patienten auf ein bereit stehendes Ruhe¬
bett legen und zunächst in ein Leintuch, dann in Gummibett¬
stoff oder Billroth-Batist, endlich in eine dicke Flanelldecke
fest einhüllen und in ruhiger Lage ungefähr eine halbe Stunde
verweilen, hernach mit warmem Wasser abspülen.
Am Schlüsse dieser Arbeit ist es mir eine angenehme
Pflicht, den Herien Hofrath E. L u d w i g, Hofrath A. v. Vogl,
Prof. F. Becke, Docent Dr. v. Zeynek für die liebens¬
würdige Unterstützung bei dieser Arbeit meinen ergebensten
Dank abzustatten.
Bemerkung zum Aufsatze in Nr. 25 dieser Wochen¬
schrift: G. Holzknecht, »Zum radiographischen
Verhalten pathologischer Processe der Brust¬
aorta«.
Von Dr. Maximilian Weinberger, Assistenten an der III. medicinischen
Klinik.
In diesem Aufsatze bespricht Holzknecht eine häufig wieder-
kehrende pathologische Form des Mittelschattens, bei welcher links
oben in der Höhe des zweiten Intercostalraumes ein rundlicher,
scharf begrenzter, pulsirender Schatten aus dem Mittelschatten heraus-
treto. Es sei das jenes Gebilde, das oft ungerechtfertigter Weise zur
Diagnose eines beginnenden Aortenaneurysma geführt habe. Im An-
schlu-se daran fährt Holz kn echt fort:
„Hier muss ich noch erwähnen, dass ich, aufmerksam gemacht
durch die dankenswerthe Arbeit Weinberger’s (Ueber die Rönt¬
gt nographie des normalen Mediastinum. Zeitschi ift für Heilkunde.
1900, Heft 1) gefunden habe, dass bei einer Anzahl magerer muskel-
schwacher Leute mit normalem Circulationsapparat, besonders auf stark
exponirten Platten, aber auch am Schirmbilde, eine Andeutung einer
solchen Vorwölbung, oder wenigstens eine circumscripte Randpulsation
des Mittelschattens an dieser Stelle besteht und so gleichsam obige
pathologische Bildung schon unter normalen Verhältnissen in nuce vor¬
gebildet ist.“
Dem gegenüber verweise ich auf die Resultate meiner Arbeit,
aus welcher hervorgeht:
Bei Durchstrahlung des Thorax gesunder Personen sowohl von
hinten nach vorne (dorsoventral), als von vorne nach hinten (ventro¬
dorsal), wobei die Person aufrecht sitzt und die R ö n t g e n - Röhre
mit verticalem Platinspiegel in jener horizontalen und verticalen Ebene
eingestellt wird, welche die Region zwischen erster und dritter Rippe
vorne (der die grossen Gefässe entsprechen) in gleiche Hälften theilt,
entsteht auf der der Thoraxwand angelegten photographischen Platte
ein medianer, folgendermassen beschaffener Schatten:
■") Hierüber wird anderen Ortes berichtet werden.
Er zeigt einen mittleren dunkelsten Antheil, den centralen
Schatten, und hellere Seitentheile, periphere Schatten. Der peri¬
phere Schatten ist entsprechend der Höhe des ersten Intercostal-
raumes links von einer lateral convexen B o g e n 1 i n i e con-
tourirt, welche eine ziemlich starke Krümmung hat und scharf ab
gesetzt ist. Am Schirm ist Pulsation dieser Bogencontour zu
constatiren.
Aus dem Studium der anatomischen Verhältnisse
auf Gefrier horizontalschnitten konnte ich ableiten, dass
der centrale Schatten von der Wirbelsäule, dem Sternum und dem
dazwischen gelegenen Theile des Mediastinums gebildet ist, während
der linke periphere Schatten vou der Aorta, und zwar vom Arcus
a o r t a o und der Aorta deseendens h e r r ü h r t. Die linke
oberste Bogencontour ist also Seite neon tour der
Aorta; die rhythmische Pulsation ist Pulsation der
Aorta.
Ich kann nur hinzufügen, dass der oben beschriebene periphere
Scliattenantheil (links im ersten Intercostalraum) bei allen bisher
untersuchten normalen Menschen im Röntge nogram me zu sehen
war, ob sie nun muskelschwach oder muskelstark waren ; dass er
höchstens dann minder deutlich und scharf contourirt erscheint, wenn
die Platte zu stark exponirt ist, wodann die Schatten der
knöchernen Theile stärker zu Ungunsten der Weichtheilschatten hervor¬
treten, und dass er demnach auch bei der Schirmuntersuchung
nicht fehlen kann, welche der Vollkommenheit, vor Allem aber der
Objectivität und Beweiskraft einer Photographie
durchaus entbehrt.
Der oben beschriebene periphere Scliattenantheil ist in den
topischen Verhältnisse: n der anatomischen Präparate begründet,
welche lehren, dass die im Bereiche des ersten Intercostal¬
raumes links im Mediastinum gelogene Aorta bei
normalen Menschen die Mittellinie beträchtlich mehr
überschreitet, als der schattengebende Theil der
W irbelkörpe r.
Mit diesen Ausführungen erscheint für mich die Angelegenheit
erledigt.
Gegenbemerkung zu Obigem.
Von Dr. G. Holzkneollt, Aspiranten der Klinik Nothnagel.
Als Gegenbeweis der obigen Behauptung Herrn Dr. W e i n-
berge r’s, dass jene pulsirende Vorwölbnng dos Mittelschattens auch
bei völlig Gesunden constant sei, würde ein einziges gutes Radio¬
gramm, auf dem sie fehlt, genügen. Ich verfüge aber über eine Reihe
solcher, die Herrn Dr. Weinberger bei mir einzusehen jederzeit
frei steht. Bezüglich der Details der Sache werde ich mich in der
„Radiologischen Diagnostik der Erkrankungen der Thoraxeingeweide“,
enthalten in dem von der „Redaction der Fortschritte auf dem Gebiete
der Röntgen- Strahlen“ herausgegebenen Sammelwerke auszusprechen
Gelegenheit haben.
FEUILLETON.
Wilhelm Kühne f.
Ein bedeutender Mensch gleicht auf seinem Wege durch das
Leben in Bezug auf die Fortentwicklung der Menschheit und der
Wissenschaft dem leuchtenden Gestirn, das in flüchtigen Stunden
seine Bahn durchläuft. Die kurze Spanne Zeit, die für uns einen
Tag bedeutet, sie ist ein Augenblick nur in der Unendlichkeit und
das Leben eines Einzelnen gleicht einem flüchtigen Auftauchen im
ewig währenden Process alles Werdens und Vergehens. Und doch,
so wie die Sonne selbst während dieses Augenblickes unvergängliche
Spuren ihres Wirkens hinterlässt, ehe sie hinter dem Horizonte ver¬
schwindet, ebenso prägt sich auch das Walten hervorragender Menschen
während ihres Lebenslaufes in den Entwicklungsgang der Menschheit
und der Wissenschaft ein.
Dem kritischen und unparteiischen Geschichtsforscher, vor dessen
geistigem Auge die Resultate dieses Wirkens zur klaren Form kry-
stallisiren, bleibt es Vorbehalten, diese an passender Stelle in das
gewaltige Gebäude einzufügen, zu welchem die Wissenschaft sich
erhebt.
Die Beurtheilung der wahren Grösse eines Menschen, sozusagen
im Angesichte und unter dem unmittelbaren Eindruck des Todes, bleibt
stets nur eine unvollkommene, weil sie durch eine Reihe von Um¬
ständen getrübt wird. Wenn der Versuch doch unternommen wird, im
Rahmen eines Nachrufes die Bedeutung eines grossen Todten hervor-
Nr. 28
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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zubeben, so geschieht es einerseits, um dem schmerzlichen Ver¬
luste Ausdruck zu verleihen, der die Wissenschaft betroffen, andeier-
seits um die hohe Bewunderung, die der Verstorbene in Fach- und
Gelehrtenkreisen genossen, für weite Kreise hin zu begründen.
Dieses Bild von dem Werdegang und der Grösse kann insbesondere
da nur in flüchtiger Skizze gegeben werden, wo man es mit den
geistigen Schöpfungen eines vielseitigen und unermüdlichen Forschers
zu thun hat.
Und ein solcher war W i 1 h e 1 m K ü h n e, dem die Universität
Heidelberg die letzten Ehren erwiesen hat, in jener Stadt, die ihm zur
zweiten Heimat geworden ist und zu deren Glanz und Ruhm er nicht
wenig beigetragen hat.
Wilhelm Kühne ist am 28. März 1837 zu Hamburg
geboren; er studirte an den Universitäten in Göttingen, Jena, Berlin,
Baris und Wien und wurde im Jahre 185(5 zum Doctor der Philosophie
promovirt; im Jahre 1 8 G 1 wurde er Assistent am pathologischen In¬
stitute in Berlin und bereits ein Jahr darauf wegen seines damals
bereits guten wissenschaftlichen Namens zum Ehrendoctor der Medicin
an der Universität in Jena ernannt. Im Jahre 1868 kam er als Pro¬
fessor der Physiologie an die Universität nach Amsterdam und im
Jahre 1871 wurde ihm die durch die Berufung v. Helmholtz'
nach Berlin frei gewordene Lehrkanzel der Physiologie in Heidelberg
auf Empfehlung v. Helmholtz’ selbst übertragen. An dieser Stätte
hat er durch fast 30 Jahre rastlos gewirkt und geai beitet; während
dieser langen Zeit hat er auch die Universität, sein Institut und
Heidelberg so lieb gewonnen, dass er einem an ihn ergangenen Rufe,
an Stelle Du Bois-Reymond’a nach Berlin zu gehen, keine Folge
geleistet hat. Während dieser seiner 30jährigen Lehrtliäiigkeit sind
ihm auch so manche Ehren zu Theil geworden; so wurde ihm ins¬
besondere aus Anlass seines 25jährigen Professorenjubiläums eine Fest¬
schrift von seinen Schülern gewidmet.
Im letzten Halbjahre zwang ihn eine schwere Erkrankung, seine
Lehrthätigkeit aufzugeben und am 10. Juni ist er, nicht ganz 64 Jahre
alt, dieser zum Opfer gefallen.
Kühn e’s Lehrjahre fallen in jene Zeit, wo die als exacte
Naturwissenschaft sich neu gestaltende Physiologie im weiteren Sinne
des Wortes ihre glänzendsten Vertreter aufzuweisen hatte, von denen
jeder mehr oder weniger eine bestimmte Richtung in der Physiologie
repräsentirte ; ich nenne nur Wilhelm Weber, R. Wagner,
Claude Bernard, E. Brücke, C. Ludwi g, D u Bois-
Reymond. Diese alle zählte er neben Henle und den berühmten
Chemikern Wühler und C. G. Lehmann zu seinen Lehrern.
Bei allen diesen ist Kühne zum Theil als Student, zum Theil
als junger Doctor, und, wie die Folge gezeigt hat, mit glänzendem
Erfolge in die Schule gegangen.
In den ersten wissenschaftlichen Ai beiten kommt besonders sein
Interesse für chemische Fragen zum Ausdruck, ein Interesse, das sich
immer mehr verdichtete und das ihm zeitlebens erhalten blieb; in fast
allen seinen Arbeiten ist der glänzende Chemiker wiederzufinden ; doch
blieb die jdiysiologische Chemie nicht sein einziges Arbeitsgebiet, wie
eine flüchtige Uebersicht über seine zahlreichen Veröffentlichungen
ergibt. Vor mir liegen mehr als hundert Einzelschriften und zusammen¬
fassende Darstellungen, von denen 38 der Nerven- und Muskelphysio¬
logie, 17 der physiologischen Chemie, 5 der allgemeinen Physiologie,
15 der Physiologie der Verdauung und 32 der physiologischen Optik
angehören.
Diese Anzahl lässt zugleich ersehen, von welcher Rastlosigkeit
und von welcher zähen Ausdauer K ü h ne war; als er in den Sechziger-
Jahren in dem nunmehr verwaisten physiologischen Institutsgebäude in
Wien, das bald einem Neubau weichen wird, unter B r ü c k e’s Leitung
über Protoplasmabewegung“ arbeitete, bewunderte Brücke, wie
ich erfahren habe, die unermüdliche Arbeitskraft des jungen Forschers, der
ohne Unterbrechung vom frühen Morgen bis zum späten Abend über dem
Objecte seiner Studien sass, um dann erst in froher Laune sich dem
vollen Genüsse des Wiener Lebens zu ergeben.
Neben den ersten chemischen Arbeiten sehen wir ihn schon mit
Fragen aus dem Gebiete der Nerven- und Muskelphysiologie beschäftigt,
auf die er sich mit der vollen Kraft und der Siegeszuversicht eines
Eroberers wirft. In den Jahren 1857 — 1803 hat er bereits eine Reihe
der bedeutendsten Entdeckungen auf diesem Gebiete zu verzeichnen,
so unter Andeien, dass die Muskelsubstanz direct erregbar ist (am
nervenfreien Endstück des Sartorius), dass es chemische Agentien gibt,
die blos den Muskel (Ammoniak), andere, die blos den Nerven erregen,
dass im Muskel zwei Eiweisskörper sind, von denen der eine, den er
Muskelplasma nennt, unter den Bedingungen gerinnt, unter welchen
der Muskel todtenstarr wird, während der andere erst bei 45° gerinnt,
dass der Nerv ein doppelsinniges Leitungsvermögen besitzt.
Haben ihn diese Arbeiten schon in die erste Reihe der jungen
Physiologen gestellt, so waren es noch mehr die gleichzeitigen
Veröffentlichungen seiner bahnbrechenden histologischen Untersuchungen
über die Endigungsweise der Nerven in den Muskeln, welchen wir
unsere Kcnntniss über den feinen Bau der Endplatten und des
Doyere’schen Hügels verdanken, seine Beobachtung, dass der Inhalt
der Muskelfaser flüssig ist. In diese Zeit fällt auch eine schöne Unter¬
suchung über „Protoplasma und Contractilität“, in welcher er über
Bewegungserseheinungen an Amöben, über elektrische Reizversuche an
Rhizopoden, Myxomyceten und über das Verhalten des reizbaren und
contractilen Protoplasmas in den Zellen der Staubfädenhaare von Tra-
descantia berichtet.
In die folgenden Jahre fallen seine Untersuchungen: „Ueber
Ozon im Blute“, „Ueber das Vorkommen und die Ausscheidung des
Hämoglobulins aus dem Blute“, „Ueber den Farbstoff der Muskeln“ und
die Veröffentlichung des classiseh geschriebenen „Lehrbuches der physio¬
logischen Chemie“, dessen Vollendung im Jahre 1867 erfolgte. Im
Jahre 1868 erschien ein zusammenfassender Artikel über seine histo¬
logischen Arbeiten über Nerven und Muskelfasern in Strieker’s
„Handbuch der Gewebelehre“.
Im Jahre 1875 — 1876 überraschte er die wissenschaftliche Welt
wieder mit einer Reihe hochbedeutsamer Entdeckungen auf dem Gebiete
der Physiologie der Verdauung. Mit Lea beobachtete er das Pankreas
am lebenden Kaninchen während der Verdauung, zeigte, dass bei der
Trypsin Verdauung das Bindegewebe nicht afficirt wird, empfahl diese
Thatsache zur Verwendung für histologische Zwecke — er selbst wies
mit Ewald auf diese Weise die Neurokeratinhülle der markhaltigen
Nerven nach — und lehrte das Verhalten des Trypsins, mit welchem
Namen er das Verdauungsferment des Pankreas belegte, sowie ver¬
schiedener organisirter und sogenannter ungeformter Fermente, für welche
erden Namen Enzyme einfuhrt, kennen, und stellt endlich die wichtigsten
Grundsätze der chemischen Veränderungen der Albumine bei der Ver¬
dauung fest.
Das glänzendste Zeugniss von seinem durchdringenden Geiste
und von dem richtigen Erfassen bedeutsamer Entdeckungen geben die
Aibeiten, die sich au die geniale Entdeckung B o 1 1 ’s über das Sehroth
knüpfen, die in den folgenden Jahren, 1877 — 1882, erschienen und das
Erstaunen der Mitwelt erregten. Erst unter seinen Händen, durch
seinen Scharfsinn und seine glänzende Methodik und Experimentirkunst,
ist aus der Beobachtung Boll’s, die er in richtiger Erkenntniss ihrer
Tragweite aufgriff, ein wohlgefügtes Ganzes auski ystallisirt, und mit
Recht knüpft sich daher für die Nachwelt die Entdeckung des Seh¬
purpurs, wie er diese Substanz nannte, an seinen Namen.
In nicht weniger als 25 Arbeiten, die in den Jahren 187 7
bis 1879, theils von ihm allein, theils mit seinem Mitarbeiter E w a 1 d
in den „Untersuchungen aus dem physiologischen Institute der Uni¬
versität in Heidelberg“ veröffentlicht wurden und die von ihm noch ein¬
mal zusammengefasst im Hermann’schen Handbuch erschienen sind, hat
er das Verhalten des Sehpurpurs am lebenden Auge, sowie an isolirten
Netzhäuten behandelt, gezeigt, dass die Stäbchenfarbe im Leben wie im
Tode nur vom Licht allein gebleicht wird, dass die Färbung der
Netzhaut einer selbstständigen chemischen Substanz zuzuschreiben ist,
hat Lösungsmittel für diesen Farbstoff angegeben und weiters demon-
strirt, dass man auf der Netzhaut photographiren und diese „Opto-
gramme“ fixiren kann.
Weiter hat er in diesen Arbeiten die wichtigen Befunde nieder¬
gelegt, dass in der Fovea centralis kein Purpur vorkommt, und dass
er bei vielen Thieren fehlt.
Auf Grund dieser und noch vieler anderer einschlägiger Beob¬
achtungen hat er seine „optochemische Hypothese“ aufgestellt, nach
welcher, wie er selbst schreibt, „die Sehzellen als 1 räger photo-
chemisch zersetzlicher Stoffe angesehen werden, welchen letzteren, so
lange sie unzersetzt bleiben, keine Fähigkeit zukommt, den irritablen
Theil der Sehzellen, welcher durch das Protoplasma des Innengliedes
vorgestellt wird, chemisch zu erregen. Dagegen schreibt die Hypo¬
these den Zersetzungsproducten, deren Auftreten mit dem Zugänge des
Lichtes begonnen, das Vermögen zu, Sehzellenprotoplasma chemisch zu
erregen, und bezeichnet jene Producte als Sehreger. Sehpurpurist dem¬
nach ein solcher Sehstoff, dessen Sehreger Sehgelb und Sehwoiss sind."
Ausser diesen epochemachenden Untersuchungen hat er im An¬
schlüsse an die Arbeit von Holmgreen gemeinsam mit Steiner
das elektrische Verhalten der Retina und des Nervus opticus im Licht
und Dunkel untersucht, sowie ebenfalls gemeinsam mit dem genannten
Forscher den Nervenstrom am marklost n Nervus olfactorius studirt.
Vom Jahre 1882 an nahm er wieder, zusammen mit Lea und
insbesondere mit Chittenden, seine Arbeiten über die Verdauung
des Pankreas und über die Chemie der Eiweisskörper und der Verdauungs-
produete auf, welche ihn bis zum Jahre 1893 beschäftigten.
In diesen Arbeiten, welche einen weiteren Ausbau seiner früheren
bedeuten, hat er die grundlegenden Anschauungen über die ^ erdauungs-
producte der Albumine festgelegt, die auch heute noch mehr odei
weniger die Summe unseres diesbezüglichen "Wissens repiäsentimn.
Hieher gehört der Nachweis, dass die Eiweisskörpei bei der Spaltung
in zwei Gruppen von Derivaten zerfallen die Anti- und Hemigi uppen,
welche letztere bei der Trypsin Verdauung zerfallen, während dm Anti
G50
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Ni. 28
körper bei der Magenverdauung in Antipeptone übergehen; hieher
gehören die classischen Untersuchungen über die Eintheilung der Albu-
mosen in Proto-, Hetero-, Dys- und Deuteroalbumosen.
Daneben sehen wir ihn unermüdlich mit der Erforschung der
Nervenendigung im Muskel beschäftigt, in welcher er sich als ebenso
bedeutender llistologe wie in den vorgenannten als Chemiker erweist.
Speciell in der histologischen Technik macht er sich eine Reihe
neu erstandener Untersuchungsmethoden eigen und zeigt, mit welchem
Interesse er allen diesen Fragen zu folgen im Stande ist.
Aus dieser Zeit stammen noch einige Arbeiten aus der Muskel¬
physiologie, so eine: „Ueber das doppelsinnige Leitungsvermögen“, in
welcher er seinen bekannten Zweizipfelversuch ausbildet und durch
Uebertragung auf den Gracilis des Frosches zu einer augenfälligen
Erscheinung entwickelt, ferner eine: „Ueber die Wirkung des Pfeil¬
giftes auf die Nervenstämme“, „Ueber secundäre Erregung von
Muskel zu Muskel“ und andere mehr. In diese Zeit fällt noch das
Erscheinen einer Schrift: „Ueber Darwinismus und Medicin“.
In den letzten Jahren 1897 — 1898 veröffentlichte er in der
„Zeitschrift für Biologie“, deren Begründer er war und die er gemein¬
sam mit V o i t herausgab, und in 'welcher auch bereits die Mehrzahl
der Publicationen der letzteren Zeit erschienen waren, eine Arbeit:
„Ueber die Bedeutung des Sauerstoffes für die vitale Bewegung“ in
zwei Mittheilungen. Diese Untersuchungen betreffen die Bedeutung des
Sauerstoffes für die Protoplasmabewegung in den Staubfadenhaaren
von Tradescantia und in den chlorophyllhaltigen Pflanzenzellen
(Sprossen von Characeen, Nitella- Arten) ohne und mit Einwirkung des
Lichtes, welches zu innerer Sauerstoffentwicklung durch das Chlorophyll
führt. Es gelang ihm, festzustellen, dass die Bewegung im Dunklen
erlischt und sowohl durch Sauerstoffzutritt als auch durch eigene
Sauerstoffentwicklung im Lichte wiederhergestellt wird.
Diese Arbeit, die seine letzte werden sollte, lässt so recht sein
nicht ermüdendes Interesse für chemische und biologische Probleme
erkennen, die ihn zeitlebens beschäftigten und ihn zu einem der be¬
deutendsten physiologischen Chemiker stempelten.
Ausgestattet mit einem unermüdlichen Fleisse und mit dem
Scharfsinne, die Probleme richtig zu erfassen und in glänzender
Weise auch experimentell anzugreifen, ist es ihm möglich geworden,
diese Fülle von geistigen Schöpfungen zu produciren, bei welchen
ihm jetzt der Tod Halt geboten hat.
Neben den ihn speciell beschäftigenden Fragen hatte er auch
für alle übrigen bedeutenden Entdeckungen ein hohes Interesse, was
sich auch darin zeigte, dass er stets gerne die Versammlungen des
Physiologencongresses besuchte; auf diesen zeigte er sich als der ge¬
wandte Redner im wissenschaftlichen, und liebenswürdigen Erzähler
im heiteren Kreise.
Dass ein solcher Mann Schüler aus weiten Kreisen an sich
gezogen hat, darf uns nicht Wunder nehmen; die Namen jener
Männer, die ihm aus Anlass seines 25jährigen Professoren- Jubiläums
eine Festschrift überreicht haben, beweisen, dass er auch in Bezug auf
seine Lehrthätigkeit glänzende Erfolge aufzuweisen hat.
Und so sehen wir nun ein Leben, reich an Ehren und Erfolgen,
abgeschlossen; die Früchte dieses Leben werden noch in kommenden
Geschlechtern fortwirken.
Den stolzen Hoffnungen, die man in Kühne gesetzt hat, als
man ihm das Erbe des grössten deutschen Physiologen übertrug, ist
er zum Ruhme der Stadt und Universität Heidelberg vollauf gerecht
geworden.
Wien, den 7. Juli 1900. Alois K r e i d 1.
REFERATE.
I. Die paroxysmale Tachycardie (Anfälle von Herzjagen).
Von Dr. August Hoffmann.
Wiesbaden 1900, J. F. Bergmann.
II Heart Disease: With Special Reference to Prognosis
and Treatment.
By Sir William H. Broadbent and F. H. J. Broadbent.
Third Edition.
London 1900, B a i 1 1 e r e, Tindall & Co.
I. An der Hand eigener Beobachtungen (fünf Fälle) gibt der
Autor unter eingehender Berücksichtigung der diesbezüglichen Lite¬
ratur und kritischer Würdigung der klinischen Beobachtung eine
übersichtliche Darstellung unserer gegenwärtigen Kenntnisse in diesem
noch vielfach dunklen Capitel der Herzpathologie. Auf Grund
eigener Beobachtungen weist der Autor mit besonderem Nachdruck
auf den Befund abnormer Herzmobilität hin, welchem er ätiologische
Bedeutung beizumessen geneigt zu sein scheint. Auch konnte er
sich nicht von der Regelmässigkeit einer Herzdilatation im Anfall
überzeugen und wendet sich daher gegen die Auffassung der Dila¬
tation als ätiologischen Factors. Das die Anfälle auslösende Moment
sieht der Autor auch nicht in einem Vasomotorenkrampf (Jacob),
hält dieselben vielmehr für central bedingt. Besonders wird auf
das Verhalten der Harnsecretion im Anfalle (Polyurie) hingewiesen.
Der Autor fasst die paroxysmale Tachycardie nicht als
»Entile morbide«, sondern als Symptomencomplex auf, und schlägt
daher den Namen: tachycardischer Paroxysmus oder Anfall von
llerzjagen vor. Widerspruch dürfte die Behauptung finden, dass,
wäre eine Vagusaffection im Spiele, die Herzbeschleunigung constant
sein müsste. Es ist eine in der Neuropathologie oft anzulreffende
Erscheinung, dass dauernde Läsionen intermittirende Symptome
setzen.
Therapeutisch wird besonders Galvanisation am Halse em¬
pfohlen.
Die persönliche Erfahrung des Autors, sowie die gründliche
kritische Vertiefung in das Thema, welches erschöpfende Behand¬
lung erfährt, gestalten die Lecture der vorliegenden Monographie
ebenso anregend als lehrreich.
*
if. In diesem vortrefflichen Werke erfährt das Thema der
Herzkrankheiten eine ebenso erschöpfende als anziehende Bearbeitung.
Ueberall tritt die reiche persönliche Erfahrung am Krankenbette,
über welche der Autor nach langjähriger, in wissenschaftlichem
Geiste ausgeübter Praxis in reichlichstem Masse verfügt, klar zu
Tage. Die Sprache ist einfach, schlicht, die Darsiellungsweise von
fesselnder Lebendigkeit. So kann es nicht Wunder nehmen, dass
das Werk, Ende 1897 erschienen, bereits in dritter Auflage
vorliegt.
Es ist aus der Lehrthätigkeit des Autors hervorgegangen und
im Anschlüsse an Vorlesungen für Aerzte niedergeschrieben. Der
Autor berücksichtigt auch in der That ganz besonders die Bedürf¬
nisse des praktisch thätigen Diagnostikers, doch ohne dass das
wissenschaftliche Gepräge des Werkes darunter zu leiden hätte.
Die Prognose und Therapie im Allgemeinen und Besonderen
werden mit besonderer Liebe und Sorgfalt besprochen und tritt auch
liier überall die eigene, durch Empirik und theoretische Ueberlegungen
gestützte Anschauung des Autors deutlicli hervor. Moderne Mechano-
und Balneotherapie wird eingehend besprochen, ihre grosse Bedeu¬
tung gewürdigt, doch ebenso entschieden vor übertriebenem Enthu¬
siasmus gewarnt und strenge Individualisirung empfohlen. Gegen
die vielfach beliebte übertriebene Aengstlichkoit bezüglich körper¬
licher Anstrengung bei compensirten Klappenläsionen wird energisch
Steilung genommen. Die wichtigen Beziehungen zwischen Psyche
und cardio-vasculären Störungen werden eingehend besprochen, wie
überhaupt moderne Zeit- und Streitfragen auf dem Gebiete der
Herzpathologie ausführlich erörtert werden.
Eine gewisse Emancipation von der früher beliebten einseitigen,
allzu mechanisch fundirten, pathologisch-anatomischen Anschauung
und das Hervortreten einer mehr lebendigen, auf klinischer Beob¬
achtung hissenden ernsten und nüchternen biologischen Auffassung
bilden die Hauptmerkmale des vorliegenden Werkes, Momente,
welche die Lecture des Buches äussersl anregend gestalten. Es
liegt, hier zweifellos eines der besten literarischen Producte auf
dem Gebiete der Herzkrankheiten vor, wofür übrigens der Name
des Autors von vorneherein bürgt. Dr. Rudolf Schmid.
I. Zur Mechanik und Physiologie der Nahrungsaufnahme
der Neugeborenen.
Von H. Cramer.
Volkmann’s Sammlung klinischer Vorträge. 1900, Nr. 263.
II. Die Versuchsanstalt für Ernährung, eine wissen¬
schaftliche, staatliche und humanitäre Nothwendigkeit.
Von Pli. Biedert.
München 1 899, Seitz & Schauer.
III. Ueber Zerreissungen des Nabelstranges und ihre
Folgen für den Neugeborenen.
Von J. Bayer.
Volkmann’s Sammlung. 1900, Nr. 265.
IV. Säuglingsernährung.
Von B. Bemlix.
Berliner Klinik. 1900, Heft 141.
I. Cramer beschäftigt sich in seiner Arbeit vorwiegend mit
ö Ö
zwei Fragen. Zuerst will er das Nahrungsminiinmn feststellen, bei
Nr. 28
wiener klinische Wochenschrift. 1900.
651
dessen Aufnahme der Neugeborene die verhältnissmässig grösste
Gewichtszunahme zeigt. Es hat sich hiebei gezeigt, dass der Neu¬
geborene im günstigsten Falle um 18°/0 des Gewichtes der zuge¬
führten Nahrung an Körpergewicht zunimmt. Bei der gewöhnlichen
Nahrung an der Brust ist der »Nährquotient« bis zum zehnten
Lebenstage circa 10°/o-
Den zweiten Punkt in der Arbeit bildet die Bestimmung der
zur Nahrungsaufnahme nothwendigen Aspirationskraft des Brust¬
kindes. Herz und Basch bestimmten den Saugdruck mit 4 bis
14 cm3 Wasser. Verfasser zeigt, dass diese Zahl wohl dem bei
einer einzelne n Saugbewegung hervorgebrachten negativen
Drucke entspricht, dass aber durch wiederholte Saugbewegungen
das Kind einen negativen Druck von 58- — 140 cm3 Wasser zu er¬
zeugen vermag. Der für den Austritt der Milch aus der Brust noth-
wendige Druck war in jedem Falle geringer als der vom Kinde aul¬
gebrachte Saugdruck* er schwankte in neun Versuchen zwischen
13 und 69 cm3 Wasser. Je geringer der für den Austritt der Milch
nothwendige Druck war, desto reicher an Milch war die Brustdrüse.
Die Compression des Warzenhofes ist für den Austritt der Milch
erst in zweiter Linie wichtig.
*
II. Biedert hat in einem am Naturforschertage zu Mün¬
chen gehaltenen Vortrage die Aufforderung zur Errichtung einer
»Versuchsanstalt für Ernährung« als einer »wissenschaftlichen,
staatlichen und humanitären Nothwendigkeit« ergehen lassen. In
der vorliegenden Broschüre wird der Zweck einer solchen Anstalt
eingehend begründet, zugleich auch ein vollständiges Programm für
die Leitung der Anstalt entworfen. Bei der immensen Bedeutung,
welche die Physiologie der Ernährung im Allgemeinen und ganz
besonders für das Säuglingsalter hat, ist solch ein Vorschlag aufs
Wärmste zu begrüssen.
*
III. J. Bayer berichtet über einen Geburtsfall: Eine Primi¬
para war angeblich von der Entbindung überrascht, am Ende der¬
selben bewusstlos aufgefunden worden. Das Kind lag mit zerrissener
Nabelschnur und todt zwischen den Beinen der Mutter, es hatte
mehrfache Schädel- und Leberverletzungen.
Obzwar der Obductionsbefund es für ganz sicher erklärte,
dass die Verletzungen des Kindes am Schädel und an der Leber
durch äussere Gewalteinwirkung post partum herbeigeführt worden
sind (Avohl auch die Nabelschnurzerreissung?), bespricht Verfasser
die Literatur über Festigkeit und spontane Zerreissungen der
Nabelschnur, über die Verblutung Aron Kindern aus der Nabelschnur,
über die Möglichkeit von Schädel- und Leberverletzungen durch
den Geburtsact.
*
IV. B. B e n d i x erörtert in einem kleinen Heft die gegen¬
wärtig in Geltung stehenden Ansichten über die Säuglingsernähr ung.
Bei dem Umstande, dass dieses Thema seit den letzten Decennien
stark discutirt und vielfach wissenschaftlich bearbeitet worden ist,
ist es von Interesse und für jeden Arzt lehrreich, den bisher
zurückgelegten Weg zu kennen. Bendixs Broschüre vermittelt
dies in angenehmer Weise. Sie ist fliessend geschrieben, berührt
alle die wichtigsten Punkte der Säuglingsernährung und hat noch
dadurch, einen besonderen Werth, als sie die Anschauungen der
H e u b n e r’schen Schule wiedergibt. Knoepfelmacher.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
240. II e b e r die Beweglichkeit des Herzens bei
Lageveränderungen des Körpers. Von Dr. Deter-
mann (St. Blasien). Bei Gesunden fand sich bei linker Seitenlage
eine Verschiebung des Herzens durchschnittlich um 2 ’/2 cm nach
links und 1 cm nach oben; in rechter Seitenlage um 1 '/2 cm nacP
rechts und V2 cm nach oben; jedoch bestand bei manchen Ge¬
sunden Verschieblichkeit bis 6 ’/2 cm nach links und 4 cm nach
rechts. Selbstverständlich hat auch die Füllung des Magens, Meteo¬
rismus, der Ernährungszustand einen beträchtlichen Einfluss aut
die Lagerung des Herzens. Bei Chlorotischen und Neurasthenikern
war meistens die Herzbeweglichkeit eine grössere als normal. Die
Folgen bei einer grösseren Herzverschiebbarkeit können sieb als
Herzklopfen, Angstempfindungen, Schmerzen in der Herzgegend etc.
in Folge mechanischer Behinderung der Circulation, »Organempfind¬
lichkeit« u. s. w. äussern. — (Deutsche medicinische Wochenschrift.
1900, Nr. 15.)
*
241 . (Aus dem Stadtlazareth zu Danzig.) Zwei praktisch
wichtige Fälle von Hysterie. Von Dr. Fuerst. Bei einer
Hysterischen sollte wegen galligen Erbrechens eine Magenspülung
vorgenommen werden. Dabei Avurde der 43 cm weit eingeführte
Magenschlauch in Folge eines Oesophaguskrampfes so fest einge¬
klemmt, dass er trotz grosser Morphiumdosen nicht mehr heraus¬
zubringen war, sondern sich dabei eher beträchtlich in die Länge
ziehen liess. Die Herausnahme gelang erst während einer nach einer
halben Stunde eingeleiteten tiefen Chloroformnarkose. Der zweite
veröffentlichte Fall einer traumatischen Neurose ist ein Beweis lür
die Existenz eines hysterischen Fiebers, beziehungsweise für die
Möglichkeit einer psychogenen Temperatursteigerung. Der im Ver¬
dachte einer Tuberculose stehende Patient hatte — jedoch unter
eigenthümlichen Erscheinungen — auf eine Tuberculininjection
prompt reagirt. Die Temperatursteigerung trat auch ein, als blos
reines Wasser, nachher sogar als nur die Canule eingestochen und
gar nichts injicirt wurde. Der Patient wusste, dass nach jeder In¬
jection mit seiner Temperatur etwas Vorgehen müsse. Diese Vor¬
stellung genügte, um bei der abnormen Erregbarkeit der wärme-
regulirenden Centren des Patienten auch objectiv eine Temperatur¬
erhöhung eintreten zu lassen. — - (Deutsche medicinische Wochen¬
schrift. 1900, Nr. 14.)
*
242. Spastischer Verschluss der Speiseröhre
als Symptom von Harninfectio n. Von Dr. G r o s.g 1 i k
(Warschau). Der Patient konnte plötzlich weder feste noch flüssige
Nahrung hinunterschlucken. Die Untersuchung mit der Sonde er¬
gab ein Hinderniss im unteren Theil der Speiseröhre, die auf eine
daselbst befindliche, wahrscheinlich bösartige Stenose deutete. Da
gleichzeitig complete Harnverhaltung in Folge einer Prostatahyper¬
trophie bestand, wurde die Blase local behandelt, worauf die Stenose
der Speiseröhre sich zurückbildete und als eine spastische erwiesen
Avurde. — (Central blatt für die Krankheiten der Harn- und Sexual¬
organe. Bd. XI, Heft 2.)
*
243. (Aus der medicinischen Klinik des Prof. v. Leyden
in Berlin.) Zur Serodiagnose der Tuberculose. Von
Dr. B e n d i x. Die Ergebnisse der angestellten Untersuchungen be¬
rechtigen zu dem Schlüsse, dass die Serumreaction für die Früh¬
diagnose der Tuberculose von grösstem Werthe sein kann. Es
wurde in nahezu allen Fällen gefunden, dass das Blutserum I uber-
culöser Tuberkelbacillen, manchmal sogar noch in einer Verdün¬
nung von 1:50 zu agglutiniren im Stande war; je florider die
Phthise war, desto geringer war die Agglutinationskraft des Serums,
ja in einigen Fällen mit Aveitgehenden Lungenzerstörungen war
überhaupt keine Agglutination mehr zu bekommen. Diese Abnahme
des Agglutinationswerthes des Serums bei schweren progressiven
Phthisen scheint mit der Abnahme der Widerstandskraft des Orga¬
nismus in Parallele zu stehen. — (Deutsche medicinische V ochen-
schrift. 1900, Nr. 14.) Pi*
THERAPEUTISCHE NOTIZEN.
Nach den Berichten der „Comptes rendus“ konnte Leprince
als wirksamen Bestandtheil der Rinde von Cascara sagrada das C a s-
carin herstellen, das gleichzeitig als Cholagogum und Laxans wirkt.
Die Anwendung erfolgt in Form von Pillen (Leprince) a 01 Gascaiin
oder von „Elixir Leprince“ auch zu 0 1 Cascarin im Esslöffel.
Dosis 01 — 0 3 pro die für Erwachsene, 0 01 — 0*05 für Kinder über
zwei Jahren.
*
Ueber den Heilwerth des Urotropins. Von Doctor
Grosglik (Warschau). Das Urotropin, ein in neuerer Zeit bei in-
fectiösen Erkrankungen der Blase häufig angowendetes und \iel g<
rühmtes Mittel, ist eine Ammoniak-Formaldehyd Verbindung, von
welcher vermuthet wird, dass es im Haine, wo es schon eine hälfe
Stunde nach der Einverleibung nachzuweisen ist, Formaldehyd a j-
spalte und dadurch stark antiseptisch wirke. G r o s g 1 1 k konnte bei
den in 30 Fällen angestellten Untersuchungen niemals Formaldehyd
im Urin nachweisen und kommt daher zu dem Schlüsse, dass die von
«52
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 28
anderer Seite behauptete Spaltung des Urotropins im Organismus sehr
zweifelhaft sei, dass es ferner keine bactericiden Wirkungen im Urin
entfalte. Es besitzt die Eigenschaft, für sehr kurze Zeit die Entwick¬
lung der Bacterien zu hemmen; in dieser Beziehung besitzt es keinen
Vorzug vor anderen Mitteln, wie Salol, salicylsaures Natron, Borsäure
u. s. w. Was endlich dessen therapeutische Wirkung anbelangt, ist
Grosglik nach häufiger und langdauernder Anwendung des Uro¬
tropins zu dem Schlüsse gekommen, dass die verbreitete Ansicht über
den günstigen Einfluss des Mittels bei infectiösen Processen in den
Harnorganen eine falsche sei. Dasselbe hat keinen Vorzug vor den
bisher angewendeten sogenannten antiseptischen Mitteln und erweist
sich gleich ihnen vollkommen als nutzlos, wenn es sieh um chronische
Processe handelt. — (Centralblatt für die Krankheiten der Harn- und
Sexualorgane. Bd. XI, Heft 5.)
*
Das J o d a 1 b a c i d in der heutigen Therapie. Von
Prof. Fasan o (Neapel). Das Mittel wurde manchmal durch Monate
in Tagesdosen von PO — P5 ohne die geringsten Nebenerscheinungen
und, wie Verfasser versichert, bei Gicht, Fettleibigkeit, Arthritis nodosa,
Ischias, Angina pectoris, Tachycardie, Aneurysma, Kropf und Syphilis
mit sehr günstigem Erfolge verabreicht. — (Archivio internazionale
di Medicina e Chirurgia. Februar-März 1900.)
*
Ueber die Behandlung rheumatischer Affec-
tionen mit jodsaurem Natron. Von Dr. Otto (Aisleben).
Verfasser hat 00 — 70 Fälle von acutem und chronischem Rheumatis¬
mus mit subcutaner Injection von 0 05 — 0 1 Natr. jodic. und zwar
angeblich jedes Mal mit Erfolg behandelt. Meist genügte eine einzige
Injection. — (Therapeutische Monatshefte. 1900, Nr. 4.)
*
Kreisphysicus Bach mann (Ilfeld) hat gegen Unterschen¬
kelgeschwüre und -ekzeme den Dy e s’schen Aderlass
und, wie aus den angeführten 13 Fällen hervorgeht, jede? Mal mit
Erfolg angewendet. Gewöhnlich wurden 150— 180 cm3, aber auch mehr
Blut abeglassen. — (Therapeutische Monatshefte. 1900, Nr. 4.) Pi.
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Anlässlich des 25jährigen Professoren-Jubiläums des Vorstandes
der einen der beiden Wiener Kliniken für Dermatologie und Syphilis,
Hofrath Prof. I. Neumann’s, veranstalteten dessen engere Schüler
eine Feier im klinischen Hörsaale, der zahlreiche Studenten, Aerzte,
Vertreter der Behörden und Abordnungen verschiedener ärztlicher
Vereine beiwohnten. Dem Jubilar wurde eine Festschrift überreicht.
Auf die vielfachen Ansprachen erwiderte schliesslich Hofrath N e u-
m a n n in längerer Rede mit einem Rückblick auf die Entwicklung
der von ihm vertretenen Fächer: Lehre und Forschung seit v. Heb ra
und seinem Amtsvorgänger v. S i g m u n d.
*
Ernannt: Tm Stande der Wienor Polizeidirection die Polizei
bezirksärzte Dr. Sebastian Deimel und kaiserlicher Rath
Dr. Anton Merta zu Polizei-Oberbezirksärzten. - — Prof. Litten
zum a. o. Professor mit einem Lehrauftrage für innere Medicin und
Unfallerkrankungen. — E. R o b e r t s in London zum Professor der
medicinischen Klinik. — Dr. Tri com i zum o. Professor der chirur¬
gischen Klinik in Messina. — In Chicago: Dr. Brower zum
Professor der Neurologie und Psychiatrie und Dr. W e 1 c h zum Pro¬
fessor der Therapeutik und Materiae medica.
*
Verliehen: Dem Landes-Sanitäts-Inspector in Triest Doctor
Emil Meer aus, dem See-Sanitätsarzte Dr. Wilhelm Strasser
und dem Stadtphysicus-Stellvertreter der Gemeinde Triest Dr. Hadrian
Mer lato das Ritterkreuz des Franz Josef Ordens. — Dem gewesenen
Lloydarzte Dr. Hans Dittrich das goldene Verdienstkreuz mit
der Krone. — Dem praktischen Arzte in Graz Dr. J ohann E r 1 1
der Titel eines kaiserlichen Rathes.
*
Habilitirt: Dr. Orecchia in Genua für Chirurgie. — In
Petersburg: Dr. Blumen au für innere Medicin und Dr. Oleini-
k o w für Bacteriologie.
*
In der am 2. Juli d. J. abgehaltenen Sitzui g des nieder-
österreichischen Landes-Sanitäts rathes wurden Ile
ferate erstattet : 1 . Ueber das Auftreten der Hunds w u t h i n
Nieder Österreich und speciell in Wien, sowie über die aus
diesem Anlasse bereits getroffenen und noch zu treifenden Massnahmen.
2. Ueber die Errichtung eines Asyl es für verkrüppelte
Kinder in einem zu diesem Zwecke zu adaptirenden Schlosse in
Niederösterreich. 3. Ueber die Errichtung eines Blinden¬
heims in einer Stadtgemeiude ausserhalb Wiens. 4. Ueber die
Einrichtung von Pflegerin neue ursen im k. k. Allge¬
meinen Krankenhause in W i e n. 5. Ueber die in einem Wiener
Privatspitale vorzunehmenden Adaptirungen. G. Ueber die Errichtung
einer neuen öffentlichen Apotheke in einer Gemeinde
Niederösterreichs.
*
Die Vorarbeiten für die 72. Versammlung Deutscher
Naturforscher und Aerzte in Aachen sind jetzt schon so
weit gediehen, dass das allgemeine wissenschaftliche Programm fest-
steht. Montag, den 17. September findet eine allgemeine Sitzung statt,
in welcher ein Uoberblick über die Fortschritte der Naturwissen¬
schaften und der Medicin im XIX. Jahrhundert von hervorragenden
Vertretern der Einzelfächer gegeben wird. — Es werden sprechen:
1. van t'H o f f (Berlin). Ueber die anorganischen Naturwissenschaften.
— 2. O. 11 er twig (Berlin). Ueber die Entwicklung der Biologie. —
3. Naunyn (Strassburg). Ueber die innere Medicin einschliesslich
Bacteriologie und Hygiene. — 4. C h i a r i (Prag). Ueber die patho¬
logische Anatomie mit Berücksichtigung der äusseren Medicin. —
Eine zweite allgemeine Sitzung findet Freitag, den 21. September
statt, in welcher einige zur Zeit die wissenschaftliche Welt
bewegende Fragen besprochen werden : 1 . Julius Wolff
(Berlin). Ueber die Wechselbeziehungen zwischen Form und Function
der einzelnen Gebilde des Organismus (mit Demonstrationen).
2. E. v. Drygalski (Berlin). Plan und Aufgaben der deutschen
Südpolarexpedition. — 3. D. Hanse mann (Berlin). Einige Zell¬
probleme und ihre Bedeutung für die wissenschaftliche Begründung
der Organtherapie. — 4. Holzapfel (Aachen). Ausdehnung und
Zusammenhang der deutschen Steinkohlenfelder. — Mittwoch, den
19. September tagen die medieinische und die naturwissenschaftliche
Hauptgruppe getrennt. In der medicinischen Hauptgruppe wird über
der heutigen Stand der „Neuronenlehre“ in anatomischer, physiologi¬
scher und pathologischer Beziehung von den Herren V er worn (Jena)
und Nissl (Heidelberg) ausführlich referirt. In der naturwissen¬
schaftlichen Hauptgruppe werden folgende Vorträge gehalten:
1. M. W. Beyer ink (Delft). Der Kreislauf des Stickstoffes im or¬
ganischen Leben. — 2. E. F. Dürre (Aachen). Die neuesten For¬
schungen auf dem Gebiete des Stahles. — 3. P i e tz k e r (Nordhauson).
Sprachunterricht und Fachunterricht (vom naturwissenschaftlichen
Standpunkt). — Die übrige Zeit ist der Arbeit in den 38 Abtheilun¬
gen Vorbehalten. Es sind schon über 300 Vorträge dazu angemeldet.
Gleichzeitig tagt eine Reihe wissenschaftlicher Vereine: Die fünfte
Jahresversammlung des Vereines abstinenter Aerzte, der Verein für
Schulhygiene und andere. In Verbindung mit der Naturforscher¬
versammlung findet eine Ausstellung physikalischer, chemischer
und medicinischer Präparate und Apparate statt.
AE.
Mit Bezug auf die in Paris anlässlich des Congresses statt¬
findenden Festlichkeiten, deren bereits pag. 585 dieser Wochenschrift
Erwähnung gethan wurde, sind folgende Veränderungen nachzutragen:
2. August Empfang beim Conseilspi äsidenten, am 3. August beim
Präsidenten des Congresses, am 5. August eine vom Congresscomite
veranstaltete Festlichkeit, am 7. August Empfang von Seite des Ge-
meinderathe3 und am 9. August Empfang beim Präsidenten der Re¬
publik im Palais del Elysee.
*
Im Verlage von L a u p p in Tübingen ist von den „Schemata
zum Einschreiben von Befunden für Untersuchun¬
gen am menschlichen Körper“ das zweite Heft erschienen. Das¬
selbe enthält die üblichen Schemata ohne eingezeichnetes Skelet; ein
drittes Heft: „Nerven Schemata“ ist in Vorbereitung. Preis M. — .40
*
Die vom Professor der pathologischen Anatomie Dr. F. Mar¬
ch a n d in Leipzig im Mai d. J. gehaltenen Antrittsvorlesung „U eher
die natürlichen Schutzmittel des Organismus“ ist
bei A. Barth in Leipzig in Form einer Broschüre erschienen.
Preis M. 1. — .
*
Unter dem Titel „Pharmacopoea Policlinices
B a s i 1 i e n s i s“ hat Prof. M a s s i n i im .Verlage von Schwabe in
Basel eine Zusammenstellung der nach der schweizerischen Pharma¬
kopoe gebi äuchlichsten Heilmittel heraufgegeben und den einzelnen
Mitteln die Angabe einer billigen Verordnungsweise beigefügt.
Nr. 28
("53
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in München. Vom 17. -22. September 1899. (Fortsetzung.)
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
in München.
Vom 17. bis 22. September 1899.
(Fortsetzung.)
Section für Dermatologie und Syphilis.
Sitzung am 20. September 1899 Morgens.
Vorsitzender: Kollmann (Leipzig).
V. S i e b e r t (München) : U e b e r Syphilis infantilis.
(Fortsetzung.)
Welander wandte ursprünglich die graue Salbe an, in letzter
Zeit wurden von seinen Schülern Versuche mit Mercuriol, einem
Quecksilberamalgam, veröffentlicht.
Da ich glaubte, dass aus einem trockenen Substrat das Queck¬
silber besser verdunste, als aus einem fetten, so wandte ich statt der
Quecksilbersalbe Hydrargyrum cum Creta an, welches eine Zusammen¬
reibung von 40 Quecksilber zu 60 Kreide darstellt. Wir gaben den
Müttern einfach ein Stück Lint mit, circa 20mal 40 cm, das einfach
zusammengefaltet wurde, mit der Mullseite nach aussen und der Woll-
seite nach innen. Der Apotheker streicht dann zwischen die beiden
Blätter 6 — 10# Hydiargyrum cum Creta, das von den Wollfäserchen
in feiner Vertbeilung erhalten wird.
Die Mütter werden dann angewiesen, das Säckchen an den drei
offenen Seiten zuzunähen.
Das Säckchen wird alle vier bis sechs Tage gewechselt. Längere Zeit
das Säckchen tragen zu lassen, empfiehlt sich nicht, weil nach einigen
Tagen sich das Quecksilber doch zusammenballt und in Form von
Kügelchen zwischen den Fadenzügen zum Vorschein kommt. Sie sehen,
die Medication ist eine äusserst einfache.
Dass mit dieser Methode wirklich Quecksilber dem Körper ein¬
verleibt wird, hat Welander schon durch seine Versuche nachge¬
wiesen ; ich glaubte deshalb auf Urinuntersuchungen verzichten zu
dürfen. Man bekommt von der Wavteperson unter poliklinischen Ver¬
hältnissen zu unregelmässig Urin geliefert und in der Poliklinik selbst
Säuglinge zu katheterisiren, halte ich für eineu Eingriff, den man
nicht ohne zwingende Gründe machen soll.
Dass Quecksilber auf diese Weise resorbirt wird, zeigte auch
das Auftreten von Stomatitis mercurialis, von der wir einige typische
Fälle beobachtet haben.
Im Ganzen haben wir 21 Kinder mit W e 1 a n d e r’schen Säck¬
eln n behandelt, darunter zwrei ältere mit erworbener Syphilis. 4 im
ersten Monat, 61 im zweiten Monat, 4 im dritten Monat, 4 im vierten
Monat, eins war D/2 Jahre alt.
7 wurden geheilt entlassen, davon wurden 5 nach einem Zeit¬
raum von mindestens einem Vierteljahr wieder vorgestellt ohne neue Er¬
scheinungen von Lues. Bei drei Kindern wurde in der Kranken¬
geschichte bedeutende Besseiung verzeichnet, aber sie warteten die
definitive Heilung nicht ab.
7 .Fälle entzogen sich so früh der Behandlung, dass sie nicht
verwerthet werden können.
4 sind noch in Behandlung, aber bedeutend gebessert.
Zwei Todesfälle, der eine innerhalb einer unvollendeten Behand¬
lung, welche Besserung erzielte, der andere drei Monate nach Heilung
an Pneumonie und Gastroenteritis.
Bei den geheilten Fällen fünfmal Koiyza. Infiltration der Lippe
und Rhagaden. Diffuses Palmar- und Plantarsyphilid dreimal. Parony¬
chien einmal. Papulöses Syphilid am Körper und Extremitäten dreimal.
Papulöses Syphilid an den Fusssohlen einmal. Rupia einmal. Papeln
in der Analgegend zweimal. Die Fälle, die geheilt wurden, waren drei
bis sechs Wochen in Behandlung; Redner Hess aber noch weitere
14 Tage die Säckchen tragen. In keinem dieser Fälle Hess sich Er¬
nährung durch Muttermilch durchsetzen.
Das Resultat der Untersuchungen war folgendes: Die \\ e 1 a n-
der’sche Methode ist bei Kindern eine äusserst praktische und ein¬
fache, sie ist zweitens eine sehr wirksame Cur, wenn sie auch au
Heilungsdauer der Schmierern- nachsteht, sie ist drittens eir.e verhält-
nissmässig milde Cur.
Die Prognose für hereditär luetische Kinder wird durch die
Behandlung mit der W e 1 a n d e r’schen Methode nicht wesentlich ge¬
ändert. Seit den Veröffentlichungen II o c h s i n g e r’s ist man ja von
dem Pessimismus, der früher herrschte, abgekommen. Unsere Todes¬
fälle bilden für die Statistik keinen Anhalt, da man nicht weiss, wie
viel unter den Kindern, von denen wir keine Nachricht bekommen
konnten, gestorben sind.
Barlow (München) hat in einer kleinen Anzahl Fälle, welche
er nach der W e 1 a n d e r’schen Methode behandelt hat (Erwachsene),
kein Quecksilber im Urin nach mehrwöchentlichem ’Fragen des Säck¬
chens nachweisen können. Auch ein therapeutischer Erfolg wurde nicht
erzielt.
*
Section für Chirurgie.
Referent: Wohlgemuth (Bulin).
IV. Sitzungstag.
Gemeinschaftliche Sitzung mit der Section für
Gynäkologie.
Vorsitzender: Braun (Göttingen).
S a r \v e y (Tübingen) : Ueber Händedesinfections-
v er sue he. (Fortsetzung.)
Vorstehende Ergebnisse lassen sich dahin zusammenfassen:
Normale mit zahlreichen Keimen behaftete
Tages bände erleiden durch die Ileisswasser-Alko-
hol-Desinfectiom (nach A h 1 f e 1 d's Angaben) eine der¬
artige Aenderung in ihrer bacteriolog Ischen Be¬
schaffenheit, dass ihnen im Vergleiche zu vorher
nur sehr wenige Keime mit harten Hölzchen ent¬
nommen werden können. Nach längerem Aufenthalte
der Hände im warmem Wasser und wiederholter
mechanischer Bearbeitung wird die Abnahme von
mehr oder weniger zahlreichen Keimen in allen
Fällen ermöglicht. (Autoreferat.)
Discussion: D ö d e r 1 e i n (Tübingen) hat dasselbe Resultat
wie mit Sublimat- Alkohol auch mit Permanganat-Salzsäure erreicht.
Nach anfänglich oberflächlicher Sterilität kamen die Keime aus der
Tiefe beim Abschilfern der Hände wieder herauf. In der liefe werden
wir immer Keime haben, die wir mit den üblichen Methoden nicht
wrerden beseitigen können. Hiergegen bieten nur die Operations-
Handschuhe Schutz, aber nicht die Tricotbandschuhe, die eher eine
Einwucherung und Ansammlung begünstigen und eine Verschlech¬
terung der Asepsis bedeuten, sondern nur die impermeablen Gummi¬
handschuhe.
K r ö n i g (Leipzig) hat dieselben Resultate mit ganz bestimmten
Bacterienarten schon vor einigen Jahren publieiit. Die Ergebnisse
der Versuche von S a r w e y und Paul scheinen ihm höchst zweifel¬
haft zu sein, einmal wegen verschiedener Zufälligkeiten, die dabei ein-
treten können, dann aber auch wegen des Materiales. Ausserdem sind
diese Versuche nicht zuerst von Ahlfeld, sondern von Reinecke
gemacht und von ihm zuerst nachgeprüft worden. Die Desinfection
mit Alkohol ist nur eine Scheindesiufection, weil nach der Ileisswassei-
behandlung wieder viel Bacterien an die Oberfläche kommen. Auch
die F ü r b r i n g e r’sche Heisswasser-Alkohol-Sublimatdesinfection ist
nicht im Stande, zu sterilisiren. Er ist dafür, lieber den Alkohol fort¬
zulassen und mit heissem Wasser und Seife, dann mit Sublimat zu
desinficiren.
Reinbach (Breslau) betont, dass seit Anwendung der in der
Breslauer Klinik üblichen Zwirnhandschuhe die Resultate der Operationen
sich erheblich gebessert haben.
Kümmel (Hamburg) hält den Gebrauch der Zwirnhandschuhe
für einen Rückschritt, glaubt aber in den Gummihandschuhen einen
wesentlichen Vortheil zu erblicken.
v. Eiseisberg (Königsberg) glaubt ebenfalls, dass mit
heissem Wasser und Alkohol keine Sterilität erreicht werden könne,
aber mit nachfolgendem Sublimat. Er habe auch die Erfahrung
gemacht, dass von den behandschuhten Fingern mehr Keime auf¬
gegangen sind.
. *
654
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 28
Abtheil ungssitzung.
Vorsitzender: Braun (Göttingen).
V. Reinbach (Breslau): Erfahrungen über die
Therapie des Kropfes in der M i k u 1 i c z’s c h e n Klinik.
Nach einem Hinweis auf den Standpunkt der Klinik in der
Frage der Ge\vebssaftthera2)ic berichtet Vortragender kurz über die
chirurgische Behandlung der Strumen.
Seitdem Mikulicz die Breslauer Klinik leitet, sind 162 gut¬
artige Kröpfe operirt worden; 158 geheilt, 4 gestorben. Dazu kommen
18 Basedow-Kröpfe mit einem Todesfall; das Material setzt sich
aus Fällen zusammen, die meist schwer sind, speciell Compressions-
erscheinungen der Luftwege und secundäre Veränderungen zeigen.
31 Fälle waren retrosternale, beziehungsweise intrathoracische Strumen,
2 retrovisceral.
Die Function mit folgender Injection, die Arterienunterbindung
sind aufgegeben. Stets werden Drüsentheile selbst entfernt. Bei dem
heutigen Stand der Technik ist die Operation auch aus kosmetischen
Rücksichten unbedingt indicirt. Die S c h 1 e i c h’sche Infiltrations¬
anästhesie wird in den schwersten Fällen principiell angewendet, in
leichten wird auf ihrer Anwendung nicht bestanden. Bei leichten ein¬
seitigen Operationen, besonders Enucleationen werden Längsschnitte
und Schrägschnitte noch angewendet, bei Operat'onen an beiden Lappen
der Kocher’sche Kragenschnitt bevorzugt. Es entstehen schöne
Narben, welche sich später noch nach unten retrahiren. Die Kropf¬
wunden werden vollständig geschlossen, die Enucleation
(S o c i n) wird als das souveräne Verfahren bei isolirten Knoten
und Cysten betrachtet. Mortalität von 62 Fällen 0n/o (nach Rever-
d i n’s Sammelstatistik 0'78%). Bei multiplen Knoten ist die Re¬
section nach Mikulicz vorzuziehen. Dieses Verfahren wird prin¬
cipiell in allen Fällen angewendet, wTo nicht die Enucleation
indicirt ist; es kann nur nochmals auf das Wärmste empfohlen
werden. Vortragender erinnert kurz an die Technik dieser Methode,
deren letzter Act, die eigentliche Resection, seit fünf Jahren so
ausgeführt wird, dass ein mittlerer Keil aus dem Drüsenlappen
entfernt wird und die zurückbleibenden Seitenflügel sofort durch
tiefe Parenchymnähte zu einer gleichsam primären Vereinigung gebracht
werden.
Stets werden beide kropfig entartete Lappen resecirt.
Vortragender erläutert die Vorzüge der Resection nach
Mikulicz und weist vor Allem auf die Vortheile des Verfahrens
gegenüber der halbseitigen Exstirpation hin.
Die Mortalität beträgt auf 80 Resectionen der Klinik 3-75°o
(nach Re ver din’s Sammelstatistik 6'6nn bei Hinzurechnung der 12
sehr schweren Enucleationsresectionen, die nun alle geheilt sind,
nur 3'2%. Die Resultate der halbseitigen Excisionen nach der
jüngsten Statistik der C z e r n y’schen Klinik zeigen fast die gleichen
Zahlen (3%).
Vortragender erwähnt noch kurz einiges von den unmittelbaren
Folgen der Operation, erinnert an das eigenartige Verhalten der Tem¬
peratur nach Kropfoperationen und geht zum Schluss noch auf die
Enderfolge ein. In keinem Falle trat Tetanie oder Myxödem ein,
nur in einem Falle (CreFnismus) ein sicheres Recidiv.
VI. Helfe rieh (Kiel) : U e b e r Operationen an der
Kniescheibe.
II elf er ich beschränkt sich wregen der Kürze derZeit auf zwei
kleine Mittheilungen:
1 . Operatives Verfahren bei älteren Patellar-
fracturen mit erheblicher Trennung der Bruch¬
stücke. Eine bessere Annäherung der Fragmente ist nach breiter
Eröffnung des Kniegelenkes immer möglich; aber eine völlige Ver¬
einigung ist nur möglich durch Annäherung der Ansatzpunkte
des Ligamentum patellare (Abmeisselung und Verschiebung der
Tuberosae tibiae) oder des Quadriceps (theorelisch möglich durch Re¬
section eines Stückes aus der Femurdiaphyse), oder durch eine
Knochenplastik an der Patella selbst. Letztere ist kürzlich in Form der
Bildung eines kleinen Knochenlappens empfohlen worden. Helfe rieh
hat schon vor zwei Jahren zwei Fälle so operirt, dass er steri lisirte
spongiöse Knochenscheiben von angemessener Form und Grösse in den
Spalt, respective Defect, zwischen die Patellarfragmente implantirte und
dann die Silberdrahtnähte darüber vereinigte. An drei Gelenkeu orzielte
Helfer ich auf diese Weise, bei aseptischem Verlauf, recht befrie¬
digende Resultate.
2 . Ein V o r s c h 1 a g zur Behandlung der durch
knöcherne Verwachsung der Patella verursachten
Kniegelenksankylosen.
Bei Fällen dieser Art kann eine vorhandene ganz geringe Be¬
weglichkeit den Beweis dafür liefern, dass in der That das Kniegelenk
im Uebrigen seine Bewegungsfähigkeit nicht eingebiisst hat. Wenn
durch das unblutige, mechanische Behandlungsverfahren nichts zu er¬
reichen ist, die einfache Absprengung der Patella nicht genügt, so
könnte eine Interposition von Muskelsubstanz in der Weise herbei¬
geführt werden, dass eine Schichte des M. vastus internus mit der
Basis des Lappens gegen die Kniescheibe abpräparirt und breit
zwischen Patella und Femur gelagert würde. An der Hand von ana¬
tomischen Abbildungen wird die technische Möglichkeit des Verfahrens
dargethan. Helfe rieh stützt sich hier auf seine Erfahrung mit künst¬
licher Muskelinterposition bei reiner knöcherner Kiefergelenkankylose,
welche in seinem Falle ein dauernd gutes Resultat ergeben und auch
in seitdem nach gleichem Princip operirten Fällen sich nützlich er¬
wiesen hat.
Discussion: Müller (Aachen) glaubt, dass da, wo die Patella
angewachsen ist, auch das Knie steif ist, dass also eine Interposition
von Muskeln überflüssig erscheint.
VII. S t e i n t h a 1 (Stuttgart) : Zur Nachbehandlung
schwerer Unterleibsoperationen.
Steinthal empfiehlt bei allen jenen Zuständen, welche auf
Herzschwäche beruhen, in erster Linie methodische Kochsalzinfusionen.
Er macht deshalb bei allen jenen Kranken, welche doch meist ziemlich
elend zur Gastroenterostomie kommen, entweder schon vor, jedenfalls
aber unmittelbar nach der Operation eine intravenöse Infusion von
1 — 1 'l2 1 und wiederholt dieselbe in den ersten vier bis sechs Tagen
zweimal täglich, ein Eingriff, der weitere Schwierigkeiten nicht macht,
weil die Vene immer nur durch eine Ligatur in Schleifenform ge¬
schlossen wird. Die intravenöse Infusion wird der subcutanen, respec¬
tive Rectalinfusion vorgezogen, weil gleichzeitig in den ersten drei
Tagen nach der Operation zweimal täglich je 40 cj sterilisirtes Olivenöl
nach dem Vorgänge Leube’s unter die Haut gespritzt und daneben
öfter Nährklystiere (’/gZ Milch mit 30 g Pepton, respective 30 g Amv-
lum) verabfolgt werden. Die methodischen Salzwasserinfusionen sind des
weiteren bei allen ausgebluteten Kranken (Uteruscarcinome, Uterus-
myomo), die zur Operation kommen, in prophylaktischer Weise dringend
zu empfehlen, auch ohne dass bedrohliche Erscheinungen auftreten. Bei
acutesten Anämien wie bei geplatzter Tubengravidität verstehen sie sich
von selbst. Diese Grundsätze wurden seit IV2 Jahren am Stuttgarter
Diaconissenhaus befolgt und haben sich an einem Krankenmaterial von
130 peritonealen Operationen (die Herniotomien nicht mit eingerechnet)
sehr gut bewährt.
Discussion: Lau enstein (Hamburg) empfiehlt dringend
gegenüber der intravenösen Infusion, die auch er in der Cholerazeit
erprobt hat, die subcutane Infusion wegen der weit geringeren Gefähr¬
lichkeit zu machen.
Braun (Göttingen) macht ebenfalls Infusionen von Kochsalz
und Oel in die Gegend der Clavicula und in den Oberschenkel. Die
Todesfälle, die er beobachtet hat, haben nicht Herzschwäche, sondern
meistens Lungenaffectionen als Ursache gehabt.
Steinthal (Stuttgart) demonstrirt noch zwei Präparate.
VIII. Alberti (Potsdam) : Ueber rasch ungen bei
Operationen der Perityphlitis.
Bei einer Patientiu, deren Ileuserscheinungen nach zwei Tagen
geschwunden waren, blieb ein Tumor rechts unten bestehen. In der
Annahme, dass ein perityphlitischer Abscess vorlag, wurde die Lapa¬
rotomie gemacht, und es stellte sich heraus, dass es sich um eine
typhöse Schwellung der Darmschleimhaut handelte. In einem anderen
Falle, wo nach Entfernung des Appendix noch wochenlange Be¬
schwerden bestanden,- fand er bei erneuter Laparotomie, dass diese, die
dieselben Erscheinungen wie die Appendicitisbeschwerden machten, von
einem Diverticulum ilei ausgingen.
Discussion: Lauenstein (Hamburg) beanständet die Be¬
zeichnung : Perityphlitis-Operationen. Es ist in diesen Fällen keine
Perityphlitis dagewesen.
*
V. Sitzungstag.
Vorsitzender: Lauensteill (Hamburg).
I . Emmerich (Nürnberg) : Anregung zur Schaffung
eines Museums der Heilkunde für das Germanische
Museum in Nürnbe r g.
II. K e 1 1 i n g (Dresden) : Beitrag zur Gastrostomie
und Jejunostomie.
Redner empfiehlt, in Fällen, bei welchen der Magen, respective
Darm stark contrahirt ist, denselben erst durch Aufblasen mit Luft zu
entfalten und dann die Fistel nach Witzei anzulegen. Ein Netz¬
zipfel wird als Schutzdecke darauf genäht und der Magen, respective
Darm nur mit vier Nähten um den Drain herum an die Bauchdecke
befestigt. Die Schrägcanäle werden im Laufe der Zeit gerade durch
die Drucksteigerungen de3 Mageninhaltes beim Anwenden der Bauch
presse. Um dies zu vermeiden, wird empfohlen, statt der gewöhnlichen
Drains einfache Ventilcanulen zu verwenden.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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III. Kelling: Resorbir barer Dar'mknopf.
Dieser Knopf besteht aus leicht resorbirbarem Material und ist
so construirt, dass er vor der Einwirkung der Verdauungssäfte
gänzlich geschützt ist, so lange die zwischen den Knopfbälften
gequetschte Darmwand nicht nekrotisch geworden und der Knopf ab¬
gefallen ist.
IV. Braun (Göttingen) : Die diagnostische Bedeu¬
tung acuter Ergüsse in die Bauchhöhle.
Braun hält den Erguss in die Bauchhöhle für ein werthvolles
Kennzeichen von Abschnürungen und Einklemmungen. Er berichtet
über die Literatur dieser Fälle und der experimentellen Unter¬
suchungen, durch Abschnürung Flüssigkeit in der Bauchhöhle zu er¬
zeugen. Er selbst hat dieses Symptom 4mal bei Achsendrehung,
2mal bei Umschnürung durch ein Hecke l’sches Divertikel, 2mal bei
Adhäsionen, lmal bei Invagination beobachtet. Das Symptom kann
ausbleiben, wenn die Umschnürung entweder zu lose ist, so dass der
Abfluss nicht ganz gehemmt wird, oder zu fest, wenn Vene und Arterie
abgeschnürt werden. Dies hat er z. B. in einem Falle beobachtet, wo
der ganze Darm torquirt war. Das Aussehen des Ergusses bei voll¬
kommener Einklemmung ist blutig, serös bei unvollkommener Ab¬
schnürung (eingeklemmte Hernie). Das Auftreten des Ergusses ist
nicht ganz constant, wenn er aber vorhanden ist, dann ist er ein
werthvolles diagnostisches Zeichen für eine Abschnürung und indicirt
die Laparotomie. Bei sanguinolentem Erguss muss das Hinderniss un¬
bedingt aufgesucht, nicht, wie Czerny will, nur ein künstlicher After
angelegt werden.
V. T o n t a (Mailand) : Multiple Divertikel des
Colons.
T o n t a hat einen Fall von multiplen Darmdivertikeln bei einem
70 Jahre alten Mann beobachtet, auf Grund dessen er zu dem Schluss
kommt, dass kein Unterschied zwischen wahren oder falschen Diver¬
tikeln hier gemacht werden könne, sondern dass auch die mikrosko¬
pischen Divertikel wahre Divertikel sein müssen. Seine Beobachtungen
des Falles fasst er folgendermassen zusammen :
Anatomische Diagnose : Kleinknotige Tuberculose der Lunge mit
käsiger Pneumonie. Adhäsive Pleuritis. Nebenbefunde : Multiple Diver¬
tikel im Dickdarm, Miliartuberculose des Darms. An den unteren
Seiten des Colon transversum zeigen sich divertikelartige Ausstülpungen,
die dunkel gefärbt sind, ungefähr acht. Zwischen Netz und Cöcum
eine dünne Spange. Unterer Theil des Cöcums derb mit Knötchen
bedeckt; Wurmfortsatz klein, adhärent. Im kleinen Becken eine geringe
Menge seröser Flüssigkeit.
Im Colon transversum und descendens zeigen sich umschriebene
flache Blutungen in der Serosa. An der Innenfläche solcher Stellen
zeigt sich bei Ausspannung des Darms eine leichte, flache Vertiefung.
Darmwand daselbst deutlich verdünnt. Dieses Verhalten wiederholt
sich an sämmtlichen der erwähnten Stellen ; die letzteren sind fünf¬
pfennigstückgross. Im Colon transversum an mehreren Stellen bis
zwanzigpfennigstückgrosse, am Rande unterminirte, am Grund braun-
roth verfärbte Geschwüre. An diesen Stellen keine Ausbuchtung, da¬
gegen zeigen sich ähnliche Ausstülpungen neben und zwischen den
Geschwüren. Beim Auftreiben des Dickdarms mit Wasser zeigen sich
sämmtliche dunkle Stellen stark vorgetrieben. Die dunklen Flecken an
der Serosa sind meistens schmutzigbraun gefärbt, stellenweise sind sie
auch braunroth von frischen, kleinen Blutungen durchsetzt. Auch an
den letzteren Stellen ist die Darmwand stark verdünnt, nirgends ist
an derselben Stelle eine Narbe oder Rest eines Geschwüres nachweis¬
bar. Die Wand des Cöcums von zackigen, theils unregelmässigen,
theils gerade verlaufenden, stecknadelkopf- bis zehnpfennigstück¬
grossen Geschwüren durchsetzt, ebenso auch der unterste Theil des
Ileums. •
Die mikroskopische Untersuchung der circulären und longitudi¬
nalen Schnitte des Divertikels hat Folgendes ergeben:
Verschmälerung der Submucosa an einzelnen Stellen. An diesen
Stellen ist das Gewebe dicker mit sehr wenigen Gefässen. D i e
Stelle zeigt das Aussehen einer Narbe. An diesen
Stellen ist auch die Muecularis etwas verdünnt. Man kann an¬
nehmen, dass die Narbe ausgebuchtet wurde und so
die Divertikel entstanden sind. Die leichte Verschmälerung
der Muscularis ist auf eine passive Dehnung zurückzuführen. Durch die¬
selbe ist auch eine Zerreissung von Blutgefässen entstanden und in
Folge dessen auch die vielfach vorhandenen Blutungen. (Selbstbericht.)
VI. V u 1 p i u s (Heidelberg) : Altes und Neues in der
Behandlung der seitlichen Rückgratsverkrümmung.
Das gewaltsame Redressement der Skoliose mit nachfolgendem
Gypsverband erscheint zunächst nicht oder nur in Ausnahmsfällen be¬
rechtigt.
Noch weniger erlaubt sind blutige Eingriffe wie die Rippen-
resection.
Wir sind also, wenn wir in der Skoliosentherapie vorwärts
wollen, darauf angewiesen, alte Methoden zu verbessern.
Ein sehr wichtiges Mittel ist bekanntlich die Extension, die als
vertieale Suspension allerorts verwendet wird. Die horizontale
Extension aber ist in der Form des Streckbettes früher viel aus¬
geführt, mit dem Aufkommen der Gymnastik verpönt worden.
V u 1 p i u s ist zu derselben zurückgekehrt, allerdings in modi-
ficirter Weise. In seiner orthopädischen Anstalt wird der Tag aus-
giebigst zu mobilisirender und gymnastischer Behandlung ausgenützt,
die Nacht aber zu horizontaler Extension verwendet.
Der Gewichtszug wirkt vom Becken aus, der Kopf ist am oberen
Ende des Extensionsbettes befestigt. Der Patient liegt dabei in einem
Gypsbett, das an dem stark extendirten Körper hergestellt wird und
zugleich redressirende, detorquirende Wirkung hat.
Um die Reibung auf der Unterlage zu beseitigen, steht das Gyps¬
bett auf einem Gleitrahmen. Indem man das Gypsbett quer theil t und
nur die untere Hälfte gleiten lässt, kann man das Maximum des Zuges
an den Krümmungsscheitel localisiren.
Die Resultate dieser energischen, combinirten Behandlung sind
durchwegs befriedigende.
Was die Nachbehandlung anlangt, hält Vulpius ein Stütz-
corset für unbedingt erforderlich.
Prognostisch ernste Fälle erhalten ein Detorsionscorset aus
starrem Material, Cellulose oder Hornhaut, die übrigen das Bügel-
corset, dessen Wirksamkeit Vulpius durch stärkere Construction des
Rückentheiles — verstellbare Verbindungsscbienen — erhöht.
Der Einwurf, dass die Herstellung eines gut sitzenden und richtig
wirkenden Corsets unmöglich sei, ist durch die alltägliche Erfahrung
zu widerlegen. Man kann zum Mindesten die gerade gerichtete Wirbel¬
säule in dieser Position festhalten und einen geeigneten Druck auf den
Rippenbuckel ausüben.
Von einem schädlichen Einfluss der Corsets ist — richtige Technik
vorausgesetzt — - nichts wahrzunehmen. Ohne Corset würden wir die
Resultate unserer Behandlung preisgeben.
VII. Schultheas (Zürich) : Wirkungen der Corset-
behandlung in der Skoliosentherapie. Vortragender be¬
leuchtet die allgemeinen und localen schädigenden Wirkungen des
Corsets, die in Atrophie des Panniculus adiposus der Haut, der
Muskeln, in Anämie etc. bestehen und die umso grösser sind, je mehr
das Corset eine redressirende Wirkung entfaltet. Es könne sogar die
Annahme bestehen, dass auch die Knochen beschädigt werden. Die
Intensität der schädlichen Wirkungen hängt von der Art der Con¬
struction, dem Material, der Zeitdauer des Tragens und anderen Um¬
ständen ab. Das orthopädische Corset soll daher nur dann angewendet
werden, wenn man ohne andere Mittel nicht auskommt. Nach seinen
klinischen Versuchen ist das Resultat sehr zu Ungunsten der Corset-
behandlung ausgefallen. Vor allen Dingen soll man alle leichten Fälle
von derselben ausschliessen. Redner plaidirt des Längeren für Anstalts¬
behandlung und will Volksheilstätten für arme Skoliotische einge¬
richtet wissen.
Discussion: Lange (München) ist der Meinung, dass Alles,
was man in der Skoliosentherapie erreicht, nur durch active, redressirende
Uebungen geschehen kann, das Corset aber nicht zu umgehen ist,
weil die Kinder nicht immer in der Anstalt sein können, die Schule
besuchen etc.
Hoffa (Würzburg), steht zwar auch auf dem Schulthess-
schen Standpunkt, glaubt aber doch das Corset nicht ganz entbehren
zu können, wreil es das erhalten soll, was man durch Uebungen er¬
reicht hat.
Joachimsthal (Berlin), stimmt, was die beginnenden
Formen der Rückgratsverkrümmungen betrifft, mit Schulthess in
Bezug auf die Verbannung des Corsets überein. Bei den ausge¬
sprochenen Abweichungen der Wirbelsäule bedürfe indess die gymna-
stisch-redressirenden Behandlung schon deshalb einer Unterstützung
durch portative Apparate, weil die Schwerkraft ständig im Sinne einer
Vermehrung der Verbiegungen wirkt, und eine geübte Musculatur
wohl vorübergehend, keineswegs aber dauernd — dieser Kraft ent¬
gegenzuarbeiten vermöge. Schulthess’ Vorwürfe sind für die Banda-
gistencorsets, welche mittelst Zug und Druck den Rippenbuckel fort¬
schaffen sollen, berechtigt, treffen indess nicht die vom Arzte selbst
nach Sayr e’scher Manier gefertigten Mieder, die durch Einwirkung
auf den gesammten Rumpf die statischen Verhältnisse des Skelets
günstiger zu gestalten suchen.
Dreesmann (Köln), empfiehlt sein Corset, bei welchem eine
Muskelatrophie nicht eintreten kann.
Tausch (München) glaubt, dass das Corset, bei der heutigen
Kleidermode für Mädchen nothwendig sei.
Köllicker (Leipzig) will Corsetbehandlung erst dann ein¬
treten lassen, wenn die fixirte Skoliose mobilisirt ist, oder wenn Neural¬
gien vorbanden sind. Gegen die Torsion soll ferner keine horizontale,
sondern vertieale Extension angewendet werden.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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VIII. s c h u 1 z e (Duisburg) demonstrirt einen Apparat zur
Behandlung des jugendlichen Klump fusses, dessen
Hauptziel auf die Ausmodellirung des Sinus tarsi gerichtet ist.
IX. Schulz (Hamburg-Eppendorf) demonstrirt Photographien
und Röntgen-Bilder zweier Fälle von vollständigem De¬
fect von Hand und Fuss bei sonst normal ent¬
wickelten Personen.
Derartige Missbildungen gehören zu den allergrössten Selten¬
heiten. In der Literatur war nur ein einziger Fall von völligem Fehlen
des Fusses aufzufinden, derselbe wurde in der Tübinger Klinik 1892
behandelt. Fehlen einer Hand ist bisher nicht beschrieben. Das erste
Bild stammt von einem 46jäbrigen Manne, bei dem sich in Hinsicht
auf Missbildungen für Heredität kein Anhalt fand.
Derselbe zeigte bei sonst normalen Extremitäten statt des
rechten Fusses einen Stumpf, der einem C h o p a r t’schen Amputations¬
stumpfe auf den ersten Blick sehr ähnlich sab. Bei genauerer Unter¬
suchung des Stumpfes fühlte man vor den Unterschenkelknochen zwei
Knochenrudimente, die durch das Röntgen-Bild als verkümmerte Fuss-
wurzelknochen, wahrscheinlich Talus und Calcaneus, sichtbar gemacht
wurden.
Der zweite Fall betrifft ein 16jähriges Mädchen, das wegen einer
Spina ventosa eines Metacarpus der linken Hand aufgenommen wurde.
Die rechte Hand fehlt vollständig; der rechte Vorderarm,
der etwa um 3 cm gegen den linken normal entwickelten verkürzt ist,
zeigt auch hier das Aussehen eines Amputationsstumpfes. Auch hier
gibt uns das Röntgen-Bild den interessanten Aufschluss über die
Knochenentwicklung am Stumpfende. Es finden sich ebenfalls vor dem
Ende der Vorderarmknochen zwei Rudimente von Handwurzelknochen.
Schulze geht auf die entwicklungsgeschichtliche Erklärung vor¬
liegender Missbildungen nicht ein, er nimmt aber an, dass es sich hier
um Hemmungsmissbildungen handelt. Die vorhandenen rudimentären
Hand- und Fusswurzelknochen scheinen nämlich gegen eine Spontan¬
amputation zu sprechen.
X. Tausch (München) : Ueber den angeborenen
Defect der Fibula.
Vortragender demonstrirt eine kleine Patientin und deren Gang
mit einem Apparat. In seinen Ausführungen tritt er der intrauterinen
Fracturtherapie entgegen. Was die Behandlung dieser Fälle anlangt,
glaubt er eine conservative orthopädische Therapie im Gegensatz zu
der Bardenheue r’schen Operation, Spaltung der Tibia und Ein-
pflanzen des Talus in die Gabel empfehlen zu können.
XI. Kronacher (München) : Heteroplastische Er¬
fahrungen.
Unter Hinweis auf bereits früher publicirte Fälle von Hetero¬
plastik wird zunächst ein Fall erwähnt, der vor 3 '/o Jahren operirt
wurde, und dauernd geheilt ist.
Es handelt sich um einen damals 53jährigen Schneider, bei dem
wegen Nekrose der ersten Phalanx des Zeigefingers dieser Knochen
resecirt wurde.
Vom Kopftheil der Phalanx war ein 6 mm langes, vom basalen
Theil ein 2 mm langes Stück gesunden Knochens erhalten geblieben.
Es wurde nun ein 3’8 cm langes Kalbsknochenstück implantirt, das
dauernd einheilte.
Die Bewegungen werden im Metacarpophalangealgelenk ausge¬
führt. Patient benützt seine Finger wieder zum Nähen.
Der zweite Fall betrifft einen damals sechsjährigen Knaben, dem
wegen Spina ventosa der ersten Phalanx des rechten Zeigefingers dieser
Knochen bis auf die beiden 3 mm langen Enden gesunden Gewebes
resecirt wurde.
Implantation eines 2 V2cm langen Kalbsknochenstückes in die
restirenden Phalangentheile. Nach Jahresfrist wurde die Prothese eli-
minirt, nachdem sich bereits eine neue Phalanx von genügender Stärke
entwickelt hatte. Zwei Jahre nach dem operativen Eingriff ist Alles
geheilt, die Function des ganzen Fingers normal, die interphalangealen
Bewegungen werden gut ausgeführt.
Aus den von Zeit zu Zeit aufgenommenen Radiogrammen ist er¬
sichtlich, dass sich radialwärts des implantirten Kalbsknochenstückes
bereits 3 1/2 Monate post operationem neuer Knochen gebildet hatte,
der jedoch nicht an die Prothese heranwuchs, sondern durch einen
deutlichen Zwischenraum, bogenförmig gestaltet von derselben getrennt
war. Dieser neugebildete Knochen verdickte sich allmälig, und hat zur
Zeit Form und Stärke einer gewöhnlichen Phalanx angenommen. Beide
Patienten w'erden vorgestellt.
Der folgende Fall betrifft einen sechs Monate alten Knaben mit
angeborener Fractur beider Uuterschenkelknochen rechterseits. Das
Kind war bisher mit Gypsverbänden, Friction, Nageln und Anfrischung
der Fragmente erfolglos behandelt worden. Es wurden nun zum Zwecke
der Implantation die durch die verschiedenen Eingriffe bereits erheblich
verkürzten Fragmente der Fibula und Tibia angefrischt und in dieselben
je ein 3 cm langes Elfenbeinstück invaginirt. Die Prothesen blieben
zwar in Continuität mit den Knochen, doch kam es zwei Jahre lang
nicht zur Ossification; erst nach dieser Zeit bildete sich neuer Knochen.
Nach circa 2 1/2 Jahren war die Regeneration der Fibula manuell als
sehr wahrscheinlich nacbzuweisen, auch die Tibia zeigte deutlich Knochen¬
neubildung und geringere Beweglichkeit. Die von Zeit zu Zeit aufge-
nommenen Radiogramme zeigen nach 2'/j Jahren, dass die Fibula neu¬
gebildet war, der Elfenbeinstab befindet sich in Elimination begriffen;
ebenso haben sich die Enden der Tibia bedeutend einander genähert,
es ist deutliche Knochenwucherung vorhanden. Der Knabe steht fest
auf dem erkrankten Beine.
Seit mehr als einem Jahre wurde das Kind nicht mehr untersucht,
da die Eltern sich vor einem etwaigen neuen operativen Eingriffe
fürchten. Doch ergaben die vor Kurzem gepflogenen Recherchen, dass
der Knabe gut auf seinem kranken Unterschenkel steht.
Die Elfenbeinprothese der Fibula ist unterdessen, also nach
3V2 Jahren, eliminirt wrorden. Aus der von den anderen etwas abweichen¬
den Technik sei besonders hervorgehoben, dass Verfasser einen grossen
Werth auf eine möglichst lange Immobilisation des operirten Gliedes
legt, von ihr hängt zum guten Theil das Gelingen der Heteroplastik
an den Diaphysen ab.
XII. Lange (München): Ueber periostale Sehnen¬
verpflanzungen.
Lange sieht bei der Sehnenverpflanzung von der Benützung
des gelähmten Muskels völlig ab, wreil die atrophische Sehne sich unter
dem Einfluss der Contractionen verlängern kann, und vernäht statt dessen
die abgespaltene Sehne direct mit dem Periost. Für die Wahl des
neuen Ansatzpunktes am Skelet ist die Aufgabe massgebend, welche
der neue Muskel zu erfüllen hat.
An drei Kranken wird der Erfolg der Operation demonstrirt:
1. Bei einem siebenjährigen Knaben, der in Folge Lähmung des
Extensor digitor. commun. und der beiden Peronei einen Klumpfuss
bekommen hatte, ist die laterale Hälfte der Sehne vom Tibial. ant.
unter der Haut des Fussrückens lateralwärts verschoben und mit dem
Periost des Cuboideum vernäht worden.
2. Bei einem 13jährigen Knaben ist die gleiche Operation aus
der gleichen Ursache ausgeführt worden.
3. Bei einem 12jährigen Mädchen, das in Folge einer Lähmung
der Wadenmusculatur und einer Parese des Tibial. ant. an einem hoch¬
gradigen Pes calcaneo-valgus litt, ist der Peroneus longus an das
hintere Ende des Calcaneus geführt und medial vom Ansatz der Achilles¬
sehne mit dem Periost vernäht worden.
*
Section für Geburtshilfe und Gynäkologie.
Referent Dr. Edmund Falk (Berlin).
Nachmittagssitzung am 21. September.
Vorsitzender: Schatz.
I. Graf S p e e demonstrirt wunderbar schön ausgeführte Präparate
von der Entwicklung des Eies bei Meerschweinchen
(7. Tag), welche beweisen, dass das Ei das Epithel durchbohrt und
im Bindegewebe eingelagert, sich entwickelt. Das Bindegewebe ent¬
wickelt sich in dieser Zeit so, dass die Bindegewebskerne sehr gross
W'erden, in diesem Bindegewebe entsteht bald eine Atrophie, es kommt
schliesslich zur Auflösung des Gewebes um das Ei, so dass sich hier
ein Hohlraum findet. Eine Zwischensubstanz an dem Bindegewebe in
den tieferen Schichten findet sich nicht. Die in den Präparaten erzielte
histologische Differenzirung wurde durch eine neugefundene Methode,
die Nachbehandlung des mit Sublimatlösung durch die Gefässe in-
jicirten Uterus mit 1% Ueberosmiumsäurelösung erreicht. Diese
Methode ist die einzige, welche eine gleichmässige Durchosmirung
grösserer Präparate herbeiführt, zugleich alle histologischen Details in
präcisester Weise hervortreten lässt.
II. Winternitz (Tübingen) : Die Entstehung und Er¬
kennung des Puerperalfiebers.
Das Puerperalfieber ist mit Olshausen als eine von den
Genitalien einer Wöchnerin ausgehende Wundinfection anzusehen. Die
häufigsten Infeetionserreger sind die Streptococcen, aber auch andere
den Wunden gefährliche Keime können Fieber im Wochenbett er¬
zeugen, gonorrhoische Processe können in Puerperium wieder auf¬
flackern. Nicht alle diese bacteriell verschiedenen puerperalen Krank¬
heitsformen sind durch bestimmte klinische Bilder gekennzeichnet; man
muss daher die Secrete der Uterushöhle, die Lochien, bacteriologisch
untersuchen. Dö der lein fand 1887 nun die überraschende That-
sache, dass die Uterushöhle der normalen Wöchnerin in der Regel
keimfrei ist. Da die Richtigkeit dieses Befundes von Burckhardt
angezweifelt worden, hat W inter nitz an einem umfangreichen
Material Nachprüfungen angestellt.
Er untersuchte 200 fieberfreie Wöchnerinnen an verschiedenen
Tagen des Wochenbettes, ganz besonders auch in der zweiten Woche,
und fand, dass das Lochialsecret
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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164mal steril war . d. i. = 82 0%
lOmal sind auf allen Nährböden Keime gewachsen, d. i. = 8%
20raal sind nur obligat anaerobe Keime aufgegangen, d. i. = 10%.
Es folgt hieraus also, dass die normale puerperale Uterushöhle
in der Regel keimfrei ist; fanden sich Keime ( 1 8°/0), so waren es vor¬
wiegend nicht pathogene; trotzdem konnte die Thatsache festgestellt
werden, dass sich bei diesen Fällen häufiger leichte febrile Tempera¬
turen (bis 38°) fanden, als bei den keimfreien, auch die Lochien waren
reichlicher und hatten bisweilen rein eiterigen Charakter. Es ergibt sich
also aus diesen Gegenüberstellungen die bemerkenswerthe Thatsache,
dass das feinste Reagens, das Thermometer, auch bei klinisch harm¬
losen Uterusinfectionen, welche das subjective Befinden nicht be¬
einflussen, einen eben bemerkbaren, klinisch aber belanglosen Ausschlag
gibt. Den Unterschied gegen Burckhard t’s Untersuchungen erklärt
Winternitz aus dem Gebrauch verschiedener Nährböden, er impfte
auf festen Nährböden und hält diese für zweckmässiger, als die von
Burckhardt verwandten flüssigen, bei denen Zufälligkeiten leicht
das Resultat trüben können.
Ausser den 200 normalen Wöchnerinnen hatte Winter nitz
Gelegenheit, 51 Fiebernde zu untersuchen.
Bei 18 von diesen war der Uterus keimfrei.
Bezeichnender Weise war aber hier nicht etwa eine andere
Stelle des Genitalrohres Eingangspforte für Bacterien, sondern es war
überhaupt keine puerperale Infection als Ursache des Fiebers vor¬
handen. Es handelte sich vielmehr:
9mal um Mastitis,
2 mal um Angina,
lmal um Gelenkrheumatismus,
2mal um Pneumonie,
2mal um Herpes,
lmal um Tuberculose,
lmal um Influenza.
Es waren dies also wegen anderweitiger Erkrankungen im Puer¬
perium fiebernde, aber nicht Puerperalfieberkranke.
33mal waren Keime im Uterus vorhanden, und zwar:
18mal Streptococcen,
lmal Staphylococcen,
2mal Bacterium coli,
2mal Gonococcen,
2mal anaerobe Keime,
2 mal Diplococcen,
6mal Misehinfection.
Auf Grund der bacteriologischen Untersuchung, aber lediglich
auf Grund dieser ist in diesen Fällen somit die frühzeitige Diagnose
„puerperale Endometritis“ gestellt worden.
Diese 33 als krank anzusehenden Wöchnerinnen vertheilen sich
auf eine Anzahl von 608 fortlaufenden Geburten, d. i. 5 4%.
Bei keiner einzigen, puerperalkranken Wöchnerin fand sich das
Endometrium keimfrei, so dass sich daraus ergibt, dass bei Puerperal¬
kranken der Uterus ausnahmslos inficirt ist und andere Infections-
stellen des Genitalcanales nicht oder nur höchst selten in Betracht
kommen.
Die wesentlichste Schlussfolgerung aus diesen Untersuchungen
scheint nun diejenige zu sein, dass wir in der bacteriologischen B e-
schaffenheit der Uteruslochien die wichtigsten diagnostischen An¬
haltspunkte zur Erkennung des Puerperalfiebers überhaupt, besonders
aber auch zur frühzeitigen Erkennung desselben haben.
Finden wir bei einer fiebernden Wöchnerin die Uteruslochien
keimfrei, so muss sie aus anderen Ursachen fiebern, ist also nicht
puerperalkrank — und umgekehrt: Sind bei einer fiebernden Wöchnerin
Bacterien besonders pathogener Art, wie die leicht nachweisbaren
Streptococcen, im Uterus vorhanden, so besteht kein Zweifel darüber,
dass sie als puerperalkrank zu betrachten ist.
In Anstalten wird somit die bacteriologische Untersuchung des
Uterusinnern bei jeder kranken Wöchnerin ein unbedingtes Desi¬
derat zur Stellung der Diagnose werden, wie dies in Tübingen seit zwei
Jahren gehandhabt wird.
III. Döderlein (Tübingen) : Verhütung und Behand¬
lung des Puerperalfiebers.
Für eine Prophylaxe des Puerperalfiebers ergeben sich aus den
Ausführungen von Winter nitz sehr wichtige Grundsätze ; vermeiden
wir das Hinaufgelangen von Streptococcen in den Uterus, so werden
wir sofort die Morbiditätsziffer herabsetzen. Die übrigen puerperalen
Erkrankungen durch Gonococcen, Diplococcen sind bacteriologiseh und
klinisch gutartig. Viel ist gewonnen, wenn wir die Infection mit
Streptococcen eliminiren. Diese wird aber fast stets durch unsere Hände
veranlasst. Daher glaubt Döderlein, dass durch Verwendung von
impermeablen Gummihandschuhen zur Untersuchung die Morbiditäts¬
ziffer wesentlich vermindert werden kann. Die Handschuhe sind aus
starkem Gummi mit zwei dünnen Fingern gefertigt. Das Anziehen der
Gummihandschuhe wird durch Einreiben der Hände mit sterilem
Vaselin wesentlich erleichtert. Der Gummihandschuh verträgt das
wiederholte Auskochen von zehn Minuten in Sodalösung.
Die Scheide der normalen Kreissenden desinficirt Döder¬
lein nicht.
Für die Behandlung des Puerperalfiebers hält D ö d e r 1 e i n die
Thatsache von Bedeutung, dass der Keimgehalt der Lochien an Bac¬
terien stets eine Störung bedeutet, auch wenn noch kein Fieber oder
klinische Symptome vorhanden sind; da ferner ein Fieber sich nur auf
Grund der Untersuchung des Lochialsecrets sicher deuten lässt, sollte
diese bei fiebernden Kranken stets vorgenommen werden. Finden wir
Streptococcen im Uterus, so ist unsere Haupttherapie der Angriff
dieser Streptococcen. Wir müssen unter allen Umständen alsdann den
Uterus ausspülen. Wir haben allerdings bis jetzt kein Mittel, das
local genügend günstig wirkt. Döderlein versucht z. Z. den
96%igen Alkohol zur Ausspülung.
Für das Streptococcen-Puerperalfieber soll das Serum vollkommen
unwirksam sein; dem widerspricht Döderlein. Er spritzt Wöchne¬
rinnen Serum nur ein an den ersten Tagen des Fiebers, wenn sie
Streptococcen im Uterus haben, denn nur gegen Streptococcen kann es
wirken, und nur dann, wenn dieselben noch keinen deletären Einfluss
im Körper erzeugt haben. Die Totalexstirpation wird in einer Reihe
von Fällen den Eintritt des tödtlichen Ausganges verhindern können.
IV. Burckhardt (Basel): Zur Streptococcenfrage.
Die Vorredner halten seine Ansicht über den Keimgehalt der
Uterushöhle für unrichtig, und zwar glauben sie ihm technische Fehler
im Verfahren der bacteriologischen Forschung nachweisen zu können.
Dem gegenüber bemerkt Burckhardt, dass er die Uterushöhle keim¬
haltig fand blos an späteren Tagen des Wochenbettes, während die
anderen Autoren dieselben Untersuchungen im Beginne, in den ersten
Tagen des Wochenbettes Vornahmen; dass die Wahl der Bouillon an
dem Unterschied schuld sei, will er Winternitz gern zugeben, aber
nicht in dem Sinne, dass er damit 85% Versuchsfehler gemacht hätte,
sondern dass sie eben für die in Frage kommenden Keime ein besserer
Nährboden ist. — Im Beginne des Wochenbettes fand auch er den
Uterusinhalt keimfrei bei Culturen mit derselben Bouillon. Ferner
konnte er Keime nachweisen an excochleirten Deciduastückchen, was
jeden technischen Fehler ausschliesst.
Unter den Keimen der puerperalen Uterushöhle sind besonders
auffallend die Streptococcen. Burckhardt konnte sie in circa 10%
nachweisen; biologisch und morphologisch sind dieselben von den
pathogenen verschieden. Er möchte sie al3 Streptococcen saprogenes
bezeichnen und sie der Classe der Fäulnisserreger zuzählen. — Der
Befund solcher Keime mahnt zu grosser Vorsicht bei der Beurtheilung
eines mikroskopisch-bacteriologischen Befundes; gerade bei der
puerperalen Störung sollte dem Gesagten nach die Diagnose auf
septische Infection erst dann gestellt werden, wenn die Identi-
ficirung des gefundenen Streptococcus im concreten Falle durch¬
geführt ist.
V. Schücking (Pyrmont): Mittheilung über neue
Infusions-Lösungen.
Die Thatsache, dass die physiologische Kochsalzlösung keine
für das Herz indifferente Lösung darstellt, die weitere Annahme, dass
die bei den Verblutenden eintretende Herzlähmung durch die An¬
häufung von Kohlensäure in den Geweben verschuldet wird, bewogen
Schücking nach einer Verbindung zu suchen, welche im Stande
ist, das Kohlendioxyd zu fixiren. Im Blute fällt normaler Weise die
Aufgabe, die Kohlensäure fortzuschaffen, den Serumglobulin-Alkali¬
verbindungen zu. Schücking glaubt nun, dass das Natriumsaccharat
im Stande ist, die Rolle der Serumglobulinalkaliverbindungen zu über¬
nehmen, indem das Natriumsaccharat durch Kohlensäure in Zucker
und kohlensaures Natron gespalten wird und so die Kohlensäure
fixirt. Er benützte das Natriumsaccharat in Form einer subcutanen
0‘03%igen Injection unter Zusatz von 06% Kochsalz. Nachdem er bereits
in der Berliner medicinischen Gesellschaft über die günstigen Er¬
folge dieser Injectionen berichtet hatte, referirt er über einen Fall
schwerster Puerperalerkrankung, in dem die Injection von 250#
lebensrettend wirkte, nachdem eine alkalische Kochsalzlösung ohne
Effect geblieben vor. Zum Schlüsse berichtet Schücking über den
inneren Gebrauch des Natriumsaccharats an Stelle der bisher ge¬
bräuchlichen Alkalien.
VI. F r anq u e (Würzburg): S a 1 p i n g i t i s nodosa isthmica
und Adenomyoma t u b a e.
In einem Falle der Würzburger Frauenklinik wurde bei einer
22jährigen Frau wegen Retroflexio uteri fixata das Abdomen zweimal
eröffnet, das erste Mal durch Colpotomia; dabei erwiesen sich die
Tuben als vollständig normal; 19 Monate später wegen Recidivs der
Retroflexio vom Abdomen aus; jetzt boten beide Tuben makro- und
mikroskopisch das typische Bild der Salpingitis nodosa isthmica einer¬
seits, des Tubenwinkeladenomyoms andererseits dar; alle durch
v. Re cklinghausen beschriebenen Eigentümlichkeiten des letz¬
teren waren vorhanden; in Serienschnitten wurden nun beiderseits
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Spuren einer in Ablauf begriffenen Tuberculose gefunden, ferner aber
multiple Communicationen des Tubenlumens durch drüsige
Ausstülpungen mit den adenomatösen Gebilden, welche die Tuben
rings umgaben.
Es wird daraus geschlossen, dass die fraglichen Gebilde nicht
congenital angelegte Neoplasmen im engeren Sinne des Wortes sind,
sondern auf Grund entzündlicher Reizung von der Tubenschleimhaut
aus gebildet wurden.
In einem zweiten Falle, einem Tubenwinkeladenom in einem
wegen Cancroids total exstirpirten schwangeren Uterus, liessen sich eben¬
falls mehrfache Verbindungen mit dem Tubenlumen nachweisen, ohne
dass von Tuberculose eine Spur vorhanden war.
Da in diesem Falle alle v. Recklinghausen für die von
den Urnieren stammenden „Adenomyome“ als charakteristisch angege¬
benen Merkmale trotz der sicher schleimhäutigen und postembryonalen
Entstehung vorhanden waren, können diese Merkmale nicht mehr als
stichhaltig betrachtet werden. (Ausführliche Veröffentlichung in der
Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie.)
VII. Schatz (Rostock) : Die erste Menstruation nach
der Geburt.
In der Literatur ist über die erste Menstruation nach der Geburt
gewöhnlich nichts oder nur die Bemerkung zu finden, dass sie bei
Nichtstillenden sechs oder auch nur vier Wochen nach der Entbindung
eintritt, bei Stillenden meist erst später. Menstruationsähnliche Blut¬
abgänge im Wochenbett haben Schatz aber schon vor etwa 20 Jahren
zweifeln lassen, dass diese Angaben richtig sind, weil für solche Blut¬
abgänge sehr häufig kein .ersichtlicher Grund vorlag. Als er dann die
Blutabgänge genauer controlirte und besonders als er die Unter¬
suchung über die typischen Schwangei'schaftswehen vorgenommen hatte,
stellte sich heraus, dass die Blutabgänge typische Zeiten ganz ähnlich
einhielten, wie die Schwangerschaftswehen und er überzeugte sich
schliesslich, dass sie wirkliche Menstruationen darstellen. Sie kommen
gerade auch bei Stillenden und vielleicht bei diesen sogar häufiger als
bei Nichtstillenden vor und wie bei den Schwangerschaftswehen finden
sich zwei Typen, ein sechs- und ein vierwöchentlicher. Beide theilen
sich in der Hälfte, sind also auch drei-, respective zweiwöchentlich, und
diese Hälften theilen sich nicht selten sogar noch einmal. Man findet
also die erste Regel nach der Geburt nicht nur am 42. oder 28. Tage
eintreten, sondern auch am 21. oder 14., nicht ganz selten schon am
10. bis 11. Tage und vielleicht sogar auch am 7. Tage. Dass man
diese Blutabgänge in den ersten drei Wochen bisher nicht als Men¬
struationen angesehen hat, liegt sicher daran, dass man sie für Blu¬
tungen aus anderen Ursachen ansah und besonders sind gerade die
Blutungen zwischen dem 7. und 14. Tage gewöhnlich als Folge des
ersten Aufstehens oder anderer Bewegungen oder von Lösung von
Blutthromben etc. angesehen worden. Da Vortragender die Sache früher
durchwegs ebenso ansah, hat er sehr wohl darauf geachtet, bei der
Beobachtung diese Fehlerquellen zu vermeiden und ist doch zu der
Ueberzeugung gekommen, dass diese frühen Menstruationen sehr häufig,
wenn nicht gar ganz regelmässig sind. Von den Frauen erfährt man
darüber so gut wie nichts. Da die erste so frühe Periode in die Zeit
des Wochenflusses fällt, wird sie mit diesem zusammengeworfen
und nicht darauf geachtet, ob er eine Zeit lang mehr oder weniger
blutig ist.
Als Prüfstein, ob es sich wirklich um Menstruation handelt, wird
man die etwaige Ovulation respective Conception betrachten müssen. Im
letzten Jahre hat ein früherer Assistent von Schatz, Dr. Koc h, einen
Abort beobachtet am 29. Tage nach dem Tage, wo er vorher (auch
wegen Abort) die Ausräumung des Uterus vorgenommen hatte. Der
Embryo des letzten Abortes ist vom embryologischen Fachmann auf
17 Tage alt geschätzt, ist also am 11. oder 12. Tage nach der Aus¬
schabung des Uterus concipirt worden. Die zugehörige Menstruation
und Ovulation gehörte also zum sechswöchentlichen Typus und war
schon nach dem ersten Viertel dieses Typus, l'/2 Wochen nach der
Geburt eingetreten.
Wir wissen, dass bei manchen Thieren die Conception fast un¬
mittelbar nach der Geburt eintritt. Die Pferdezüchter sehen den neunton
Tag nach der Geburt des Fohlens als denjenigen Zeitpunkt an, an
welchem die Stute am sichersten wieder concipirt und deshalb gerade
an diesem Tage zum Hengst geführt werden muss. In der letzten Zeit
haben die Untersuchungen von Cosentino (Monatsschrift für Geburtshilfe
und Gynäkologie, V. Ergänzungsheft, pag. 195) erneut ergeben, dass
die G r a a f’schen Follikel auch bei der Frau während der Schwanger¬
schaft reifen und bersten können. So sprechen denn alle Umstände
dafür, dass auch beim menschlichen Weibe Menstruation und Ovulation
nicht nur vier oder sechs Wochen, sondern auch viel früher, zwei oder
drei, ja sogar eine oder l1 > Wochen nach der Geburt eintreten kann.
Das Nähren des Kindes scheint, wie cs die Rückbildung der Genitalien
beschleunigt, so auch den frühen Eintritt der Menstruation zu begün¬
stigen, während es später ja die Menstruation meist unterdrückt oder
wenigstens beschränkt.
Schatz wird das Material, welches er in dieser Hinsicht hat
ansammeln können, in einer Dissertation veröffentlichen lassen. Er
bemerkt dabei, dass diese Menstruationsperioden ebenso wie die ge¬
wöhnlichen Menstruationsperioden leicht etwras ante- oder post-
poniren. Diese Abweichungen können aber gegen den Charakter als
Menstruation ebensowenig beweisen, wie die Tage der Abweichung bei
der gewöhnlichen Menstruation.
*
Vormittagssitzung vom 22. September.
Vorsitzender Döderlein.
I. A. v. Guerard (Düsseldorf): Herzfehler und
Schwangerschaf t. v. Guerard berichtet über Beobachtungen
an einer grösseren Anzahl herzkranker Frauen aus der Privatpraxis,
um zum Schlüsse einen Vergleich zwischen den Erfolgen der Privatpraxis
und denen der poliklinischen zu ziehen. B i s w e i 1 e n sind die Ge¬
räusche in der Schwangerschaft deutlicher zu hören
als in der Zeit der Nichtgravidität, einmal waren sogar
während des Tragens deutliche Geräusche zu hören, die in der Zeit,
wo die Frau nicht schwanger war, überhaupt nicht zu hören waren.
Es handelt sich hier bestimmt nicht um accidentelle Geräusche,
sondern um ganz geringe Schädigungen des Klappenapparates, W'elche
sich nur bei erhöhter Inanspruchnahme des Herzens bemerkbar machen.
Eine Hypertrophie des Herzens sicher nachzuweisen gelang nicht,
doch ist in den erwähnten Fällen eine solche leicht theoretisch
herzuleiten.
Um die deletäre Wirkung der Schwangerschaft auf herzkranke
Frauen zu erklären, stellt Spiel b erg die Behauptung auf: Der
Druck in der Aorta sinkt durch Ausschaltung des Placentarkreislaufes,
er steigt in den Venen, und hierdurch sowfie durch erhöhte Excursions-
fähigkeit des Zwerchfells findet gleich nach der Geburt ein verhängniss-
voll starkes Zuströmen vom Blut zum rechten Herzen und den Lungen
statt. Fritsch dagegen nimmt ein Sinken des venösen Druckes durch
Ansammlung von Blut in den Unterleibsvenen, dadurch einen Mangel
an Blut im rechten Herzen an. Bei der Section einer gleich nach der
Geburt verstorbenen Frau fand Vortragender als einzige Todesursache
ein schweres Vitium cordis mit weicher, schlaffer Musculatur der Ven¬
trikel, dagegen eine sehr starke Füllung und fast blauschwarze Färbung
der Venen des Ligamentum latum der Genitalien, ein Beweis für die
Annahme, dass der venöse Druck im vorliegenden Falle kein erhöhter
gewesen sein kann. Statt einer Zunahme des arteriellen Druckes muss
dagegen ein Sinken auch dieses angenommen werden, denn bei gleich-
mässig vorhandener Arbeitsfähigkeit des Herzens ist die Blutmenge
eine geringere. Beim gesunden Herzen lässt sich hiedurch mit der
langsame Puls der Wöchnerinnen erklären, beim kranken Herzen wird
das Sinken oft ein zu grosses, es tritt entweder alsbald eine direct zu
kleine Versorgung des Körpers mit sauerstoffhaltigem Blute ein, oder
das stärker arbeitende Herz erleidet weitere bisweilen sehr schwere
Schädigungen. Sinken des venösen und arteriellen Blutdruckes werden
also verhängnissvoll.
Therapeutisch ist vor Allem das Heiratsverbot bei schwer herz¬
kranken Mädchen zu erwähnen, eine Massregel die zum Schaden der
Betroffenen noch immer zu wenig ergriffen wird. Zur Warnung wird
ein typischer Fall angeführt, wo der Hausarzt, wie eine specialistische
Autorität trotz neun Jahre lang genau beobachteten schweren Herz¬
fehlers die Heirat unbedingt erlaubten und die junge Frau nach dem
ersten Wochenbette langsam den Compensationsstürungen erlag.
Ist aber in solch schwerem Falle Schwangerschaft eingetreten,
so ist der Abortus artificialis einzuleiten; v. Guerard kennt weder
aus der Literatur noch aus der Praxis einen Fall, wo die Schwanger¬
schaft ein günstiges Ende erreichte, wenn bereits in den ersten Wochen
oder Monaten Compensationsstürungen eintraten. Am leichtesten aus¬
zuführen ist der künstliche Abort durch Laminariadilatation mit nach-
heriger digitaler Ausräumung. Um der trotz Cöitusverbot stets wieder
eintietenden Schwangerschaft vorzubeugen, wurde in einem Falle sogar
die Castration ausgeführt. Derartige Fälle sind aber sehr selten. Be¬
sonders muss man sich hüten, allzu pessimistisch zu denken, wenn
man die Patientin nur während der Geburt untersucht hat. Hier ist
ein Irrthum leicht möglich. Es heisst dann, die Geburt schnell und
schonend zu beenden und dann öffnet sich der Privatpraxis ein weites,
der poliklinischen Thätigkeit verschlossenes Feld, die Pflege in der Zeit
der Nichtgravidität, sowie w’ährend der neun Monate der Schwanger¬
schaft. So konnte v. Guerard bei einer Frau, deren erster Partus
durch Perforation des lebenden Kindes, indicirt durch Vitium cordis
beendigt, worden war, später zweimal ein lebendiges Kind erzielen
bei ganz leidlichem Befinden der Frau. Den Statistiken der bisher er¬
schienenen Veröffentlichungen mit circa 34 — 100 °/0 Todesfällen gegen¬
über, hat v. Guerard unter 28 Entbindungen bei 19 Frauen zwei
Todesfälle registrirt. Werden aber die nur systematischen Unter¬
suchungen zu verdankenden Fälle, wrelche poliklinisch wohl kaum zur
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Beobachtang gelangt wären, abgezogen, so ergeben sich auf sieben
Fälle zwei mit letalem Ausgange = circa 30% Todesfälle.
II. Brünings (München) demonstrirt mikroskopische Bilder
eines haselnussgrossen Polypen, der vom Tabenwinkel aus¬
ging; in demselben findet sich ein Gebilde, das Brünings als ein
Haar anspricht, und das Markschicht, innere und äussere Wurzel¬
scheide unterscheiden lässt. Es handelt sich um einen versprengten
Keim, der wahrscheinlich einen Reiz auf die Uteruswand ausgeübt
hat. Der Tumor ist vielleicht den Teratomen anzureihen.
III. A. Müller (München) demonstrirt:
1. Eine Radfahrertasche für Geburtshilfe;
2. einen Dilatator und unelastischen Ballon zur
Erweiterung des Cervicalcanals am Ende der Schwangerschaft;
3. recht zweckmässige Bein halter für die geburtshilfliche
Praxis;
4. geburtshilfliches Demonstrations- und 1 a-
scheuphantom.
Die Construction dieses Phantoms, welches in natürlicher Grösse
und in ein Drittel natürlicher Grösse geliefert wird (Lehman n’s
Verlag), beruht auf der Anschauung des Verfassers über den Zu¬
sammenhang zwischen Kopfform und Geburtsmechanismus.
Auf eine Platte, welche die Zeichnnng des sagittalen Durch¬
schnittes eines weiblichen Beckens trägt, ist der Durchschnitt des
Kreuzbeines und der Sympyhse erhaben aufgetragen. Am Kreuzbeins
sind Federn befestigt, welche die Wirkung der Beckenweicktheile und
des Dammes veranschaulichen. Profile von Kinderköpten in der den
verschiedenen Lagen entsprechenden Configuration, aus Holz und Pappe
gefertigt, gleiten, durch das flache „Becken11 geschoben, genau in der
dem natürlichem Verlaufe dieser „Lagen“ entsprechenden Weise
durch das Becken. Das dem kleinen Phantome beigegebene Modell
einer Zange erleichtert das Verständniss für die Wichtigkeit der Zug¬
richtung;
5. Assistenzapparat für gynäkologische Ope¬
rationen;
6. ein Phantom des Beckenausganges.
IV. Fraenkel (München) : Mittheilung über Chorion-
epithel, das im Anfang der Schwangerschaft bekanntlich zwei¬
schichtig ist. Er geht auf die Frage ein, ob das Syncytium mütter¬
lichen oder fötalen Ursprunges ist.
V. Koetschau demonstrirt einen graviden Uterus, der
circa 14 Tage vor der Geburt Avegen Carcinom auf vaginalem Wege
nach Entbindung des Kindes durch den sogenannten vaginalen Kaiser¬
schnitt exstirpirt wurde.
VI. L. Fürst (Berlin) demonstrirt seine von ihm angegebene,
in der „Deutschen Medicinal-Zeitung“ (1899, Nr. 60) ausführlich,
beschriebene Thermophor - Couveuse für zu früh geborene oder
bei der Geburt lebensschwache Kinder, bei der eine Dauererwärmung
des Kindes ohne Wasser erreicht wird. In ein Körbchen mit doppeltem
Boden werden drei sogenannte Thermophorplatten durch eine seitliche
Oeffnung zwischen beide Böden eingeschoben. Diese doppelten, überall
hermetisch geschlossenen, mit Handgriffen versehenen Platten aus kräf¬
tigem Blech enthalten ein krystallinisches Salz, welches beim Kochen
im eigenen Krystallwasser schmilzt, dann aber nur langsam wieder aus-
krystallisirt und hiebei viele Stunden lang Wärme abgibt. Diese
steigt rings um das Kind empor und umgibt es, da sie in Folge eines
mit Mousselin überspannten, gewölbten Deckels nur Avenig entweicht,
mit einer lang anhaltenden, ziemlich constanten Temperatur bis zu
27° R. (34° C.). Eine Berührung der Platten mit dem Kinde und
irgend welche Schwierigkeit der Beobachtung desselben ist völlig aus¬
geschlossen.
Die Thermophor-Couveuse ist einfach und handlich. Ihre Be¬
dienung ist sehr leicht, denn die Platten brauchen nur alle sechs bis
acht Stunden ausgewechselt zu werden.
Da solche Fälle, in denen frühgeborene oder schwächliche
Kinder einer künstlichen Erwärmung (Nachbrütung) zur Verhütung
von Collaps, Sklerem etc. bedürfen, meist unerwartet eintreten und
derartige Apparate ohne Zeitverlust in Action kommen müssen, wird
es sich empfehlen, dass solche Thermophor-Couveusen in jedem
Physicatsbezirke an geeigneten Stellen vorrätliig gehalten und jeder¬
zeit gegen mässige Wochenmiethe dem Publicum leihweise über¬
lassen Averden.
Dieser Modus empfiehlt sich, weil die künstliche Erwärmung ge¬
wöhnlich nur einige Wochen lang nöthig ist. Da die Vorrichtung
binnen einer Viertelstunde in Wirksamkeit, gesetzt werden kann,
dürfte es möglich sein, manches kindliche Individuum, das sonst in
Folge von Wärmeverlusten durch Haut und Lungen verloren wäre,
zu erhalten.
Herstellung und Vertrieb der Thermopher-Couveuse hat die
Deutsche Thermophor-Gesellschaft übernommen.
VII. v. Guerard: D e c i d u o m a malign um der Portio
nach Blasenmole bei freibleibendem Corpus.
Das vorliegende Präparat lässt auch makroskopisch an der
malignen Natur des Tumors keinen Zweifel, überall geht der Tumor
ganz diffus in das ihn umgebende Gewebe über. Die mikroskopischen
Bilder zeigen ebenfalls, dass das Gewebe überall mit Geschwulstelementen
durchsetzt ist, neben arrodirten Gefässen sieht man mitten im gesunden
Gewebe Inseln der Geschwulstmasse. Im Uebrigen erkennt man bei
genauer Durchsicht der Präparate die Bilder, welche March and in
seiner Arbeit abgebildet hat, in typischer Weise wieder. An den
Randstellen sind theilweise in die Tiefe dringende Defecte zu sehen,
deren Umgebung mit zahlreicher Zelleninfiitration versehen ist und in
die hinein sich sehr grosse syncytiale Massen destruirend einsenken.
Vortragender deutet dieses als die Stellen der ehemaligen Erosionen,
und glaubt, dass die Geschwulst hievon ihren Ausgang genommen
hat. Aus der Anamuese ist zu erwähnen, dass die Frau im Januar 1899
von einer Blasenmole entbunden wurde; schon damals fand sich an der
vorderen Muttermundslippe eine Erosion, welche trotz Aviederholter
Aetzung nicht ausheilte; aus dieser Erosion bildete sich die haselnuss¬
grosse Geschwulst, Avelclie im Mai 1899 die Totalexstirpation erforder¬
lich machte.
VIII. J. A. Amann jr. (München) : Ueber Bildung von
Ureiern und primär follikelähnlichen Gebilden im
senilen Ovarium.
Beim Menschen und höheren Säugethiere findet die Bildung von
Ureiern nur im fötalen Leben, eventuell noch in den ersten Lebens¬
jahren statt. Die vereinzelten Untersuchungsergebnisse von Ureier-,
respective Follikelbildung im geschlechtsreifen Alter scheinen sich
auf atypische, pathologische Verhältnisse zu beziehen: im senilen
Ovarium Averden von allen Untersuchern nur regressive Vorgänge be¬
schrieben.
Bei einer 63jährigen Frau exstirpirte Amann wegen
Carcinoma cervicis den Uterus mit seinen Adnexen auf vaginalem Wege;
die Heilung verlief glatt. Die histologische Untersuchung der makro¬
skopisch etwas cystisch degenerirten, sonst kaum veränderten Ovarien
ergab nun folgenden auffallenden Befund.
Die cystischen Hohlräume sind mit Cylinder epithel aus¬
gekleidet, das an einzelnen Stellen eine grössere Anzahl sofort auf¬
fallender sehr grosskerniger Zellen aufAveist, welche von
flach spindeligen, intensiv gefärbten Zellen um¬
schlossen sind. Nahe der Oberfläche liegen kleine Epithel¬
schläuche, zum Theil mit cystischen Sprossungen versehen, welche
noch deutlicher die beiden Zellarten (je eine auffallend grosskernige
Epithelzelle ist umschlossen von circa sechs flachspindeligen Mantel¬
zellen) aufweisen.
Die feineren histologischen Details dieser Zellen entsprechen
vollkommen dem Verhalten der Ureier, wie sie im Ovarium des
Neugeborenen vorhanden sind, desgleichen entsprechen die Mantel¬
zellen morphologisch vollkommen den Epithelien der Primärfollikel
jener Zeit.
Die grossen Zellen sind als Ureier und die Combination der¬
selben mit den anliegenden Mantelzellen als primärfollikelähn-
liche Gebilde in morphologischem Sinne aufzufassen, eine Auf¬
fassung, die auch von embryologischer Seite getheilt wurde.
Die Herkunft der Epithelcysten und Schläuche kann mit Sicher¬
heit auf das Keimepithel zurückgeführt werden und durch Serien¬
schnitte bewiesen werden. In den Keimepitheleinstülpungen finden sich
vielfach Mitosen.
Nur an einer Stelle dringt das Keimepithel in Form unregel¬
mässiger Stränge, das Stroma durchziehend, tiefer hinein, auch hier
finden sich an einzelnen Stellen zahlreiche Ureier.
Bisher wurden nur von Aconcci, Emanuel, Verfasser und
Neumann in vorgeschrittenen papillären oder papillär-carcinomatösen
Ovarialtumoren ureierähnliche Zellen beschrieben. Doch muss hier auf
die Schwierigkeit der Diagnose solcher Befunde in vorgeschrittenen
Neubildungen hingewiesen werden. Einzig in seiner Art ist demnach
der oben beschriebene Fall, da hier eine beginnende, vom Keim¬
epithel ausgehende Cystadenombildung vorliegt und ferner da nicht
allein Ureier, sondern auch primär follikelähnliche Gebilde
vorhanden sind.
Dieser Fall stützt auch wieder die immer mehr angenommene
Anschauung, dass die Cystadenome vom Keimepithel und nicht vom
Follikelepithel abstammen. Es ist staunensAverth, zu erkennen, wie das
Keimepithel eines senilen Ovariums noch in so hohem Alter die Fähig¬
keit beibehalten kann, Wucherungsvorgänge der beschriebenen Art zu
zeigen und zwar mit der denselben specifischen Eigenschaft der Ureier-
und Primärfollikelbildung, wenn auch in etwas atypischer pathologi¬
scher Art.
IX. S t r a t z (den Haag) betont, dass bei chronischen Adnex-
affectionen die conservativen Methoden die besten Resultate ergeben.
Besonders die Amvendung von Heisswasserinjectionen ist zu empfehlen.
Zur Ermöglichung von Amvendung höherer Temperaturen hat Stratz
ein Hartgummispeculum construirt, das gestattet, ohne
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Verbrühung der äusseren Theile die heisse Temperatur allein auf
die Scheide einwirken zu lassen (Demonstration desselben. Be¬
schrieben im Centralblatt für Gynäkologie). Zur Erzielung einer
schnellen Heilung ist aber die klinische Behandlung der poliklinischen
vorzuziehen. Die Ausspülungen müssen mit Wasser von 48° gemacht
werden und circa 6 — 11 müssen täglich zur Ausspülung gebraucht
werden. Ausserdem wendet Stratz Einreibungen von Ichthyol-
Lanolin in Verbindung mit P r i e s s n i t z’schen Umschlägen und
Scheidentampons an. Bei tuberculösen Affectionen hingegen ist die An¬
wendung der Heisswasserinjectionen contraindicirt. Ist ein operativer
Eingriff von der Scheide aus nothwendig, so glaubt Stratz, dass eine
AngrifFnahme der Tumoren, respective die Entleerung des Eiters bei
Pyosalpinx, häufig leichter durch eine Colpotomia lateralis als durch
eine anterior, respective posterior stattfinden kann. Bei der Colpotomia
lateralis wird mit Vermeidung der Arteria uterina das Parametrium
eröffnet.
Stratz betont mit Recht, dass bei Adnexoperationen viel zu
viel operirt wird, da durch chronische Affectionen nie eine directe
Lebensgefahr entsteht.
X. Ludwig P i n c u s (Danzig) : Zur Belastungslag e-
r u n g.
1. Die Behandlung der entzündlichen, speciell exsudativen Pro-
cesse in der Umgebung und den Anhängen der Gebärmutter, d. li. also
sowohl in den Parametrien, als auch in der Beckenserosa und in den
Tuben, kann und muss in der Privatpraxis in erster Linie eine durch¬
aus nichtoperative sein. Die Operation, als Ultimum refugium, muss,
wenn irgend möglich, eine conservative, die Function erhaltende sein.
In der klinischen und poliklinischen Praxis bildet vielfach schon Arbeits¬
unfähigkeit die Indication zur Operation.
2. Sowohl im acuteD, als auch im subacuten und chronischen
Stadium der genannten Affectionen ist das wichtigste Erforderniss
einer rationellen Therapie : die Fürsorge für eine thunlichst aus¬
giebige Entlastung der Organe des Beckens im chirurgischen Sinne.
3. Einer schnellen Resorption und energischeren Eliminirung der
Infectionserreger weiden wir in der Praxis auf exacte und dabei relativ
bequeme Weise mittelst der „Belastungslagerung“ gerecht.
4. Das Planum inclinatum und die Compression bilden das Cha-
racteristicum der Belastungslagerung.
5. Das Planum inclinatum wird hergestellt durch Erhöhung des
Fussendes des Bettes oder des Fussendes einer festen Matratze um
15 cm (Minimum) bis 35 cm (Maximum). Höhere Erhebungen sind
nur ausnahmsweise und stets nur zu vorübergehendem Gebrauche zu¬
lässig. Zur Behandlung frischer, puerperaler Affectionen wird die
schiefe Ebene hergestellt durch eine aus Drillich oder Segelleinen
gefertigte, in einem Holzrahmen von der Breite des Bettgestells
ruhende Hängematte, welche, mittelst einer Schnur am Fussende des
Bettes jederseits über eine Rolle laufend, in jeder beliebigen Höhe
festgestellt werden kann und eine bequeme intermittirende Anwendung
ermöglicht.
6. Das Planum inclinatum wird im Allgemeinen permanent, nur
bei frischen, puerperalen Affectionen, wegen des Lochialsecretes und
der etwa nothwendigen Vaginalinjectionen intermittirend angewandt.
7. Die Compression wird entweder von den Bauchdecken oder
der Scheide aus, oder aber am besten von beiden gleichzeitig ange¬
wendet. Die vaginale Compression nimmt nur bei ausgesprochen
chronischen Formen den Charakter eines activen Druckes an, gleicht
im Uebrigen mehr einem eingeschalteten Widerstande zur Ruhigstelluug
der Organe.
a) Compression von aussen: Elastische Binden, Heftpflaster, Schrot¬
sack, feuchter Töpferton. Gewicht 1 — 5 leg.
1) Compression von der Vagina aus: G a r i e l’sches Luftpessar,
Kolpeurynter, Schrotsack, antiphlogistische „Staffeltamponade“. Strenge
Asepsis und Antisepsis; steriles, trockenes Material.
8. Die Compression ist intermittirend oder permanent. Dauer und
Intensität ist individuell verschieden. Sie ist im acuten Stadium nur
bei gleichzeitiger Anwendung des Planum inclinatum erlaubt, und wenn
Fieber und Schmerz, wenn auch nur vorübergehend, durch sie ver¬
ringert werden. Im chronischen Stadium darf sie permanent sein, wenn
die Kranke schmerz- und fieberfrei bleibt ; sie darf nur intermittirend
sein, wenn Schmerzen oder Fieber (Abends messen) auftreten. Die
gynäkologische Massage wirkt im chronischen Stadium vielfach unter¬
stützend.
9. Das Planum inclinatum und mehr noch die typische Belastungs¬
lagerung bewährt sich bei allen mit Hyperämie einhergehenden Affec¬
tionen der Generationsorgane, zur Lockerung von Adhäsionen, zur
Lageverbesserung des Uterus und der Ovarien etc. Ihre eigentliche
Domäne sind ausgesprochen chronische Beckenexsudate. Doch auch bei
sehr vielen Fällen acuter Entzündung leistet sie vortreffliche Dienste.
Contraindicirt ist sie bei peritonitischen Reizungszuständen (Meteorismus,
Hochstand des Zwerchfells). Die Dauer der Behandlung schwankt
zwischen wenigen Tagen und mehreren Monaten.
10. Die Behandlung im chronischen Stadium muss, wenn irgend
möglich, eine ambulante sein. Dies Ziel ist erreichbar durch vaginale
Compression und elastische Leibbinden. Als Adjuvans betrachten wir
in jedem Falle die Benützung des Planum inclinatum, am Tage inter¬
mittirend während weniger Stunden, in der Nacht permanent.
11. Wird trotz Anwendung der typischen Belastungslagerung ein
Exsudat nicht kleiner — es gilt namentlich von der puerperalen Peri-
Parametritis — und tritt selbst nur bei geringfügigen Fieberbewe¬
gungen ein sichtlicher Kräfteverfall ein, so ist nicht nur Eiter im Ex¬
sudat zugegen, sondern es bereitet sich höchstwahrscheinlich auch eine
Perforation vor, welcher man nach vorausgeschickter Probepunction
durch präparatorische Incision zuvorkommen muss.
Discussion: v. H e r f f vertritt gleichfalls, wie Stratz, den
conservativen Standpunkt, eine grosse Anzahl von Adnexerkrankungen
gelangt zur Heilung, respective zu einem Stillstand. Heisswasser¬
behandlung ist sehr werthvoll, hingegen sah er von Ichthyol keinen
Erfolg.
XI. Knorr (Berlin) hält seinen Vortrag über Irritable
Bladder bei der Frau.
Er berichtet über 63 Fälle, bei denen der Symptomencomplex
der reizbaren Blase bestand, die er in Gemeinschaft mit Dr. B i er¬
hoff (New York) cystoskopisch und urologisch untersucht hat. Eine
rein nervöse Form fand sich in keinem Falle, wohl aber waren jedes¬
mal pathologische Zustände der Blase vorhanden.
Die Ursachen des Leidens waren:
30mal Cystitis colli chron., davon
9mal mit Pericystitis,
1 „ „ Fissur am Sphinct. int.,
2 „ „ Uretritis gon. cat.,
1 „ „ Ulcerationen der Blase,
3 „ „ papillären Wucherungen.
Gmal bestand Hyperämie des Blasenbodens,
4 „ Phlebektasien,
1 „ bullöses Oedem bei Carcinoro. parametrii,
4 „ Texturveränderung der Wand bei Carcinom. uteri,
13 „ Pericystitis,
2 „ narbige Verdickung der Blase,
2 „ Cystocele,
1 „ Bacteriurie.
Somit erscheint das Vorkommen rein nervöser Irritable bladder
ein recht seltenes zu sein. Die Therapie war eine locale, in den
meisten Fällen erfolgreiche.
Vortragender empfiehlt den Frauenärzten das Studium der Blasen¬
krankheiten, sowie die Anwendung des Cystoskops aufs Wärmste.
XII. Franz (Halle) : Klinische Beiträge zur Kennt-
niss der Eileiterschwangerschaft.
In den letzten fünf Jahren wurden in der Hallenser Frauen¬
klinik 70 Fälle von Extrauteringravidität operirt. Darunter sind
43 Aborte, 18 Rupturen, 4 ungeplatzte Tubargraviditäten, 5 unbe¬
stimmt. Diese Fälle wurden statistisch zusammengestellt nach ihrem
klinischen Verhalten in Bezug auf Aetiologie, Diagnose und Therapie.
Aetiologisch wurde für manche Fälle die Annahme einer Tuben¬
entzündung dann wahrscheinlich, wenn man bei der Operation die
anderen Adnexe entzündlich verändert fand, und zwar scheint es, dass
hauptsächlich abgelaufene, in Heilung begriffene Erkrankungen der
Tuben zur Entstehung der Eileiterschwangerschaft prädisponiren. Die
Diagnose hat zwischen ungeplatzter Tubargravidität, Ruptur und
Abort zu unterscheiden. Allen drei Zuständen gemeinsam sollten die
anamnestischen und localen Schwangerschaftszeichen an Brüsten,
Scheidenschleimhaut und Uterus sein. Die Regel war aber nur in
46 Fällen ausgeblieben. Constautere Zeichen der Extrauteringravidität
sind bei der Störung der Schwangerschaft Blutungen und Schmerzen.
Blutungen wurden bei 66 Fällen von gestörter Extrauteringravidität
nur viermal vermisst. Die Art der Schmelzen ist bei ungeplatzter
Tubargravidität, bei Ruptur und Abort verschieden. Dieser Umstand
hilft zu der nothwendigen Trennung dieser drei Zustände, die natür¬
lich zunächst durch den Palpationsbefund vorgenommen werden muss.
Bei der nicht geplatzten Tubarschwangerschaft findet man nur dann
Schmerzen, wenn Blutungen in die Tube stattgefunden haben, sie
haben dann einen kolikartigen Charakter, wie in einem Falle beob¬
achtet worden ist. Die plötzliche Ruptur zeichnet sich durch einen
plötzlichen Schmerz im Abdomen aus. Die ausgesprochenen Fälle von
Ruptur mit Collapserscheinungen, bedingt durch innere Blutung, sind
nicht sehr häufig. Bei 18 Rupturen wurden sie fünfmal beobachtet.
(Schluss folgt.)
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
■4»
Die „Wiener klinische
Wochenschrift“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von minde¬
stens zwei Bogen Gross¬
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tion sind zu richten an
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Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Emst Fuchs, Karl Güssen!) auer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Sehrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Verlagshandlung :
Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel. Telephon Nr. 6094.
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Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VII 1/1, Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang.
Wien, 19. Juli 1900.
Kr. 29.
INHALT:
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel : 1. Aus der II. medicinischen Klinik (Hofrath Neusser)
in Wien. Ein Fall von Abdominaltyphus mit posttyphöser Schild¬
drüsenvereiterung. Bacteriologisch-hämatologische Betrachtungen.
Von Dr. Anton Schudmak, Aspiranten der H. medicinischen
Klinik, und Dr. J. A c b. V 1 a c h o s, Hospitanten der n. medi¬
cinischen Klinik.
2. Aus der I. medicinischen Klinik und dem neurologischen Institute
an der Wiener Universität. Zur Kenntniss der mit schweren
Anämien verbundenen Rückenmarksafff ctionen. Von Dr. Otto
Marburg, Assistenten am neurologischen Institute.
3. Aus der I. medicinischen Klinik in Wien (Hofrath Nothnagel).
Beitrag zur Aetiologie der B a s e d o w’schen Krankheit und des
Thyreoidismus. Von Dr. Robert Breuer, Assistenten. (Schluss.)
II. Referate: Das Breslauer Hallenschwimmbad. Von Dr. K a b i e r s k e.
Ref. Hinterberger. — Ueber Wesen und Ursache der
Zuckerkrankheit. Von Dr. med. et phil. Hans Leo. Ref. 0 ff e r.
II [. Vermischte Nachrichten.
Aus der II. medicinischen Klinik (Hofrath Neusser)
in Wien.
Ein Fall von Abdominaltyphus mit posttyphöser
Schilddrüsenvereiterung.
Bacteriologisch-hämatologische Betrachtungen.
Von Dr. Allton Schudmak, Aspiranten der II. medicinischen Klinik, und
Dr. J. Ach. Vlaclios, Hospitanten der II. medicinischen Klinik.
Seitdem der Erreger des menschlichen Abdominaltyphus
durch E berth gefunden, und von Gaffky in Reinculturen
gezüchtet wurde, gab es eine grosse Menge Forscher, die
diesem Mikroorganismus ihre grösste Aufmerksamkeit schenkten,
und die biologischen Eigenschaften dieser so wichtigen Bacillen
genau studirten. In kurzer Zeit häufte sieh eine beträchtliche
Literatur über die Eigenschaften, Lebensbedingungen und
Fortpflanzung dieser so wichtigen Gebilde auf.
Die widersprechendsten Dinge wurden als Thatsachen
hingestellt und dann widerrufen, bis sich endlich die Sache
etwas klärte und festeren Boden zu gewinnen begann.
So ging es auch lange Zeit mit einer Eigenschaft, die
diesen Bacillen manchmal zukommen soll, id est mit der
Eiterbildung.
Während es früher eine langeZeit fast als ausgemachte Sache
galt, dass sämmtliche bei Typhus auftretenden Complicationen
mit eiterigen Herden auf secundärer Infection beruhen, gelang
es zahlreichen Autoren, aufs Unzweideutigste zu beweisen, dass
die Typhusbacillen manchmal ihre Eigenschaften derart ändern
können, dass sie in verschiedenen Organen Abscesse oder
purulente Entzündungen verursachen. Freilich ist dieser Um¬
schlag in eiterbildende Eigenschaft selten, aber dass eine solche
Möglichkeit existirt, beweist nicht nur das Thierexperiment,
sondern auch die Beobachtung am Krankenbett. Das Verdienst,
auf diese Thatsache hingewiesen zu haben, gebührt in erster
Linie A. Fränkel, dessen Fall einen abgesackteu Eiterherd
im Peritoneum betraf.
Auch die Beziehungen, die diese in ihrem eigentlichen
Wesen so wenig gekannten Bacterien, respective Toxine zu
den blutbildenden Organen haben, bilden noch immer ein
Räthsel für Diejenigen, die sich intensiv mit dieser Frage be¬
schäftigen. Auch hier finden wir Widersprüche und stossen
auf grosse Schwierigkeiten, sobald wir dieser b rage etwas
näher treten.
Der Grund, der uns bestimmte, diese oben erwähnte
Eigenschaften der Typhusbaeillen näher zu studiren, bildet
folgender Fall, den wir auf der Klinik des Holratkes Neusser
zu beobachten Gelegenheit hatten. Am 2. Mai 1899 wurde
der 30jährige Maurergehilfe J, M. aus Böhmen auf die Klinik
gebracht.
Anamnese: Patient ist erblich nicht belastet. An über¬
standene Kinderkrankheiten kann sich Patient nicht erinnern. Bis
zum Ausbruche der jetzigen Krankheit, die am 23. oder 24. April
d. J. erfolgte, soll Patient ganz gesund gewesen sein.
Vor Beginn derselben soll in seinem Heimatsorte in Böhmen
eine fieberhafte Krankheit epidemisch aufgetreten sein, die der
dortige Arzt als Typhus bezeichnet hatte. In den lagen vom 23- bis
26. April hatte Patient mehrmals Frösteln, danach wieder Hitze¬
gefühl; er fühlte sich überhaupt matt und musste demzutolge die
Arbeit aufgeben und sich niederlegen, ln den folgenden Tagen
hatte er keinen Frost, wohl aber starkes Hitzegefühl, das ihm
Vormittags weniger Beschwerden machte, Abends aber sehr staik
war. Er hatte während dieser Zeit massige Kopl schmerzen und
wenig Husten. Patient hatte damals ein bis zwei dünnbreiige Stühle
täglich.
662
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 29
Am BO. April bekam Patient zweimal Nasenbluten und soll
dabei circa Blut verloren haben. Directe Schmerzen gibt Pa¬
tient nicht an, nur fühlt er sich im Ganzen schwach und abge¬
schlagen.
Polus in massigem Grade wird zugestanden, irgend welche
venerische Affection negirt.
Status praesens: Patient nimmt eine active Rückenlage
ein. Sensorium etwas benommen. Schädel normal gebaut. Haut¬
farbe blass.
Patient ist mittelgross, von kräftigem Knochenbau und massig
entwickelter Musculatur. Haut zeitweise von Schweiss bedeckt.
Pupillen normal. Gesichtsnerven intact. Lippen leicht cyanotisch.
Zunge feucht, in der Mille belegt. Gaumen und Rachen leicht ge-
üthet. Hals lang, mager. Die Schilddrüse leicht ver grösser t.
Im Bereiche der Lungen lassen sich sowohl percutorisch, wie aus-
cultatorisch ganz normale Verhältnisse nachweisen. Das Herz eben¬
falls normal. Puls von geringer Spannung. Auf der Haut des
Thorax und der Gegend des Epigastriums sind kleine hellrothe
Flecke bemerkbar, die auf Druck abblassen; ebenso am Rücken und
in der Lendengegend.
Das Abdomen ist flach. Die Untersuchung der Leber ergibt
die normalen Grenzen dieses Organes, dasselbe ist auch nicht palpabel.
Die Milzdämpfung beginnt im achten Intercostalraume, sie reicht
nach vorne bis zur Mamillarlinie und nach unten bis etwa drei
Querfinger unterhalb des Rippenbogens; an dieser Stelle ist sie
auch als mittelweicher Tumor zu palpiren. Im Bereiche der
lleocöcalgegend Gurren; dieselbe ist auch leicht aufgetrieben und
auf Druck empfindlich. Am Oberschenkel, an der Streckseite des
Knies spärliche Roseolen. Die Wadenmusculatur, wie auch die Musculi
recti abdom. nicht schmerzhaft.
Stuhl: Flüssig, mit einzelnen festen Bröckelchen von gelber
Farbe. Die mikroskopische Untersuchung ergibt Schleim, phosphor-
saure Ammoniakmagnesia und zahllose Bacterien.
Harn: Specifisches Gewicht 1024. Farbe röthl ichgelb. Reac¬
tion sauer. Nucleo- und Serumalb. schwach positiv. Urobilin positiv,
Diazoreaction positiv, sonst normaler Befund.
Blut: Nativpräparat: Geldrollenbildung normal. Keine
Grössen- oder Form unterschiede in den Erythrocyten, wenig Blut¬
plättchen, kein Fibrinnetz. Fleischl 70%- Zahl der rothen 4,750.000,
Zahl der weissen 4200. Färbeindex 075.
Trockenpräparat: Rothe Blutzellen unverändert, weisse
deutlich vermindert, eosinophile Zellen nicht auffindbar, sonst
schätzungsweise normale Verhältnisse, n u r di e L y m phocyten
erscheinen relativ vermehrt!
12. Mai. Temperatur Vormittags 38°, Abends 39 5°, Puls 96.
Respiration 24. Kein Stuhl. Im Urin nur Nucleoalbumin positiv.
Serumalbumin kaum nachweisbar, sonst normaler Befund.
13. Mai. Temperatur Vormittags 37", Abends 39-3°, Puls 98.
Respiration 24. Ein Stuhl.
14. Mai. Temperatur Vormittags 36'9°, Abends 38‘9°. Puls
und Respiration wie oben. Im Urin nur noch Nucleoalbumin in
Spuren. Diazoreaction negativ. Ein Stuhl.
15. Mai. Temperatur zwischen 374° und 38'5°. Puls und
Respiration wie bisher. Urinbefund derselbe.
10. Mai. Temperatur Vormittags 37°, Abends 39°. Puls 94.
Respiration 22. Kein Stuhl. Im Urin derselbe Befund. Blutbefund:
Nativpräparat: Normale Geldrollenbildung. Blutplättchen normal.
Kein Fibrinnetz. Zahl der rothen 4,900.000, Zahl der
weissen 4800. Fleischl 75%. Trockenpräparate: Normale Verhält¬
nisse der Erythrocyten. Keine Eosinophilen auffindbar.
17. Mai. Temperatur Vormittags 37'8°, Abends 394. Puls 96.
Respiration 24. Ein Stuhl. Milz scheint etwas zurück gegangen zu
sein, sonst derselbe Befund.
18. Mai. Temperatur Vormittags 37'7°, Abends 39-5°.
Puls 102. Respiration dieselbe. Ein Stuhl. Urinbefund unver¬
ändert.
19. und 20. Mai. Derselbe Befund.
21. Mai. Temperatur zwischen 37’4° und 39'4°. Puls 1 02-
Respiration 22. Milzschwellung deutlich zurückgegangen. Dieselbe
ist nur einen Querfinger unter dem Rippenbogen palpabel.
22. Mai. Temperatur, Puls und Respiration wie oben. Ein
Stuhl. Harnanalyse unverändert. Patient hatte bisher jeden Schmerz
negirt, heute ist die — wie im Status angegeben — etwas ver-
grösserte Schilddrüse druckempfindlich, sonst nichts Abnormes.
23. Mai. Temperatur Vormittags 38‘4°, Abends 3930.
Puls 104. Respiration 24. Ein Stuhl. Der Harnbefund derselbe.
Zahl der weissen 8800. lieber der Struma ist die Haut leicht
geröthet. Die Schwellung der Schilddrüse hat zugenommen, sie ist
auch auf Druck schmerzhaft. Hire Consistenz ist elastisch.
2 4. Mai. Status idem.
25. Mai. Temperatur Vormittags 37'5°, Abends 39°. Puls 100.
Respiration 24. Kein Stuhl. Struma nimmt an Grösse zu und
ist heute mehr schmerzhaft. Keine Fluctuation.
26. Mai. Temperatur Vormittags 38", Abends 38’4°. Puls 92.
Respiration 24. Ein Stuhl. Die Blutuntersuchung ergibt: Zahl der
rothen 4,610.000, Zahl der weissen 13.100. Fleischl 73. Das Ver-
hältniss der weissen normal, und zwar:
Decursus morbi. 5. Mai. Temperatur Vormittags 38\3°,
Abends 38‘8°. Puls 90. Respiration 24. Zwei flüssige Stühle. Im
Stuhle phosphorsaure Ammoniakmagnesia. Kein Schleim.
6. Mai. Temperatur Vormittags 38'6°, Abends 39'8°. Puls 1 14.
Respiration 24. Ein Stuhl. Im Urin Nucleoalbumin negativ. Serum¬
albumin positiv. Diazoreaction negativ.
7. Mai. Temperatur Vormittags 38'3Ö, Abends 40°. Puls 98.
Respiration 26. Ein Stuhl. Im Urin Serumalbumin. Diazoreaction
positiv.
8. Mai. Temperatur Vormittags 38'4°, Abends 39 4°. Puls 92.
Respiration 26. Ein Stuhl. Im Urin Nucleo- und Serumalbumin
positiv. Diazoreaction ebenfalls positiv. Blutbild: Im Nativ¬
präparate normale Geldrollenbildung der Erythrocyten. Kein Fibrin-
netz und spärliche Blutplättchen. Zahl der rothen 4,750.000. Zahl
der weissen 4200. Fleischl 70%.
9. Mai. Temperatur Vormittags 38'3°, 2 Uhr Nachmittags 39°,
Abends 38'8°. Puls 92. Respiration 24°. Die Widal’sche Reac¬
tion in Verdünnung 1:30 und 1:50 positiv.
10. Mai. Temperatur Vormittags 37 4“, Abends 39 4°. Puls 94,
etwas dikrot. Respiration 24. Kein Stuhl. Im Urin Nucleo- und
Sei umalbumin schwach positiv. Diazoreaction negativ. Sensorium
ganz frei. Patient klagt über gar keine Schmerzen.
11. Mai. Temperatur 37'2°, Abends 38'9°. Puls 90. Respira¬
tion dieselbe. Zwei Stühle. Im Urin derselbe Befund wie oben.
Dasselbe im allgemeinem Befinden des Patienten.
Polynucleär-neutrophile
77-5%
Eosinophile ....
0-3%
Uebergangsformen .
34%
Grosse mononucleäre
Leukocyten
1-1%
Lymphocyten
18-0%
Erythrocyten unverändert. Keine kernhaltigen Erythrocyten. Der Zu¬
stand des Patienten wie gestern.
27. Mai. Temperatur 376 — 38'4°. Zustand derselbe.
28. Mai. Temperatur Vormittags 37' 1 Abends 37'8°. Puls 94-
Respiration 221 Zustand derselbe.
29. Mai. Patient ist heute fieberfrei. Puls 92. Respiration 24.
Ein Stuhl. Im Urin nur Nucleoalbumin in Spuren.
30. Mai. Vormittags normale Temperatur, Abends 38’ 1°.
Puls 92. Respiration 24. Ein Stuhl. Zahl der weissen Blutkörper¬
chen 12.108.
31. Mai. Vormittags normale Temperatur, gegen Abend 37’8°.
Kein Stuhl. In der Struma lässt sich geringe Fluctuation consta-
tiren. Dieselbe wurde punctirt und die Function ergab Eiter.
1. Juni. Normale Temperatur. Ein Stuhl. Die bacteriologische
Untersuchung des Eiters ergibt Typhusbacillen.
Bis zum 4. Juni nur leichte, bis zu 38° steigende Temperatur¬
erhöhung; am 3. Juni Zahl der weissen 14.200.
4. und 5. Juni normale Temperatur. Befund derselbe.
Nr. 29
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
GO 3
6. Juni normale Temperatur. Heute wurde die Struma auf der
Klinik des Hofrathos Albert incidirt, der Eiter entleert und die
Wunde drainirt.
7. Juni normale Temperatur. Der Verband wurde gewechselt,
das Drainrohr belassen.
8. Juni. Nach dem Verbandwechsel leichte Temperatursteige¬
rung, die aber nach einer Stunde wieder zur Norm zurückkehrte.
Zahl der weissen 11.200.
9. — 13. Juni normale Temperatur. Zahl der weissen 11.400.
Subjectives Befinden wohl.
14. — 22. Juni normale Temperatur. Blutbefund vom 15. Juni
normal. Die Wunde verheilte ganz unter entsprechender Behand¬
lung. Befinden subjectiv und objectiv wohl.
23. Juni. Patient wird geheilt entlassen.
Wenn wir nun unseren Fall näher betrachten, so ergeben
sich die Hauptfragen, die in Betracht zu ziehen wären, von selbst.
Vor Allem galt es, die Natur der in der Thyreoidea aufgetretenen
Geschwulst zu eruiren. Zu diesem Zwecke führten wir eine Probe-
punction aus. die nun Folgendes ergab: Man bekam eine volle
P r a v az-Spritze gelblichen, trüben Eiters, der einen leichten Stich
ins Röthliche aufwies. Mikroskopisch untersucht, konnten wir im
ungefärbten Präparate fast ausschliesslich Eiterzellen mit theilweise
noch gut erhaltenen, theilweise schon zerfallenen Kernen sehen;
sonst liessen sich gar keine Gebilde in Bezug auf ßacterien con-
statiren. Die Färbung mit Anilinfarbstoffen erwies jedoch bald, dass
ausser den Leukocyten noch Bacterien vorhanden waren, und zwar
Stäbchen, die in Bezug auf Länge ungefähr der Hälfte eines rothen
Blutkörperchens entsprachen, und etwa zweimal so lang wie breit
waren. Ausser diesen Stäbchen waren gar keine anderen Bacterien
vorhanden. Da die Färbung nach G r a m negativ ausfiel, liess sich
mit grosser Wahrscheinlichkeit vermuthen, dass wir es hier mit
einem der Coligruppe ungehörigen Bacterium zu thun haben und
zwar entweder mit dem Typhusbacillus selbst, oder mit dem Bac¬
terium coli commune.
Fis wurden nun sechs Agarplatten- und zwei Gelatineplatten-
culturen von dem Eiter angelegt, und schon nach 12 — 14 Stunden
bekamen wir auf den Agarplatten einen grauweissen, transparenten,
nicht besonders dicken Belag, ln den Präparaten des hängenden
Tropfens, die wir von diesen Agarculturen anfertigten, zeigte sich
eine schlangenartige, sehr rasche Beweglichkeit dieser Bacillen.
Auf den Gelatineplatten war um diese Zeit noch nichts
gewachsen, was den Verdacht auf Typhusbacillen erwecken musste,
da bekanntlich derselbe im Gegensatz zum Bact. coli ein lang¬
sameres Wachsthum besitzt und erst nach ungefähr 48 Stunden
auf diesem Nährboden sieb entwickelt. Demzufolge führten wir
auch genaue Differentialproben durch, die sämmtlich zu Gunsten
des Typhusbacillus ausfielen, denn es zeigte sich, dass auf Zusatz
dieser Culturen zur Milch dieselbe keine Gerinnung aufwies, dass
in Bouillon eine deutliche Trübung entstand, dass auf Schüttel¬
zuckeragar überimpft, keine Gährung zu Stande kam, dass im
Peptonwasser nach Zusatz von lern3 Kali nitr. und 3 gtt. Acid,
sulfur, keine Färbung, mithin kein Indol entstand, und dass end¬
lich die Kartoffelcultur, welche lege artis in der nach Gaffky
beschriebenen Weise ausgeführt, deutliche Merkmale des Typhus¬
bacillus aufwies.
Auch die W i d a 1 - Gr u b e r’sche Probe, die wir mit diesen
Culturen und mit dem von demselben Patienten stammenden Serum
veranstalteten, fiel positiv aus, denn in einer Verdünnung 1 : 30
und 1 : 50 konnten wir schon nach 15 — 20 Minuten unter dem
Mikroskop beobachten, wie die anfangs sehr lebhafte Beweglichkeit
dieser Bacterien allmälig abnahm, um zahlreichen Agglutinations¬
herden Platz zu machen.
Diese Proben bewiesen also aufs Entschiedenste, dass wir es
in unserem Falle mit einer Eiterung zu thun hatten, die mit der
primären Krankheit, i. e. mit dem Abdominaltyphus im innigsten
Zusammenhänge stand. Nebenbei wollen wir noch bemerken, dass
wir auch bemüht waren, den Weg dieser metastatischen Infection
nachzuweisen und zu diesem Zwecke auch vom Blut und Harn
Agarplatten anlegten, die aber ohne Erfolg waren, denn die Platten
blieben steril.
Zahlreiche Fälle in der Literatur beweisen, dass der
4 ypktisbacillus als Eitererreger eine grosse Rolle, spielte. Fast
alle die Fälle beziehen sich, abgesehen von ganz geringen Aus¬
nahmen, auf posttyphöse Erkrankungen und gaben demzufolge
zu verschiedenen Meinungen Anlass.
Wenn wir nun die Ansichten der hervorragendsten
Forscher in Betracht ziehen, und auch auf unseren hall aus¬
dehnen wollen, so wäre zunächst diejenige hervorzuheben, die
Baumgarten vertritt. Nach ihm soll dem Typhusbacillus
als solchem gar keine pyogene Eigenschaft zukommen, denn
sämmtliche bei Typhus vorkommende Eiterungen sollen als
Mischinfection mit anderen Coccen oder pyogenen Bacterien
aufgefasst werden; und wenn man auch in einem gewöhnlich
ziemlich spät sich entwickelnden posttyphösen Abscesse nur
Typhusbacillen findet, so ist doch die Möglichkeit nicht aus¬
geschlossen, dass die anfangs reichlich vorhandenen eigentlichen
Eitererreger durch die später eingedrungenen Typhusbacillen
überwuchert und zum Absterben gebracht wurden, mithin nicht
nachgewiesen werden konnten.
Entgegen dieser Annahme müssen wir doch hervorheben,
dass diese Auffassung nicht immer zutrifft. Speciell in unserem
Falle, wo wir doch den Eiter ziemlich früh untersuchten, und
wo die Eiterung als solche auch nicht spät auftrat, müsste es
doch sonderbar sein, wenn wir noch anderen Bacterien ausser
dem allein gefundenen Typhusbacillus irgend welche Rolle zu¬
schreiben wollten. In dieser Hinsicht können wir auch auf Ex¬
perimente hinweisen, die Burci anstellte. Diesem Autor ist
es nämlich gelungen, durch Impfversuche mit Gemischen ver¬
schiedener pyogener Bacterien und Typhusbacillen nachzu¬
weisen, dass sich der Typhusbacillus im Thierköiper doch nicht
so resistent verhält, wie Baum garten meint, denn es
stellte sich heraus, dass von den subcutan injicirten Misch-
culturen der Typhusbacillus vom Abscesseiter ziemlich früh
verschwand, während die übrigen Formen ganz gut prospe-
rirten. Es fehlt übrigens nicht an zahlreichen Experimenten,
die von den hervorragendsten Autoren angestellt wurden und
die aufs Deutlichste beweisen, dass man durch Impfung von
Typhusbacillen allein Eiterung hervorrufen kann.
Auch uns ist es gelungen, durch Impfung dieses Typhus¬
bacillus auf Kaninchen Abscesse nicht nur an den Injections-
stellen, sondern auch an entlegenen Organen hervorzurufen,
und zwar nicht allein durch Impfung mit den Bacillen, die
wir von der Strumitis rein cultivirt haben, und die vielleicht
als der abgeschwächte Bacillus betrachtet werden dürften,
sondern auch mit den verstärkten.
Wenn wir nun zu der auf Grund von Experimenten
von Buchner aufgestellten Theorie übergehen wollen, mit der
auch 14 i n t z e die eitererregende Wirkung zu erklären sucht,
so würde sich ein Unterschied dadurch erweisen, als doch
Buchner, wie wir noch übrigens unten Gelegenheit haben
werden, dies näher zu betrachten, beweisen will, dass nur der
abgeschwächte Bacillus eine eitererregende Wirkung besitzt.
Diese B u c h n e r’sche Theorie würde uns vielleicht Aufklärung
darüber geben können, warum die Eiterungen beim Typhus
für gewöhnlich spät auftreten, manchmal sogar nach vollstän¬
digem Abklingen der primären Erscheinungen; dass es aber
auch Fälle gibt, in welchen die Eiterung im Höhestadium der
Krankheit aufgetreten ist, d. i. in dem Momente, wo der
Typhusbacillus sich in seiner höchsten Virulenz befindet, wo
also nach Buchner’s Theorie diese Eigenschaft gegenüber
ihrer allgemeinen Wirkung zurücktreten sollte, wie dies z. B.
der Fall von Je an sole me beweist, wo die Schilddrüse schon
am 15. Krankheitstage zu schwellen begann und dann in
Eiterung überging, dies lässt sich nicht in Einklang bringen
mit dem, was oben bemerkt wurde. Umsoweniger können wir
dies daher in Einklang bringen mit unseren Resulaten, die wir
aus den mit verstärkten Typlmsbacillen ausgeführten Experi¬
menten bekommen haben. Wenn wir jedoch die Experimente
von Dmochowski und Janowski zu Rathe ziehen, dann
dürfte das Resultat stimmen. Diese Autoren haben nämlich
bewiesen, dass auch der stark virulente Typhusbacillus, der
Allgemeinerscheinungen zu erzeugen im Stande ist, auch ört¬
liche Eiterung hervorrufen kann, und nur dann, wenn die Allgemein¬
wirkung sehr bedeutend ist, tritt der Tod schon zu einer Zeit
664
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 29
ein, bevor noch überhaupt an die Möglichkeit einer Eiterent¬
wicklung zu denken ist. Und was nun die Frage betrifft,
warum sich manchmal Typhusbacillen in anderen Organen,
als in denen ihres eigentlichen Wirkungsortes iocalisiren. so
sind wir der Ansicht, dass sich die Typhusbacillen im Ver¬
laufe eines Abdominaltyphus hauptsächlich dort ansiedeln, wo
ein locus minoris resistentiae gegeben ist, wie es hier die ver-
grösserte und wahrscheinlich in ihrem histologischen Baue ver¬
änderte Schilddrüse gewesen. Ein solch verändertes Organ ist
nicht immer im Stande, den eingedrungenen Bacterien Wider¬
stand zu leisten und dieselben nehmen nun überhand. Da sie
aber hier auf ganz andere Verhältnisse stossen, als in den Ab¬
dominalorganen, sind auch die äusseren Erscheinungen,
i. e. das Krankheitsbild, ein anderes, als gewöhnlich ihrer
Thätigkeit entspricht.
Und da muss vor Allem auffallen, dass, obwohl die
Schilddrüse sehr häufig verändert ist, es dennoch so selten zu
Eiterung in diesem Organe bei Typhus kommt (die Zahl der
bis jetzt veröffentlichten Fälle von Strumitis typhica dürfte
nicht mehr als 10 — 12 ausmachen). Die Bedingungen zur Ent¬
wicklung von Mikroorganismen in diesem Organe sind ja
gegeben, denn dieses Organ ist nicht nur sehr stark
vascularisirt, es besitzt auch im Degenerationszustande einen
guten Nährboden für Bacterien, indem die Degeneration
meistens eine colloide ist und das Colloid sehr geeignet für
Entwicklung von Bacterien erscheint. Und wenn es trotzdem
so selten zu eiterigen Entzündungen kommt, so ist es vielleicht
dem Umstande zuzuschreiben, dass die Thyroidea wahrschein¬
lich irgend welche Substanzen producirt, die mit den Toxinen
der eingedrungenen Mikroorganismen sich binden und zu un¬
schädlichen Substanzen werden.
Dass ein locus minoris resistentiae nicht nur durch histo¬
logische Läsion, sondern auch durch chemische oder mechani¬
sche Schädigung für die eitererregende Wirkung des Typhus¬
bacillus von grosser Wichtigkeit ist, beweisst folgender von
Latkowski veröffentlichter Fall. Bei einer Patientin, die
mit der Diagnose Sepsis puerper. in die Abtheilung des Pro¬
fessors Parenski in Krakau gebracht und dementsprechend
mit Terpentininjectionen behandelt wurde, traten im weiteren
Verlaufe der Krankheit Abscesse an den Stellen auf, wo die Injec-
tionen gemacht worden waren ; die bacteriologische Untersuchung
des Eiters ergab jedoch Typhusbacillen. In diesem Falle also
handelte es sich offenbar nicht um Sepsis, sondern um Typhus,
den man aus den durch denselben Bacillus hervorgerufenen
Abscessen mit Sicherheit diagnosticiren konnte, und die chemi¬
sche oder vielleicht auch noch mechanische Läsion der Ge¬
webe an den Injectionstellen war hier das prädisponirende
Moment für das Zustandekommen der Eiterung.
Die zweite Frage, die wir nun zu besprechen hätten,
steht mit der ersten in einem innigen Zusammenhänge.
Warum sollte während des ganzen Verlaufes der Krank¬
heit, so lange sich dieselbe im Abdomen abspielte, das Blut¬
bild eine Verminderung der farblosen Elemente aufweisen,
während dasselbe mit einer Vermehrung einherging, sobald
dasselbe Agens peripher wirkte?
Was nun diese Frage betrifft, so sind diesbezüglich
verschiedene Theorien aufgestellt worden. Ohne auf das eigent¬
liche W esen der Leukocytose, respective Leukopenie näher
einzugehen, wollen wir kurz die plausibelsten Ansichten der
Autoren erwähnen, die zur Erklärung so der Vennehrung wie
der \ ermindernng der Leukocyten im Blute dienen sollten.
Die Leukocytose soll bei Infectionskrankheiten nichts
Anderes sein, als der Ausdruck eines Reizes, welchen die im
menschlichen Körper angehäuften Bacterien, respective Toxine
auf die Hauptstätten der weissen Blutkörperchen, und zwar
sämmtlicher lymphatischer Apparate ausüben. So lange diese
Noxe angehäuft ist, so lange trachtet der Organismus sich der¬
selben zu entledigen, und zwar durch Auswanderung weisser
Zellen, die nun als Wall den Krankheitsherd umgeben, die
Toxine auf saugen und aus dem Körper eliminiren.
Dieser Theorie, welche von Metschnikoff aufgestellt
wurde, schlossen sich auch andere Autoren mit geringen Modi-
ficationen an.
Diese Theorie musste aber auch einer anderen Erschei¬
nung gerecht werden, die im Verlaufe mancher Infections¬
krankheiten beobachtet wird, und zwar der Leukopenie, die
vornehmlich den Typhus charakterisirt. Diese Thatsache, die mit
der Annahme von der reizenden Wirkung der Bacterien,
respective Toxine nicht in Einklang steht, trachtete man da¬
durch zu erledigen, indem man annahm, dass es auch Toxine
gebe, welche sich conträr verhalten, indem sie eine abstossende
Wirkung auf die weissen Blutzellen zeigen. Da nun die
Typhustoxine eine negative Chemotaxis besitzen sollen, müsste
auch das Blutbild, welches durch dieselben beeinflusst wird,
eine Leukopenie als Endresultat aufweisen.
Und was nun die Frage betrifft, warum dieselbe Toxine,
wTenn das Krankheitsbild ein verändertes ist, indem sich der
ganze Process an einem anderen Orte als in abdomine ab¬
spielt, und mit Eiterung einhergeht, eine Leukocytose hervor¬
ruft, so könnte man dies ja dadurch erklären, dass schon die
Eiterung als solche auf eine Aenderung des Agens hinweist,
indem diese Eigenschaft nur abgeschwächten Bacterien zu¬
kommen soll, mithin würden auch die von ihnen gebildeten
Toxine eine andere Wirkung besitzen. Als Beleg hiefür sollte
auch die Pneumonie dienen, die, wenn sie mit Leukopenie
einhergeht, prognostisch sich viel ungünstiger gestalten soll,
indem sie auf die grosse Giftigkeit der Pneumococcen hin¬
weist. Die Experimente, die Buchner mit verschiedenen
Proteinen anstellte, bewiesen bald, dass es diesbezüglich keine
Ausnahme gibt, dass vielmehr sämmtlichen Proteineu eine und
dieselbe Eigenschaft in Bezug auf die Wirkung auf weisse Zellen
zukommt, indem dieselben immer eine Vermehrung dieser farb¬
losen Gebilde hervorrufen, wobei es sich auch, nebenbei be¬
merkt, herausstellte, dass von allen Proteinen die des Typhus¬
bacillus am intensivsten heranlockend wirkten. Trotzdem er¬
klärt Buchner, gestützt auf die Experimente von Ga-
bri t s ch e w sk y, dem es gelungen ist, bei Kaninchen mit
jungen, 24 Stunden alten Culturen eine negative Chemotaxis
hervorzurufen, die typhöse Leukopenie dadurch, dass in
den jungen vollkräftigen Culturen eines hochvirulenten In-
fectionserregers kein Untergang, keine Involution von Bac-
terienzellen, daher auch keine Ausscheidung von Zellinhalt
und keine Anlockung stattfindet, während in älteren und in
bei 120° C. z. B. sterilisirten Culturen dies stattfindet. In den
jungen Culturen mag vielmehr die abstossende, lähmende
Wirkung der gebildeten Toxine auf die Leukocyten über¬
wiegen.
Diese Theorie hat thatsächlich viel Bestechendes für sich,
denn sie könnte uns so die Eiterung, wie die mit derselben
verbundene Leukocytose mit einem Schlage erklären in dem
Sinne, als wir annehmen würden, dass die Eiterung durch ab¬
geschwächte Typhusbacillen zu Stande kam und den von
involvirten Bacillen stammenden, schwachen Toxinen eine
lenkocytotische Wirkung zukäme. Trotzdem konnten wir doch
nicht den Gedanken verwerfen, der sich unwillkürlich auf¬
drängte, ob nicht auch der Localisation eine Rolle zuzu¬
schreiben wäre in Bezug auf Leukocytose und Leukopenie.
Um uns daher gewisse Klarheit diesbezüglich zu ver¬
schaffen, stellten wir Experimente an, die uns diese Fragen
beantworten sollten.
Wir theilten unsere Experimente in drei Hauptgruppen
ein, und zwar:
1. Wir injieirten zuerst Kaninchen subcutan gleiche
Mengen einer frischen 24stündigen Cultur, welche vom Eiter
des Patienten herrührte.
2. Wir experimentirten weiter in gleicher Weise mit
denselben, aber verstärkten Bacterien. Die Virulenz derselben
erhöhten wir in der Weise, dass wir obige Bouillonculturen,
durch mehrere Kaninchen nacheinander durchschickten und
zuletzt diese so verstärkte Culturen anderen Kaninchen in-
jicirten.
3. Wir überimpften zuletzt reine Toxine, die wir durch
Filtriren im Bacterienfilter erhielten.
Nr. 29
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
665
I. Experimente *) (schwache Bacterien).
Kaninchen A.
Datum
Gewicht
in
Grammen
Zatil der
weissen
Blutkör¬
perchen
Anmerku ng
10. Juni
1160
9.500
Intraperitoneale Injection von T5cm3
einer mit dem Strumaeiter angelegten
24stündliclien Cultur.
12. Juni
1150
12.500
Esslust vermindert. An der Injectionsstelle
nichts zu finden.
13. Juni
1129
15.000
Kaninchen frisst wenig. Injectionsstelle
normal.
14. Juni
—
—
Wird getödtet.
14. Juni. Section: Nach Eröffnung der Bauchhöhle sieht
man an der Serosa der Gedärme bohnengrosse, weisse Auflagerun¬
gen, in welchen Eiter enthalten ist; dasselbe im Omentum majus.
Innere Organe hyperämisch, sonst intact. Gedärme injicirt. Follikel
und Plaques normal. Drüsen normal. Milz etwas weicher. Gultur
der Abscesse. 15. Juni Bacterium coli!
Kaninchen B.
Datum
Gewicht
in
Grammen
Zahl der
weissen
Blutkör¬
perchen
/
Anmerkung*
10.
Juni
1120
12.000
Subcutane Injection von T5 cm3 derselben
Cultur unter die Haut der Dorsalgegend.
12.
Juni
1112
16.800
An der Injectionsstelle deutliche Ge¬
schwulst zu fühlen. Auf Druck reagirt
das Kaninchen mit Abwehrbewegungen.
13.
Juni
1098
17.100
Geschwulst etwas zugenommen.
14.
Juni
1102
17.000
Status idem.
16. Juni. Section: Innere Organe normal. An der Injections-
stelle eine über pflaumengrosse Geschwulst mit weisslichgelbem
Eiter gefüllt: Culturen 17. Juni Typhusbacillen. (Differentialdiagno¬
stisch identificirt.)
Kaninchen C.
Datum
Gewicht
in
Grammen
Zahl der
weissen
Blutkör¬
perchen
Anmerkung
10. Juni
925
8.000
Intraperitoneale Injection wie bei Kanin¬
chen A.
12. Juni
918
13.700
Keine Geschwulst. Kaninchen unver¬
ändert.
14. Juni
918
14.100
Dasselbe.
17. Juni. Zahl der weissen vor der Section 13.200. Die
Section ergab einen negativen Befund der inneren Organe. An der
Injectionsstelle am Peritoneum parietale eine kleine umschriebene
Geschwulst. Nach Eröffnung derselben Eiter. Culturen Typhusbacillen.
(Differentialdiagnose positiv.)
') Anmerkung: 1. Wir wählten zu unseren Experimenten Ka¬
ninchen aus dem Grunde, weil bei ihnen die Schwankungen in der Leuko-
cytenzahl gering sind, obwohl sich dieses Thier für Typhusexperimente nicht
am besten eignet; die Zahl der Leukocyten beträgt normal 8000 — 12.000.
2. Um eine Verdauungsleukocytose ausschliessen zu können, Hessen wir von
der Zählung und letzten Nahrungsaufnahme mindestens l'/2 — 2 Stunden
verstreichen. 3. Wir nahmen nur einige Zählungen vor, weil sich die
Abscesse ziemlich rasch resorbiren. 4. Wir geben hier nur die positiven
Resultate an.
II. Verstärkte Bacillen.
Kaninchen A.
Datum
Gewicht
in
Grammen
Zahl der
weissen
Blutkör¬
perchen
Anmerkung
5. Juli
1195
11.500
Subcutane Injection von 1 g Bouillon-
cultur, welche vorher durch drei Kanin¬
chen durchgeschickt wurde. Ort : Dorsal¬
gegend.
6. Juli
1187
13.200
Injectionsstelle geschwollen.
8. Juli
1184
15.100
Geschwulst etwas grösser, schmerzhaft.
12. Juli
1180
14.600
Geschwulst dieselbe.
13. Juli. Section. An der Injectionsstelle diffus ausgebreitete
Entzündung des Unterbautzellgewebes mit eiterigem Belag. Innere
Organe normal. Cultur Typhusbacillus.
Kaninchen B.
Datum
Gewicht
in
Grammen
Zahl der
weissen
Blutkör¬
perchen
Anmerkung
5. Juli
1080
12.000
Intraperitoneale Injection von 1 g Bouillon-
cultur, welche vorher durch drei Kanin-
7 j
eben durchgeschickt wurde. Oit: Dorsal¬
gegend.
7. Juli
1081
9.000
Nichts Abnormes.
9. Juli
1075
6.200
Etwas abgemagert. Keine Fresslust. Ver¬
hält sich passiv.
12. Juli
1060
5.000
Dieselben Erscheinungen, aber in höherem
Grade.
14. Juli
1047
4.600
Dasselbe.
15. Juli. Section: Innere Organe hyperämisch. Peritonealdrüsen
geschwollen, nirgends Injectionsstelle sichtbar. Gedärme mit flüssigem,
schleimig-klebrigem Inhalt gefüllt. Dünndarm injicirt. Cöcum und
Dickdarm mit geschwollenen Plaques. An einzelnen Stellen erhabene
erbsengrosse Infiltrate. Eines davon mit einem schorfartigem Belage;
nirgends Substanzverluste.
Culturen aus dem Darminhalte: Bact. coli (Differentialdiagnose
negativ).
Culturen von der mit schorfartigem Belage infiltrirten Stelle:
Typhusbacillen (Differentialdiagnose positiv).
Toxine.
Kaninchen A.
Datum
Gewicht
in
Grammen
Zahl der
weissen
Blutkör¬
perchen
Anmerkung
18. Juli
1250
7.000
Injection mit 2 g Toxin einer eintägigen
Cultur subcutan in die Dorsalgegend.
20. Juli
1246
1 1 .300
Kaninchen verhält sich normal. An der
Injectionsstelle eine Resistenz fühlbar.
23. Juli
1243
13.100
Dasselbe.
24. Juli. Section: An der Injectionsstelle Anhäufung weisser
Zellen in Form eines ziemlich dicken Belages, sonst normaler
Befund.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 29
606
K a n inch e n B.
«-*■
Gewicht
in
Grammen
Zahl der
weissen
Blutkör¬
perchen
Anmerkung
18. Juli 967
9.300
Injection mit 2 g Toxin einer eintägigen
verstärkten Cultur intraperitoneal.
21. Juli 96 t
10.100
Nichts Auffälliges.
23. Juli 971
10.600
Nichts Auffälliges.
25. Juli. Section: Vollkommen negativer Befund.
Anf Grund unserer Experimente ergibt sich vor Allem
die Thatsache, dass die eitererregende Wirkung ebenso den
abgeschwächten, wie den vollkräftigen Typbusbacillen zukommt.
Dieser Befund ist übrigens, wie wir schon eingehend bemerkt
haben, nicht neu; er geht auch aus den Experimenten, die
im ausgedehnten Masse Dmochowski und Jano wski an¬
stellten, hervor.
Auch diese Autoren beweisen, dass der Typhuserreger
wenigstens bei Thieren, mit Ausnahme der sehr hochvirulenten
Bacterien, eine Eiterung erregen könne. Dass diese Eigen¬
schaft den mit sehr starken Toxinen ausgestatteten Bacterien
nicht zukommt, findet vielleicht hierin ihren Grund, dass die
Thiere unter Allgemeinerscheinungen so rasch zu Grunde
gehen, dass eine Eiterung überhaupt sich gar nicht ent¬
wickeln kann.
Und wenn wir nun zu einem concreten Schlüsse gelangen
wollen, so müssen wir zunächst hervorheben, dass die Theorie,
welche unsere Frage auf specifisch-toxische Wirkung zu be¬
antworten sucht, absolut nicht zutrifft. Dieselbe spricht von
einer positiven und negativen Chemotaxis und stützt sieh auch
hie und da auf Beobachtungen, die man in prognostischer
Hinsicht wahrnehmen sollte, dass, je grösser die Leukocytose,
desto besser die Prognose, mithin auf den innigen Zusammen¬
hang zwischen Blutbefund und Virus.
Wenn somit die Leukocytose, respective Leukopenie beim
Typhus nicht vom Virus abhängen sollte, so muss es denn
andere Momente liiefür geben.
In den oben angeführten Experimenten muss es auf¬
fallen, dass wir mit Ausnahme eines Falles (Kaninchen B ,
verstärkte Bacillen) immer eine Leukocytose als Effect der
Impfung bekamen, obwohl wir sowohl mit schwachen, wie mit
starken Bacterien arbeiteten.
Und wenn wir uns auch auf die Meinung Virchow’s
stützen, wonach jede bedeutende acute Drüsenreizung eine
schnelle Zunahme der Lymphkörperchen im Blute zur Folge
hat, jede Krankheit, welche Drüsenreizung mit sich bringt,
auch den Effect haben wird, das Blut mit grösseren Mengen
von farblosen Blutkörperchen zu versorgen, mit anderen
Worten einen leukocytotischen Zustand zu setzen, und wenn
wir dies mit den Angaben Buchne r’s und unseren Experi¬
menten verbinden, wonach die Typhusbacillen und deren
Toxine absolut reizend wirken, so wäre das Ausbleiben dieses
Effectes nur dem Umstande zuzuschreiben, dass die Drüsen
beim Abdominaltyphus, so lange derselbe sich unterhalb dem
Diaphragma, i. e. in den Mesenterialdrüsen, Follikeln und
Plaques abspielt, in ihrem Wesen derart geschädigt werden,
dass sie diesem Reize keine Folge leisten und somit das Blut
mit ihren Producten nicht mehr versehen können. Denn nur
so wäre es zu erklären, warum bei demselben Patienten, so
lange sich der Process in abdomine abspielte, das Blut eine
- Leukopenie aufwies, während dieselbe sich in eine Leukocytose
verwandelte, sobald derselbe Bacillus in der Schilddrüse seine
Thätigkeit entwickelte.
Auch der Verlauf gibt uns diesbezüglich manchen Auf¬
schluss. Es handelte sich ja um eine Eiterung, die zur Zeit
auftrat, als wir ja annehmen konnten, dass sich beim Patienten der
Darmtractus von seiner Krankheit erholt hatte, dass somit, um
mit Tum as zu sprechen, der ausgebreitete Eiterungsprocess
der Schilddrüse zum Herd der Versorgung der Blutgefässe
mit Leukocyten werden konnte, Dank der schon reizungs¬
fähigen Drüsen. Und wenn wir das Blutbild näher betrachten,
so erfahren wir auch hier, dass die Leukopenie, die bei unserem
Patienten bestand, zur Zeit, als noch keine Eiterung vorhanden
war, hauptsächlich die neutrophilen betraf. Dies würde auch
den Befunden, die Biegaiiski anführt, genau entsprechen,
indem er constant beim Typhus eine Verminderung der neu¬
trophilen beobachtete, die manchmal sogar bis 20% reichen
sollte. Auch T ü r k bestätigt diese Befunde und nimmt daher
an, dass die Typhustoxine eine hemmende Wirkung sowohl auf die
Production neuer, wie auf die Weiterentwicklung circulirender
Lymphocyten zu polynucleären haben sollen.
Wenn wir nun annehmen, dass die neutrophilen Leuko¬
cyten in der Blutbahn aus den Lymphocyten gebildet werden,
so bedarf es doch einer kolossalen Leistung der Lymphdi iisen,
um nicht nur diesen Verlust auszugleichen, sondern auch noch
das Blut mit überzähligen Producten zu versehen, um eine
Leukocytose zu bewerkstelligen, was wohl bei intacten Drüsen
möglich ist, nicht aber bei krankhaft veränderten. Daher
glauben wir auch, dass hier bei der relativen Lymphocytose
eine hemmende Wirkung nicht eintritt; im Gegentheil, es
kommt, wie bei den anderen Toxinen, zu einer Reizung, die
jedoch nur insoweit befolgt werden kann, als die Drüsen nicht
geschädigt sind. Denn nur so könnten wir vielleicht einer
anderen Auffassung auch gerecht werden, vermöge welcher
die neutrophilen als Knochenmarksproducte angesehen werden.
In diesem Falle also könnten wir annehmen, dass die
neutrophilen im circulirenden Blute erst zu Grunde gehen,
wofür sogar manche Autoren die sogenannten Schatten dieser
Zellen als Beweis anführen wollten, während die Lymphocyten
als Producte anderer Provenienz dies, wie oben bemerkt, aus¬
zugleichen suchen und bis zu einem gewissen Grade es auch
erreichen. Da jedoch der Untergang der neutrophilen grösser
ist, als die Production der Lymphocyten, resultirt daraus eine
Leukopenie, die natürlich nicht bestehen würde, wenn die
Drüsen im physiologischen Gleichgewichte stiindeD.
Dies erinnert uns doch an einen Fall, der in der Klinik
Nothnagel beobachtet wurde, und wo im Verlaufe einer
fieberhaften Krankheit, die anfangs keine bestimmte Sym¬
ptome machte, metastatische Abscesse auftraten, die auf
Staphylococceninfection beruhten. In diesem Falle wurde auf
Grund der bacteriologischen Untersuchung und der negativ
ausgefallenen Widal-Grube Eschen Probe trotz der beste¬
henden Leukopenie die Diagnose >Sepsis« gestellt. Man konnte
doch, gestützt auf den Zusammenhang zwischen Virus und
Blutbefund, die Leukopenie ganz gut erklären, wenn man an¬
nimmt, dass, je stärker das Virus, desto geringer die Leuko-
cytenzahl, umsomehr, als der Fall wirklich letal verlief.
Was stellte sich aber bei der Autopsie heraus? Es war
eine Sepsis, welche sich an einen Typhus mit hochgradig ver¬
änderten Mesenterialdrüsen anschloss.
Nun ist es auch kar, warum wir in unseren Experimenten
immer eine Leukocytose bekamen, obwohl wir Bacterien von
verschiedener Virulenz injicirten. Waren doch die Drüsen der
zum Experimente gebrauchten Thiere intact und sie konnten
somit auf den Reiz reagiren, mit Ausnahme dieses einen Falles,
wo es uns gelang, die Krankheit aufs Abdomen zu beschränken
und das anatomische Bild eines Typhus mit veränderten Drüsen
aber ohne Complicationen, zu erzeugen; hier blieb auch der
Effect nicht aus, denn wir bekamen, Dank der Veränderung
im lymphatischen Apparate, eine Leukopenie.
An der Hand dieser Theorie glauben wir obige Frage
beantwortet zu haben, und wir können dieselbe nicht schliessen,
ohne erwähnt zu haben, dass man in letzter Zeit auf unserer
Klinik den Drüsen grosse Aufmerksamkeit schenkte und nicht
nur die Leukopenie beim Typhus, sondern auch bei anderen
Krankheiten auf Grund dieser Theorie zu erklären suchte.
Blum machte auf die Möglichkeit dieses Umstandes zuerst
aufmerksam und wies darauf hin, dass die Leukopenie auch
anderen Krankheiten eigen ist, sobald dieselben mit Verän
derungen der abdominellen Lymphapparate einhergehen. So
soll z. B. auch bei Influenza eine Verminderung der weissen
Nr. 29
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
667
Zellen auftreten, sobald dieselbe auf den Magen-Darmtractus
sich beschränkt, obwohl der Iufluenzabacillus sonst Leuko-
cytose hervorruft, und demzufolge keine negativ-chemotaktische
Wirkung besitzt. Dieselbe Regel lässt sich auch für die Tuber-
culose aufstellen, die, sobald sie als Darmtuberculose auftritt,
eine Leukopenie verursacht. Gestützt also auf diese Behaup¬
tungen wollten wir nur experimentell das begründen, was schon
vorher theoretisch einleuchten musste, und dies glauben wir
auch erreicht zu haben.
Nur durch Zufall sahen wir uns genöthigt, noch eine
Frage in Erwägung zu ziehen, wie dies aus den Experimenten
ersichtlich.
Als wir mit Typhusbacillen experimentirten, dieselben
mit verschiedenen Kaninchen injicirten, um Eiterung hervor¬
zurufen, und den aus diesen Abscessen stammenden Eiter
bacteriologisch untersuchten, da stellte es sich in einem Falle
heraus, dass, obwohl in diesem Experimente Typhusculturen
injicirt wurden, der Abscesseiter das Bact. coli enthielt und
zwar ohne Beimischung vom eigentlichen Abscesserreger, i. e.
vom Typhusbacillus (Kaninchen A7 schwache Bacillen).
Eine Möglichkeit konnte in diesem interessanten Befunde
nicht ausgeschlossen werden. Wie oben ersichtlich, handelte es
sich um Abscesse, die in der Bauchhöhle entstanden und durch
schwächere Bacillen, wie wir in der Prämisse annahmen, her¬
vorgerufen wurden. Es ist daher annehmbar, dass diese Ab¬
scesse nicht durch lebende Typhusbacillen, sondern durch im
Thiere abgestorbene entstanden sind, ähnlich wie wir es bei
Tuberkelbacillen haben, die, wenn sie abgetödtet sind, Eiterung
hervorrufen können.
In solche Abscesse können nun andere Bacterien ein¬
wandern, in erster Linie das Bacterium coli, denn dieses Bac¬
terium ist immer im Abdomen in Bereitschaft. Wir fanden
daher das eingedrungene Bacterium coli, nicht aber den auf¬
gelösten Typhusbacillus.
Da aber die Lyoner Schule sich auf die Experimente
von Rodet und Roux stützt und den Typhusbacillus für
eine Modification des Bacterium coli betrachtet, indem sie
annimmt, dass unter Umständen das eine Bacterium in das
andere durch Aenderungen seiner Eigenschaften übergehen
kann, so wäre vielleicht die Möglichkeit vorhanden, dass sich
in diesem Falle etwas im Thierkörper oder im künstlichen
Nährboden vollzog, was eine solche Modification verursachte.
Kurz zusammengefasst ergeben sich mithin folgende
Schlüsse :
1. Allem Anscheine nach kommt die eitererregende
Eigenschaft dem Typhusbacillus als solchem zu, und ist von
seiner Virulenz nicht abhängig, mit Ausnahme der allzuviru¬
lenten Formen, die in Folge der stürmischen Erscheinungen
die Eiterbildung nicht zulassen.
2. Die Leukopenie beim Abdominaltyphus scheint die
Folge der Localisation dieser Krankheit in den Hauptapparaten
der Leukocytenbildung zu sein und steht zum Virus der Typhus¬
bacillen in gar keinem Verhältnisse, da dasselbe, absolut
peripher sich localisirend, eine Leukocytose verursacht.
Nunmehr erfüllen wir die angenehme Pflicht, unserem
hochverehrten Chef, Herrn Hofrath Prof. Neusser, für das
uns zur Verfügung gestellte Material, und dem geehrten Herrn
Assistenten Dr. Ritter v. S t ej s k a 1 für die Anregung zu
dieser Arbeit und die allseitige Unterstützung unseren besten
Dank auszudrücken.
Benützte Literatur.
Blum Victor, Ueber leukopenische Befunde bei Infectionskrank-
beiten. Wiener klinische Wochenschrift. 1899, Nr. 15.
Boekmann A., Ueber die quantitativen Veränderungen der Blut¬
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Nr. 15. Ref.: Wiener klinische Wochenschrift. Nr. 36.
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Derselbe, Die Bacterienproteine und deren Beziehung zur Ent¬
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Derselbe, Die chemische Reizbarkeit der Leukocyten und deren
Beziehung zur Entzündung und Eiterung. Berliner klinische Wochenschrift.
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Aus der I medicinischen Klinik und dem neurologischen
Institute an der Wiener Universität.
Zur Kenntniss der mit schweren Anämien ver¬
bundenen RückenmarksafTectionen.
Von Dr. Otto Marburg, Assistenten am neurologischen Institute.
So mannigfach die klinischen Bilder bei mit schweren
oder — wie Nonne sie nennt — »letalen« Anämien einher¬
gehenden Rückenmarksaffectionen sind, von völliger Symptomen-
losigkeit bis zu tabiformen Erscheinungen, so gleichartig ist
ihre pathologisch-anatomische Grundlage. Gleichartig in dem
668
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRiFT. 1900.
Nr. 29
Sinne, dass es sieh stets um nacheinander aufschiessende, sich
streng an die Gefässe haltende Herde von myelomalacischem
Charakter handelt, die durch Confluenz grössere Plaques
bilden und die Tendenz zeigen, vorwiegend die Rückenmarks¬
hinterstränge zu befallen, wobei ein stärkeres Ergriffensein
des Halsmarkes unverkennbar ist.
Die Fälle, die einen derartigen Befund gegeben haben,
waren jedoch meist von kürzerer Dauer; ein bis zwei Jahre,
selten drei bis vier, und nur v. Voss theilt eine Beobachtung
mit, bei der die Anämie, die erst zuletzt perniciös wurde, acht
Jahre währte, spinale Symptome aber erst vier Jahre ante
mortem auftraten.
Es erscheint darum berechtigt, die Untersuchung eines
Falles mitzutheilen, der durch zehn Jahre spinale Erscheinun¬
gen zeigte und während seines Aufenthaltes an der Klinik
den Blutbefund einer schweren Anämie darbot.
Der Fall, der mir von der Klinik Hofrath Nothnagel
gütigst überlassen wurde, wofür ich an dieser Stelle meinen
tiefgefühltesten Dank ausspreche, hat folgende Krankheits
geschickte, die ich auszugsweise wiedergebe.
Der 00 Jahre alte Schauspieler B., der hereditär unbelastet
ist und sich stets wohl befunden hat, obwohl er mehrere Feldzüge,
zuletzt den im Jahre 1870/71, mitgemacht und ausserdem noch
viele Strapazen erduldet hatte, merkte schon seit 1889, dass bei
längerem Stehen eine Ermüdung ausschliesslich des rechten Beines
auftrat. Doch schenkte er diesem Leiden keine Aufmerksamkeit, erst
als im Juli 1899 auch das linke Bein ergriffen wurde und die
Mattigkeit zunahm, dazu sich unter Frost- und Hitzegefühl, das
14 Tage anhielt, typische lancinirende Schmerzen beider Unter¬
extremitäten gesellten, wurde Patient beunruhigt; trotzdem ging er
seiner Beschäftigung nach, wenn ihn nicht ein besonders nach An¬
strengungen auftretendes Anschwellen bald des rechten, bald des
linken Beines zur Ruhe zwang, wonach die Schwellung nach zwei¬
tes dreitägiger Dauer zurückging. Auch Parästhesien der Beine,
sowie Gürtelgefühl bestanden. Die Parese der Beine nahm derart
zu, dass Patient seit Ende October das Bett hüten muss.
Die lancinirenden Schmerzen schwanden, doch traten Mitte
October Parästhesien der Hände auf. Ausser Obstipation keine
Blasen- und Mastdarmstörungen. Patient, der äusserst intelligent ist,
leugnet Potus und Lues entschiedenst; von seinen zwei Kindern
kam das eine nach sieben, das andere nach acht Monaten zur Welt
und starben kurz nach der Geburt.
Bei der Aufnahme am 26. December 1899 fiel besonders die
Blässe der Haut und Schleimhäute auf. Dem entsprach ein Hämo¬
globingehalt von 80% (Fleischl), im nativen Präparate machte sich
starke Poikylocytose geltend, im gefärbten vereinzelte, kernhaltige,
rolbe Blutkörperchen (Normoblasten) keine Megaloblasten und starke
Poikylocytose, keine Leukocytose.
Aus dem übrigen Status liebe ich nur hervor, dass die grobe
Kraft der oberen, sowie besonders der unteren Extremitäten stark
heraligesetzt war, die Motilität oben frei, Stehen und Gehen aber
war unmöglich; die Sensibilität hatte nicht gelitten, nur die tiefe
scheint in den unteren Extremitäten abgestumpft. Von den Reflexen
fehlten Bauchdecken und Cremasterreflexe völlig, desgleichen auch
Patellar- und Achillessehnenphänome. Die anderen waren leicht
auslösbar. Blasen- und Mastdarmstörungen wurden vermisst.
Patient, der an völliger Appetitlosigkeit leidet, verfällt
sichtlich. Es tritt Temperatursteigerung auf, die schliesslich kurz
ante mortem 40° erreicht. Der Tod erscheint in letzter Linie durch
Herzinsufficienz herbeigeführt.
Der klinischen Diagnose: Anaemia gravis, Degeneration
der parenchymatösen Organe, Degenerationes in medulla
spinaliex anaemia, Pneumonia terminalis, entsprach der anatomi¬
sche Befund: Hochgradige allgemeine Anämie mit fettiger
Degeneration des Herzmuskels, der Leber und Nieren. Acutes
Lungenödem. Atrophie der Magenschleimhaut.
Dem möchte ich nun noch den Befund im Rückenmarke,
Gehirn und peripheren Nerven hinzufügen, zuvor jedoch kurz
den Fall nach der klinischen Seite besprechen.
Er zeigt in keinerlei Weise eine Incongruenz mit den
anderen derartigen Beobachtungen; Paresen und Parästhesien
sind die stetigen Frühsymptome, sie bleiben oft allein, oder
werden, wie im vorliegenden Falle, durch Verluste der Re¬
flexe complicirt.
Immer aber bleibt auffällig, wie gering im Verhältnis zu
dem ausgebreiteten anatomischen Processe die klinischen Symp¬
tome sind. Selbst eine so lange Daner, wie die der in Rede
stehenden Beobachtung, eine — wie ich des Weiteren aus¬
führen werde — so verbreitete Veränderung im Rückenmarke
— war nicht im Stande, einen anderen Symptomencomplex
zu erzeugen als in jenen Fällen, deren Dauer kaum ein bis
zwei Jahre beträgt. Dass darin ein besonderes diagnostisch
verwerthbares Merkmal liegt, wurde schon von den ersten
Beobachtern hervorgehoben. Eine Incongruenz der Symptome
mit den anatomischen Läsionen lässt sich jedoch nicht
finden.
Ich erhielt die Präparate in Mülle r’scher Flüssigkeit und
fand bei Betrachtung verschiedener Rückenmarksquerschnitte,
in den Hintersträngen am deutlichsten, jedoch auch in den
Seitensträngen des Halsmarkes eine beträchtliche Aufhellung
gegenüber der Umgebung; dieselbe liess sich leicht durch
Farbenunterschiede als aus kleinen Herden zusammengesetzt
erkennen.
Zwecks mikroskopischer Untersuchung wurden etwa
20 Höhen dem Rückenmarke entnommen und nach Marclii
behandelt, andere nach den gebräuchlichen Methoden
(W e i g e r t Pal, Nachfärbung mit Alaun-Cochenille nach
Czokor, Hämalaun, van G i e s o n) gefärbt, desgleichen der
Hirnstamm.
Um die Theile, welche negative Befunde ergaben, vor¬
wegzunehmen, erwähne ich nur, dass die peripheren Nerven
Isehiadicus, Cruralis, Vagus sowohl im Zupfer, als im Schnitt
sich frei von Degenerationen zeigten, was sich ja mit den von
Anderen erhobenen Befunden mit Ausnahme des v. No o r d e n-
schen deckt. Desgleichen fand sich im Gehirn nur in der
Medulla oblongata eine Degeneration, die jedoch nur bis ans
Ende der Hinterstrangskerne zu verfolgen ist, wenn man von
den einzelnen degenerirten Fasern im Strickkörper absieht,
die von den tiefer liegenden Herden herrühren.
Auch fällt ein oviformes, zwischen der spinalen Acusticus-
wurzel und dem Corpus restiforme gelegenes Bündel auf, das
von schwarzen Körnchen durchsetzt, hart am Rande des
Nucleus cuneatus — dort wo er sein cerebrales Ende findet
— eine Strecke weit zu verfolgen ist, hier lateral- ventral um¬
biegt, um bis etwa zur Mitte des Strickkörperquerschnittes zu
ziehen, von wo es nicht weiter zu verfolgen ist. Es könnten
dies die als Fibrae arcuatae externae posteriores bezeichneten
ungekreuzten Verbindungen des Keilstrangkernes zum hinteren
Kleinhirnstiel sein, die nach Blumenbach aus den grossen
Zellen des Keilstrangkernes ihren Ursprung nehmen. Mehr
Wahrscheinlichkeit hat jedoch die Ansicht für sich, dass
dieses Bündel die directen Hinterstrangsfasern zum Kleinhirn
enthält, da die Herde, welche die Degeneration zur Folge
haben konnten, sich erst in der Gegend der Pyramiden¬
kreuzung vorfinden.
In tieferen Ebenen erscheinen die Hinterstränge diffus
schwarz gekörnt, einzelne Körnchen in der Kleinhirnseiten¬
strangbahn, den Fasern, die um die spinale Trigeminuswurzel
ziehen, um das Corpus restiforme zu bilden, in diesem letzteren
selbst. Erst in der Gegend der Pyramidenkreuzung tritt un¬
gefähr in der Mitte des B u rdach’schen Stranges ein mässig
grosser Herd auf. Um ein fast central gelegenes Gefäss, das
dicht mit Fettkörnchenzellen besetzt ist, schliesst sich ein
grossmaschiges, lückiges Gewebe an — Lückenfeld, wie
Mager es nennt — durchsetzt von Fettkörnchenzellen und
M arc h i - Schollen, eingeschlossen von der diffus schwarzen
Körnung des übrigen Stranges. Der Charakter der meisten
Herde ist im ganzen Rückenmarke der gleiche, nur dass die
Lückenbildung Intensitätsunterschiede zeigt. Daneben findet
sich noch eine zweite Art, die sich in M a r c h i - Präparaten 7
als heller gelb, dichter gefügt, und fast ohne Schwärzung wie
ein homogenes Gewebe repräsentirt.
Neben der diffus schwarzen Körnung im Goll- und
B u r d a c h’schen Strange finden sich im oberen Halsmarke
Nr. 29
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
669
vereinzelte Körnchen im ventralen Hinterstiangsfeld, Heide
erster Art im Goll, und zwar der Fissura longit. posterior an¬
liegend einer dorsal, der zweite ungefähr der Mitte des
Septum entsprechend; desgleichen sind das hintere äussere
Feld, die mittlere Wurzelzone Flechsig’s, das Schul tze-
sche Komma ganz in derartigen Herden aufgegangen, ohne
jedoch beträchtliche Lückenbildung zu zeigen. Herde zweiter
Art sind hier zwar vorhanden, aber äusserst klein; sie liegen
den ersteren an. Die hinteren Wurzeln sind nur von verein¬
zelten groben schwarzen Schollen bedeckt, die auch die an¬
grenzende Pia mater besetzen. Die Bo gen fasern jedoch
zeigen , längs ihres Verlaufes aber stets nur von der Stelle, an
der sie aus einem Herd auftauchen, einen schwarzen Nieder¬
schlag. Es ist dieses Verhalten durch das ganze Rückenmark
zu verfolgen. Ungefähr der Mitte der Seitenstrangsperipherie
entsprechend liegt ein dreieckiger Herd im Kleinhirnseiten¬
strang. Unverkennbar tritt schon hier der Zusammenhang der
Herde mit Gefässen hervor, ein Zusammenhang, den die fast
völlige Symmetrie der Affection auf beiden Seiten noch ei-
härtet.
Etwa in der Mitte des vierten Cervicalis bis zur Hals¬
anschwellung, diese zum Theile noch einschliessend erreicht dei
Process seine grösste Ausdehnung. Zu den beiden Herden im Goll-
schen Strang ist ein dritter, im ventralen Hinterstrangsfeld ge¬
legener, getreten; die Herde im Bur dach sehen Strang, was die
Localisation anlangt gegen die früheren unverändert, zeigen den
Charakter der Herde zweiter Art, nur die laterale 1 artie des
hinteren äusseren Feldes wurde zum Lückenfeld, das auf die
Lissauer’sche Randzone übergreift, dabei auch eine eintretende
Wurzel trifft, die an dieser Stelle eine Aufhellung und vereinzelte
Fettkörnchenzellen aufweist; die von hier weiter ins Rücken¬
mark ziehenden Wurzelfasern erscheinen schwarz gekörnt.
Vereinzelten Herden in den Seitensträngen, längs der Septen,
schliesst sich ein die Mitte des Vorderstranges betreffendes,
an der Fissura longitudinalis anterior gelegenes Lückenfeld an,
an dem ich dieselbe Form wiederfinden konnte, die nach
Mager der Ausbreitung einer peripheren Arterie entspricht.
Auch die Höhe des Herdes konnte ich aus Serienschnitten be
rechnen — sie beträgt ungefähr 1 6 mm.
In der Umgebung des Vorderhornes bis zur Basis des
Hinterhornes fanden sich im \ orderseitenstrange vereinzelte
schwarze Ringe, die Markscheiden entsprechen. Die vordere
Commissur erscheint frei.
Nach abwärts nimmt die Intensität des Processes ab.
Während im oberen Brustmarke die Seitenstrangherde, wenn
auch weniger zahlreich, noch vorhanden sind, fehlen sie bereits
im mittleren. Lückenfelder weist das hintere äussere F eld aut.
Die schwarze Körnung des Gol Ischen Stranges, die zum
grossen Theile auf Fettkörnchenzellen zurückzuführen ist, die
im B u r d a c h’schen Strang — der mittleren Wurzelzone ent¬
sprechend * — wird hier vermehrt durch eine das ventrale
Hinterstrangsfeld betreffende, die reichlicher ist als die im
Halsmarke oberhalb des vorerwähnten Herdes in diesem Feld.
Die Fasern, welche die Clarke’schen Säulen umspinnen, sind
von schwarzen Körnchen durchsetzt.
Im untersten Brust- und oberen Lendenmarke nimmt die
Intensität des Processes wieder zu; die Localisation der Herde,
ihr Charakter ist der gleiche; nur fehlen die Herde in Seiten-
und Vorderstrang, sowie die diffuse schwarze Körnung des
medialen Hinterstrangsgebietes besonders in seinen dorsaleren
Antheilen. Die hinteren Wurzeln sind frei — abgesehen von
den im Halsmarke erwähnten, groben Schollen — die Bogen¬
fasern degenerirt.
Nach abwärts gegen die Mitte des Lendenmarkes klingt
der Process aber bald wieder ab, so zwar, dass ein massig
grosser Herd im Hinterstrang rings von unverändertem Ge¬
webe umgeben erscheint. Auch hier sind die Wurzeln nicht
afficirt, nur einseitig erscheinen sie mitunter von gröberen
Schollen bedeckt; im untersten Lendenmark sind diese aber
etwas feiner, beiderseitig, jedoch nicht derart gelagert, dass sie
sich genau an den Verlauf der Fasern hielten; im mittleren
Sacralmark fand ich keinerlei Veränderungen mehr.
Bevor ich diese Befunde, die ich an March i-Präparaten
gewonnen, mit denen nach anderen Methoden gefärbten ver¬
gleiche, möchte ich auf eine Ansicht Nonne’s eingehen, die
sich mit den M a r c h i- Veränderungen bei gewissen Rücken-
marksaffectionen beschäftigt — ein Umstand, der die Ausführ¬
lichkeit meiner bisherigen Darstellung entschuldigen mag.
Nonne sagt unter Anderem, »dass die Marchi-
Degenerationen uns nur den Schluss erlauben auf das Bestehen
einer trophischen Alteration, nicht aber einer Functionsschädi¬
gung der Nervenelemente«; er führt als Beweis diffuse Schollen,
die in den hinteren Wurzeln bei an Miliartuberculose, Endo¬
carditis ulcerosa Verstorbenen an, die ähnlich denen sind, die
er bei dem in Frage stehenden Processe gefunden hat und die
nichts beweisen, als dass die Trophik des Rückenmarkes
leidet.
Nun haben schon Singer und Münzer, wie ich
o-elegentlich einer vergleichend anatomischen Arbeit über den
Opticus fand, beobachtet, dass Opticus und Chiasma zu den
Organen gehören, in welchen Niederschläge selten und spärlich
auftreten; sie haben jedoch gefunden, dass derartige Nieder¬
schläge normaler Weise in den hinteren Wurzeln zu finden
sind, was auch Petren Kirchgässer gegenüber hervor¬
hebt. Nonne zieht auch die Fälle von Hirntumoren mit Dege¬
nerationen der hinteren Wurzeln herbei, um eine Erklärung
dafür zu finden, dass gerade in den hinteren Wurzeln sich die
Niederschläge linden, und citirt die Meinung Hoc lie’s und
Kirch gässer’s, die dahin geht, dass mechanische Verhält¬
nisse des Baues und der Lagerung der einstrahlenden hinteren
Wurzeln diese zur Degeneration prädisponiren.
Diese mechanischen Verhältnisse sind bereits im Jahre 1894
von Prof. Ober st ein er im Vereine mit Redlich darge¬
stellt und zur Genese der Tabes in Beziehung gebracht worden,
was ja auch Nonne in seiner zweiten Arbeit anführt. »An
der Stelle« — ich citire wörtlich Lehrbuch pag. 252 — »wo
die Wurzel die Pia mater und die Rindenschichte durchsetzt,
erfährt sie eine mitunter hochgradige Einschnürung. Die Ein¬
busse, welche ihr* Umfang hier erfährt, geschieht nur auf
Kosten der Markscheide, und es kann daher geschehen, dass
die Wurzel an dieser Stelle bei der Weigert- Färbung ganz
blass bleibt.«
Nun werden aber von diesen mechanischen Verhältnissen,
die zur Schädigung prädisponiren, in erster Linie die Lis-
s a u e r’schen Fasern betroffen, und gerade bei den Fällen von
Rückenmarksaffection bei Anämie ist die Lissauersche
Randzone stets frei von aufsteigender Degeneration. Wo Wurzel¬
fasern in dem vorliegenden Fall degenerirt waren, fand sich,
wie im Halsmarke, ein deutlicher Herd von ähnlichem Aus¬
sehen, wie der im Rückenmark selbst; und wenn sich auch an
einzelnen gröbere und feinere Schollen wie im Lendenmarke
zeigten, so war ihre Form, ihre Anordnung eine derartige,
dass sie im Zusammenhalt mit dem oft nur einseitigen Auf¬
treten derselben nur als Verunreinigung zu deuten waren; ein
guter Theil derselben weicht auch einer Differenzirung nach
P 41. Das charakteristische Verhalten der Bogenfasern, die nur
dann degenerirt erscheinen, wenn sie einen Herd durchziehen,
spricht mit für diese Ansicht.
Für den vorliegenden Fall lassen sich demnach die Mehr¬
zahl der auftretenden schwarzen Schollen als secundäre Dege¬
nerationen, bedingt durch die Herde im Rückenmai k selbst,
erklären, und für die so unregelmässig in Bezug auf Form,
Grösse und Anordnung, bald zwischen den Fasern, bald nur
einseitig in den hinteren Wurzeln befindlichen, kann man wohl
ohne Bedenken Verunreinigung als Ursache gelten lassen. Ls
ist übrigens interessant, dass schon Bikeles in einem Fall
von Facialisparalyse nach Caries des Felsenbeines bei einem
Phthisiker in der Medulla oblongata auf der erkrankten Seite
mächtige schwarze Schollen fand, die er als »geringe Li-
nährungsstörung« zu deuten gezwungen war, eine Ansu it,
die Rai mann widerlegte. .
Wenn ich noch kurz die Befunde an A\ eigert- un
van G i e s o n-Präparaten erwähne, so ergab eine Durchsic it
derselben entsprechend den Lückenfeldern baseiausa , ent
sprechend den Herden zweiter Art beträchliche Gliawucherung.
670
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 29
In den Maschen der Lückenfelder finden sich vereinzelt
besonders im Halsmark eigenthümliche Zellen von blasigem
Charakter, die, nach van Gieson gefärbt, eine blassviolette
Grundsubstanz besitzen, in der bald central, bald excentrisch
ein mehr oder minder intensiv gefärbter Kern sichtbar ist,
welch letzterer mitunter auch fehlt. Ich glaube, dass dies die¬
selben Zellen sind, die von Mager als Fettkörnchenzellen
gedeutet werden, trotz ihres mehr epithelioiden Charakters; die
Ursache hiefiir liegt, wie auch Schmaus annimmt, in der
Behandlung mit Alkohol, die derartige »Kunstproducte erzeugt«.
Dieselben Zellen — und es ist kein Zweifel, dass es dieselben
sind, fasst man nur ihre Lage in den Lücken und den peri-
vasculären Räumen ins Auge — bezeichnen B öd ec leer und
Juliusburger als Gitterzellen, weil sich in ihnen ein
»feines Netz oder Gitterwerk« befindet, mit fünfeckigen, stets
aber polygonalen Maschen. Auch Einschlüsse enthielten diese
Zellen, unter anderen »eine rothe Masse von unregelmässiger
Contour, von der varicös verdickte Fortsäze ausliefen«. Das
Gitterwerk in solchen Zellen war in Zerfall begriffen. Anderer¬
seits fanden sie Spinnenzellen mit eben angedeutetem Gitter¬
werk, so dass man die Vermuthung hegen könnte, »die Gitter¬
zellen könnten die Rolle der Mutterzellen in der Genese der
Spinnenzellen spielen.«
Diese letzten Befunde, die man unter der Immersion
ganz deutlich wahrzunehmen im Stande ist, kann ich nur be¬
stätigen, ihrer Deutung jedoch mich keineswegs anschliessen.
Wie schon vorerwähnt, spricht besonders die Lage, des
Weiteren die mannigfachen Einschlüsse für die Mager’sehe
Auffassung. Die feine Structur könnte man sich vielleicht in
folgender Weise entstanden denken. Mit dem rapiden Zerfall
des Gewebes konnte die Reaction darauf, die Bildung der
W randerzellen, nicht Schritt halten, so dass die wenigen anfangs
vorhandenen mit Fetttröpfchen vollgepfropft wurden, die ihrer¬
seits sich gegenseitig abplatteten und polygonale Formen an-
nahmen; die Vacuolen, die in einzelnen Zellen beschrieben
werden, entsprächen grösseren Fetttröpfchen, die Einschlüsse
anderweitigem Gewebsdctritus, in dem sich ganz gut auch eine
zu Grunde gegangene Spinnenzelle befinden kann. Vom Alko¬
hol ausgelaugt zeigt sich dann die beschriebene feine Structur.
Wird eine solche Zelle vom Saftstrom nicht fortgeschleppt,
so verfällt sie eben — in dem Maschennetz zurückgehalten —
wie dieses dem Untergang; und das erklärt, dass einzelne blass,
ohne Kern, ohne Structur, nur hie und da eine Vacuole zeigend,
sich im Gewebe finden.
Von den anderen Gewebselementen sind die Piasepten
der erkrankten Partien von Fettkörnchenzellen bedeckt;
während im gesunden Theile die Gliazellen normales Verhalten
zeigen, sind sie gegen die Lückenfelder hin geschwollen, der
Kern undeutlich, und ihre gleichfalls geschwollenen Fortsätze
bilden die Grenzen der Maschen, die von Gewebsdetritus tlieil-
weise erfüllt sind. Die Achsencylinder sind theilweise ge¬
schwollen, theilweise ihrer Markscheide beraubt; am meisten
jedoch scheinen die Gefässe gelitten zu haben, die den Cha¬
rakter einer chronischen Entzündung aufweisen.
Die Intima ist vielfach breiter als normal, was hier für
alle Gefässe von den Capillaren bis zu den grossen Gefässen
in den Furchen Geltung hat.
Mächtige Verdickungen zeigt die Media, die oft homogen,
hyalin erscheint, die Adventitia hat durch neugebildetes Gewebe
fast um das Doppelte zugenommen; dabei machen die jungen
Bindegewebszellen der Peripherie bei schwachen Vergrüsserungen
oft den Eindruck kleinzelliger Infiltration, so gehäuft er¬
scheinen sie.
Die Elastica weist, wie Orceinpräparate zeigen, keine
Veränderungen auf.
Kleinzellige Infiltration selbst vermochte ich nirgends
nachzuweisen. Hingegen fanden sich besonders im Halsmark
um die Vorderhornzellen, in der Gegend der Mittelzellen, wie
auch im Körper des Hinterhornes kleinste Blutaustritte: die¬
selben zur Genese dieses so ausgebreiteten Processes in Be¬
ziehung zu bringen, wie dies Teichmüller versucht hat,
will ich unterlassen, da es viel wahrscheinlicher ist, dass die¬
selben mit der terminalen, infectiösen Temperatursteigerung in
Zusammenhang stehen.
Wie erwähnt, fand sich nirgends kleinzellige Infiltration,
und auch die so stark veränderten Gefässe Hessen dieselben
vermissen.
Damit wäre die nosologische Stellung dieses Processes,
der bald als Myelomalacie, wie jüngst erst von Dana, bald
als Myelitis gedeutet wird, zu Gunsten der ersteren entschieden,
wenn man nach Mager die kleinzellige Infiltration der Gefäss-
wand und perivasculären Räume als Kriterium der Entzündung
gelten lässt. Nun hat Binz seinerzeit betont, welche Bedeu¬
tung dem Sauerstoff für die Emigration der weissen Blutkörper¬
chen zukomme, dabei auch die Ansicht Kühne’s erwähnt,
dass der Sauerstoff des Hämoglobins ebenso wirkt, wie der
unserer Atmosphäre. Er kommt zu dem Schlüsse: »Immer
aber muss zuerst ein relativ ventilirtes Blut da sein; ohne
dieses ist die filtrirende Wirkung des Druckes für die farb¬
losen Zellen fast Null.« Dasselbe gilt auch für die Gifte, welche
die Sauerstoffaufnahme hindern.
Wo hätten diese Ansichten mehr Grund, beachtet zu
werden, als in den Fällen von Anämie mit Rückenmai'ksver-
änderungen, bei denen der Hämoglobingehalt Werthe wie
10% Fleischl, (Nonne Fall 12 der dritten Abhandlung)
20% (Minnich Fall 3 und 5) oder im vorliegenden Falle
30% erreicht? Man kann hier demnach das Fehlen der In¬
filtration nicht herbeiziehen, um den Charakter des Krankheits-
processes zu bestimmen, denn trotz desselben sprechen die
Gefässveränderungen im Zusammenhang mit den B i n z’schen
Ansichten sehr zu Gunsten der Entzündung. Abgesehen von
der Media, die ihr Aussehen ebenfalls dem bestehenden Senium
verdanken könnte, obwohl Nonne auch bei jüngeren Indivi¬
duen ein ähnliches gefunden hat, spricht die lebhafte Wuche¬
rung des adventitiellen Gewebes sehr gegen einen degenerativen
Process; ein sicherer Schluss ist jedoch nicht gestattet.
Viel leichter lässt sich hingegen der von Rothman n
zuerst vertretenen Ansicht, als seien die Rückenmarksaffectionen
sogenannte combinirte Systemerkrankungen — einer Ansicht,
der auch v. Voss gestützt auf Flechsig’s gewichtiges Ur-
theil für gewisse Fälle beitritt — entgegentreten, besonders
wenn man jene Fälle von combinirter Systemerkrankung aus¬
schaltet, in deren Verlauf sich Anämie dazugesellte (Fälle von
Werner und Müller, mitgetheilt von Nonne in seiner
dritten Abhandlung). Es kann hier nur die Auffassung
Nonne’s der bezüglich der vorliegenden Affection wohl über
die meiste Erfahrung verfügt und die eingehendsten Unter¬
suchungen nach jeder Richtung angestellt hat, Geltung haben,
die dahin geht, dass es sich um eine intraspinale, durch die
Gefässe vermittelte Affection handle, ein Gedanke, der von
G ö b e 1 an der Hand einer grösseren Anzahl von Fällen Be¬
stätigung fand. Die Lage der einzelnen Herde an gefässführen-
der Septen, oder um ein centrales Gefäss in den Seitensträngen
besonders hervortretend und hier bald in der Pyramidenbahn,
bald in der Kleinhirnseitenstrangbahn zu finden, ohne dabei
Vorderstrang- und Seitenstranggrundbündel zu schonen, das
vorwiegende Befallensein der Seitenstränge des Halsmarkes,
während diese vom mittleren Brustmarke an frei sind, dürften
in diesem Falle genugsam beweisend sein. Aber auch die Art
des Zustandekommens der Veränderungen, oder vielmehr die
Ursache ihrer Localisation lässt sich aus dem mikroskopischen
Bilde herauslesen. Allenthalben wird das auffällige Befallensein
des Halsmarkes betont, das, wie die Frühfälle Nonne’s be¬
weisen, auch primär erkrankt. Nun gehören die erkrankten
Partien dem Gefässgebiet der Arteria vertebrospinalis posterior
an, die ihre Endverästelungen, oder besser gesagt, ihre Ver¬
einigung mit den Intercostalarterien unter Bildung des Tractus
arteriosus posterolateralis in der Höhe der vierten oder fünften
Cervicalwurzel hat. Diese Arterie liegt von sämmtlichen Rücken-
marksgefässen dem Herzen am nächsten, so dass im Blute
circulirende Schädlichkeiten die von ihr versorgten Gebiete
zunächst schädigen müssten.
Aber gerade die Frühfälle Nonne’s bewiesen mir die
Unhaltbarkeit dieser Ansicht.
Nr. 29
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
671
In den Fallen 6 — 10 der dritten Publication zum Beispiel 1
finden sich stets neben Affection des Halsmarkes eine solche
des unteren Brust- und oberen Lendenmarks. Und doch ist in
der Gefassvertheilung die Ursache der Localisation zu suchen;
denn die erwähnten beiden Gebiete sind die mit Blut bestver¬
sorgten, insoferne als das Haismark betreffend hier die Spinalis
mit den Intercostales zur Plexusbildung Zusammentritt, im
Lendenmark und unteren Brustmark fällt das stärkere Er¬
griffensein des Querschnittes mit dem Auftreten von Plexus¬
bildungen im Gebiete der Arteria spinalis magna zusammen.
Eine Erklärung für dieses Verhalten zu finden, ohne
hypothetisch zu werden, war mir nicht möglich; und doch
scheint mir die Bedeutung der Gefässe für den Process darin
zu liegen, nicht in den Veränderungen ihrer Wandung, die
durch die Allgemeinaffection bedingt sind und sich, wie in den
Fällen von A r n i n g, Burr, Rothman n, Jacob, M o x t e r
u. A. nicht finden brauchen. Dass der Einfluss der Gefässver-
theilung auch bei anderen Affectionen sich vorfindet, dafür ist
ein ziemlich gutes Beispiel in jenen perivasculären Sklerosen
gegeben, die von Redlich bei Paralysis agitans im Halsmark
in der Gegend der Anschwellung und im Lendenmark hier
an der gleichen Stelle beschrieben wurden. Dass individuelle
Verschiedenheiten die Localisation zu verschieben im Stande
sind, liegt auf der Hand. Desgleichen lässt sich die Propagation
des Processes für diesen Fall leicht durch seine lange Dauer
erklären, das Befallensein der Hinterstränge jedoch wieder
dadurch, dass die Blutversorgung hier für die einzelnen Seg¬
mente eine gewisse Selbstständigkeit gegenüber der anderer
Partien besitzt, insoferne, als fast jedem Segment eine Inter-
costalarterie entspricht.
Ich möchte daher aus den erörterten Fragen folgende
Schlüsse ziehen:
Die bei Marchi-Färbung auftretenden Degenerationen
finden ihre Erklärung in den Herden de3 Rückenmarkes; die
vereinzelte Schollen bildung in der Gegend der hinteren Wurzeln
möchte ich als Verunreinigung ansehen.
Die nosologische Stellung dieses Processes ist nicht sicher
bestimmbar; doch könnte man ihn hauptsächlich wegen der
Gefässveränderungen und mit der B i n z’schen Ansicht, die
Leukocytenauswanderung werde durch Vorhandensein genü¬
gender Mengen Sauerstoffs bedingt, als Grundlage eher der
Myelitis zurechnen.
Die Localisation ist bedingt durch die Gefässanordnung;
ihre Tendenz geht dahin, die mit Blut bestversorgten Gebiete
primär zu befallen.
Für die Fülle von Anregungen und die gütige Unter¬
stützung meiner Arbeit fühle ich mich meinem verehrten Chef,
Herrn Professor Obersteiner, zu tiefstem Danke ver¬
pflichtet.
Citirte Arbeiten.
Obersteiner, Anleitung- beim Studium des Baues der nervösen
Centralorgane im gesunden und kranken Zustande.
H. Obersteiner und E. Redlich, Ueber Wesen der Patho¬
genese der tabischen Hinterstrangsdegeneratiou. Vorläufige Mittheilung.
Arbeiten aus dem Institute für Anatomie und Physiologie des Centralnerven¬
systems an der Wiener Universität. Heft 2.
M. Non n e, Beiträge zur Kenntniss der im Verlaufe der perniciösen
Anämie beobachteten Spinalerkranklingen. Archiv für Psychiatrie und
Neurologie. 1893, pag. 421 ff.
Derselbe, Weitere Beiträge zur Kenntniss der im Verlaufe letaler
Anämien beobachteten Spinalerkrankungen. Aus dem Vereins-Hospitale in
Hamburg. Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde. 1895. pag. 313 ff.
Derselbe, Rückenmarksuntersuchungen in Fällen von perniciöser
Anämie, von Sepsis und Senium nebst Bemerkungen über Marchi-
Veränderungen bei acut verlaufenden Processen. Aus dem allgemeinen
Krankenhause in Hamburg-Eppendorf.
W. M i n n i c h, Zur Kenntniss der im Verlaufe der perniciösen
Anämie beobachteten Spinalerkrankungen. Zeitschrift für klinische Medicin.
Bd. XXI, pag. 25 und 264 ff. Bd. XXII, pag. 20 ff.
v. Noorden, Charite-Annalen. 91.
Singer und Münzer, Beiträge zur Kenntniss der Sehnerven¬
kreuzung. Denkschriften der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften.
1889, Bd. LV.
Karl Petren, Mittheilung über eine besondere Veränderung der
Nervenfasern des Rückenmarkes, welche einer klinischen Bedeutung ent¬
behrt, nämlich die von Min n ich sogenannte hydropische Veränderung.
Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde. Bd. XV, pag. 88, Anmerkung.
B i k e 1 e s, citirt nach ßaimann, Jahrbücher für Psychiatrie und
Neurologie. Bd. XIX, Heft 1, pag. 59.
W. Mager, Ueber Myelitis acuta. Arbeiten aus dem Institute für
Anatomie und Physiologie des Centralnervensystems an der Wiener Univer¬
sität. 1900, Heft 7.
Boedecker und J u 1 i u s b u r g e r, Casuistischer Beitrag zur
Kenntniss der anatomischen Befunde bei spinalen Erkrankungen mit pro¬
gressiver Anämie. Aus der Irrenanstalt der Stadt Berlin Herzberge zu
Lichtenberg, Berlin. Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. 1898.
pag. 372 ff.
C. Binz, Der Antheil des Sauerstoffs an der Eiterbildung. Virchow’s
Archiv. Bd. LIX, pag. 293 ff.
Derselbe, Zweite Abhandlung. Virchow’s Archiv. Bd. LXXI,
pag. 181 ff.
Max Roth mann, Die primären combinirten Systemerkrankungen
des Rückenmaikes (combinirte Systemerkrankungen). Deutsche Zeiiscl rift
für Nervenheilkunde. 1895, pag. 171.
v. Voss, Anatomische und experimentelle Untersuchungen über die
Rückenmarks Veränderungen bei Anämie. Deutsches Archiv für klinische
Medicin. 1897, pag. 498 ff.
A r n i n g, Ein Fall von perniciöser Anämie mit schwerer Erkran¬
kung des Rückenmarkes. Inaugural-Dissertation. Göttingen 1891.
Burr, citirt nach Teich müller.
Jacob und M o x t e r, Ueber Rückenmarkserkrankungen und -Ver¬
änderungen bei tödtlich verlaufenden Anämien. Archiv für Psychiatrie.
1899, Heft 1, pag. 169.
E. Redlich, Beitrag zur Kenntniss der pathologischen Anatomie
der Paralysis agitans und deren Beziehungen zu gewissen Nervenkrank¬
heiten des Greiseualteis. Pag. 384 ff.
W. Teichmüller, Ein Beitrag zur Kenntniss der im Verlaufe
der perniciösen Anämie beobachteten Spinalerkrankungen. Deutsche Zeit¬
schrift für Nervenheilkunde. 1896, pag. 385 ff.
W. Goebel, Rückenmarksveränderungen bei perniciöser Anämie.
Mittheilungen aus den Hamburgischen Staatskrankenanstalten. 1898.
Charles L. Dana (New York), Subacute ataxic paralysis and
combined sclerosis, a form of spinal disease associated with lethal anaemia
and toxaemia. The Medic. Rec. 24. Juni 1899. Referat: Centralblatt für
Nervenheilkunde und Psychiatrie. 1900. Nr. 123/124, pag. 212.
Aus der I medicinischen Klinik in Wien (Hofrath Noth¬
nagel).
Beitrag zur Aetioiogie der Basedowschen Krank¬
heit und des Thyreoidismus.
Von Dr. Robert Breuer, Assistenten.
Nach einem am 15. Juni in der Gesellschaft der Aerzte gehaltenen Vorträge.
(Schluss.)
II.
Mit dem oben mitgetlieilten Fall von Morbus Basedowii
nach Thyreoiditis haben eine Anzahl von Beobachtungen, über
die ich nun berichten möchte, Eines gemein: auch hier wurde
die Basedowsche Krankheit oder ein dieser nahestehender
Symptomencomplex erzeugt, respective provocirt durch ein
Agens, dessen Angriffspunkt in der Schilddrüse zu suchen ist.
Es handelt sich nämlich um Fälle von Basedow, re¬
spective Thyreoidismus nach therapeutischem
Jodgebrauch.
Ich verdanke meine erste Kenntniss davon, welche Rolle
das Jod in der Aetioiogie mancher Fälle von Basedow
spielt, meinem Vater, Dr. Josef Breuer, der im Laufe der
Jahre eine Anzahl derartiger Fälle beobachtet hat.
Mir sind dann während meiner Thätigkeit an der Klinik
ähnliche Fälle begegnet, aber immerhin in so geringer Zahl,
dass ich nicht den Eindruck gewann, es handle sich um
häufige und praktisch wichtige Vorkommnisse. Erst im Früh¬
jahr 1. J. bestimmten mich die rasch aufeinanderfolgenden Be¬
obachtungen zweier einschlägiger Fälle dazu, der Angelegen¬
heit nachzugehen, und ich habe dann von Ende April bis
Mitte Juni hei allen Kranken, die sich mit Basedow oder
B a s e do w • ähnlichen Erscheinungen an der Klinik einfanden,
systematisch nach einer eventuellen Jodätiologie geforscht.
Dabei hat sich das für mich überraschende Resultat er¬
geben, dass ich in dieser relativ kurzen Zeit neun nach allen
Richtungen einwandfreie derartige Beobachtungen sammeln
konnte. Bevor ich über diese berichte, scheint es mir noth-
wendig, in Kürze zu resumiren, was ich über die Beziehungen
H72
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 29
zwischen .lodgebrauch und dem Auftreten Basedo w-ähnlicher
Zustände in der Literatur vorgefunden habe.
Schon bald nach der Einführung des Jods in die Therapie
(Coin de t in Genf, 1820) waren mannigfaltige unangenehme
Nebenwirkungen bekannt geworden. Aus der Reihe dieser
wurde namentlich durch Genfer Autoren (C o i n d e t, G a u t i e r,
d’E spine, Rilliet u. A.) in der ersten Hälfte des Jahr¬
hunderts ein bestimmter Symptomencomplex unter dem Namen
des chronischen constitutionellen Jodismus
herausgehoben und von den Symptomen der acuten Jodver¬
giftung (Haut- und Schleimhautaffectionen, Jodakne, Ka¬
tarrhe etc.) streng geschieden. Dieser constitutioneile Jodismus
sollte aus einer Reihe von vorwiegend nervösen Symptomen
(Herzklopfen, Zittern, Schlaflosigkeit, psychische Alteration,
Heisshunger) bestehen und sich mit rapider Abmagerung und
Kräfteverfall verbinden; seine Symptome sollten die Anwendung
des Jods noch monatelang überdauern; der Zustand sollte in
der Mehrzahl der Fälle mit allmäliger Genesung, sehr selten
mit zunehmender Kachexie und dem Tode endigen. Auffallend
war von Anfang an, dass fast ausschliesslich strumöse Per¬
sonen von diesen üblen Zufällen betroffen wurden, deren Schild¬
drüse sich unter Jodgebrauch rasch verkleinerte; bevorzugt
waren ältere Individuen.
Dagegen schienen nicht nur die Anwendungsweise,
sondern auch die Quantität des benützten Jodpräparates ver-
hältnissmässig irrelevant zu sein; von verschiedenen Seiten
wurde sogar die relativ bedeutende Schädlichkeit kleiner, ja
fast homöopathischer Joddosen bei längerer Anwendung aus¬
drücklich betont.
Dieser constitutionelle Jodismus, der seine ausführlichste
Darstellung in der Monographie von Rilliet4) gefunden
hat, wurde um die Mitte des Jahrhunderts lebhaft erörtert;
einschlägige Beobachtungen wurden in grosser Zahl aus
gewissen Kropfgegenden (vor Allem der französischen Schweiz,
dann aus Würtemberg etc.) bekannt, während aus kropffreien
Ländern (Norddeutschland, grossen Theilen von Frankreich und
England), dann aber auffallender Weise auch aus ausge¬
sprochenen Kropfdistricten bestätigende Meldungen nur in ge¬
ringer Zahl oder gar nicht einliefen.
Was die theoretische Auffassung des Zustandes angeht,
wurden schon frühzeitig Stimmen laut, welche den chronischen
Jodismus in der Weise deuteten, dass es sich nicht eigentlich
um eine giftige Wirkung des Jods selbst handle, vielmehr
liege eine Intoxication durch Stoffe vor, welche bei
der raschen Resorption einer Struma in den Kreis¬
lauf gelangen. [Roeser5), Lebert6) u. A.]
Die Richtigkeit dieser Auffassung des constitutio¬
nellen Jodismus als Thyreoidismus leuchtet heute
ohne Weiteres ein, wenn man die Identität des Symptomen-
complexes mit den Vergiftungserscheinungen nach Einfuhr von
Schilddrüsenpräparaten in Betracht zieht.
Interessant ist nun, dass in jüngster Zeit auch einige
Beobachtungen mitgetheilt worden sind, in denen sich nach
Jodgebrauch nicht nur »Jodismus«, sondern vollkommener
Morbus Basedowii (mit Exophthalmus, Graefe’s Zeichen etc.)
eingestellt hat. Denn solche Fälle waren geeignet, die Er-
kenntniss der Pathogenese des Morbus Basedowii ent¬
schieden zu fördern. Ueber einen solchen Fall berichtet
Rendu') aus Paris (bei einem jungen Mädchen trat im Ver¬
laufe einer wegen »Aortitis« eingeleiteten Jodbehandlung Ba¬
sedow auf). Ortner8) erwähnt drei derartige Fälle, und in
jüngster Zeit haben Jaunin9) und Gau tier10) in zwei sehr
interessanten Publicationen aus der alten Heimat des Jod-
Thyreoidismus (Genf) eine Anzahl ähnlicher Erfahrungen mit¬
getheilt. Immerhin handelt es sich nur um spärliche Beob¬
achtungen.
Von dem einfachen Jod-Thyreoidismus (constitutioneller
Jodismus) vollends ist es seit Jahrzehnten ganz still ge¬
worden. Die meisten Handbücher der Toxikologie und Arznei¬
mittellehre erwähnen ihn nur nebenbei als ehemals beobachtetes
Curiosum, oder als äusserst seltenes Vorkommniss, oder sie
confundiren ihn gar mit den Erscheinungen der acuten Jod-
intoxication. Nur in Genf scheint die Kenntniss dieser Jod¬
wirkung nie verloren gegangen zu sein, Jaunin und
Gautier erwähnen in ihren oben citirten Publicationen einige
Fälle dieser Art. Im Ganzen aber gewinnt man aus der neueren
Literatur mit Rücksicht auf die ganz universelle Anwendung
des Jods den Eindruck, dass es sich sowohl bei dem »Jod-
Thyreoidismus«, als bei dem »Jod-Basedow« um seltene Aus¬
nahmsfälle handle, um gelegentliche Idiosynkrasien, wie sie
auch bei anderen Mitteln hie und da beobachtet werden.
Nach meiner Beobachtung ist das nun, wenigstens für
Wien, nicht der Fall. Ich habe, wie schon erwähnt, in der
kurzen Zeit von wenigen Wochen neun sichere derartige Fälle
beobachtet, und zwar vier Fälle von durch Jod erzeugtem
Thyreoidismus (constitutioneller Jodismus der älteren Autoren),
und fünf, denen nach jeder Richtung die Bezeichnung Morbus
Basedowii gebührt.
Die auffällig grosse Zahl dieser Beobachtungen in so kurzer
Zeit legt die Vermuthung nahe, dass es sich um eine ausser-
gewöhnliche und zufällige Häufung derartiger Fälle in unserem
klinischen Material handelt. Eine solche Möglichkeit muss natürlich
zunächst zugegeben werden, wenn es mir auch wahrscheinlich ist,
dass ich die Fälle deswegen in so grosser Zahl gesehen habe,
weil ich nach ihnen gesucht hatte. Dagegen möchte ich mich
von dem Verdacht reinigen, dass ich bei der Bewerthung eines
ätiologischen Factors, der ja in den meisten Fällen nur anamnestisch
erhoben werden konnte (nur in zwei Fällen sind die Patienten vor
und nach der Joddarreichung klinisch beobachtet worden) unvor¬
sichtig vorgegangen sei. Bei der bekannten Neigung Unseres Spitals-
publicums, eine Aenderung des Befindens, irgend einem angewen¬
deten Medicament zur Last zu legen, sind ja derartige Anamnesen
durchaus nicht ohne grosse Vorsicht zu benützen. Ich habe des¬
halb in die folgende Zusammenstellung nur solche Fälle aufgenommen,
in welchen der zeitliche Zusammenhang zwischen Jodmedication
und der Erkrankung sicher (fast immer durch Vorlage der da-
tirten Recepte) nachgewiesen werden konnte. Eine Anzahl von
Fällen, in denen der fragliche Nexus mit Wahrscheinlichkeit ange¬
nommen werden konnte, mussten deshalb beiseite gelassen werden,
weil der Kranke nicht genau nachweisen konnte, was oder wann
er etwas angewendet hatte. Desgleichen fehlen im Folgenden Fälle,
die ich gleichfalls während der angegebenen Zeit beobachtete, in
welchen das Jod nur geringfügige Erscheinungen (leichte Ab¬
magerung und etwas Herzklopfen) hervorgerufen hatte; auch einige
einfache Verschlimmerungen des Zustandes von Basedow-Kranken
durch Jod, wie sie seit Langem als Regel beim Morbus Basedowii
bekannt sind, wurden nicht aufgenommen; nur einen besonders
instructively derartigen Fall möchte ich anhangsweise erwähnen.
A. Thyreoidismus (constitutioneller Jodismus) nach Jod¬
gebrauch.
Beobachtung 1. 56jährige Frau. Vater und Schwestern
Tabes. Seit Kindheit Kopfschmerzen. Während eines Partus (1872)
entstand eine Struma, die in einigen Wochen ziemlich gross wurde,
dann stationär blieb, nie Beschwerden machte. Nie besonders
nervös, hei körperlichen Anstrengungen seit einigen Jahren ganz
leichtes Herzklopfen. Sonst nie Erscheinungen des Thyreoidismus.
Patientin suchte am 13. März die Klinik auf wegen ihrer
Kopfschmerzen und leichter, ziehender Schmerzen in den Beinen.
Es wurde Arteriosklerose und ein leises diastolisches Geräusch über
dem Sternum ohne weitere Erscheinungen der Aorteninsufficienz
gefunden. Grosse, ziemlich weiche Struma. Die Frau war ruhig,
nicht aufgeregt, relativ wohlgenährt. Kein Zittern, Puls nicht be¬
schleunigt.
Verordnung: Jodnatrium.
Die Kranke nahm vom 17.— 23. März täglich circa 0 9 Natr.
jodatum. Dann vom 2. — 8. April dasselbe. Schon am Ende der
ersten Jodperiode rapide Abnahme der Struma; gleichzeitig grosse
Unruhe, heftiges Zittern; heftiges, anfallsweise auftretendes Herz¬
klopfen; Hitzegefühl, besonders hei Nacht; rapide Abmagerung trotz
guten Appetites. Der Stuhl war sonst stets leicht angehalten ge¬
wesen; seit dem Beginne der Erscheinungen erschienen dreimal
Anfälle von unmotivirt auftretenden, schmerzlosen, wässerigen Durch¬
fällen (bis 20 Stühle täglich). Die Diarrhöen hielten zweimal je
einen, einmal zwei Tage an, cessirten plötzlich wieder.
Nr. 29
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
073
Der ganze Zustand dauert an, obwohl die Kranke seit dem
8. April kein Jod mehr nimmt.
Am 28. April ergibt sich folgender Befund: Patientin seit
der letzten Untersuchung bedeutend abgemagert; sehr auf-
£ erect. Excessiver Tremor der Extremitäten. Haut heiss
(kein Fieber), Pulsfrequenz 120 in der Ruhe. Herzbefund wie
das erste Mal, aber auffallend lebhafter Herzstoss.
Struma viel kleiner; im linken Lappen fühlt man
jetzt einen haselnussgrossen Knoten.
Kein Exophthalmus. Kein Graefe. Lidschlag
auffallend selten. Blick etwas starr.
Harnbefund negativ.
Therapie: Natr. hromat. Milchdiät.
Nach zehn Tagen: Im grossen Ganzen status idem. Herz¬
klopfen und Zittern etwas geringer.
Nach weiteren acht Tagen leichte Besserung. Patientin schläft
besser. Puls 100. Schwäche und Unruhe haben nachgelassen.
Körpergewicht unverändert.
Der angeführte Fall kann als typisch für den sogenannten
»constitutioneilen Jodismus« gelten. Es handelt sich um eine
ältere Person mit lange bestehender Struma, aber ohne alle
Zeichen der B a s e d o w’schen Krankheit (respective des »Kropf¬
herzens«), bei welcher sich schon nach Gebrauch tveniger Gramme
Jodnatrium ein Krankheitsbild entwickelt, das sich aus hochgra¬
diger Abmagerung trotz reichlicher Nahrungsaufnahme, Zittern,
Herzklopfen, psychischer Erregung und Schlaflosigkeit zu¬
sammensetzt.
Mit dem Beginn der Erscheinungen fällt rapide Ver¬
kleinerung der Struma zusammen. Der Zustand überdauert
die Joddarreichung wochenlang.
Interessant ist in diesem Falle (wie in einigen der fol¬
genden) das Auftreten von Durchfällen, welche nach jeder
Richtung den bekannten Basedow-Diarrhöen gleichep.
Aehnlich wie dieser erste verlief der folgende Fall,
welcher ein männliches Individuum betrifft.
Beobachtung 2. 69jähriger Mann. Stets gesund. Seit der
Jugend starke Struma, die nie Beschwerden machte. Stets gut ge¬
nährt; keine B a se d ow- Zeichen.
Seit einigen Monaten wurde ganz leichte Abmagerung be¬
merkt, dabei guter Appetit, viel Durst, viel Urin; in jüngster Zeit
trat Doppeltsehen auf.
Am 8. März wird an der Klinik Diabetes leichten Grades
und Abducensparese links constatirt.
Im Status sonst ausser einer grossen Struma und Arterio¬
sklerose mässigen Grades nichts Abnormes. Kein Zittern, keine
Tachycardie, nichts Auffallendes an den Augen oder im Blick. Unter
mässig strenger Diät schwand der Zucker sehr rasch : die Abducens¬
parese ging langsam zurück. Körpergewicht hielt sich vom 8. März
bis 26. April constant auf 82 hg. Subjectives Wohlbfinden.
Vom 26. April an nahm Patient Jodnatrium, und zwar
durch eine Woche ly, durch eine weitere Woche 2y pro die,
dann noch durch einige Tage täglich 3 y, im Ganzen bis zum
15. Mai 30 y. In der dritten Woche der Jodnatriumdarreichung
beginnt der Kropf rasc'h abzunehmen. Gleichzeitig stellen
sich Unruhe, grosse Erregbarkeit, Zittern, Schwäche¬
gefühl, Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit ein;
Patient bemerkt, dass er rasch abmagert.
Am 15. Mai kam der Kranke wieder an die Klinik. Das
Körpergewicht hatte um 1 hg ab genommen. Grosse
Unruhe; starker feinschlägiger T r e m o r. Puls 110. An den Augen
kein Exophthalmus, wohl aber ganz auffallend weit ge¬
öffnete Lidspalten, starrer Blick. Deutlicher
Graefe. Ausgesprochenes S t e 1 1 w a g ’sches Zeichen. Keine Pu¬
pillenveränderungen. Hemdkragen um 3 cm zu weit.
In der nächsten Woche nahm, trotzdem der Appetit wieder¬
gekehrt war, das Körpergewicht neuerdings um 2 hg ab. Dabei war
Patient andauernd zuckerfrei. Tremor geringer, Augensymptome un¬
verändert. Schwächegefühl hat nachgelassen; subjectives Befinden
besser.
Im Verlaufe eines weiteren Monates nimmt Patient allmälig
noch um 2 hg ab. Bei der Untersuchung am 3. Juli fühlt sich
Patient etwas matt, sonst wohl, schläft gut. Tremor und Gr ae fe¬
sches Zeichen sind immer noch deutlich. Körpergewicht
69 V2 hg (gegen 82 vor <ier J o d th e r a p i e). Patient ist bei
recht reichlicher Milchzufuhr andauernd zuckerfrei.
Einen dritten und vierten Fall führe ich, da sie im
Wesentlichen den eben mitgetheilten gleichen, nur in Kürze an:
Beobachtung 3. 58jährige Frau. Alte Struma. Nie B a s e-
d o w-Zeichen. Nimmt wegen Gelenkschmerzen circa löy Jodkalium
binnen einer Woche, dann muss dasselbe wegen Kopfschmerzen
und grosser Mattigkeit ausgesetzt werden.
Unter leichter Verkleinerung der Struma (es handelte
sich um einen Kropf, der zum grössten Theil aus einer grossen
Cyste im Mittellappen bestand) entwickelte sich eine »unerklärliche«
hochgradigste Schwäche, Verstimmung, heftiges Zittern,
Herzklopf eüi, rapide Abmagerung (insbesondere sollen die
Mammae rasch geschwunden sein). Häufige schmerzlose D u r c h-
fälle. Bei der Untersuchung wurden ausserdem auffallend starrer
Blick, weite Lidspalten, seltener Lidschlag und deutlicher
Graefe constatirt. Keine Protrusio b u 1 b o r u m. Puls 100.
Einen Monat nach dem Aussetzen des Jods beginnt ganz
langsame Erholung..
Beobachtung 4. 52jährige Frau. Hat angeblich nie einen
Kropf, höchstens einen »etwas runden Hals« gehabt. Stets gesund.
Nahm durch zwei Monate mit zwei je einwöchentlichen Pausen
Jodnatrium (0-8 pro die), das ihr wegen eines Augenleidens
von einem Augenarzt verordnet worden war. Nach zwei Monaten
setzt plötzlich rapide Abmagerung, excessive Schwäche und Hin¬
fälligkeit ein, rasches Schwinden derBrüste. Zugleich werden
alle Kragen um fast 2 cm zu weit. Zittern, II erz¬
klopfen, starke Hitze bei Nacht, reichliche Schweisse; an
manchen Tagen zahlreiche diarrhoische Stühle, dann wieder
regelmässiger Stuhl. Appetit gut, zeitweise Heisshunger.
Der Status praesens einen Monat nach Aussetzen des
Jods ergab: Hals ganz mager, Schilddrüse nicht zu finden.
Heisse, feuchte, bräunliche, fettlose Haut. Im Gesichte ausgesprochene
kachektische Färbung. 134 Pulse. Sehr starker T r e m o r.
Etwas starrer Blick, seltener Lidschiag. Graefe’sches und
Möbius’sches Zeichen fehlen, ebenso Prominenz der Bulbi.
Nach weiteren vierzehn Tagen Status idem. Drei Wochen
später hat unter Milchdiät und indifferenter medicamentöser Be¬
handlung das Körpergewicht um 2 {j-1 hg zugenommen. Zittern und
Herzklopfen sehr gering. Patientin beginnt sich wohler zu fühlen.
Jetzt, drei Monate nach Aussetzen der Jodbehandlung, an
Heilung grenzende Besserung.
Den mitgetheilten vier Beobachtungen ist gemeinsam, dass
es sich durchwegs um ältere Personen mit alter Struma handelt,
bei denen vor der Jodtherapie keinerlei Symptome von Basedow,
Thyreoidismus oder Kropf herz (Kraus) bestanden hatten. Bei
allen entwickelte sich unter mässiger*) Joddarreichung der
geschilderte, als Thyreoidismus aufzufassende Symptomencomplex,
während die Struma rasch abnahm. Von einem classischen
Basedow unterschied sich das Krankheitsbild durch das
Fehlen eines ausgesprochenen Exophthalmus; dagegen ist es
bemerkenswert!!, dass sich bei drei Kranken (Beobachtung 2,
3, 4) eine deutlich weitere Lidspalte mit eigentliümlich starrem
Blick und S t e 1 1 w a g’schem Zeichen, bei zwei Patienten (Be¬
obachtung 2 und 3) auch deutliches Graefe’sches Phänomen
nachweisen Hess. Im Centrum des Krankheitsbildes stand in
allen Fällen die rapide, hochgradige Abmagerung.
B. Basedow’sche Krankheit nach Jodgebrauch.
In den nun mitzutheilenden fünf Fällen folgte aut
die Joddarreichung die Entwicklung eines
classischen Basedow mit wohl ausgeprägten Augen¬
symptomen (Exophthalmus, Graefe, S t e 1 1 w a g). Unter diesen
Fällen linden sich zunächst drei, bei welchen vorher alle
Symptome eines Basedow vollkommen gefehlt hatten. Nur
eine anscheinend gewöhnliche, ganz unverdächtige Struma
hatte seit längerer Zeit bestanden.
*) Die Jodgaben waren in vielen Beobachtungen (meines \ aters, von
Genfer Aerzten) unvergleichlich kleiner als in meinen lallen, oit fast
homöopathisch (jodhaltige Mineralwässer etc.).
Ü74
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 29
13 eobacli l u ng 5. 37jährige, stets gesunde, nicht nervöse Frau,
hatte seit der Pubertätszeit einen dickeren Hals, der seit dem ersten
Auftreten nicht grösser wurde, nie Beschwerden machte.
Im November 1899 erkrankte sie an Husten (angeblich
Inlluenza) und litt den ganzen Winter über mit geringen Unter¬
brechungen an Katarrhen und Heiserkeit, die ohne viel Erfolg in
der verschiedensten Weise behandelt wurden. Ende Januar 1900
bezeichnele ein Arzt ihren »Blähhals« (der sich gar nicht ver¬
ändert hatte) als mögliche Ursache der hartnäckigen Katarrhe und
verschrieb ihr eine J o d s a 1 b e. (Bis dahin waren absolut keine
B a s e d o w- Beschwerden aufgetreten, kein Herzklopfen, kein
Zittern, keine Abmagerung; Patientin fühlte sich bis auf ihren
Husten wohl.) Die Kranke machte einige (drei bis vier)
Einreibungen des Halses mit der Jodsalbe, musste aber dann
pausiren, da ein heftiger Schnupfen mit Stirnkopfschmerz auftrat
und sie sehr erregt wurde. Nach wenigen Tagen machte sich Herz¬
klopfen bemerkbar, das sich von da an stets steigerte. Schon
nach kurzer Zeit (angeblich nach vierzehn Tagen) war die Kranke
stark abgemagert und braun im Gesicht geworden. In
rascher Folge stellten sich nun Schmerzen in den Augen,
heftiges Zittern, »Fieber«, Schweisse ein. Drei Wochen nach
der letzten Jodeinreibung hatte sich eine starke Anschwellung
des Halses entwickelt, die der Kranken nach kurzem Bestehen
Athemnoth verursachte. Patientin wurde immer erregter, schlaflos;
der Appetit wechselnd : bald Appetitlosigkeit, dann wieder quälender
Heisshunger.
In dieser Weise dauerte der Zustand unter fortwährend zu¬
nehmendem, schwerem Krankheitsgefühl an. Seit Mitte April bestehen
heftige Diarrhöen; in den letzten Tagen sind an den Unter¬
schenkeln stark juckende rot he Flecken aufgetreten. Der
Gewichtsverlust seit Ende Januar beträgt angeblich 1 7 hg.
Status praesens vom 1 . Mai : Typischer schwerer
B a s e d o w. Hochgradige Magerkeit, Gewicht 43 hg. Aufgeregtes,
fahriges Wesen. Excessiver Tremor des ganzen Körpers. Haut
heiss, feucht, Temperatur 373. Braune Pigmentation im Ge¬
sicht und am Halse. An der rechten Tibia ein halbhandteller¬
grosser juckender Erythemfleck. (Wurde von einem Dermatologen,
der die Kranke untersuchte, für ein typisches toxisches
Erythem erklärt.)
Puls weich, gross: Frequenz zwischen 120 und 160
Leichte Arhythmie. Herzaction stürmisch, erschütternd. Spitzenstoss
im fünften Intercostalraum ausserhalb der Mammillarlinie. Reine Töne.
Grosse, stark schwirrende, weiche Struma. Am stärksten ist
der rechte Lappen vergrössert; an seinem äusseren Rande ein hasel¬
nussgrosser Knoten.
Starker doppelseitiger Exophthalmus, rechts stärker als links,
rechte Pupille weiter als die linke; St ell wag’s, Graefe’s und
Möbius’ Zeichen stark entwickelt. Conjunctiven stark injicirt.
Heber den Lungen mässige diffuse Bronchitis. Im Harn weder
Eiweiss noch Zucker.
Verlauf. Unter Brom und Galvanisation änderte sich der
Zustand während der nächsten vier Wochen kaum wesentlich.
Häufig Anfälle erschöpfender Diarrhöen. Körpergewicht trotz sehr
guten Appetits unverändert. Die juckenden Erythemflecken an den
Tibien treten stets von Neuem auf.
Im. Juni unter Natrium phosphoric, und Galvanisation leichte
Besserung. Herzklopfen etwas geringer, Schlaf ruhiger, keine Diarrhöen.
Aber selbst Ende Juni objectiv ausser leichter Verminderung der
Tachycardie noch keine Aenderung des Zustandes.
Beobachtung 6. 30jährige Frau. Seit der Jugend dicker Hals.
Nie auffallend nervös, stets gesund. Nie Herzklopfen, ausser bei
starken körperlichen Anstrengungen. Gar keine Basedow-
Symptome. Körpergewicht vor der Erkrankung 59 hg.
Patientin wünschte aus ästhetischen Rücksichten ihren Hals
(l infang 38cwj) zu verkleinern und nahm auf ärztliche Anordnung
vom 12. Februar durch vier Wochen täglich eine Thyreoidin-
tablelte. Keine schädlichen Folgen, aber auch keine Verkleinerung
des Halsumfanges. Nun rieb sie vom 13. März bis 25. April den
Hals mit Jod-Jodkaliumsalbe ein; eine Einreibung täglich. Während
der Cur mässige Abnahme der Struma, aber gleichzeitig starke
Abmagerung. Unruhe, Herzklopfen auch in der Ruhe.
Seit dem 25. April keine Jodeinreibungen mehr; trotzdem
halten die genannten Symptome an. Dazu hat sich noch Hitzegefühl,
Polyurie und starke Mattigkeit gesellt.
Patientin schwitzt leicht, hat guten Appetit, zeitweise lästigen
Heisshunger. Stuhlgang regelmässig.
Status praesens vom 15. Mai. Körpergewicht 53 hg.
Halsumfang 361/2CWi (früher 59 hg, respective 38 cm). Struma
parenchymatosa, zwei kleine Knötchen im linken Lappen. Der
Kropf zeigt leichtes Schwirren. Puls 104. Herzbefund normal.
Deutlicher aber geringer Exophthalmus beiderseits. Graefe
und S t e 1 1 w a g deutlich positiv. Mässiger, feinschlägiger Tremor
der Hände. Haut feucht. Im Harne nichts Pathologisches.
Beobachtung 7. 35jährige Frau. Seit der Kindheit Blähhals.
Seit Jahren häufig verstopfte Nase, viel Schnupfen. Nie Herzklopfen
oder andere Basedow - Symptome.
Im Alter von 20 Jahren rieb sie durch wenige Tage eine
Jodsalbe in die Haut des Halses. Geringe Abnahme der Struma,
keine unangenehmen Nebenwirkungen.
Im Januar 1898 begann wegen stärkerer Nasenbeschwerden
eine Localbehandlung, welche in Pinselungen mit Jod¬
glycerin in Nase und Rachen bestand. Schon nach kurzer
Zeit Uebelbefinden, Zittern, Schlaflosigkeit, Hitze,
Unruhe, Herzklopfen, ziemlich starke Abmagerung, An¬
schwellen der Struma. Diese Beschwerden schwanden einige
Zeit nach dem Ausetzen der Behandlung, um im December, als die
Pinselungen mit Jodglycerin wieder aufgenommen wurden, in ver¬
stärktem Masse aufzutreten.
Während des Jahres 1899 fand keine Nasenbehandlung statt
und Patientin befand sich während dieses Jahres bis auf gelegent¬
lich auftretendes Herzklopfen und ziemlich starke »Nervosität«
recht wohl.
Während des Januars 1900 wurden neuerdings Pinselungen
des Rachens mit Jodglycerin wegen stärkerer katarrhalischer Be¬
schwerden vorgenommen.
Seit Anfang Februar bemerkt Patientin wieder stärkeres
Zittern, Schweisse, fühlt sich schwach. Mässiges Herzklopfen,
Polyurie, zeitweise Diarrhöen. Die Struma ist seit Ende Januar
wieder deutlich angeschwollen; stärkere Abmagerung am Körper
ist diesmal nicht aufgetreten.
Seit April befindet sich die Kranke wieder besser.
Am 15. Mai fand ich bei der sehr aufgeregten Patientin eine
grosse, leichte schwirrende Struma mit einem harten, nussgrossen
Knoten im linken Lappen. Mässige Trachealstenose mit Stridor.
104 regelmässige Pulse. Geringer aber deutlicher Exophthalmus,
links etwas stärker als rechts; die linke Pupille etwas weiter als
die rechte. St ell wag’s Zeichen deutlich, Graefe angedeutet.
Heisse, stark schwitzende Haut. Lungen und Herz normal. Chroni¬
sche Pharyngitis.
An diese Fälle schliessen sich zwei weitere an, in denen
vor Einleitung der Jodtherapie bei Fehlen aller anderen Ba¬
sedow-Symptome durch längere Zeit Herzklopfen be¬
standen hatte, das eventuell als Zeichen eines bereits latenten
Basedow gedeutet werden kann. Die Jodtherapie rief dann
das ganze Krankheitsbild acut in die Erscheinung.
Beobachtung 8. 35jährige Frau. Im 22. Jahre trat während
einer Entbindung eine Struma auf, die seither nicht wuchs. Stets
gesund, nicht nervös, keine B as e d o w -Zeichen.
Im Sommer 1898 heftiger Schreck; darnach durch mehrere
Tage heftiges Herzklopfen, das aber wieder schwand, und nur hie
und da bei starken Erregungen auftrat. Im Herbste 1898 einige
Einreibungen des Halses mit Jodsalbe ohne Schaden, aber auch,
ohne dass der Hals kleiner wurde. 1899 hie und da etwas Herz¬
klopfen, sonst vollkommen wohl.
Anfangs Januar 1900 wieder Einreibungen mit Jodsalbe
durch 14 Tage.
Die Struma nahm etwas an Grösse ab.
Gegen Ende der Einreibungen heftiges Herzklopfen, Un¬
ruhe, Stimmungswechsel, Diarrhöen.
Seit Mitte Januar kein Jod mehr, trotzdem zunehmend
schlechtes Befinden. Die Struma wuchs in 14 Tagen angeblich
um das Doppelte.
Nr. 29
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
b7&
Rapide Abmagerung, Zittern, »Fieber«, veränderter
Gesichtsausdruck; Bulimie und Polydipsie.
Von Mitte Februar bis Anfangs Mai wurde der Zustand immer
schlechter.
Seit Anfangs Mai Struma etwas kleiner; Allgemeinzustand
besser, Herzklopfen geringer.
1 2. Mai 1900. Status praesens: Ausgesprochener
Basedow. Grosse, weiche, schwirrende Struma.
Starker, doppelseitiger Exophthalmus mit starkem G r a e f e,
Stell wag und Möbius. Heisse, schwitzende Haut. Im Gesichte
starke, dunkle Pigmentation (hatte früher angeblich nicht be¬
standen). Herz etwas dilatirt, stürmische Action, 120 Pulse.
Systolisches Geräusch über allen Ostien. — Leichtes Knöchel¬
ödem. Im Harne Albumen in Spuren; kein Zucker.
Der folgende Fall ist dadurch bemerkenswert!], dass in
ihm vor der Jodbehandlung keine Struma be¬
standen haben soll, dass es sich also nach der üblichen Ter¬
minologie um einen »primären, genuinen« Basedow handeln
würde.
Beobachtung 9. 43 Jahre alle Frau.
Stets gesund. Angeblich weder als Kind noch später Struma,
nie Herzklopfen, stets gut genährt.
1893 stellten sich ziemlich schwere Migräneanfälle ein,
namentlich zur Zeit der Menses; die halbseitigen Kopfschmerzen
kamen auch in den folgenden Jahren, aber seltener und leichter.
1894 einmal nach einem an Aufregungen sehr reichen Tag Abends
nach dem Einschlafen Aufschrecken aus dem Schlaf, Gefühl von
Lähmung und Herzstillstand; darauf durch eine halbe Stunde heftige
Erregung und Herzklopfen, dann wieder vollkommene Ge¬
sundheit.
Seit 1897 Periode unregelmässig; manchmal sehr stark, seit
derselben Zeit viel Wallungen, häufig Schwindelgefühl.
Im October 1899 viel Kopfschmerzen. Einmal nach raschem
Genuss von ^ Z braunen Bieres heftiges, durch eine halbe Stunde
währendes Herzklopfen. Wegen der häufigen Wallungen zum
Kopfe und weil sie sehr unter Kopfschmerzen litt, ging Patientin
im November zu einem Arzte und nahm auf seine Anordnung
durch vier Wochen eine Medicin, die »nichts nutzte und nichts
schadete«.
Vom 15. December bis 20. Januar nahm sie auf Anordnung
eines anderen Gollegen, angeblich gegen die Wallungen und die
Kopfschmerzen, Pillen mit Kal. j o d a t. (jede Pille ä 01 Kal.
jod., zwei Pillen täglich) durch etwa sechs Wochen.
Während des Jodgebrauches litt sie weniger an Kopf¬
schmerzen als früher; aber die »fliegende Hitze« quälte sie sehr
und häufig trat Herzklopfen auf. Sie blieb jedoch auf ihrem
gewöhnlichen Körpergewicht (Mitte Januar G8 kg), hatte kein Zittern,
war im Allgemeinen nicht erregt. Schlaf, Appetit, Durst waren
normal.
Immer noch keine Struma, keine Veränderung des Gesichts¬
ausdruckes etc.
Kein schweres Krankheitsgefühl.
Vom 12. Februar an nahm (nach dreiwöchentlicher Pause)
Patientin wieder J o d p i 1 1 e n, und zwar wieder Pillen ä 04,
täglich zwei Stück, bis in den März hinein. Schon in der zweiten
Hälfte des Februar traten in rascher Aufeinanderfolge Augen¬
schmerzen, Schwellungen der Lider, Vorstehen
der Augäpfel auf.
Ende Februar entwickelte sich plötzlich eine Anschwel¬
lung des Halses, die rasch zunahm und starke Athembeschwerden
verursachte.
Stets zunehmendes Herzklopfen auch in vollkommener
körperlicher Ruhe. Zittern, Unr u h e, Sch weisse, Durs t,
schlechter Schlaf.
Vom 1. März an bemerkte sie rapide Abmagerung
(anfangs 1 kg, später 2 kg in der Woche).
Vom 15. März angefangen wurden auf ärztliche Anordnung die
Jodkaliumpillen ausgesetzt (der Arzt sagte ihr, »sie scheine das
Jod plötzlich nicht mehr zu vertragen«); sie nimmt seitdem
Eisenpillen.
Seit Ende März hat das Herzklopfen etwas nachgelassen und
die Struma ist wieder bedeutend zurückgegangen, auch die Athem-
noth hat aufgehört. Aber sonst keine Aenderung zum Besseren.
Patientin klagt gegenwärtig hauptsächlich über starke Aufregung,
grosse Schwäche, viel Durst, wenig Appetit, die Abmagerung schreitet
noch immer fort. Stuhlgang fest, keine Diarrhöen. In den letzten
Tagen Knöchelödem.
2. Mai 1900. Status praesens: Stark abgemagert,
Gewicht 54 kg (gegen 68kg vor der Erkrankung). Exquisites
Basedow -Aussehen. Sehr aufgeregt und fahrig.
Mässig starker beiderseitiger E xop h t h a I m u s mit deutlichem
S t e 1 1 w a g und G r a e f e. O e d e m der Lider, inj icirte Con-
junctiven. Mässige, besonders im Mittellappen grosse, stark s ch w i r-
rende Struma. Nirgends ein Knoten fühlbar. Halsumfang
37 cm. Ausserordentlich starkes Zittern.
Herz nach beiden Seiten etwas dilatirt; s t ü r m i s c h e Ilerz-
action, 120 Pulse in der Minute nach längerer Ruhe. Systolisches
Blasen über der Herzbasis.
Leichte Oedeme an Knöcheln und Tibien. Lungen normal.
Im Harn weder Eiweiss, noch Zucker.
Verlauf. Therapie: Bromnatrium, später Natr. phosphoricum.
Galvanisation.
2G. Mai 1900. Die Abmagerung ist noch weiter fortgeschritten
(52 hg). Struma etwas kleiner. Halsumfang 3G cm. Sonst objectiv
status idem.
Subjeetiv fühlt sich Patientin etwas besser. Appetit ist jetzt
gut. Sehr viel Durst, starkes Schwitzen, wenig Urin. Im Harn nichts
Pathologisches.
4. Juli 1900. Patientin fühlt sich im Ganzen entschieden
besser, ist ruhiger, hat in lelzler Zeit viel weniger Herzklopfen,
schwitzt und zittert weniger. Appetit und Schlaf recht gut.
Objectiv nicht viel Veränderung. Nur ist die Tachycardie
geringer (100 — 110). Die Kranke macht einen ruhigeren Eindruck.
Körpergewicht 50Y2 kg. Die Struma bedeutend härter
als bei der letzten Untersuchung, gleichmässig derb, ohne distincte
Knoten.
Anschliessend referire ich noch kurz über einen Fall von
altem Basedow, der »geheilt« war, und bei dem eine mini¬
male Jodresorption prompt ein schweres Recidiv provocirte.
Beobachtung 10. 27jähriges Mädchen, stand vor acht Jahren
wegen classischen Morbus Basedowii, welcher zu jener Zeit nach
langsamer Entwicklung seine Akme erreicht hatte, an der Klinik in
Pflege. Es trat damals unter Bromtherapie, Bettruhe und Galvani¬
sation rasch Besserung ein; Patientin verliess nach einigen Wochen
in gutem Zustande die Klinik; die Besserung schritt dann so rasch
fort, dass sich Patientin vom Jahre 1893 an für gesund hielt,
zwar waren leichter Exophthalmus und geringe Struma bestehen
geblieben, aber alle anderen Beschwerden (Herzklopfen etc.) waren
geschwunden; Patientin war bis zum Frühjahr 1900 vollkommen
arbeitsfähig, fühlte sich ganz gesund und leistete sogar schwere
körperliche Arbeit.
Im Februar 1900 entstand eine traumatische Bursitis prae-
patellaris. Auf ärztliche Anordnung Pinselungen mit Jod-
t i n c t u r am Knie.
Nach zehn bis zwölf Pinselungen heftiges Herzklopfen,
Zittern, rapide Abmagerung. Patientin verlor in 14 Tagen
circa 10 kg an Gewicht und nun traten in rascher Folge auch wieder
alle anderen alten Erscheinungen ihres Basedow auf. (Pigmen-
tirung des Gesichts, starke Protrusion der Bulbi mit Graefe und
Stell wag, Diarrhöen etc.). Die Struma war im Beginn der Jod¬
pinselungen angeblich zunächst etwas kleiner geworden, dann aber
rasch stark angeschwollen.
Nach mehrwöchentlicher Spitalsbehandlung ist jetzt wieder
deutlicher Nachlass der Symptome zu constatiren. Struma kleiner,
Exophthalmus zurückgegangen, Graefe undeutlich, geringe Gewichts¬
zunahme; Herzklopfen und Zittern geringer.
Es zeigt diese Beobachtung, wie minimale Jodmengen
bei anscheinend geheilten B a s e d o w- Kranken genügen
können, um das ganze Krankheitsbild neu hervorzurufen.
Ueberbliekt man die angeführten Fälle von durch Jod
hervorgerufenem Morbus Basedowii, so fällt auf, dass es sich
im Gegensätze zu den vier Fällen von Jod-Thyreoidismus fast
durchwegs um jüngere und zwar weibliche Individuen
handelt. Bei zweien bestand schon vor der Jodeinwirkung
676
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 29
durch einige Zeit Herzklopfen, das vielleicht als Zeichen eines
bereits imminenten Basedow gedeutet werden könnte.
Immerhin kann wohl auch bei diesen Fällen im klinischen
Sinne von einer Erzeugung des Basedow durch das Jod
gesprochen werden. In den drei anderen Fällen war vor dem
Jodgebrauch von irgend welchen einschlägigen Symptomen
nicht die Rede. Nur eine anscheinend ganz gewöhnliche, un¬
verdächtige Struma hatte jahrelang vorher bestanden.
Bedient man sich der üblichen Unterscheidung zwischen
primärem und secundärem Basedow, so sind Fall 5 — 8 als
secundäre, Fall 9 als genuiner, primärer Basedow zu be¬
zeichnen.
Es mag auffallend erscheinen, wenn im Vorstehenden die zwei
Gruppen des Thyreoidismus (constitulionellen Jodismus) und des
Basedow nach Jodgebrauch getrennt besprochen wurden, obwohl
es sich um Dinge handelt, die im Wesen doch zum Mindesten sehr
nahe mit einander verwandt sind und von Vielen unbedenklich als
Forme fruste, respective als gut ausgebildete, symptomenreiche
Form eines Jod-B a s e d o w bezeichnet werden würden. Mir scheint es
aber nicht unpassend, bei aller Anerkennung des nahen Zusammen¬
hanges der beiden Zustände schon durch den Namen zu unter¬
scheiden: den Jodismus der älteren Leute mit seinem zeitlich be¬
grenzten Verlauf und seinem relativ einförmigen Symptomenbild, in
dessen Centrum die Stoffwechselstörungen stehen und in welchen
ein secundäres Anschwellen der Schilddrüse fehlt, und andererseits
die mehr stabilisirte Form der symptomenreichen Fälle von
Basedow nach Jod mit dem secundären Anwachsen der Struma.
Diese klinische Unterscheidung der beiden Symptomenbilder scheint
mir auf jeden Fall praktisch. Die Frage der Identität des Wesens
beider Formen wird unten noch berührt werden.
III.
Ehe ich mich einer kurzen Erörterung der theoretischen
Fragen zuwende, welche sich angesichts der mitgetheilten und
analoger fremder Beobachtungen aufdrängen, möchte ich mit
einigen Worten der, wie ich meine, ganz erheblichen
praktischen Bedeutung gedenken, welche solchen Er¬
fahrungen zukommt.
Wenn es feststeht, dass die Anwendung von Jodpräparaten
in der allgemein üblichen Art und, wie aus mehrfachen Be¬
obachtungen hervorgeht, auch bei ganz minimaler Dosirung
so schwere und langdauernde Folgen nach sich ziehen kann,
dann wird weitgehende Vorsicht wohl am Platze sein. Man
wird nicht blos, wie bisher bei manifesten Basedow-
Kranken das Jod in jeder Form mit grösster Vorsicht an¬
wenden und Kranke, welche über »nervöses Herzklopfen«
klagen (vgl. die Beobachtung 8 und 9) nur unter allen Cautelen
'einer Jodmedication unterwerfen dürfen. Es wird sich auch
empfehlen, bei allen älteren strumösen Individuen und ausserdem
bei Frauen jedes Alters, welche mit Strumen behaftet sind,
Jod nicht ohne fortwährende ärztliche Beaufsichtigung nehmen
zu lassen und bei dem ersten Auftreten irgend welcher Sym¬
ptome von Thyreoidismus die Medication sofort zu unterbrechen.
Künftige Erfahrungen werden zeigen, ob derartige Cautelen
nur unter den localen Wiener Verhältnissen am Platze sind.
Hier in Wien aber möchte ich nach meinen Erfahrungen die
ambulatorische Verordnung von Jodpräparaten auf längere
Zeiträume hinaus im Allgemeinen für unstatthaft erklären;
zum Mindesten wird mau die Kranken von vorneherein nicht
nur aut die Symptome einer acuten Jodvergiftung (Schnupfen
etc.), sondern auch auf die ersten Zeichen des Jod-Thyreoidis-
mus und Jod -Basedow, Zittern, Herzklopfen, Abmagerung
aufmerksam machen müssen.
Vielen dürfte die Bedeutung dieser Verhältnisse hier über¬
trieben erscheinen. Man wird vielleicht geltend machen, es sei doch
nicht wohl möglich, dass derartige Dinge nicht allgemein bekannt
und beachtet seien, wenn sie nicht zu den grössten Ausnahmen
gehören. Dem gegenüber muss bemerkt werden, dass man hier wie
auf anderen Gebieten doch nur das häufiger sieht, was man kennt,
Insbesondere die Diagnose des Jod-Thyreoidismus der alten Leute
wird gewiss selten richtig gestellt, wenn der Arzt nicht von dem
Vorkommen solcher Fälle im Vorhinein Kenntniss
hat. Mehrere Umstände erschweren auch besonders die richtige
Deutung des Zustandes. Erstens die Schwierigkeit, die es in vielen
Fällen hat, das Vorausgehen einer Jodbehandlung zu eruiren, ins¬
besondere bei ungebildeten Leuten, welche die von einem Arzt
verordneten Medicinen, Pulver, Pillen nehmen, ohne sich darum zu
kümmern, was dieselben enthalten. In den Beobachtungen 3, 4 und 7
z. B. musste ich eindringlich inquiriren; den Kranken ist der Zu¬
sammenhang zwischen ihrem gegenwärtigen Schwächezustand und
der Medicin, die sie z. B. vor Wochen ihrer Augen wegen ge¬
nommen haben, natürlich vollkommen unklar und erst eingehendes
Befragen und die genaue Constatirung des zeitlichen Zusammen¬
treffens lässt dann den Causalnexus deutlich hervortreten. Kranke,
die ihr Jod von einem Specialisten erhalten haben, suchen dann
mit ihrem Thyreoidismus in Unkenntniss des Zusammenhanges
häufig einen anderen Arzt auf etc. Vor Allem aber wird die richtige
Deutung der Verhältnisse erschwert durch die eigenthümliche
lange Dauer des »chronischen Jodismus«, welcher das Aussetzen des
Mittels oft wochen- und monatelang überdauert. Dass Abmagerung,
Zittern etc* welche seit drei Monaten bestehen, ihren Ursprung in
einer Jodmedication haben können, welche seit einem Vierteljahr
nicht mehr angewendet wird, und an die der Kranke selbst längst
vergessen hat, das muss der Arzt wissen; er muss direct nachdem
vorausgegangenen Jodgebrauch forschen, sonst wird er die Fälle
nicht richtig deuten können. Nebenbei möchte ich die Frage auf¬
werfen, ob nicht auch das Jodoform ebenso wie andere, anorgani¬
sche Jodverbindungen gelegentlich bei längerer Anwendung in ähn¬
licher Weise schädlich wirken mag. Die bekannte »Intoleranz«
mancher, namentlich älterer Individuen gegen das Jodoform und die
Aehnlichkeit gewisser Symptome der Jodoformvergiftung mit dem
Thyreoidismus lassen daran denken. Vielleicht möchte auch das
Jodoform, wenn es local bei Schilddrüsenoperationen angewendet
wird, in manchen Fällen zum Eintritt des eigenthümlichen »Thyreoidea¬
todes« beitragen, welcher ja von vielen Seiten auf eine plötzliche
Resorption von Schilddrüsenmasse bezogen wird. Das Jodoform, mit
dem nach einer Schilddrüsenresection die Wunde oder etwa ein
zurückgebliebener Kropfrest bestreut wird, könnte manchen Kranken
durch die Anregung zur Resorption der Drüse vielleicht verhängnis¬
voll werden.
Auf jeden Fall glaube ich, dass die Beobachtungen von
Jod-Thyreoidismus sich bedeutend vermehren werden, wenn
man sich gewöhnt haben wird, in jedem Falle nach dem Jod
als ätiologischem Factor zu suchen. Auch bei den ausgespro¬
chenen Basedow- Fällen, deren Diagnose ja viel weniger
Schwierigkeiten macht, wird sich ein Causalnexus mit einer
Jodmedication vielleicht recht häufig feststellen lassen, wenn
man direct daraufhin inquirirt und sich nicht mit der vom
Kranken spontan gelieferten Anamnese begnügt.
Künftige Erfahrungen werden zeigen müssen, ob sich derartige
Beobachtungen, wie sie mein Vater, dann Ortner, ich hier in Wien,
wie sie eine grosse Anzahl von Aerzten in der französischen
Schweiz gemacht haben, möglicher Weise nur in ganz bestimmten
Gegenden machen lassen.
Es ist ja auffallend, welche Aehnlichkeiten die Wiener Be¬
völkerung mit der Genfer bietet, wenn man die Verbreitung des
Kropfes und die Art der Kropfformen in beiden Städten vergleicht.
Hier wie in Genf eine Kropfgegend, aber nicht in dem Sinne, dass
grosse degenerative Kröpfe eben sehr häufig wären ; der Strumis-
mus der Bevölkerung zeigt sieh mehr in der weiten Verbreitung
kleiner weicher Strumen, »Blähhals«, bei einem sehr grossen Theil
namentlich der weiblichen Bevölkerung, ferner in dem häufigen
familiären Auftreten von Strumen in alten Genfer, respective Wiener
Familien, d. h. solchen, die seit Generationen in der Stadt ansässig
sind. Hier wie in Genf acquiriren ortsfremde, kropffreie Personen,
welche sich hier ansiedelten, häufig nach einigem. Aufenthalt kleine
Strumen (mir ist wiederholt von fremden Aerzten versichert worden,
dass sie nach mehrmonatlichem Aufenthalt in Wien ein leichtes
Dickerwerden des Halses am Hemdkragen bemerkt hätten). Vielleicht
handelt es sich nun in Wien wie in Genf um eine bestimmte Art
von Strumen, die zu den schädlichen Jodfolgen disponirt. (Siehe
unten.) (Dass nicht jede Kropfgegend in dieser Hinsicht gleich-
werthig ist, zeigt unter Anderem die Beobachtung von Kraus,
Nr 29
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
677
dass »chronischer Jodismus« in der Steiermark sehr selten ist;
eben so wie dort nach dem Zeugniss von Kraus auch ausge¬
sprochener Basedow selten vorkommt.)
Interessant ist übrigens, dass eine gewisse Ivenntniss von der
Neigung der Wiener zum Thyreoidismus unter der Bevölkerung
verbreitet ist; ich habe wenigstens mehrere Male von Frauen aus
dem Volk die Aeusserung gehört, »man dürfe doch den Blähhals
nicht vertreiben, weil man sonst abmagere und die Brüste
verliere«.
Es würde natürlich wichtig sein, aus verschiedenen Gegenden
Europas systematische Nachrichten über das Vorkommen von Jod-
thyreoidismus und Jod-Basedow zu bekommen, vergleichen zu
können, wie sich die verschiedenen Kropfdistricte in dieser Be¬
ziehung verhalten, wie sich die kropffreie aber zum sporadischen
Myxödem neigende Bevölkerung Englands und Frankreichs in
dieser Beziehung verhält u. s. w. Aeltere französische Beobachter
(Trousseau) leugnen das Vorkommen des »constitutioneilen
Jodismus« ganz entschieden. (Siehe unten.)
Aber auch für die Wiener (und Genfer) Verhältnisse bleibt
noch eine Reihe von Fragen ungelöst. Vor Allem die, woher es
kommt, dass unter dieser »disponirten« Bevölkerung doch immer
nur ein Theil an den geschilderten Folgen des Jodgebrauches er¬
krankt, dass man z. B. bei den Tausenden von Männern jüngeren
Alters, die wegen Lues mit Jod behandelt werden, kaum jemals
Basedow und Thyreoidismus beobachtet. (Dass auch bei jüngeren
Männern solche Jodfolgen Vorkommen, ist sicher; der erste Fall
von Jod-Basedow, den ich vor fünf Jahren beobachtete, betraf
einen etwa 30jährigen Mann ohne alle Basedow-Erscheinungen,
aber mit einem mässigen, seit der Pubertät bestehenden »Bläh¬
hals«, der während einer, wegen Syphilis unternommenen Jodcur
an classischem Basedow erkrankte.) Die Beantwortung dieser
Frage ist derzeit noch unmöglich, sie fällt wohl mit jener anderen
zusammen, woher denn überhaupt die grössere Disposition des
weiblichen Geschlechtes zu allen Schilddrüsenerkrankungen rühre
(Struma, Myxödem, Basedow etc.)
Wenn ich mich nun der Frage zuwende, was denn etwa
aus der Kenntniss der Rolle, die das Jod in der Pathogenese
des Basedow und des Thyreoidismus spielen kann, für das Ver¬
ständnis der Basedow- Genese im Allgemeinen zu gewinnen
sei, so wird zuerst die Vorfrage zu erledigen sein, wie man
sich denn die Rolle des Jods bei der Erzeugung von Base-
d o w-ähnlichen Zuständen überhaupt zu denken habe.
Es ist selbstverständlich, dass man versuchen wird, hier an
die modernen Erfahrungen über den Jodgehalt der Schilddrüse,
über das Jodothyrin anzuknüpfen; die Differenz im Jodgehalte
der Drüsen an verschiedenen Standorten, dann den Jodreich¬
thum der Drüse nach Jodeinfuhr in den Körper sowie ander¬
seits die mehrmals nachgewiesene Jodarmuth der »Basedow-
Strumen« heranzuziehen, endlich gewisse neuere Funde der
Physiologen auf dem Gebiete der »physiologischen Herzgifte«
(Cyon, Barbera) zur Erklärung zu benützen.
Alle solchen Versuche scheinen mir bei dem dem gegen¬
wärtigen Stande unserer Kenntnisse mit ihren vielen Lücken
und Widersprüchen noch wenig aussichtsreich. Das Einzige,
was hier klinisch sicher feststeht, ist die ganze merkwürdige
und in ihrem feineren Mechanismus unerklärte »resorbirende«
Wirkung des Jods auf Schilddrüsengewebe, welche dazu
führen muss, dass plötzlich und rasch eine grössere Menge
von Schilddrüsensubstanz in die allgemeine Circulation
gelangt.
An diese resorbirende Wirkung wird man sich zunächst
halten müssen, wenn man versucht, die pathogenetische Rolle
des Jods in Fällen zu erklären, wie sie oben mitgetheilt
wurden.
Man wird annehmen, dass die durch Jod angeregte
Schilddrüsenresorption die Ursache des Jod-Thyreoidismus und
Jod-Basedow ist, welche beide als zwei dem Symptomen-
reichthum nach verschiedene Grade der Intoxication zu be¬
trachten wären. Es erhebt sich dann zunächst die Frage,
warum die Vergiftungserscheinungen nur bei einer gewissen
Zahl von Menschen auftreten; dann die weitere, warum sie da
bei dem Einen das Bild des Thyreoidismus, bei dem Anderen
das reichere des Basedow annehmen, bei den einen Menschen
nach kürzerer Zeit schwinden, bei den anderen sich stabi¬
leren.
Möbius, welcher der Production eines typischen Morbus
Basedowii durch Jod in seiner Monographie noch keine Erwäh¬
nung tliut, erwähnt den »constitutionellen Jodismus« Rilliet’s.
Er schliesst sich der alten Troussea u’schen Meinung an .
Trousseau hatte nach seinen Erfahrungen in Paris be¬
hauptet, es gebe keinen constitutionellen Jodismus, es handle
sich in diesen Fällen immer um B a s e d o w - Kranke, deren
Zustand durch Jod verschlimmert worden sei. Möbius meint,
jedenfalls trete der Jodismus nur bei solchen Menschen auf,
in deren Schilddrüse die »B a se d o w - Veränderung« bestände.
Bezüglich der Fälle von vollem Basedow nach Jod, wie sie
oben referirt wurden, dürfte Möbius wohl mit noch grösserer
Bestimmtheit eine präexistente B a s e d ow - Veränderung der
Drüse annehmen.
Ich weiss nicht, ob man ihm, namentlich für den »con¬
stitutionellen Jodismus« der alten Strumösen, hierin gerne bei¬
pflichten wird. Der Ausdruck »Basedow- Veränderung« ist
allerdings von Möbius von Anfang an mit bewunderungs¬
würdiger Besonnenheit und Vorsicht so unbestimmt gefasst
worden, dass in dieser Materie, wo noch so Vieles unklar ist,
möglichst wenig präjudicirt wird, und die Abwesenheit der
»Veränderung« lässt sich darum vorläufig gewiss nie be¬
weisen. Trotzdem aber wird man sich vielleicht scheuen,
bei alten Leuten, deren Struma in allen körperlichen und
seelischen Anstrengungen des Lebens nie Basedow- Er¬
scheinungen producirt hat, von einer latenten »Basedow-
Veränderung« zu sprechen, weil sie etwa in ihrem 60. Jahre,
während sich ihr Kropf durch Jod rasch resorbirt, die Er¬
scheinungen des Thyreoidismus bekommen, um später, nachdem
diese abgeklungen und nachdem die Struma wieder gross ge¬
worden, wieder dauernd gesund zu sein.
Unter den vagen, ganz allgemeinen Ausdruck Basedow-
Veränderung könnte man ja freilich auch subsumiren, dass
die auf Jod pathologisch reagirenden Strumösen etwa eine
abnorm zusammengesetzte, vielleicht abnorm giftige Schild¬
drüsensubstanz aufgestapelt haben, deren Resorption leicht zum
Thyreoidismus führt, oder man könnte etwa an abnorm vor¬
gebildete Resorptionswege innerhalb der Drüsen denken, —
Alles das lässt sich unter den Ausdruck »präexistente
B a s e d o w- Veränderung der Schilddrüse« subsumiren, findet
sich aber dann wohl bei vielen alten Strumösen, die nie
B a s e d o w-Erscheinungen bekommen.
Es erscheint mir aber auch eine andere Erklärung für
das differente Verhalten verschiedener Individuen der Jod¬
einfuhr gegenüber möglich. Vielleicht ist letzteres gar nicht in
der An- oder Abwesenheit einer bestimmten noch unbekannten
Veränderung der Schilddrüse, vielmehr in einer sehr ver¬
schieden grossen Empfindlichkeit des Organismus gegenüber der
Ueberschwemmung mit Schilddrüsensecret überhaupt begründet.
Wissen wir doch, wie verschieden Individuen auf therapeuti¬
sche oder experimentelle Schilddriisenzutuhr mit Stoflwechsel-
störungen, nervösen Symptomen etc. reagiren; wie bei den
Einen grosse Mengen Schilddrüsensubstanz ohne alle Folge¬
erscheinungen vertragen werden (man vergleiche Buschans
bekannten Selbstversuch), während bei anderen, und gerade
alten Personen relativ kleine Dosen zu ausgesprochenen
Symptomen führen.
Dass die Strumen, um die es sich beim »constitutioneflen
Jodismus« handelt, meist gross sind und daher bei der Re¬
sorption eine erhebliche Menge »Thyreoidin« liefern, würde,
scheint mir, vollends dazu beitragen, um diese einfache Er¬
klärung plausibel erscheinen zu lassen. Was die lange Nach¬
dauer der Vergiftung nach dem Aussetzen des Jods betrifft,
so kann man wohl auf die Erfahrungen beim therapeutischen
Thyreoidismus recurriren, nach welchen die Intoxications-
symptome, besonders die Stoffwechsel Veränderungen, die Einfuhi
des Mittels lange überdauern.
Die auffallende Thatsache nun, dass die Intoxication nach
Jodgebrauch bei den älteren Individuen unter meinen I allen die
Form des einfachen Thyreoidismus, bei den jüngeren die des
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900,
Nr. 29
Basedow angenommen hat, würde ihre Analogie finden in
dem anderen Factum, dass ältere Individuen zur Erkrankung
an ausgesprochenem Basedow überhaupt nicht incliniren.
Hypothesen darüber aufzustellen, warum das so ist, warum
es bei den älteren Individuen bei der einfachen symptomen-
armen Vergiftung bleibt, welche relativ rasch abklingt, während
sich bei jüngeren der Symptomencomplex reichhaltig gestaltet
und gewissermassen für längere Zeit oder immer stabil isi rt,
— das scheint mir ja allerdings möglich.
Auch beim .Jod-Basedow erzeugt das Jod vielleicht
zunächst nur einfach Resorption von Schilddrüsenmasse und
damit Thyreoidismus, wobei die Schilddrüse von vorneherein
nicht besonders abnorm gebaut oder chemisch zusammengesetzt
zu sein, sich von anderen Drüsen durch keine besondere prä¬
existente »Veränderung« zu unterscheiden braucht. (Vergrösserte
Drüsen geben bei der Resorption wohl mehr Gift; daher viel¬
leicht die grosse Häufigkeit des »secundären Based o w«.) Die
besondere Reactionsfähigkeit des Individuums könnte es aber hier
mit sich bringen (und hier könnte man an eine cardio- vasculäre
Prädisposition etwa in dem Sinne von Kraus denken),
dass gewisse Theile des Vergiftungsbildes, die vasomotorischen,
besonders stark in die Erscheinung träten, so dass z. B. leicht
und rasch Exophthalmus entstände. Die starke Betheiligung
des Gefässsystems möchte aber dann wieder auf die Schild¬
drüse wirken, neuerdings Resorption hervorbringen u. s. w.
Kurz, es würde sich auf diese Weise ein circulus vitiosus heraus¬
bilden, der das Krankheitsbild stets neu erzeugte, es chronisch
progressiv machte. Sehen wir doch bei der einfachen klinischen
Beobachtung eines Basedow-Kranken, wie seine Krankheit
Neigung zu seelischen Erregungen, zu vasomotorischen Zu¬
ständen (Herzklopfen, Congestionen) schafft und wie jede solche
Erregung den ganzen Symptomencomplex dann wieder steigert;
wie die einzigen bewährten Mittel, die wir bis jetzt gegen den
Basedow kennen, Sorge für möglichste körperliche und
geistige Ruhe, eventuell die Bromtherapie sind, Massnahmen,
die geeignet sind, den fatalen Cirkel zu unterbrechen. Dauern
die Erscheinungen an, so mögen sich dann wirkliche anato¬
mische und physiologische Abnormitäten in der Schilddrüse
herausbilden (functionelle Hyperplasien, falsche Abflusswege
des Secrets (Renau t), fehlerhaft zusammengesetztes Secret etc.),
welche die Erscheinungen noch mehr stabi lisiren .
So, meine ich, könnte man auch für den Jod-Basedow
(und vielleicht auch für den anderen Ursprungs) unter voller
Aufrechthaltung der thyreogenen Aetiologie die Annahme der
»präexistenten Basedow-Veränderung« entbehren, bis etwa
ihre Realität durch positive Gründe bewiesen würde.
Lassen sich nun aus der Kenntniss des Jod-Basedow
Schlüsse ableiten auf die Pathogenese des Basedow über¬
haupt ?
Insofern gewiss, dass es sich hier ebenso wie bei dem im
Antang dieser Arbeit referirten Fall von Basedow nach
Schilddrüsenentzündung um rein thyreogene Erkrankungen
handelt; denn an einen anderen Angriffspunkt für das Jod als
die Schilddrüse lässt sich bei diesen Formen der Jod Wirkung
wohl nicht denken. Das Symptomenbild des Jod-Basedow
(wie des nach Thyreoiditis entstandenen) deckt sich vollkommen
mit dem der typischen Fälle von Basedow anderen Ur¬
sprungs; so liegt denn die Berechtigung vor, auch bei diesen
einen rein thyreogenen Ursprung anzuerkennen.
Beim Jod-Basedow liegt nun aber auch der M echan ismu s
des Krankheitsbeginns am deutlichsten zu Tage: Resorption
von Schilddrüsensubstanz und Vergiftung durch dieselbe.
Bei dem Basedow auf Grund von Thyreoiditis glaubte
ich in der entzündlichen, congestiven Hyperämie ein Moment
erblicken zu können, welches in analoger Weise durch Re¬
sorption von Drüsensubstanz die Krankheit einleitet.
Den Mechanismus, durch welchen die mannigfachen Ur¬
sachen in den gewöhnlichen Fällen von Basedow auslösend
wirken, möchte ich mir hypothetisch so vorstellen, dass auch
hier eine plötzliche Resorption von Schilddrüsensubstanz als
Beginn der Erkrankung angesehen werden kann. Diese plötz¬
liche Resorption mag auch hier ihre unmittelbare Ursache in
Starken congestiven Hyperämien der Drüse haben, zu denen ja
alle jene banalen Ursachen (z. B. Schreck, körperliche An¬
strengung, Partus, Klimakterium etc.) leicht zu führen vermögen.
In allen Fällen also wäre der Krankheitsbeginn in einer
Resorption von Schilddrüsensubstanz und einer Ueberschwem-
mung des Organismus mit solcher zu sehen, welche eiue Reihe
von Vergiftungserscheinungen erzeugt (Tachycardie, Erreg¬
barkeit, vasomotorische Phänomene etc.). Während diese Ver¬
giftungserscheinungen nun manchmal rasch vorübergehen, weil
entweder die Resorption keine ausgiebige oder die Empfindlich¬
keit des Individuums keine grosse war, stabilisiren sie sich in
anderen Fällen dadurch, dass sie selbst zu Quellen immer
neuer Congestionen der Drüse werden. So mag sich ein circulus
vitiosus ausbilden, als dessen Product wir den chronisch ge¬
wordenen Thyreoidismus, den Morbus Basedowii zu betrachten
haben.
Literatur.
’) R ei n h o 1 d, Münchner medieinische Wochenschrift. 1894, Bd. XLI,
Nr. 23.
•) Gilbert und Castaign e, Comptes rendus de la Soc. de biol.
1899, pag. 463.
:i) v. N o 1 1 h a f t, Centi alblatt für innere Mediein. 1898, Nr. 15.
4) F. R i 1 1 i e t, Memoire sur l’iodisme constitutionnel. Paris 1860.
(Hier findet sich auch die ganze ältere Literatur über Jodismus besprochen).
5) Roes er, Archiv für physologische Heilkunde. 1859, pag. 494.
6) Lebert, Die Krankheiten der Schilddrüse. Breslau 1862.
7) Rendu, Gaz. hebdomadaire. 1888, Nr. 20.
b) 0 r t n e r, Vorlesungen über Therapie innerer Krankheiten. Wien
1898, Bd. I, pag. 251.
9) P. J au n i n, Rev. medicale de la Suisse Romande. 1899, Bd. XIX,
Heft 5, pag. 301. Referirt in Schmidt’s Jahrbücher. Bd. CCLXIV, pag. 21.
10) L. G a u t i e r, Rev. med. de la Suisse Rom. 1899, Bd. XIX,
Heft 10, pag. 618. Referirt in Schmidt’s Jahrbücher. Bd. CCLXV, pag. 28.
Vergleiche ausserdem die bekannten Monographien über Basedow,
insbesondere die von Möbius, und des Letzteren Sammelreferate und
Kritiken in Schmidt’s Jahrbüchern.
REFERATE.
Das Breslauer Hallenschwimmbad.
Von Dr. Kabierske.
Breslau 1 898, K o r n.
Interessant für Jedermann ist die das erste Drittel des
Buches einnehmende, mit mehreren Illustrationen antikes Badeleben
veranschaulichende und bis zur neuesten Zeit heranreichende Ge-
schiehte der Entwicklung des Badewesens und des Schwimmens.
Dieser schliesst sich eine Beschreibung des Hallenschwimmbades in
Breslau an, welche zahlreiche nachahmenswerthe Details dieser An¬
stalt enthält. Möge die löbliche Absicht des Verfassers, durch das
Werk beim Baue gleicher Anstalten nützliche Anhaltspunkte zu
geben, von Unternehmern und Architekten gewürdigt werden, ebenso
wie es Aerzte bei Beurtheilung von Plänen solcher Anstalten nicht
versäumen mögen, aus der Beschreibung dieses Bades Nutzen zu
ziehen.
So sehr der Referent so manches Neuere aus den geschil¬
derten Einrichtungen lobend anerkennen muss, beispielsweise die
Begehbarkeit der Luftzuführungscanäle im Interesse deren Rein¬
haltung, die getrennten Zugänge zu den Radecabinen für An- und
Ausgekleidete, die Brausebäder zur Reinigung vor Betreten des
Bassins, die Spuckbecken mit Wasserspülung, so kann sich derselbe
doch nicht der Bemerkung entschlagen, dass die Halle für das grosse
Bassin zu viel Mauer- und zu wenig Fensterfläche haben dürfte.
Referent meint, dass bei Anlage einer Schwimmhalle diese mit
ihrer Längsachse von Nord nach Süd orientirt werden sollte, und
dass Eisen und Glas an der Decke und der Südseite der Halle als
Baumaterial fast ausschliesslich verwendet sein sollten und auch
die Fussböden der Galerien vorwiegend aus Eisen und Glas her-
gestellt werden sollten, damit auch im Winter, bei tiefstehender
Sonne möglichst viel Plätze einer solchen Halle möglichst lange Zeit
im directen Sonnenlichte sich befinden.
Die Sonne ist ein vorzügliches entwicklungshemmendes Mittel
gegen Mikrobien und könnte dadurch den unangenehmen keller¬
artigen Geruch, der uns in geschlossenen Schwimmhallen belästigt
und der auch in der hier beschriebenen Schwimmhalle mindestens
mit der Zeit sich entwickeln dürfte, vielleicht hintanhalten, sobald
sie in jeden Winkel einer solchen Halle, in jede Cabine hinein¬
scheinen kann, wie cs eine mit der Längsachse von Nord nach
Süd orientirte, gegen Süden freistehende, oben und an der Südseite
fast ganz verglaste Schwimmhalle erlauben würde.
Nr. 29
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Um wie viel angenehmer es sieh in einem Wasser schwimmt,
das im Sonnenlichte glitzert, als in einem beschatteten, weiss
Jedermann; dass es kaum ein wohligeres Gefühl gibt, als nach
dem Bade sich zu sonnen, wird kaum Jemand in Abrede stellen
wollen. Dass aber geschlossene oder gar gewölbte Hallen, die nur
durch Fenster und Oberlichte besonnt sind, meist einen frostigen
ungemüthlichen Eindruck machen, meist nur von Badebedürftigen
aufgesucht werden, die nicht die Zeit und die Mittel haben, um im
Freien und in der Sonne baden zu können, ist ebenso bekannt.
Folglich sollte man danach streben, Hallenschwimmbäder so zu
bauen, dass sie die freie Natur nachahmen, soll ihnen also vor Allem
Sonnenlicht in weitestgehender Weise zuführen.
Das letzte Drittel des Buches bietet eine Abhandlung über
das Schwimmen in Bezug auf seinen hygienischen Werth. »Duuehen
ist gut, Baden ist besser, das Beste aber ist Schwimmen; es ist die
Krone aller Wasscran Wendungen.« Dieser Satz ist gewiss richtig,
die Betonung des Schwimmens als prophylaktisches Mittel gegen
Tuberculose ebenso; ob aber, wie der Verfasser des Buches angibt,
Emphysem durch Schwimmen wirkungsvoll bekämpft werden kann,
ob man bei Chlorose Schwimmen empfehlen darf, erscheint dem
Referenten fraglich.
Die Abschnitte über das griechische, russische und besonders
über das deutsche Schwitzbad bieten jedem Leser manches Inter¬
essante; für Unternehmer und Architekten wird der gegen die be¬
sprochenen Abtheilungen an Umfang bedeutend zurückstehende
Theil, welcher Finanzielles und Administratives enthält, werthvoll
sein. Der Preis des Buches ist ein niederer zu nennen, da die Aus¬
stattung und der Inhalt einen höheren Preis rechtfertigen könnten.
H i n t e r b e r g e r.
Ueber Wesen und Ursache der Zuckerkrankheit.
Von Dr. med. et pkil. Hans Leo.
Berlin 1900, II irschwal d.
Bereits die vorläufige Mittheilung (Deutsche medicinisehe
Wochenschrift. 1899, Nr. 43) hat berechtigtes Staunen und Inter¬
esse erregt. Das vorliegende Buch bringt die ausführliche Mit¬
theilung der Versuche, welche zu den vom Autor aufgestellten
Theorien die Grundlage bilden.
Im Vorworte sagt Verfasser: »Ich bin mir wohl bewusst, dass
ich dabei der Auffassung vieler Facbgenossen nicht entsprechen
werde; ich hoffe aber, dass meine auf kritischer und experimenteller
Basis beruhenden Ausführung sich Anerkennung schaffen werden.«
Wir müssen diesem Ausspruche entschieden beistimmen,
denn es fehlte jegliche Analogie, um gerade für den Diabetes
diese Theorie, selbst wenn sie durch Versuche eines Einzelnen be¬
stätigt erscheinen, annehmbar zu machen. In nicht zu weiter Ferne
werden gewiss Versuche von anderen Forschern in dieser Frage
veröffentlicht werden, welche der Kritik wesentlich zu Hilfe kommen
würden.
Der erste Theil der Schrift behandelt in zusammen¬
fassender Weise das Wesen der Zuckerkrankheit; er bringt nicht
viel Neues bis zu jenem Gapitel, woes heisst: Meine Theorie.
Diese lautet: »Man kann sich vorstellen, dass (in den Fällen,
in denen uns die Einsicht in die Entstehungsweise der diabetischen
Hyperglykämie verschlossen ist) die Insufficienz der Zuckerver¬
brennung in den Geweben und Säften dadurch veranlasst ist, dass
ein toxisches Agens im Körper circulirt, welches auf die zum Ver¬
brauche des Zuckers nothwendige Function hemmend einwirkt.«
Es folgen nun die Gründe für das Vorkommen bisher unbekannter
toxischer Substanzen bei Diabetikern.
Die experimentelle Prüfung der Theorie ging von folgender
Erwägung aus: Es ist anzunehmen, dass das toxische Agens, selbst
wenn es seine Wirkung nur in der Zelle ausübt, im Blute circulirt.
Wenn dies der Fall ist, so darf erwartet werden, dass man durch
Uebertragung des Blutes, respective der Säfte des Diabetikers auf
ein Thier auch innerhalb des thierischen Organismus eine Störung
des Zuckerverbrauches (Glykosurie) bewirken kann. Möglicher
Weise gelangt das fragliche Agens im Urin der Diabetiker zur
Ausscheidung.
Die Einverleibung des diabetischen Urins geschah theils per os
durch die Schlundsonde, theils durch subcutane Injection. Statt des
Harnes wurde auch ein daraus bereitetes Extract verwendet. Hunde
waren die Versuchsthiere.
Die Methode der Untersuchung des Hundeharnes verdient
noch erwähnt zu werden, denn es scheinen gerade hiebei sich
einige Bedenken zu ergeben. Als Reductionsprobe wurde die mit
Ny lander’s Reagens angewendet und nur Schwarzfärbung beachtet.
(Hundeharn färbt gewöhnlich Nylander schwarz. Referent.) Ferner
wurde Gährungs- und Phenylhydrazinprobe angestellt und in der
Regel wurde die quantitative Bestimmung durch Polarisation und
Titrirung vorgenommen.
Betrachtet man die wiedergegebenen Versuchsprotokolle, so ist
die Incongruenz zwischen Titrationsresultaten, Bestimmung durch
Polarisation oder Gährung oft so gross, dass man sich über die
wahren Ausscheidungsverhältnisse des Zuckers kein klares Bild
machen kann. Die einzelnen Ergebnisse hier anzuführen, würde zu
weit führen und wird daher nur auf die Tabellen verwiesen, in
denen in der letzten Colonne die quantitativen Bestimmungen an¬
geführt erscheinen, ln manchen Fällen beträgt die Differenz bis zu
2% Zucker zwischen den einzelnen Bestimmungsmethoden.
Darnach erscheint es wohl gerechtfertigt, die Richtigkeit der
Versuchsergebnisse in Frage zu stellen.
Aus den Versuchsergebnissen zieht Autor den Schluss, dass
es bewiesen sei, es gäbe Fälle von Diabetes mellitus, deren Urin
durch Einverleibung in den thierischen Organismus Glykosurie
erzeuge.
Der zweite Theil beschäftigt sich mit den Ursachen der
Zuckerkrankheit. Auch hier finden wir eine neue Theorie, welche
sich auf Versuche stützt. Es ist die durch Producte der Hefe-
gährung veranlasste Melliturie. Da durch die Hefegährung Stoff-
wechselproducte der Hcfezellen entstehen, welche die Wirkung der
Hefezellen beeinträchtigen, sollte die experimentelle Prüfung zeigen,
ob diese Producte auch bei Einverleibung in den thierischen Or¬
ganismus einen hemmenden Einfluss auf die den Zuckerverbrauch
daselbst beherrschenden Functionen ausüben.
Durch die Einverleibung der zuckerfreien, vergohrenen
Flüssigkeit per os konnte keine Glykosurie erzeugt werden, hin¬
gegen durch subcutane Injection derselben; es mussten aber grosse
Mengen injieirt werden. Die gleichzeitige Einverleibung von Gährungs-
flüssigkeit und Traubenzucker zeigte, dass selbst grosse Mengen
davon keine Glykosurie erzeugten, wenn sie per os gegeben wurden,
dass hingegen bei subcutaner Injection Glykosurie auftrat. Es
waren 80V cnv\ respective 114 5 cm:i der vergohrenen Flüssigkeit
pro Kilo Thier nothwendig, um bei Hunden Dextroseausscheidung
zu bewirken. Wurde Milchzucker statt Traubenzucker zur Gährungs-
flüssigkeit hinzugefügt, genügten viel geringere Mengen zur Er¬
zeugung von Melliturie, und trat diese schon bei Darreichung
per os ein.
Auch bei diesen Versuchen scheinen die daraus gezogenen
Schlüsse in Anbetracht der grossen Differenzen in den Versuchs¬
ergebnissen zu apodiktisch gezogen zu sein.
Zum Schlüsse sind einige Versuche über Uebertragung des
Blutes und der Gewebe von Diabetikern, sowie von Darminhalt
angeführt, welche zu negativen Resultaten führten. Auch die
Isolirung von Ptomainen aus diabetischem Harn misslang.
Die Richtigkeit der Versuchsergebnisse und die Stichhaltigkeit
der daraus abgeleiteten Theorien können nur eingehende Nach¬
prüfungen mit einwandfreien Resultaten darthun, die erst das ent¬
scheidende Wort über diese Theorien sprechen sollen. Offer.
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Ernannt: Prof. Adam Politzer, Vorstand der Klinik
für Ohrenkranke in Wien, zum Ehrenmitgliede der otiatrischen Gesell¬
schaft in London. — Prof. Dr. Franz Mraiek, k. k. Primararzt
in Wien, zum Ehrenbürger von Bad Hall iu Oberösterreich. — Dr.
Kirchne r, Vortragender Rath in der Medicinalabtheilung des Cultus-
ministeriums in Berlin, zum a. o. Professor.
*
Gestorben: Der k. k. Statthaltereirath und Landes-Sanitäts-
rath Dr. R. v. K i s s 1 i n g in Linz.
*
In der am 7. Juli d. J. abgehaltenen Sitzung des Obersten
Sanitätsrathes gelangten nach Mittheilungen über verschiedene
Verhandlungsgegenstände, sowie über die Verbreitung der Beulenpest
im Orient nachstehende Referate zur Beratliung und bchlussfassung :
1. Entwurf eines Organisationsstatutes für die V iener k. k. Kranken-
680
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 29
anstalten (Referent Prof. K ratsch m er namens des Specialcomites
für Krankenhausangelegenheiten). 2. Besetzungsvorschläge für einige im
Status der Aerzte der Wiener k. k. Krankenanstalten erledigte Primar¬
arztesstellen (Referent Prof. Weichselbaum namens des ad hoc
gewählten Specialcomites). 3. Vorschläge zur versuchsweisen thera¬
peutischen Behandlung des Cretinismus (Referent Prof. v. Wagner).
4. Gutachtliche Aeusserung über eine zum Gebrauche in Volksschulen
bestimmte Gesundheitsfibel (Referent Hofrath Einer). 5. Gutachten
in Angelegenheit des Recurses einer Ortsgemeinde in Böhmen wegen
Nichtgenehmigung der Einleitung eines Canales in den Ortsbach (Re¬
ferent Director M u c h a). 6. Gutachtliche Aeusserung über Leprafälle
in Dalmatien (Referent Hofrath Dräsche im Einvernehmen mit den
Hofräthen Kaposi und Neumann). 7. Initiativantrag des Ober-
sanitätsrathes Hofrathes C h r o b a k, betreflend die Ergänzung des ärzt¬
lichen Unterrichtes in der Receptirkunde. Dieser Antrag wurde dem
erweiterten pharmaeeutischen Comite des Obersten Sanitätsrathes zur
Vorberathung überwiesen.
*
In der Sitzung des nieder österreichischen Landes •
Sanitätsrathes am 9. Juli d. J. wurden Referate erstattet:
1. über Adaptirungen in einer Wiener k. k. Krankenanstalt, 2. über
die Errichtung eines Wöchnerinnenheims und 3. eines Röntgen
Institutes in Wien, sowie 4. einer Kaltwasserheilanstalt in einer Ge¬
meinde Niederösterreichs.
*
In der Sitzung des Wiener Stadtrathes vom 11. Juli wurden
die Pläne für das neue in Ottakring zu errichtende Kinder¬
spital genehmigt. Der Bauplatz befindet sich am Südabhange des
Galizinberges im unmittelbaren Anschlüsse an die Area des bereits
bestehenden Wilhelminen-Spitales. Das neue Spital, zu dessen Er¬
richtung die Gemeinde Wien einen Beitrag von zwei Millionen Kronen
gewidmet hat und das die strengsten Anforderungen an ein solches
Werk befriedigen soll, wird dem bereits bestehenden Wilhelminen-
Spital mit seinem Belegraume von 106 Betten zwei weitere Abtheilungen
anfügen: ein Spital für Infectionskrankheiten der Kinder mit 19 Pa¬
villons und einem Belegraum von 188 Betten (Stiftung der Gemeinde
Wien) und das Kinderspital für interne und chirurgische Fälle mit
zwei Pavillons zu je 42 Betten (Stiftung Ke Hermann).
*
In London wird vom 25. bis 27. Juli die Feier des
hundertjährigen Bestandes des Royal College of
Surgeons begangen. Dem am Abend des 26. Juli stattfindenden
Festdiners wird auch der Prinz von Wales beiwohnen. Für Mittwoch
ist eine Vereinigung der Festgäste im Gebäude des Royal College und
am Freitag ein Empfang beim Lord Mayor im Mansion-Hause in
Aussicht genommen.
*
Wir erhalten folgende Zuschrift vom Wiener Apotheker-Haupt¬
gremium : Pharmakopöemässige Kranken weine. Da in
den mit 1. Juli 1. J. in Kraft getretenen Additamentis zur öster¬
reichischen Pharmakopoe nun auch Weiss- und Rothwein, sowie Mar¬
salawein für Heilzwecke vorgeschriebeu sind, hat das Wiener Apo¬
theker Ilauptgremium beschlossen, specielle Weinmarken für diese
Zwecke in den Apotheken einzuführen. Das Gremium war dabei von
dem Bestreben geleitet, die Kranken mit gleichförmigen, guten und
den Forderungen der Pharmakopoe entsprechenden Weinsorten zu ver¬
sorgen und so den Herren Aerzten und dem Publicum die Sicherheit
zu bieten, dass die Weine in vollkommen gleicher und guter Qualität
aus jeder beliebigen Apotheke verordnet, beziehungsweise bezogen
werden können. Zu diesem Zwecke hat das Gremium eine Gremial-
marke von Weiss- und Rothwein in Flaschen zu 2 K und liv30A
eingeführt und sind die Flaschen mit der Schutzmarke des Gremiums
und ausserdem mit der Controlmarke der „Oesterreichischen chemischen
Controle“ versehen. Ebenso ist auch von Marsalawein eine eigene
Gremialmarke in den Apotheken eingeführt.
*
In Ergänzung der Notiz in Nr. 26 dieser Wochenschrift über
den XIII. Internationalen Congress in Paris wird noch
bemerkt, dass die Theilnehmerkarten gegen den Erlag von 24 K von
Prof. Dr. Adam Politzer (Wien, L, Gonzagagasse 19) ausgefolgt
werden, dass jedoch die Inscriptionen in Wien am 28. d. M. abge¬
schlossen werden. Von da an werden die Anmeldungen nur mehr beim
Generalsecretariat, Paris 21, Rue de l’Ecole de Medecine, angenommen.
Während des Congresses wird am Sitzungsorte ein Post- und Telegraphen¬
bureau functioniren. Die Congresstheilnehmer können ihre Correspon-
denzen sich unter der einfachen Adresse: N. N., Membre du Xllle
Congies International de Medecine, Paris, zusenden lassen.
*
Bei der immer mehr zunehmenden Bedeutung, welche der Photo¬
graphie unter den Hilfswissenschaften der theoretischen und praktischen
Medicin zukommt, ist es am Platze, auf den eben erschienenen 14. Jahr¬
gang (1900) des vom Director der k. k. graphischen Lehr- und Ver¬
suchsanstalt in Wien, Hofrath Dr. Eder, im Verlage von W. Knapp
in Halle a. S. herausgegebenen Jahrbuches für Photographie
und Eeproductionstechnik aufmerksam zu machen. Ein
Ueberblick über die wichtigsten Fortschritte der neuesten Zeit auf dem
Gebiete der Photographie, Photochemie und -Mechanik führt die Ver¬
besserungen der Apparate, der Technik beim Photographiren und Ent¬
wickeln der Bilder, die Leistungsfähigkeit des photographischen Farben¬
druckes u. s wr. vor. Neben etwa 80 Originalbeiträgen, dem Jahres¬
berichte, enthält das Werk 260 Abbildungen und 34 Kunstbeilagen.
Preis M. 8.—.
*
SanitätsverhältnissebeiderMannschaftdesk.u.k. Heeres
im Monat April 1900. Mit Ende März 1900 waren krank ver¬
blieben bei der Truppe 2049, in Heilanstalten 7690 Mann. Kranken¬
zugang im Monat April 1900 15.970 Mann, entsprechend pro Mille
der durchschnittlichen Kopfstärke 55. Im Monat April 1900 wurden
an Heilanstalten abgegeben 7700 Mann, entsprechend pro Mille der
durchschnittlichen Kopt'stärke 26. Im Monat April 1900 sind vom
Gesammtkrankenstande in Abgang gekommen 16.517 Mann, darunter als
diensttauglich (genesen) 14.193 Mann, entsprechend pro Mille des
Abganges 859, durch Tod 85 Mann, entsprechend pro Mille des Ab¬
ganges 5U4, beziehungsweise pro Mille der durchschnittlichen Kopf¬
stärke 0-29. Am Monatsschlusse sind krank verblieben bei der Truppe
1738, in Heilanstalten 7454 Mann.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeinde gebiete. 25. Jahreswoche (vom 17. Juni
bis 23. Juni 1900). Lebend geboren: ehelich 565, unehelich 291, zusammen
856. Todt geboren: ehelich 52, unehelich 22, zusammen 74. Gesammtzahl
der Todesfälle 641 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
18’9 Todesfälle), darunter an Tuberculose 120, Blattern 0, Masern 8,
Scharlach 2, Diphtherie und Croup 4, Pertussis 3, Typhus abdominalis 0,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 2, Neu¬
bildungen 53. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (• — 1), Varicellen
34 ( — 8), Masern 203 ( — 50), Scharlach 47 (-j- 18), Typhus abdominalis
16 (-)- 8), Typbus exanthematicus 0 (=), Erysipel 34 (-j- 5), Croup und
Diphtherie 27 (— j— 8), Pertussis 58 (-f- 13), Dysenterie 0 (=), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 4 (-(- 1), Trachom 1 (=), Influenza 1 (-{- 1).
Freie Stelle«.
Districts a rztesstelle für den Sanitätsdistrict »Oberes Lesach-
thal« mit dem Wohnsitze in Liesing, Kärnten. Mit derselben ist eine
Jahresremuneration von 1400 K , und zwar 600 K aus dem
Landesfonde und 800 K von den betreffenden Gemeinden verbunden,
sowie für Dienstreisen, Durchführung der öffentlichen Impfung und Vor¬
nahme der Todtenbeschau der Bezug der normirten Gebühren. Auch stellt
die Gemeinde Liesing dem Districtsarzte eine passende Wohnung mit vier
Zimmern und Zugehör um einen Jahresmiethzins von 100 K zur Ver¬
fügung. Die gegenseitige Kündigungsfrist beträgt zwei Monate. — Der
Districtsarzt hat die Verpflichtung, eine Hausapotheke zu führen, und je
einmal in der Woche an vorher bestimmten Tagen in den Gemeinden
Birnbaum und Luggau Berufsamtstage abzuhalteu und dort zu ordinireu.
Die Bewerber um diese Stelle werden eingeladen, ihre vorschriftsmässig
belegten Gesuche bis längstens Ende Juli 1. J. bei der k. k. Bezirks-
hauptmannscbaft Hermagor zu überreichen.
Zwei Secundararztesstellen an den kärntnerischen Landeswohl-
tbätigkeitsanstalten (Krankenhaus, Irrenanstalt) in Klagen furt. Bewerber
um diesen Dienstposten, mit welchem nebst freier, beheizter und beleuch¬
teter Wohnung eine jährliche Remuneration von 600 fl. verbunden ist,
haben ihre gehörig belegten Gesuche, in welchen auch der Nachweis der
geleisteten Militärdienstpflicht zu erbringen ist, bis 22. Juli 1900 bei der
Direction der kärntnerischen Landeswohlthätigkeitsanstalten in Klagenfurt
einzubringen.
Landes-Sanitätsreferentenstelle in Linz, Oberösterreich,
mit den systemmässigen Bezügen der VI. Raugsclasse. Bewerber um diese
Stelle haben ihre mit den erforderlichen Belegen versehenen Gesuche im
Wege der Vorgesetzten Behörde bis 15. August 1900 bei dem k. k. Statt-
haltereipräsidium in Linz einzubringen.
Gemeindearztesstelle in der aus den Gemeinden Jageubach,
Rieggers, Dorf Rosenau und Schloss Rosenau bestehenden, circa 1900 Ein¬
wohner zählenden Sanitätsgemeindengruppe Jagenbach, Niederöster¬
reich. Entschädigung für den Sanitätsdienst nach Uebereinkommen. Eine
Subvention jährlicher 800 K aus dem Landesfonde in Aussicht gestellt.
Führung einer Hausapotheke erforderlich. Bewerber um diese durch die
Zurücklegung der Praxis seitens des bisherigen, durch 25 Jahre in den ge¬
nannten Gemeinden tliätig gewesenen Gemeindearztes in Erledigung gelan¬
gende Stelle wollen sich an den Obmann der Sanitätsgruppe, Johann Murth
in Jagenbach, wenden.
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
Wiener klinische Wochenschrift
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, O. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner,
M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann,
R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, G. Toldt, A. v. Vogl,
J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuekerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gussenbauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VI 11/1, Wickenburggasse 13.
XIXI. Jahrgang. Wien, 26. Juli 1900. ££r. 30.
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tions-Aafträge für das In-
und Ausland werden von
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Postämtern, sowie auch von
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nommen. — Abonnements,
deren Abbestellung nicht
erfolgt ist, gelten als er¬
neuert. — Inserate werden
mit 60 h = 50 Pf. pro
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zeile berechnet. Grössere
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Telephon Nr. 6094.
©
Die „Wiener klinische
Wochenschrift“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von minde¬
stens zwei Bogen Gross¬
quart.
Zuschriften für die Redac¬
tion sind zu richten an
Dr. Alexander Fraenkel,
IX/3, Maximilianplatz,
Günthergasse 1. Bestellun¬
gen und Geldsendungen an
die Verlagshandlung.
©
Redaction :
Telephon Nr. 3373.
IlSTHALT:
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel: 1. Aus dem hygienischen Institute der k. k. Uni¬
versität Innsbruck (Prof. A. L o d e). Ueber Glycerin als Constituens
für Autiseptica. Von Dr. Oscar v. Wunsch heim, Assistenten
am Institute.
2. Aus der geburtshilflich-gynäkologischen Klinik (Prof. E h r en¬
do r f e r) in Innsbruck. Bericht über 22 Fälle von künstlicher
Unterbrechung der Schwangerschaft. Von Dr. Josef v. Braiten-
h e r g, Assistenten der Klinik.
3. Ueber Ferropyrin als Hämostaticum. Von Dr. E. T o f f, Frauenarzt
in Braila (Rumänien).
II. Referate: I. Neue Methoden der Wandheilung. Von Dr. C. L.
Schleich. II. Allgemeine Chirurgie und Operationslehre. Von
Dr. Arno Krüc h e. III. Verbandlehre. V< n A. H o f f a. IV. Die
Osteotomie bei der Behandlung der Hüftgelenksdeformitäten. Von
Prof. Dr. A. Hoffa. V. Technik der Massage. Von Prof. Dr. A.
II o f f a. VI. Die Prophylaxe in der Chirurgie. Von Prof. Dr. A.
Hoffa und Dr. A. Lilienfeld. VII. Zur Pathologie der
Erkrankungen des Wurmfortsatzes. Von Dr. G. H o n i g m a n n.
VIII. La Chirurgia del Perieardio e del Cuore. Dal Prof. Errico
Giordano. Ref. K. B ü d i n g e r. — I. Die Krankheiten der
Eierstöcke und Nebeneierstöcke. Von A. Martin. H. Die Krauk-
heiten der Frauen. Von H. Fritsch. III. Die Steibliehkeit »im
Kindbett« in Berlin und in Preussen 1877 — 1896. Von Pb. Ehlers.
Ref. H. Ludwig.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
Aus dem hygienischen Institute der k. k. Universität
Innsbruck (Prof. A. Lode).
Ueber Glycerin als Constituens für Antiseptica.)
Von Dr. Oscar v. Wunschheim, Assistenten am Institute.
Da Glycerin in der Heilkunde als Lösungsmittel und als
Träger für antiseptisch wirkende Arzneistoffe vielfach in Ver¬
wendung steht — wir erwähnen als bekannte Beispiele Tannin¬
glycerin, Carholglycerin u. s. f. — schien die Frage einer
Untersuchung werth, ob nicht in den angeführten und in ähn¬
lichen Fällen das Antisepticum derart modificirt würde, dass
die Wirkung des Mittels eingeschränkt oder völlig aufgehoben
erscheinen könne.
Diese Frage war nunmehr einer experimentellen Bear¬
beitung würdig, als ja durch neuere Arbeiten bezüglich des
Alkohols als Lösungsmittel für Antiseptica eine Reihe merk¬
würdiger und beachtenswerther Resultate gefördert worden
waren. 2)
Als Ausgangspunkt für die Wirkung der in Unter¬
suchung genommen Antiseptica dienten Lösungen der betreffenden
Substanzen in Wasser; analog diesen wurden die Lösungen
der Antiseptica in Glycerin hergestellt.
Ehe wir an die Beantwortung unserer Frage herantreten
konnten, war zu ermitteln, ob nicht das Glycerin an und für
sich bacterientödtende oder entwicklungshemmende Eigen¬
schaften besässe. Dass hiebei nur Proben von reinem Glycerin
') Kurze Mittheilung' nach einem am 10. März 1900 in der wissen¬
schaftlichen AerztegesellscLalt zu Innsbruck gehaltenen Vortrage. Die aus¬
führliche Arbeit erscheint im Archiv für Hygiene.
•) Ferdinand Epstein, Zur Frage der Alkoholdesinfection.
Zeitschrift für Hygiene. 1897, und Rafael Minervini, Ueber bac¬
tericide Wirkung des Alkohols. Ebenda. 1898.
oder wenigstens solche von sehr hohem Glyceringehalt irgend
einen bactericiden Einfluss versprechen konnten, war von
vorneherein sicher.
Verwenden wir ja doch das Glycerin in geringen Pro¬
centsätzen als Zusatz zu verschiedenen Nährmedien, um den
Werth derselben für die Züchtung zu erhöhen.
Ohne die diesbezügliche, übrigens nicht übereinstimmende
Literatur zu besprechen, will ich meine eigenen Erfahrungen
ihrem wesentlichen Inhalte nach mittheilen.
Die Versuche wurden in der Weise ausgeführt, dass
bacterienreiche Aufschwemmungen von Bact. coli, Staphy¬
lococcus pyogenes aureus und des Cholera vibrio in reines
käufliches Glycerin, sowie in Glycerinwassermischungen von
70, 50 und 30% Glyeeringehalt eingetragen wurden. Durch
eine Reihe von Tagen wurden aus den bei 22° C. gehaltenen
Proben kleine Mengen mittelst der Oese entnommen und in
Bouillon übertragen.
Beim Versuche mit Cholera (Berlin), einem durch mehr
als ein Decennium im Laboratorium fortgezüchteten Stamme,
zeigte sich, dass nach 24stündigem Einwirken die in höher
concentrirtes Glycerin eingebraeht gewesenen Vibrionen abge¬
storben waren, während nur die in 30°/oigem Glycerin auf¬
bewahrten noch Wachsthum erkennen Hessen. Jedoch auch in
dieser Verdünnung waren dieselben nach 48 Stunden abge-
tödtet wordeD. Vibrionen des Stammes Cholera (Krakau)
waren schon nach 24 Stunden in allen Proben vernichtet.
Wenn man nun bedenkt, dass der Choleravibrio sich in
der Probe am längsten lebensfähig erwies, welche am meisten
Wasser enthielt, andererseits die wasserentziehende Wirkung
des Glycerins im Allgemeinen in Rechnung zieht, so liegt der
Gedanke wohl nahe, dass es diese Wirkung des Glycerins sei,
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 30
682
welche den gegen Wasserverluste ohnehin empfindlichen Vibrio
geschädigt habe.
Ein individuell gänzlich verschiedenes Verhalten gegen¬
über den wässerigen Verdünnungen des Glycerins zeigten
Bact. coli und Staphylococcus. Ersteres war im reinen Glycerin
nach wenigen Tagen abgestorben, zeigte sich aber in der 70,
f>0 und 30%igen Verdünnung längere Zeit noch lebensfähig.
Letzteres war in der 50, 70%igeu Verdünnung früher abge¬
storben als im reinen Glycerin, erhielt sich jedoch längere
Zeit im 30%igen Glycerin.
Eine beiden Bacterienarten, sowie dem Cholera vibrio
gemeinsame Erscheinung lag darin, dass die genannten Mikro¬
organismen in der am wenigsten Glycerin enthaltenden Mischung
am längsten sich erhalten konnten.
Wenn wir in dem angeführten Versuchen von reinem
Glycerin gesprochen haben, so ist dies in dem Sinne gemeint,
dass das aus bester Quelle bezogene Präparat ohne Wasser¬
zusatz verwendet wurde. Vollständig wasserfrei war dasselbe
übrigens nicht, wie uns Wägungen aliquoter im Dampfschranke
getrockneter Proben lehrten. Der Wassergehalt betrug nach
diesen Ermittlungen 5-6%, so dass sowohl die procentualischen
Angaben bezüglich der Versuche mit Glycerin allein, als auch
die über Lösungen der Antiseptica im Glycerin mit diesem,
übrigens durch Rechnung leicht eliminirbaren Fehler behaftet
sind. Zu diesem Fehler gesellt sich bezüglich des Wasser¬
gehaltes noch ein weiterer, der durch die Technik der Des-
infectionsversuche gegeben war. Versuche mit Carboiglycerin
hatten nämlich schon ergeben, dass bei höherem Wassergehalt
des Glycerins die Wirkung des darin gelösten Antisepticums
eine wesentlich andere ist, als beim reinen Glycerin. In Folge
dessen wurde von der üblichen Methode, das doppelt so stark
concentrirte Desinficiens durch Vermischen mit der wässerigen
Bacteriensuspension ana partes auf die gewünschte Concen¬
tration zu bringen, abgegangen. Es wurden im Reagensröhrchen
zu 5 cm3 des zu prüfenden Desinficiens 0'lcm3 Bacterien-
emulsion hinzugefügt, wodurch der eben erwähnte Fehler, eine
weitere Steigerung des Wassergehaltes um 2% unvermeidlich
gegeben war. Nach dem Zusatze der Bacterienaufschwemmung
zum Desinficiens wurde kräftig geschüttelt, um eine möglichst
gleichmässige Vertheilung der Bacterien zu erzielen. In ent¬
sprechenden Intervallen wurden sodann jedes Mal drei Oesen
der Mischung entnommen und in ein Fleischpeptonbouillon¬
röhrchen übertragen.
Da aber durch das IJebertragen des Antisepticums im
ersten Röhrchen möglicher Weise eine Entwicklungshemmung
Platz greifen und eine Abtödtung der Bacterien vorgetäuscht
werden könnte, wurde jedes Mal aus dem ersten Röhrchen eine
zweite Verdünnung angelegt, eine Methode auf deren Zweck¬
mässigkeit unter Anderen M. Gruber mit Nachdruck hinge¬
wiesen hat.
Die Röhrchen wurden sogleich in den Thermostaten
von 37° C. gebracht und durch mindestens acht Tage beob¬
achtet.
In der Literatur konnten wir ausser Angaben, welche
die Einwirkung von reinem Glycerin und reinen wässerigen
Verdünnungen auf Bacterien erörtern, keinerlei Mittheilungen
über den Einfluss von glyceringelösten Antisepticis auffinden.
Jedoch hat Koch das Verhalten der in Oel oder Alkohol ge¬
lösten Carbolsäure geprüft. Er sagt in seiner epochemachenden
und grundlegende Thatsachen feststellenden Arbeit »Ueber
Desinfection« 3): »in Oel oder Alkohol gelöst, äusserte Carbol¬
säure auch nicht die geringste desinficirende Wirkung«. Er
bemerkt ferner, dass dieselbe Erscheinung sich auch bei
Salicylsäure, Thymol und vermuthlich auch noch bei vielen
anderen wiederholt. Wir wollen gleich hier bemerken, dass
wir in der Koch'schen Arbeit vergeblich nach Angaben über
das Verhältniss zwischen Glycerin und Carbol gesucht haben;
umso befremdender musste das Citat von Hammer in seiner
3) Mittheilungen aus dem kaiserlichen Gesundheitsamte, Berlin.
1881, Bd. I.
Arbeit »Ueber die desinficirende Wirkung der Kresole und
die Herstellung neutraler wässeriger Kresollösungen « 4) auf¬
fallen: »Allerdings besitzt nur die wässerige Lösung der
Carbolsäure desinficirende Eigenschaften, während die Lösung
derselben in Alkohol, Glycerin oder Oel, wie Koch ermittelt
hatte, fast gar keine desinficirende Wirkung äussert«. Wir
konnten, wie gesagt, keine diesbezüglichen Angaben in der
erwähnten Arbeit Koch’s finden. Auch sonst gelang es uns
nicht, in der zugänglichen Literatur über die bacterientödtende
Wirkung von Lösungen der Antiseptica in Glycerin Anhalts¬
punkte zu gewinnen.
Ein Beweis, dass man wohl kaum angenommen hatte,
dass wenigstens niedrig procentuirte Carboiglycerinlösungen
innerhalb gewisser Zeiten nicht desinficiren, dürfte auch darin
gesehen werden, dass Carboiglycerin, nachdem auf dieKoch-
sche Arbeit hin Carbolöl in Misscredit gerathen war, neben
höher procentuirten antiseptisch wirkenden Concentrationen in
Lehrbüchern auch in solchen niedrigen Concentrationen an¬
empfohlen wird, von denen unsere Versuche eben zeigen, dass
sie innerhalb der beobachteten Zeiten gar nicht oder doch nur
ganz ausnahmsweise, wenn nämlich der Wassergehalt des
»reinen« Glycerins ein sehr beträchtlicher ist, wirken.
So sagt T i 1 1 m a n n s 5) »5%iges Carboiglycerin oder
Carboivaseline benützen wir nur zum Bestreichen der Finger
bei Untersuchungen der Vagina, des Rectums u. s. w.«
Auch nach neuesten therapeutischen Literaturangaben
— wir erwähnen die eben erschienene Auflage des Recept-
taschenbuches von Landesmann6) — wird Carboiglycerin
in niedrigen Concentrationen empfohlen. So werden nach
Landesma n n auf der Klinik Albert Spritzen, Silberdraht
in (Rp. 1070)
Acidi carbolici 15'0,
Glycerini 3000.
S. 5%iges Carbolgiycerin
aufbewahrt. In dem der Therapie auf der Klinik Neumann
gewidmeten Abschnitte desselben Buches lesen wir pag. 535
»die Blase wird vermittelst eines N 6 1 a t o n - Katheters ent¬
leert, der stets in 50%iger Carbolglyeerinlösung aufzubewahren
ist und vor der Einführung gut abgetrocknet und bestrichen
wird« mit (Rp. 1693)
Acidi carbolici 0'5 — 10,
Ol. olivar. 100.
S. Carbolöl.
Die Verantwortung für die Richtigkeit dieser Angaben
müssen wir natürlich dem erwähnten Autor überlassen.
Die angeführten Beispiele dienen als Beleg, dass noch
heute Lösungen von Antisepticis in Glycerin, speciell aber von
Phenol in Glycerin in einem gerade unter Praktikern ver¬
breiteten Buche als Antiseptica empfohlen werden.
Was nun die Wirkung von Antiseptica, in Glycerin ge¬
löst, anbelangt, so wurde das Verhalten von Glycerin mit
Säuren, mit Alkalien, mit Phenolen und Kresolen, einigen
anderen Körpern, und endlich das Verhalten von Antisepticis,
Glycerinseifenlösungen zugesetzt, dem Staphylococcus pyogenes
aureus gegenüber untersucht. Bei allen untersuchten Körpern,
mit nur drei Ausnahmen, erwies sich die bacterientödtende
Kraft der in Glycerin gelösten Antiseptica gegenüber dem
Staphylococcus aureus und bezogen auf unsere Versuchszeiten
von einer Stunde geringer als die gleichen Concentrationen in
wässeriger Lösung.
Tabelle I fasst die diesbezüglichen Ergebnisse zu¬
sammen.
4) Archiv für Hygiene. Bd. XII, pag. 359.
5) Lehrbuch der allgemeinen Chirurgie. Dritte Auflage. 1893,
pag. 137.
6) Die Therapie an den Wiener Kliniken. 1900.
Nr. 30
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
683
Tabelle I.
Staphylococcus pyogenes aureus M.
-(- Wachsthum, — Sterilität.
Minuten
5
10
15
30
45
60
Glycerin . .
+
4-
4-
4-
4-
+
Wasser - .
Glycerin . .
4-
+
4-
4-
—
—
Wasser . .
+
+
—
—
—
—
Glycerin . .
+
4-
4-
4-
4-
4-
Wasser . .
+
—
—
—
—
—
Glycerin . .
4-
4-
4-
4-
4-
4-
Wasser . .
+
4-
4-
4-
4-
+
Glycerin . .
—
—
—
—
—
—
Wasser . .
—
—
—
—
—
—
Glycerin . .
4"
4-
4-
4-
4-
4-
Wasser . .
—
—
— •
—
—
—
Glycerin . .
4-
+
4-
4-
4-
4-
Wasser . .
—
—
—
—
—
Glycerin . .
4-
4-
4-
+
4-
4~
Wasser . .
Glycerin . .
4-
+
4-
4-
4-
+
Wasser . .
—
—
—
—
—
Glycerin . .
4-
4-
+
4-
4-
4-
Wasser . .
4-
4-
+
—
—
—
Glycerin . .
4-
4-
4-
4-
+
4-
Wasser . .
Glycerin . .
Wasser . .
4-
4-
4-
4-
+
4~
4-
+
Glycerin . .
4-
4-
+
4-
4-
4-
Wasser . .
—
—
—
—
—
—
Glycerin . .
4-
+
4-
—
—
—
Wasser . .
4-
—
—
—
—
—
Glycerin . .
4-
4-
4-
4-
4~
+
Wasser . .
4-
—
—
—
—
Glycerin . .
4-
+
+
4-
4-
4-
Wasser . .
—
l'89°/n Oxalsäure .
13-32% Na, COn
10°/0 Carbol
iy'/
° Io
J/2 °/0 Orthokresol . .
1 1 2 °/o Parakresol . . .
/2n/o Metakresul .
9 0/
^ 10
Creolin .
2°/o
Lysol
2%
Saprol .
90/
^ 10
Formol .
1 0°'
iu ;c
, Tannin
1 0/
1 Oü
Thymol
Die erwähnten Ausnahmen zeigten sich bei den Ver¬
suchen mit Essigsäure -, Salzsäure- und Acetonglycerin.
Während bei der Essigsäure der Desinfectionswerth so¬
wohl beim Eisessigglycerin, als beim Eisessigwasser der gleiche
war, fanden wir beim Salzsäuveglycerin und Acetonglycerin
eine Steigerung der bactericiden Kraft gegenüber der wässeri¬
gen Lösung (Tabelle II).
Tabelle II.
Staphylococcus pyogenes aureus M.
Wachsthum, — Sterilität.
20% Aceton
Minuten
5
10
15
30
45
60
Glycerin . .
4-
4-
_
_
_
_
Wasser . .
4-
4-
—
—
—
—
Glycerin . .
+
—
—
—
—
—
Wasser . .
4-
4-
+
—
—
—
Glycerin . .
4-
+
4-
+
—
—
Wasser . .
4-
4-
4-
4~
4-
4-
Antiseptica, zu Glycerinseifenlösungen zugesetzt, verloren
ebenfalls an Desinfectionswerth. Diese Glycerinseifenlösungen
waren so hergestellt, dass 10% Kaliseife in reinem Glycerin
gelöst wurden, worauf der Zusatz des Antisepticums erfolgte.
Bei den controlirenden Parallelversuchen wurde an Stelle des
Glycerins Wasser verwendet.
Hiebei zeigte sich, dass 5%iges Carboiseifenglycerin erst
nach 30' die Vernichtung des Staphylococcus aureus bewerk¬
stelligt hatte, während dies beim 5%igen Carboiseifenwasser
schon nach 5' geschehen war. 2%iges Orthokresolseifen-
glycerin vermochte den Staphylococcus innerhalb einer Stunde
nicht abzutödten, während 2%iges Orthokresolseifenwasser
nach 5' Einwirkungszeit schon desinficirend gewirkt hatte.
Ganz ähnliche Verhältnisse fanden sich beim Lysol- und
Creolinseifenglycerin.
Mit Rücksicht, auf die oben erwähnten Literaturangaben
und die praktische Bedeutung des Carboiglycerins wurde das¬
selbe am eingehendsten studirt.
Es sei nun im Folgenden gestattet, die diesbezüglichen
Versuchsergebnisse genauer zu erörtern.
Wie wir aus Tabelle I ersehen, desinficirt nur die
10%ige Carbolglycerinlösung (der Procentgehalt stets auf
Phenol bezogen), während weder die 5%me noch die 2 '/2%ige
Phenolglycerinlösung innerhalb der angeführten Zeiten sich
wirksam erweist. Derselbe, allerdings nicht besonders wider¬
standsfähige Staphylococcus aureus wurde im Controlversuche
nicht nur in 21/2%iger, sondern auch in P5%iger wässeriger
Carbollösung innerhalb von 5' vernichtet.
Um zu erkennen ob durch Wasserzusatz die 5%ige
Carbolglycerinlösung, die unwirksam sich zeigte, nicht wirk¬
sam gemacht werden könnte, wurde dieselbe mit Wasser so
weit verdünnt, dass eine 2 72%ige> Glycerin und Wasser zu
annähernd gleichen Theilen enthaltende Phenollösung entstand.
Diese Lösung zeigte sich nun merkwürdiger Weise im Des-
infectionsversuche wirksam, ebenso wie die auf die Hälfte mit
Wasser verdünnte 10%'ge Carbolglycerinlösung. Brachte man
jedoch die 10%ige Carbolglycerinlösung, anstatt sie mit Wasser
zu verdünnen, durch Glycerinzusatz auf eine Concentration von
5%> oder die 5%ige Carbolglycerinlösung ebenso auf 2,/2%
Phenol, so war nichts mehr von einer bactericiden Wirkung
innerhalb der Versuchsdauer zu bemerken.
Man sieht also, dass dem Wassergehalt bei niedrigen
Carboiconcentrationen eine entscheidende Rolle zukommt. Den¬
selben jedoch als Grundbedingung für das Eintreten eines
Desinfectionseffectes verantwortlich zu machen, geht wegen der
Wirksamkeit der 10%igen Carbolglycerinlösung nicht an.
Allerdings ist auch hier zu bedenken, dass nicht völlig wasser¬
freies Glycerin im Versuche stand, und dass der AVassergehalt
im 10%igen Carboiglycerinversuch immerhin 8% betrug. Wir
kommen bei der Erörterung der Ergebnisse abermals auf diese
Verhältnisse zurück.
Tabelle III.
-f- Wachsthum, ■ — Sterilität.
Einwirkungsdauer in Minuten
Ver¬
dün¬
nung
5
10
15
30
45
60
Roines Glycerin .
I
4-
4-
+
4-
+
4-
-f 2-5% Carhol .
11
4-
4-
4-
4-
4-
4-
98°/n Glycerin .
I
4-
4-
+
4-
4-
4-
+ 2-5 % Carbol .
11
4-
+
4-
+
4-
4-
96°/o Glycerin .
I
4-
4-
4-
+
4-
4-
-f 2-5% Carbol .
11
4~
+
4-
4-
4-
—
94% Glycerin .
I
4-
4-
4-
4-
4-
+
4- 2‘5% Carbol .
II
+
4-
+
4-
—
—
90n/0 Glycerin .
I
4-
4-
4-
4-
4-
4~
4- 2-5% Carbol .
II
4-
4-
+
—
—
—
80n/o Glycerin .
I
4-
4-
—
—
—
—
-j- Z’5 °/0 Carbol .
11
+
—
—
—
—
—
70° n Glycerin .
I
+
—
—
—
—
—
4- 2 ö°/0 Carbol .
II
—
—
—
—
—
60"/0 Glycerin .
I
—
—
—
—
—
—
+ 2*5°/0 Carbol .......
II
Dass dem Wassergehalte eine entscheidende Rolle zu¬
kommt, zeigt uns der in Tabelle III veranschaulichte A ersuch.
Wir sehen hier, dass mit steigendem Wassergehalte die Des-
infectionskraft des Carbois wächst; ferner, dass ein A\ assergehalt
von 10% noch nicht genügt, um eine Desinfectionswirkung des
684
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 30
Carbols hervorzubringen, selbst angenommen, dass unser »reines
Glycerin« wirklich vollwerthig wäre und wir durch den Zu¬
satz der wässerigen Bacterienemulsion nicht auch noch Wasser
hinzubringen würden. Die oben erwähnten diesbezüglichen Er¬
mittlungen müssen hier nun in Rechnung gezogen werden.
Wir haben die auf »reines Glycerin« bezogenen Zahlen der
Tabelle III dahin zu corrigiren, dass wir in jedem Falle
einem um 8% höheren Wassergehalt anzunehmen haben, da
die Tabelle nur die experimentell zugesetzten Wassermengen
verzeichnet. Es stellen sich also die Zahlen so, dass wir bei
10 (18)% Wasser noch keinen Desinfectionseffect des Carbol-
glycerins verzeichnen, bei 20 (28)% und 30 (38)% Wasser
schon eine bedeutende Üesinfectionswirkung erreichen, erst bei
50% Wasser aber den einer wässerigen Carbollösung gleicher
Concentration gleichwerthigen Desinfectionseffect erzielen.
Setzen wir zu einer wässerigen Lösung von Carbol
Eisenchlorid hinzu, so sehen wir eine charakteristische Blau¬
färbung auftreten, die Phenolreaction. Wie bekannt, geht die
Reaction mit Eisenchlorid in alkoholischer Lösung nicht vor
siel». In ganz analoger Weise verhält sich Glycerin; wir er¬
halten auf Zusatz von Eisenchlorid in Carboiglycerin keine
Blaufärbung, sondern olivgrüne und gelbliche Töne.
Es drängt sich nun naturgemäss die Frage auf, warum
wohl das Carboiglycerin — in gewissen Concentrationen wenig¬
stens und bezogen auf gewisse Zeiten, in unseren Versuchen
also eine Stunde — nicht bacterientödtend wirkt, während
den gleichen Concentrationen wässeriger Lösung diese Eigen¬
schaft zukommt.
Man könnte vielleicht annehmen, dass es die hohe
Viscosität, die Zähflüssigkeit des Glycerins sei, die, eine gute
Vertheilung des Phenols im Glycerin erschwerend, einzelne
Bacterien vor der Desinfection schützt.
Um diesen Einwand zu beseitigen, war es nothwendig,
eine Flüssigkeit zu besitzen, die bei gleichem Carbolgehalt
mindestens denselben Viscositätsgrad haben musste als unser
beim Versuche angewendetes Carboiglycerin.
Diesen Bedingungen entsprach eine eingedickte Gummi¬
lösung, welche mit Carbolsäure versetzt wurde. Der Viscositäts¬
grad dieser Gummilösung, sowie jener der zum Parallelversuch
verwendeten gleich procentuirten Carbolglycerinlösung wurde
vor dem Desinfectionsversuch festgestellt
Unter Viscositätsgrad oder specifischer Viscosität ver¬
stehen wir jene Verhältnisszahl, welche uns angibt, wie viel
Male mehr Zeit eine Flüssigkeit braucht, um aus einer Oeff-
nung auszufliessen, als eine gleich grosse Menge Wasser. Es
sind zur Bestimmung dieser Zahl Apparate der verschiedensten
Construction angegeben worden, welche unter genauer Berück¬
sichtigung der Temperatur und vorgeschriebenen Ausfluss¬
grössen die Bestimmung vorzunehmen gestatten.
Uns stand ein derartiges Instrument nicht zur Ver¬
fügung, wir konnten uns jedoch mit einem improvisirten voll¬
ständig zufrieden geben, da es sich ja nicht um Bestimmung
absoluter Grössen, sondern nur um Gewinnung von Vergleichs¬
zahlen handelte. Um gegen uns zu experimentiren, wählten
wir absichtlich einen Viscositätsgrad, der den des Carboiglycerins
um ein Beträchtliches übertraf. Die mit unserem Instrumente
vorgenommene auf Wasser als Einheit bezogene Viscositäts-
gradbestimmung ergab für das Carboiglycerin 25 66, für die
Gummilösung 105'66°, also übertraf der Viscositätsgrad letzterer
den des Carboiglycerins um mehr als das Vierfache. Dessen¬
ungeachtet war im 2'/2%igen Carbolgummi unser Staphy¬
lococcus nach 5' abgetödtet, während er im 2’/2%igen Carbol-
glycerin sich noch nach einer Stunde als lebensfähig erwies.
Die Gummilösung ohne Carbolzusatz wirkte nicht bac-
tericid.
Es konnte also nicht der Viscositätsgrad sein, der den
Aureus vor der Vernichtung bewahrte.
Eine andere mögliche Annahme wäre nun des Weiteren
die, dass durch das Glycerin vermöge seiner wasserentziehenden
11 ähigkeit die Membranen von Bacterien, welch letztere gegen
Wasserentziehung natürlich nicht so empfindlich sein dürfen
als es der Choleravibrio ist, in einen Zustand der Härtung
oder Schrumpfung übergeführt würden, welcher das Eindringen
von chemischen Agentien im Vergleiche zum normalen, ge¬
quollenen Zustande erschwert. Es wird nicht leicht sein, dieser
Frage experimentell näher zu treten, da man bei Wasser¬
zusatz immer wird dem Einwand Rechnung tragen müssen,
dass nun eben durch den Wasserzusatz der Zustand der
Härtung oder Schrumpfung so weit aufgehoben werden kann,
dass das Eindringen des Desinficiens wieder möglich ge¬
worden ist.
Für die analogen Ergebnisse mit Oel und Alkohol fand
Koch in seiner oben citirten Arbeit auch keine befriedigende
Erklärung. Die Quellung der Membranen hält er für das
Desinficiens nicht für nothwendig, nachdem auch Carbol-
därnpfe selbst bei 55° C. auf trockene Sporen abtödtend
wirkten. Allerdings ist hiebei als weiterer Factor die Wärme
eingeschaltet, und vorzügliche Arbeiten — wir citiren hier nur
die schönen Untersuchungen PI e i d e r’s in Grube r’s Labora¬
torium — haben zur Genüge bewiesen, dass die Einwirkungs¬
temperatur die Wirkung der Antiseptica ausserordentlich er¬
höhen kann.
Vielleicht liegt übrigens in der lakonischen Fassung der
Ergebnisse Koch’s der Kernpunkt der Frage. Koch sagt:
»In Oel oder Alkohol gelöst, äusserte die Carbolsäure auch
nicht die geringste desinficirende Wirkung«. Wie Koch selbst
hervorhebt, handelt es sich dabei um wasserfreie Lösungs¬
mittel, eine Angabe, welche wir bezüglich des Oeles selbst
bestätigen können und die bezüglich des Alkohols in der
Literatur wiederholt nachgeprüft und als richtig befunden
wurde.
Im Sinne der neueren Anschaungen über die Bedingungen
des Eintretens der Desinfectionswirkung haben wir uns nach
Krönig und Paul7) vorzustellen, dass die bactericide Wir¬
kung, welcher der Charakter einer Reaction zukommt, nur
dann zu Stande kommt, wenn das Antisepticum im Lösungs¬
mittel in einem Zustande der Dissociation sich befindet, wenn
also der zu lösende Körper im betreffenden Lösungsmittel
ganz oder theilweise in seine Jonen gespalten werden kann.
Nach Krönig und Paul sind Metallsalze, in Aether, Alkohol
oder ähnlichen Lösungsmitteln gelöst, ausserordentlich wenig
dissociirt, demgemäss ist auch ihre Wirkung auf Bacterien
nur gering. Ist es gezwungen, das Gleiche auch bezüglich der
Carbolglycerinlösung anzunehmen? Erst nach reichlichem
Wasserzusatze, das heisst erst dann, wenn ein Lösungsmittel
zugesetzt wurde, welches die Dissociation ermöglicht, tritt die
Wirkung ein.
Auch dem Gedanken an eine directe chemische Ver¬
änderung des Phenols durch das Glycerin müsste man Raum
geben. 8)
Wir sind also zur Annahme hingedrängt, dass sowohl
in der 5%igen, als auch in der 2'/2%igen Carbolglycerinlösung
Processe vor sich gegangen sind, welche — seien dieselben
nun chemischer oder molecularphysikalischer Natur — die in
Frage kommenden Substanzen derart modificirt haben, dass ein
Desinfectionseffect nicht zu erhalten war. Dass hiebei die Ab¬
wesenheit von nennenswerten Wassermengen eine Rolle spielt,
geht daraus hervor, dass wir durch Verdünnung mit Wasser
aus der nicht desinffeirenden 5%igen Carbolglycerinlösung
eine 2'/2%ige Carboiglycerinwasserlösung herstellen können,
welche wieder desinficirend wirkt.
7) Zeitschrift für Hygiene. 1897, Bd. XXV.
8) Prof. Loebisch bemerkt in der dem Vortrage folgenden D i s-
c u s s i o n, dass das Verhalten von Eisenchlorid zu Carbolsäure einen
Einzelfall der sogenannten Phenolreaction bildet; es geben nämlich die
Phenole mit Eisenchlorid bald violette, bald grüne, bald röthliche Lösun¬
gen. Aber diese Phenolreaction hört auf, wenn in der O H-Gruppe des
Phenols das Wasserstoftatom durch ein Alkoholradical ersetzt ist; so gibt
z. B. weder das Anisol C0 H5 . O . C H3 — Phenylmethyläther noch das
Phenetol C6 H5 . O C2 H5 = Phenyläthyläther die Violettfärbung mit Eisen¬
chlorid.
Auch die toxische Wirkung der O H-Gruppe wird durch solche Sub¬
stitutionen beeinflusst, wie zahlreiche Beispiele der synthetischen Darstellung
von Antipyreticis lehren. Demgemäss darf man wohl auch in diesem Falle,
wo durch die Gegenwart von Glycerin die autiseplische Wirkung des
Phenols aufgehoben wird, annehmen, dass hier eine ätherartige Bindung
stattgefunden hat, umsomehr als beide Körper sehr verbindungsfähige Sub¬
stanzen darstellen, wie dies die leichte Entstehung der Glycerinphosphor¬
säure, Glycerinschwefelsäure namentlich für das Glycerin beweist.
Nr. 30
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
685
Für die Praxis wird sich empfehlen, Carbol in Ver¬
bindung mit Glycerin als Antisepticum nur so zu verwenden,
dass man, wenn Carbol in reinem, das heisst unverdünntem
Glycerin gelöst wird, Concentrationen von mindestens 10% in
Anwendung bringt, bei niedrigeren Concentrationen, z. B. 5%>
aber das Glycerin ana partes mit Wasser zu verdünnen hätte.
In diesem Falle ist der Desinfectionswerth dem der rein
wässerigen Lösung vollkommen gleich, während sich der¬
selbe bei über 50% steigendem Glyceringehalte proportional
ungünstiger gestaltet.
Aus der geburtshilflich-gynäkologischen Klinik (Professor
Ehrendorfer) in Innsbruck.
Bericht über 22 Fälle von künstlicher Unter¬
brechung der Schwangerschaft.
Von Dr. Josef V. Braitenberg, Assistent der Klinik.
Die künstliche Unterbrechung der Schwangerschaft, um
gleichzeitig bestehende und lebensbedrohliche, nicht anders zu be¬
seitigende Krankheitserscheinungen der Mutter zu beheben,
ist schon seit längerer Zeit als ein vollberechtigter Eingriff
anerkannt worden. Nicht so verhält es sich mit der künst¬
lichen Einleitung der Frühgeburt, welche zur
Rettung des kindlichen Lebens in Fällen unternommen
wird, wo man entweder von vornherein nach dem aufgenom¬
menen Befunde, oder nach den bei vorausgegaugenen Geburten
gemachten Erfahrungen annehmen muss, dass das Kind am
normalen Schwangerschaftsende nur höchst unwahrscheinlich
lebend zur Welt gebracht werden kann. Während in dem
ersten Falle kein anderes Verfahren gewählt werden kann,
stellt im letzteren die künstliche Frühgeburt eine Concurrenz-
operation zur Sectio caesarea und (seit den letzten Jahren) zu
der schon einmal fast verschollenen Symphyseotomie vor,
welche beide Operationen zwar eine bessere Prognose für das
Leben der Kinder, hingegen eine schlechtere für das der
Mütter geben. Da bei diesen Operationen zwei Leben in Frage
kommen und heute, sowohl in ärztlichen Kreisen, wie auch
bei Laien, dem mütterlichen Leben wohl allgemein eine höhere
Werthschätzung zu Theil wird, als dem kindlichen, so wird
man zur Beurtheilung der Zweckmässigkeit eines’ derartigen
Verfahrens die erzielten Resultate der einen Operation mit
denen der anderen sorgfältig vergleichen müssen, wozu die
Heranziehung eines möglichst grossen statistischen Materiales
nöthig ist. Deshalb hat die Mittheilung selbst einer relativ
kleinen Anzahl von Fällen schon in dieser Richtung einen
bestimmten Werth.
Die Mortalität der Mütter nach Fhnleitung der künst¬
lichen Frühgeburt betrug nach einer Zusammenstellung von
Kehrer (1891) im Durchschnitt 14‘2%, indem selbe zwischen
0 — 50% schwankte. Dabei entfiel ein grosser Theil der zu¬
sammengestellten Fälle auf die vorantiseptische Zeit. Heute
bewegt sich die Mortalität um 2%-
Die Mortalität der Mütter nach dem conservativen Kaiser¬
schnitt war noch vor Sänger eine fast absolute, aber auch
heute schwankt sie noch zwischen 8 — 10%- Nach Grusdew’s
Angabe beträgt die Mortalität für die Symphyseotomie nach
einem ziemlich grossen statistischen Materiale über 11%. Sie
ist also noch höher, als die der Sectio caesarea, welche doch
mehr leistet und eine universellere Anwendbarkeit hat.
Soviel steht übrigens fest, dass zahlreiche Geburtshelfer,
welche sich mit warmem Interesse der Symphyseotomie ange¬
nommen hatten, dieselbe nach schlechten Erfahrungen wieder
aufgegeben haben. Dazu kommt noch, dass die Bedingungen
und Indicationen dieser Operation einen verhältnissmässig be¬
schränkten Wirkungskreis derselben gestatten. An der hiesigen
Klinik wurde seit deren Leitung durch Herrn Ehrendorfer
die Symphyseotomie nur einmal, und zwar mit gutem Erfolge
für Mutter und Kind, ausgeführt. Doch wählen wir bei Miss-
verhältniss zwischen Kopf und Becken fast immer nur zwischen
Einleitung der Frühgeburt und Sectio caesarea am normalen
Schwangerschaftsende.
Der Procentsatz der Kinder, welche nach Einleitung der
Frühgeburt lebend mit den Müttern die Anstalten verlassen,
wäre im Vergleich zu den Resultaten, die beim Sichselbstüber-
lassen solcher Fälle herauskommen, ein hoher zu nennen,
bleibt jedoch natürlich gegenüber den Erfolgen nach Kaiser¬
schnitt erheblich zurück. Würde man (wie Skorscheban)
Erkundigungen über das weitere Schicksal solcher Kinder ein¬
ziehen, so käme man zu recht traurigen Erfahrungen. Es wäre
jedoch unrecht, dies Alles der Methode zur Last zu legen.
Wir dürfen nicht vergessen, aus welchen socialen Kreisen sich
die Hauptmasse unseres Beobachtungsmateriales zusammen¬
setzt, sondern müssen bedenken, dass auch eine grosse Zahl
von reif und spontan zur Welt gekommenen Kindern durch
Sorglosigkeit der Mütter und Pflegerinnen zu Grunde gehen.
Im Ganzen haben wir, wie sich aus beifolgender Tabelle
ergibt, über 22 Fälle von künstlicher Unterbrechung der
Schwangerschaft zu berichten. Diese vertheilen sich auf
7472 Geburten (Juli 1887 bis heute). Die Gesammtfrequenz
dieses Eingriffes beträgt somit 0'29%.
Ali t besonderer Berücksichtigung des mütterlichen
Lebens wurde die Schwangerschaft in acht Fällen unterbrochen,
und zwar bei drei Erst-, zwei Zweit-, einer Viert-, einer
Neunt- und einer Zehntgeschwängerten. Drei Wochenbetten
verliefen afebril, bei fünf war es febril. Von den Wöchnerinnen
starb eine an septischer Peritonitis sieben Tage post partum,
eine andere zwei Monate später auf der medicinischen Klinik
an Lungentuberculose. Zweimal wurde die Schwangerschaft
mittelst Cervixtamponade, zweimal mit Bougies und viermal
mittelst Eihautstiches unterbrochen, und zwar einmal in der 25.,
zweimal in der 26., dreimal in der 28. und zweimal in der
32. Schwangerschaftswoche.
Mit besonderer Berücksichtigung des kindlichen
Lebens wurde in 14 Fällen die Schwangerschaft unterbrochen,
also die künstliche Frühgeburt eingeleitet, und zwar in vier
Fällen von einfach plattem Becken mit einer Conju-
gata vera von 7'2 — 8 (im Durchschnitt 7'7), dann in vier
Fällen von allgemein verengtem, platt- rachiti¬
schem Becken mit einer C. v. von 6 7 — 9 (im Durchschnitt
7-57), in fünf Fällen von allgemein gleichmässig
verengtem Becken mit einer C. v. von 7'7 — 8'8 (im
Durchschnitt 8*06), endlich in einem Falle von habituellem
Absterben der Frucht. Es handelte sich ferner um vier
Erst-, fünf Zweit-, vier Dritt- und eine Sechstgeschwängerte.
Bei im Ganzen 16 vorausgegangenen Geburten (einmal
fehlten nähere Angaben diesbezüglich) waren 14 todte (87‘5%)
und zwei lebende Kinder (12’5%) zur Welt gekommen. Unter
diesen zwei lebenden Kindern ist jedoch eines, welches durch
Einleitung der Frühgeburt ausserhalb der Anstalt zur Welt
kam. Rechnen wir dieses ab, so entfallen auf die früheren 15
sich selbst überlassenen Geburten 93% todte und 7% lebende
Kinder. Bei den von uns vorgenommenen Einleitungen der
Frühgeburt wurden acht Kinder (57%) lebend geboren, von
welchen sieben Kinder (50%) am 13. — 21. Tage post partum
lebend mit den Müttern die Anstalt verliessen. Die Chancen
der Kinder bei spontaner und bei künstlicher Unterbrechung
der Schwangerschaft würden sich also verhalten wie 7 : 50
oder 1 : 7. Die Wochenbetten waren elfmal afebril, dreimal
(21’5%) febril. Sämmtliche Mütter genasen, Mortalität 0%.
Elfmal waren zu Beginn der Geburt Kopflagen (78'5%), drei¬
mal Beckenendlagen (215%) vorhanden. Sechs Geburten er¬
folgten spontan (42-8%), bei acht waren operative Eingriffe
(57'2%) nöthig. Eingeleitet wurde die Frühgeburt zweimal
durch Bäder, viermal durch Cervixtamponade, einmal durch
Kolpeuryse, zweimal durch Bougirung und fünfmal durch den
Eihautstich. Die Geburt selbst erfolgte zweimal in der 35.,
viermal in der 36., zweimal in der 37., dreimal in der 38.,
einmal in der 39. und zweimal in der 40. Schwangerschafts¬
woche.
Bei der Bestimmung der Schwange r schaft s-
zeit berücksichtigten wir stets die anamnestischen Daten,
wenn sich dieselben in Uebereinstimmung mit dem objectiven
Befunde (Stand des Uterus, Grösse und Form des Bauches,
Verhältnisse der Portio vaginalis) bringen liessen. Der Messung
686
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 30
der Frucht nach Ahlfeld sowie dem Miiller’schen Im¬
pressionsverfahren legen wir keinen wesentlichen Werth bei.
Wohl aber wurde neben genauer Messung und Austastung
des Beckens der Eindruck von der Grösse und Härte des
Kopfes, den wir schätzungsweise bei der Palpation von aussen
und bei bimanueller Abtastung gewannen, prognostisch ver-
werthet, ein Verfahren, welches bei Schwangeren häutig geübt,
das Urtheil des Geburtshelfers mit der Zeit wesentlich in dieser
Richtung schärft.
Bezüglich des Werth es der hauptsächlichsten
und seit längerer Zeit geübten einleitenden Methoden —
des Blasenstiches, der Bougirung, sowie der vaginalen und intra¬
uterinen Kolpeuryse — herrschen noch vielfach differente
Meinungen. Sicher ist es, dass eine Methode allein nicht in
allen Fällen zum Ziele führt, und man vielfach andere
Methoden zur Unterstützung heranziehen muss. Darum wurden
auch in der letzten Zeit neue Mittel ersonnen, sowie alte
Methoden wieder aufgegriffen. Nach unseren eigenen Erfah¬
rungen möchten wir die Krause’sche Methode der Ein¬
führung von Bougies bei ungleichmässig verengtem Becken¬
eingang für die beste halten. Den Eihautstich halten wir für
das allgemein gleichmässig verengte sowie auch bei normalem
Becken für angezeigt, wenn der vorliegende Fruchttheil vor¬
aussichtlich den Beckeneingang so abzuschliessen vermag, dass
ein Vorfall der Nabelschnur nicht zu besorgen ist. Dabei legen
wir Gewicht darauf, dass die Eröffnung der Blase, die wir mit
einer langen und feinen, etwas gekrümmten Korn¬
zange oder Hakenpincette vornehmen, wenn möglich
etwas ober dem Bereiche des Muttermundes erfolge, wonach
öfters durch einige Zeit- noch eine Fruchtblase erhalten bleibt.
Ebenso empfehlen wir den Blasenstich für alle Indicationen
wegen Lebensgefahr der Mutter, nicht nur in Berücksichtigung
der eigenen, sondern auch der Resultate der Wiener Schule,
nachdem derselbe mit geringerer Gefahr für die Mutter ver¬
bunden ist und ihm eine sicherere Wirksamkeit zukommt, als
anderen Methoden. Den Kolpeurynter lassen wir intrauterin
unterstützend einwirken, wenn wir mit einer der beiden vorigen
Methoden nicht schnell genug zum Ziele kommen und würden
ihn gleich von vornherein in Anwendung bringen in Fällen
von Blutungen bei Tiefsitzen der Placenta, sowie bei Eklampsie.
Ueber die Krause’sche Methode spricht sich neuerdings auch
B i e r m e r sehr lobend aus, während K 1 e i n h a n s und
Schulz die Anwendung des Kolpeurynters warm befürworten.
Als vorbereitende Methoden wurden Voll- und Sitzbäder, Vagi-
naldouchen, Tamponade der Vagina, sowie vielfach die Glycerin-
Jodoformgazetamponade des Cervix geübt, welche in verein¬
zelten Fällen allein genügten, um Wehen anzuregen.
Die Indicationen zur künstlichen Unterbrechung
der Schwangerschaft zerfallen in zwei Gruppen:
1. Anzeigen mit besonderer Berücksichtigung des mütter¬
lichen Lebens (Fall 1 — 8),
2. Anzeigen mit besonderer Berücksichtigung des kind¬
lichen Lebens (Fall 9 — 22).
Bei den unter 1 zu subsumirenden Fällen, die sich meist
mit der Einleitung der künstlichen Fehlgeburt
identiticiren, handelte es sich zweimal um ein absolut verengtes
Becken, beide Male bei derselben Person, welche den in Aussicht
gestellten Kaiserschnitt verweigert hatte, wobei sie leider das zweite
Mal einer septischen Endometritis-Peritonitis zum Opfer fiel.
Vielleicht wäre in diesem Falle die Infection ausgeblieben,
wenn damals, unseren jetzigen, oben entwickelten Principien gemäss,
nachdem man auf das Kind keine Rücksicht zu nehmen brauchte,
statt der Einführung der wahrscheinlich nicht hinlänglich desinficir-
ten Bougies der Eihautstich gewählt worden wäre. Interessant auch
in forensischer Hinsicht ist das in diesem Falle von der Frucht ge¬
wonnene Präparat, welches noch im hiesigen gerichtlich-medicinischen
Institute aufbewahrt ist und mir von Herrn Prof. Ipsen freund¬
licher Weise mit erläuternden Bemerkungen demonstrirt wurde. Es
befand sich nämlich am linken Scheitelbein, circa 1 ein links von der
Pfeil- und fast ebenso weit von der Kranznaht entfernt, in der Haut
ein circa erbsengrosser, von unregelmässigen Rändern umgrenzter
Substan/.verlust, der bis aufsPeriost reicht; die Hautränder sind von
einem nekrotischen Saum umgeben. Eine ähnliche Stelle findet sich
noch über der grossen Fontanelle, jedoch weniger ausgeprägt. Diese
an den zarten Weichtheilen des fötalen Schädels
augenscheinlich durch Druck erzeugten Verän-
d erun g enwaren d u rch j e e i n e an zwei aufeinanderfolgenden
Tagen eingeführte Bougie hervorgebrac li t, von welchen die
erste 18 und die zweite 7 Stunden gelegen war.
Die Bougies waren, wie man schon aus diesem Befunde an¬
nehmen kann und wie es auch aus dem betreffenden Journal hervor¬
geht, bei erster Schädellage nach hinten zu eingeführt worden,
konnten jedoch, wie dort vermerkt ist, nur soweit ohne Gewalt vor¬
geschoben werden, dass noch ein 10 cm langes Stück aus der Vagina
herausragte.
Die ziemlich dicke Bougie musste nun bei dem an sich schon
absolut verengten Becken die Conjugata vera noch um mehrere
Millimeter verkürzen und hat, nachdem sie zwischen Kopf und
Promontorium zu liegen kam, durch Usur und nachfolgende Nekrose
die beiden Substanzverluste hervorgebracht.
Einmal (Fall 3) war Hydramnion bei eineiigen Zwillin¬
gen mit hochgradigen Respirations- und Circulationsbe-
schwerden der Grund zur Einleitung der Fehlgeburt. In drei Fällen
(Fall 4, 5 und 6) handelte es sich um schwere Nephritis
gravidaru m. In einem dieser Fälle complicirte ein E r y s i p e 1,
ausgehend von einem scarilicirten ödematösen Labium, das Wochen¬
bett, war jedoch in 14 Tagen geheilt, doch wurde die Nephritis trotz
weiterer mehrmonatlicher Behandlung auf der medicinischen Klinik
nur zur Besserung gebracht. Der nächste Fall war mit Lungen-
tuberculose complicirt, welcher die Person zwei Monate nach
der Geburt ausserhalb unserer Anstalt erlag. Im dritten Falle erfolgte
post partum, bei afebrilem Wochenbett, gänzliche Heilung der
Nephritis mit ihrem subjectiven und objectiven Erscheinungen.
Einmal (Fall 7) war wegen unstillbarer Blutungen
die Frühgeburt eingeleitet worden. Die Blutverluste hatten vier
Wochen gedauert und waren auf andere Weise nicht zu stillen ge¬
wesen. Dieser Fall ist durch besonders hartnäckige Wehen-
losigkeit bemerkenswerth, da auch nach combinirter Wendung
und zwölfstündigem Gewichtszug am herabgeholten Fusse noch
immer keine Wehen eingetreten waren, so dass nach vergeblichen
Extractionsversuchen bei für kaum mehr als einem Finger offenem
Muttermunde die Embryotomie mittelst der B o e r’schen
Knochenzange ausgeführt werden musste.
Die Ursache der Blutungen war bei der stückweise entfernten
Frucht und Nachgeburt nicht sicher nachzuweisen, doch nahmen wir
vermuthungsweise vorzeitige Placentalösung an. Die Blutverluste
haben hierauf nach afebrilem Wochenbett vollständig aufgehört.
Ein besonderes Interesse dürfte Fall 8 wegen seiner »Seltenheit
bieten. In der mir zugänglichen geburtshilflichen Literatur, bei deren
Durchmusterung ich mich mehrfach mit Referaten begnügen musste,
konnte ich keinen ähnlichen Fall entdecken. Es handelte sich
nämlich um eine 36jährige, verheiratete Zweitgeschwängerte, die
auf der hiesigen dermatologischen Klinik wegen Psoriasis uni¬
versalis mit 10%iger Pyrogallussalbe behandelt worden
war. Die der Inunction vorausgeschickte Entfernung der Schuppen
war keineswegs eine so exacte gewesen, dass ausgedehnte Substanz¬
verluste und blutende Stellen resultirt hätten, auch war die ganze
Menge der verwendeten Salbe eine relativ nicht sehr grosse ge¬
wesen, es war im Gegentheil davon weniger als bei den meisten
anderen Kranken verwendet worden. Trotzdem erkrankte die Person
unter der Behandlung am 3. April plötzlich unter sehr
schweren Erscheinungen, die wohl kaum auf etwas
Anderes als auf Pyrogallussäu re Vergiftung zurückgeführt
werden können. Die Symptome, welche so unmittelbar lebens¬
bedrohend waren, dass eine Wiedergenesung unwahrscheinlich
erschien, bestanden in getrübtem Sensorium, aschfahler Verfärbung
der Haut mit einem Stich ins Gelbliche — auch an den »Skleren be¬
merkbar (kein Ikterus) — ; hochgradiger Cyanose und Dyspnoe, keine
Krämpfe, Puls klein, 120. Harn schwarzbraun, sauer, specifischcs Ge¬
wicht 1013, enthält etwas Albumen, aber nicht so viel, dass im Esbach
ein Niederschlag entstünde; keine Cylinder, keine rothen Blut¬
körperchen, aber reichliche Plattenepithelien ; keine Hämoglobinurie.
Herrn Prof. Rille, der mir über die Kranke eine Reihe von Angaben
in liebenswürdigster Weise gemacht hat, bin ich zu Dank verpilichtet.
Die weitere, im hiesigen chemischen Institute von Herrn Prof.
Nr. 30
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
687
M a 1 f a 1 1 i vorgenommene Untersuchung des Harnes ergab, dass
sich Pyrogallussäure selbst in ihm nicht nachweisen liess, und war
auch die Vermehrung der Aetherschwefelsäuren gegenüber der
Sulfatschwefelsäure keine nennenswerthe. Da die Erscheinungen, wie
schon erwähnt, äusserst schwere waren, wurde versucht, dieselben,
umsomehr als keine kindlichen Herztöne mehr nachweisbar waren,
vielleicht durch Unterbrechung der Schwangerschaft und Entleerung
des Uterus im günstigen Sinne zu beeini'lussen. Die Frau wurde auf
die gynäkologische Klinik transferirt, dortselbst wurde am nämlichen
Tage um 8 Uhr Abends der noch ganz geschlossene Cervix mit
Sänge r’schen Metallstiften erweitert und die Blase gesprengt. Am
folgenden Tage um 4 Uhr Morgens setzten die Wehen ein, und vier
Stunden später erfolgte die spontane Geburt einer weiblichen, 43 cm
langen macerirten Frucht. Die Nachgeburt musste zwei Stunden post
partum manuell gelöst werden. Nach Entleerung desUterus trat in uner¬
wartet rascher Weise Besserung ein, das volle Bewusstsein
kehrte wieder, die Cyanose schwand und die Athmung wurde wieder
frei, so dass die Frau bald ausser Lebensgefahr war. Das Wochen¬
bett wurde durch eine kurz dauernde Endometritis (Maximaltem¬
peratur 39,5°, Puls 90) complicirt, die Kranke konnte jedoch nach
14 Tagen das Bett verlassen und suchte zur weiteren Behandlung
ihrer Psoriasis wieder die dermatologische Klinik auf. Eine nach¬
trägliche (drei Wochen post partum) dort vorgenommene Unter¬
suchung auf Lues fiel vollständig negativ aus, der Urin war klar,
hellgelb und frei von Eiweiss. Die Obduction (Herr Prof. Pommer)
der Frucht und der Nachgeburt hatte ergeben: Obturirender, zum
Theile ziemlich fest haftender Thrombus in der Nabelstrangvene nahe
der Placentarinsertion, äusseres Kephalhämatom am rechten
Scheitelbein, zahlreiche Hämorrhagien unter der Pleura der beiden
stark hyperämischen und ödeinatösen, stellenweise auch mehr starr
infiltrirten Lungen. Im Herzen dünnbreiige, auffallend Scharlach rot he
Blutmassen. Im Uebrigen bietet die Frucht die Zeichen der Maceration
mässigen Grades; weder an ihr noch an der Nachgeburt Anzeichen
von Lues.
Wenn wir diesen Fall näher betrachten, so fällt uns zu¬
nächst die schwere Erkrankung unter einem eigenthümlichen
Symptomencomplex, den wir kaum auf etwas Anderes als auf die
Application von Pyrogallussäure beziehen können, auf, dann scheint
uns nicht minder bemerkenswerth der prompte Abfall aller Be¬
schwerden nach Entleerung des Uterus. Die Annahme, dass diese
Symptome durch die Maceration der Frucht hervorgerufen wurden,
steht mit der Höhe der Erscheinungen in gar keinem Einklänge.
Wenngleich die Untersuchung des Harnes keinen positiven
Nachweis der in Frage kommenden Substanz liefern konnte, was ja
keinen Gegenbeweis bildet, so sprach schon die Erkrankung im
Laufe der Behandlung, sowie das ganze Krankheitsbild für eine Ver¬
giftung. Dass gerade diese Frau so schwer erkrankte, während ähn¬
liche Erscheinungen bei anderen an Psoriasis Erkrankten, die mit
noch grösseren Quantitäten der Salbe behandelt worden waren, nicht
auftraten, vermag vielleicht die gleichzeitig bestehende1 Gravidität zu
erklären, in Folge deren man an erhöhte Resorptionsfähigkeit der
Gewebe einerseits und an erschwerte Ausscheidung auf renalem
Wege andererseits (durch Druck des schwangeren Uterus auf die
Ureteren) denken muss. Oder man könnte auch eine für die
Schwangerschaft specifische Intoleranz gegen das Medicament an¬
nehmen. Man kommt gerade in diesem Falle in Versuchung, eine
Parallele zu ziehen mit der Schwangerschaftseklampsie, die ja, wenn¬
gleich ihr Wesen keineswegs ganz aufgeklärt ist, auch vielfach alseine
Vergiftung durch nicht zur Ausscheidung gelangte, im Blute aufge¬
stapelte schädliche Substanzen aufgefasst wird. Auch hier wird man
zu dieser Auflassung gedrängt durch die Beobachtung von dem auf¬
fallend raschen Verschwinden der Krämpfe nach Beendigung der
Geburt.
Die Unterbrechung der Schwangerschaft mit besonderer Be¬
rücksichtigung des kindlichen Lebens, also die eigentliche »Ein¬
leitung der künstlichenFrühgeburt«, wurde in 14 Fällen
(Fall 9—22) ausgeführt. 13mal war die Indication enges Becken
(Fall 9 — 21). Methoden und Erfolge bieten hier nichts Besonderes, von
den durchschnittlichen Erfahrungen Anderer Abweichendes, und er¬
gibt sich das Nähere ohne Weiteres aus der oben berechneten
Statistik, sowie aus den Aufzeichnungen in der Tabelle. Auch wir
können constatiren, dass die Fälle, welche nach der Einleitung der
Frühgeburt nicht spontan beendet werden und operative, besonders
intrauterine Eingriffe noting machen, für die Kinder eine auffallend
schlechtere Prognose geben. Ganz speciell sagt auch Chrobak’
dass z. B. die AVendung in Combination mit Frühgeburt die un¬
günstigsten Resultate gebe. Hingegen behauptet P. Müller, bei der
wegen Wehenschwäche prophylaktisch, und zwar bei Mehrgebärenden
mit platt verengtem Becken ausgeführten Wendung (nach Braxton
Hicks) zufriedenstellende Resultate gehabt zu haben, ln einem
Falle (Fall 22) führten wir die Einleitung der Frühgeburt wegen
habituellen Absterbens der Früchte aus. Es handelte
sich um eine 28jährige Zimmermannsfrau, die das sechste Mal
schwanger war. Bei allen fünf vorausgegangenen Geburten waren
ohne äussere Veranlassung die Früchte um die 36.-38. Woche intra¬
uterin abgestorben, und bald darauf macerirt geboren worden. Jedes
Mal, auch jetzt, war sie vom selben Mann schwanger. Weder am
Manne, der sich selbst in der Anstalt vorstellte, noch an der Frau
sind anamnestisch oder nach dem Befunde Zeichen von Lues zu er¬
heben. Die Frau selbst ist seit dem 16. Lebensjahre menstruirt und
bemerkte seit dieser Zeit »weissen Fluss«. Keine Gonorrhoe. Im
Uebrigen sieht sie gesund aus und hat ein normales Becken. Harn
eiweissfrei. Keine Oedeme. Letzte Menses Anfangs Juli 1899. Erste
Kindesbewegungen am 12. November. Sic ist seit 22. Februar 1900
zur Beobachtung in der Anstalt, welche sie diesmal aufsuchte, mit
dem Wunsche, ein lebendes KimLzu bekommen.
Am 7. März gibt sie an, dass die Kindesbewegungen seit
einigen Tagen schwächer werden. Dabei sind die Herztöne deutlich
hörbar, nur bei der tagsüber mehrmals vorgenommenen Auscultation
weisen sie verschiedene Intensität auf, ohne dass eine
Layeveränderung der Frucht zu constatiren gewesen wäre. Es wird
nun am 8. März der Blasenstich vorgenommen, worauf nach
38 Stunden die spontane Geburt eines lebenden, relativ kräftigen
Knaben erfolgte, der ausser den Zeichen der Frühreife keine Ab¬
normitäten zeigte, ebensowenig lässt sich an der Nachgeburt mit
freiem Auge etwas Pathologisches erkennen. Das Fruchtwasser ver¬
mehrt, rein. Das Kind gedieh an der Brust einer anderen Wöch¬
nerin (die Mutter hatte Hohlwarzen) sehr gut, verliess lebend mit der
Mutter die Anstalt, und befand sich auch vier Wochen post partum
nach der damaligen Angabe des Mannes ganz wohl. Die Unter¬
brechung der Schwangerschaft wurde in der 38. Woche vorge¬
nommen.
Wenn wir uns in eine kurze Epikrise dieses bemerkens-
werthen Falles einlassen, so müssen wir zunächst die verschie¬
denen möglichen ätiologischen Momente in Betracht ziehen.
Beim habituellen Absterben der Früchte in der Früh zeit
der Schwangerschaft oder sogenannten »habituellen
Abort« ist uns das Verständniss für Ursache und Wirkung
leichter, als in der Spätzeit der Schwangerschaft. V on der ver¬
breitetsten Ursache, der Syphilis, sowie auch von Traumen ab¬
gesehen, kommen hier ätiologische Missbildungen, Uterusdevia¬
tionen, Wachsthumsbehinderungen durch Tumoren oder ander¬
weitige Krankheiten des Uterus oder der Nachbarorgane,
hauptsächlich Endometritis chronica, nach Charpentier
auch Congestionen sowie Läsionen des Collum und Corpus
uteri in Betracht. Als prädisponirendes Moment führt ßöm-
held chronische Obstipation an. Die meisten dieser Ursachen
werden schon eine sehr frühzeitige Unterbrechung der Schwan¬
gerschaft bewirken, wenn überhaupt eine solche zu Stande
gekommen ist. Unklarer ist uns das Spätabsterben nicht
luetischer Früchte, das meist kurzweg »habituelles Ab¬
sterben der Frucht« genannt wird. Simpson führt
unter anderen Ursachen an; von Seiten der Mutter chronische
Nephritis, acute und chronische Krankheiten der verschieden¬
sten Art, Vergiftungen; von Seite der Placenta Neubildungen
in derselben, Entzündung mit Erkrankung der Gefässe und
des Zwischengewebes, Blutungen in die Placenta. Ganz speciell
macht F e hl i n g darauf aufmerksam, dass Nierenerkrankungen
intrauterines Absterben der Frucht und vorzeitige Ausstossung
des Fötus, ja sogar eine Wiederholung dieses Vorganges in
verschiedenen Schwangerschaften zur Folge haben können.
Doch stimmen Mehrere darin überein, dass manchmal keine
Ursache nachzuweisen ist. Vielleicht ist es nicht unzutreffend,
an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die Bedeutung des
Fruchtwassers für das Gedeihen der Frucht in qualitativer
688
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900
Nr. 30
E
E j
■8* S
ä E |
T3 cC ö
J $3
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55
>
sC
u
o
Verlauf früherer
Geburten
Letzte Regel,
Empfängniss,
erste Kindes¬
bewegungen
Frühere Krankheiten und Befinden
während der Schwangerschaft
Indication zur Unterbrechung
der Schwangerschaft
W
u *>»
5 C
r3 3
£ 22
cs
Q
1
30 Jahre
1
Ende Mai
lernte erst mit sechs Jahren gehen, und
absolut verengtes Becken
14 Dec.
B M.
ledig
Anfangs Juni
zwar mit Krücken, später ohne selbe.
(allgemein verengtes, pattes,
641
Magd
?
rachitisches), 25 5, 25, 30, 12;
1892
C. d. 7,ö. C. v. 57. Körper-
19. Dec.
länge 101 cm\
2
33 Jahre
II
erste Geburt ;Einleitung der
Anfangs Nov.
siehe oben
siehe oben
30. Mai
B. M.
ledig
künstlichen Fehlgeburt
13. November
31. Mai
270
Ladnerin
(siehe vorigen Fall)
?
1895
3
37 Jahre
IV
erste Geburt Forceps und
25. — 28. Dec.
stets gesund. Seit Mitte April rasches
acutes Hydramnion
16. Mai
B. J.
verh.
Placentalösung
?
Anwachsen des Bauches, dabei hoch-
(Zwillinge) mit Respirations-
284
Bauers-
zweite und dritte Geburt
?
gradige Athembeschwerden und Cyanose
behinderung
17. Mai
1898
frau
spontan, Kinder reif, leben
9 Uhr
Vorm.
4
21 Jahre
I
—
Mitte Mai
früher gesund. Seit October Anschwellen
Nephritis gravidarum
13. Dec.
P. M.
ledig
?
des Bauches, Diarrhöen, Oedeme,
547
Magd
?
Anasarka, Hydrops Ascites, Albuminurie.
1892
Im Harne Cylinder und Blut
16. Dec.
5
37 Jahre
IX
achtmal spontan entbunden
14. — 17. Oct.
vor 20 Jahren Rothlauf. Wegen Tuber-
Nephritis gravidarum
27. April
F. C.
verh.
?
culose des rechten Fusses war vor
und
256
Schnei-
?
mehreren Jahren derselbe bis zur Mitte
28. April
1894
dersgattin
des Unterschenkels amputirt, worden.
Jetzt verminderte Urinmenge, viel Al-
bumen und Cylinder im Harne.
6
22 Jahre
1
_
#
Mitte Juli
vor einem Jahre Gliedersucht durch
Nephritis gravidarum
9. Februar
B. A.
ledig
?
vier Wochen, hierauf öfters Athemnoth.
42
Tag-
P
Seit Weihnachten Anschwellen der Fiisse
1900
löhnerin
und des Gesichtes, sowie unverhältniss-
Gynäk.
mässig rasches Wachsthum des Bauches.
Klinik.
Oedeme, Ascites, Anasarka, 1 0°/u0 Al-
10. Febr.
bumen, viele Cylinder, Harnmenge stark
11 Uhr
vermindert
Vorm.
7
37 Jahre
X
alle neun Geburten spontan
Ende Oct.
am 1. Januar Abgang von l Flüssig-
unstillbare Blutungen
3. April
Sch.M
verh.
und normal. Die Kinder
?
keit ähnlich wie bei einer Geburt. Am
178
Bahn-
leben alle bis auf eines
Ende Fehl-.
28. Februar geringe Blutung, welche
1900
Wächters-
sich täglich wiederholte, und auch in
gattin
der Anstalt, wo die Frau seit 20. März
ist, trotz Bettruhe, Tamponade etc. nicht
zu beseitigen sind
4. April
5. April
8
36 J fibre
II
erste Geburtspontan, reifes
?
schon vor der Schwangerschaft an
Pyrogallussäurevergif-
3. April
P. R.
verb.
Kind, das später gestorben
erste Kindes-
Psoriasis gelitten, welche sich während
tung: Aschfahle Verfärbung der
8 Uhr
99
Magd
bewegungen
derselben bedeutend verschlimmerte.
Haut, trübes Sensorium, hoch-
Abends
1900
am 10. Febr.?
War auf der dermatologischen Klinik
gradige Cyanose und Dyspnoe,
Gynäk.
?
mit I0°/Oiger Pyrogallussalbe behandelt
Albuminurie geringen Grades.
Klinik.
worden
Puls klein, 120
9
34 Jahre
III
Nähere Angaben fehlen
27. August bis
?
einfach plattes Becken. Masse:
22. Juni
Sch. K.
ledig
1. September
27, 29-5, 33, 16 25; C. d. 94.
316
Köchin
Mitte Sept.
C. v. 7 6. Körperläuge 144 ctu!
1898
Ende Januar
10
27 Jahre
11
erste Geburt spontan.
?
angeblich keine
einfach plattes (rachitisches?)
11. Januar
C. M.
ledig
Sehr grosses Kind, das
?
Becken . 27, 28, 32. 19*5 ; C. d . 9*8.
553
Tag-
einige Minuten post partum
?
C. v. 8-0.
1892
löhnerin
starb
f r. 30
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
6S9
Dauer bis
Geburtsverlauf,
Kindeslage,
Zeitpunkt der Geburt
(? Woche)
Ausgang für
Methode
zum Wehen¬
beginne
zum Blasen¬
sprung
zur
Geburt
die Mutter
das Kind: lebend?
scheintodt? todt?
gestorben ?
Geschlecht? Länge?
Gewicht?
Erweiterung des Cervix
mit Hegar Stiften und
Cervixtamponade.
1 Bougie
wenige Stunden nach
Einführung der
Bougie
kurz vor der
Geburt
21. Dec.
zweite Schädellage spontan.
28 Wochen
afebriles Wochenbett
Mädchen, lebend,
nicht lebensfähig,
36 5 an, 829 g
1 Bougie 18 Stunden,
31. Mai 10 Uhr
1. Juni 2 Uhr
1. Juni
erste Schädellage spontan.
an septischer Peritonitis
Mädchen, lebend,
1 Bougie 7 Stunden
Abends
15 Minuten
Nachmittags
spontan
2 Uhr
15 Min.
Nachm.
26 Wochen.
Schon am 31. Mai begann
intra partum das Puerperal¬
fieber
gestorben am 7. Juni
nicht lebensfähig,
starb nach zwei
Stunden. 35 cm,
785 g
Vollbäder, Scheideutampo-
nade,
Blasenstich
16. Mai 7 Uhi-
Abends
17. Mai
5 Uln-
Abends
beide Früchte in zweiter
Schädellage spontan; erste
Frucht mit Oligohydramnie
circa 200 g, zweite Frucht
mit Polyhydramnie circa
7 'Ll, eineiige Zwillinge.
25 Wochen
Wochenbett febril. 8 Tage
dauernde leichte Parame¬
tritis. Maximaltemp. 38-8°
zwei lebende, nicht
lebensfähige Knaben.
Erster Knabe 27 cm,
410 g-, zweiter
Knabe 26'5 an, 440 g
Erweiterung des Cervix
mit Hegar-Stiften, Tam¬
ponade des Cervix.
Tampons entfernt. Von nun
ab dreimal täglich
Scheidendouehen
2 1 . December
21. December
8 Uhr Abends
21. Dec.
8 Uhr
25 Min.
zweite einfache Steisslage
spontan.
Kind hochgradig macerirt.
32 Wochen (Frucht wahr¬
scheinlich mit 28 Wochen
abgestorben)
Erysipel, von einem scari-
ficirten Labium pudendum
ausgehend, welches am
4. Januar geheilt war. Die
Nephritis besteht jedoch
fort und wurde Patientin
am 1. April 1893 gebessert
von der medicinischen Klinik
aus entlassen
Knabe, macerirt,
36 an, 775 g
Tamponade der Vagina
1. Mai
2. Mai 9 Uhr
Abends
künstlich bei
fast ver¬
strichenem
Muttermund
2. Mai
10 Uhi-
Abends
erste Schädellage. Vorfall
des rechten Fusses neben
dem Kopfe während der
Blasensprengung. Wendung
und Extraction.
28 Wochen
am 9. Tage Scliwerath-
migkeit, Husten und reich¬
licher Auswurf. 2 Monate
später auf der internen
Klinik an Lungentuber-
culose gestorben
Knabe lebend, 36 cm\
1020 g, starb am
nächsten Tage an
Lebensschwäche
Punction der doppeltfaust-
nach circa 5 Stunden
—
10. Febr.
Steisslage, Manualhilfe.
afebriles Wochenbett
Knabe lebend, 35 cm j
grossen ödematösen Labien
mit dem Capillartroikart.
von Soil they.
Laminariadilatation
Blasenspreugung
Erweiterung des Cer rix
mit H e gar-Stiften und
Blasensprengung,
wobei circa 300 — 400 g
blutig gefärbter Flüssigkeit
abgehen. Abends Tampo¬
nade d. Cervix u. d. Vagina.
Neuerliche Dilatation
und innere Wendung auf
den Fuss in Narkose bei nur
für einen Finger durch¬
gängigem Cervix. Constan-
ter Gewichtszug.
W egen absoluter Iner¬
tia uteri nach vergeb¬
lichen Extractions¬
versuchen Embryoto-
m i e.
Erweiterung des Cer¬
vix mit Sänger’schen
Stiften, dann Blasen-
spr engung
Blasensprengung
6 Uhr
Abends
keine Wehen ein¬
getreten
28 Wochen
nach vorausgegangenen
täglichen Vollbädern vom
11. Januar ab Vaginal-
douchen und Tampons
täglich bis 14. Januar
5. April
8 Uhr
30 Min.
Morgens
April 4 Uhi-
Morgens
wenige Stunden
darauf, dann wieder
aussetzend. Starke
Wehen erst am
25. April Morgens
Januar 9 Uhr
Vormittags
14.
14. Januar
12 Uhr Mittags
4. April
8 Uhr
45 Min.
Morgens
25. Juni
10 Uhr
35 Min.
Vorm.
15. Januar
12 Uhr
Nachts
Kopflage, innere Wendung
auf den Fuss, Embryotom ie
an der seit zwei Tagen als
todt angenommenen Frucht.
Als Ursache der Blutungen
wird vorzeitige Lösung
eines Theiles der Placenta
angenommen.
26 Wochen
970y, gestorben
nach zwei Tagen
afebriles Wochenbett
embryotomirte
Frucht aus dem
sechsten Lunar¬
monate
zweite Schädellage, spontan,
32 Wochen
Kopflage; äussere Wendung
auf den Steiss, Extraction,
Perforation am nachfolgen¬
den Kopfe
38 Wochen
zweite einfache Steisslage,
spontan bis zur Schulter,
dann Manualhilfe.
40 Wochen
die Vergiftungserscheinun-
gen gehen post partum
prompt zurück. Im Wochen¬
bett Endometritis. Maximal¬
temperatur 39'5°, Puls 90.
Nach 14 Tagen geheilt
entlassen
afebriles Wochenbett
afebriles Wochenbett
Mädchen, macerirt,
43 an. Obductions-
befund (vide im
Texte)
Knabe, todt, 54 an,
2650 200 g
Mädchen, lebend,
51 an, 3480 g. Hat
lebend die Anstalt
verlassen
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 30
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Alter, Stand, Beruf
Gravidität
Verlauf früherer
Geburten
Letzte Regel,
Empfängniss,
erste Kindes¬
bewegungen
Frühere Krankheiten und Befinden
während der Schwangerschaft
Indication zur Unterbrechung
der Schwangerschaft
Datum der Ein¬
leitung
li
1 35 Jahre
11
erste Geburt vor einem
Mitte Mai
hat englische Krankheit gehabt und
plattes, rachitisches Becken.
14. Januar
W. A.
25
1900
verh.
Bäuerin
Jahre. Kopflage, Nabel¬
schnurverfall, Perfora¬
tion am abgestorbenen
Kinde
Ende Mai
?
erst mit vier Jahren gehen gelernt
29, 29-5, 34, 18 5. C. d. 9 2.
C. v. 7‘2. Körperlänge 151 cm
16. Januar
1 8. Januar
5 Uhi-
Abends
12
P. A.
297
1898
41 Jahre
ledig
Schnitze¬
rin
III
erste Geburt 1883, Per¬
foration
: zweite Geburt 1889 Ein¬
leitung der Frühgeburt
mit 36 Wochen. Kind
lebend, 46 cm, 2400 <7
12—14. Sept.
24. September
Februar
Masern. Hat erst mit zwei Jahren gehen
gelernt
einfach plattes Becken. 26-75,
28, 30-25, 17-75. C. d. 10 0.
C. v. S O. Körperlänge 148-5 cm
5. April
11 Uhr
30 Min.
Vorm.
13
30 Jahre
II
erste Geburt vor einem Jahr
19. — 24. März
hat erst mit sechs Jahren gehen gelernt,
allgemein verengtes, plattes,
18. Nov.
T. E.
458
1891
verh.
Maurers-
fran
in der Anstalt (Nabel-
schnurvorfall, todtes Kind,
drohende Uterusruptur,
Perforation)
?
sonst stets gesund
rachitisches Becken. 26*5, 27-5,
29, 17-25; C. d. 9. C. v. 7 2.
Körperlänge 135-5 cm
19. Nov.
21. Nov.
23. Nov.
14
21 Jahre
n
erste Geburtvor 1 '/, Jahren,
27.— 30. Ja-
als Kind Masern, dann bis zum sie-
allgemein verengtes (nicht rachi-
20. Oct.
N. M.
verh.
Perforation eines le-
nuar
benten Lebensjahre multiple Abscesse
tisches) Becken. 21, 24, 28, 18"5;
bis
510
1894
Feilen¬
hauers¬
gattin
benden, reifen Kindes
ausserhalb der Anstalt
?
?
am Hals, Gesäss, Kreuzbein etc.
C. d. 11 2. C. v. 9 4.
26. Oct.
15
R. M.
| 449
1897
30 Jahre
verh.
Schusters-
frau
II
erste Geburt vor einem
Jahre. Perforation
am abgestorbenen reifen
Kinde
? October
?
?
hat erst mit vier Jahren gehen gelernt
allgemein verengtes, platt rachi¬
tisches Becken. 25, 27, 29-75,
15-25; C. d. 8-8. C. v. 7 0
16. Sept.
und
18. Sept.
2 1 . Sept.
23. Sept.
16
40 Jahre
m
erste Geburt: Macerirtes
12. — 14. Nov.
hat erst mit fünf Jahren gehen gelernt.
allgemein verengtes, platt-rachi-
21. Juli
T. M.
verh.
Kind, das schon zwei
?
Chronisch recidivirender Bronchial-
tisches Becken. 26, 27-25, 30,
8 Uhr
! 371
1898
1
Schusters¬
frau
Wochen keine Bewegungen
mehrgemacht hatte. Ueber
die Ursache der Frucht¬
todes nichts bekannt;
zweite Geburt: reifes Kind
perforirt
Ende März
katarrh
15*5; C. d. 8 5. C. v. 6"7. Körper¬
länge 145 cvi
Abends
17
P. G.
99
1894
29 Jahre
ledig
Magd
i
10. — 15. Juni
25. Juni
Mitte October
Masern vor zwei Jahren
allgemein gleichmässig verengtes
Becken. 23, 26, 28-5, 17-5;
C. d. 9-5. C. v. 7-7
23. Febr.
bis
26. Febr.
täglich
18
38 Jahre
ui
erste Geburt: Forceps. Kind
Ende Februar
Bleichsucht mit 18 Jahren, Rheumatis-
allgemein gleichmässig verengtes
30. Oct.
K. K.
494
1894
verh.
Salzarbei¬
tersfrau
reif, starb eine Viertel¬
stunde post partum ;
zweite spontane Geburt
eines lebenden, nicht sehr
grossen Kindes
?
?
mus und Gliedersucht mit 19 Jahren
Becken. 23,26,31, 18; C. d. 94.
C. v. 7 "6. Genua valga
bis
8. Nov.
10. Nov.
1 1. Nov.
19
IM. R.
354
1 1895
25 Jahre
ledig
zu Hause
i
16.-18. Ja¬
nuar
Ende Januar
Mitte Juni
hat erst mit zwei Jahren gehen gelernt
allgemein gleichmässig verengtes
Becken. 22, 25, 26, 16-5; C. d.9 5.
C. v. 7-7
nicht
angegeben
20
B. V.
552
1895
25 Jahre
ledig
Magd
i
—
9
?
?
als Kind stets kränklich gewesen
allgemein gleichmässig verengtes
Becken 21 5, 24 5, 27, 16-5;
C. d. 10 o. C. v. 8'a
29. Dec. j
bis
9. Januar
21
P. E.
537
1896
30 Jahre
ledig
Privat
i
"
?
?
?
Idiotie
allgemein gleichmässig verengtes
Becken (infantil). 23'5, 25"5,
27-5, 16; C. d. 10 8. C. v. 8\S.
Körperlänge 136 cm
8. Januar
^2 28 .Jahre
II. A. verh.
1 13 Zimmer-
1900 mannsfrau
VI
bei allen fünf vorausge¬
gangenen spontanen Ge¬
burten kamen 8 — Sl/2 (so- '
lar-) monatliche Früchte
Anfangs Juli
?
12. November
seit Beginn der Menses im 16. Jahre
weisser Fluor. Keine Zeichen von Lues
weder an der Mutter noch am Manne
habituelles Absterben 1
d er Fr i'i c h t e.
7. März
8. März
9. März
macerirt zur Welt.
Alle Kinder auch das I
jetzige vom gleichen Manne
Nr. 30
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
691
Dauer bis
Geburtsverlauf,
Kindeslage,
Zeitpunkt der Geburt
(? Woche)
Ausgang
für
Methode
zum Wehen-
begiune
zum Blasen-
sprung
zur
Geburt
die Mutter
das Kind; lebend?
scheintodt? todt?
gestorben?
Geschlecht? Länge?
Gewicht ?
1 Bougie durch 12 Stunden
19. October
19. Januar
19. Januar
vollkommen gedoppelte
afebriles Wochenbett
Knabe todt, 46-5 cm,
Intrauterine Kolpeuryse
12 Stunden
3 Bougies, 16 Stunden
12 Uhr 30 Minuten
Nachmittags
12 Uhr 30 Min.
5 Uhr
45 Min.
Steisslage, Herabholen eines
Fusses, Manualhilfe.
36 Wochen
2130 g
Vollbäder, Yaginaldouchen
und Seheideneervixtampo-
nade
Blasensprengurg
5. Juni
12 Uhr 30 Minuten
Nachmittags
5. Juni
9 Uhr
35 Min.
Abends
erste Schädellage, spontan,
38 Wochen
afebriles Wochenbett
Knabe, lebend,
49 cm, 2450 g.
Verliess lebend die
Anstalt
Scheidencervixtamponade
21. November
25. November
spontan vor¬
zeitig
27. Nov.
zweite einfache Steisslage,
Manualhilfe.
36 Wochen
afebriles Wochenbett
Knabe, lebend,
44 cvi, 1950 g.
Verliess lebend die
Anstalt
fünfmal Glycerin- Jodoform-
27. October, 6 Uhr
27. October
29. Oct,
erste Schädellage, Forceps
febriles Wochenbett. Gan-
Knabe, scheintodt,
gazetamponade des Cervix
Abends
6 Uhr 30 Min.
Abends vor¬
zeitig
12 Uhi-
Mittags
am hochstehenden Kopfe
wegen Lebensgefahr des
Kindes.
39 Wochen
graena cervicis. Geheilt
nach 3 Wochen
nicht wiederbelebt,
54 cm, 30^0 y
Scheidencervixtamponade,
1 Bougie durch 12 Stunden
Blasensprengung
namhafte Wehen,
während die Tam¬
pons lagen, dann
ausgesetzt. 3 Stunden
nach der Bougierung
Wehen begonnen,
nach Entfernung der
Bougie wieder aus¬
gesetzt. 3 Stunden
nach der Blasen¬
sprengung Wehen
eingetreten
23. Sept.
1 Uhr
35 Min.
Nachm.
erste Schädellage. Der
Kopf kann nicht eintreten.
Wendungsversuch verge¬
bens, Perforation des
lebenden Kindes.
40 Wochen.
Der Kaiserschnitt war ver¬
weigert worden, wurde je¬
doch am Ende der nächsten
Gravidität, 18. März 1899,
mit Erfolg für Mutter und
Kind ausgeführt
afebriles Wochenbett
Mädchen, perforirt,
51 cm, 2410 -f- 330 y
nach wiederholt voraus-
21. Juli 3 Uhr
—
28. Juli
zweite Schädellage, spontan
leichtes Resorptionsfieber,
Mädchen, lebend,
gegangenen Sitzbädern und
Scheidentamponade am
21. Juli, Blasensprengung
Nachmittags
2 Uhr
40 Min.
Früh
36 Wochen
Maximaltemperatur 38-2°.
Steht am 11. Tage auf
48 cm, 2170 g, starb
nach zwei Stunden
an Atelectasis pulm.
Vollbad und Cervixtam-
26. Februar, 8 Uhr
26. Februar
27. Febr.
erste Schädellage, spontan.
afebriles Wochenbett
Knabe, scheintodt,
ponade
Abends
3 Uhr Nachm.
8 Uhi-
Morgens
35 Wochen
wiederbelebt, 47 cm,
2370 g. Hat lebend
die Anstalt ver¬
lassen
nach öfterer Cervixtampo¬
nade am 10. Februar Kol-
peurynter durch 16 Stunden.
Blasensprengung
9. November, 9 Uhr
Abends
_
11. Nov.
1 Uhr
Nachts
erste Schädellage, spontan.
37 Wochen
afebriles Wochenbett
Knabe, lebend,
48 cm, 2590 g. Hat
lebend die Anstalt
verlassen
6 Sitz-, 2 Vollbäder
27. August Nachts
27. August
Nachts
29. Aug.
erste Schädellage. Perfo¬
ration am hochstehenden
Kopfe wegen Fieber der
Mutter intra partum. Tem¬
peratur 39-0°
36 Wochen
febriles Wochenbett. Para¬
metritis dextra, nach
mehreren Wochen geheilt
Knabe, todt, 44 cm,
1850 g
7 warme Vollbäder
10. Januar, 1 Uhr
Nachts
10. Januar
11 Uhr 50 Mi¬
nuten Nachts
11. Januar
12 Uhr
40 Min.
Nachts
erste Schädellage, spontan.
35 Wochen
afebriles Wochenbett
Knabe, lebend,
46 cm, 2195 g.
Verliess lebend die
Anstalt
nach öfterer Cervixtampo¬
nade am 8. Januar eine
Bougie durch 7 Stunden
nach 2 Stunden
9. Januar
9 Uhr Vorm.
9. Januar
8 Uhr
10 Min.
Abends
zweite Schädellage. Zangen¬
versuch, Perforation des
lebenden Kindes.
38 Wochen
afebriles Wochenbett
Mädchen, perforirt,
47 c»», 1900 g
heisses Sitzbad und Wechsel-
douche
Blasensprengung
heisses Vollbad
9. März, 6 Uhr
Abends
9. März
11 Uhr
35 Min.
Nachts
zweite Schädellage, spontan.
Die Frucht zeigt ausser
den Zeichen der Frühreife
nichts Abnormes, ebenso¬
wenig lässt sich an der
Nachgeburt makroskopisch
eine Abnormität naehweisen
38 Wochen
afebriles Wochenbett
Knabe, lebend,
50 cm, 2620 g.
Verliess lebend die
Anstalt
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 30
092
Hinsicht noch nicht allgemein genügende Würdigung erfahren
hat, obwohl die Mehrzahl neuerer Forscher, welche sich ein¬
gehend mit dieser Frage beschäftigt haben, die Bedeutung des¬
selben als Nahrungsmittel der Frucht hervorheben. So citirt
Ahlfeld in diesem Sinne den von M ek u s beobachteten Fall,
wo eine Frucht mit unwegsamem Oesophagus weniger ent¬
wickelt zur Welt kam, während gleichzeitig das Fruchtwasser
bedeutend vermehrt war. Wenn nun dem Fruchtwasser schon
überhaupt ein Werth als Nahrungsmittel zukommt, so könnte
man auch daran denken, dass ab und zu einmal seine Zu¬
sammensetzung nicht den Bedürfnissen der Frucht entspricht oder
ihr mit der Zeit vielleicht sogar schädlich wird. Was in unserem
Falle das habituelle Absterben der früheren Früchte bewirkt
hatte, liess sich nicht ermitteln, doch scheint es uns fast sicher,
dass es auch in dieser Schwangerschaft ohne unser Eingreifen
zum Fruchttod gekommen wäre, worauf die Angabe der Mutter
von dem Schwächerwerden der Kindesbewegungen und die
Beobachtung der wechselnden Intensität der Herztöne hinzu¬
weisen scheinen.
Bei der Frage der Behandlung des habituellen Absterbens
ist vor Allem nach Möglichkeit das ätiologische Moment aus¬
zuforschen, aus dessen Ermittlung sich meist die Prognose er¬
gibt. Abgesehen von eventuell noth wendigen Operationen
werden dann mitunter Vorschriften und Regeln für Diät und
Lebensweise nüthig sein. Zeitweise wurden medicamentöse
Specitica als Verhütungsmittel angepriesen. So wurde seiner¬
zeit gegen habituelles Absterben der flüssige Extract der
Schwarzdornrinde (B e v i 1 1), oder ein Aufguss derselben em¬
pfohlen, Andere wollen mit dem von L a f e r t a vorgeschlagenen
Stinkasant, Asa foetida, schöne Erfolge erzielt haben (Turazza).
Es erscheint von vorneherein einleuchtend, dass, wenn die
Ursache des habituellen Absterbens nicht in der Frucht selbst,
sondern in dem Ei oder Brutorgan, beziehungsweise der Trä¬
gerin desselben liegt und die Frucht bereits ein Alter erreicht
hat, in welchem sie extrauterin lebensfähig ist, man einen Er¬
folg vielleicht erwarten kann, wenn man sie rechtzeitig den
Gefahren, welchen sie im weiteren intrauterinen Leben ent¬
gegenläuft, entreisst. Man setzt sie eben unter relativ günstigere
Verhältnisse dadurch, dass man die Schwangerschaft unter¬
bricht. In diesem Sinne drückt sich auch Simpson aus,
wenn er sagt: »endlich kann die künstliche Frühgeburt lebens¬
rettend für den Fötus werden, wenn in vorausgegangenen
Schwangerschaften das Absterben nahe dem Ende der Schwanger¬
schaft beobachtet wurde«.
Zum Schlüsse obliegt mir noch die angenehme Pflicht,
meinem hochverehrten Chef, Herrn Prof. Ehrendorfer, für
die Anregung zu dieser Arbeit, sowie für die gütige Ueber-
lassung des Materiales zu danken.
Angabe der benützten Literatur.
K ehre r, Lehrbuch der Geburtshilfe. 1891.
Grusdew, Zur Casuistik der künstlichen Frühgeburt. Centralblatt
für Gynäkologie. 1900, pag. 441.
Skorscheba n, 44 Fälle künstlicher Frühgeburt und deren End-
erfolge. Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. Bd. XI, pag. 323.
Ahlfeld, Lehrbuch der Geburtshilfe. 1898, II. Auflage.
Beuttner, Zur Frage der Einleitung der künstlichen Frühgeburt
bei Beckenenge. Archiv für Gynäkologie. B 1. XLVIH.
P. Mülle r, Handbuch der Geburtshilfe. Bd. III.
B i er m e r, Der Kolpeurynter, seine Geschichte und Anwendung in
der Geburtshilfe. Wiesbaden 1899.
Kl ein bans, Zur intrauterinen Anwendung des Kolpeurynters.
Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. Bd. VII, pag. 167.
Schulz, 71 Fälle von Einleitung der künstlichen Frühgeburt,
lieferirt im Centralblatt für Gynäkologie. 1898, pag. 104.
C h r o b a k, Berichte aus der H. geburtshilflich-gynäkologischen
Klinik in Wien. 1897.
Char pen tier, Ueber habituellen Abort. Centralblatt für Gynäko¬
logie. 1898, pag. 198 (Referat).
Eoemheld, Ueber Ursachen und Behandlung der habituellen Früh-
und Fehlgeburten. Centralblatt. 1895, pag. 1051 (Referat).
Simpso n, Sitzungsbericht in Schmidt’s Jahrbüchern. Bd. CCXXII,
pag. 1 55.
Fehling, Ueber habituelles Absterben der Frucht bei Nieren¬
erkrankungen der Mutter. Centralblatt für Gynäkologie. 1885, pag. 647.
M e k u s, Eine seltene Missbildung. Centralblatt für Gynäkologie.
1888, pag. 686.
B e v i 1 1, Anwendung des Schwarzdorns bei habituellem Abort und
anderen Uteruserkrankungen. Centralblatt für Gynäkologie. 1887, pag. 364
(Referat).
Turazz a, Asa foetida gegen habituellen Abortus. Centralblatt für
Gynäkologie. 1892, pag. 164 (Referat).
Leopold, Arbeiten aus der Frauenklinik. 1893.
Ueber Ferropyrin als Häniostaticum.
Von Dr. E. Toff, Frauenarzt in Braila (Rumänien).
Die Erfordernisse der täglichen Praxis lehren uns, dass trotz
aller Fortschritte der Chirurgie die medicamentösen Ilämostatica
noch immer nicht ohne Weiteres in die Rumpelkammer der Vergessen¬
heit geworfen werden können. Nicht immer sind wir im Stande, radi-
cale Eingriffe vorzunehmen, um eine oft bedrohliche Blutung momentan
oder definitiv zu stillen, und in solchen Fällen leisten uns Präparate
wie das F er ropy rin (Syn.: Ferripyrin) erhebliche Dienste.
Wie wohl allgemein bekannt sein dürfte, ist Ferropyrin eine
Doppelverbindung von Eisenchlorid und A n t i p y r i n. Dasselbe
wird als orangerothes, feines Pulver in den Handel gebracht und ist
in fünf Theilen kalten Wassers leicht mit dunkelblutrother Farbe
löslich.
Es hat dieselben hämostatischen Eigenschaften wie das Eisen-
chlorid, aber ohne dessen Aetzwirkung, so dass man es sorglos in
Substanz auf jede Schleimhaut oder zarte Hautfläche auftragen
kann, ohne etwas Anderes als eine dunkelbraune, oberflächliche Fär¬
bung und intensive Trockenheit der betreffenden Stelle hervorzurufen.
Eine Verschorfung, oder irgendwie geartete reactive Entzündung, wird
nie beobachtet.
In Folge der Empfehlungen von H e d d e r i c h *), Cubasch3 4),
Froh m a n n 3) und Schaeffe *r1), habe ich dieses Präparat seit
1896 bei mannigfacher Gelegenheit in Anwendung gebracht und kann
die erzielten Resultate als im Allgemeinen sehr gute bezeichnen.
So habe ich dasselbe oft in Substanz bei heftigen Nasen¬
blutungen, grossen Schnittwunden mit parenchymatöser Blutung und
bei unstillbaren Hämorrhagien nach ritueller Circumcision,
benützt und hat mich dasselbe nie im Stiche gelassen. Namentlich die
letzteren (sechs) Fälle waren deshalb interessant, weil immer stunden¬
lang zuvor, sowohl von den verschiedenen Hebammen, als auch von
Aerzten, die mannigfachsten Ilämostatica erfolglos in Anwendung ge¬
bracht worden waren und die Blutung durch Ferropyrin prompt gestillt
werden konnte.
Am häufigsten hatte ich Gelegenheit, Ferropyrin in gynäkologi¬
schen und geburtshilflichen Fällen anzuwenden und habe ich, der
Uebersicht halber, die erzielten Erfolge in nachfolgender Tabelle ver¬
zeichnet.
Krankheit
Zahl
der
Fälle
Erfolg
Miss¬
erfolg
Blutungen im Wochenbette
4
3
1
Curettirung,
Blutungen nach Abortus
18
15
3
Curettirung.
Endometritis .
20
19
1
Curettirung.
Profuse Menstruation ....
19
19
—
—
Fibromyome .
3
2
1
—
Carcinom des Collum ....
1
1
—
—
Summe
65
59
6
Aus Obigem ist leicht ersichtlich, dass die Fälle, wo die Blu¬
tung durch Ferropyrin gestillt werden konnte, bei Weitem überwiegen
(90 7o/0).
Selbstverständlich darf man vom Ferropyrin nicht mehr ver¬
langen, als ein Stypticum zu leisten im Stande ist, und wie Schaeffer ')
ganz zichtig bemerkt, ist meist von dem Mittel eine Heilung des
Grund leide ns nicht zu erwarten. Man wird also Placentarreste,
Fibromyome, Carcinome und Anderes, operativ entfernen müssen, um
den Blutungen definitiv vorzubeugen. Nichtsdestoweniger, bleibt aber
das Ferropyrin ein werthvolles Mittel gegen das Symptom „B 1 u-
t u n g“ als solches, denn, wie eingangs erwähnt, ist ein operativer
Eingriff nicht immer und nicht an jedem Orte durchführbar.
Ich habe aber in zahlreichen Fällen beobachten können, dass
durch Ferropyrin nicht nur die Blutung gestillt, sondern auch das
’) Münchener medicinische Wochenschrift. 1895, Nr. 1.
4) Wiener medicinische Presse. 1895, Nr. 7.
3) Therapeutische Monatshefte. 1895, Nr. 7.
4) Münchener medicinische Wochenschrift. 1895, Nr. 53.
b) Münchener medicinische Wochenschrift. 1896, Nr. 48.
Nr. 30
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
093
Grundleiden günstig beeinflusst wurde; so namentlich bei hämorrhagi¬
scher Endometritis, wo man durch consequente, locale Anwendung des
Ferropyrins oft auffallende Besserungen erzielt.
Für gynäkologische Fälle benütze ich das Mittel in 15 — 20%iger
Lösung und applicire es mittelst der Brau n’schen Spritze. Es ist
dieser Modus der bei weitem praktischeste, da er immer und überall
anwendbar ist, während der Einführung von armirten Sonden oder
Wattetampons, die Enge des Cervicalcanals oft erheblichen Wider¬
stand entgegensetzt.
In seltenen Fällen sind die Einspritzungen von schmerzhaften
Contractionen gefolgt und es ist daher anzurathen, bei empfindlichen
Patientinnen, anfangs nur wenige Tropfen der Ferropyrinlösung einzu¬
spritzen. Meist wird aber der Inhalt der vollen Spritze (1 cm3) gut
vertragen und werden leichte Blutungen durch eine oder mehrere,
täglich vorzunehmende Injectionen sicher zum Stillstände gebracht’
ohne dass es nothwendig wäre, nebenbei Ergotin oder andere interne
Hämostatica anzuwenden.
Handelt es sich aber um ernste Hämorrbagien, so wird man
auch der übrigen therapeutischen Hilfsmittel, wie Tamponade,
Ruhe, Eisbeutel, Ergotin, Hydrastis canadensis und Anderes, nicht ent-
rathen können. Ich muss aber ausdrücklich hervorheben, dass uterine
Blutungen, welche durch die erwähnten Mittel nicht gestillt werden
konnten, binnen wenigen Tagen definitiv versiegten, wenn zugleich auch
Ferropyrininjectionen mit in Anwendung gebracht wurden.
Ich will hier nicht durch lange Krankengeschichten ermüden,
sondern nur drei ganz charakteristische Fälle von Ferropyrinw'irkung
kurz erw'ähnen.
I. 25. September 1897. F. Gr., 32jährige Tapezierersgattin,
hat bereits fünfmal normal entbunden und war früher im Wochen¬
bette immer gesund. Auch die letzte Entbindung verlief normal, aber
obwohl bereits acht Wochen seither verflossen sind, dauert die Blutung
ununterbrochen an. Zeitweilig treten wahre Blutstürze ein und es
werden grosse Stücke coagulirten Blutes aus den Genitalien entleert.
Patientin ist bettlägerig, leidet an fortwährenden Ohnmachtsanwand¬
lungen und bietet das Bild hochgradiger Blutleere. Sie wurde bereits
von anderer Seite mehrfach tamponirt, hat heisse und kalte Ein¬
spritzungen gemacht, Ergotin und Hydrastis genommen, aber Alles
ohne jeden Erfolg.
Bei der Untersuchung erwies sich die Gebärmutter gross, etwas
weich, der Muttermund (nach Erweiterung) für einen Finger durch¬
gängig, Gebärmutterhöhle leer, keine Placentarreste ; in den Adnexen
nichts Abnormes zu fühlen. Die übrigen Organe sind gesund.
Nach einer Einspritzung von 1 cm" 20°/oiger Ferropyrinlösung
und Tamponade mit Xeroformgaze und feuchten Wattebauschen, stand
die an jenem Tage besonders heftige Blutung. In der Nacht blutete
es etwas durch, so dass am zweiten Tage dieselbe Behandlung wieder¬
holt wurde; ebenso am dritten und vierten Tage. Nun war die
Blutung definitiv gestillt; es wurden keine Tampons mehr ein¬
gelegt und Patientin konnte nach acht Tagen das Bett verlassen.
Seither ist keine abnorme Blutung aufgetreten und die Menstruation
ist regelmässig wiedergekehrt.
II. 30. Juni 1898. M. H., 22jährige Kaufmannsgattin, hat vor
einem Jahre normal geboren und vor drei Wochen nach 21/2monat-
licher Schwangerschaft abortirt. Das Ei soll in toto abgegangen
sein. Seither fast ununterbrochene Blutung, welche namentlich in der
Bettruhe sich steigert. Es wurde bereits mehrfach Tamponade und
Ergotin ohne Erfolg angewendet.
Da der Verdacht auf zurückgebliebene Eireste bestand, wurde
Curettirung vorgeschlagen, zu welcher sich aber die sehr ängstliche
Kranke nicht entschlossen wollte. Es wurde daher die Ferropyrin-
behandlung versuchsweise eingeleitet. Nach zwei intrauterinen Ein¬
spritzungen von 18%iger Ferropyrinlösung und nachfolgender Vaginal¬
tamponade mit Xeroformgaze stand die Blutung und die Patientin
erfreute sich hierauf des besten Wohlseins. Seither ist wieder Schwanger-
schaft eingetreten.
III. 8. August 1899. A. Sch., 40jährige Kaufmannsgattin, Nulli¬
para, leidet an einem faustgrossen Fibromyom der vorderen Uterin¬
wand, welches zeitweilig hartnäckige Blutungen verursacht. Im ver¬
flossenen Jahre dauerten dieselben unter ärztlicher Behandlung fünf
Wochen. Diesmal bestehen sie seit acht Tagen. Es wird gleich Ferro-
pyrin (20%) eingespritzt und tamponirt, worauf die Hämorrhagie
stand und seither nicht mehr wiederkehrte. Die Menses sind reichlich,
bieten aber sonst nichts Abnormes.
Ich will noch erwähuen, dass ich auf die Empfehlung von
D e g 1 e 6) hin das Ferropyrin auch intern angewendet und ge¬
funden habe, dass es bei Cephalalgien und Neuralgien, in
Folge von Chlorose und Anämie, sehr günstig wirkt, was wohl auch
aut die gleichzeitige Antipyrinwirkung zurückzuführen sein
dürfte.
6) Wiener medicinische Presse. 1895, Nr. 38.
Wenn ich nun meine fast fünfjährigen Erfahrungen mit Ferro-
pyriu zusammenfasse, muss ich sagen, dass wir in demselben ein
w er t h volles Ilämostaticum besitzen, welches neben der
prompten Wirkung auch die besonders werth volle Eigenschaft besitzt,
ganz frei von jeder Aetz- oder sonstigen Reiz
Wirkung zu sein.
REFERATE.
I. Neue Methoden der Wundheilung.
Von Dr. C. L. Schleich.
2. Auflage. Berlin 1900, Springer.
II. Allgemeine Chirurgie und Operationslehre.
Von Dr. Arno Krüche.
7. Auflage. Leipzig 1900, Barth.
III. Verbandlehre.
Von A. Hoffa.
2. Auflage. München 1900, Lehmann.
IV. Die Osteotomie bei der Behandlung der Hüftgelenks¬
deformitäten.
Von Prof. Dr. A. Hoffa.
Separatabdruck aus der Festschrift der physiologisch-medicinischen Ge¬
sellschaft.
W ü r z b u r g 1899, Stüber.
V. Technik der Massage.
Von Prof. Dr. A. Hoffa.
3. Auflage. Stuttgart 1900, E n k e.
VI. Die Prophylaxe in der Chirurgie.
Von Prof. Dr, A Hoffa und Dr. A. Lilienfeld.
N obiling-Jankau’s Handbuch der Prophylaxe. 4. Abtheilung.
München 1900, Seitz und Schauer.
VII. Zur Pathologie der Erkrankungen des Wurmfort¬
satzes.
Von Dr. G. Honiginanii. Ibidem.
VIII. La Chirurgia del Pericardio e del Cuore.
Dal Prof. Errico Giordano.
Napoli 1900, Sangiovanni.
I. Die mit einem geharnischten Vorwort gegen »jenen Criticus
des Centralblattes für Chirurgie« ausgestattete zweite Auflage des
Buches von Schleich ist der ersten sehr schnell gefolgt. Die
Ansichten S c h 1 e i c h’s sind in vieler Beziehung sehr originell
und speciell seine Auffassung von der Entstehung der Eiterungs-
procecesse, der chemischen Bedingungen für das Zustandekommen
bestimmter Formen von Infectionen haben viel Bestechendes in
sich; die wissenschaftlichen Beweise fehlen allerdings für viele von
seinen Hypothesen, doch ist schon in der eigenartigen Gruppirung
dieser Processe ein zweifelloser Fortschritt zu sehen. Ueber die
Ansichten Sch leie h’s betreffs der Desinfection der Hände, werden
bekanntlich lebhafte Debatten geführt, bei denen gegenwärtig das
Urtheil der Fachchirurgen nicht besonders günstig für Schleich
lautet. Thatsache ist jedenfalls, dass die Marmorstaubseife für die
Hände sehr angenehm ist, und wenn sie sich auch nicht als obli¬
gatorisches und einziges Reinigungs-, respective Desinfectionsmittel
einbürgern dürfte, so wird sie doch an vielen chirurgischen
Stationen als werthvolle Errungenschaft einen Platz finden.
*
II. »Ein kurzes Lehrbuch für Studirende und Aerzte«. Mit
dem Zusatze »für Aerzte« kann sich Referent keineswegs einver¬
standen erklären, denn man sollte glauben, dass sich ein Arzt
nicht in einem kurzen Repetitorium Raths erholen wird, wenn auch
in dem Büchlein an einigen Stellen sehr realistisch gehaltene
»praktische« Bemerkungen eingestreut sind. Ueber einen Sorgen¬
brecher für das Rigorosum erhebt sich das Lehrbuch im Uebrigen
nur wenig, es enthält aber einige Stellen, über deren Beurlheilung
man keine Worte zu verlieren braucht: »Erwägt man, dass bei
jeder Tamponade die Gefahr der Zersetzung droht . «.
»Zweitens kommen Krebse vor, welche aus Schleimhaut mit
Cylinderepithel hervorgehen. Die meisten derselben liegen im Ver-
dauungstractus und gehören deshalb dem Gebiete der
inneren M e d i c i n an. Für den Chirurgen wichtig ist aber der
Mastdarmkrebs . « Die rigorosirende Jugend findet, dass die
Kürze dieses Witzes Seele ist! Daher siebente Auflage.
*
III. Die zweite Auflage der vorzüglichen Verbandlehre von
Hoffa ist bald nach der ersten erschienen. Die neuen Zusätze
reihen sieh würdig dem älteren Theile an, indem die modernen
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Errungenschaften in Wort und Bild hinzugekommen sind, einige
Tafeln auch Lücken der früheren Auflage ausfüllen. Die Zusätze
betreffen: die Bier'sche Stauung, die Clavicularverbände nach
B ii ng n e r, die Aluminiumschienen und ihre Technik, die Extensions¬
apparate nach Schede und Heuser, Extensions- und Gehver¬
bünde. Die misshandelte Phrase: »Das Buch sollte in der Biblio¬
thek keines Arztes fehlen« — besteht hier einmal zu Recht.
*
IV. An der Hand einer grossen Zahl von Krankengeschichten,
die vielfach durch gelungene Photographien erläutert sind, empfiehlt
Hoffa bei coxitischen Deformitäten behufs Erzielung eines be¬
weglichen Gelenkes bei knöcherner Ankylose die Meisselresection
des Gelenkes bei beiderseitiger Erkrankung mindestens auf einer
Seite; wenn der Schenkelschaft hoch am Becken in die Höhe ge¬
rückt ist, und zwischen beiden nur eine brückenartige Verwach¬
sung besteht, ist die Osteotomia pelvitrochanterica am Platze. Die
einfache subtrochantere Osteotomie wird bei annähernd normalem
oberem Femurende zur Ausgleichung von Abductious- und Adduc-
tions-Contracturen, die schiefe subtrochantere Osteotomie zur Be¬
hebung von Verkürzungen (bis 5 cm lassen sich corrigiren) ver¬
wendet. Dieselbe Operation wendet Hoffa auch an, um bei Per¬
sonen über zehn Jahren, welche an angeborener Hüftluxation leiden,
die Stellung zu verbessern, und ebenso zieht er sie auch bei der
Coxa vara den anderen Operationsmethoden vor.
*
V. Hoff a's Lehrbuch der Massage hat sich von Anfang an
wegen der kurzen und doch erschöpfenden, besonders aber streng
wissenschaftlichen Darstellung grosser Beliebtheit erfreut. So wird
es auch mit der neuen Auflage sein, welche abermals vermehrt
erscheint, auch eine Reihe neuer Abbildungen enthält, welche die
Lagerung der zu massirenden Körpertheile wiedergeben. Mit Recht
meint Hoffa, dass das Büchlein unser heutiges Können auf diesem
Gebiete getreu wiederspiegelt.
*
VI. Es ist gewiss sehr schwierig, in der Chirurgie die Grenze
zwischen Prophylaxe und Therapie zu ziehen, die so vielfach in-
einandergreifen. So kommt es, dass Mancher finden wird, dass
die Autoren bei der Behandlung dieses recht undankbaren Stoffes
die Grenzsteine hie und da verschoben haben. Zweifellos sind
Narkose, Wundbehandlung im engeren Sinne etc. prophylaktische
Massnahmen, aber es widerstrebt unserem Empfinden, sie aus dem
engsten Kreise der Therapie losgelöst zu sehen. Die Besprechung
dieser beiden Capitel ist im ersten Abschnitt, der als allgemeine
Prophylaxe bezeichnet ist, abgehandelt. Bei der speciellen Prophy¬
laxe finden sich die Capitel: Prophylaxe bei der Behandlung der
Fracturen und Luxationen (wobei besonders die Spontan fractur und
die modernen Verbände besprochen werden), Prophylaxe bei der
Behandlung von Luxationen, Prophylaxe bei Unfallverletzungen
(wobei einer zweck mässigeren und einheitlichen ärztlichen lleber-
wachung das Wort geredet wird), Prophylaxe bei der Behandlung
der Deformitäten, Prophylaxe bei der Behandlung der Geschwülste.
Die beiden letzten Capitel wären vielleicht am meisten zu einer
eingehenden Besprechung geeignet gewesen, sind aber im Verhältniss
zu anderen etwas kurz ausgefallen.
Das Buch ist durchaus auf der Höhe der Wissenschaft, bietet
viele neue Gesichtspunkte; ob sich der Stoff zu einer gesonderten
Besprechung sonderlich eignet, möchte Referent dahingestellt sein
lassen.
*
VH. Der im ärztlichen Verein zu Wiesbaden gehaltene Vor¬
trag behandelt einen letal abgegangenen Fall, bei dem nach einer
Kolik des Wurmfortsatzes eiterige Infiltration eines Leberstückes
aufgetreten sein dürfte, ohne dass an einer von beiden Stellen
Eiter zu finden war. Da keine Obduction erfolgte, ist der Fall nicht
vollständig aufgeklärt. Die angeknüpften Bemerkungen bieten in
keiner Richtung etwas wesentlich Neues.
*
\ III. Die Chirurgie des Herzens und Herzbeutels ist bereits
den Kinderschuhen entwachsen und ihre systematische Besprechung
höchst zeitgemäss. Die vortreffliche Monographie Giordano's
erfüllt diese Aufgabe vollkommen, indem sie in drei Abschnitten
zuerst die Anatomie der Herzgegend, dann die Chirurgie des Herz¬
beutels und schliesslich die des Herzens abhandelt. Es ist kaum
möglich, aus der Fülle der Einzelheiten Details herauszugreifen.
Gewiss wird das Büchlein jedem Arbeiter auf diesem Gebiete un¬
entbehrlich sein, da es auch eine ziemlich vollständige Uebersicht
über das bisher Geleistete bringt. Nur die Abbildungen könnten
deutlicher sein, sie geben kein klareres Bild als die Beschrei¬
bungen. Für den deutschen Leser ist es überraschend, volle 17 Fälle
von Herznaht zusammengestellt zu finden, unter denen 14 aus
Italien stammen (eine vom Autor ausgeführt). Darunter finden sich
sieben Heilungen, und, was besonders erfreulich ist, in allen Fällen,
welche erst später zum Tode führten, hatte die Herznaht gehalten.
K. B ü d i n g e r.
I. Die Krankheiten der Eierstöcke und Nebeneierstöcke.
Herau^gegeben von A. Martin.
Leipzig 1899, Georg i.
II. Die Krankheiten der Frauen.
Für Aerzte und Studirende dargestellt von H. Fritsch.
Neunte Auflage.
Braun schweig 1 900, W r e d e n.
III. Die Sterblichkeit »im Kindbett« in Berlin und in
Preussen 1877 — 1896.
Von Pli. Ehlers.
Mit einem Vorwort von Geheimrath Prof. Dr. L ö h 1 e i n in Giessen.
Stuttgart 1 900, Enke.
1. Die zweite Hälfte des Martin'schen »Handbuches der
Krankheiten der Adnexorgane« schliesst sich dem vorangegangenen
ersten Bande, in welchem die Krankheiten der Tuben abgebandelt
sind, was Vollständigkeit und Reichhaltigkeit von Darstellung und
Inhalt, streng wissenschaftliche Behandlung der Materie, umfang¬
reiche Berücksichtigung der einschlägigen Literatur und Vorzüglich¬
keit der Abbildungen anbelangt, ebenbürtig an. Aus Martin's
Feder stammen die Capitel über die Anatomie (hier finden wir eine
Wiedergabe der W a 1 d e y e r'schen Forschungsergebnisse über die
topographische Anatomie der Ovarien), die Frequenz und Sympto¬
matologie der Eierstockserkrankungen im Allgemeinen und jene der
Neubildungen, dann über der letzteren Stielbildung, Wandern, Gom-
plicationen, Symptome, Diagnose, Prognose und Therapie. Was die
Lectüre dieser meisterhaften Abhandlungen besonders anregend
macht, sind die immer wiederkehrenden Belege und Erfah¬
rungen aus dem eigenen, wie allgemein bekannt, sehr reichhal¬
tigen Materiale. W e n d e 1 e r verdanken wir eine in Bezug auf
Deutlichkeit und Anschaulichkeit der Darstellung hervorragende,
seine reichen eigenen Forschungsergebnisse enthaltende kritische
Bearbeitung der Entwicklungsgeschichte und Physiologie der
Ovarien, ferner der Histogenese und Metastasirung der Eierstocks¬
tumoren.
Die pathologische Anatomie der Orarialneubildungen ist von
S t o e c k 1 i n, Heinrichs, Wilms, H e r t e r, Orthmann
bearbeitet worden. W i 1 m s, der bekanntlich schon in früheren
grundlegenden Arbeiten Licht in die verworrenen Fragen der Histo¬
genese der Dermoide und Teratome der Ovarien gebracht hatte,
zeigt wiederum durch seine Bearbeitung der Histogenese der »Ovarial-
embryome«, dass er ganz besonders dazu berufen war. Die übrigen
der genannten Autoren, in der Eintheilung der Ovarialtumoren der
von Waldeyer vorgeschlagenen — - die in Bälde wrohl allgemein
acceptirt sein wird — in epitheliale, desmoide und Mischgeschwülste
folgend, geben in ihren musterhaften, mit vielen guten Abbildungen
versehenen Darlegungen einen vollkommenen Einblick in den gegen¬
wärtigen Stand wissenschaftlicher Forschung auf dem Gebiete der
pathologischen Anatomie der Eierstockgeschwülste.
Auf gleicher Höhe stehen die Abhandlungen von Orth mann
über die Ovarialschwangerschaft, die infectiösen Granulome, und
(mit Martin zusammen abgefasst) über die Cireulationsstörungen
und Entzündungen der Ovarien, von Kossmann über Mangel,
Ueberzahl, Verlagerung der Eierstöcke und über die Anatomie und
Pathologie der Nebeneierstöcke, von Sänger über die klinischen
Verhältnisse der Embryome und von Kippenberg über das
spätere Verhalten der Ovariotomirten.
Wird auch das gross angelegte M a r t i n’sche Werk, ein neuer
Zeuge der grossen Leistungen deutscher Wissenschaft in neuer und
neuester Zeit, vorwiegend und in ganz besonderem Masse den
wissenschaftlichen Interessen specieller fachlicher Kreise dienen, so
muss es doch auch der ärztlichen Allgemeinheit wärmstens em-
Nr. 30
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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pfohlen werden, denn der Praktiker wird im Einzelfalle in jeder
Hinsicht reichliche Belehrung daraus schöpfen können.
*
11. Fritsclrs Lehrbuch hat seit seinem Bestehen zu den
verbreitetsten und beliebtesten gynäkologischen Lehr- und Lern¬
behelfen gezählt. Entsprechend den zahlreichen wissenschaftlichen
Errungenschaften der neueren Zeit wurde das Buch etwas umfang¬
reicher; ein Capitel über Antisepsis in der Gynäkologie und ein
Capitel über Nachbehandlung und Nachkrankheiten nach Laparoto¬
mien wurden neu hinzugefügt, die meisten anderen Capitel wesent¬
lich umgestaltet, sowie eine bedeutende Anzahl neuer Abbildungen
beigegeben. Die lebendige, auch schwer verständliche und trockene
Themen dem Verständnisse des Lesers leicht nahebringende Schreib¬
weise des Autors sind allbekannt; nicht minder wird der in diesem
Lehrbuche niedergelegte reiche Schatz persönlicher Erfahrung vom
Lernenden dankbar gewürdigt werden.
*
1H. Die statistische Arbeit Boehr’s aus dem Jahre 1878
»Untersuchungen über die Häufigkeit des Todes im Wochenbett in
Preussen« hatte der Allgemeinheit zum Bewusstsein gebracht,
welche Rolle das Puerperalfieber in der Gesammtsterblichkeit spielt.
Gleichzeitig feierte die Antisepsis ihre ersten Triumphe in den Ent¬
bindungsanstalten und im Verlauf der Achtziger- Jahre traten ihre
Segnungen immer deutlicher hervor. Ehlers hat nun schon im
Jahre 1889 sich der dankenswerthen und mühevollen Aufgabe unter¬
zogen, auf Grund einer neuerlichen Prüfung des seit dem Erscheinen
der Boehr’schen Publication angesammelten statistischen Materiales
die Frage zu beantworten, inwieweit eine Herabsetzung der Sterb¬
lichkeit im Wochenbette in Folge der Antisepsis eingetreten sei.
Gleiche Zwecke verfolgt die wiederum ein Jahrzehnt später er¬
schienene vorliegende Arbeit. Diese hat nun die erfreuliche That-
sac-he festgestellt, dass es auch in der Gesammtbevölkerung
mit der Wöchnerinnensterblichkeit besser geworden ist. Die Ab¬
nahme der Sterblichkeit ist grösser in den Stadt- als in den Land¬
gemeinden, grösser in Berlin, als auf dem Lande. Weitere Besserung
erwartet der Verfasser von der besseren Ausbildung der Aerzte und
Hebammen und der Anstellung gut besoldeter Bezirkshebannnen in
den dünn bevölkerten Gegenden. H. L u d w i g.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
244. Die Behandlung der Retropharyngeal-
abscesse. Von Dr. Schmidt (Hannover). Um den Eintritt von
Eiter in die Luftröhre, beziehungsweise Speiseröhre mit seinen
Folgen zu vermeiden, hat B u r ck har dt die Eröffnung der Abscesse
von der Seite des Halses her empfohlen. Er selber legte den Haut¬
schnitt am vorderen Rande des Kopfnickers an und präparirte vor
der Carotis, Kr edel in 15 Fällen hinter der Vena jugularis
in die Tiefe. Ganz ungefährlich ist dieser Vorgang jedoch nicht,
da bereits ein Fall bekannt ist, in dem in Folge der Arrosion der
Vene durch das Drainrohr eine tödtliche Blutung entstanden
war. — (Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. März 1900.)
*
245. U e b e r die Beziehungen epileptischer An¬
fälle 'zur Harnsäureausscheidung. Von Dr. Caro
(Posen). Von Krainski wurde constatirt, dass 24 — 48 Stunden
vor dem epileptischen Anfall die Harnsäure im Urin vermindert
sei, und zwar so regelmässig, dass er bei einem bestimmten
Tiefstände der Harnsäureausscheidung einen Anfall Vorhersagen
konnte. Diese Harnsäureverminderung soll die Folge einer Gift-
wirkung sein, welche bei einer bestimmten Intensität die Anfälle
auslöst, welch letztere wieder das 'Gift zerstören sollen, und zwar
soll es sich hiebei um carbaminsaures Ammoniak, beziehungsweise
um das daraus freiwerdende Ammoniak handeln. Caro hat in
einem Falle dieses Verhalten der Harnsäure nachgeprüft und die
Angaben K rain ski's von der auffälligen Verminderung jener vor
einem Anfalle bestätigen können. — (Deutsche medicinische
Wochenschrift. 1900, Nr. 19.)
*
246. Aneurysma der Carotis interna nach Ton-
sillarabseess. Von Dr. Wulff (Hamburg.) Das achtjährige
Mädchen war an einer Angina follicularis erkrankt. Nach acht
Tagen wurde ein Tonsillarabscess diagnosticirt, behufs dessen
Spaltung der Rachen zuvor mit einem Stieltupfer zur Entfernung
des Schleimes ausgewischt wurde, bei welcher Gelegenheit eine
äusserst heftige Blutung entstand. Das Geschwür hatte allem An¬
scheine nach zur Arrosion eines grösseren Gefässes geführt gehabt,
ln weiterer Folge hatte sich an der gleichen Stelle eine pulsirende
Geschwulst entwickelt, die als Aneurysma erkannt wurde. Wegen
der vorliegenden Gefahr des Berstens des schon sehr verdünnten
Aneurysmasackes wurde die Ligatur der Carotis communis aus¬
geführt, die zur Schrumpfung der Geschwulst und nach einer den
Verlauf complicirenden Vereiterung derselben zur vollständigen
Heilung führte. — (Münchener medicinische Wochenschrift. 1900,
Nr. 20.)
*
247. Die stetige Zunahme der Krebserkrankun¬
gen in den letzten Jahren. Von Dr. Maeder (Breslau).
Gleichwie bereits für andere Länder der Nachweis der vermehrten
Krebssterblichkeit versucht worden ist, führt M a e d e r denselben-
Nachweis für Preussen, Sachsen und Baden; und zwar fand er die
Krebssterblichkeit grösser unter den Bewohnern der Städte als
unter jenen des Landes, grösser unter Frauen als unter
Männern, sowie gewisse Gegenden mehr davon heimgesucht als
andere. — (Zeitschrift für Hygiene und Infectionskrankheiten.
Bd. XXXIT, Heft 2.)
*
248. Acute Herzdila tion und Cor mobile. Von Dr.
Hoffmann (Düsseldorf). Die Lehre von der acuten Herzdilatation
hat namentlich in letzterer Zeit, und zwar durch die Untersuchungen
von Henschen dadurch eine Bedeutung erlangt, dass er sie
ganz ungewöhnlich häufig bei Chlorose und Anämie, Scharlach,
Nephritis, beim Alkohol- und Greisenherz, bei Infectionskrankheiten,
Rheumatismus, Klappenfehlern, aber auch bei Gesunden nach
starker körperlicher Anstrengung beobachtet haben will. Demgegen¬
über betonen wieder andere Autoren, dass es sich hier nur um
scheinbare, durch Hochstand des Zwerchfelles und Retraction der
Lungen bedingte Vergrösserung der Herzdämpfung handle. Hoff¬
mann bemerkt, dass eine Vergrösserung des Herzens besonders
dann vorgetäuscht werden kann, wenn zwei Bedingungen vorhanden
sind: Hochstand des Zwerchfelles, wie er bei Chlorose häufig ist
und ein sehr bewegliches Herz, wie es auch bei Chlorose und
ausserdem bei Nervosität nicht selten anzutreffen ist. Ein solches
Cor mobile kann unter Umsänden ganz lebhafte Beschwerden
machen. Solche hatten in einem von Hoffmann näher ange¬
führten Falle bestanden. Der Schlaf war schlecht, ausser Kopf¬
druck, Unruhe und sonstigen neurasthenischen Symptomen, zeit¬
weilig heftiges Herzklopfen, namentlich Nachts, Angstanfälle mit
Beklemmungen, niemals jedoch eigentliche Dyspnoe. Bei der Unter¬
suchung wurde der Spitzenstoss 2 cm ausserhalb der Mammillar-
linie gefunden, sonst am Herzen nichts Abnormes. Bei Lagerung
nach links wanderte die Herzspitze um weitere 5 cm nach aussen,
blieb aber im fünften Intercostalraume. Dabei tympanitischer Schall
über dem ganzen Abdomen. Zwei Tage später nach Abführmitteln
und reizloser Kost, begann die Leberdämpfung erst an der sechsten
und nicht wie früher am unteren Rande der fünften Rippe, und
der Spitzenstoss war innerhalb der Mamillarlinie fühlbar.
(Deutsche medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 19.)
*
249. Zur Diagnose des Cöeumcarcinoms und
der Cöcumtuberculose. Von Prof. Obrastzow (Kiew).
Das diagnostische Hauptmerkmal zwischen den beiden genannten
Erkrankungen soll darin liegen, dass beim Carcinom die Palpation
nichts mehr von einem Darm, sondern nur einen Tumor erkennen
lässt, während bei der Tuberculose zumeist der Darm als solcher,
wenn auch mit verdickter Wand erkannt werden kann. Nach Ver¬
fasser sprechen frühzeitig auftretende Stenosenerscheinungen für
Carcinom, spät auftretende für Tuberculose. — (Archiv für Ver¬
dauungskrankheiten. Bd. VI, Heft 1.)
*
250. Cohnheim empfahl im Vereine für innere Medicin in
Berlin zur Behandlung gewisser Formen von Magen¬
erweiterung die Einführung grosser Oeldosen in
den Magen. Alle vier Fälle, in denen diese Behandlung ange¬
wendet worden war, hatten das Gemeinsame, dass den Symptomen
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 30
nach — vier bis fünf Stunden nach dem Essen auffretende
krampfartige Schmerzen im Epigastrium — die Magenerweiterung
als Folge eines Pyloruskrampfes anzusehen war. Während die
übliche Magenausspülung sonst wochenlang vorgenommen werden
musste, genügte es in den näher beschriebenen vier Fällen, nach
gründlicher Entleerung des Magens einige Male J/s — */4 1 leicht er¬
wärmtes Olivenöl durch den Magenschlauch einzuführen, um die
Beschwerden zu beheben und die Patienten fähig zu machen,
selbst schwer verdauliche Speisen wieder gemessen zu können.
(Deutsche medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 0.)
*
251. (Aus der medicinischen Klinik von Prof. Senator
zu Berlin.) lieber Beobachtungen bei der therapeuti¬
schen Verwendung des Dionin. Von Dr. Bornikoel.
Es wird die reizmildernde Wirkung des Mittels hervorgehoben; der
Husten wird beseitigt, ohne dass die Secretion beschränkt würde;
ebenso konnte die schmerzstillende Wirkung bei den verschiedensten
Anlässen — auch bei den gastrischen Krisen der Tabiker —
ebenso auch eine hypnotische Wirkung beobachtet werden. Im All¬
gemeinen war 0015 002 pro dosi in Pulver oder Lösung ver¬
abreicht worden. — (Die Therapie der Gegenwart. 1900, Nr. 4.)
*
252. Kossmann in Berlin theilt einen Fall von
Schwangerschaft bei einer Frau mit, bei welcher l1/., Jahre
zuvor wegen beiderseitiger Oophoritis die Ovarien exstirpirt
worden waren, wobei von ihnen nur so viel zurückgelassen wurde,
als nothwendig war, um das Abgleiten der Catgutfäden zu ver¬
hindern. Die Conception lässt sich nur dadurch erklären, dass die
Ligaturen zwar die Blutung gestillt, aber dennoch nicht die Er¬
nährung der zurückgebliebenen Eierstoekreste vollständig gestört
haben, lieber die Bedeutung des Mekoniumabganges
schliesst sich Kossmann der Meinung Olshau sen's an,
welcher sagt, dass Mekonium abgehen könne, ohne dass der
Fötus in Lebensgefahr sei, eine Anschauung, der vielfach entgegen¬
getreten wurde. Kossmann beschreibt einen Fall, in dem
während eines ganzen Tages bei einem in erster Schädel¬
lage befindlichen Kinde Mekonium neben der Kopfgeschwulst hervor¬
quoll, sobald der Finger auch nur zur Hälfte eingeführt wurde.
Die sehr häufig vorgenommene Controle der Herztöne hatte niemals
eine Störung der Frequenz ergeben. Dabei war das jedes Mal
hervorquellende Mekonium so dickflüssig und dunkel, dass es für
frisch aus dem Mastdarm entleert gelten und sicherlich nicht bei
noch stehender Blase dem Fruchtwasser beigemengt sein konnte.
(Münchener medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 10.)
*
253. (Aus der medicinischen Klinik des Prof. Lichtheim
in Königsberg.) U e b e r L y m p h ä mie ohne L y m p h d r ü s e n-
Schwellung. Von Dr. Pappenheim. Im Gegensätze zur
Pseudoleukämie versteht man unter Leukämie ein Krankheitsbild,
in dem eine Vergrösserung der Lymphdrüsen oder Milz oder beider
mit einem charakteristischen Blutbefund verknüpft ist. Nach
Ehrlich -Lazar us gibt aber das Blutbild den eigentlichen Ei n-
theilungsgrund ab und je nachdem dasselbe vorzüglich granulations¬
lose unbewegliche Lymphkörperchen aufweist, oder granulirte,
amöboide Knochenmarkszellen, pflegt man eine »lymphatische«
Leukämie (Lymphämie) odereine »myelogene« Leukämie (Myelämie)
zu unterscheiden, wobei man sich in dem einen Falle die Lymph¬
drüsen, in dem anderen das Knochenmark als primär erkrankt
denkt, während der Milztumor, sowie die bei myelogener Leukämie
auftretenden Drüsenpakete als durch secundäre Metastasen lympha¬
tischen Gewebes bedingt, aufgefasst werden. Nun sind aber Fälle
von Leukämie bekannt geworden, in welchen der Obductionsbefund
hinsichtlich von Lymphombildung ein vollständig negativer war.
Auf Grund derselben, sowie zweier eigener beobachteter Fälle, stellt
sich der Autor auf Seite Neumann’s, dessen Lehre hinsichtlich
der Entstehung der Leukämie kurz folgende ist: Befällt ein patho¬
logischer Wachsthumsreiz primär die Milz oder Lymphdrüsen,
deren dehnbare Kapsel mitwächst, dann entsteht blos eine Pseudo¬
leukämie; wird in gleicher Weise das Knochenmark ergriffen und
zur Hyperplasie gebracht, dann entsteht immer eine Leukämie.
Nach Verfasser ist also jede Leukämie, auch die lymphatische,
die Folge .einer hyperplastischen Knochenmarkswucherung. —
(Zeitschrift für klinische Medicin. Bd. XXXIX, Heft 3 und 4.)
254. (25. Wanderversammlung der südwestdeutschen Neuro¬
logen und Irrenärzte.) Monakow (Zürich) berichtete über einen
Fall, welcher ein seit der Geburt blindes, mit 75 Jahren verstor¬
benes Individuum betraf. Es stellte sich der Befund heraus, dass
die als Sehstrahlung bezeichneten Bahnen unentwickelt, zum Theil
jedoch vollständig erhalten waren. Dieser von Monakow als
Thalamusstiel des Corpus geniculatum externum bezeichnete Theil
ist offenbar functioneil different von der übrigen Sehbahn.
*
255. Ueber die Durchgängigkeit der unver¬
sehrt e n II a u t des W a r m b 1 ü t e r s. Von Dr. Vogel. Von den
am Kaninchen angestelllen Versuchen seien einige der Ergebnisse
angeführt. Nach denselben soll Kohlenoxydgas gar nicht, Schwefel¬
wasserstoff sehr schnell in die Haut eindringen und binnen Kurzem
eine Vergiftung setzen. Aether und Chloral in Aether dringen
schnell durch, letzteres aber nicht, wenn es mit Alkohol oder
Wasser gemengt ist. Aelherdämpfe dringen bei höherer Temperatur
sehr leicht durch die Haut; in Aether gelöste und mit Paraffinsalbe
verriebene Salicylsäure tritt, kräftig eingerieben, in die Haut ein und
kommt zur Resorption. — (Virchow’s Archiv. Bd. CLVI, Heft 3.)
*
256. Ein Fall von erheblicher Schädelver-
lctzung ohne nachweisbare Functionsstörungen.
Von Dr. Gut mann (Emmendingen). Der zwölfjährige Knabe war
mit seinem Kopfe zwischen die Räder zweier aneinander langsam
vorüberfahrender Wagen gekommen. Die Folge war eine Wunde
an der rechten Schläfe, aus der am nächsten Tage ein walnuss¬
grosses Stück Gehirn ausgestossen wurde. Einen Monat nach dem
Unfall war der Knabe ohne jeden psychischen oder functioneilen
Defect wieder vollkommen hergestellt. — (Deutsche medicinische
Wochenschrift. 1900, Nr. 22.)
*
257. Ueber individuelle Schwangerschafts¬
zeichen nebst einer Bemerkung über die anatomi¬
schen Verhältnisse des Orificium e x t. urethrae.
Von Dr. Naegeli (Ermatingen). Einige Frauen verspüren in den
ersten Schwangerschaftswochen ein Jucken am Körper; bei vielen
Frauen traten frühzeitig nach der Conception abnorme Sensationen
und Schmerzen in Körpertheilen auf, die während einer früheren
Schwangerschaft oder im Wochenbette erkrankt gewesen waren.
Frauen, die an einer Phlebitis oder Thrombose gelitten haben,
empfinden bald an denselben Stellen häufig Schmerzen, desgleichen
an der Stelle einer ehemaligen Parametritis, Mastitis etc. Naegeli
hat gefunden, dass die jungfräuliche Harnröhre durch eine zwei¬
zipfelige Klappe geschlossen sei, deren Intactheit darauf hindeutet,
dass keine Masturbation stattgefunden habe. Nach einer solchen
oder nach Cohabitationen wird die Klappe zu dem bekannten
Wulst um die Urethralmündung. — (Münchener medicinische
Wochenschrift. 1900, Nr. 24.)
*
•
258. Zur Symptomatologie der hysterischen
T a u b h e i t. Von Dr. Barth (Brieg). Bei einem erblich nicht be¬
lasteten, intelligenten, elfjährigen Mädchen war durch einen Schreck
doppelseitige absolute Taubheit aufgetreten. Bezeichnend für die
hysterische Natur der Erkrankung war, dass das Kind dessenun¬
geachtet vollkommen richtig und rein singen konnte, ja es sang
sogar das Lied in der Tonart, welche am Clavier angegeben wurde.
Diese Beeinflussung, welche eine unbewusste akustische Perception
zur Folge hatte, fand nur am Beginne des Singens statt. Während
desselben Hess das Mädchen sich durch keinen weiteren Ton, durch
keine Dissonanzen mehr beeinflussen. Das Gehör stellte sich plötz¬
lich nach einer Hypnose wieder ein. — (Deutsche medicinische
Wochenschrift. 1900, Nr. 22.)
*
259. Partielle Nephrektomie. Von Verhoogen
(Brüssel). Verfasser hat in einem Falle den zwei grössere Cavernen
enthaltenen Theil einer Niere resecirt, darnach die Wunde mit
Catgut vernäht; das Resultat war ein durchaus schlechtes. Sechs
Wochen später musste die nun vollständig von Tuberkeln durch¬
setzte Niere gänzlich entfernt werden. — (Centralblatt für Krank¬
heiten der Harn- und Sexualorgane. Bd. XI, Heft 6.) Pi.
Nr. HO
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
697
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Es kann nur begrüsst werden, wenn nach Analogie anderer
öffentlicher Anstalten auch in den k. k. Krankenhäusern eine Ver¬
lautbarung erfolgt, durch welche das Publicum auf sein Beschwerde¬
recht aufmerksam gemacht wird. Solcher Brauch bekräftigt jeden
Einzelnen, der die Anstalt aufsucht, in seinem guten Rechte auf ein
gewisses Mass von natürlichen Ansprüchen und verschafft von vorno¬
herein ein beruhigendes Gefühl von Schutz und Sicherheit. Je ein¬
facher und allgemeiner solche Verlautbarungen gehalten sind, umso
besser erfüllen sie ihren Zweck. Nach der gewöhnlichen fast typischen
Stylisirung wird sonst nur im Allgemeinen darauf hingewiesen, an
welcher Stelle Beschwerden vorgebracht werden können. Die Statt¬
halterei hat es für gut befunden in der von ihr seit einigen Tagen
in den k. k. Krankenhäusern angebrachten Verlautbarung von einem
solchen allgemein gehaltenen Hinweis auf das Beschwerderecht der
Patienten abzugehen und hat eine Reihe von besonders qualificirten
Beschwerdepunkten noch besonders namhaft gemacht. Es ist dabei sehr
zu bedauern, dass durch die nicht ganz glückliche Lösung des neuen
stylistischen Problems sich leicht recht unliebsame Missverständnisse
ergeben könnten. Dies gilt namentlich im Hinblick auf den an die
Spitze der Verlautbarung gestellten Beschwerdepunkt: „Nicht ent¬
sprechende Behandlung“. In einem Krankenhause versteht
man unter „Behandlung“ wohl zunächst: „Therapie“. Ob die Therapie
eine „entsprechende“ oder nicht „entsprechende“ ist, darüber kann
doch in einem öffentlichen Krankenhause unmöglich der Kranke zum
Richter aufgerufen werden. Man will ja nicht durch derlei behörd¬
liche Massregeln zugleich mit dem Vertrauen die Autorität des nach
wissenschaftlichen Principien behandelnden Arztes von vorneherein
untergraben und gleichsam behördlich dem Kranken das Recht Vor¬
behalten, sich die Therapie eventuell auch selber vorzuschreiben. Dem
Kranken soll sein Recht in keiner Weise verkürzt werden, aber es
darf ihm, auch nicht scheinbar, die Handhabe gegeben sein, dieses
Recht auch auf Gebiete auszudehnen, die seiner Beurtheilung sich
naturgemäss vollkommen entziehen. Es darf ihm auch nicht der
leiseste Zweifel darüber aufkommen, dass in einem staa tlichen
Krankenhause Aerzte angestellt wären, die den Kranken eine andere
als „entsprechende“, das heisst eine auf der Höhe der Zeit stehende,
auf wissenschaftlicher Ueberzeugung gegründete Therapie zu Theil
werden Hessen. Es kann und soll gewdss kein Kranker zu einem be¬
stimmten Behandlungsverfahren gezwungen werden und so wde es dem
Privatkranken freisteht, sich durch den Wechsel des Arztes auf eigene
Verantwortung und Gefahr einer ihm nicht zusagenden Behandlungs¬
methode zu entziehen, so bleibt auch dem Spitalskranken durch frei¬
willigen Austritt aus dem Krankenhause — eventuell gegen Revers —
auch in diesem Punkte das freie Bestimmungsrecht gewahrt. Wohin
es aber führen würde, wenn die Spitalskranken unter Berufung auf
die Verlautbarung der Statthalterei ein Richteramt über die ärztliche
Therapie sich anmassen würden, das kann in seinen, jede wirksame
spitalsärztliche Thätigkeit geradezu lahmlegenden Folgen leicht be-
urtheilt werden. Es bedarf wohl nur eines Hinweises auf die gewiss
auch der Statthalterei unerwünschten Consequenzen eines Lapsus
calami — denn nur an einen solchen können wir glauben — um
einer einsichtsvollen Aenderung der Stylisirung dieser jüngsten Verlaut¬
barung gewärtig zu sein. ' A. F.
*
Anlässlich der Centennarfeier des Bestandes des „Royal
College of surgeons of England“ wurden zu Ehren¬
mitgliedern dieser Gesellschaft unter Anderen folgende Chirurgen
ernannt: Eduard Albert (Wien), Ed. B a s s i n i (Padua), Ernst
v. Bergmann (Berlin), Oskar Bloch (Kopenhagen), Enrico
B o t ti n i (Pavia), F r i e dr. v. Esmarch (Kiel), Theodor Kocher
(Bern), Franz König ( Berlin), Ernst Küster (Marburg^
Gustav Lennander (Upsala), Samuel Pozzi und Paul
T i 1 1 a u x (Paris).
*
Ernannt: Privatdocent Dr. Alois Kr ei dl zum a. o.
Piofessor der Physiologie in Wien. — Geheimer Rath Prof. Czerny
in Heidelberg zum correspoudirenden Mitgliede der Akademie der
Wissenschaften in Paris. — Dr. S. Kaestner zum a. o. Professor
für Anatomie in Leipzig. — Prof. Dr. Oskar Eversb lisch in Er¬
langen zum o. Professor der Augenheilkunde und Vorstand der ophthalmo-
logischen Klinik und Poliklinik in München. — Die Privatdocenten
Di . Benno Schmidt und Dr. Dietrich Gerhardt in Strassburg
zu a. o. Professoren. — Der a. o. Prof. Dr. Ludwig M e d i c u s
zum o. Professor der Pharmacie und angewandten Chemie in Würzburg.
*
Verliehen: Dem. o. Professor Hofrath Dr. Rudolf
Clirobak in Wien das Ritterkreuz dos Leopold Ordens. - — Prof.
Di. Friedrich Schauta in Wien der Titel eines Hofrathes.
— Dem Privatdocenten Dr. Sa r way in Tübingen der Titel eines a. o.
Professors.
*
ITabilitirt: Dr. Paul Jensen für Physiologie in Jena,
Dr. Philipp Jung für Geburtshilfe und Gynäkologie in Greifswald,
Dr. II e n s e n für innere Medicin in Kiel.
*
Gestorben: Der dänische Chemiker Prof. Dr. Johann
Kjeldahl, der Erfinder der heute allgemein angewendeten Methode
der Stickstoffbestimmung.
*
Der Ministerpräsident als Leiter des Ministeriums des Innern hat
aus Anlass des Beginnes einer neuen dreijährigen Functionsperiode des
Obersten Sanitäter athes die bisherigen ordentlichen Mit¬
glieder dieses Fachrathos: die Hofräthe Eduard Albert, Gustav
Braun, Rudolf C h r o b a k, Anton Dräsche, Reichsraths¬
und Landtags-Abgeordneten Dr. Johann Dvofiik, Hofrath S i g-
m u n d E x n e r, Prof. Max Grube r, P rof. Florian Kratsch-
mer, Hofrath Ernst Ludwig, Director des Allgemeinen Kranken¬
hauses Dr. Victor M u c h a, Professor am Militär-Thierarznei-Institute
Stanislaus P o 1 a n s k y, Hofrath August R. Vogl v. F e r n-
h e i m, Prof. Julius R. Wagner v. Jaureg g, Prof. Anton
W eichseibau m, Hofrath H e r m a n n Freiherrn v. Wider¬
hofer, sowie den Professor der internen Medicin in Prag Doctor
Rudolf R. J a k s c h v. Wartenhorst zu ordentlichen Mit¬
gliedern des Obersten Sanitätsrathesj ferner die bisherigen ausser¬
ordentlichen Mitglieder desselben: Ministerialrath Josef Daimer,
Hofrath Architekten Franz R. v. Gruber, Apotheker und Vor¬
stand des Wiener Apotheker-Hauptgremiums, Pharm. Mag. kaiserlichen
Rath Robert Grüner, Apotheker Dr. Alois H e 1 1 m a n n, Sec-
tions-Chef Dr. Karl T h e o d o r v. Inama-Sternegg, Apotheker
Pharm. Mag. Alois Kremei und den Ministerialrath und Veterinär-
Referenten im Ministerium des Innern Bernhard Sperk, dann
den Sectionsrath im Handelsministerium Alexander Freiherrn v.
Koller und den Central- Gewerbe- Inspector, Hofrath Friedrich
Muhl, zu ausserordentlichen Mitgliedern des Obersten Sanitätsrathes
für das nächste Trienniu m ernannt.
*
In der am 16. Juli d. J. abgehaltenen Sitzung des nieder¬
österreichischen Landes-Sanitätsrathes wurde 1 . der
Besetzungsvorschlag für die Stelle eines Directors einer k. k. Kranken¬
anstalt in Wien erstattet. Ferner wurden Gutachten abgegeben: 2. Ueber
die Versorgung mehrerer Häuser in einer Gemeinde Niederösterreichs
mit Trinkwasser. 3. Ueber die Errichtung von ärztlichen Röntgen¬
instituten und 4. über die Herstellung eines bacteriologischen Labora¬
toriums in einer Wiener k. k. Krankenanstalt.
*
Das Erzherzogin Sophien-Spital in der Kaiserstrasse,
das bisher seinen Belegraum von 80 Betten für die Krankenpflege in
Wien nicht auszunützen vermochte, weil es das Oeffentlichkeitsrecht
nicht besass und zur Bestreitung der Betriebsauslagen fast aus¬
schliesslich auf die hiefür nicht ausreichenden Einkünfte seiner
Stiftungs-Capitalien angewiesen war, wird nunmehr, wie die „Corr.
Willi.“ meldet, auf Grund Allerhöchster Entschliessung Sr. Majestät
des Kaisers den Wiener k. k. Krankenanstalten ein¬
gereiht und künftighin den Namen „K. k. Krankenanstalt Erzher¬
zogin Sophien- Spitals-Stiftung“ führen. Mit 1. August 1900 wird die
k. k. niederösterreichische Statthalterei namens des Wiener k. k.
Krankenanstaltsfonds den Betrieb und die Verwaltung übernehmen.
Der bisher einzige Pavillon erhält den Namen „Kenyon-Kranken-
pavillon“ zur Erinnerung an Frau Louise Kenyon, welche durch die
letzwillige Zuwendung ihres Vermögens seinerzeit die Errichtung des
Spitales ermöglichte, und soll alsbald durch einen Aufbau um zwei
Krankenzimmer zu je zehn Betten vergrössert werden. Sodann wird
ein zweiter chirurgischer Pavillon erbaut werden, der mit Aller¬
höchster Bewilligung zur Erinnerung an den verewigen Protector der
Anstalt, weiland Se. k. und k. Hoheit Erzherzog Karl L udwi g,
den Namen „Erzherzog Karl Ludwig-Pavillon“ führen wird. Gegen¬
wärtig hat die Anstalt eine chirurgische und eine medicinische Ab¬
theilung, die bis auf Weiteres gemeinsam von dem bisherigen Vor¬
stande der chirurgischen Abtheilung, Dr. G u i d o v. T ö r ö k, geleitet
werden. Dieser Letztere wurde zum Primarärzte erster Classe ernannt
und bleibt bis auf Weiteres auch mit der Leitung der Anstalt betraut.
(Wiener Zeitung vom 21. Juli.)
*
Die internationale Malaria-Conferenz in Liverpool
ist in Folge der Centennarfeier des „Royal College of Surgeons“
vertagt worden. Der neuerliche Termin wird später bekanntgegeben
werden.
*
698
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 30
XIII. Internationaler medicinischer Congress
in Paris. Theilnekmer haben sich mittelst eines Unterzeichnungs¬
zettels unter Beilage ihrer Visitkarte mit genauer Adresse bei dem
Generalsecretär und Tresorier des österreichischen Comites, Professor
Dr. Adam Politzer (Wien, I., Gonzagagasse 19) zu melden,
worauf sie von ihm gegen Erlag von 24 K die definitive Mitgliedskarte
zugeschickt erhalten. Die Fahrtbegünstigung besteht darin, dass die
Congressmitglieder auf den französischen Bahnen von der Grenzstation
bis Paris den Preis für die einfache Fahrt zu erlegen haben, der gleich¬
zeitig zur unentgeltlichen Rückfahrt bis an die französische Grenze
berechtigt, welche aber auf derselben Route erfolgen muss. Jedes
Congressmitglied erhält ein eigenes Eisenbahncer tificat,
welches an der Grenzstation vorgezeigt und abgestempelt werden muss,
um die Giltigkeit zur unentgeltlichen Rückfahrt zu erlangen. Die
Fahrtbegünstigung auf den französischen Bahnen dauert vom
20. Juli bis 20. August. Die Congressmitglieder erhalten in dem Central¬
bureau in Paris eine Freikarte zum Besuche der Ausstellung während
der Congresstage. Alle Auskünfte über Wohnungen ertheilt das
Wohnungsbureau des Congresses in Paris, 21, Rue de l’Ecole de
Medecine. Ausserdem hat sich eine Reihe von Reisebureaux zur Aus-
kunffsleistung für den Reiseverkehr nach Paris und zur Wohnungs¬
vermittlung angeboten. Diese sind: 1. Die Agentie der Voyages
modernes, Rue de l’Echelle 1, bietet comfortabel eingerichtete Zimmer
zum Preise von 6 Francs pro Tag, sowie die ganze Pension zum
Preise von 15 Francs an. 2. Societe fran^aise des „Voyages
Duchemin“, Paris, 20, Rue de Grammont. Der Preis eines Zimmers
sammt ganzer Verpflegung beträgt 140 — 180 Francs pro Woche, der
eines Zimmers ohne Verpflegung nur mit erstem Frühstück beträgt
70- — 120 Francs pro Woche. 3. Voyages pratiques, 9, Rue de Rome,
Paris. Dieses Reisebureau ist bereit, unentgeltlich alle Auskünfte an
die Comites und Mitglieder des Congresses zu ertheilen, besonders
was die Kosten der Reise, die Kundreisebillets, die Preise in den
Hotels, in den verschiedenen Hauptstädten und den Preis des Auf¬
enthaltes in Paris betrifft. Das Bureau vermittelt Wohnungen zum
Preise von 6 Francs 50 Centimes pro Tag und Person. Das Bureau
übernimmt auch die Besorgung des Gepäckes, sowie den Transport
der Reisenden vom Bahnhofe zu dem Absteigequartier in Paris. Endlich
werden gemeinsame Ausflüge per Post, Bahn und Schiff veranstaltet.
4. Agence Desroches, 21, Rue du Faubourg Montmartre, Paris. Bei der
Ankunft werden die Congressmitglieder auf dem Bahnhofe die Agenten
dieses Bureaus vorfinden, welche durch ihre rothe Kopfbedeckung er¬
kennbar sind und den Auftrag haben, die Fremden in die für sie vor¬
bereiteten Wohnungen zu dirigiren. Zimmer 10 Francs pro Tag, in¬
begriffen Beleuchtung und Service, sowie das erste Frühstück. Der
erste Tag kostet 20 Francs, wobei inbegriffen ist der Transport des
Gepäckes und die Fahrt vom Bahnhofe in’s Absteigequartier.
Der letzte Tag kostet aus den gleichen Gründen 15 Francs. Die
Reisenden werden gebeten, sich acht Tage früher bei dem Bureau
zu melden. 5. AgenceLubin, 36, Boulevard Haussmann, Paris. Diese
Agentie liefeit Zimmer mit einem Bett zu 12 Francs pro Tag und
Zimmer für zwei Personen zu 20 Francs pro Tag (inbegriffen Service
und Beleuchtung). 6. Hotel Schenker in Paris, 191, Rue de
l'Universite. Ein Zimmer mit zwei Betten sammt erstem Frühstück
32 Francs, ein Cabinet mit einem Bett sammt erstem Frühstück
16 Francs. 7. Hotel Cecil in Paris, 119 bis 121, Rue Caulaincourt.
Zimmer mit ein bis zwei Betten (inclusive Beleuchtung und Ser¬
vice) sammt erstem Frühstück und Diner pro Person zu 12 bis
15 Francs. 8. Der Unterrichtsminister stellt für die Dauer des Con¬
gresses in den den Congressräumlichkeiten nahe gelegenen Lyceen
800 Betten für Einzelmitglieder (ohne Familie) zur Verfügung zum
Preise von 5'50 Francs für ein Bett inclusive Bedienung und erstes
Frühstück. Aufträge übernimmt das Comite de logement, 21, Rue de
1 ecole de Medicine. — Ein Damencomite unter Führung der
Damen Lannelongue und Brouai del wird den Damen der
Congressmitglieder in einem Saale der Faculte de Medecine zur Ver¬
fügung stehen. Die Frauen, Töchter und Schwestern der Congress¬
mitglieder nehmen an allen Festlichkeiten theil. Die Inscriptionen
werden in W ien am 28. d. M. geschlossen und können von da an
Anmeldungen nur mehr beim Generalsecretariat, Paris, 21, Rue de
l’Ecole de Medecine, geschehen.
*
Die französische Akademie der Wissenschaften hat die Einfuhrs¬
bewilligung nach Frankreich für das „Lithionwasser“ die „Franzens¬
bader Nataliequelle“ ertheilt.
•3 fr
Gelegentlich seiner vom 9. bis 12. September 1. J. in Trier
stattfindenden 25. Jahresversammlung veranstaltet der Deutsche
Verein für öffentliche Gesundheitspflege eine A u s-
stellung, welche vom 7. bis 16. September dauern soll. Dem
Comito gehören die Spitzen der Behörden, Vorsitzende der einschlägigen
Vereine etc. an. Die Ausstellung wird in folgende Gruppen zerfallen:
1. Wissenschaftliche Hygiene; 2. Städtehygiene, Bauwesen und Schul¬
hygiene; 3. Ernährung und Bekleidung; 4. Wohnungen und Badewesen ;
5. Krankenpflege; 6. Gewerbehygiene und Unfallschutz; 7. Wohlfahrts¬
einrichtungen. Das Bureau der Ausstellung befindet sich in Trier,
Rothes Haus.
*
Von Hofrath Drasch e’s „Bibliothek der gesammten
medicinischen W i ssenschafteif1, herausgegeben bei P r o-
chaska, Wien, sind die Lieferungen 194 — 199 erschienen. Dieselben
bilden das sechste und siebente Heft der Abtheilung Chirurgie (Ex¬
tremitäten — Genu valgum) und die Schlusshefte 16 — 19 des Bandes
„Venerische und Hautkrankheiten“ (Schanker — Zuugensyphilis).
*
Von Schwalb e’s bei F. Enke in Stuttgart herausgegebeuem
„Jahrbuch der praktischen Me di ein“, Jahrgang 1900,
sind die Hefte 3 — 6 erschienen Sie enthalten die Referate über
Constitutions- uud Blutkrankheiten von Dr. M. Sternberg (Wien),
Chirurgie von Dr. P. Wagner (Leipzig), Geburtshilfe und Gynä¬
kologie von Dr, P. Strass mann (Berlin), Augenkrankheiten von
Prof. Horstmann (Berlin), Ohrenkrankheiten von Dr. Schwa¬
bach (Berlin), Krankheiten der Nase, des Mundes, Kehlkopfes, der
Luftröhre von Prof. Jurasz (Heidelberg), Haut- und venerische
Krankheiten von Dr. M. Joseph (Berlin), Kinderkrankheiten von
Dr. H. Neumann (Berlin), Klimatologie etc. von Prof. Clar
(Wien), Arzneimittellehre und Toxikologie von Prof. Gott lieb
(Heidelberg), Gerichtliche Medicin von Dr. G. Puppe (Berlin) und
Oefl’entliches Gesundheitswesen von Prof. Gärtner (Jena).
*
Nach dem Vorbilde der verschiedenen deutschen Jahrbücher,
welche in referirender Weise einen Ueberblick über die Gesammtlite-
ratur eines Faches geben, wird jetzt im Verlage von Lam artin in
Brüssel unter dem Titel „L’annee chirurgicale“ von Dr. D e-
p a g e eine derartige Revue über die chirurgische Literatur des ver¬
gangenen Jahres in französischer Sprache herausgegeben.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 26. Jahreswoche (vom 24. Juni
bis 30. Juni 1900). Lebend geboren: ehelich 682, unehelich 282, zusammen
964. Todt geboren: ehelich 51, unehelich 14, zusammen 65. Gesammtzahl
der Todesfälle 601 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
18'9 Todesfälle), darunter an Tuberculose 136, Blattern 0, Masern 9,
Scharlach 4, Diphtherie und Croup 4, Pertussis 2, Typhus abdominalis 1,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 1, Neu¬
bildungen 39. Angezeigfe Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
13 ( — 21), Maseru 225 (— (— 22), Scharlach 42 ( — 5), Typhus abdominalis
11 ( — 5), Typhus exanthematicus 0 (=), Erysipel 22 ( — 12), Croup und
Diphtherie 25 ( — 2), Pertussis 52 ( — 6), Dysenterie 0 (=), Cholera 0 (=),
Puerperalfieber 2 ( — 2), Trachom 3 (-[- 2), Influenza 0 ( — 1).
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 27. Jahreswoche (vom 1. Juli
bis 7. Juli 1900). Lebend geboren: ehelich 607, unehelich 297, zusammen
886. Todt geboren: ehelich 47, unehelich 23, zusammen 70. Gesammtzahl
der Todesfälle 585 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
18'4 Todesfälle), darunter an Tuberculose 90, Blattern 0, Masern 12,
Scharlach 1, Diphtherie und Croup 2, Pertussis 3, Typhus abdominalis 3,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 1, Neu¬
bildungen 43. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
13 (=), Masern 175 ( — 50), Scharlach 30 ( — 12), Typhus abdominalis
17 (-j- 6), Typbus exanthematicus 0 (=), Erysipel 23 (-)- 1), Croup und
Diphtherie 19 ( — 6), Pertussis 60 (-f- 8), Dysenterie 0 (=), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 3 (-[- 1), Trachom 1 ( — 2), Influenza 1 (=)•
Bei der Redaction eingelangte Bücher.
(Mit Vorbehalt weiterer Besprechung.)
Brennecke, Kritische Bemeikungen zu den Verhandlungen der 16. Haupt¬
versammlung des preussischen Medicinal beamten verein es über die Reform
des Hebammen wesens. Marhold, Halle a. S. 42 S.
Graefe, Ueber Hyperemesis gravidarum. Ibidem. Preis M. — .80.
Heermanil, Die Syphilis in ihren Beziehungen zum Gehörsorgane. Ibidem.
53 S.
Hocke, Die Aufgaben des Arztes bei der Einweisung Geisteskranker in die
Irrrenanstalt. Ibidem. Preis M. 1. — .
Ischreyt, Ueber septische Netzhautveränderuugen. Ibidem. Preis M. — "80.
Kafemann. Lebensversicherung und sogenannte primäre Kehlkopftuberculose.
Ibidem. 15 S.
Kröllig, Ueber Cystoskopie beim Weibe. Ibidem. Preis M. — .80.
Müller, Naturwissenschaftliche Seelenforschung. Bd. 111: Wille, Hypnose,
Zweck. Strauch, Leipzig. Preis M. 8. — .
Schlesinger, Aerztliches Handbüchlein. 7. Auflage. Deuerlicb, Göttingen.
206 S.
Nitzelnadel, Therapeutisches Jahrbuch. 10. Jahrgang. Deuticke, Wien
Preis M. 4. — .
Stölir, Binoculare Figurenmischung und Pseudoskopie. Ibidem. Preis
M, 3.—.
Nr. 30
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
699
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
Wissenschaftliche Aerztegesellschaft in Innsbruck. Sitzung vom
20. Januar, 10. Februar, 10. März, 18. Mai und 15. Juni 1900.
Geburtshilflich-gynäkologische Gesellschaft in Wien. Sitzung vom
20. Februar, 27. März und 8. Mai 1900.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in München.
Vom 17. — 22. September 1899. (Scdduss.)
Wissenschaftliche Aerztegesellschaft in Innsbruck.
Sitzung vom 20. Januar 1900.
Vorsitzender : Hofrath Prof. y. Vintsehgau.
Schriftführer : Docent Dr. I’osselt.
Prof. v. Hacker stellt zwei Patienten vor :
1. Einen Patienten, bei welchem er ein neues Verfahren
der partiellen Rhinoplastik mit sehr gutem Erfolge
anwandte.
Es handelte sich um eine Verbrennung des Gesichtes, nach
welcher ein Defect der Nase und Ektropien der beiden
Nasenflügel entstanden waren. Die hoch hinaufgezogenen Nasen¬
flügel wurden beiderseits so abgetrennt, dass sie nur mehr eine Brücke
an der Wange hatten, und an das angefrischte Septum herabgenäht.
Beiderseits entstand dadurch ober diesen Flügeln ein dreieckiger, in
die Nasenhöhle penetrirender Defect. Die Deckung desselben geschah
durch einen in der Richtung der Nasolabialfalte ausgeschnittenen
Wangenlappen, der mit der Hautseite nach innen gelegt wurde und
dessen Wundseite von selbst vernarbte. Von dem von dem Vor¬
tragenden früher in Bruns’ Beiträgen angegebenen Verfahren der
Nasenflügelbildung unterscheidet sich die hier geübte Methode durch
die Bildung einer Brücke, welche später durchtrennt wird, während
bei jenem der Lappen dicht am Defectrande umgeschlagen wurde und
seine Brücke gex-ade zum Ersatz der natürlichen Uebergangsstelle der
Wange in den Nasenflügel Verwendung fand.
2. Einen 46jährigen Bauern, bei welchem er wegen einer
hochgradigen traumatischen Strictur der Urethra
die Resection und circuläre Naht der Harnröhre
mit vorzüglichem Erfolge ausgeführt hat.
Der Mann war am 9. October 1899 rittlings auf eine Leiter¬
sprosse gefallen, und hatte sich dadurch eine Zerreissung der Harn¬
röhre mit nachfolgender Harninfiltration zugezogen. Der Arzt, der ihm
am Tage nach dev Verletzung den Katheter einführte, kam nur bis
zum Bulbus, aber nicht weiter.
Es floss jedoch viel blutiger Harn durch den Katheter ab. Nach
drei Wochen öffnete sich von selbst ein Abscess am Scrotum, der auf
Kindskopfgrösse angeschwollen war. Es entleerte sich viel Eiter
und Urin.
Der letztere floss eine Woche lang nur durch die entstandene
listel, dann wieder durch die Harnröhre ab. Das Uriniren aber wurde
immer schwieriger. Bei der Aufnahme auf die Klinik konnte der
Patient nur mehr tropfenweise uriniren; bei Nacht und beim Herum¬
gehen bestand Incontinenz. Die feinste Sonde passirte die Strictur
nicht mehr.
Bei der Operation wurde in dem callösen Narbengewebe der
Zerreissungsstelle der Urethra, das völlig exstirpirt wurde, keine deut¬
liche Schleimhaut gefunden. Nach vieler Mühe wurde ein anfangs für
ein Venenlumen imponirender Spalt durch den auf einen Druck auf
die Blasengegend erfolgten Urinabfluss als das proximale Harnröhren¬
ende erkannt. Es wurden hierauf beide Enden der Harnröhre durch
Lospräpariren mobilisirt. Das mit den Narben entfernte Mittelstück
betrug etwa 2 cm. Die Harnröhrenenden liessen sich sodann gut ver¬
ziehen und ohne Spannung durch circuläre Catgutnähte vereinigen.
Au der unteren Wand entstand eine vorübergehende Fistel, dann folgte
vollkommene Heilung. Der Kranke hat völlige Continenz, keine Be¬
schwerden beim Uriniren. Die Harnröhrenbougie Nr. 22 gleitet ohne
jedes Hinderniss, wie bei jedem normalen Individuum in die Blase.
Prof. v. Hacker demonstrirt noch im Anschluss an diesen
lall ein Präparat einer Harnröhre eines vor einigen Tagen
an seiner Klinik verstorbenen Patienten, der nebenbei an Carcinom
des Magens, an Prostatahypertrophie und Pyonephrose gelitten hatte.
Auch hier hatte eine vor vielen Jahren durch Rittlingsverletzung ent¬
standene Zerreissung der Harnröhre mit folgender Urininfiltration eine
callöse Strictur zur Folge gehabt; es war im Jahre 1885 und dann
nochmals 1889 an der Innsbrucker Klinik die äussere Urethrotomie
ausgeführt worden, da die Strictur bei dem Kranken, der die regel¬
mässige Bougierung unterliess, immer wiederkehrte. An dem Präparat
sieht man die narbige Harnröhre an der Verletzungsstelle gegenwärtig
vollkommen erweitert, aber von massigem, callösen, periurethralen
Narbengewebe umkleidet. Das Präparat zeigt im Vergleich zu dem
eben vorgestellten Patienten deutlich den Unterschied der Resultate
nach der Resection und Naht und nach der blossen äusseren
Urethrotomie.
Prof. Rille demonstrirt einen Mann mit zahlreichen Ke 1 o i d en,
ein Mädchen mit schwerster tertiärer Lues, eine Frau mit
Defect am harten Gaumen.
*
Sitzung vom 10. Februar 1900.
Vorsitzender : Prof. Dr. Eliremlorfer.
Schriftführer: Docent Dr. Posselt.
Prof. Ehrendorfe r demonstrirt Kranke, die nach modifi-
cirter A 1 e x a n d e r’scher Methode mit Erfolg operirt worden sind und
schliesst daran einen kurzen Vortrag über den Werth und die Technik
solcher Operationen. (Bereits ausführlich in diesem Blatte erschienen.)
Discussion: Prof. v. Hacke r hat am Sophien-Spitale in
Wien mehrmals A 1 e x a n d e r - Operationen vorgenommen und auch
Untersuchungen an Leichen angestellt.
Prof. Ehrendorfer demonstrirt die Vortheile des neuen
geburtshilflichen Phantoms nach Seil heim und zeigt im Anschluss
daran das recht brauchbare E n g e 1 m a n n’sche Beckenmodell, weiters
das für den häuslichen Anschauungsunterricht sehr verwerthbare und
billige geburtshilfliche Taschenphantom von A. Müller, speciell zur
Darstellung des Beckenausgangsmechariismus, endlich auch das ältere
Taschenphantom von S h i b a t a zur Darstellung der verschiedenen
Lagen, Stellungen und Haltungen der Frucht.
Prof. v. Hacker stellt einen fünfjährigen Knaben vor, bei
welchem er wegen einer schlecht geheilten supracond y-
1 ä r e n Humerusfractu r das über der Ellenbeuge vorstehende
obere Bruchstück abtrug und dann die supracondy-
läre Osteotomie mit Erfolg ausführte. Einen zweiten
ganz ähnlichen Fall eines achtjährigen Mädchens operirte v. Hacker
October 1898 blos durch schiefes Abtragen des vorragenden oberen
Bruchstückes. Diese Art der fehlerhaften Heilung in
der pathognomonischen Dislocationsstellung der
supracondylären Extensionsfractur des Humerus
stellt demnach einen Typus vor, über dessen häufigeres
Vorkommen und Behandlung v. Hacker auch in den classischen
Beiträgen von Kocher nichts erwähnt fand.
Charakteristisch ist der Knochenvorsprung in der Ellenbeuge,
der in die Diaphyse des Humerus nach aufwärts sich fortsetzt, das
fersenartige der Ellbogenspitze, die Beschränkung der Beugung durch
directes Anstossen der Vorderarmknochen, sowie eine nicht bedeutende
Verkürzung des Oberarmes (von 1 — 2 cm).
Aus den Röntgen- Photographien beider Fälle vor und nach
der Operation geht hervor, dass bei dem Mädchen mehr das vor¬
stehende obere Bruchstück das Hinderniss der Beugung bildete, während
bei dem Knaben das untere mit dem oberen Bruchstück des Humerus
einen so stark nach vorne vorspringenden Winkel bildete, dass nur
durch die Osteotomie die Möglichkeit einer stärkeren Beugung erreicht
werden konnte. Die Bilder zeigen auch, dass bei dieser Verletzung
bei Kindern offenbar an der Rückseite des Humerus das Periost nicht
durehreisst, wodurch die Bruchstücke in einer Winkelstellung ver¬
bleiben und keine stärkere Dislocatio ad longitudinem und ad latus
entsteht.
Prof. Rille stellt einen Fall von Pellagra bei einem
62jährigen Feldarbeiter vor.
Prof. Dimmer demonstrirt einen interessanten Fall von F r ii h-
jahrskatarrh bei einem 14jährigen Knaben aus Südtirol. Derselbe
zeichnet sich durch den Mangel jeglicher Veränderung der Conjunctiva
palpebrarum, ferner ganz besonders durch eine vollständig ringförmige,
gelbliche, gerontoxonähnliche Trübung der Cornea aus.
Ferner zeigt Prof. Dimmer eine Patientin, die von ihm an
beiden Augen wegen hochgradiger Myopie operirt wurde und be¬
spricht bei diesem Anlasse dio von ihm in einem 41/2jährigen Zeit¬
räume in Innsbruck vorgenommenen Myopieoperationen.
7(0
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 30
Es wurden von einem Gesammtmateriale von lO.SOO Patienten
bei acht Fällen operirt, und zwar in vier Fällen doppelseitig, so dass
zwölf Augen dieser Behandlung unterworfen wurden. Drei Kranke
waren Weiber im Alter von 21, 22 und 31 Jahren (eine Magd, eine
Fabriksarbeiterin, eine Private). Die Männer standen im Alter von 11,
20, 29, 34 und 45 Jahren und waren Taglöhner und Hüttenarbeiter,
der eine ein Schuster. Die Myopie betrug bei dem elfjährigen Knaben
nur 12 D, sonst 13 — 20 D. Die Methode der Operation war stets
eine ausgiebige Discission mit nachfolgender ein- oder mehrmaliger
Function, eventuell später eine Discission einer Membran.
Glaskörperverlust kam nicht vor. Die Erfolge waren, trotz in
einigen Fällen vorhandener massiger chorioiditischer Veränderungen, sein-
gute, die erzielten Sehschärfen 5/18 — c !2 ? Die höchste beobachtete Ver¬
besserung des Visus betrug 6/,2? gegen G/24. Bei einem Kranken wurde
das eine Auge operirt, obwmhl das andere in Folge von centraler
Chorioiditis nur Finger auf 3 m zählte. Es geschah dies aber nur des¬
halb, weil dem Kranken die Operation von einem sehr namhaften
Oculisten Deutschlands angerathen w'orden war. Jedenfalls möchte der
Vortragende, w-enngleich das Resultat sehr gut und für den Betreffen¬
den, einen Sehuster, sehr werthvoll war, in einem ähnlichen Falle die
Operation nicht wieder vornehmen.
Prof. Hochstetter demonstrirt einen Fall von Canalisa-
tionsstörung des untersten Ile ums, bedingt durch
Strangulation dieses Darmabschnittes durch einen eigenartigen
Strang, der sich, wie der Vortragende nachwies, aus der Umrandung
der Bruchpforte einer früher bestandenen Hernia retroperitonealis ent¬
wickelt hatte, nachdem die vordere Wand des Bruchsackes dieser
Hernie dehiscent geworden war.
*
Sitzung vom 10. März 1900.
Vorsitzender: Hofratli Prof. y. Vintscligau.
Schriftführer: Docent Dr. Posselt.
Docent Dr. Lot heissen stellt einen Knaben vor, der vor
vier Jahren wegen einer angeborenen Blasenspalte die
chirurgische Klinik aufsuchte und durch operative Behandlung
von seinem quälenden Leiden befreit wurde. Er wurde die Blase nach
Czerny vernäht, die gespaltene Urethra durch Naht der Schleimhaut
und einige plastische Operationen geschlossen. Heilung mit Continenz.
Gleichzeitig berichtet Lotheissen über einen gleichen Fall, den
Prof. v. Flacker nach Schlange operirt hat und der ebenfalls
geheilt wurde. (Ein ausführlicher Bericht über beide Fälle erscheint an
anderem Orte.)
Prof. Rille demonstrirt ein Kind mit Lobulärpneumonie und
Ecthyma cachecticorum.
Der Bacillus pyoeyaneus spielt bei dieser Affection eine Rolle.
An der Di scussion betheiligen sich Prof. L ö w i t, Lode
und Rille.
Prof. L ö wT i t bemerkt, dass es ihm nicht gelungen ist, aus dem
Bläscheninhalt dieses Falles den Bacillus pyoeyaneus zu erhalten.
Ferner zeigt Prof. Rille einen Mann mit Combination von
Lichen ruber planus und acuminatus.
Hierauf hält Dr. O. v. Wunsehheim seinen angekündigten
Vortrag : Ueber Glycerin als Constituens für Anti-
s e p t i c a. (Siehe Originalmittheilung in dieser Nummer.)
Prof. Juf finger stellt ein Mädchen mit eigenartigen
M e m b r a n b i 1 d ungen in Folge einer Otitis mycotica i m
äusseren Gehör gang vor. Auf Behandlung mit Borsäure-Alkohol
gingen die Krankheitserscheinungen in 48 Stunden zurück.
Prof. Lode berichtet, dass in dem ihm von Prof. Juffinger
übergebenen gelblichw-eissen Partikelchen mikroskopisch ein Flechtwerk
von dicken Fäden mit reichlicher Vacuolenbildung, jedoch w-eder
Conidien, noch irgend welche Fructiffcationsorgane constatirt werden
konnten. Nachdem aus dem Aussehen der Fäden auf das Bestehen einer
Schimmelpilzmykose geschlossen werden konnte, wurden Culturen auf
Bier würzeagar, auf Brotbrei und auf gewöhnlichem, leicht alkalischem
Fleisch wasserpeptonagar angelegt.
Die Culturen wurden theils bei 37° C., theils im Vegetations¬
schranke bei 20 — 22° C. bewahrt. Schon am nächsten Tage zeigten
die bei 37° gehaltenen Würzeculturen einen vreissen ausgebreiteten
Mycelrasen, welcher nach weiteren 24 Stunden griiulichblaue Köpfchen
erkennen Hess. Aus der Grösse der Conidien, der Form der Conidien-
träger, der optimalen Wachsthumstemperatur von circa 37° C., aus
dem Aussehen der Culturen und der unverzweigten Sterigmen konnte
die Diagnose auf den häufigsten Erreger mykotischer Erkrankungen
des äusseren Gehörganges, den Aspergillus fumigatus gestellt wrerden.
Die Cultur auf gewöhnlichem Agar zeigte selbst am vierten Tage noch
ein spärliches Wachsthum — vermuthlich wegen der auf diesem Nähr¬
boden stark wuchernden Bacterieneolonien. Auf den Wiirzenährböden
kamen lediglich die Schimmelpilze zur Entwicklung. Es stellt also die
Würze einen überaus geeigneten Nährboden für den erwähnten Pilz
dar, welcher die Diagnose früher und sicherer ermöglicht, als gewöhn¬
liches Agar. Die intravenöse Einverleibung von Sporen des gezüch¬
teten Pilzes erzeugte bei einem Kaninchen keine Krankheitser¬
scheinungen.
*
Sitzung vom 18. Mai 1900.
Vorsitzender: Hofrath Prof. v. Vintscligau.
Schriftführer: Docent Dr. Posselt.
Prof. Rille stellt eine Reihe von Psoriasisfällen vor
und bespricht die bei denselben in Anwendung gekommenen ver¬
schiedenen Behandlungsmethoden.
An der Discussion betheiligt sich Prof. Ehrendorfe r.
Weiterhin gelangt zur Demonstration ein Mann mit Alopecia
universalis.
Docent Dr. P o s s e 1 1 stellt einen I8V2 Jahre alten Patienten
mit Zwergwuchs bei Vitium cordis (Insuff. valv. b i-
c u s p i d a 1 i s) vor.
Der kleine Kranke zeigt eine Körperhöhe von nur 123 cm.
Keinerlei rachitische Zeichen; kein Cretinismus, an der Schilddrüse
nichts Auffälliges wahrnehmbar.
Alle Symptome einer Insufficient^ valvulae bieuspidalis. Patient
übevstand an der Klinik einen Anfall acuter Herzschwäche mit hämor¬
rhagischem Infarct der Lunge.
Vortragender glaubt, das in der frühesten Jugend erworbene
Vitium cordis für das Zurückbleiben im Wachsthum, den Zwergwuchs,
beschuldigen zu können.
An der Discussion betheiligten sich Prof. L ö w i t und
v. Hacker. Prof. Löwit bemerkt, dass ihm der Zusammenhang
des Zwergwuchses mit dem Vitium cordis nicht erwiesen, ja kaum
wahrscheinlich erscheine.
Docent Dr. Posselt stellt ferner einen 51jährigen Mann mit
angeborener Trichterbrust vor.
Bei demselben lassen sich keinerlei hereditäre Mo¬
mente feststellen. Auf Heredität weisen unter Anderem Beobachtungen
von Vetlesen, Smith und Herbst hin. Letzterer berichtet sogar
über fünf Fälle von familiärer Trichterbrust, alle männliche Indivi¬
duen betreffend.
Am Skelet des Mannes nicht ) die geringste Andeutung von
Rachitismus; keinerlei Spaltbildungen.
Vortragender skizzirt in Kürze die Historik der E b s t e i n’schen
Trichterbrust.
Das Gemeinsame bei allen Beobachtungen lässt sich dahin fest¬
stellen, dass die Trichterbrust nur bei männlichen Indi¬
viduen gesehen wurde ; dieselben zeigten eine merkwürdige Ueber-
einstimmung, was Ort, Art und Ausdehnung der Verbildung betrifft.
Immer lässt sieh dabei eine Zunahme des Querdurch¬
messers am Thorax constatiren.
Nachstehende Masse veranschaulichen die Thoraxverhältnisse :
Umfang in Papillenhöhe bei Inspiration 96, bei Exspiration
9 2 -5 cm.
Papillardistanz 21cm.
Sternum vom Jugulum bis zur trichterförmigen Einziehung
14-5 cm.
Trichterförmige Einziehung 6-5 cm breit, 8’5 cm lang und
4-5 cm tief.
Antero postero-Durchmesser oben in der Höhe der dritten Rippe
16 cm.
Antero-postero-Durchmesser an der tiefsten Stelle des Trichters
11-5 cm.
Querdurchmesser in der Axilla 31 cm, in Papillen¬
höhe 32 5 cm.
Es besteht zumeist mässige Tachycardie.
Auffällig ist die Verlangsamung des Pulses beim Vorwärtsbeugen.
Während in aufrechter Stellung die Pulsfrequenz 94 beträgt, geht sie
beim Beugen des Rumpfes nach vorwärts auf 72 und darunter herab.
Doeent Dr. Posselt demonstrirt dann einen 34jährigen Mann,
V. W. aus Erlangen, mit Fissur a sterni congenita, der zu
wiederholten Malen (Jahn, Deutsches Archiv für klinische Medicin.
Bd. XVI; Penzoldt, ibidem. Bd. XXIV) beschrieben und an ver¬
schiedenen Kliniken demonstrirt wurde.
In entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht macht Vortragender auf
R u g e’s Untersuchungen über Entwicklungsvorgänge am Biustbein
und an den Sternoclavicularverbindurgen des Menschen (Morphologi¬
sches Jahrbuch. 1880, VI) aufmerksam.
Der Bildungsfehler macht dem Manne nur bei angestrengterem
Arbeiten, vorzüglich beim Heben von schweren Gegenständen, Be¬
schwerden; er bekommt sodann heftiges Herzklopfen und starke Pul¬
sation, so dass er unwillkürlich die Hände auf die Brustspalte drückt.
Brustumfang in Papillenhöhe bei tiefster Inspiration 89‘5 cm,
bei tiefster Exspiration 82 cm. Bei ruhiger Athmung beträgt die
Nr. 30
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
701
Distanz beider Papillen 25'5 cm. Die Sternalspalte misst entsprechend
dem Sternoclaviculargelenk 5 3/4 cm , zwischen zweiter und dritter Rippe
beträgt diese Distanz 33/4 cm.
Die Länge der Spalte beträgt vom oberen Rande der Clavicula
bis zu einer querziehenden Knochenspange 13 cm. Die Sternalleisten
sind gut zu fühlen. Auffällig und abweichend von den gewöhnlichen
Entwicklungsverhältnissen ist die proximal zunehmende Breite der
Spalte.
Bei tiefer Einathmung verengt sie sich auf 21/a cm und erlangt
eine Tiefe von 2 cm.
Bei forcirter Ausathmung wölbt sich in der Gegend der Fissur
eine mächtige wulstartige Erhebung vor.
Beim Schluckacte tritt die Musculatur, welche am Kehlkopf und
Zungenbein entspringt und nach abwärts ziehend sich erst zwischen
zweitem und drittem Rippenknorpel inserirt, als deutlicher Wulst hervor.
Der Vortragende demonstrirt die Verhältnisse der Herzpulsa¬
tionen, ihre Beeinflussung durch Lageveränderungen, Athembewegungen,
die Verhältnisse des Pulses bei verschiedenen Körperlagen.
An der Discussion betheiligt sich Prof. L ö w i t. Er macht
auf einige schon mit blossem Auge erkennbare Eigenheiten der
Pulsation, ferner auf Erscheinungen der cardiopneumatischen Bewegung
aufmerksam, und fordert auf, den Kranken mit graphischer Methode
genau zu untersuchen.
*
Sitzung vom 15. Juni 1900.
Vorsitzender : Hofrath Prof. R. v. Vilitscllgail.
Schriftführer: Docent Dr. Posselt.
Dr. Donati demonstrirt das neue Instrumentarium zur Atrno-
kausis und Zestokausis nach Dr. P i n c u s, welches bei der Firma
Hahn und L o e c h e 1 in Danzig angeschafft wurde und auf der
Frauenklinik des Prof. Ehrendorfer angewendet wird. Verfasser
wird später über die gemachten Erfahrungen und Resultate berichten.
Docent Dr. Lotheissen stellt zuerst einen Patienten vor, der
wegen einer Dupuytre n’schen Contractur der linken Hand die
chirurgische Klinik aufsuchte, und den er nach einer neuen
Methode o p e r i r t hat.
Da es bekannt ist, dass diese Krankheit in einer entzündlichen
Schrumpfung der Palmaraponeurose besteht, kann nur eine Exstirpation
der Narbenstränge Hilfe bringen. Die Behandlung durch Massage und
die in England allgemein übliche subcutane Durchtrennung der sich
spannenden Stränge nach Adams setzt immer wieder neue Narben
in der Fascie, die zu stärkerer Schrumpfung führen. Lange Zeit war
das Verfahren von Busch fast allein in Gebrauch. Bei demselben
wird durch einen V-förmigen Schnitt ein Lappen der Haut sammt der
Aponeurose gebildet und nun der Finger gestreckt. Darnach entsteht
ein Y-förmige Narbe. Meist stirbt das Läppchen ab und die Narben¬
schrumpfung führt zu neuerlicher Contractur. Gersuny, Kocher
u. A. haben deshalb Längsschnitte direct über den Strängen gemacht
und nun diese sorgfältig exstirpirt. Dabei waren die Resultate besser.
Da aber die Hautnarbe über die Sehnen fällt, hat man auch da öfters
neuerliche Conti-acturen entstehen sehen.
Diese Erwägungen veranlassten den Vortragenden, bei diesem
Kranken anders vorzugehen. Es handelte sich darum, den Schnitt so
zu führen, dass er 1. nicht über die Sehnen zu liegen käme, und dass
2. ein bei der Streckung etwa entstehender Hautdefect nicht zu neuer
Narbencontractur führen könne.
Da nun die Dupuytre n’sche Contractur in der Regel den
fünften und vierten Finger betrifft, muss der Schnitt seitlich an
einer Stelle geführt werden, die bei Beugung und Streckung im Meta-
carpophalangealgelenk sich nicht viel verschiebt, also am ulnaren
Rand über den Ligamenta lateralia, er muss etwa bis zum ersten
Inter phalangealgelenk hinab reichen und zieht dann
proximalwärts am ulnaren Rand des Antithenar bis
etwa zur Höhe des Lig. carpi tr ans vers, volare, wo
er im Bogen zum Thenar hinübergeht. Dieser Lappen
wird nun vorsichtig abpräparirt, so zwar, dass man die Palmarapo¬
neurose von der Haut und von der Unterlage abtlägt. Es ist hier
leicht gelungen, auch sämmtliche für den dritten (noch nicht con-
tracten) Finger bestimmten Theile der Palmaraponeurose (prophylaktisch)
mitzuentfernen.
Die Operation wird unter localer Anämie nach Esmarch ge¬
macht. Wichtig ist exacte Blutstillung, da sowohl durch die Bildung
eines Hämatoms unter der Haut, als auch die Anlegung eines Com-
pressivverbandes die Ernährung des Hautlappens leiden müsste. Selbst
wenn aber eine partielle Gangrän des Lappens eintritt, handelt es sich
um eine Randgangrän, wie es hier der Fall war, und die Narbe fällt
auf den musculösen Theil, den Antithenar, so dass die Beweglichkeit
der Finger dadurch nicht beeinträchtigt wird.
Ferner demonstrirt er einen 18jährigen Burschen, bei dem er
wegen einer Pseu darthrose am Oberschenkel eine
Osteoplastik ausführte.
Der Patient kam wegen Nekrose des Oberschenkels nach acuter
Osteomyelitis im September 1899 auf die chirurgische Klinik. Es be¬
stand gleichzeitig Spontanfractur. Bei der Nekrotomie zeigte sich, dass
Totalnekrose der Diaphyse bestand und die Todtenlade höchst unvoll¬
kommen gebildet war. An der medialen Seite war eine kaum centi-
meterdicke Spange, in der die Fractur sich fand. Hier wurde Silber¬
drahtnaht gemacht und ein Gipsverband angelegt. Trotz monatelanger
Behandlung trat keine Callusbildung auf, es blieb eine Pseudarthrose
bestehen.
Um diese zur Heilung zu bringen, blieb nur die blutige Behand¬
lung übrig. Bei einer Resection der Bruchenden und directer Ver¬
einigung wäre eine Verkürzung von 15 cm entstanden. Es war daher
vorzuziehen, ein 8 cm langes Knochenstück dazwischen e i n-
zu sc halten, so dass die Verkürzung nur mehr 7 cm beträgt. Da
hier noch Eiterung bestand, musste ein gestielter Haut Periost- Knoehen-
lappen verwendet werden. Eine derartige Operation wurde bisher, stets
an der Tibia, fünfmal ausgeführt (W. Müller, v. Eiseisberg).
Abweichend von den bisher üblichen Verfahren hat der Vor¬
tragende zuerst die Pseudarthrose mit einem Lappen¬
schnittfreigelegt, darnach den nach der anderen
Seite gestielten Knochen lappen gebildet, und endlich durch
Vertauschen der Lappen den Defect gedeckt. Am Ober¬
schenkel wurde eine ähnliche Operation bisher
noch nicht ausgeführt. Der Kranke konnte drei Monate nach
der Operation schon hei umgehen, er tiägt nur einen Stiefel mit 7 cm
höherer Sohle.
Geburtshilflich-gynäkologische Gesellschaft in Wien.
Sitzung am 20. Februar 1900.
Vorsitzender: Lihotzky.
Schriftführer: Regnier.
I. Waldstein: a) Endresultate der operativen
Behandlung des Gebär mutter kr ebses; mit Krankenvor¬
stellung. (Erscheint ausführlich im Archiv für Gynäkologie.)
D i s c u s i o n : W e r t h e i m erwähnt, dass er seit circa zwei
Jahren in allen Fällen die regionären Drüsen bis zur Aorta hinauf
und die beiden Parametrien möglichst vollständig mitexstirpire.
Die Operationstechnik gestaltet sich, wie folgt: 1. Freilegung
beider Ureteren bis zum Eintritte in die Blase und Abpräpariren der
letzteren bis unter das Scheidengewölbe. 2. Ligatur und Durchtrennung
der Ligamenta infundibulo-pelvica und rotunda, und der Arteria uterina.
3. Excision des Uterus sammt möglichst viel anhängendem Zellgewebe
und Scheide. 4. Herauspräpariren der Drüsen, wobei naturgemäss alle
Gefässe des Beckens blossgelegt werden müssen. 5. Drainage der Vagina
und darüber vollständiger peritonealer Abschluss, wodurch auch die
Ureteren und die Gefässe wieder von Peritoneum gedeckt sind. Ope¬
rationsdauer früher circa 2 !/2 Stunden, jetzt in Fällen mit wenig Fett
4/4 — r/4 Stunden.
Die histologische Untersuchung der Drüsen hat sehr bemerkens-
werthe Resultate ergeben. Während in manchen sehr weit vorgeschrittenen
Fällen die Drüsen frei von Carcinom befunden wurden, waren anderer¬
seits gerade bei erst beginnenden Fällen selbst sehr entlegene Drüsen
bereits carcinomatös. In Bezug auf die Parametrien dürfte die histo¬
logische Untersuchung ergeben, dass die Palpation (auch vom Rectum
her) unverlässlich sei; sehr harte und massige Parametrien, die zur
ausgesprochenen Fixirung des Uterus an der Beckenwand geführt hatten,
und die man nach der herrschenden Anschauung für carcinomatös
halten musste, hatten sich als carcinomfrei erwiesen, und umgekehrt
konnten in scheinbar ganz freien, vollständig nachgiebigen weichen
Parametrien mit Carcinom erfüllte Lymphbahneu festgestellt werden.
W e r t h e i m glaubt auf Grund seiner bisherigen Erfahrungen schon
jetzt auf eine Modification der Indicationsstellung dringen zu sollen.
Man habe in erster Linie den Kräftezustand der Patientinnen abzu¬
wägen, nämlich ob er für eine wirklich radicale Operation ausreicht.
In zweiter Linie müsse natürlich der locale Befund in Betracht kommen,
wobei man aber — wenn nur der Kräftezustand ein günstiger ist, sich
nicht allzu enge Grenzen zu stecken brauche.
Ob er nun in Zukunft immer abdominal Vorgehen und die vagi¬
nale Uterusexstirpation bei Carcinom ganz aufgegeben werde, könne
er heute noch nicht entscheiden. Wert heim meint, dass es vielleicht
gelingen werde, diesbezüglich eine genauere Scheidung etwa auf Grund
der histologischen Untersuchung vorher zur Probe excidirter Carcinom-
partikelchen durchzuführen, so dass man dann einzelne Fälle der
abdominalen, andere der vaginalen Methode unterwerfen könnte.
702
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 30
W a 1 d s t e i n bemerkt, dass speciell die abdominale Total¬
exstirpation am Amsterdamer Congresse und wiederholt in der Pariser
chirurgischen Gesellschaft zur Discussion gelangt sei. Aus den dies¬
bezüglichen Referaten konnte Wert heim 01 Fälle von abdominaler
Totalexstirpation mit Ausräumung des Beckens und genauerer Angaben
des Befundes in Erfahrung bringen. Die Operationsresultate sind zu
weiteren Schlüssen nicht verwerthbar, da die Indicationsstellung der
einzelnen Operateure weit divergirt. So hat Terrier 15 Fälle operirt,
davon starben 3 im Anschlüsse an die Operation, 9 an Recidive.
Andererseits verlor Jakobs von 23 Fällen nur einen an den Folgen
der Operation, kein einziger starb im Verlaufe von 18 Monaten an
Recidive.
Für die Bewerthung der abdominellen Operation bildet heute,
da Dauerresultate noch nicht vorliegen, jedenfalls die sicherste Basis
eine sorgfältige Untersuchung der Lymphdrüsen, wie sie von den
Franzosen, Deutschen und Belgiern ausgeführt wurde, und zwar mit
ähnlichen Ergebnissen, wie von Wertheim.
Waldstein: h) Demonstration histologischer
Präparate.
W a 1 d s t e i n demonstrirt histologische Präparate, der Portio
vaginalis einer Sechstgebärenden enstammend. Die betreffende Frau
wurde am 15. Januar 1900 gebärend auf die Klinik des Prof. Schauta
aufgenommen. Es wurden an ihr Zwillinge, von denen sich der erste
in Querlage erster Position und der zweite in Beckenendlage zweiter
Position befand, diagnosticirt. Der Blasensprung erfolgte drei Stunden
vor ihrer Aufnahme in die Anstalt. Am 15. Januar um 3/4 1 2 Uhr
Nachts wurde die Wendung der ersten Frucht durch combinirte Hand¬
griffe ausgeführt und wegen Lebensgefahr der Frucht die Extraction
angeschlossen. Nach der Extraction mässig starke Blutung. Dieselbe
erschien durch den tiefen Lateralsitz der Placenta von dem man sich
gelegentlich der Wendung überzeugen konnte, erklärt, und so wurde
durch Herabholen eines Fusses und Einleiten des Steisses der zweiten
Frucht dieselbe gestillt. Durch zwei Wehen wurde die Frucht bis zum
Steisse geboren, worauf Manualhilfe geleistet wurde. Spontaner Abgang
zweier Placenten. Der Uterus gut contrahirt, doch hielt eine mässig
starke Blutung weiter an. Behufs Revision des Muttermundsaumes
wurde derselbe durch Spateln eingestellt und einerseits ein kurzer ver-
hältnissmässig aber stark blutender Cervixriss nach links hinten constatirt,
andererseits erschien der Muttermundsaum auf seiner vaginalen Fläche
eigenthümlich höckerig, von weissen Plaques bedeckt. Behufs histo¬
logischer Untersuchung des Portiogewebes wurde eine Probeexcision
aus dem vorderen Antheile des Muttermundsaumes gemacht. Verschluss
der Excisions-, beziehungsweise Risswunde durch mehrere Knopfnähte.
Au histologischen Schnitten durch das excidirte Gewebe gewinnt man
das typische Bild einer in Ausheilung begriffenen Erosion. Die plaque¬
förmigen Erhabenheiten erweisen sich als Plattenepithelinseln, von denen
der Ausheilungsprocess ausging. Das Wesentliche des Falles besteht
aber darin, dass man in grösseren und kleineren Nestern decidual
umgewandeltes Stromagewebe in der Umgebung des äusseren Mutter¬
mundes an seiner cervicalen Oberfläche und weiterhin unter der
„erodirten Fläche“ der Portio vaginalis constatiren kann, und zwar
sind es gerade die oberflächlichsten Schichten des Stroma, die diese
Umwandlung aufweisen. Nach Franque konnten derartige deciduale
Veränderungen an der Cervicalschleimhaut — in unserem Falle nicht
nur im Bereiche der Cervicalschleimhaut, sondern auch im vaginalen
Antheile der Portio vaginalis uteri — nur in zwei Fällen mit Sicherheit
nachgewiesen werden.
Als dritter Fall ist der von v. W e i s s (Placenta cervicalis), und
als vierter der unserige den Fällen von Deeiduabildung im Cervix
anzufügen. Hiebei muss aber besonders hervorgehoben werden, dass
es in den Fällen von Franque und in dem unseligen nicht zur
Bildung einer Membrana deciduae gekommen ist, sondern nur zu
herdförmig umschriebenen Umwandlungen von einzelnen Stellen des
Cervix. Es steht diese Umwandlung des Stromagewrebes in Decidual-
gewrebe auf gleicher Höhe mit den Befunden von Mandl, G ö b e 1,
Veit, die Deeiduabildung in den Tuben bei Intrauteringravidität con¬
statiren konnten, ebenso wie Webster bei Gravidität der einen Seite
deciduale Umwandlung in den Tuben fand als Ausdruck einer Fern-
wirkung des Graviditätreizes, wie wir ihn bei Extrauteringravidität
hinsichtlich der Deeiduabildung im Uterus regelmässig zu finden gewohnt
sind. Mit Rücksicht auf den Umstand, dass es in den F r a n q u e’schen
Fällen, sow'ie in dem unserigen nicht zur Bildung einer Membrana
decidua cervicalis gekommen ist, sind diese Befunde gewiss nicht
geeignet, die jüngst von W i 1 h e 1 m P o n f i c k aufgestellte Behauptung,
dass jede Placenta praevia eine Placenta cervicalis im weitesten Sinne
wäre, zu unterstützen. Wohl scheint aber die hochgradige Vasculari-
sation des Cervix — in unserem Falle war die Sache durch den tiefen
Lateralsitz der Placenta begründet — so wie es auch Franque
annimmt, mit der decidualen Umwandlung des Cervixgewebes in ätio¬
logischem Zusammenhang zu stehen.
Gersuny: Demonstration eines excidirten Magen
geschwüres.
Die jetzt 38jährige Kranke hatte seit 13 Jahren sehr häufiges
Erbrechen und Magenschmerz und besonders Schmerzen in der unteren
Bauchgegeud, zurZeit der Menstruation steigerten sich die Beschwerden,
erlitten aber einmal eine mehrmonatliche Unterbrechung, als die
Patientin eine schwer kranke Verwandte pflegte. Diese Umstände Hessen
auf eine hysterische Grundlage des Leidens schliessen und berechtigten
zu der Annahme, dass die beschriebenen Reflexe von den scheinbar ver-
grösserten und druckempfindlichen Ovarien abhängig seien. Bei der
vor vier Jahren vorgenommenen Laparotomie fand der Operirende beide
Ovarien (besonders dicht das rechte) von Pseudomembranen umhüllt.
Die Exstirpation beider Ovarien hatte keinen Erfolg. Die Schmerzen
in der unteren Bauchgegend dauerten fort. Das Erbrechen wurde noch
häufiger, so dass die Kranke arbeitsunfähig wurde und auf das
Aeusserste abmagerte. Als Gersuny sie (vor drei Monaten) kennen
lernte, hatte sie einen fast hühuereigrossen Tumor im linken Epi¬
gastrium und grosse Druckempfindlichkeit an symmetrischen Stellen in
der Cöcal- und in der Flexurgegend.
Die Laparotomie (November 1899) ergab fadenförmige Netz¬
adhäsionen am Beckenboden und an der vorderen Bauch wand, eine
fadenförmige Adhäsion des untersten Ileum am Beckenboden, Pseudo¬
membranen am Cöcum und Appendix, welcher zwei Kothsteine
enthielt, Pseudomembranen an der Flexur: eine Verwachsung mit dem
linken Ligamentum latum und die von Gersuny als typisch be¬
schriebene Adhäsion am proximalen Schenkel der Flexur. Nach Lösung
dieser Verwachsungen und Aufrichtung des retrovertirten Uterus durch
Faltung der Ligamenta rotunda wrurde der Bauchschnitt über den
Nabel hinauf verlängert und der Tumor im linken Epigastrium unter¬
sucht; dieser war von der schwielig verdickten vorderen Wand des
Magens gebildet und mit dem Peritoneum parietale innig verwachsen.
Die Excision des kranken Theiles der Magenwand schien eine
zu starke Zumuthung an die Kräfte der Kranken, es wurde deshalb
die Gastroenterostomie gemacht, nachdem man sieh überzeugt hatte,
dass der Magen durch das Geschwür nicht allzusehr verengert war.
Um den therapeutischen Erfolg in Bezug auf das Ulcus zu sichern,
wurde (nach Witzel’s Vorschlag) ein Drain durch die Anastomose
im Jejunum gelegt und durch eine Oeffnung in der vorderen Wand
des Magens nach aussen geführt. Durch dieses Drain wuirden der
Kranken vier Wochen lang die Nahrungsmittel direct in das Jejunum
eingegossen. Als die Ernährung wieder durch den Mund stattfand,
dauerte das Wohlbefinden noch etwa einen Monat lang an, dann begann
wieder das Erbrechen, zu dem sich heftige Magenschmerzen gesellten.
Das Erbrochene bestand meist nur aus Schleim. Die dem Ulcus ent¬
sprechende Geschwulst, welche in der Zeit der Besserung kleiner ge¬
worden war, nahm wieder zu und wurde druckempfindlich, so dass der
Kranken endlich die Excision des Geschwürs vorgeschlagen wurde. Bei
der am 13. Februar 1900 vorgenommenen Operation (der dritten
Laparotomie an der Kranken) wurde der Tumor von der vorderen
Bauchwand abgelöst, dann wurde nach präventiven Umstechungs¬
ligaturen in einem Theil des Umkreises der harten Stelle die Excision
zwischen der Geschwulstgrenze und den Ligaturen begonnen, und nach
dem Abklemmen des Magens an dem hinter dem Ulcus gelegenen
Theile des Magens vollendet. Nun ergab sich, dass nach der Excision
des, wie das Präparat zeigt, nicht sehr grosseu Stückes zwei grosse
Magenquerschnitte Vorlagen, dass also seit der Operation im November
die Verengerung des Magens durch das Geschwür einen beträchtlichen
Grad erreicht hatte, dass ein Sauduhrmagen sich entwickelt hatte. Das
untere Lumen führte zur grossen Curvatur, und zu der für den Zeige¬
finger leicht durchgängigen, scharfrandigen Anastomose, durch das
obere Lumen gelangte der Finger in den weiten Fundus ventriculi. Es
wurde wieder ein Drain in das Jejunum gelegt und durch den Magen
herausgeleitet, dann wTurden die Mageuhälften vereinigt und die Bauch¬
wunde geschlossen. Der Verlauf ist bisher — es sind seit der Operation
acht Tage verflossen — ein günstiger und man darf nun wohl auf
dauernde vollständige Heilung hoffen.
Diese Krankengeschichte ist besonders belehrend, indem sie
zeigt, welche diagnostischen Schwierigkeiten dadurch entstehen können,
dass secundäre Symptome das ganze Krankheitsbild beherrschen.
Anfangs deuteten die Erscheinungen auf eine Genitalaffection;
dann fand man (während der zweiten Operation) den Appendix erkrankt
und unmittelbar darnach ergab sich ein Ulcus ventriculi als die Quelle
aller Leiden. Gersuny legte besonderes Gewicht darauf, dass der
Fall auch die Art der Entstehung und der Gründe für die Localisation
von peritonealen Adhäsionen illustrirt und seine Anschauungen darüber
(siehe: Archiv für klinische Chirurgie. Bd. L1X, Heft 1) zu stützen
scheint.
Dr. Hitschmann demonstrirt ein Myom, das einer
52jährigen seit zwei Jahren in der Menopause stehenden Frau ent¬
stammt. Dieselbe w'ar, von Kinderkrankheiten abgesehen, bis in die
letzte Zeit gesund gewesen, hatte eine vollständig regelmässige Periode
Nr. 30
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
703
von vierwöchentlichem Typus und achttägiger Dauer. Die Blutung war
eine massige, keine Schmerzen. Seit zwei Jahren cessiren die Menses.
Acht spontane Entbindungen am normalen Ende, Wochenbetten zumeist
febril. Ein Jahr nach dem Cessiren der Menses traten zum ersten Mal
krampfartige Schmerzen im Bauche auf, die anfangs nur selten, später
aber häufiger kamen und seit dem 27. Jänner fast ohne Unterbrechung
andauern, wehenartigen Charakter besitzen und in das Kreuz und die
Unterbauchgegend ausstrahlen. Ausfluss bestand nie, Blutungon kehrten
seit der Menopause nicht mehr wieder. Seit einem Jahre magerte
Patientin beträchtlich ab; vor vier Wochen bemerkte sie eine Geschwulst
im Bauche, die in der letzten Zeit ziemlich rasch gewachsen sein soll.
Die Untersuchung ergab die inneren Organe intact und folgenden
Genitalbefuud : Ein kindskopfgrosser Tumor steigt aus dem kleinen
Becken bis zum Nabel hinauf. Der Tumor ist im Allgemeinen derb,
nur an einzelnen Stellen scheint Fluctuation zu bestehen. Er ist rechter-
seits etwas, linkerseits wenig beweglich. Die beiden Ligamenta rotunda
sind vorne zu tasten. Innerer Befund: Portio plump und derb, wenig
beweglich, geht breit in den Tumor über und macht theilweise die
Bewegungen desselben mit. Aeusserer Muttermund für die Fingerkuppe
einlegbar. Cervix geschlossen. Adnexa nicht zu tasten. Nach diesem
Befunde wurde die Diagnose auf Myoma uteri, ausgehend von der
hinteren Uteruswand, gestellt: man nahm weiters an, dass der myoma-
töse Tumor sich in maligner Degeneration befinde.
Bei der Laparotomie, die Herr Prof. Schauta am 5. Februar
machte, zeigte sich aber, dass das 1500 g schwere intermural sitzende
Myom nur Oedem mit beginnender Verflüssigung und ausgebreitete
Nekrose, aber keine maligne Degeneration zeigte.
Es ist also bemerkenswerth, dass das Myom, das doch zweifellos
schon längere Zeit bestand, erst im Klimakterium Beschwerden machte
und zwar solcher Art, wie wir sie sonst bei maligner Degeneration
gewohnt sind.
Wir werden kaum fehlgehen, wenn wir die Ursache für die in
diesem Falle so spät auftretenden Myombeschwerden und auch für das
rasche Wachsthum des Tumors in dem Oedem und der Nekrose suchen.
Unerklärt bleibt aber die Kachexie der Patientin, da sich weder
im gynäkologischen noch im sonstigen körperlichen Befunde ein Anhalts¬
punkt dafür findet.
Discussion: Gersuny bemerkt, dass Alle darin überein¬
stimmen, dass in der Regel nach dem Klimax die Myome schrumpfen.
Es habe ihn sehr überrascht, in dem Lehrbuche von Pean eine Angabe
zu finden, die dem zu widersprechen scheine, dass er nämlich fast
ebensoviele nach dem Klimax weiter wachsende Myome operirt habe
als solche vor dem Klimax. Es ist dies eine Beobachtung, die ziemlich
vereinzelt dasteht. Gersuny hat oft die Beobachtung gemacht, dass
zwischen Kachexie und mikroskopischem Baue einer Geschwulst kein
Zusammenhang bestehe. Bei nicht ulcerirtem Carcinom und Sarkom
sieht man dies häufig. Wenn man die einzelnen Symptome, aus denen
sich die Kachexie zusammensetzt, analysirt, so sieht man, dass sie
theils der Sepsis, theils der Anämie in Folge der Blutungen angehören.
Gersuny kennt Fälle von Mammacarcinom, bei denen nicht lange
nach der Operation Recidiven mit rapidem Wachsthum auftreten, die
Patientinnen aber blühend aussehen. Gersuny hat ferner vor sechs
Jahren bei einem Patienten, bei dem eine Communication von S ro-
manum und der Blase bestand, die Laparotomie gemacht und sich dabei
überzeugt, dass es sich um ein Carcinom handle. Es wurde die Kolo- ,
stomie ausgeführt und das Carcinom unberührt gelassen. Dieser Mann
befindet sich seit sechs Jahren tadellos wohl und consultirte Gersuny
wegen Fettleibigkeit. Kürzlich starb er plötzlich an Hirnapoplexie.
Gersuny hält nach seinen Erfahrungen für die häufigsten wenn auch
durchaus nicht für die einzigen Ursachen der Kachexie: Anämie durch
Blutungen oder chronische Sepsis durch einen ulcerösen Process oder
beides zusammen; schliesst aber aus kacliektischen Aussehen nicht auf
ein Neoplasma von bestimmtem mikroskopischen Bau.
Schauta: Was die Frage der Beziehungen des Klimakteriums
zum Myom anbelangt, so hat der eine und der Andere Recht. Im All¬
gemeinen kann man sagen, dass Myome im Klimakterium zu wachsen
und Erscheinungen zu machen aufhören. Doch kommt es auch darauf
an, was man unter Klimakterium versteht. Anatomisch ist es das Auf¬
hören der ovariellen Function, das aber nicht mit dem Aufhören der
Blutungen einhergehen muss. Bei unseren Frauen in unseren Klimaten
tritt im Allgemeinen das Klimakterium mit 48 Jahren ein. Bei Myomen
gehört es fast zur Regel, dass die Blutungen erst mit 53 Jahren oder
noch später aufhören. 'Es fragt sich nun, ob es sich, wenn in Myom¬
fällen in den Fünfziger-Jahren Blutungen vorhanden sind, um menstruelle
oder pathologische Blutungen handelt? Es gibt Myome, bei denen
Blutungen überhaupt nicht aufhören, da kann man beliebig lange auf
auf den Wechsel warten, die Tumoren wachsen und die Blutungen
werden immer stärker; e3 sind das eben Myomblutungen. Wenn daher
Pean sagt, dass auch im Klimakterium die Myome weiter wachsen,
so kommt es hier eben auf die Definition des Klimakteriums an. Der
zweite Punkt, über den zu discutiren wäre, wäre die Frage der Kachexie
und da müsse Schauta bei Stellung der Diagnose ein grosses Gewicht
legen auf das Allgemeinbefinden und das Aussehen der Frauen. Richtig
ist es, dass in den Fällen, in denen es sich um ein malignes Neoplasma
handelt und bei welchen auch Blutungen und Anämie bestehen, diese
das schlechte Aussehen verursachen und es muss auch zugegeben
werden, dass in vielen Fällen die Kranken septisch sind. Aber es gibt
wiederum gewisse Fälle, wo weder Anämie noch Sepsis vorhanden ist,
aber doch das Aussehen so ist, dass man auf den ersten Anblick hin
sagen muss, dass es sich um ein Neoplasma malignum handeln dürfte.
Auf Schauta hat es stets den Eindruck gemacht, als wenn durch
ein solches maliges Neoplasma ein chemisch wirkendes Gift producirt
würde, das den Körper so herunterbringt. Schauta hat ferner den
Eindruck, dass man es einer Person oft auf den ersten Blick ansieht,
ob eine maligne oder benigne Geschwulst vorhanden ist. Vortragender er¬
innert sich an eine Frau, bei der von mehreren hervorragenden Aerzten
ein malignes Neoplasma diagnosticirt worden war, und bei welcher er
beim ersten Besuche in der Sprechstunde nach dem Aussehen der Frau
sofort den gegenteiligen Eindruck gewann. Bei der Operation fand
sich auch ein multiloculäres gutartiges Kystom.
Gersuny bemerkt, dass er nicht gesagt haben wollte, dass
man auf die Kachexie kein Gewicht zu legen brauche. Ausser der
Anämie und der Sepsis gibt es noch andere Ursachen, die zur Kachexie
führen. Einen Beweis, dass die Kachexie nicht von der mikroskopischen
Structur einer Neubildung abhängt, liefern die Gynäkologen oft durch
ihre Erfolge bei der Behandlung nicht exstirpirbarer Uteruscarcinome:
wenn nach der Excochleation das Geschwür aseptisch erhalten wird,
bessert sich der Ernährungszustand der Kranken. Gersuny wollte
nur gegen die sehr verbreitete, nach seiner Meinung irrige Ansicht
Stellung nehmen, dass die „Kachexie“ bei der Diagnose „maligner“
Tumoren ein werthvolles oder gar entscheidendes Symptom sei.
Hühl: D emonst ration einer Missbildung (erscheint
später ausführlich).
*
Sitzung am 27. März 1900.
Vorsitzender: Lihotzky.
Schriftführer: Regnier.
I. Wertheim demonstrirt drei Fälle von beginnen¬
dem Carcinom der Portio, respective der Cervix, in
welchen die regionären Drüsen bereits krebsig in-
filtrirt waren und bei der Operation mit entfernt
wurden.
II. Fleisch mann: a) Demonstration eines Ovarial-
f i b r o m e s.
Der kolossale, \0 kg schwere Tumor entstammt der 48jährigen
Frau Anna W., welche nie geboren oder abortirt hat; vor drei Jahren
sistirten die bis dahin ziemlich regelmässigen Menses. Vor elf Jahren
erkrankte sie angeblich an Peritonitis und damals wurde von den
Herren Karl v. Bra u n und v. M o s e t i g ein grosser, harter Abdo¬
minaltumor bei ihr vorgefunden, der als Uterusfibrom gedeutet wurde.
Am 2. März d. J. fand ich bei der blassen, mageren aber
kräftigen Kranken einen vom Becken bis nahe zum Schwertfortsatz
reichenden, derben, knolligen, seitlich etwas beweglichen Tumor, der
sich nach links und hinten bis zur hinteren Axillarlinie erstreckte,
während in der rechtsseitigen hinteren Abdominalgegend tympanitischer
Percussionsschall nachweisbar war. Die kleine Vaginalportion war
hoch hinaufgezogen und nach rechts hinter das Schambein verdrängt
durch einen tief ins Becken reichenden, derben, knolligen Tumoran-
theil; das Corpus uteri liess sich nicht deutlich tasten. Der Tumor
machte mir den Eindruck eines grossen Uterusfibroms, dessen Gut¬
artigkeit mit Rücksicht auf das etwa 21/2 Jahre nach der Menopause
beobachtete Auftreten eines mässigen Oedems der Bauchhaut oberhalb
der Symphyse bezweifelt werden musste. Ascites konnte ich nicht nach-
weisen, im Harn waren minimale Eiweissspuren.
Am 7. März schritt ich zur Operation. Der Tumor hing mit dem
seiner vorderen Fläche aufsitzenden Uterus einerseits durch einen vom
oberen Antheil de3 linken Ligamentum latum gebildeten kurzen,
breiten Stiel, andererseits durch zahlreiche strangförmige Adhäsionen
mit der hinteren Uteruswand zusammen. Der Stiel und die gefäss-
reichen Adhäsionen wurden ligirt und durchtrennt, der Tumor entfernt.
Der zu einem Bande breitgezogene Uterus nahm nun rasch die gewöhn¬
liche Form an. Ein rechts am Fundus uteri sitzendes, kastaniengrosses
subseröses Fibrom wurde excidirt und die Wunde vernäht. Die rechte
Tube erwies sich als normal, ebenso das leicht vergrösserte Ovarium.
Links fehlte das Ovar und der grösste Theil der mit dem Tumor
entfernten Tube, so dass die Geschwulst schon nach diesem Verhalten
als dem linken Eierstock angehörend betrachtet werden musste.
Schluss der Bauchwunde.
Nach einem ungestörten Wund verlaufe wurde die Kranke heute
aus der Anstalt entlassen.
704
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 30
Die mikroskopische Untersuchung zweier von der Oberfläche des
Tumors entnommenen Gewebstheile ergab den Befund eines reinen,
ziemlich zellreichen Fibroms (Dr. Landsteiner). Erwähnens werth
erscheint mir noch, dass sehr wenig Ascites vorhanden war.
Discussion: Lihotzky: Wenn schon Ovarialfibrome über¬
haupt nicht zu den häufigen Tumoren gehören, so ist ein so kolossaler
Tumor wie der vorliegende, unter den Ovarialtumoren eine besondere
Seltenheit. Erwähnenswert h ist das Fehlen von Ascites in diesem Falle.
Der Grund für den Ascites wird von verschiedenen Autoren ver¬
schieden angegeben. Ols hausen meint, der Ascites werde hervor¬
gerufen durch die mechanische Reizung der zumeist beweglichen
Tumoren. Schauta glaubt, dass es sich um Stauungen im Ligamen¬
tum latum handle, während Pfannenstiel den Grund für den
Ascites in einem veränderten Chemismus sucht, den er auf Stoffwechsel-
producte des Tumors zurückführt. Lihotzky erwähnt einen interes¬
santen Fall von Ovarialfibrom, der vor Jahren auf der Schrötter-
schen Klinik wegen hochgradigem Ascites zur Aufnahme kam, ohne
dass man damals die Diagnose sofort zu machen im Stande gewesen
wäre. Im Verlaufe von D/2 Tagen wuchs nun der Ascites ins Unge¬
messene an, so dass lebensbedrohliche Erscheinungen auftraten und die
Frau an die Klinik Chrobak transferirt wurde, wo sofort aus
vitaler Indication die Laparotomie ausgeführt wurde. Beim Einschneiden
quollen mehr als 20 l Wasser hervor. Der Tumor erwies sich als ein
vom linken Ovarium ausgehendes Fibrom von Die Frau wurde
auch geheilt. Der Fall ist deshalb interessant, weil bei ihm ein geradezu
acuter Ascites entstanden war. Lihotzky glaubt daher, dass es
sich eher um eine Combination der Meinungen von Olshausen und
Schauta handeln dürfte.
Fleischmann: l) Demonstration stereoskopi¬
scher Bilder zur Darstellung des Geburtsmecha¬
nismus und geburtshilflicher Operationen.
Docent Knapp in Prag hat eine Reihe gelungener photographi¬
scher Aufnahmen gemacht, um mit Hilfe des S e 1 1 h ei m’schen
Phantoms den Geburtsmechanismus und geburtshilfliche Eingriffe zur
Darstellung zu bringen. Im Stereoskop betrachtet treten die zu demon-
strirenden Verhältnisse so plastisch hervor, dass Knapp in den Ab¬
bildungen eine wesentliche Bereicherung des geburtshilflichen An¬
schauungsunterrichtes erblickt, eine Auffassung, der sich die Herren,
wie ich hoffe, voll anschliessen werden.
III. Savor: Myom und Ext raute rinschwanger-
8 c h a ft.
Savor demonstrirt einen Uterus myomatosus mit Tubargravi-
dität. Die linke Tube, welche Sitz der Schwangerschaft war, verläuft
eine ziemliche Strecke im Muskelmantel eines den isthmischen Theil
einnehmenden Myoms. Savor stellt einen ätiologischen Zusammenhang
zwischen dem Sitze des Myoms und der Extrauteringravidität als wahr¬
scheinlich hin. (Erscheint ausführlich in der Monatsschrift für Geburts¬
hilfe und Gynäkologie.)
Discussion: G. Braun bemerkt, dass er an seiner Klinik
im Museum ein Präparat besitze, welches einen mehr als mannskopf¬
grossen Uterus myomatosus gravidus darstelle. Dasselbe stammt von
einer Frau, die ungefähr Ende der Achtziger- Jahre zur Beobachtung
kam. Sie zeigte alle Erscheinungen der Schwangerschaft und in Anbetracht
der Grösse des Tumors wurde zur Exstirpation desselben geschritten.
Das Ei hatte sich innerhalb des Uterus entwickelt und ist dasselbe
am Präparat noch zu sehen. Die Hälfte des 12 cm laugen Fötus ragt
aus der Schnittwunde des Uterus heraus. Das Ei konnte also bis in
Uterushöhle Vordringen.
IV. H. Ludwig demonstrirt: a ) einen Uterus myoma¬
tosus gravidus, ein durch abdominelle Totalexstirpation gewon¬
nenes Präparat.
Bei der Untersuchung fand sich ein vergrössertes anteponirtes
und etwas elevirtes Corpus und nach hinten davon, fast bis zum
Beckenausgang herabreichend, eine kindskopfgrosse, undeutlich fluc-
tuirende Geschwulst. In der Annahme einer ektopischen Schwanger¬
schaft wurde die Laparotomie gemacht. Es war unmöglich, das im
kleinen Becken eingekeilte Myom emporzuheben, daher wurde zuerst
der Uterus gespalten und die Frucht extrahirt. Es handelte sich um
ein von der hinteren unteren Coipushöhle ausgehendes, ziemlich weiches
Myom und gleichzeitige Gravidität von circa 18 Wochen.
l>) Einen Uterus myomatosus mit Adenocarcinom
der C 0 r p u s s c h 1 e i m h a u t.
*
Sitzung vom 8. Mai 1900.
Vorsitzender: Lihotzky.
Schriftführer: Haiban.
I. Schauta: Occlusio vaginae bei inoperablem
Carcinoma vaginae.
Es ist bekannt, dass vor kurzer Zeit Ivüstner in Breslau
empfohlen hat, in Fällen von inoperablem Carcinom nach vorherge¬
gangener Excochleation und Paquelinisirung des Careinoms, die Occlusio
vaginae auszuführen; vorher ist aber eine Communication der Scheide
mit dem Rectum herzustellen, damit Blut und Jauche von dort in das
Rectum geleitet und hier unter dem Einflüsse des Sphinkter die Se-
und Excrete zurückgehalteu, respective ausgeschieden werden.
Das wichtigste Bedenken, das diesem Verfahren gegenübersteht,
ist das, dass die Frau zu ihren Jauchungen noch eine Rectovaginal-
fistel hinzubekommt, falls die Prima intentio, wie dies in solchen Fällen
nicht selten vorkommt, ausbleibt.
Ich bekam vor kurzer Zeit eine Frau an meine Klinik, bei
welcher ich mich in Folge der Sachlage des Falles über diese Be¬
denken hinwegsetzen konnte. Der Fall betraf eine 27jährige Person
mit weit vorgeschrittenem Carcinom der hinteren Vaginalwand,
das schon auf die Umgebung übergegriffen hatte, und zwar auf das
Rectum, in das Perforation eingetreten war. Die Resection des Rectum
konnte nicht vorgenommen werden, da das paravaginale und para-
cervicale Zellgewebe bereits infiltrirt war. Der Fall galt daher als
inoperabel und ich schritt nun zur Ausführung der K ü s t n e r’schen
Idee, da ich der Mühe überhoben war, die künstliche Communication
der Scheide mit dem Rectum vorzunehmen.
Das Carcinom wurde ausgelöffelt, paquelinisirt, ein Tampon auf den
Carcinomkrater aufgelegt, um das Secret von dem unteren Theile der
Scheide abzuhalten, der Tampon mittelst Fadens durch das Rectum
herausgeleitet und nun die Occlusio vaginae ausgeführt, und zwar
circulär am Uebergange des mittleren zum unteren Drittel der Scheide;
Naht in zwei Etagen. Die Prima intentio war nicht vollständig zu
Stande gekommen, aber in Folge von Narbenconstriction wurde die
Oeffnung so enge, dass man nur mittelst einer gewöhnlichen Sonde
durchkommt. Secret geht nur selten und dann nur in geringer Menge,
Intestinalinhalt gar nicht ab. Ich glaube, dass sich in nächster Zeit
durch Narbenconstriction die kleine Fistel noch weiter schliessen wird.
Discussion: Chrobak bemerkt, dass er dieser von
K ü s t n e r vorgeschlagenen Methode nicht besonders freundlich gegen¬
überstehe. Der einzige Vortheil bei derselben sei der, dass nicht ein
fortwährender Ausfluss aus der Vagina stattfinde; doch jaucht es aus
dem Rectum heraus; dieser Vortheil sei kein grosser. Wenn man aber
bedenkt, dass man die Jauchung verhältnissmässig gut beschränken
kann, wenn man von der Vagina gut dazu kommt, dann werde sich
diese Methode keiner übermässigen Anwendung erfreuen. Es sei eine
bekannte Thatsache, dass sich Carcinome, wenn man sie auslöffelt und
ätzt, langsamer ausbreiten und weniger Beschwerden machen. C h r o-
b a k macht auf die Uebernähung ausgekratzter Carcinome aufmerksam,
mit deren Erfolgen er nicht unzufrieden war. An seiner Klinik wurde
zweimal der Versuch gemacht, die Scheide zu verschliessen, allerdings
nicht bei vorhergegangener Perforation ins Rectum. C h robak glaubt,
dass mit dieser Opei-ation kein Vortheil gewonnen sei, denn bei ver¬
schlossener Scheide bildeten sich Recessus, die sich mit Jauche füllen
und erst recht einen unerträglichen Zustand herbeiführen.
Gersuny : In dem Falle von Schauta ist gewiss die Indi¬
cation für einen Eingriff gegeben, aber in einem ganz anderen Sinne,
wie der ursprüngliche Vorschlag gelautet. Der ursprüngliche Vorschlag
hatte den Zweck, die Secrete durch den Sphinkter zurückhalten zu
lassen, er hat aber die Consequenz, dass sich der Zustand der Kranken
verschlechtert, indem man das Carcinom der Behandlung entzieht und
noch die Fistel hinzufügt, durch die umgekehrt auch Inhalt aus dem
Rectum in die Vagina fliessen kann. Es hätte in dem vorgestellten
Falle höchstens die Wahl bestehen können zwischen der gemachten
Operation und der Colostomie. Die herrschende Anschauung bei den
Chirurgen sei die, dass man beim Durchbruch des Carcinoms in ein
Nachbarorgan die Colostomie machen solle. Da beim Mann der Durch¬
bruch gewöhnlich in die Blase stattfindet und die Beschwerden uner¬
träglich werden, verlangen die Patienten dringend nach der Operation.
Schauta wiederholt, dass er sehr schwere Bedenken gegen
die Küstne r’sche Operation hege, da man nicht sicher auf prima
intentio rechnen könne. Schauta hätte diese Operation nur deswegen
gemacht, da er in diesem Falle durch die schon bestehende Fistel ge¬
wisser Bedenken bezüglich der Aulegung einer künstlichen Verbindung
zwischen Scheide und Mastdarm überhoben war. Doch ist der Vortheil
nicht ganz von der Hand zu weisen. Denn es ist ganz etwas Anderes,
wenn die Jauchung ins Rectum erfolge und mit dem Stuhl entleert
werde, als wenn die Jauchung spontan und fortwährend durch die
Vagina stattfinde. Das fortwährende Nasssein, das unter der Einwir¬
kung des Sphinkter wegfalle, sei für die Frau sehr belästigend.
Schauta hat sich auch das Bedenken vor Augen gehalten, dass
man mit dieser Operation das Carcinom der Nachbehandlung entziehe;
diese Nachbehandlung übe er, seitdem er Gynäkolog sei und sei mit
den ausgezeichneten Erfolgen derselben zufrieden. Doch entziehen sich
derselben die meisten Frauen sowie die Aerzte draussen, und Erstere
beschränken sich dann nur auf Ausspritzungen. Die Uebernähung des
Carcinoms sei zwar eine rationelle Methode, aber da eine Prima intentio
entweder gar nicht, oder nur schwer zu Stande kommt, weil sich die
Nr. 30
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900
705
Jauche ansammelt und die Zusammenbringung der Ränder eines solchen
Carcinomkraters bei der starren Infiltration sehr schwer ist, wird diese
Methode nicht viele Nachahmer finden, aber in exceptionellen Fällen
könnte man doch an sie denken.
II. Halban: Ein Fall von Naegele’s ehern Becken.
Hal bau stellt eine 20jährige Fr, au vor, bei weicher er sub
partu ein N a e g e 1 e’s c h e s Becken constatirte.
Die Frau war früher stets gesund, hat als Kind nie gehinkt
oder Schmerzen in der rechten Hüfte gehabt. Dagegen gibt sie an,
dass sie seit einem Jahre im rechten Hüftgelenk Schmerzen verspüre
und in Folge dessen bei längerem Gehen hinke. Die Frau ist 136 cm
lang, hat Zeichen von überstandener Schädelrachitis. Das übrige Skelet
normal. Lungen vollständig gesund, am Körper nirgends Narben. Bei
aufrechter Stellung zeigt sich eine Asymmetrie des ganzen Körpers,
und zwar eine leichte Dorsalskoliose nach links, Lumbalskoliose nach
rechts. Die Crena ani zieht ziemlich stark schräg von rechts oben nach
links unten. Die rechte Glutealfalte steht tiefer als die linke. Das
Taillendreieck links tiefer als rechts. Die Spina ossis ilei post, ist
rechts etwas höher als links, die rechte Darmbeinschaufel steht im
hinteren Antheile höher als die symmetrische Partie der linken, der
vordere Antheil steht aber rechts tiefer als links, so dass die Crista
von rechts oben hinten stark nach links vorne unten verläuft.
Während die Crista links ungefähr normal gekrümmt ist, biegt
die rechte Crista von ihrem äussersten Punkte nach vorne um und
nimmt einen gegen die Spina ilei aut. suj). zu gestreckten Verlauf.
Während der linke Trochanter major ziemlich stark nach aussen
vorspringt, tritt der rechte zurück und steht tiefer als der linke.
Die innere Austastung des Beckens in Narkose ergibt,
dass es sich um ein schräg verengtes Becken handelt, was dadurch
zu erklären ist, dass der rechte Kreuzbeinflügel nur rudimentär ent¬
wickelt ist. Die rechte Linea terminalis verläuft ganz gestreckt nach
vorne zur Symphyse, wolche extramedian gegen die gesunde Seite ver¬
schoben ist. Die linke seitliche Beckenwand und Linea terminalis hin¬
gegen haben eine annähernd normale Configuration. Das Kreuzbein
selbst ist der Symphyse in toto stark genähert und steht mit seiner
Front um eine verticals Achse nach links gedreht. Die Conjugata
diagonalis = 105. Die quere Verengerung ist eine bedeutende und
zwar besonders im Beckenausgange. Namentlich sind die Spinae ossis
ischii einander so stark genähert, dass ihre Distanz kaum auf mehr
als 6 cm geschätzt werden kann. Der quere Durchmesser des Becken¬
ausganges beträgt nach Breisky 7‘5 cm, der gerade 8 ’5 cm.
Der quere Durchmesser des Beckeneinganges nach S k u t s c h
gemessen = 9'5 cm.
Ls handelt sich also um ein allgemein verengtes Nae-
gele'sches Becken.
Die Verengerung war so hochgradig, dass der Schädel den
Beckeneingang nicht überwinden konnte und es wurde, da die Frucht
abgestorben war, die Craniotomie ausgeführt.
Discussion: G. Braun fragt, wie sich die einzelnen Durch¬
messer verhalten?
Halban: Sp. = 23,
Cr. = 24,
Tr. = 27.
Die schrägen Durchmesser wurden nicht gemessen, weil die Frau
bereits während der Geburt zur Beobachtung kam und derzeit erst
acht läge nach der Geburt ist. (Die nachträglich aufgenommenen
Maasse der schrägen äusseren Durchmesser ergeben eine Differenz von
2 — 3 cm. Anmerkung bei der Correctur.)
Hink zeigt im Anschlüsse an diese Demonstration eine Rönt¬
gen- Aufnahme eines N a e g e 1 e’schen Beckens, die bei einer 22jährigen
Erstgebärenden, bei der die Geburt schliesslich mittelst Forceps be¬
endigt werden musste, aufgenommen wurde. Die schrägen Masse diffe-
riren um 2 — 3 cm.
HI. H. Hübl: Ueber Dyspygie.
Ein dyspygisches Becken kommt nur äusserst selten vor. Bei
Erwachsenen sind blos zwei Fälle von H. L i t z m a n n und Albrecht
bekannt. Breus und K o 1 i s k o tbeilen einen Fall von Dyspygie
beim Neugeborenen mit und sind der Meinung, dass die beiden von
Hohl und Graf beschriebenen Becken hieher zu zählen seien.
Auch diese Missbildung ist eine Dyspygie, welche Docent
Albrecht genauestens zu seciren die Freundlichkeit hatte.
Die Frucht war 45 cm lang und starb wenige Minuten nach
der Geburt. Wir haben von dem Kinde diese zwei R ö n t g e n - Bilder
anfertigen lassen, an welchen namentlich die Beckendifformität deutlich
zu erkennen ist.
Bei der Section fand man eine Hasenscharte, einen Wolfs¬
rachen, eine linksseitige Zwerchfellshernie, dann sind beide Füsse im
Hüft- und Kniegelenke gebeugt. Die Musculatur an den unteren Ex¬
tremitäten ist durch Fett substituirt, und von der Beugeseite der
Oberschenkel zieht zur Beugeseite der Unterschenkel eine strafte
Hautbrücke.
Im Wiener pathologisch-anatomischen Museum ist ein gleiches
Präparat. Im Protokoll ist dasselbe bezeichnet als Contractin' im Knie¬
gelenke ex angustitate cutis.“
Die genaue Untersuchung unseres Falles deutet darauf hin, dass
die Contractur in den Beinen centralen Ursprunges sei. Darauf
komme ich später zu sprechen.
Bei der Besichtigung der Wirbelsäule fand man statt
sieben nur vier Halswirbel, und statt zwölf waren blos zehn Brust¬
wirbel vorhanden. Der vierte Wirbelkörper ist verkümmert und von
demselben geht nur links eine kleine Rippe ab. Sonst trägt jeder Brust¬
wirbel seine Rippen.
Das Ende der Wirbelsäule ist sehr mangelhaft ausgebildet, man
findet unter den Brustwirbeln nur mehr vier Wirbelkörper — das
Kreuzbein fehlt.
Dieses Fehlen des Kreuzbeines bedingt das dyspygische
Becken mit folgenden Merkmalen:
1. Dasselbe ist in querer Richtung bedeutend verengt, weil die
beiden Seitenbeckenknochen auch hinten direct zusammenstossen.
2. Die Darmbeinteller schauen fast gerade nach aufwärts, und
in die Fuge zwischen dem direct zusammenstossenden rechten und
linken Hüftbein ist das rudimentäre Wirbelsäulenende eingefügt.
3. Die Beckenneigung ist bedeutend vermindert.
Das Rückenmark war nicht, wie in den Fällen, die R e c k-
linghausen erwähnt, in seinem Läugenwachsthum regelmässig,
sondern zeigt folgende Abnormitäten:
1. Dasselbe ist zu kurz; es reicht nur bis zum siebenten Brust¬
wirbel herab und schneidet dort scharf ab. Es finden sich also keine
Schleifen und keine Myelocystocele.
2. Es fehlt die Lumbalschwellung, während die Cervicalschwellung,
deutlich ausgebildet ist.
Indem die regelmässige Beschaffenseit der Cervical- und Lumbal¬
schwellung mit der normalen Entwicklung der oberen und unteren
Extremitäten zusammenhängt, bringe ich in diesem Falle die oben be¬
schriebene Abnormität an den unteren Gliedmassen mit der Kürze des
Rückenmarkes und dem Fehlen der Lumbalschwellung in Zu¬
sammenhang.
IV. Hitschmann demonstrirt einen Fall von chronischer,
diffuser, hyperplasirender Endometritis, welche dadurch bemerkens-
werth erscheint, dass die hyperplastischen Vorgänge einen besonders
excessiven Grad erreicht haben.
Gynäkologischer Status : Das Abdomen ist durch zwei kugelige
Tumoren vorgewölbt; der linke reicht bis zum Rippenbogen, der rechte
etwas über den Nabel ; beide Tumoren sind von einander durch eine
handbreite Furche getrennt. Die Cervix ausserordentlich lang und
dünn, geht in den rechts gelegenen Tumor gleichmässig über. Dieser
hat eine glatte Oberfläche und eine mässig derbe Consistenz. Der links
gelegene Tumor wölbt das hintere Scheidengewölbe stark vor, lässt
sich von der hinteren Fläche des rechts gelegenen Tumors (Uterus)
nicht isoliren und füllt das kleine Becken vollständig aus. Adnexe
nicht zu tasten.
Nach diesem Befunde wurden Myome diagnosticirt, und zwar
der rechte Tumor als ein infiltrirendes interstitielles, der linke Tumor
als ein subseröses gedeutet.
Am 5. Juni 1899 machte Herr Prof. Schauta die
Laparotomie.
Der linke Tumor entpuppte sich als ein Ovarialsarkom, der rechts
als der bedeutend vergrösserte Uterus, der circa 20 cm lang und unter
dem Tubenansatze 12 cm breit war. Seine Wand ist bis 3 cm dick,
derb, seine ganze Höhle bis herab zum Orificium internum ist aus¬
gefüllt mit gelblichen, weichen, zottigen Massen, die sich aber von der
Muskelwand scharf absetzen.
Die Schleimhautwucherung erreicht stellen¬
weise eine Dicke von 3 — 4cm(!) und dies macht den Fall zu
einem seltenen.
Dass es sich wirklich nur um eine hyperplasirende Endometritis
handelt, zeigt Ihnen das Mikroskop. Wir haben es also mit einem
Falle von typischer, aber ausserordentlich mächtiger Wucherung des
Endometriums zu thun, wie sie seinerzeit Olshausen als diffuse
hyperplasirende Endometritis beschrieben hat. (Erscheint ausführlich.)
Discussion: Fabrieius findet bei Besichtigung des Prä¬
parates, dass es Aehnlichkeit habe mit jenem, das einmal von Doctor
Czerwenka demonstrirt wurde. Dasselbe entstammte einer Kranken,
die wegen Blutungen ausgekratzt wurde. P a 1 1 a u f fand ein zotten¬
artiges Gebilde, das mit einschichtigem Epithel ausgekleidet war. Es
wurde damals die Totalexstirpation des Uterus vorgenommen und beim
Aufschneiden desselben fand sich links oben im Fundus ein kleiner
Tumor in der Grösse einer Walnuss; an der Uebergangsstelle der
Schleimhaut in den Tumor war das Endometrium sehr verdickt und
durchsetzt von zahlreichen Drüsen. Es fanden sich hier zahlreiche
cystische Hohlräume, wie wenn hier villöse Zotten miteinander ver¬
wachsen und Schleimansammlungen vorhanden gewesen wären. Man
706
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
Nr. 30
hatte den Eindruck, dass dieser Tumor auch aus einer Endometritis
fungosa her vorgegangen war.
II it sch mann bemerkt, dass die Aehnlichkeit nur eine theil-
weise sei; in seinem Falle sei die Verdickung eine vollständig gleich-
massige, in dem anderen aber vollständig cireumscripte. Auch fehle jede
Cystenbildung.
V. J. Sternberg: Demonstration multipler E c h i-
nococcen aus der Bauchhöhle.
Das Präparat ist heute von Herrn Gersuny im Rudolfinerhause
bei der Operation eines 20jährigen Mädchen gewonnen worden. Die
Kranke gab an, dass sie seit etwa zwei Jahren von einer Geschwulst
im Bauche rechts unter dem Nabel wisse, welche allmälig grösser
geworden ist. Menses normal. Die Untersuchung ergab, dass diese
Geschwulst frei beweglich, über kindskopfgross, glatt und rund, fluc-
tuirend, dem rechten Eierstock zuzuschreiben war; ferner lag im
Douglas eine unbewegliche, deutlich fluctuirende Geschwulst, die mit
ihrer glatten runden Kuppe weit über die Linea innominata ragte;
diese wurde als zum linken Eierstock gehörig erkannt. Ausserdem
konnte man eine etwa faustgrosse, runde, derbe, leicht höckerige
Geschwulst in der linken Bauchhälfte nach allen Seiten frei verschieben;
sie schien einen Stiel in der Gegend der linken Niere zu besitzen.
Die Niere selbst konnte exact an der normalen Stelle getastet
werden.
Die Diagnose lautete auf Dermoidcysten beider
Ovarien. Echinococcus kam natürlich auch in Frage, die Angaben
des Mädchens waren aber in dieser Beziehung durchaus gegen¬
standslos.
Bei der Operation gelang es leicht, den Tumor aus dem Ovarium
der rechten Seite hervorzuholen. Schwieriger war es, die Cyste aus
dem Cavum retrouterinum zu entbinden. Auch hier war das Ovarium
ein Theil der Hülle der Geschwulst. Die Ausschälung gelang sehr
leicht und hiebei fiel in erster Linie die innere Oberfläche der Ge¬
schwulsthülle auf, welche vollkommen den haarlosen Epidermispartien
einer Dermoidcyste glich; ferner der vollständige Mangel von Ernährungs-
gefässen der noch supponirten Cyste. Der Operateur nahm daher die
Diagnose auf Echinococcen wieder auf. Diese wurde durch den
weiteren Befund von etwa zehn Cysten von etwa Daumenglied- bis
Faustgrösse im Netz, zum Theil prall gespannt, zum Theil geschrumpft,
verificirt. Weitere Cystchen lagen unter dem Mesenteriolum des Pro¬
cessus vermiformis, sowie schliesslich zwei sehr grosse im rechten
Leberlappen, welch letztere alle reactiven Erscheinungen vorhergegan¬
gener Vereiterung des Ehinococcus zeigte. Diese Cysten sind wohl
als der Ausgangspunkt der ganzen Aussaat anzusehen. Die Aussaat
im Netze wurde sorgfältig ausgeschält, eine der Cysten in der Leber
eröffnet, entleert, und nach Eingiessen von Jodoformglycerinemulsion
geschlossen. Die Blasen enthielten zum Theil klare Flüssigkeit und
zahllose Scolices, zum Theil käsigen Brei, zum Theil gut entwickelte
Tochterblasen mit klarem oder trübem Inhalt. Die Prognose muss mit
aller Reserve gestellt werden, da wir ja nichts über das Vorhanden¬
sein weiterer Blasen in anderen lebenswichtigen Organen wissen
(F. A. Martin, Centralblatt für Gynäkologie. 1889, Nr. 9).
Patientin befindet sich ganz wohl, die Bauchwunde ist geschlossen
(29. Mai). Neisser (Die Echinococcenkrankheit. Berlin 1877) gibt
die Häufigkeit des Vorkommens des unilocular en Echinococcus
im kleinen Becken und weiblichen Genitale auf 80 (36 -j- 44) von
900 Fällen an (= 9%), Frey auf 8% (4,5% 3-5°/0). Doch ist das
Ovarium nur mit verschwindenden Zahlen daran betheiligt. Von be¬
sonderem Interesse erschien die Art der Einbettung der
Blasen im Ovariu m. Das eigenthümliche, makroskopisch erkenn¬
bare Verhalten ist früher erwähnt worden. Man konnte daran denken,
dass sich etwa um die Cysten eine Epidermisirung der Hülle vollzogen
hätte. Es wurden aus der Blasenhülle Schnitte angefertigt, welche aber
keinerlei Besonderheiten gegenüber den Hüllen der Echinococcen in
anderen Organen ergaben: Es war eine ziemlich gleichmässige Schichte
mässig derben Bindegewebes, mit reichlicher, kleinzelliger Infiltration
nach aussen hin. Auch auf den Flächenschnitten war nichts Besonderes
zu entdecken. In der Literatur ist über diese Frage kein Aufschluss
zu erhalten.
Anatomisch wären also die demonstrirten Blasen aus den Ovarien
und dem Netze einer Invasion ins Beckenbindegewebe zuzuschreiben,
wie sie z. B. Chrobak (Centralblatt für Gynäkologie. 1899) mit-
getheilt hat.
Discussion: Chrobak fragt, woher die Frau sei ?
Sternberg: Aus Raab.
Chrobak bemerkt, dass es in Ungarn Bezirke gebe, in denen
der Echinococcus häufig vorkomme; ein solcher Bezirk sei z. B.
Kanizsa, und auch in Dalmatien gäbe es solche, wie aus der Publication
von v. Lattich hervorgehe.
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
in München.
Vom 17. bis 22. September 1899.
(Schluss.)
Section für Geburtshilfe und Gynäkologie.
Referent : Dr. Edmund Falk (Berlin).
Vormittagssitzung vom 22. September.
Vorsitzender Döderleiii.
XIII. v. II e r f f : Zur Behandlung inoperabler
Uteruscarcinome.
Auch bei inoperablem Carcinom hält v. Her ff die Totalexstir¬
pation für das beste palliative Mittel. Ist die Totalexstirpation nicht
mehr ausführbar, so kommt die Thermokauterisation der Cervix nach
Sänger in Betracht. Zu bekämpfen sind besonders Blutung und
Jauchung, am besten ist dieses durch Auslöffelung und Verschorfung
zu erreichen. Aber auch ohne Verschorfung erreicht man durch die
Auslöffelung allein in vielen Fällen mindestens gleich gute Resultate.
Sehr wichtig ist die nachfolgende Anwendung von Kauterien, am besten
ist das Chlorzink, die Aetzung wird am dritten oder vierten Tage nach
der Auslöffelung ausgeführt. Die Vorwürfe, die der Kauterisation ge¬
macht werden, Blutungen, Schmerzen, Eröffnung von Nachbarhöhlen,
lassen sich vermeiden. Sehr wuchtig ist eine zw'eckmässige Nach¬
behandlung, und zwar Pinselungen der Wundhöhlo mit Tinct. jodi
fort, zwei- bis dreimal wöchentlich. Auch trockene oder Pulver¬
verbände kann man verwerthen. In letzter Zeit ist wieder der Thon
empfohlen und bewährt sich gut, die Blutungen treten bei dieser Be¬
handlung seltener ein. Eisenchlorid ist möglichst zu vermeiden. Ein
gutes Mittel zur Blutstillung ist die 5°/0ige formolisirte Gelatinelösung
(ster ilisirbar), in die man Wattestückchen taucht. Das beste Mittel
zur dauernden Blutstillung ist die Acetylenbehandlung; bei ihr wirkt
die Entstehung des Calcium-Hydroxyd in statu nascendi. Dasselbe hat
adstringirende, leicht anätzende Eigenschaften. Nach der Desinfection
wird die Wundhöhle getrocknet und darauf w'erden Stückchen von
Calciumcarbid eingeführt und durch eine leichte Tamponade fest¬
gehalten. Nach zwei bis drei Tagen wird der Verband entfernt, die
Scheide gereinigt, und diese Behandlung eine Zeit lang fortgesetzt.
Das Carcinom wird hiedurch ganz fest und hart, die Neigung zu
Blutungen wird beschränkt, ln manchen Fällen beseitigt die Methode
gleichzeitig die Schmerzen, falls es sich nämlich um neuritische
Schmerzen handelt. Schmerzen, welche durch Compression erzeugt
werden, können natürlich hiedurch nicht gebessert werden.
Discussion: Schlutius: Die Wirkung des Calciumcarbids
ist wahrscheinlich durch die Hitze zu erklären. Das Gleiche erreicht
man durch die Vaporisation.
XIV. v. Steinbüchel (Graz) : Chronischer Rheu¬
matismus und dessen differentialdiagnostische und
therapeutische Bedeutung in der Gynäkologie.
v. Steinbüchel sah über 1000 Fälle von chronischem Rheu¬
matismus, welche gewisse Beziehungen zu Genitalerkrankungen hatten.
Viele auf eine Retroflexio bezogene Schmerzen (Kreuzschmerzen und
nach den Oberschenkeln ausstrahlende Schmerzen) sind durch Rheuma¬
tismus bedingt. Besonders wird auch weisser Fluss häufig für die
Beschwerden angeschuldigt, für welche rheumatische Affectionen allein
verantwortlich zu machen sind.
Durch Behandlung des Rheumatismus erreicht man bald
Heilung. Charakteristisch für die rheumatische Affection sind linsen-
oder erbsengrosse bis taubeneigrosse Knoten in der Sacral- und Lumbal¬
gegend. Dem Rheumatismus liegt meistens eine Diathese zu Grunde.
Die Schmerzen werden zu verschiedener Zeit verschieden localisirt,
hingegen wird nie ein Wandern der Knoten bemerkt; die Knoten sind
stets localisirt und bilden sich bei geeigneter Behandlung zurück. Die
Krankheit kann jahrelang latent sein. Grosse oberflächliche Knoten
sind häufig schon äusserlich wahrnehmbar; tiefeie, in der Musculatur
gelegene hingegen sind schwer zu erkennen. Erkältung ist wahrschein¬
lich eine häufige äussere Ursache, Schwellungen der Knoten treten
durch sie ein, und so treten die Symptome des Rheumatismus hervor.
Die Prognose der Krankheit ist nicht sehr gut. Therapie: Massage und
Bäderbehandlung.
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
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Zur Einweihungs-Feier des Arsenbades Levico. Als in der
Mitte vongen Monates an die gesammte akademische Med i ein der Nachbar¬
staaten von der General-Direction der Curanstalt Levico- Vetriolo der Ruf
erging, an der Einweihungsfeier der neuen, auf alter Basis gegründeten
Unternehmung theilzunehmen, da folgte die stattliche Zahl von mehr als
anderthalb hundert diesem Rufe. An ihrer Spitze der Altmeister, Excellenz
Esmarch mit seiner fürstlichen Gemahlin, verherrlichten sie ein Fest, bei
dem sich Nord und Süd, Ost und West, die Hände reichten. Eine deutsche
Gesellschaft gründete in Oesterreich im italienischen Sprachgebiete ihr Unter¬
nehmen, das halb der Wissenschaft, halb der Industrie dient, und deutsche
Thatkraft und italienische Arbeit hebt die Schätze des österreichischen
Bodens an dieser Stelle. Alle drei Nationalitäten hatten ihre Vertreter, er¬
leuchtete, wissenschaftliche Grössen, entsendet und das Fest verrauschte
nur zur schnell unter der abwechslungsreichen Folge von wissenschaftlichen
Arbeiten und frohen Banketten. Das Festmahl begann, der schönsten aller
Sitten nach, mit dem Trinkspruche auf Seine Majestät den Kaiser von
Oesterreich, dem sich Toaste auf seine erhabenen Freunde, Kaiser Wilhelm
und König Humbert anschlossen. Höher und höher gingen die Fluten
der Begeisterung, der Verbrüderung der Nationen und als aus der Ver¬
sammlung heraus der Antrag gestellt wurde, den drei Majestäten Huldigungs-
Telegramme zu senden, konnte sich der General-Director eines ebenso er¬
hebenden, wie angenehmen Auftrages entledigen. Auf die Anregung der
Herzogin von Schleswig Holstein schloss sich ein ähnliches Telegramm an
Ihre Majestät die Kaiserin Friedrich, die erhabene Freundin unseres para¬
diesischen Trentinos, an. Schon Tags darauf konnte die General-Direction
den huldvollen Dank der hohen Frau den noch anwesenden Gästen mit¬
theilen und nach Ablauf kurzer Zeit langten, zum Theil direct und tele¬
graphisch, zum Theil auf dem weiten officiellen Umwege durch die Bot¬
schafter huldvolle Dankschreiben im Aufträge der Souveräne ein. Mit Stolz
blickt die General-Direction auf ihr erstes Tagewerk zurück, das durch
kaiserlichen und königlichen Dank gekrönt, ein noch erfreulich gutes Omen
für die Zukunft bildet.
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der über Capital von 80 000 — 100.000 K verfügt, findet Gelegenheit, als Com-
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gen und Geldsendungen an
die Verlagshandlung.
Redaction :
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unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, O. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner,
M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann,
R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, G, Toldt, A. v. Vogl,
J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gussenbauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
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Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
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Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel. Telephon Nr. 6<m.
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Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/1, Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang.
Wien, 2. August 1900.
Bär. 31.
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel : 1. Aus der k. k. chirurgischen Klinik des Herrn
Hofrathes Prof. C. N i c o 1 a d o n i in Graz. Beiträge zur Frage
der »totalen Darmausschaltung«. Von Dr. Erwin Payr, Docent
für Chirurgie und Assistent der Klinik.
2. Ein Fall von Paraphenylendiaminvergiftung. Von Frauenarzt Dr.
Emil P o 1 1 a k.
3. Heber Behandlung der nekrotisirenden Akne mit Meersalzlösung.
Von Dr Friedrich L u i t h 1 e n, Wien.
II. Referate: I. Neueres über Taubstummheit und Taubstummenbildung.
Von Dr. Hermann G u t z m a n n. II. Die frischen Entzündungen
der Rachenhöhle und des lymphatischen Rachenringes (mit Aus¬
schluss der Diphtherie), ihre Ursachen und ihre Behandlung. Von
Dr. Maximilian B r e s g e n. III. Die Missbildungen des
Gaumens und ihr Zusammenhang mit Nase, Auge und Ohr. Von
Dr. Fritz Danziger. IV. Die Ohrenheilkunde im Kreise
der medicinischen Wissenschaften. Von Prof. Dr. C. Bloch.
V. Encyklopädie der Ohrenheilkunde. Von Dr. Louis Blau.
Ref. Arthur Singer. — I. Zahnheilkunde. Von Jul. Par-
r e i d t. H. Cursus der Zahnheilkunde. Von Dr. med. Konrad
Cohn. Ref. M e t n i t z.
III. Aus verschiedenen Zeitschx*iften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften nnd Congressberichte.
Aus der k. k. chirurgischen Klinik des Herrn Hofrathes
Prof. C. Nicoladoni in Graz.
Beiträge zur Frage der »totalen Darmaus¬
schaltung«.
Von Dr. Erwin Payr, Docent für Chirurg'e und Assistent der Klinik.
Der Streit um die Berechtigung der totalen Darmaus¬
schaltung mit völligem Verschluss und Versenkung der Enden
des ausgesclialteten Darmstückes ist ausgefochten.
Selbst jene, die das Verfahren am Menschen angewendet,
tiir erlaubt und empfehlenswerth erklärt hatten und sich zu
wiederholten Malen in lebhafte Discussion über die Frage eiu-
liessen, sind theils durch spätere klinische Erfahrungen an
ihren operirten Patienten, theils durch neuerdings aufgenommene
umfangreiche Thierversuche völlig davon überzeugt worden,
dass man keinen Abschnitt des t hierischen oder
menschlichen Magen-Darmcanales völlig ausschalten
und verschliessen darf, ohne auf die gefährlichsten Compli-
cationen unter Umständen gefasst sein zu müssen.
Als nicht völlig geklärt und abgeschlossen zu betrachten
sind kragen, die Technik der Ausschaltung, die Indi-
cationslehre betreffend; ferner das Verhalten von aus¬
geschalteten Darmtheilen, die durch eine mehr minder grosse
k istel mit der Körperoberfläche in Verbindung standen,
schliesslich aber durch Verschluss der Fistel total occludirt
woiden sind; endlich aber sind es die pathologisch-anatomischen
\ oigänge, die sich theils im Darmcanale, theils in seiner Um¬
gebung abspielen, die unser Interesse wachrufen, besonders
aus dem Grunde, weil aus ihnen sich tiefgreifende Unter¬
schiede für das Verhalten von gesundem und
krankem ausgeschalteten Darm entwickeln.
Im Verlaufe des vergangenen Jahres hatte ich Gelegen¬
heit, an der Grazer chirurgischen Klinik einen Fall zu beob¬
achten und zu operiren, der in mehrfacher Hinsicht durch
Verlauf und Endausgang interessant erscheint und vielleicht
für obige Fragen brauchbare Beiträge bringt.
Vorerst die Krankengeschichte des merkwürdigen Falles:
E. S., 16 Jahre alt, Bauernsohn aus Lankowitz.
Anamnese: Mit zwei Jahren hatte Patient Fraisen; sonst
ist Patient immer gesund gewesen. Hereditär nicht belastet.
Vor sieben Wochen bekam Patient Schmerzen im rechten
Beine, sowie in der rechten Hüfte; nach einigen Tagen localisirten
sich diese Schmerzen im »Bauch«, und zwar insbesondere in der
Höhe der Nabelgegend. Seit sechs Wochen ist der Kranke bett¬
lägerig und Hatte er nicht nur heftige Schmerzen im Abdomen,
sondern auch im Rücken, besonders gegen das Kreuz hin.
Sehr heftig sollen die Schmerzen in der Lendengegend, rechts von
der Mitte der Wirbelsäule, dem unteren Ende der Lendenwirbel¬
säule entsprechend, gewesen sein.
Seit fünf Wochen kann der Kranke das rechte Bein im Hüft¬
gelenk nicht mehr strecken und entwickelte sich von Tag zu Tag
eine stärker ausgeprägte Beugestellung daselbst. Der herbeigerulene
Arzt constatirt eine Geschwulst in der rechten Unterbauchgegend.
Der Stuhl war angehalten; nur jeden driften bis vierten Tag erfolgte
spontan Stuhlentleerung. Die Schmerzen dauerten seit jener Zeit
fort, wurden aber besonders in den Nachtstunden heftiger; in letzter
Zeit ist Patient sehr stark abgemagert, wenn er auch zugibt, schon
früher schwächlich gewesen zu sein. Er localisirt die Schmerzen
jetzt an die Innenseite seiner rechten Darmheinschaufel und von
da gegen das Kreuz ausstrahlend.
Status praesens: Ziemlich grosser, stark abgemagerter
Kranker.
Ueber beiden Lungenspitzen hört man verschärftes Athmeq
und vereinzelte Rasselgeräusche. Der Percussionsschall über der
linken Lungenspitze ist vorzugsweise verkürzt. Die Herzdämplung
708
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. ;n
ist normal. Auscultatorisch ist am Herzen nichts Abnormes nach¬
zuweisen.
Die Leberdämpfung ist nicht vergrössert, ebensowenig ist
eine Vergrösserung der Milzdämpfung nachzuweisen.
Im Harn Finden sich Spuren von Eiweiss, im Sediment jedoch
weder Hlut, noch Cylinder.
Das Abdomen des Patienten ist etwas aufgetrieben und sieht
man über dem rechten Po u part's che n Bande eine
grosse Geschwulst, die über die Spina ant. sup. hinaufreicht
und halbmondförmig mit der Concavität gegen die Medianlinie ge¬
richtet abfällt, so dass man sie mit den Händen wie eine Kuppe
um greifen kann. Die Geschwulst hält sich vornehmlich an die
Grenzen des Darmbeines und wölbt sich am stärksten in der late¬
ralen Hälfte des Pouparfschen Bandes vor. Dieser sichtbaren
Geschwulst entsprechend, fühlt man eine prall-elastische Resistenz,
den oben geschilderten Grenzen entsprechend, und lässt sich die
Geschwulst in keiner Richtung verschieben und macht es den Ein¬
druck, dass sie dem Darmbein fest aufsitzt. Ueber der Resi¬
stenz ist überall vollkommen gedämpfter Percussionsschall nach¬
zuweisen. Auf Druck ist die Geschwulst überall leicht empfindlich,
insbesondere gegen das P o u p a r t’sche Band zu. Compression des
Beckens durch Druck auf beide Spinae ant. sup. wird sehr schmerz¬
haft empfunden, ebenso Zug an den Spinae. Auch anteroposteriorer
Druck am Becken von der Symphyse aus ist recht schmerzhaft,
ebenso die Gegend der rechten Synchondrosis sacroiliaca.
Das rechte Bein des Kranken ist im Hüftgelenke nahezu
rechtwinkelig gebeugt, etwas aussen rotirt und kann activ wie
passiv nur im Ausmasse von wenigen Winkelgraden gestreckt
werden.
Bei einem Versuche, das Bein stärker zu strecken, findet eine
Neigung des Beckens statt. Dagegen sind bei stark gebeugtem Hüft¬
gelenke sowohl Adduction, als Abduction, als auch die Rotations¬
bewegungen des Hüftgelenkes frei.
Die bis über das P o u p a r f sehe Band herunterreichende
Geschwulst ergibt deutlich das Gefühl der Fluctuation.
An der Vorderfläche des rechten Oberschenkels, drei Quer¬
finger unter dem P o u p a r f sehen Bande, etwas nach innen vom
medialen Rande des Muscul. sartorius ist eine ganz flache Vor¬
wölbung zu sehen, die nur undeutlich fluctuirt, aber bei Druck auf
die oberhalb des P o u p a r f sehen Bandes gelegene Geschwulst
praller wird.
Der Patient fiebert ziemlich stark, bis zu 39'5°, und ist die
Haut über dem Darmbeinkamme, sowie gegen das P o u p a r fsche
Band zu leicht ödematös.
Diagnose: Iliacusabscess mit gleichzeitigem Psoas-
abscess, wahrscheinlich bedingt durch einen tuberculösen Herd an
der Innenfläche der Darmbeinschaufel, oder an der rechten Syn¬
chondrosis sacroiliaca.
Da eine mögliche Auffindung und Entfernung des primären
Krankheitsherdes als sehr wünschenswert!) erschien und der Kranke
fieberte, ein Durchbruch sich also vorbereitete, wurde die breite
Eröffnung dieses Iliacusabscesses (König1) beabsichtigt.
Erste Operation am 12. Juli 1899 in ruhiger Chloroform-
Narkose.
Es wurde der Hautschnitt von der Mitte des Poupart-
schen Bandes am Darmbeinkamme entlang über die Spina anterior
superior bis nach hinten in der Richtung zur Spina posterior sup.
geführt (Fig. 1). An der Innenseite der rechten Darmbeinschaufel
wird eingegangen und kommt man bald auf die stark vorgewölbte
Fascia iliaca, die eine grosse, bis zum P o u p a r t’schen Band
reichende, fluctuirende Geschwulst bedeckt. Die Bauchdecken, das
lockere Bindegewebe zwischen den einzelnen Schichten, sowie die
Muskeln sind ödematös und infiltrirt.
Die Fascia iliaca wird breit eingeschnitten und entleert sich
eine grosse Menge (circa 2 /) dünnen, flockigen, geruchlosen Eiters;
die in die umfangreiche, vielgestaltige Abscesshöhle eingeführte
Hand findet, dass sie sich bis in die Gegend der rechten Synchon¬
drosis sacro-iliaca und noch über diese hinaus erstreckt; ein
Knochenherd ist nirgends sicher zu tasten, doch ist sowohl nach
dem topographischen Verhalten des Abscesses, als auch dessen
Ausdehnung ein Herd am Darmbein oder Svnchondrose sicher an¬
zunehmen.
Da das Allgemeinbefinden des Patienten kein gutes war und
nach der Entleerung des Eiters der Puls sehr klein und frequent
geworden war, wurde von der Aufsuchung des Knochenherdes Ab¬
stand genommen und die ganze grosse Wundhöhle mit einem
M i k u 1 i c z - Schleier ausgekleidet, mit sterilen Gazerollen gefüllt,
die Hautwunde durch Nähte verkleinert und ein aseptischer Occlu-
sionsverband angelegt.
Am IG. Juli wird der M i k u 1 i c z - Schleier seines Inhaltes
entledigt und ist die Abscesshöhle etwas verkleinert. Wegen überaus
reichlicher Secretion von dünnflüssigem Eiter wird täglich zweimal
der Verband gewechselt. Die Temperatur ist fast normal geworden.
Am 19. Juli, also acht Tage nach der Operation, bemerkt
man beim nachmittägigen Verbandswechsel Kothmassen (Dick¬
darminhalt) auf dem Verbandstoffe.
An der vorderen Abscesswand hat sich, ungefähr dem unteren
Ende des Cöcums entsprechend, nahe am unteren Wundwinkel
der Operationswunde eine kleine Darmfistel gebildet.
1 = Schnitt zur Eröffnung' des Psoasabscesses.
2 = Erste Laparotomie (Ileocolostomie).
3 Zweite Laparotomie (totale Ausschaltung).
4 = Contraincision am Oberschenkel.
Vollkommen normal aussehende Darmschleimhaut stülpte sich
vor. Die Fistelöffnung hat einen Durchmesser von circa :V4 cm. Das
mit der Fascia iliaca verklebte Peritoneum in der Nähe dieser
Fistel ist medialwärts infiltrirt und sehr verdickt, und hat man
den Eindruck, lateral von ihr die hintere, von Bauchfell unbeklei¬
dete Cöcalwand vor sich zu haben, an der sich entweder durch
einen Einschmelzungsprocess, durch die bedeutenden vorhandenen
Eitermengen, oder durch Ernährungsstörungen, die durch
die Ablösung von der hinteren Bauchwand bedingt waren, eine
Perforation gebildet hat.
Da dies Ereigniss der Darmperforation in den Abscess als
ein höchst betrübendes und gefährliches angesehen werden musste,
so wird die Fistel sofort mit klebender Jodoformgaze verstopft und
hierauf die Höhle des Iliacus-Psoasabscesses *) wieder tamponirt.
21. Juli. Um eine möglichst freie Zugänglichkeit des Abscesses,
der dem M. ilio-psoas entlang bis an die Vorderfläche des Ober-
*) Um im Ausdrucke kürzer zu sein, gebrauchen wir in Zukunft für
diesen Abscess und die schliesslich resultirende, zu ihm führende Fistel
das kürzere Wort »Psoasabscess« und »Psoasfistel«, obwohl der Genese
und Topographie nach es ein Iliacusabscess mit Psoasabscess com*
binirt war.
fr r. 31
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
703
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Fig. 2.
Erste Laparotomie.
Schenkels sich erstreckte, herzustellen, wird nach aussen von den
Schenkelgefässen ein Einschnitt gemacht und unter dem Poupart-
schen Bande ein starkes Drainrohr nach der Tiefe des Psoas-
abscesses geleitet und die ganze Partie der Abscesshöhle, in welche
die Darmfistel mündet, mit klebender Jodoformgaze tamponirt. Durch
längere Zeit ändert sich im Befinden des Patienten wenig. Die
Abscesshöhle wird immer sorgfältigst tamponirt und es gelingt, durch
zwei- bis dreimaligen täglichen Verbandwechsel eine schwere Infec¬
tion derselben durch den austretenden Darminhalt zu verhüten.
Patient ist nahezu fieberfrei. Da aber eine derartige Infection den¬
noch leicht möglich ist, und bei der Ausdehnung der Abscesshöhle
und bei dem an schwer zugänglicher Stelle gelegenen tuberculösen
Herde als bedenklich erscheint, machte ich einen Versuch, wenigstens
den Austritt von Koth in die Abscesshöhle durch einen Eingriff zu
beseitigen.
Am 21. September war man in der Lage, folgenden Befund
zu erheben: In die Operationswunde am rechten Darmbein und
P ou par fischen Band münden zwei Fisteln nebeneinander: eine
führt gegen den Darm und entleert sich aus derselben Koth in
bald grösserer, bald geringerer Menge. Eine zweite führt senkrecht
in die Tiefe gegen das Becken und entleert sich aus ihr reichlich
Eiter. Dieser zweiten Fistel entspricht ein Hohlraum von bedeutendem
Umfange. Eine dritte Fistel ist an der Vorderseite des rechten
Oberschenkels nach innen vom Sartorius, nach aussen von den
Schenkelgefässen und entleert sich durch sie ebenfalls flockiger,
jedoch nicht mehr dünnflüssiger Eiter. Diese dritte Fistel steht
mit der zweiten, in den Psoasabscess führenden, noch in Ver¬
bindung, wie Injectionen mit Jodoformglycerin ergaben.
Am 11. October zweite Operation.
Hautschnitt am lat. Rande des rechten M. rectus (siehe Fig. 1).
Doppelte Unterbindung von Art. und V. epigastricae inf. Durchtrennung
der Fascie, des Peritoneums und Freilegung der beiden zur Darm¬
fistel führenden Schenkel des Darmrohres; das zuführende Darm¬
stück erweist sich als unteres Ileu m, das abführende als
Colon ascendens.
Des elenden Zustandes des Patienten halber entschloss ich
mich zu folgendem Vorgehen: Ich legte nach K o c h er’scher Naht¬
methode drei Finger medialwärts von der Flexura coli dextr. eine
breite Ileocolostomie*) an. Zum Verschluss des zu- und abführen¬
den Stückes des ausgeschalteten Darmantheiles legte ich nach einem
bereits mehrfach bekannten Vorgänge eine am Mesenterialansatze
des Darmes beginnende und daselbst wieder endigende circuläre
seromusculäre Ringnaht an, die den Darm in eine Anzahl von
Längsfalten legt, wenn sie geknüpft wird. Nach Anlegung dieser
beiden tabakbeutelartigen Nähte erscheinen zu- und abführendes
Stück der ausgeschalteten Darmpartie vom übrigen Darmtractus
abgeschnürt und gelingt es leicht, die Inhaltsmassen aus dem Ileum
in das Colon transversum durch die breite Ileocolostomieöffnung
durchzustreichen.
Dreifache Etagennaht der Bauchwunde mit Seide, darauf
Collodiumverband, um sicher eine Infection der Laparotomiewunde
vom Psoasabscess aus zu vermeiden.
*) Die Ileocolostomie wurde, wie aus Fig. 2 ersichtlich, nicht in iso-,
sondern in antiperistaltischem Sinne angelegt, da das vei dickte Mesenterium
keine bequeme Drehung der Schlinge erlaubte und ausserdem ein \ erschluss
der zur Fistel führenden Theile beabsichtigt wurde.
710
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 31
In derselben Narkose versuchte man, das rechte Knie- und
Hüftgelenk zu strecken, was ohne besondere Mühe gelang; Dauer
der Operation circa 50 Minuten.
Der durch seine Krankheit sehr heruntergekommene Patient
hat etwas beschleunigten Puls und erhält daher gleich nach der
Operation 500 cm:i physiologischer Kochsalzlösung subcutan injicirt.
Am 12. October erster dünner Stuhl.
Am 13. October Verbandwechsel der Psoasabscessfistel. Ein¬
spritzung von Jodoformglycerin; feste Tamponade mit Jodo¬
formgaze.
Am 14. October massige Secretion aus dem Abscesse; aus
der Darmfistel entleert sich nur eine geringe Menge eines zähen,
glasigen Schleimes.
Der Patient kann seine Zehen nicht bewegen. Es wird daher
der Volk m a n n’sche Stiefel, der nach der Streckung der Knie-
contractur angelegt worden war, entfernt, und findet nun eine
Anästhesie des ganzen Unterschenkels von den Zehenspitzen bis zum
Knie und Lähmung aller vom N. tibialis und peroneus versorgten
Muskeln.
Bei der Streckung der schweren Contracturen, die jedoch
mit geringem Kraftaufwand gelungen war, waren offenbar in
der Kniekehle die beiden Nerven oder höher der N. ischiadicus
gezerrt und beschädigt, und eine Blutung in die Scheide, die die
Leitung aufhob, erzeugt worden.
Zur Verhütung einer Spitzfussstellung wird ein kurzer Or-
gantinbindenverband in rechtwinkeliger Stellung des Fusses ange¬
legt; auch mit Massage und Faradisation der unteren Extremität
wird begonnen.
Am 17. October entleert sich aus der bisdaher
nur mehr Schleim secernirenden Darmfistel
neuerdings etwas K o t h, reichlich mit glasigem Schleim
vermischt.
Es wäre möglich, dass die geringe Menge von Fäcalmassen
noch aus dem ausgeschalteten Darmstücke herrührt.
Am 18. October entleert sich aus der Höhle des Ileopsoas-
abscesses viel weniger Eiter als früher.
Die Sensibilitätsstörung am Beine geht entschieden zurück.
Am 19. October, also acht Tage nach der Ileocolostomie und
beabsichtigten totalen Darmausschaltung, entleert sich aus dem aus¬
geschalteten Darmstücke eine bedeutende Menge Kothes.
Die Ausschaltung war also nur eine partielle — die Ringnähte
hatten ihre Schuldigkeit nicht gethan.
20. October. Es besteht wieder reichliche Eiterenlleerung
aus dem Psoasabscesse.
Am 22. October entleert sich viel Koth und ein Ascaris
lumbrieoides aus der Darmfistel, in die mit Jodtinctur getränkte
Gazestreifen eingelegt werden.
25. October. Wegen starker Kothentleerung und der Besorg-
niss einer schweren Infection des Psoasabscesses wird wieder täglich
zweimal verbunden.
28. October. Die sorgfältigste Tamponade des Psoasabscesses
mit Jodoformgaze bewirkt, dass die Eiterabsonderung aus diesem
eine äusserst geringe geworden ist. Dafür aber fliesst aus der
Darmfistel constant eine beträchtliche Menge dünnbreiigen Kothes
ab. Trotzdem die grösste Masse der Faces per anum abgeht und
täglich zweimalige Stuhlentleerung erfolgt, geht doch ein beträcht¬
licher Antheil des Kothes trotz der Ileocolostomie durch die Darm¬
fistel in die Psoasabscesswunde. Da sich aber trotzdem der Pa¬
tient in den letzten 14 Tagen erheblich erholt hat, so entschloss
ich mich zu einem dritten Eingriff, zur Durchtrennung des
zu- und abführenden Endes des partiell ausge¬
schalteten Darm stückes mit blinder Vereinigung der vier
Enden und beabsichtigte ich durch diese Operation endgiltig ein
Ausfliessen von Koth in den Psoasabscess zu vermeiden und eine
^leocol OS i 079216
Friede Ye re 1721-
ywuy it <7 len 77i n.
dolori/
^4'usgescfyileles
C'olonslück
tfoecuTTifisiel
Psoasfislel
rfusgescäctlleles
(Jleujnscücfc
Scherz frei
Fig. 3.
Zweite Laparotomie.
Nr. 31
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
711
totale Darmausschaltung mit einem Sicherheitsventil,
der jetzt bestehenden Darmfistel, anzulegen.
Dritte Operation am 31. October in ruhiger Aethernarkose
ohne Zwischenfall (siehe Fig. 3). Es wird abermals am äusseren
Rectusrande rechterseits laparotomirt neben der früheren Narbe.
Nach Eröffnung des Peritoneums findet man über der Ileocolostomie-
stelle das Netz in Form einer Kappe gelagert. Die Anastomose
selbst erweist sich als völlig reactionslos. Sie war bequem für
einen Finger durchgängig und sind aussen am Peritoneum keine
entzündlichen Erscheinungen nachzuweisen. Ein Stück weit von
der Anastomose gegen die Darmfistel zu sieht man zarte, frische
Adhäsionen sowohl am Colon, als auch am Ileum. Nach der
Durch trennung einiger Verwachsungen wird das Colon an der
Flexura hepatica, das Ileum circa 12 cm distalwärts von der Ileo-
colostomieöffnung mit G u s s e n b a u e r’schen Darmklemmen ver¬
schlossen und mit der Scheere durchtrennt. Dadurch erscheint ein
Stück Darm von ungefähr 40— 45 cm Länge, bestehend aus dem
ganzen Colon ascend., dem Cöcum, Wurmfortsatz und 20 — 25 cm
Ileum aus der Circulation ausgeschlossen.
Sowohl das Ileum, als das Colonende des ausgeschalteten
Stückes werden in sich selbst durch doppelreihige fortlaufende
Naht verschlossen. Dagegen wird das Colon transversum und cen¬
trale Ileumstück, benachbart der Enteroanastomose, nicht gesondert
vereinigt, sondern eine axiale Vereinigung zwischen
diesen beiden Darmtheilen vor genommen, so dass
nunmehr der Darminhalt einen doppelten Weg, 1. die axiale Ver¬
einigung vom unteren Ileum mit Colon transversum und 2. die bei
der früheren Operation angelegte Ileocolostomie zur Benützung
vorfindet. Die in diesem Falle vorgenommene Darmarrs Schal¬
tung ist im Sinne Salzer’s2) eine totale, und ist die in
den Psoasabscess mündende Fistel ein offengelassenes Sicherheits¬
ventil für den ausgeschalteten Darmantheil.
Wieder wird die Bauchhöhle in dreifacher Etagennaht solid
verschlossen. Der nach einstündiger Operation etwas collabirte Pa¬
tient bekommt 600 cm3 Kochsalzlösung subcutan. Am Nachmittag
ist der Puls 140, die Temperatur 37'5°. In die Darmfistel einge-
spritzte physiologische Kochsalzlösung fliesst sogleich vollkommen
rein ab.
1. November. Temperatur 36‘7°; Puls 120.
Mehrmaliges Erbrechen. Aussehen gut. 500 cm3 Kochsalzlösung
subcutan verabfolgt.
3. November. Aus der Darmfistel entleert sich keine Spur
von Koth, sondern nur sehr wenig zäher Schleim; aus der Psoas-
abscesswunde nur wenig Eiter.
Am 6. November ist die Eiterentleerung aus dem Psoas-
abscesse sehr gering. Aus dem ausgeschalteten Darmstücke findet
nur eine geradezu minimale Schleimsecretion statt.
Die Eiterabsonderung aus dem Psoasabscesse wird unter
Jodoformglycerinbehandlung im Verlaufe der nächsten zwei
Wochen immer geringer. Die Fistel am Oberschenkel schliesst sich
sehr rasch.
Dem Vorgänge Narath’s3) folgend, versuchte man die ge¬
ringe Secretion der Darmschleimhaut noch zu vermindern durch
Einführen von in Argent, nitric., in Chlorzink, in Jodtinctur und in
l%ige Formalinlösung getauchten Gazestreifen.
Nach jedesmaliger solcher Behandlung secernirte die Darm¬
fistel etwas mehr; schliesslich trat aber eine dauernde bedeutende
Verminderung der Secretion und schliesslich ein völliger Verschluss
der Fistel ein.
26. November. Die Höhle des Psoasabscesses hat sich unge¬
mein verkleinert, so dass nur mehr eine schmale Fistel in der
Richtung nach hinten und abwärts zum Becken führt. Einführung
von Hetokresol-Jodoformstäbchen. *)
Am 5. December. Die Sensibilität im Bereiche des ganzen
Unterschenkels ist zurückgekehrt, zum Theile auch die Motilität. Es
werden heisse Umschläge in der Kniekehle, B i e r’sche Stauungs¬
hyperämie, sowie Faradisation angewendet.
7. December. Patient sieht täglich besser aus und nimmt be¬
deutend an Gewicht zu. Sowohl die Psoas-, als auch die Schenkel-
fistel werden mit Jodoform-Hetokresolstäbchen behandelt. In die nur
*) Das von Länderer 4) empfohlene II e t o k r e s o 1 verwenden
wir seit längerer Zeit an der Klinik zur Behandlung tuberculöser Local-
affectionen — manchmal mit sehr gutem Erfolge.
ab und zu einige Tropfen Schleimes secernirende Darmfistel werden
bald in Jodtinctur, bald in Lapislösung getauchte Streifen von Jodo¬
formgaze eingeführt.
9. December. Der Patient sieht täglich besser aus. Es wird
das ganze Bein massirt und am Oberschenkel täglich B i e Esche
Stauungshyperämie angewendet. Die Darmfistel ist solid
geschlossen. In den Psoasabscess und die Schenkelfistel
werden täglich Jodoformstäbchen eingeführt, und besteht nur mehr
eine minimale Secretion aus beiden.
Am 15. December wird eine kleine schwappende Stelle unter
der Schenkelfistel in der Narbe gespalten, etwas Eiter entleert und
die Höhle mit Jodoformgaze tamponirt.
Am 23. December. Die Psoasfistel ist nur mehr 2 — -‘6 mm
gross, und dringt die Sonde in der Richtung der ehemaligen Darm¬
fistel etwa 2 cm tief ein. Die Psoasabscesshöhle ist ganz klein und
ebenfalls viel seichter geworden und secernirt nur mehr minimal.
Die Schenkelfistel hat sich völlig geschlossen, die neulich incidirte
Stelle granulirt gut.
Am 7. Januar hat sich die Fistel für den Psoasabscess so
weit verengert, dass sie nur mehr für eine dünne Sonde durch¬
gängig ist.
A m 30. Januar sind die Fisteln völlig zuge¬
heilt. Auch die Laparotomiewunde, aus der sich einige Fascien-
nähte ausgestossen hatten, ist vollkommen verheilt, und erhält der
Patient eine Bauchbinde. Es bestehen keinerlei Schmerzen mehr
im Becken des Patienten und hat der Kranke in der Zwischenzeit
einen sehr guten Appetit entwickelt und an Körpergewicht um ein
Beträchtliches zugenommen.
Am 20. Februar erhält der Patient einen Blaubindenwasser¬
glasverband in rechtwinkliger Stellung für den Fuss und wird zur
weiteren Behandlung auf die chirurgische Abtheilung transferirt.
28. Februar. Es besteht nur noch in der Gegend der
Laparolomiewunde eine 2 cm lange granulirende Stelle, die mit
Lapissalbe behandelt wird. Der Patient ist im Stande, mit seinem
Blaubindenverband sehr gut herumzugehen, hat nicht die geringsten
Beschwerden und hat an Gewicht in den letzten zwei Monaten um
circa 15% zugenommen.
Die Lähmung im Gebiete des N. tibialis ist nahezu voll¬
kommen verschwunden, während im Gebiete des N. peroneus eine
solche noch zu constatiren ist.
Und so erhält der Patient bei seiner Entlassung am 3. Januar
einen kleinen Schienenhülsenapparat, der sein Bein in normaler
Stellung fixirt und das Entstehen einer Spitzfussstellung verhütet.
Im Juni 1. J. stellt sich der Patient Sch. auf unsere
Aufforderung im Krankenhause vor, und so konnten wir fol¬
genden erfreulichen Befund feststellen:
Patient hat runde Wangen, Fettansatz, sieht sehr gesund und
kräftig aus. Er kann Alles essen und trinken, kann stundenlang
herumgehen, ohne zu ermüden, kann in seinem Elternhause alle
von ihm als Bauernsohn geforderte Arbeit leisten. Sein Gang ist
noch etwas hinkend, der vorhandenen Peroneuslähmung, welche
derzeit noch nicht vollständig behoben ist, entsprechend. Doch geht
er schön und sicher ohne Beihilfe eines Stockes etc.
Das Abdomen ist nicht aufgetrieben; er trägt eine Bauch¬
binde, und man sieht eine etwa 20 cm lange Narbe (siehe Fig. 1).
Zwei Querfinger breit nach rechts von der Mittellinie eine zweite
parallel dem Po u par fischen Bande, ebenfalls 20 cm lang, und
eine dritte an der Vorderfläche des rechten Oberschenkels, etwa
10 cm lang, dem Innenrande des M. sartorius entsprechend. Beim
Husten wölben sich die Narben ein wenig vor, nirgends aber be¬
steht eine Hernia ventralis. Der Bauch ist ganz weich und k a n n
man nirgends einen wurstförmigen Tumor, oder
auch nur eine Resistenz am Abdomen des Patienten
fühlen.
Etwas unter Nabelhöhle, ungefähr in der Mitte zwischen der
Narbe, die parallel zum Rectus verläuft, und jener, die dem Darm¬
bein folgt, fühlt man bei ruhiger Rückenlage und vollständig er¬
schlafften Bauchdecken eine kugelige, sich etwas elastisch anlühlendc
Geschwulst von etwa Kleinapfelgrösse, dieselbe ist nicht vei-
schieblich, auf Druck durchaus nicht schmerzhaft, und lässt sich
bei stärkerem Drucke etwas verkleinern. In inguine sind rechter¬
seits einige geschwellte Lymphdrüscn vorhanden. Die Laparotomie-
712
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 31
wunde ist linear vereinigt, die Wunde, dem Darmbeinkamm und
P o u p a r t’schen Bande folgend, sowie jene an der Vorderfläche
des Oberschenkels sind strahlig und sehr verbreitert. Die Unter¬
suchung der inneren Organe ergibt im Uebrigen jetzt nichts Ab¬
normes. Die Percussion des Abdomens ergibt bei ihm folgende
Verhältnisse: In der Oberbauchgegend überall hellen, hohen, tym-
panitischen Schall, in der Unterbauchgegend auf beiden Seiten
gleichmässig einen gedämpften, tympanitischen Schall.
Musculatur des Oberschenkels und Unterschenkels rechts
atrophisch, besonders am Unterschenkel. An der Ferse findet sich
noch ein leichter Decubitus, vom unteren Drittel des Unter¬
schenkels angefangen bis nach abwärts ist ein eigenthümliches,
speckig sich anfühlendes Oedein vorhanden.
Dorsal- und Plantarflexion des Fusses sind derzeit noch nicht
in grösserem Ausmasse möglich. Pro- und Supination gar nicht.
Beugung und Streckung im Kniegelenke frei, ebenso die Bewegungen
im rechten Hüftgelenke.
Die so erfreuliche Besserung des Allgemeinzustandes und
Lungenbefundes ist wohl auf die sehr reichliche Ernährung
und die möglichst weit durchgeführte Freiluftbehandlung zurück¬
zuführen.
Patient wird angewiesen, bei den ersten Erscheinungen
von Seite seiner Bauchorgane sich an die Klinik zu begeben,
da auch bei ganz gesundem versenktem Darm späterhin Störungen
Vorkommen können. (Schluss folgt.)
Ein Fall von Paraphenylendiaminvergiftung.
Von Frauenarzt Dr. Emil Poliak.
Das zur Neige gehende Jahrhundert hat mit seinen Be¬
strebungen, auf allen Gebieten möglichst Vollkommenes zu
leisten, auch den Markt mit kosmetischen Mitteln überschwemmt.
Das Ergrauen der Haare durch harmlose und bewährte Mittel,
wie Argent, nitric., Acid, pyrogallic., und Andere mehr zu ver¬
decken, genügt dem verfeinerten Geschmack nicht mehr. Auf
der Suche nach Neuem »und schon deshalb Besserem« verfielen
unsere Kosmetiker auf Mittel, die zu wiederholten Malen
Toxikologen Gelegenheit boten, ihre warnende Stimme gegen
allzu ausgiebigen Gebrauch dieser Präparate zu erheben. Eines
der gefährlichsten dieser Giftstoffe jedoch ist das Paraphenylen¬
diamin, ein in seinem Eärbungscoeffieienten geradezu unüber¬
trefflicher Körper, der erst vor wenigen Jahren wegen einer
unterlaufenen Intoxication Anlass bot, in einer von Puppe
aus der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde in Berlin
hervorgegangenen Publication des Näheren gewürdigt zu
werden.
Eine neuerdings von mir beobachtete Vergiftung dieser
Art lässt mich dem Wunsche des Autors der erwähnten
Arbeit nach Veröffentlichung gleichartiger Vergiftungen
näher treten.
Am 4. April 1900 wurde ich Nachts zu der in meiner
gynäkologischen Behandlung stehenden Patientin Frau M. B. geholt.
Dieselbe klagte über heftiges Brennen am Kopfe, auf der
Stirne und im Nacken, sowie über brennende Schmerzen in den
Augen.
Die nähere Besichtigung ergab eine über den gesammten be¬
haarten Theil des Kopfes ausgedehnte und sich einerseits auf die
Stirne bis zur Nasenwurzel, andererseits auf den Nacken bis in
die Hegend des siebenten Halswirbels ersteckende ekzematöse Ent¬
zündung der Haut, die an einzelnen Stellen, so namentlich an der
vorderen Haargrenze, bis zur Bildung kleinerbsengrosser Pusteln,
respective entsprechend grosser Geschwürsflächen gediehen war.
Zerstreute derartige Erosionen auf der innerhalb dieses ganzen Be¬
reiches diffus geschwellten und gerötheten Haut waren überdies
am Nacken mit Leichtigkeit nachweisbar. Auffallend an der im
Bette liegenden Patientin war ein ausgesprochener Exophthalmus,
vergesellschaftet mit hochgradigem Thränenfluss. Die Conjunctiva
bulbi war entzündlich geröthet, jene der Augenlider ödematös, so
dass ein ziemlich bedeutender Grad von Chemosis bestand, die
Lider beider Augen stark geschwollen. Temperatur 376, Puls 82.
Der Harn, den ich sofort einer Prüfung auf Eiweiss unter¬
zog, liess sowohl bei der Kochprobe, als auch bei der Ferro-Gyan-
wasserstoffprobe Gehalt an Albumen nicht erkennen.
Die Intensität der Hautaffeclion, die im Bereiche der be¬
haarten Schädeldecke ihren höchsten Grad erreichte, einerseits —
die stark ergrauten, sonst tiefdunkel schwarzen Haare des Toupets,
in diesem Falle der Diagnose erwünschte Verräther andererseits,
Hessen den Verdacht zur Gewissheit reifen, dass es sich wohl im
vorliegenden Falle um den Effect eines zur Schwarzfärbung des
Stirnhaares angewandten kosmetischen Präparates handle.
Erst die der Patientin gemachten Vorstellungen bezüglich der
Bekanntgabe des angewandten Mittels gaben ihr die Sprache wieder
und nun konnte ich noch folgenden Nachtrag zur Anamnese er¬
heben:
Am 11. October wandte die Dame zur Färbung ihres er¬
grauten Stirnhaares das von einem Wiener Friseur erzeugte und in
den Reclame-Inseraten unserer Tagesblätter als »vollkommen un¬
schädlich« gepriesene Haarfärbemittel »Phoenix« an.
Ungefähr sechs Wochen später, also Ende November, wieder¬
holte sie diese Procedur — auch diesmal ohne irgend welches
Accidens.
Zum dritten Male wandte sie »Phoenix« am 3. April Vor¬
mittags um 1 1 Uhr an. Bereits am Abend dieses Tages verspürte
Patientin Brennen und Jucken am behaarten Theile des Kopfes,
der Stirne und des Nackens.
Am 4. April Morgens fiel der Umgebung der Frau die »wie
aufgebrannte Haut« an der Stirne und im Nacken auf, die bereits
zu dieser Zeit deutlich geschwellt gewesen sein soll. Patientin, die
am Nachmittage dieses Tages gesellschaftlichen Verpflichtungen
naehkommen wollte, applicirte während des Vormittages kalte Um¬
schläge und verdeckte sodann die entzündeten Hautpartien mittelst
Aufträgen von Puder. Schon in den ersten Nachmittagsstunden
jedoch begann die Entwicklung des Oedems an den Augenlidern,
welches nunmehr bis zum Abend rapid zunahm und den unmittel¬
baren Anlass zu meiner Consultation gab.
Ich leitete nun sofort eine energische Schwitzcur ein und
steigerte durch Darreichung von Fol. uvae ursi und Herb, cochlear,
armor, die Diurese.
5. April Bei der Morgenvisite wies die in profusen Schweiss
gebadete Patientin einen deutlich merklichen Rückgang der Haut-
affection auf, wogegen die Oedeme der Augenlider in gleicher
Intensität fortbestanden. Die unteren Augenlider beider Seiten
hingen wie schlaffe Säcke herab und verliehen zugleich mit dem
hochgradigen Thränenfluss und der Chemosis der Patientin einen
für die Angehörigen beängstigenden Anblick. Temperatur 37'4°,
Puls 80. Die Diurese bedeutend. Das Allgemeinbefinden vollkommen
ungestört.
Ich verordnete nunmehr die Application eines Streupulvers
auf die erkrankten Hautpartien und Excitantia.
Von dem vorhandenen Harne wurden circa 200 cm3 mit dem
Ersuchen um gefällige Analyse an das k. k. pathologisch-chemische
Institut übersandt.
Am Abende desselben Tages waren im Anschlüsse an eine
neuerlich eingeleitete Schwitzcur die Oedeme an den Augenlidern
um ein Bedeutendes zurückgegangen, die Chemosis war nahezu
vollkommen geschwunden. Die entleerte 24stündige Harnmenge
betrug über 3 l. Patientin fühlte sich, ausgenommen eine nicht er¬
hebliche Schwäche, vollkommen wohl. Temperatur 37’8°, Puls 86.
6. April. Die oben geschilderten Bläschen der ekzematösen
Hautpartien erscheinen vollständig eingetrocknet, die Geschwürs¬
flüchen gereinigt, die immer noch leicht geröthete Haut zeigt unter
Behandlung mit Streupulver deutliche Abschuppung. Die Lidödeme
sind bis auf geringe Reste vollständig zurückgegangen, die Chemosis
ist geschwunden; nur leichte Injection der Gefässe an der Conjunct,
bulbi et palpebrarum deutet auf die bestandenen Veränderungen
hin. Patientin befindet sich subjectiv wohl, doch in Folge der
energischen Schwitzcuren ziemlich geschwächt. Temperatur und
Puls normal.
7. April. Patientin verliess nach Rückgang sämmtlicher Er¬
scheinungen das Bett.
Das zur Verwendung gelangte Haarfärbemittel »Phoenix« be¬
steht aus zwei gleich grossen, in einem gemeinsamen Carton sus-
pendirten Flacons, deren eines (A) den Farbstoff, eine undurch-
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sichtige, tiefdunkelbraune, in dünnerer Lösung und bei Luftzutritt
dunkelviolett nachfärbende Flüssigkeit von scharf ammoniakalischem
Gerüche, deren anderes (B) das Fixativ, eine wasserklare Flüssig¬
keit, wahrscheinlich Wasserstoffsuperoxyd, enthält.
Eine diesbezügliche Mittheilung des Herrn Apothekers
C. K 1 e m e n s über unsere modernen Haarfärbemittel liess den
Verdacht in mir entstehen, es handle sich im vorliegenden Falle
um eine Vergiftung mit Paraphenylendiamin. Thatsächlich konnte
ich ohne besondere Schwierigkeit mittelst der noch des Näheren
zu schildernden Laut h’sehen Reaction die Anwesenheit von Para¬
phenylendiamin in unserem Farbstoffe nachweisen, so dass der
überaus positive Ausfall jener charakteristischen Reaction eine
spätere private Miltheilung des Erzeugers, zufolge deren es sich
beim »Phoenix« im Wesentlichen um eine 6%ige Paraphenylen¬
diaminlösung handle, leicht entbehrlich gemacht hätte.
Habe ich somit einerseits im Paraphenylendiamin jenen
Körper ermittelt, dessen Existenz unserer Kenntniss gemäss dem
»Phoenix«-Farbstoffe toxische Eigenschaften zu verleihen geeignet
ist, so musste ich noch andererseits, um einwandfrei den ursäch-
sichen Zusammenhang zwischen der Haarfarbe und der Toxikose
zu beweisen, den Nachweis erbringen, dass die an meiner Patientin
geschilderten Erscheinungen thatsächlich durch die Gegenwart des
Paraphenylendiamin hervorgerufen sind. Dieser Nachweis, den ich
selbstverständlich nur am Versuchsthiere führen konnte, lässt nun
in der Analogie der Vergiftungsbilder keinen Zweifel zu und stellt
dadurch die Diagnose der Paraphenylendiaminvergiftung auf
sichere Basis.
Thierversuche.
I. Weisses Kaninchen. Gewicht 400 g.
a ) 8. Mai 12 Uhr Mittag. Enthaarung der rechtsseitigen
Schädelhälfte mittelst Auripigment. Scarification mit nachfolgender
Einreibung von »Phoenix«.
4 Uhr Nachmittags. Die nächste Umgebung der schwarzbraun
gefärbten Inunetionsslelle zeigt geschwellte Ränder und fühlt sich
im Vergleich zur linken Schädelhälfte bedeutend wärmer an. Sonst
keinerlei Reaction.
h) 9. Mai 10 Uhr Vormittags. Enthaarung des linken Löffels.
Subcutane Injection von lg »Phoenix« (=0'06</ Paraphenylen¬
diamin) in das untere Drittel dieses Löffels. Im Anschlüsse an die
Injection tritt die von der Imbibirung herrührende Schwellung auf.
liy2 Uhr Vormittags. Starkes Oedem der linken Stirnhälfte.
Protrusio bulbi bei starker Abgeschlagenbeil. Die ödematöse Partie
zeigt deutlich erhöhte Temperatur. Die Stelle der Injection selbst
und deren nächste Umgebung zeigen die für »Phoenix« charakte¬
ristische Färbung.
12V2 Uhr Nachmittags. Ausgesprochen komatöser Zustand.
Eine Viertelstunde später erfolgt nach einem Streckkrampf der ge¬
summten Körpermusculatur der Tod.
Bei der Section konnte ich ausser dunkelbrauner Verfärbung
des subcutanen Zellgewebes im weiteren Umkreise der Einstich¬
stelle, sowie starker Blähung des gesummten Darmschlauches nichts
Auffälliges finden. Niere und Leber fand ich vollständig normal.
Auch gelang es mir, weder am Endocard noch an der Pleura Ek-
chymosen nachzuweisen.
II. Weisses Kaninchen. Gewicht 350 g.
a ) 10. Mai 103/4 Uhr Vormittags. Enthaarung des Nackens,
Subcutane Injection von 0 018 g reinem p-Phenylendiamin. Im An¬
schlüsse an die Injection tritt Steigerung der Athmungsfre-
quenz auf.
4 Uhr Nachmittags. Die Umgebung der Injectionsslelle er¬
scheint dunkelviolett verfärbt. Leichte Protrusio bulbi, keine Che¬
mosis bei ausgezeichnetem Allgemeinbefinden.
b) 11. Mai 10 Uhr Vormittags. Subcutane Injection von
004 <7 p-Phenylendiamin in wässeriger Lösung unter die Rücken¬
haut. Im Anschlüsse an die Injection tritt starke Fluxionshyper-
ämie zu den Auricularästen ein, in Folge deren sich die Löffel
äusserst heiss anfühlen.
10y2 Uhr. Beginnende Protrusio bulbi.
1 Uhr Nachmittags. Hochgradige Steigerung der Athmungs-
frequenz. Ausgesprochenes Glotzauge. Die Bulbi selbst von steinharter
Consistenz. Die Pupillarreaction erhalten. In Folge tonischen Krampfes
der Kaumuskeln hängt die durch die Nagezähne incarcerirte Zunge
als livide und unförmliche Masse permanent aus der Mundhöhle
hinaus. Das Thier verkriecht sich in seinen Ruhewinkel und reagirt
auf äussere Reize.
2 Uhr Nachmittags. Die Abwehrbewegungen auf äussere Reize
sind bedeutend herabgesetzt.
3 Uhr Nachmittags. Komatöser Zustand. Die Alhmung ver¬
langsamt und oberflächlich. Die Protrusio bulbi ist geschwunden.
Die Pupillen sind nun maximal dilatirt, reagiren jedoch schwach.
Der Tonus des Bulbus stark herabgesetzt.
7 Uhr Abends. Der komatöse Zustand etwas gebessert, das
Thier reagirt wieder lebhafter auf äussere Reize.
11 Uhr Nachts. Grössere Agilität mit lebhaften Abwehrbewe¬
gungen. Pupillen noch immer maximal dilatirt; die Iris zeigt starke
Gefässinjection. Die Corneae besitzen wieder ihren früheren Glanz.
Die rechte Lidspalte normal weit, die linke verengt; die Conjunc¬
tiva bulbi dieser Seite erscheint stark injicirt.
Hochgradiger Thränenfluss an beiden Augen. Die Zunge noch
in gleicher Weise incarcerirt.
12. Mai 7 Uhr Morgens. Das Thier wird am Morgen circa
8 m von seinem allseits hoch eingefriedeten Käfig entfernt gefunden.
Es ist scheinbar bei bestem Wohlbefinden.
8 y2 Uhr Morgens. Nach einer kurzen Folge plötzlich einge¬
tretener klonischer Krämpfe tritt neuerdings Koma ein.
10 Uhr Vormittags. Tiefes Koma mit oberflächlicher Athmung,
das um 12 Uhr mit Exitus letalis endet.
Section: Die Injection der Conjunct, bulbi ist geschwunden.
Die Thränendrüse beiderseits macht den Eindruck der Schwellung,
Pigmenlirung derselben konnte ich nicht finden.
Die Lungen weisen an zwei Stellen subpleurale Ekchymosen
auf; das Herz in seinen Räumen blutleer.
Die Leber zeigt das Bild der Stauung, sie erweist sich gross
und blutreich; die cenlralen Partien der Acini erscheinen dunkel
livid, die peripheren hell.
Die Milz bietet nichts Besonderes dar.
Die Nieren zeigen beiderseits das Bild der trüben Schwellung.
Die prall gefüllte Blase enthält hellen, nicht bluthaltigen Harn.
Die Reaction des Versuchsthieres auf die subcutane Ein¬
fuhr des »Phoenix« -Farbstoffes und später der wässerigen
Lösung von reinem Paraphenylendiamin, sowie deren Analogie
mit den geschilderten Ausfallserscheinungen an meiner Patientin
sind derart charakteristisch, dass der negative Befund unserer
Base oder deren Spaltungsproducte im entleerten Harn gegen¬
über der Wucht der überzeugenden Beweismomente ebenso
nur von nebensächlicher Bedeutung sein kann, wie im ent¬
gegengesetzten Falle der positive Befund kaum die Beweis¬
kraft der Untersuchungsresultate wesentlich zu stützen ver¬
mocht hätte.
Die Analyse des an das k. k. pathologisch-chemische
Institut geleiteten Harnes, für deren Vornahme Herrn Hofrath
Prof. Dr. Ludwig an dieser Stelle meinen ergebensten
Dank auszusprechen mir eine angenehme Pflicht ist, besagt:
»Der Harn hat ein specifisches Gewicht von P026, ist von
rein gelber Farbe und getrübter Durchsichtigkeit. Seine Reaction
auf Lakmus ist sauer.
Das in mässiger Menge sich bildende Sediment besteht aus
sehr zahlreichen Kryslallen von oxalsaurem Kalk, Lymphkörperchen,
Plattenepithelzellen und spärlichen hyalinen Cylindern. Der Gehalt
an Indican ist nicht vermehrt, die übrigen Normalstoffe in Mengen¬
verhältnissen eines etwas concentrirten Harnes. Albumen in mini¬
malsten Spuren, quantitativ nicht bestimmbar.
Urate, kohlensaures Ammoniak, Knochenerde, Gallenfarbstoffe,
Tyrosin und Leucin, Aceton, Acetessigsäure fehlen. Blutfarbstoff
fehlt, Zucker in minimalen Spuren, quantitativ nicht bestimmbar.
Spaltungsproducte von Paraphenylendiamin waren nicht auffindbar.
Das Paraphenylendiamin, auch Paradiamidobenzol (Cc H,
[N H2]2) ist, wie der Name besagt, ein Abkömmling des Benzol¬
kernes, dessen beide entsprechend der »Para«-stellung einander
gegenüberstehenden H-Atome der C H-Gruppe durch die Amid¬
gruppe substituirt sind:
714
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CH
C H /\ C H
CH^CH
CH
Eigenschaften : »Es ist etwas in Wasser, leichter in Wein¬
geist und Aether löslich, krystallisirt aus letzterem in Tafeln,
welche bei 140° schmelzen, in Blättchen sublimiren und bei
267° sieden.«
Entstehung: »Phenylenhydrazin, mit HCl behandelt,
liefert neben wenig Ammoniak und Anilin ein Chlorhydrat,
dessen Base nach dem Umkrystallisiren bei 140° schmilzt.
Durch die Lauth’sche und die ludaminreaction wurde die¬
selbe weiterhin als Paraphenylendiamin charakterisirt. «
Reaction: »Durch Oxydation von Paraphenylendiamin in
saurer, schwefelwasserstoffhältiger Lösung mit Eisenchlorid
entsteht Laut li’s Violett, ein schwarzgrünes, metallisch-glän¬
zendes Pulver, das in kaltem Wasser schwer, in kochendem
hingegen leicht mit violetter Farbe löslich ist.«
Das Paraphenylendiamin ist nach einem am 26. Oc¬
tober 1888 von Dr. Hugo Erdmann erwirkten reichs-
deutschen Patente als Färbungsmittel für Haare und Federn
bei nachheriger Behandlung der durchtränkten Stellen mit
einem Oxydationsmittel in Deutschland gesetzlich geschützt. ^
Nach Kobert erzeugt Paraphenylendiamin »Schwellung
und ödematöse Infiltration des subcutanen Gewebes, die am
Auge bis zum Unsichtbarwerden des Bulbus sich steigern
kann, um später wieder vollkommen zu verschwinden.«
Dubois und Vignon berichten über die Ausfallser¬
scheinungen:
»Elle produit pen apres son introduction dans l’organisme
par injection souscutanee dans un point quelconque du corps
une exophthalmie extraordinaire. L’oeil sort peu a pen de
l’orbite; la conjonctive pale et oedematiee forme une chGnosis
enorme, qui masque presque completement la cornee. Tout le
tissu intraorbitaire est infiltrA «
Die beiden eben genannten Autoren heben die auf Oxy¬
dation des Paraphenylendiamins beruhende Braunfärbung der
Gewebe und des Blutes hervor, die namentlich am Zahnfleische
und an der Zunge deutlich erkennbar ist. Eine vollständige
Zersetzung findet nicht statt, da die Base unzersetzt in Nasen¬
schleim, Speichel und Harn übergehen soll.
Die Ivenntniss der specifischen Wirkung des Para¬
phenylendiamin verdanken wir den einschlägigen Arbeiten
Kober t’s und der bereits oben citirten Publication Pupp e’s.
Hieraus ergibt sich, dass wir im Paraphenylendiamin ein Gift
mit specifischer Wirkung auf die rothen Blutkörperchen und
deren Farbstoff besitzen..
Schon Kobert hebt in seiner citirten Arbeit hervor,
dass bei der Mischung eines der drei Phenylendiamine (Ortho-,
Meta- und Paraphenylendiamin) mit Blut extra corpus Braun¬
färbung und Bildung von Methämoglobin erfolge. Im Orga¬
nismus erfolge auch Braunfärbung, aber Methämoglobinbildung
tritt hier nicht oder nur in geringem Grade ein. Diese speci-
flsche Einwirkung auf das Blut seitens des Paraphenylendiamin
tritt sowohl bei makro-, als auch mikro-, hauptsächlich aber
spectroskopischer Untersuchung hervor.
Aus der ausführlichen Arbeit Pupp e’s über den Ein¬
fluss dieses Giftstoffes auf das Blut entnehmen wir, dass eine
geringe Blutmenge, im Reagensglas mit einer circa 20%igen
Paraphenylendiaminlösung versetzt, sich sofort verändert, indem
einerseits ein Farbenumschlag ins Schwarzbraune, andererseits
prompte Coagulation des Blutes eintritt, so dass das coagulirte
Blut beim vollständigen Umdrehen des Reagensglases am
Boden haften bleibt. Wird dieses Blutcoagulum durch Zusatz
von Wasser unter kräftigem Schütteln verdünnt, so erhält
man eine braune Flüssigkeit, in der unregelmässig gestaltete
Fetzen suspendirt sind. Die so gewonnene Lösung zeigt nun
bei spectralanalytischer Untersuchung ein ungemein charakte-
') Das ertheilte Patent soll jedoch inzwischen bezüglich der Behand¬
lung »lebender Haare« wieder rückgängig gemacht worden sein.
C— N H,
C H /\ C H
CH x/CH
C-N H,
ristisches Verhalten: »Am äussersten Ende von Roth (zwischen
den Frauen hofe Eschen Linien A und B} näher gegen B
zu beginnend) erscheint ein breiter, dunkler Streifen, der bis
an die Gegend des Metbämoglobinstreifens (zwischen C und D
näher zu C gelegen) heranreicht, zugleich tritt eine Ver¬
dunkelung des rechtsseitigen Spectralendes in »Grün« ein. Bei
Zusatz von Schwefelammonium zu dieser Paraphenylendiamin-
Blutlösung verändert sich dieser Befund, indem jetzt das
Spectrum zweitheilig, identisch dem Hämochromogenspectrum
wird (ein schmälerer Absorptionsstreifen zwischen B und E
und ein etwas breiterer, hellerer Absorptionsstreifen an Stelle
der Fr a unhofe Eschen Linien E und b).«
Das geschilderte spectroskopische Verhalten veranlasst
nun Puppe, der Behauptung Kober t’s, der das Resultat der
Einwirkung des Paraphenylendiamin auf Blut in einer Um¬
wandlung des Oxyhämoglobins in Methämoglobin ersieht, ent¬
gegenzutreten und die Umsetzung des Hämoglobins in saueres
Hämatin als den viel häufigeren Effect jener toxischen Eigen¬
schaften des Paraphenylendiamins hinzustellen.
Aber auch der mikroskopische Befund des Blutes zeigt
die deletäre Wirkung dieses Blutgiftes. Die Giftwirkung
äussert sich hier in einer allmälig zunehmenden Entfärbung
der rothen Blutkörperchen. Die weiterschreitende Degeneration
der Erythrocyten ist in beginnender Ballenbildung mit blass-
röthliehem Colorit und schliesslichem Zerfall in Pigmentschollen
mit Bildung von nadelförmigen Krystallen deutlich erkennbar.
Und wie steht es nun mit der Wirkung dieses Giftes an Ort
und Stelle? Wir müssen hier entsprechend den von Puppe
und mir an Thieren angestellten Versuchen hervorheben, dass
bei der beobachteten Verschiedenheit in der Application des
Giftes je nach subcutaner, epi- oder endermatischer und
schliesslich intravenöser Einfuhr in den Organismus die toxi¬
sche Eigenschaft des Paraphenylendiamin bei ersterer Appli-
cationsart am stürmischesten verlief — doch zeigt der dieser
Arbeit zu Grunde liegende Fall, dass auch die epidermatisclie
Aufnahme zu den bereits oben geschilderten Ausfallsei*-
scheinungen führt.
Ich habe früher dem Berichte über die angestellten Thier¬
versuche keinerlei Commentar hinzugefügt, sondern mich an
jener Stelle begnügt, einfach die nackten Thatsachen zu regi-
striren. Ehe ich jedoch auf die Schilderung der klinischen
Vergiftungsbilder näher eingehe, sei es mir hier gestattet, die
Resultate der Beobachtung meiner Versuchsthiere in Kürze
zu resumiren.
«) Die epi- und endermatische Application des Gift¬
stoffes, respective seines Vehikels, führt beim Versuchsthiere,
offenbar wegen zur Resorption gelangter allzu geringer Menge,
dementsprechend nur zu geringer Reaction, die möglicher Weise
bei wiederholten gleichartigen Applicationen in ihrer Intensität
steigeruugsfähig wäre.
b ) Die subcutane Injection des Giftes in einer Quantität,
die mehr oder minder bedeutend unter dem toxischen
Schwellenwerthe liegt, führt diesbezüglich auch nur zu ge¬
ringeren Ausfallserscheinungen, unter denen übrigens das
Glotzauge am promptesten aufzutreten scheint. Ueberschreitet
man nun die weiter noch des Näheren zu erörternde Giftdosis
nur um ein Geringes, gleichviel ob in Form der wässerigen
Lösung des reinen Giftes oder sub forma des betreffenden kos¬
metischen Präparates, stellen sich alsbald Ausfallserscheinungen
ein, deren früheste und verlässlichste wieder die Protrusio bulbi
neben Steigerung des intraoeulären Druckes zu sein scheint.
Formes frustes bezüglich des Ausbleibens stärkerer Oedeme
der Conjunctiva und der Augenlider können die Regel nicht
stürzen.
In weiterer Folge nun führen die eben geschilderten Er¬
scheinungen, je nach bedeutenderem oder geringerem Ueber-
schreiten des toxischen Schwellen werthes, in entsprechend
kürzerer oder längerer Zeit, meist in protrahirtem Koma, zum
Tode des Versuchsthieres.
Aus P u p p e’s Versuchen geht nun hervor, dass ein
noch weiterer Anstieg über die toxische Dosis rasch zu über¬
aus stürmischen Ausfallserscheinungen führt. Diese nun sind
von den oben geschilderten, scharf auf das Gewebe der Orbita
Nr. 31
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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localisirten, vollständig different; denn die Giftwirkung tritt
hier unter dem klinischen Bilde einer Allgemeinvergiftung
auf mit parenchymatöser Degeneration der Nieren, der Leber
und des Myocards. Diese bis nun wohl nur am Versuchsthiere
beobachtete und von Puppe näher gewürdigte Form der
Paraphenylendiaminvergiftung führt stets den Tod des Thieres
herbei. Das klinische Bild dieser Allgemeinvergiftung verläuft
unter Hämaturie, Diarrhöen und Erbrechen und führt, wie
bereits erwähnt, unter klonischen oder tonischen Krämpfen
zum letalen Exitus.
Puppe trennt in seiner Arbeit diese beiden klinischen
Formen der Toxikose strenge von einander, da nach seinen
Erfahrungen am Versuchsthiere bei der eben geschilderten
Form Augenerscheinungen stets fehlen.
Fassen wir also in Kürze nochmals die beiden Formen
der Paraphenylendiaminvergiftung zusammen, so beobachten
wir bei Einfuhr einer gewissen Quantität des Giftes zunächst
die locale und specifische Giftwirkung, id est ekzematöse Ent¬
zündung der Haut und die geschilderten Erscheinungen am
Bulbus, an der Conjunctiva bulbi et palpebrarum und schliess¬
lich an den Augenlidern selbst. Diese Erscheinungen können
binnen kurzer Zeit zurückgehen ohne das Allgemeinbefinden
zu alteriren, oder aber es treten in weiterer Folge Allgemein¬
erscheinungen auf, die, wie die Beobachtungen an meinen
Versuchsthieren erweisen, binnen wenigen Stunden zum Tode
führen. Die zweite und schwerere Form der Vergiftung setzt
schon kurze Zeit nach Einfuhr des Giftes mit Erbrechen,
Diarrhöen und Hämaturie ein, hiezu gesellen sich in weiterer
Folge bald klonische, respective tonische Krämpfe, die durch
ein kürzer oder länger dauerndes Koma in den Tod hinüber¬
leiten.
Ueber dass Ergebniss der Section dieser letzteren Fälle
äussert sich Puppe:
»Die Section ergibt eine schwarzbraune Tingirung des
subcutanen Gewebes um die Einstichstelle herum, theilweise
wohl vom Hämatin, theilweise aber auch von der ursprüng¬
lichen Tinction des Paraphenylendiamins selbst herrührend.
Weiter zeigen sich in der Tiefe unter der Fascie die Muskel¬
venen mit thrombotischen Massen in ziemlich erheblicher Aus¬
dehnung erfüllt.
Das Conjunctivalödem kann gänzlich geschwunden sein,
ebenso die anderen Erscheinungen von Seite der Augen.
Das Gehirn bietet nichts Besonderes dar. Die Lungen
zeigen zuweilen subpleurale Ekchymosen, das Herz selbst sub¬
endocardial gelegene. Wesentlich ist aber dabei die evidente
trübe Schwellung, die zumal an Myocard und Niere in der
Regel vorhanden ist, und auch in der Leber zuweilen beob¬
achtet wird. Braunfärbung der Milz haben wir nicht gesehen.
Das Blut zeigt stets eine rothe Farbe und zeichnet sich durch
starke Gerinnung aus. Die grossen Körpervenen, das rechte
Herz sind meist strotzend gefüllt. Die Farbe der thrombotischen
Massen in der Rückenmusculatur ist eine schwarzbraune. Was
ihr spectrales Verhalten anlangt, unterscheiden sie sieh dadurch
vom Körperblut, dass sie den im äussersten Roth liegenden
Hämatinstreifen zeigen, der ihre Provenienz zur Genüge er¬
weist, während das übrige Körperblut stets die Oxyhämoglobin¬
streifen aufwies, post mortem sowohl, wie intra vitam auf der
Höhe der Intoxication serscheinungen, im Beginne und im
Nachlassstadium. «
Die toxische Dosis liegt nun, wie schon aus den ein¬
schlägigen experimentellen Untersuchungen Dubois’ und
Vignon’s hervorgeht, annähernd um OT g pro 1 kg Thier¬
gewicht.
Ein Vergleich meiner Krankengeschichte mit der in
Pupp e’s Arbeit deponirten ergibt nun die interessante That-
sache, dass in beiden Fällen die Vergiftungserscheinungen
merkwürdiger Weise erst nach wiederholter (in beiden Fällen
dreimaliger) Anwendung des Färbemittels, dann allerdings
ziemlich prompt eintraten.
Auffallend bleibt immerhin der Umstand ferner, dass bei
dem gewiss ausgedehnten Gebrauche paraphenylendiaminhältiger
Haarfärbemittel Vergiftungen, nach den äusserst seltenen Be¬
schreibungen zu schliessen, zu Raritäten gehören. Sollte hierin
eine Analogie zu dem relativ geringen Procentsatz der an
erythematösen Hautaffectionen erkrankten Arbeiter in den
Anilinfarbfabriken zu finden sein? Möglicherweise. In diesem
Falle aber wäre das Moment der Idiosynkrasie einzelner In¬
dividuen gegen diesen Giftstoff wohl ausser Zweifel gestellt.
Liegt nun in dieser Idiosynkrasie der Grund der so
selten zum Ausdruck kommenden Giftwirkung, so bleibt immer¬
hin noch die bereits oben aufgeworfene Frage offen, warum
es selbst bei diesen mit geringerer Widerstandskraft gegen
unser Gift ausgerüsteten Individuen mehrmaliger, also ge¬
häufter Application des Mittels bedarf, ehe die nun bekannten
Ausfallserscheinungen zur Entfaltung kommen. Das Moment
der Cumulirung des Giftes im Organismus, respective die ge¬
steigerte Empfänglichkeit durch wiederholte Anwendung wäre
wohl nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen.
Ziehe ich nun zum Schlüsse das Resume der Arbeit, so
möchte ich deren wichtigste Momente in folgenden Punkten
zusammenfassen :
1. Stellt sich nach Anwendung eines Haarfärbemittels,
das Haare heller Couleur in dunkelbraune, respective schwarze
überführen soll, unter dem Gefühle von Jucken oder Brennen
der behaarten Schädeldecke, der Stirne oder des Nackens eine
ekzematöse Entzündung der Haut im genannten Bereiche ein
und gesellt sich zu diesen Erscheinungen im späteren Verlaufe
Exophthalmus geringeren oder höheren Grades, verbunden mit
Thränenfluss, Schwellung der Conjunctiva und der Augenlider,
so liegt der Verdacht einer Vergiftung durch Paraphenylen¬
diamin vor.
2. Das in den uns bisher beschäftigenden Haarfärbemitteln
»Juvenia«, »Phoenix«, Nussextract enthaltene Paraphenylendia¬
min ist ein äusserst giftiger Körper mit specifischer Wirkung auf
das Blut. Er bewirkt beim Contacte mit demselben Coagulirung
und Braunfärbung, welche auf der Umwandlung von Oxy¬
hämoglobin in saures Hämatin beruht, das jederzeit durch Zu¬
satz von Schwefelammonium in Hämochromogen reducirbar
ist, und er führt in weiterer Folge zum scliliesslichen Zerfalle
der Erythrocyten in Pigmentschollen.
3. Die toxische Dosis dieses Körpers beginnt nach Du¬
bois und Vignon bei 01 g pro 1 hg Thiergewicht und führt
bei Darreichung um ein Geringes unter diesem Schwellen-
werthe zu den oben geschilderten Augenerscheinungen, die in
kurzer Zeit vollständig zurückgehen; bei bedeutenderem Ueber-
schreiten der toxischen Dosis kommt es zu schwerer Allgemein¬
vergiftung, die unter den Folgeerscheinungen der Degeneration
der parenchymatösen Organe und unter Krämpfen den letalen
Exitus herbeiführt.
4. Die durch epi-, respective endodermatische Aufnahme
dieses Giftstoffes hervorgerufenen Ausfallserscheinungen müssen
nicht bedingungslos bei der erstmaligen Verwendung dieses
Mittels zum Ausdruck kommen, sondern können, möglicher
Weise durch erfolgte Cumulirung nach wiederholter Anwendung
in ihrer deletären Wirkung hervortreten.
5. Da einerseits ein gewiss ansehnlicher Theil des Laien-
publicums in gutem Glauben au die auf der Etiquette des
Präparates angepriesene Unschädlichkeit den ausgiebigsten Ge¬
brauch von diesen und anderen ähnlichen kosmetischen Erzeug¬
nissen macht, andererseits Vergiftungserscheinungen gewiss
häufiger Vorkommen und deren Anzeige seitens der Betroffenen
aus nahe liegenden Gründen unterlassen werden möge, wäre
es nun an der Zeit, sanitätspolizeiliche Massnahmen gegen
diese »vollkommen unschädlichen« Präparate zu verfügen.
Literatur.
R. v. Jak scli, Die Vergiftungen. Nothnagel’s Handbuch. Wien,
Alfred Holder. Bd. I, pag. 338.
Puppe, Vierteljahrssclirift für gerichtliche Medicin und öllentliches
Sanitätswesen. Dritte Folge. Bd. XII, pag. 116.
Dubois et Vignon, Sur Faction phys. de la para- et de la nieta-
phenylendiamine. Coropte rend. 1888, T. CVH.
Robert, Lehrbuch der Intoxicationen. Stuttgart 1893.
Roscoe und Schorlemmer, Lehrbuch der Chemie. 2. 1 Heil,
pag. 216.
Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft. Bd. II, pag. 1539.
■ Schulz und Julius, Tabellarische Uebersicht der künstlichen
organischen Farbstoffe. Be lin 1891, pag. 102.
716
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 31
Ueber Behandlung der nekrotisirenden Akne mit
Meersalzlösung.
Von Dr. Friedrich Luithlen, Wien.
Es handelt sich um jene Form von Akne, bei der im
chronischem Verlaufe, häufig recidivirend, knotenförmige In¬
filtrate der Haut auftreten, an denen es entweder nur im
Centrum oder der ganzen Ausbreitung nach zur Bildung einer
dunklen, festen, harten, pergamentartigen Kruste kommt, die
im Niveau des Knotens liegt; dieser nekrotische Theil wird
dann entweder abgestossen oder durch mechanische Momente
entfernt, worauf ein ziemlich tiefer, jedenfalls die Oborhaut
ganz durchsetzender und in die Tiefe des Coriums reichender,
runder oder unregelmässig geformter, mit schmierigem Secrete
bedeckter, stark nässender oder eiternder Substanzverlust zu
Tage tritt; wird die Borke nicht frühzeitig abgestossen, bleibt
dieselbe länger haften, so tritt durch Unterwachsung derselben
mit Oberhautepithel Ueberhäutung des darunterliegenden
Substanzverlustes auf und beim schliesslichen Abfalle des
nekrotischen Theiles bleibt eine stark eingesunkene Narbe
zurück.
Die Affection tritt besonders im Gesichte auf; in meinen
Fällen war die Affection im Barte an der Kopfhaargrenze,
aber auch an unbehaarten Stellen, z. B. den Ohren bis in den
äusseren Gehörgang hineingreifend localisirt und war dieselbe
besonders in meinem dritten Falle auffallend symmetrisch an¬
geordnet.
Die Affection bildet durch ihre häufigen Recidiven, ihre
Schmerzhaftigkeit, ihren entstellenden, in manchen Fällen für
den Nichtfachmann als Manifestation der Syphilis imponirenden
Anblick, sowie die nach der Abheilung zurückbleibenden tiefen
Narben eine grosse Belästigung und Entstellung der damit be¬
hafteten Personen.4
Da keines der bisher angewendeten, in der Literatur an¬
gegebenen Mittel im Stande ist, die Affection vollkommen aus¬
zuheilen und es besonders bisher nicht gelungen ist, die Ne¬
krose der einzelnen Efflorescenzen aufzuhalten und so die
zurückbleibenden entstellenden Narben zu vermeiden, möchte
ich über einige Erfahrungen berichten, die ich bei Behandlung
der Affection mit Meersolzlösung an zwei Patienten meiner
Privatpraxis gemacht habe.
Auf die Idee, Meerwasser bei der Behandlung dieser Affection
anzuwenden, wurde ich durch einen Fall gebracht, der sich mir
im Jahre 1898 in meiner Ordination vorslellle. Derselbe betraf
einen Herrn aus dem Küstenlande, der mich wegen der beim ihm
sehr ausgebreiteten, die Haut der Stirne und Nase einnehmenden
Affection consultirte.
Bei Besprechung seiner Krankheitsgeschichte theilte er mir
mit, dass die Affection im Sommer fast vollkommen ausheilte, um
erst im Herbste zu recidiviren. Auf meine diesbezügliche Frage
gab er an, dass er im Sommer fleissig im Meere bade; ausser den
gewöhnlichen Rathschlägen, Pflasterbehandlung etc., gab ich ihm
den Rath, auch im Winter Meerbäder zu nehmen; doch kann ich
über den weiteren Verlauf dieses Falles nichts Sicheres berichten,
da er in Folge der Entfernung seines Domiciles sich einer fortge-
setzen Beobachtung entziehen musste.
Einige Zeit darauf consultirte mich ein älterer College wegen
einer schon seit vielen Jahren bestehenden solchen Affection. Die¬
selbe war bei ihm im Barte von der Kopfhaargrenze bis zum An¬
sätze der Ohrmuschel, wie übergreifend vom Barte auf diese, im
Inneren des äusseren Gehörganges, sowie auf der Stirne zum Theile
auf die Kopfhaut übergreifend localisirt. An diesen Stellen waren
zum Theile rundliche, zum Theile unregelmässig geformte, tiefe,
stark eiternde Substanzverluste mit steil abfallenden Rändern oder
Knoten, die eine harte, dunkle, nekrotische Borke trugen. Tiefe,
entsprechend geformte Narben waren die Reste früherer Erup¬
tionen.
Der betreffende Herr war schon lange von anderen Collegen
ohne jeden Erfolg behandelt worden: als er mich über seine
Affection befragte, sagte ich ihm, dass ich auch keine anderen
Mittel wüsste als die ihn bisher behandelnden Collegen und machte
ihm im Anschlüsse an die Erzählung des früher erwähnten Falles
den Vorschlag, es einmal mit Meerwasser zu versuchen. Schon bei
der Miltheilung dieser Beobachtung, sowie der daran geknüpften
Schlussfolgerung, ob nicht das Meerwasser eine besondere Wirk¬
samkeit habe, theilte er mir mit, dass er sich jetzt auch erinnere,
dass nach Meerbädern (in Venedig) die Substanzverluste sich so¬
fort gereinigt hätten, sowie dass zur Zeit eines solchen Aufent¬
haltes am Meere seine Affection stets besser gewesen sei.
Die von mir versuchsweise vorgeschlagene Behandlung mit
Meersalz, auf welche er bereitwillig einging, wurde in folgender
Weise durchgeführt: Auf die erkrankten Hautpartien wurden über
Nacht Umschläge mit Meerwasser gemacht, und zwar wurde als
solches eine L2n/()*»e Lösung des im Handel vorkommenden Meer¬
salzes verwendet, während am Tage eine Lanolinsalbe eingerieben
wurde, welche in derselben Stärke (L2° ,,) Meersalz enthielt. Zu¬
gleich wurden, da es ja gar nicht sicher war, welcher Factor
eigentlich in Betracht kommen könnte, Vollbäder mit Zusatz von
Meersalz genommen.
Unter dieser Behandlung besserte sich das Hautleiden wesent¬
lich; die Substanzverluste reinigten sich in kürzester Zeit und ver¬
heilten sehr schön; besonders auffallend war, wie die sehr schmerz¬
haften Efflorescenzen im äusseren Gehörgange sich rückbildeten;
auch neue Efflorescenzen kamen, so lange die Behandlung durch¬
geführt wurde, nicht und die schon bestandenen zeigten keine
Nekrosen.
Doch ist auch dieser Fall zur Entscheidung, inwieweit und
wieso das Meerwasser eine Wirkung entfaltet habe, nicht zu ver¬
wenden, da die Behandlung nur so lange vorgenommen wurde,
bis die Affection recht gut durch Bart und Haare verdeckt war.
Immerhin zeigte es sich, dass durch die Behandlung die Substanz¬
verluste sehr schön verheilten, die Nekrose der schon bestehenden
Knoten hintangehalten wurde, sowie dass während der Behandlung
keine neuen Efflorescenzen auftraten.
Am 21. November 1899 suchte mich der Bruder eines Freundes
und Collegen in der Ordination auf; bei demselben bestand die
gleiche Affection seit längerer Zeit beiderseits im Barte, von der
Kopfhaargrenze angefangen bis unter den Ansatz des Ohrläppchens
herabreichend. Mit Pausen von höchstens ein paar Wochen traten
auf dieser Partie kleinerbsen- bis halbbohnengrosse, rothe, knoten¬
förmige, harte Infiltrate auf, die in kurzer Zeit auf ihrer Oberfläche
zu einer harten, dunklen, nekrotischen Borke sich umwandelten,
nach deren Abfallen tiefe Substanzverluste zurückblieben, welche
mit tiefen Narben ausheilten. Als Patient mich aufsuchte, nachdem
alle bisherigen Behandlungsmethoden erfolglos geblieben waren, be¬
standen gerade zahlreiche frische Knötchen, sowie einzelne Substanz¬
verluste, während zahlreiche Narben die Residuen der vorherge¬
gangenen Eruptionen bildeten.
Ich gab ihm den Rath, so fleissig als möglich Meersalzwasser¬
umschläge zu machen. Als er mich vier Tage später (25. November)
aufsuchte, war die Schwellung der Haut fast geschwunden, die
Substanzverluste fast verheilt; an keinem der frischen Knötchen
war es mehr zur Nekrose gekommen.
Seit diesem Tage bis jetzt (Mitte Juli 1900), also während
einer Beobachtungsdauer von über sieben Monaten ist keine neue
Efflorescenz erschienen und ist die Affection seit Weihnachten
vorigen Jahres scheinbar geheilt.
Der Patient hat nur während kurzer Zeit durch das Pflaster,
das er des Tages über trug, um die Affection zu verdecken, ein
paar Mal Folliculitiden gehabt, die aber nicht zur Nekrose der Haut
führten, sondern glatt abheilten, als kein Pflaster mehr getragen
wurde. In der letzten Zeit der Behandlung hatten sich einzelne
kleine, cystische Gebilde entwickelt, oder vielleicht wurden dieselben
erst bemerkt, nachdem die Haut ganz normal geworden war, aus
welchen sich beim Eröffnen mit der galvanokaustischen Nadel Talg
und atheromähnlicher Brei entleerten und welche glatt abheilten.
Aus diesen Beobachtungen ergibt sich, dass Umschläge
mit Meerwasser, beziehungsweise einer L20/0igen wässerigen
Lösung von Meersalz im Stande sind, die Nekrose bei dieser
Form der Akne hintanzuhalten, die bestehenden Efflorescenzen
zur Abheilung zu bringen, sowie das Neuauftreten derselben
während der Behandlung zu verhindern; ob eine vollständige
Heilung der Affection auf diese Art zu erzielen, kann ich
Nr. 31
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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natürlich nicht entscheiden, doch spricht die lange Beobach¬
tungsdauer im letzten Falle dafür.
Da in diesem Falle keine Bäder genommen wurden, ist
ein Einfluss auf den Gesammtorganismus auszusch Hessen und
handelt es sich um eine locale Wirkung des Meersalzes, wenn
auch nicht geleugnet werden soll, dass Bäder vom günstigem
Einfluss sein könnten.
Welcher Theil des Meersalzes, und in welcher Weise der¬
selbe eine Wirkung entfaltet, kann umsoweniger entschieden
werden, als meines Wissens über eine therapeutische Ver¬
wendung desselben in dieser Art keine Beobachtungen vor¬
liegen. Bei dem minimalen Jodgehalte des Meersalzes aus der
Adria, welches in meinen Fällen verwendet wurde, ist eine
Jodwirkung nicht anzunehmen, umsoweniger als stark jod¬
haltige Wässer keine solche Wirkung entfalten; dass die Um¬
schläge als solche nicht den Effect gehabt haben, ergibt sich
daraus, dass bei anderen Umschlägen nicht derselbe Erfolg
erzielt wurde.
Jedenfalls dürfte es sich empfehlen, diese Behandlung in
den Fällen von nekrotisirender Akne anzuwenden, umsomehr
da dieselbe sehr einfach ist und den Patienten vor den ent¬
stellenden Residuen der Erkrankung behütet.
Die zwei Erscheinungen bei Meersalzumschlägen, Ver¬
hindern der Hautnekrose, sowie die schnell eintretende Reini¬
gung und Verheilung der Substanzverluste empfehlen es auch,
das Meersalz bei anderen Affectionen zu versuchen; vielleicht
könnten Umschläge mit demselben auch in anderen Fällen
gute Dienste leisten.
REFERATE.
I. Neueres über Taubstummheit und Taubstummen
bildung.
Von Dr. Hermann Gutzmann, Berlin.
Berliner Klinik, Heft 142.
Berlin, Fischer.
II. Die frischen Entzündungen der Rachenhöhle und des
lymphatischen Rachenringes (mit Ausschluss der Diph¬
therie), ihre Ursachen und ihre Behandlung.
Von Dr. Maximilian Bresgen in Wiesbaden.
Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Nasen-,
Ohren-, Mund- und Halskrankheiten.
Herausgegeben von Dr. Maximilian Bresgen in Wiesbaden.
Bd. IH, Heft 8.
Halle a. S., Karl Marhold.
III. Die Missbildungen des Gaumens und ihr Zusammen¬
hang mit Nase, Auge und Ohr.
Von Dr. Fritz Danziger, Ohrenarzt in Beuthen (O. S.).
Mit 13 Abbildungen im Texte und 20 Figuren arrf Lichtdrucktafeln.
Wiesbaden, J. F. Bergmann.
IV. Die Ohrenheilkunde im Kreise der medicinischen
Wissenschaften
Von Prof. Dr. C. Bloch in Freiburg im Breisgau.
Jena, Gustav Fischer.
V. Encyklopädie der Ohrenheilkunde.
Herausgegeben von Dr. Louis Blau in Berlin.
Leipzig, F. C. W. Vogel.
I. Der Taubstumme besitzt zwei wichtige Wege zur Percep¬
tion des Gesprochenen: erstens das Auge und in zweiter Linie das
Gefühl, und einen wichtigen Weg zur Gontrole der eigenen Sprache:
das Muskelgefühl.
Bei einer grossen Anzahl der in einer Taubstummenanstalt
befindlichen Kinder finden wir noch einen mehr oder weniger
guten Hörrest. Dieser muss zur Entwicklung der Sprache sorg-
fältigst benützt werden. In neuerer Zeit hat Urbantschitsch
den Gedanken wieder aufgenommen, durch Hörübungen den
schlummernden Gehörnerv zu erwecken und die Hörreste der
Kinder zu stärken. Die Erwartungen, die sich daran knüpften,
haben sich nach des Autors Ansicht nicht erfüllt. In seiner Polemik
gegen Urbantschitsch mögen zwei Sätze, die hintereinander
stehen, hier angeführt werden. Diejenige Taubstummenanstalt Wiens,
an der Urbantschitsch seine ersten Versuche anstellte, die
Anstalt Döbling nämlich, hat die Hörübungen als zwecklos wieder
aulgegeben. So ganz zwecklos sind diese Uebungen allerdings nicht,
und ich glaube, dass man in jener Anstalt durch diese schroffe
Ablehnung nach so glänzenden, vielversprechenden ersten Erfolgen
das Kind mit dem Bade ausschüttet. Die Erage der Hörübungen,
ihre Zweckmässigkeit und das, was durch sie im einzelnen Falle
erreicht werden kann, ist zur Zeit noch nicht gelöst.
Daraus geht doch ganz deutlich das nur ungern allgegebene
Geständniss hervor, welch grosse Verdienste sich Urbantschitsch
durch die Anregung dieser Frage erworben hat.
*
II. Für die Entzündung der Rachenschleimhaut, durch die so¬
genannte Erkältung hervorgerufen, wird als ursächliches Moment
das daselbst reichlich vorhandene drüsige Gewebe angegeben.
Die Angina follicularis und lacunaris, die Pilzerkrankungen
der Rachenhöhle, die Aphten, der peritonsilläre und retropharyngeale
Abscess, die bei frischen Ansteckungskrankheiten wie Masern,
Rötheln, Scharlach, Pocken, Unterleibstyphus, Flecktyphus, Rotz
und Milzbrand sich darbietenden Entzündungserscheinungen der
Rachenhöhle werden auslührlichst nach diagnostischer und thera¬
peutischer Hinsicht behandelt.
*
III. Die in den bisherigen Arbeiten, bei denen die Miss¬
bildungen der Kiefer und besonders die Form und Ursache dieser
Abnormitäten behandelt wurden, niedergelegten Befunde stehen im
Widerspruche mit den Resultaten, welche Autor auf Grund eigener
Beobachtungen gewonnen hat. Eine reiche Casuistik, äusserst an¬
schauliche Abbildungen, ausführlichste Literaturangaben finden sich
in diesem sehr interessanten Buche. Nicht allgemeiner Zustimmung
dürfte sich folgende Ansicht des Verfassers erfreuen.
Als Ursache der Gaumenverbildung die adenoiden Vegetationen,
respective die Folgezustände dieser Wucherungen, nämlich die
Mundathmung, hinzustellen, lässt er nicht zu. Nicht die adenoiden
Wucherungen seien primär die Ursache der Mundathmung und
dadurch der Gaumenmissbildung, sondern in Folge der Gaumen¬
verbildung sind die adenoiden Wucherungen secundär an der
Mundathmung schuld, in allererster Reihe aber sei die Gaumen¬
bildung die Ursache, nicht die Folge dieses Symptomes. Denn
durch einen hohen Gaumen werde die Nasenhöhle, durch einen
langen der Nasen-Rachenraum eingeengt; daher haben Individuen
mit abnormem Hochstand des Gaumens einen kleinen Nasenrachen
und eine niedrige Nasenhöhle, so dass schon geringe pathologische
Veränderungen in diesen Räumen der Athmung hinderlich seien.
*
IV. Bevor Bloch auf das Ergebniss der Entwicklung der
modernen ' Otologie eingeht, gedenkt er der mannigfaltigen Unter¬
stützungen, deren sich diese Wissenschaft seitens anderer medicini-
sehen Fächer zu erfreuen hatte. In erster Reihe der beiden grund¬
legenden Gebiete der gesummten Medicin, der Anatomie und der
Physiologie, deren grösste Meister Eustachi o, Fallopius,
Glaser, Meckel, C o r t i, Johannes Müller und II e 1 m-
holtz waren. Die pathologisch-anatomische Grundlage bauten
Joseph Toynbee, Anton v. Tröltsch und Wendt auf.
Aber alle bereits errungenen und noch in Aussicht stehenden Er¬
gebnisse auf den mehr theoretischen Gebieten dieses Faches treten
völlig in den Schatten vor den praktischen Erfolgen in der Be¬
handlung der Ohrenkrankheiten. Einen guten Theil derselben ver¬
dankt die moderne Otiatrie dem gewaltigen Aufschwünge, welchen
die Chirurgie genommen hat. Chronische Ohreiterungen mit ihren
zerstörenden Wirkungen auf die schallleitenden Theile und auf das
Schläfebein selbst mit ihren fatalen Folgen für die wichtigen Gebilde
in der unmittelbaren Nähe des Krankheitsherdes, Zustände, welche
man noch vor wenigen Jahrzehnten einfach ihrem Schicksal über¬
lassen musste, werden jetzt mit grosser Sicherheit und endgiltig
durch operative Eingriffe beseitigt.
*
V. Ein ganz vortreffliches Werk, das seinen Stoff lexikalisch
geordnet in zahlreichen Einzelabhandlungen bringt, das so die Vor¬
theile eines Nachschlagehuches bietet, in dem jedes Thema leicht
zu finden ist und ohne Beziehungen zu Früherem oder Späterem ge¬
lesen werden kann. Allerdings werden die Vortheile dieses zu be¬
gutachtenden Werkes gerade für den praktischen Arzt insbesondere
hervorgehoben. Doch füllt einen grossen Theil dieses Huches die
Besprechung der makroskopischen und mikroskopischen Anatomie
des Ohres, die vergleichende Anatomie (nach den 1 hierclassen und
Organen geordnet), die Entwicklung, endlich die Geschichte dei
718
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 31
Ohrenheilkunde aus, Themen, die doch alle mehr den Specialisten
interessiren; daher hätten meiner Ansicht nach auch die Literatur¬
angaben verzeichnet werden sollen, wie dies ja bei allen
Encyklopädien geschieht, damit dieses Buch als wirkliches Nach¬
schlagewerk zu Studienzwecken diene. Ist doch der Umfang von
4f)2 Seiten für ein encyklopädisches Werk kein allzu grosser. Be¬
sonders zu loben ist die vorzügliche Ausstattung, sowie das hand¬
liche Format. Arthur Singer.
I. Zahnheilkunde.
Ein kurzes Lehrbuch für S tu di rend e und Aerzte.
Von Jul. Parreidt, praktischer Zahnarzt in Leipzig.
Dritte Auflage. Mit 80 Abbildungen.
Leipzig 1900, Johann Ambrosius Barth.
II. Cursus der Zahnheilkunde.
Ein H i 1 f s b u c h für Studirende und Zahnärzte.
Von Dr. med. Konrad Colin. Zahnarzt in Berlin.
Zweite verbesserte und vermehrte Auflage. Mit 97 Abbildungen im Text.
Berlin 1 900, Ko r n f e 1 d .
I. Der Autor hatte bei Abfassung des Buches vorzugsweise das
Bedürfniss des praktischen Arztes im Auge, ohne darüber desjenigen
des Studirenden der Zahnheilkunde zu vergessen. In der That ent¬
hält das Werkchen, wenn auch in gedrängter Kürze, die Ergebnisse
der neuesten Forschungen über die Zahngewebe, wie deren Ent-
wicklung. Die Krankheiten der Zahngewebe, der Kieferknochen, der
Mundschleimhaut u. s. w. sind alle eingehend behandelt. Im Ab¬
schnitte über das Füllen der Zähne fällt der Mangel an Illustra¬
tionen auf, namentlich im Hinblicke auf die Verwendung des
Buches durch den praktischen Arzt.
Die Zahnextraction ist erschöpfend behandelt. Stiefmütterlich
bedacht ist die Prothese ; doch ist dies dem Autor zu verzeihen,
hat er doch selbst eines der besten Werke über Zahntechnik
geschrieben.
Format, Ausstattung und Druck verdienen Lob.
*
II. Das Buch enthält die Nachschreibungen der Vorlesungen jener
Fächer der Medicin, welche der Studirende an einer zahnärztlichen
Schule des Deutschen Reiches hören und über 'welche er Prüfung
ablegen muss. Um zum »Zahnarzt« promovirt zu werden, braucht
man heute im Deutschen Reiche nicht Mediciner zu sein, ja auch
nicht einmal die Maturitätsprüfung bestanden zu haben. Gut besuchte
»Repetitionseurse«, welche der Verfasser für Candidateu der Zahn¬
heilkunde hielt, veranlassten ihn zur Herausgabe der schriftlichen
Ausarbeitung des Curses in Buchform.
Die Prüfungscandidaten mögen dem Herausgeber dankbar
sein, die Fachwissenschaft hat er nicht bereichert. Metnitz.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
2(30. Drei Fälle von tödtlich er parenchyma¬
töser Magenblutung. Von Dr. Rei chard (Berlin). Im
ersten Falle war die Blutung sechs Tage nach einer Gallenblasen¬
operation aufgetreten, in den beiden anderen Fällen waren die
Blutungen hei der 26-, beziehungsweise 34jährigen Frau die Ur¬
sache zur Ueberführung ins Spital geworden. In keinem dieser
Fälle konnte die Section eine Ursache für die Blutungen
aufdecken. — (Deutsche medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 20.)
*
261. Geschwür am Boden der Nasenhöhle durch
periostilisch erkrankten Zahn hervorgerufen. Von
Dr. B ruba eher (München). Das durch zwei Jahre bestandene
Geschwür heilte nach Lxtraction des periostitisch erkrankten ersten
Schneidezahnes, dessen V urzel sehr lang war. Eine Sonde konnte
nachher durch die Alveole in die Nasenhöhle geführt werden. —
(Deutsche Monatsschrift für Zahnheilkunde. 1900, Heft 4.)
*
262. lieber traumatische Muskelverknöcherung.
Von Dr. Rammstedt (Halle). In Folge eines Traumas, welches
den Vastus internus betroffen hatte, war es zur Bildung eines
Tumors gekommen, aus dem sich allmälig eine Cyste mit voll¬
ständig knöcherner Wand gebildet hatte, deren Hohlraum mit einer
zarten Membran ausgekleidet war und etwa 100 cm3 einer roth-
gelben Flüssigkeit enthielt. Die genauere Untersuchung ergab, dass
die zu der mit dem Femur verwachsenen Cyste ziehenden Muskeln
allmälig Bindegewebe Platz machten, das gegen die Neubildung zu
immer zellreicher wurde, ja in einen Saum von Osteoblasten um
die knöcherne Cystenwand herum überging. Verfasser meint daher,
dass es sich hier nicht um das Product einer Entzündung, sondern
um ein wirkliches Osteom gehandelt habe, dessen Entstehung so
zu erklären wäre, dass der Bluterguss zur Bildung von Bindegewebe
und im Weiteren zur Knochenneubildung geführt habe. — (Archiv
für klinische Chirurgie. Bd. LXf, Heft 1.)
*
263. (Niederrheinische Gesellschaft für Natur- und Heilkunde.)
Ausscheidung von Salolconcrementen durch die
Fäces. Von Dr. Leo. Ein Patient mit Enteritis, bei dem auch
die Möglichkeit von Pankreassteinen nicht ausgeschlossen ist, be¬
kam mehrmals täglich 1 g Salol verordnet. Nach einigen Wochen
gingen mit den Fäces Concremenle ab, die als Salol erkannt
wurden. Dass das Salol Concremente bildet, beruht, zum Theil
wenigstens, gewiss auf dessen niederen Schmelzpunkt. Derselbe liegt
bei 43°, doch sintert es schon bei 37 — 38° zusammen und haftet
an den Gefässen. Von besonderem Interesse ist aber Folgendes: Salol
soll sich im Darm unter Einwirkung des Pankreassaftes und
der Darmmikroben in Salicylsäure und Phenol spalten. Entweder
ist demnach die zersetzbare Salolmenge eine begrenzte, oder es
hat sich im vorliegenden Falle doch um eine Pankreaserkrankung
mit zeitweiligem Abschlüsse des Pankreassecretes gegen den Darm
gehandelt. Bei der grossen Schwierigkeit, welche die Diagnose der
Pankreaserkrankungen häufig bereitet, wäre eine Entscheidung in
dieser Frage von Wichtigkeit. — (Deutsche medicinische Wochen¬
schrift. 1900, Nr. 21.)
*
264. (Aus der medicinischen Klinik des Prof. Ebstein in
Göttingen.) Ein Fall von Rotz. Von Dr. Zaudy. Der innerhalb
einiger Wochen tödtlich verlaufene Fall zeichnet sich, abgesehen durch
seinen anfangs ganz atypischen Verlauf, dadurch aus, dass die Ein¬
gangspforte für die Infection in keiner Weise festzustellen war,
und dass erst die an der Klinik gestellte Diagnose auf das Be¬
stehen von Rotz unter den Pferden eines Gutes aufmerksam machte.
— (Deutsche medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 21.)
*
265. Die Gastroenterostomosis, Gastrost o-
mosis und ihre Verbindung zur Gastroenterosto¬
mosis externa. Von Prof. Witzei und Dr. Hofmann
(Bonn). Der in die vordere Magenwand nach ausgeführter Witzel¬
scher Gastrostomie eingenähte Schlauch verläuft quer durch den
Magen, passirt die an dessen Hinterwand angelegte Anastomose und
endigt im abführenden Jejunumschenkel. Eine in den Schlauch
gegossene Flüssigkeit gelangt mit Umgehung des Magens und Duo¬
denums gleich ins Jejunum. Diese Methode ermöglicht 1. den ab¬
führenden Schenkel sofort nach Schluss der Wunde aufzublähen,
beziehungsweise anzufüllen, und so die Weiterbeförderung der Galle
und des Pankreassaftes zu sichern; 2. dass der Mageninhalt nicht
nur anfangs dem Schlauche entlang, sondern auch später auf dem
durch äussere Verwachsungen in günstiger Richtung fixirten Wege
in den abführenden Schenkel gelangt; 3. dass sofort eine reichliche
Ernährung stattfinden kann. - — (Deutsche medicinische Wochen¬
schrift. 1900, Nr. 19—21.)
*
266. Experimentelle Beiträge zur Therapie
des Tetanus. Von Primarius Dr. v. Török (Wien). Die zahl¬
reichen Versuche waren an Mäusen, Meerschweinchen und be¬
sonders an Kaninchen ausgeführt worden. Die dabei gewonnenen
Erfahrungen haben Verfasser zu folgenden Schlüssen geführt: Die
Serumtherapie ist im Stande, einen Tetanus günstig zu beeinflussen;
bei präventiver und gleichzeitiger Anwendung genügen schon ver-
hältnissmässig kleine Dosen von Antitoxin um die Thiere am
Leben zu erhalten oder den Ausbruch der Krankheit zu verhüten.
Auch schwerer Tetanus kann durch die Serumtherapie noch ge¬
rettet werden, wenn das Antitoxin frühzeitig und in genügend
grossen Gaben injicirl wird. Ueberhaupt hat die Applicationsweise
des Serums die allergrösste Bedeutung. Subcut a ne Injectionen
haben in genügend grossen Dosen zumeist nur bei präventiver Be-
Nr. 31
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
719
Handlung einen Erfolg; günstiger wirken schon die intravenösen,
noch mehr die sub duralen, beziehungsweise spinalen. Die
grösste Wirksamkeit entfalten jedoch die cerebralen Injectionen,
die freilich wie die subduralen ein steriles Serum voraussetzen.
Specifisch schädliche Nebenwirkungen wurden bei dieser Therapie
nicht beobachtet. Von besonderer Wichtigkeit ist ferner, dass das
Serum ein hochwerthiges sei. Bei rascher Vergiftung des Körpers
mit grossen Toxinmengen ist jede Serumtherapie machtlos. Eine
locale Behandlung der Infectionsstelle ist immer dringend geboten.
Das Serum ist nicht im Stande, die durch das Gift gesetzten Ver¬
änderungen in den Ganglienzellen der motorischen Kerne wieder
rückgängig zu machen. Bleiben die Thiere am Leben, so dauern
die Contracturen noch durch Wochen und Monate an. — (Zeit¬
schrift für Heilkunde. 1900, Heft 3.)
*
267. Zwei Fälle von syphilitischen Primär¬
aff e c t e n mit abnormem Sitz, beziehungsweise
Verlauf. Von Prof. Köbner (Berlin). An der Stelle, an welcher
vor zwei Monaten am Oberschenkel eines 27jährigen Manneseine
Furunkel bestanden hatte, welche incidirt worden war, hatte sich
eine Affection entwickelt, welche von Köbner als syphilitischer
Primäraffect, von einem anderen Syphilidologen jedoch als nicht
specifisch, von einem hervorragenden Chirurgen als scrophulöser
Natur angesehen wurde. Dementsprechend wurde auch der bevor¬
stehenden Verehelichung des Mannes kein Hinderniss in den Weg
gelegt. Ausschlaggebend für die Zurückweisung der Diagnose auf
Syphilis war besonders der Umstand, dass eine gleichzeitig am
rechten Scheitelbein vorhandene Beule wegen der Kürze der Zeit
gegen eine syphilitische Periostitis zu sprechen schien. Dieser Fall,
welcher sich nachträglich ganz entschieden als eine luetische Affec¬
tion erwiesen hatte, ist also durch den sehr seltenen Sitz des
Primäraffectes am Oberschenkel — aller Wahrscheinlichkeit nach
durch eine Infection mit der incidirenden Lancette hervorgerufen
— ferner dadurch von besonderem Interesse, dass am Ende des
zweiten Monates bei noch vorhandenem Primäraffecte schon
ein »tertiäres« Symptom, die Periostitis, aufgetreten war, während
der Ausbruch des Syphilides nicht früher als zwischen Mitte und
Ende des vierten Monates erfolgte. Patient hatte sich ein Jahr nach
der Infection, Ende März, verheiratet. Am 21. December Geburt
eines »gesunden« Jungen, welcher nach einigen Wochen, während
er von der Mutter gesäugt wurde, gleich dieser manifeste Syphilis¬
symptome darbot, kachektisch wurde und Anfangs März starb. —
Der zweite veröffentlichte Fall betrifft das Eintreten einer consti¬
tutioneilen Syphilis nach zwei nicht indurirten Primär¬
geschwüren. — (Deutsche medicinische Wochenschrift. 1899,
Nr. 14.)
*
268. PlastischeDeckungvonTrachealdefecten.
Von Dr. Aue (Petersburg). Dieselbe war im vorliegenden Falle,
der einen über fünf Trachealringe sich erstreckenden Defect betroffen
hatte, mit gutem Erfolge durch einen vom Sternum genommenen
Hautknochenlappen ausgeführt worden. — (Archiv für klinische
Chirurgie. Bd. LXI, Heft 1.) Pi.
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Ernannt: Dr. Bittner zum Arzte an der Nathaniel Freih.
v. Rothschild’scben Stiftung für invalide k. u. k. Officiere in Reichenau.
— Dr. Richard Steen zum a. o. Professor in Breslau.
#
Habilitirt: Dr. W e n d e 1 für Chirurgie in Marburg.
*
Am 21. Juli 1900 fand unter dem Vorsitze Sr. Excellenz des
Herrn Ministerpräsidenten als Leiter des Ministeriums des
Innern die constituirende Sitzung des Obersten
Sanitäts rat lies für das kommende Triennium statt. Der Herr
Ministerpräsident sprach den neuerlich berufenen Mitgliedern des
Obersten Sanitätsrathes für ihre bisherige Thätigkeit auf dem Gebiete
des öffentlichen Sanitätswesens den Dank und die Anerkennung aus
und fügte die Versicherung bei, dass er jederzeit bestrebt sein werde,
den wertlivolien Anregungen dieses Fachrathes die praktische Durch¬
führung zu sichern. Bei der hierauf vorgenommenen Wahl des Piä-
sidiums wurde Hofrath Prof. Dr. August R. Vogl v. Fern¬
heim als Vorsitzender und Hofrath Prof. Dr. Ernst Ludwig als
Vorsitzender-Stellvertreter einhellig wiedergewählt. Nachdem der neu¬
gewählte Vorsitzende Sr. Excellenz dem Herrn Ministerpräsidenten
namens des Obersten Sanitätsrathes für dessen persönliches Erscheinen
im Obersten Sanitätsrathe und die denselben ehrende Begrüssung
gedankt hatte wurden nachstehende Verhandlungs-Gegenstände in Be-
rathung gezogen: Besetzungsvorschlag für eine im Status der landes¬
fürstlichen Aerzte in Galizien erledigte Oberbezirksarztesstelle (Referent:
Sections-Chef Dr. R. v. Kusy); Gutachten, betreffend die Evidenz¬
haltung und sanitäts-statistische Berichterstattung über Bresthafte (Re¬
ferent: Ministerialrath D a i m e r) ; gutächtliche Aeusserung betreffend
die vom Ministerium für Cultus und Unterricht angeregte Zulassung
von Frauen zu den medicinischen und pharmaceutischen Universitäts-
Studien, beziehungsweise zum ärztlichen und pharmaceutischen Berufe
(Referent: v. Kus^); Gutachten über das sanitäre Erforderniss der
Regulirung eines Bachlaufes in Mähren (Referent: Prof. M. Gruber);
gutächtliche Aeusserung über in Beschwerde gezogene Uebelstände
der Ableitung von Abwässern einer Zuckerfabrik in ein öffentliches
Gerinne in Mähren (Referent: Prof. Kr at schm er); Gutachten über
die Ableitung der Abwässer eines Kaolin-Werkes und einer Dampf¬
schlemmerei in Böhmen (Referent: Ilofrath Ludwig); Gutachten
über Gesuche um Bewilligung zur Benützung, beziehungsweise Er¬
weiterung je einer Gruft in Tirol und in Niederösterreich (Referent :
Prof. W eichseibau m). Zum Schlüsse erstattete. Obersanitätsrath
Dr. Dvof a k Bericht über die Ausstellungsobjecte aus Oesterreich in
der Pariser Weltausstellung auf dem Gebiete des Sanitätswesens, der
Socialökonomie und Hygiene.
*
Instructionscurse für Amtsärzte.) Das k. k. Mini¬
sterium des Innern hat die Einrichtung von Instructionscursen für
Amtsärzte an den Wiener medicinischen Instituten in Aussicht ge¬
nommen, um den Amtsärzten Gelegenheit zu bieten, sich mit den für
die Handhabung des öffentlichen Sanitätsdienstes wichtigen Fortschritten
der Wissenschaft vertraut zu machen, in den neueren Untersuchungs-
Methoden der pathologischen und bacteriologischen Diagnostik, sowie
der Nahrungsmittel-Controle einzuüben, die Hilfsmittel der Serotherapie
und die Impftechnik eingehend kennen zu lernen, endlich für die Be-
urtheilung der sanitätspolizeilichen Anforderungen bei verschiedenen
gewerblichen Anlagen unter Anleitung bewährter Fachmänner praktische
Erfahrungen zu sammeln. Der erste dieser Curse, in der Dauer von
sechs Wochen, wird laut eines Erlasses des genannten Ministeriums
an die politischen Landesbehörden vom 19. d. M. Mitte October d. J.
beginnen. Für denselben ist folgendes Programm in Aussicht ge¬
nommen: 1. Vorträge über ausgewählte Capitel aus der Hygiene, Des-
infectionslehre, praktische Uebungen im hygienischen Universitäts¬
institute, Demonstrationen und Excursionen zur Besichtigung hygienisch
besonders wichtiger Anlagen und Etablissements; 2. Lebensmittel-
Coutrole, Vorträge und Uebungen in der k. k. Lebensmittel-Unter¬
suchungsstation; 3. Epidemiologie, Heilserumtherapie, Vorträge,
Demonstrationen und Uebungen im staatlichen serotherapeutischen
Institute; Impfwesen, Demonstration der Technik der Impfstoff -
gewinnung, Aufbewahrung, Uebungen in der Impftechnik in der staat¬
lichen Impfstoffgewinnungs- Anstalt; 4. Bacteriologie, Uebungen in den
Untersuchungs-Methoden und in der Technik der Herstellung von
Präparaten mit Rücksicht auf die Infectionskrankheiten ; 5. Vorträge
über Sanitäts-Organisation und Sanitäts-Gesetzkunde. Ausserdem werden
die Theilnehmer der Instructionscurse zu einzelnen scientifischen Ar¬
beiten im hierortlichen Sanitäts-Departement herangezogen werden. Zu
dem ersten Curse können nur höchstens zwölf auserhalb Wien
wohnende Amtsärzte zugelassen werden, welche für die Dauer des
Curses zu beurlauben und durch Amtsärzte benachbarter Bezirke oder
durch eventuell besonders zuzuweisende Sanitätsorgane zu vertreten
sind. Die ausserhalb Wien wohnenden Amtsärzte, welche zum Besuche
der Curse zugelassen werden, erhalten ausser den ihrer Rangclasse
entsprechenden normalmässigen Gebühren für die Reise vom Amtssitze
nach Wien und zurück während der Dauer ihres hiesigen Aufenthaltes
ohne Rücksicht auf ihre Rangsclasse je einen Subsistenzbeitrag von
10 K täglich, welcher beim Ministerial Zahlamte flüssig gemacht wird.
Den Städten mit eigenem Statute bleibt es anheimgestellt, um Zu¬
lassung von sanitären Amtsorganen zu diesen Cursen anzusuchen, denen
nach Massgabe der Verhältnisse die Theilnahme auf eigene Kosten
gestattet werden kann. Die Curstheilnehmer haben sich nach ihrem
Eintreffen in Wien im Sanitätsdepartement des Ministeriums des Innern
vorzustellen und dort die weiteren Weisungen entgegenzunehmen.
*
Um die Ergänzung des landwehrärztlichen Officierscorps in ent¬
sprechender Weise zu fördern, werden Doctoren der gesammten Heil¬
kunde und Studirenden der Medicin, welche sich zu einer mindestens
sechsjährigen Dienstleistung als Berufsärzte im Activstaude der k. k.
Landwehr verpflichten, nachstehende Begünstigungen seitens des Mini¬
steriums für Landesvertheidigung zugesichert: A. Doctoren der
720
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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gesanimten Heilkunde, welche den Bedingungen des § 2 der
„Vorschrift über die Ernennungen, Beförderungen etc. im k. k. landwehr¬
ärztlichen Officierscorps“ (Verordnungsblatt für die k. k. Landwehr
Nr. 10 ex 1890) entsprechen, erhalten, wenn sie durch eine specielle
drei- bis sechsmonatliche Erprobung ihre Eignung zu Berufsärzten der
k. k. Landwehr nachgewiesen haben, nach der Uebernahme in den
Activstand einen „Studienkostenersatz“ in der Höhe von 0000 K, und
zwar eine Hälfte dieses Betrages (erste Rate) bei der Ernennung zum
Oberarzt, die andere Hälfte (zweite Rate) bei der Beförderung zum
Regimentsarzt II. CI. Bewerber haben ihre gemäss dem § 2 der oben
citirten Vorschrift, ausserdem mit einem legalisirten Revers nach an¬
geschlossenem Muster und mit. den Nachweisen über ihre ärztliche Ver¬
wendung und Ausbildung nach der Promotion instruirten Gesuche im
Sinne des § 3 der genannten Vorschrift an das Ministerium für Landes-
vertheidigung zu leiten. Die zur Erprobung einberufenen Aspiranten
erhalten während der Probedienstleistung, wenn sie eine Officierscharge
bekleiden, die chargemässigen, sonst die im 20 der Gebührenvor¬
schrift für das k. und k. Heer, I. Theil, festgesetzten Gebühren.
Ji. Studirende der Medicin, welche dem Land wehr ver¬
band angehören, erhalten zur Beendigung ihrer Studien Stipendien
in der Höhe von jährlichen 1 000 K — in monatlichen Raten von 84 K,
beziehungsweise während der Ferienmonate August und September von
80 A" - — dann die zur Bestreitung der Rigorosen- und Promotionstaxen
erforderlichen Mittel, endlich, wenn sie nach Erlangen des Grades eines
Doctors der gesummten Heilkunde durch eine sechsmonatliche Erpro¬
bung als Assistenzarzt-Stellvertreter — mit den im § 20 der Gebiihren-
vorschrift für das k. und k. Heer, I. Theil, festgesetzten Gebühren
— ihre Eignung zu Berufsärzten der k. k. Landwehr nachgewiesen
haben, nach der Uebernahme in den Activstand noch den nach Abzug
der bezogenen Stipendien, Rigorosen- und Promotionstaxen auf G000 A'
fehlenden Betrag zu den unter A angeführten Zeitpunkten. Bewerber
haben die mit dem Tauf (Geburts-)Schein, Heimatsschein, Landwehr¬
pass, dem Nachweis des ledigen Standes, des tadellosen Vorlebens und
der zurückgelegten Studien und abgelegten Prüfungen instruirten, an
das Ministerium für Landesvertheidigung gerichteten Gesuche beim
Decanate der medicinischen Facultät der betreffenden Universität ein¬
zureichen.
*
Programm der Hauptversammlungen des Con¬
gresses in Paris. Die erste allgemeine Versammlung findet den
2. August im Festsaale der Ausstellung unter dem Vorsitze dos Präsi¬
denten der Republik statt. Nach den üblichen Begrüssungsansprachen
folgt der wissenschaftliche Theil mit einem Vortrage Virchow’s:
Ueber Trauma und Infection, und v. Pa w low’s: Die experimentelle
Therapie, eine empfehlenswerthe Methode für die physiologische
Forschung. Die zweite allgemeine Versammlung bringt die Vorträge
von Prof. Bacelli: Ueber die Tetanusbehandlung mit subcutanea
Carbolinjectionen ; Sanderson: Einige pathologische Probleme von
heute; Jacobi: Die Medicin in den Vereinigten Staaten; Albert:
Ueber den Bau menschlicher und thierischer Knochen. Bei der dritten
allgemeinen Versammlung am 9. August, welche wie die zweite im
Amphitheater der grossen Sorbonne abgehalten wird, findet die Zuer¬
kennung des 1897 von der Stadt Moskau gestifteten Preises und die
Bekanntgabe des nächsten Congressortes statt.
Freie Stellen.
Salinenarztesstelle II. Kategorie bei der k. k. Salinen¬
verwaltung in Kaczyka, Bukowina. Mit dieser Stelle ist die Ver¬
pflichtung zur Ausübung des ärztlichen Dienstes in dem die Ortschaften
Kaczyka, Ober-Pertestie und Unter-Pertestie sammt Attinenz Bukowetz um¬
fassenden Curbeziike der k. k. Salinenverwaltung in Kaczyka unter Beob¬
achtung der hiefür vom k. k. Finanzministerium erlassenen Instruction
verbunden. Diese Instruction, sowie die sonstigen Bestimmungen über die
Ausübung des ärztlichen Dienstes bei den k. k. Salinenverwaltungen
können bei diesen letzteren, sowie auch bei der k. k. Finanz-Landesdirection
in Lemberg und bei dem k. k. Finanzministerium in Wien eingesehen
werden. Mit der Stelle eines Salinenarztes zweiter Kategorie ist der An¬
spruch auf ein Jahreshonorar im Ausmasse des Gehaltes eines Civil-
staatsbeamten der X. Rangsclasse, einschliesslich der Quadriennien und
Dienstalters-Personalzulagen, jedoch ohne die den Civilstaatsbeamten zu¬
stehende Activitätszulage verbunden. Ausser dem vorbezeichneten Honorar
bezieht der Salinenarzt II. Kategorie bei der k. k. Salinenverwaltung in
Kaczyka das Brennmateriale um den ermässigten Preis und ein Salzdeputat
nach den für die Salinenbeamten der entsprechenden Rangsclasse geltenden
Bestimmungen. Endlich wird ihm eine Naturalwohnung unentgeltlich über¬
lassen. Hinsichtlich der Versorgungsgenüsse werden die Salinenärzte und
deren Familien nach dem Gesetze vom 14. Mai 1896, R. G. Bl. Nr. 74,
gleich den Civilstaatsbeamten auf Grund ihrer staatlichen Bezüge,
beziehungsweise der gesetzlich normirten Ausmasse gegen die Verpflichtung
zur Zahlung des im § 15 dieses Gesetzes normirten Jahresbeitrages von
3% des jährlichen Honorars behandelt. Für den Fall, als das Vertrags-
verhältniss ohne Verschulden des Salinenarztes von Seite des Staates gelöst
werden und dem Arzte ein Anspruch auf eine Ruhegebühr noch nicht zu¬
kommen sollte, wird ihm die Zurückstellung der eingezahlten 3°/0igen Jahres¬
beiträge ohne Ersatz der Zinsen zugesichert. Das Vertragsverhältniss, auf
welchem die Bestellung eines Salinenarztes durch den Staat erfolgt, ist von
beiden Theilen mit dreimonatlicher Frist kündbar. Bewerber um die aus¬
geschriebene Stelle, welche Doctoren der Medicin, Chirurgie und Geburts¬
hilfe, beziehungsweise Doctoren der gesammteu Heilkunde sein müssen,
haben ihre vorschriftsmässig gestempelten und belegten Gesuche bis läng¬
stens 10. August 1900 bei der k. k. Finanz-Landesdirection in Lemberg
zu überreichen. Diesem Gesuche muss insbesondere angeschlossen sein:
1. die Altersnachweisung; 2. der Nachweis über den erlangten Doctorgrad;
3. über die Staatsangehörigkeit und 4. über das untadelhafte staatsbür¬
gerliche Verhalten; 5. ein amtsärztliches Zeugniss über die physische
Eignung; 6. ein Nachweis der bisher zurückgelegten ärztlichen Thätigkeit
und 7. Nachweis der Kenntniss der Landessprachen. In dem Gesuche haben
die Bewerber auch anzugeben, ob sie in der Lage sind, nach Verständigung
über die erfolgte Verleihung der Salinenarztesstella ihren Dienst sofort
anzutreten oder binnen welcher Frist dies zuversichtlich geschehen kann.
Bewerber, welche eine besondere Ausbildung in der operativen Chirurgie
und Geburtshilfe nachzuweisen im Stande sind, erhalten den Vorzug vor
anderen.
Bei der Redaction eingelangte Bücher.
(Mit Vorbehalt weiterer Besprechung.)
Hankö V.. Die Bäder und Mineralwässer der siebenbürgischen Landestheile
Ungarns. Erdelyi Kärpät-Egyesülfet. Preis M. 4. — .
Baumgarten, Arbeiten aus dem Gebiete der pathologischen Anatomie und
Bacteriologie. Bd. III, Heft 1. Harald Bruhn, Braunschweig 1899.
Preis M. 8. — .
Goldschmidt, Zur Geschichte der Prophylaxe. Seitz & Schauer, München.
42 S.
Greve, Die Prophylaxe der Zahn- und Mundkrankheiten. Ibidem. 26 S.
Jonas, Heilbarkeit der Kurzsichtigkeit und ihre Behandlung. Seyffartb,
Liegnitz. Preis M. — '50.
Jessner, Compendium der Hautkrankheiten, einschliesslich der Syphilide
und einer kurzen Kosmetik. 2. Airflage. Thomas & Oppermannn,
Königsberg i. Pr. Preis M. 6. — .
Liebreich. Encyklopädie der Therapie. Bd. III. Hirschwald, Berlin.
Delpeuch, La goutte et le rheumatisme. Carre & Naud, Paris. 678 S.
Hirtll, Ideen zu einer Enquete über die Unersetzlichkeit der Mutterbrust.
G. Hirtb, München. 64 S.
Ponfick. Verhandlungen der Deutschen pathologischen Gesellschaft. Zweite
Tagung. Reimer, Berlin. Preis M. 15. — .
Jessner, Pathologie und Therapie des Hautjuckens. 2. Theil. Stüber,
Würzburg. Preis M. 1. — .
Strauch. Das Myom in der Fortpflanzungsperiode. (Sammlung klinischer
Vorträge.) Breitkopf & Härtel, Leipzig. Preis M. 0.75.
Gottschalk, Zur Aetiologie der Uterusorgane. Ibidem. Preis M. 0.75.
Vulpins, Ueber den Werth des Stützcorsettes. Preis M. 0.75.
Schwalbe, Beiträge zur Malariafrage. Salle, Berlin. Heft 2. Preis
M. 1.—.
Schemata zum Einschreiben von Befunden für Untersuchungen am mensch¬
lichen Körper. Heft 2 und 3. Schemata für die Unfallversicherung.
Laupp, Tübingen. Preis M. 0.40 und 0.30.
Abt, Ueber Extremitätenfracturen inter partum. Inaugural Dissertation.
Kreis, Basel.
Massini, Pharmakopoea Policlinices Basiliensis. Schwabe, Basel. Preis
M. 3.20.
Ilaegler, Händereinigung — Desinfection und Händeschutz. Ibidem.
210 S.
Marchand, Ueber die natürlichen Schutzmittel des Organismus. Barth,
Leipzig. Preis M. 1. — .
Schott, Die Ileilfactoren Bad Nauheims. Bergmann, Wiesbaden. 58 S.
Elschnig, Pathologische Anatomie des Sehnerveneintrittes. 19. Heft der
ärztlichen Unterrichtstafeln von Prof. Magnus. Kern, Breslau.
Preis M. 8.—
Magnus, Die Anatomie des Auges in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
Ibidem. Heft 20. Preis M. 8. — .
Eder, Jahrbuch für Photographie und Reproductionstechnik (1900).
14. Jahrgang. Knapp, Halle a. S. Preis M. 8. — .
Albrecht und Glion, Die Beulenpe.st in Bombay. 2. Theil des Berichtes:
Bacteriologische Untersuchungen über den Peslbacillus. Hof- und
Staatsdruckerei Wien.
Boyce und Sherrington, The Thompson Yates Laboratories Report. Bd. II.
University Press of Liverpool.
Lessner, Encyclopädie der Haut- und Geschlechtskrankheiten. Vogel,
Leipzig. Preis M. 30. — .
Feldegg, Beiträge zur Philosophie des Gefühls. Barth, Leipzig. Preis
M. 2.50.
Giessler, Die Gemüthsbewegungen und ihre Beherrschung. Ibidem.
Preis M. 1.20.
Pfister, Entmündigung internirter Geisteskranker. Marhold, Halle a. S.
20 S.
Fischer. Ueber Frauenleiden. Deren Heilung unter Verwendung der
Salzungersoole. Ibidem. Preis M. 2. — .
Schenk. Die Hydrotherapie des Darmtractes mittelst Elektrolyse. Ibidem.
Preis M. 1. — .
Schütze, Die Verhütung der Tuberculose unter den Kindern. Ibidem. Preis
M. 1.—.
Wedekind, Junge oder Mädchen? Wedekind, Berlin. Preis M. 0.50.
Nr. 31
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
721
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
Verein der Aerzte in Steiermark. Monatsversammlung am 5. und
12. März 1900.
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien. Sitzung vom
12. Juni 1900.
Oesterreichische otologisclie Gesellschaft. Sitzung vom 26. März 1900.
Wissenschaftlicher Verein der k. u. k. Militärärzte der Garnison
Wien. Sitzung vom 10. und 24. Februar, 3. und 17. März 1900.
Verein der Aerzte in Steiermark.
III. Monatsversammlung am 5. März 1900.
Vorsitzender: Prof. Escherich.
Schriftführer: Dr, Willi. Scholz.
Dr. A. W i 1 1 e k demonstrirt einen durch Calo t’sches Redres¬
sement geheilten Fall spondylitischer Lähmung. Es handelt sich um
ein 73/„ Jahre altes Mädchen, welches im Sommer 1897 über Schmerzen
in den seitlichen Thoraxpartien zu klagen beginnt und seither jede
raschere Bewegung vermeidet. Bei einer schnellen Umdrehung im Bette
(October desselben Jahres) schreit die Patientin plötzlich laut auf,
klagt über heftige stechende Schmerzen im Rücken und die Mutter
findet bei genauerer Untersuchung einen spitzwinkeligen Vorsprung im
Brusttheile der Wirbelsäule. Das Kind konnte sich auch aus der
Rückenlage nicht mehr allein aufsetzen. Weiterhin besserte sich der
Zustand wieder etwas bis im Februar 1898 neuerdings heftige Schmerzen
auftraten. Die Patientin tritt in ärztliche Behandlung und eihält ein
Gypsmieder, welches jedoch von der Muttei wegen anhaltender Schmerzen
nach sechs Wochen wieder entfernt wird. Im Juli treten leichte
Lähmungserscheinungen im linken Beine auf, im December sind bereits
beide Beine gelähmt und Incontinentia urinae et alvi tritt ein.
Die Wirbelsäule des stark abgemagerten, anämischen Kindes
zeigt im Bereiche des siebenten bis zehnten Brustwirbels einen spitz¬
winkeligen Gibbus und erscheint gleichzeitig skoliotisch nach links
verschoben. Beide Beine sind vollkommen gelähmt beide Füsse in
Peroneusstellung, die Patellarreflexe gesteigert, beiderseits Fussklonus
und sehr lebhafte Plantarrefltxe. Zeitweilig, insbesondere bei Berührung
Spasmen in beiden Beinen. Blase und Mastdarm sind insufficient. Im
weiteren Verlaufe treten noch stärkere Sensibilitätsstörungen auf. Am
15. April 1898 wurde auf der chirurgischen Klinik in mässiger Ex¬
tension ein C a 1 o t’scher Mumienverband angelegt. Bereits am 17. d. M.
tritt etwas Beweglichkeit der Zehen ein, die Urinentleerung wird
wieder beherrscht.
In wenigen Tagen verliert sich auch die Incontinentia alvi und
am 26. Juni wurde unter stetig fortschreitender Besserung das Gehen
mit Unterstützung möglich. Nach dreimaligen Verbandwechsel zeigt
sich bis November 1899 bedeutender Fortschritt im Gehvermögen.
Hierauf erhält die Kleine ein Ledermieder mit elastischer Kopfstütze
nach Hessing.
In demselben fühlt sich die Patientin wohl, und geht grosse
Strecken ohne Ermüdung. Der Gibbus ist kleiner geworden, aber
nicht völlig verschwunden. Im Anschlüsse an diese Demonstration erläutert
der Vortragende das Calot’sche Verfahren.
Dr. Stolz bespricht einen Fall geheilter Uterusruptur
und stellt die Patientin vor. Dieselbe ist 28 Jahre alt, IV-para und
wurde am 2. Februar 1900, 6 Uhr Abends mit dem Rettungswagen
ins Gebä-rhaus bebracht. .Sie war seit 18 Stunden gebärend, die
Wehentbätigkeit Anfangs gut. Wegen angeblich verstrichenem Mutter¬
mund sprengte eine Hebamme um 8 Uhr Früh die Blase, doch machte
die Geburt keine Fortschritte.
Die Kranke war unruhig und klagte über Schmerzen im Unter¬
bauche. Temperatur 38'2°, Puls 84, Harn eiweisshaltig. Uterus gleieh-
mässig contrahirt, der Fundus zwei Querfinger unter dem Proc. xiph.
Das untere Uterussegment gedehnt, B a n d l’sche Furche nicht sicht¬
bar, die Lig. rot. nicht zu tasten. Fötale Herztöne normal. Orificium
ext. verstrichen, der Schädel in erster Gesichtslage am Beckenboden.
Mau constatirt ein Palatum fissum und Missbildungen an den Ohren.
Beim Anlegen des Forceps lief etwas wässerige Flüssigkeit aus der
Scheide. Die Zange wurde daraufhin wieder abgenommen und eine
Untersuchung ausgeführt. Neben dem Hinterhaupte lag ein PJacentar-
lappen, auf dem eingeführten Finger sah man gehirnähnliche Massen.
Beim Versuche der Perforation verschwand der Schädel spurlos im
Abdomen. Links vorne wurde ein Gebärmutterriss constatirt.
Es wurde sofort die Laparotomie gemacht, das Kind entwickelt
und der Uterus zugleich entfernt. An seiner vorderen Fläche verlief
ein 13 cm langer Riss im unteren Uterinsegment. Drainage der para-
metranen Wundfläche mittelst zwei durch die Vagina herausgeleiteter
Jodoformgazestreifen, über denen das Peritoneum der Plica vesico-uterina
durch drei Situationsnähte an das Peritoneum der Plica Douglasi ge¬
lagert wurde. Hierauf Infusion von Kochsalzlösung zur Hebung der
Ilerzthätigkeit. Trotz gutem Allgemeinbefinden leichtes Erbrechen, am
dritten Tage sogar Kothbreehen. Magenspülung. Durch vier Tage
Fieber in Folge eines Infiltrates in der rechten Fossa iliaca. Dieses
verkleinerte sich spontan. Von da an glatte Convalescenz. Am
25. Tage post op. wurde die Frau entlassen. Anschliessend bespricht
der Vortragende die Ursache, den Mechanismus, den Ausgang, die
Prognose und die Therapie der Uterusruptur.
Prof. Dr. v. Rosthorn erwähnt in der Discussion eines
früher beobachteten Falles von Uterusruptur, in welchem das bekannte
Symptomenbild der Ruptur völlig fehlte, und kritisirt die conservative
und radicale Behandlung der completen und incompleten Uterus¬
ruptur.
Prof. Dr. Kraus berichtet über den gegenwärtigen Stand der
Lehre von der Splanchnoptose. Er skizzirt kurz das bekannte
Symptomenbild und stellte eine directe Abhängigkeit der nervösen Be¬
schwerden von der Enteroptose in Abrede. Es gibt auch eine „nervöse“
Dyspepsie ohne Prolaps der Baucheingeweide. Die Chlorose ist keine
„enteroptosische Krise“. Auf Grund der Symptomatologie werden zwei
Gruppen von Splanchnoptose aufgestellt, ein Typus mit Hängebauch
und ein zweiter mit straffer Bauchwand, welcher mit einer gewissen
Wuchsform des Gesammtkörpers verknüpft erscheint. Gegenwärtig
handelt es sich um eine Analyse der Symptome aus den speciellen
Gesichtspunkten des normalen intraabdominellen Gleichgewichtes. Die
Splanchnoptose ist im Wesentlichen eine Lageverändei ung möglichst
vieler Baucheingeweide. Ein Emporrücken derselben ist seltener als
eine Ptosc.
Speciell erörtert wild das Verhältniss zwischen Ilineinseukung
und Tiefstellung des Magens. Die Erhaltung der Baucheingeweide in
ihrer Lage wurde früher einfach den Bändern des Bauchfelles zuge¬
schrieben.
Ein Fixationsvermögen ist nicht zu bezweifeln, doch ist Glenard
im Schematismen zu w7eit gegangen, wenn er die Enteroptose einfach
als Prolaps des Darmcanals in Folge Erschlaffung des stützenden
Bauchfelles ansieht und die Darmsenkung erst secundär auf Magen,
Nieren etc. übergehen lässt. Experimentell-anatomisch wurde nach¬
gewiesen, dass die Lage der Eingeweide gestört wird, wenn die Bauch¬
höhle eröffnet oder die Bauchwand bei intact bleibendem Peritoneum
verschmächtigt wird. Der obere Meniscus eines z. B. ins Rectum ein¬
geführten, mit Wasser gefüllten Manometers stellt sich bei den ver¬
schiedensten Körperstellungen in annähernd gleiche Höhe mit dem
jeweilig höchsten Punkt der Bauchhöhle. Dieses Verhalten beweist,
dass die Eingeweide von den unterliegenden Organen (Bauchwand)
gestützt werden. Die Bänder spielen nur eine geringfügige Rolle als
Träger. Die Berücksichtigung des im Abdomen herrschenden Druckes
hat die Lehre von der Splanchnoptose weiter nicht wesentlich ge¬
fördert. Der Ilermetismus der Bauchhöhle führt am leichtesten zu
einen Verständniss der beiden Haupttypen der Splanchnoptose. Der
Inhalt des Peritonealsackes stellt ein nicht dissociirbares Ganzes dar
und bildet eine Art elastischer Pelotte für die Nieren; dabei ist die
Bauchwand die Bandage. Nimmt die Füllung der Pelotte zu, erschlafft
die Bandage. Lässt hingegen zuerst die Bandage Dach, vermag nicht
immer gleich gut die Pelotte zu compensiren. Auch bei straffer
Bandage ist ein Herabhebeln der Niere durch den Druck einer ent¬
sprechend geformten Leber im engen oberen Bauchhöhlenraume von
vorneherein ganz gut möglich. Die Aenderung der Straffheit der
Bauchwand ist auf die Lage der Nieren von grösserem Einfluss als
auf die Lage der einzelnen Eingeweide des Bauchfellsackes. Die Lage
der Nieren ist also ein Index des intraabdominellen Gleichgewichtes.
Es sind passive oder anatomische und active oder physiologische Fac-
toien der Fixation der Baucheingeweide am normalen Orte anzunehmen.
Die anatomischen Ursachen einer abnormen Eingeweidebeweglichkeit
sind congenital constitutionelle Anomalien oder Insuff ieienzen localer
Apparate. Die höchste Bedeutung für die Befestigung der Baueh-
organe hat die Bauchpresse, sie hält den Inhalt der Abdominalhöhle
zusammen durch ihre Widerstandskraft und ihr Contractionsvermögen.
Ihre Schwächung stellt das wesentliche ursächliche Moment der zahl-
722
Nr. 31
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
reichsten Splanchnoptosegruppe dar. Der \ erlust der Elasticität und
Contractilität der Bauchmusculatur ist etwas Erworbenes und wird bei
beliebiger Wuchsform des Gesammtkörpers hervorgerufen durch
allgemeine Ernährungsstörungen, insbesondere durch wiederholte
Steigerung des Bauchumfanges (am häufigsten bei Multipara), sowie
durch schwere körperliche Anstrengungen. Demgegenüber bilden die
an eine bestimmte anatomische Constitution geknüpften Fälle von
Splanchnoptose mit gut entwickelten, beziehungsweise straffer Bauch¬
musculatur entschieden eine Minorität. Das Stille r sehe Zeichen, die
Costa fluctuans decima, rechnet der Vortragende nicht zu den ein¬
schlägigen, constitutionellen Merkmalen.
Die wesentlichen Eigenthümlichkeiten der erwähnten M uchs¬
form sind: Gradier Körperbau, enger Thorax mit schmaler Apertura
inferior, zarte Haut, dürftiger Panniculus, schmächtige Muskelbäuche
mit geringem Tonus, Neigung zur Anämie. Der Vortragende bespricht
hier besonders den Körpertypus von Lennhoff und die von
W o 1 k o w und D e 1 i t z i n untersuchte abweichende Beschaffenheit
der hinteren Bauchwand an deren Vorderfläche, sowie in Hinsicht des
Lendenprofiles. Grösseres Gewicht muss auf die von Hertz genauer
studirte Leberform gelegt werden. Nach dem Vortragenden ist nicht
so sehr der Schnürdruck, als vielmehr das Ausbleiben des Wachsthums
der unteren Thoraxhälfte im frontalen Durchmesser die Ursache der
von Hertz sogenannten „kurzen, emporgepressten Leber“. Die
Plasticität einer grossen, ausgiebig wachsenden Leber im relativ zu
kleinen oberen Bauchhöhlenraume ist das Bedingende dieser Leber¬
form, von welchen Hertz gezeigt hat, dass durch sie die rechte
Niere aus der paravertebralen Nische herausgehebelt und nach abwärts
dislocirt wird. Die Folge ist nicht blos Nephroptose, sondern Prolaps
aller (vieler) Eingeweide des oberen Bauchhöhlenraumes. Trotz der
Einwände von Wolkow und Delitzin hält also der Vortragende
für die wesentliche Ursache der Splanchnoptose bei schlankem Körper
oder straffer Bauchpresse den sogenannten engen Thorax. Eine zu hohe
Umgiirtung vermag natürlich auch für sich die Niere nach abwärts
zu verschieben. Der Einfluss des Corsetts ist aber immer stark über¬
schätzt wurden. Zum engen Thorax kann sich natürlich ein Hänge¬
bauch hinzugesellen.
*
IV. Monatsversammlung, am 12. März 1900.
Prof. Dr. v. Iiosthorn zeigt ein Kind mit doppeltem
Cephalhämatom. Ueber den Scheitelbeinen sind hohe Prominenzen,
entsprechend der Pfeilnaht eine tiefe Einsenkung. Es handelt sich um
eine subperiostale Blutansammlung, welche sich genau auf das Scheitel¬
bein beschränkt. Das Kind wurde in erster Schädellage geboren. Die
spontane Geburt dauerte bei der Erstgebärenden kaum 20 Minuten.
Post partum zeigte der Kindesschädel keine Veränderung, erst am
zweiten Tage wurde die Blutgeschwulst entdeckt, welche langsam
aber stetig wuchs. Das Kind (3820 g) verlor Anfangs an Gewicht, erst
nach einer Woche, bei künstlicher Ernährung, begann es zuzunehmen.
Am zehnten Tage konnte ein Gleichbleiben des Hämatoms con-
statirt werden. Doppelseitige Cephalhämatome sind wiederholt beob¬
achtet worden, immerhin aber eine Seltenheit. Als Ursache bezeichnet
der Vortragende, entsprechend der Anschauung von Fritsch, ein
Zerroissen kleiner, periostaler Gefässe in Folge extremer Verschiebung
zwischen Schädeldach und Kopfschwarte. Weiterhin demonstrirt Pro¬
fessor v. Rosthorn den Durchschnitt eines solchen Hämatoms.
Nach ausgeführter Formalinhärtung wurde ein Frontalschnitt durch
den Schädel gelegt. Es fand sich hier auch eine innere Blutung, der
das Kind erlegen war. Die Grosshirnhemisphäre der beschädigten Seite
ist schwer geschädigt, von einem Ventrikel nichts mehr zu sehen und statt
einerConvexität der Gehirnoberfläche zeigt sich eine Concavität. Die Aus¬
dehnung der inneren Blutung entspricht nicht der äusseren. Der Fall
war auch im Leben durch Dr. Zinger le untersucht worden. Es
fanden sich Symptome einer bestehenden intracraniellen Drucksteigerung
(Koma, tonische Muskelstarre mit zeitweisen klonischen Krämpfen, ge¬
steigerte Reflexerregbarkeit), Compression der venösen Sinus (Oedem
der Lider links) mit consecutiven Störungen in den Abflusswegen des
Liquor cerebrospinalis (Hydrocephalus internus, Spannung der grossen
Fontanelle, Fehlen der pulsatorischen Hirnbewegung daselbst) und
Facialiscontractur, Abducensparese und Pupillenstarre links. Ueber den
Geburtsfall ist wenig zu berichten: Erstlingsgeburt; Geburtsdauer
14 Stunden; normale Entbindung in zweiter Hinterhauptslage; Becken
normal. Das männliche Kind ist 3270 g schwer und zeigt eine leichte
Kopfgeschwulst links. Am vierten Tage entstand das Cephalhämatom
und unter Hirndruckerscheinungen trat am 18. Tage der Tod ein.
Prof. Dr. Anton macht aufmerksam auf die verschiedene Lage
des inneren und äusseren Cephalhämatoms. Aehnliches findet sich
auch bei Schädelverletzungen Erwachsener. Als Todesursache im vor¬
liegenden Falle wäre die beträchtliche Zunahme des Druckes im
Schädelinnern heranzuziehen, nicht aber die Zerstörung der Grosshii n-
theile .
Prof. Dr. Escherich zeigt einige Gegenstände, welche für
die wissenschaftliche Abtheilung der Pariser Weltausstellung be¬
stimmt sind.
Prof. Dr. E p p i n g e r demonstrirt eine angeborene Lagerungs¬
anomalie des Darmcanales, die er jüngst bei einem sechsjährigen
Knaben gefunden hatte. Die Anomalie ist eine solche, welche man als
gemeinschaftliches freies Mesenterium des Dünn- und Dickdarmes mit
unvollendeter Aufstellung desselben zu bezeichnen pflegt, wobei der
Dünndarm in der rechten, der Dickdarm in der linken Bauchhöhle
gelagert erscheint. Die Beschreibung des Präparates und die Erläuterung
des Falles durch den Vortragenden lässt sich nicht in ein kurzes
Referat zusammenfassen und erscheint als Originalarbeit.
Hierauf wird die Discussion über den Vortrag des Prof. K raus
„Ueber Splanchnoptose“ eröffnet.
Prof. Dr. E p p i n g e r macht kurze Bemerkungen über
Enteroptose vom pathologisch-anatomischen Standpunkte aus.
Prof. Dr. v. Rosthorn begründet das Interesse der Frauen¬
ärzte an der Enteroptose durch die auffallend prävalirende Häufigkeit
derselben bei weiblichen Individuen, begrüsst aber als grossen Fort¬
schritt, dass die Lageanomalien der Baucheingeweide nicht mehr ein¬
seitig von Internisten, Chirurgen oder Gynäkologen beachtet, sondern
nunmehr als wohlgekanntes Symptomenbild zusammengefasst werden.
Den Frauenärzten war anfangs nur der Hängebauch mit den durch
ihn bedingten Beschwerden geläufig; erst spät wurden die Formen bei
virginellen Individuen mit straffen Bauchdecken und dislocirter Niere
bekannt. Bei der Form der Splanchnoptose mit Erschlaffung der
vorderen Bauehwand findet sich auch eine durch wiederholte Ueber-
debnung herbeigeführte Erschlaffung des Beckenbodens und die ent¬
sprechende Entwicklung von Hernien der Beckenorgane. Die Be¬
ziehungen des Vorkommens der reinen Retroflexio uteri zur Enteroptose
sind noch nicht genügend controlirt. Die Retroflexio ist keineswegs
eine regelmässige Begleiterscheinung der Wanderniere, denn Knapp
fand unter 100 Fällen 85mal den Uterus in anteflectirter Stellung.
Zum Schlüsse demonstrirt noch Dr. Mahnert eine Frau mit
Splanchnoptose.
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien.
Sitzung vom 12. Juni 1900.
Vorsitzender: Prof. Obersteiner.
Schriftführer: Dr. v. Sölder.
I. Dr. Zap pert berichtet über den weiteren Verlauf des in
dev vorigen Sitzung vorgestellten Meningitisfalles mit initialer Aphasie.
Das Kind lebte noch 17 Tage und bot das typische Bild der
tuberculösen Meningitis; Anfangs mit cerebralen Druckerseheinungen,
dann mit Lähmungssymptomen und einem langen Agonalstadium. Un¬
gefähr eine Woche vor dem Tode traten gehäufte Krämpfe vorwiegend
im linkenFacialis und Arme auf. Die rechtsseitige Hemiparese
wurde gegen Schluss des Lebens undeutlicher, die Aphasie blieb im
Wesentlichen unverändert, doch gelangte das Kind noch in den
Besitz einzelner Worte wie „Ja“ und „Mutter“. Im Ganzen dauerte
die Krankheit 23 Tage. Die Obduction ergab, wie intra vitam dia-
gnosticirt worden war, eine subacute tuberculöse Meningitis in der
Gegend der linken S y 1 v i’schen Furche, mit Tuberkelknötchen bis
Ilanfkorngrösse auf der rrnteren Stirnwindung, ferner ein frischeres,
charakteristisches Exsudat an der Basis und eine allgemeine Hyperämie
der Meningen mit Hirnödem und ganz vereinzelten kleinen Knötchen
auf der rechten Grosshirnhemisphäre; ausserdem bestand Lungen-,
Bronchialdrüsen-, Pleura- und Peritouealtuberculose. Auffallend sind in
dieser Krankengeschichte ausser der Aphasie die Krämpfe, welche
sich im Beginne nur auf die rechte, gegen Schluss der Krankheit vor¬
wiegend auf die linke Seite erstreckten.
Vortragender glaubt auf Grund einer früheren ähnlichen Beob¬
achtung, diese Erscheinung so deuten zu können, dass die gegen
Schluss der Basalmeningitis auf die Convexität übergreifende Hyper¬
ämie, respective frische Tuberkeleruption, welche als Ursache der bei
der kindlichen Meningitis so häufigen terminalen Convulsionen ange¬
sehen wird, die bereits mit älterem Exsudat überzogenen Gehirn¬
partien nicht mehr zu schädigen vermag, so dass nur die bisher ge¬
sunde Hemisphäre auf den gesetzten Reiz mit halbseitigen Convulsionen
reagirt.
II. Dr. Zap pert stellt einen zehnjährigen Knaben mit einer
Muskelatrophie vor. Bei demselben wurde Mitte December 1899, an¬
geblich nach einer acuten Erkrankung, eine geringgradige Gehstörung
im linken Bein beobachtet. Zu dieser trat im Verlaufe weniger
Wochen auch eine Schwäche des rechten Fusses hiezu und ausserdem
konnte vom Vortragenden eine Parese und Atrophie beider Hände
constatirt werden, von deren Existenz der Patient nichts gewusst hatte.
Die Erscheinungen sind seither langsam progredient.
Nr. 31
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
723
Der sonst gesunde, kräftige Knabe bietet derzeit nur eine deut¬
liche, mit geringer Atrophie einhergehende Parese beider Peroneal-
muskelgruppen, sowie eine recht ausgesprochene Abmagerung und
Functionsschwäche des Thenar, Antithenar und der Interossei beider
Hände dar; links sind die Erscheinungen deutlicher als rechts.
Sensibilitätsstörungen fehlen vollkommen (im Beginne sollen, wie Vor¬
tragender später erfährt, Schmerzen in den Beinen vorhanden ge¬
wesen sein); eine Druckempfindlichkeit der Nervenstämme existirt
nicht. Der Patellarreflex wurde zuerst links, dann rechts schwächer,
ist jetzt vorhanden, aber nicht leicht auslösbar. Der Achillessehnen¬
reflex fehlt beiderseits. Die elektrische Untersuchung ergab normale
Erregbarkeit sämmtlicher Muskeln, auch der Peronei. Zur Hervor-
rufung von Zuckungen in den atrophischen Handmuskeln sind ent¬
sprechend stärkere Ströme noth wendig. Ebenso sind auch die Nerven
normal erregbar; doch bedarf der Nervus ulnaris und namentlich der
Nervus peroneus einer Stromstärke, welche gegenüber der gewöhnlich
sehr leichten Erregbarkeit dieser Nerven als eine erhöhte bezeichnet
werden muss.
Vortragender kommt nach differentialdiagnostischen Erwägungen
zu der Annahme einer neuralen Muskelatrophie (Hoff¬
mann). Dafür spricht die charakteristische Localisation der Krank¬
heit, die Reflexherabsetzung und bis zu einem gewissen Grade die
elektrischen Reizungsverhältnisse; nicht ganz typisch ist das Fehlen
der Familiarität und die anscheinend ungestörte subjective und objective
Sensibilität.
III. Dr. E. R a i m a n n berichtet aus der Klinik Professor
v. Wagner’s über die bisherigen Erfahrungen mit He do nal.
Um zu sehen, ob das neue Hypnoticum so weit unschädlich und
ungefährlich sei, dass eine eventuell unwirksame kleine Dosis ohne
Risico gesteigert werden könne, ging Redner zunächst daran, die
Dosis toxica, respective letalis zu bestimmen. Er stellte zu diesem Be-
hufe eine Reihe von Thierversuchen an und verabfolgte einer Katze,
zwei Hunden, einer Serie von Kaninchen steigende Quantitäten von
Hedonal, theils per os, theils subcutan; dabei wurden die Intoxications-
erscheinungen studirt und protokollarisch verzeichnet. Kurz resumirend
berichtet der Vortragende, dass bei allen Thieren Schlaf zu erzwingen
war, der mehr oder minder tief selbst 27 Stixnden dauern konnte. In
allen Fällen erfolgte eine Herabsetzung der Puls- und Athemfrequenz,
sowie ein Absinken der Körpertemperatur. War die Hedonalgabe
letal gewesen, so sank die Körpertemperatur immer tiefer (bei einem
Kaninchen im Rectum bis 28-7° C.), der Puls wurde unfühlbar, die
Athemzüge immer langsamer, flacher und hörten endlich ganz auf. In
guter Uebereinstimmung erschien bei allen drei Thierspecies die Dosis
letalis als ungefähr l'O# Hedonal pro 1% Thier. Wenn auch diese
Zahl nicht ohne Weiteres auf den Menschen übertragen werden kann,
so war doch nachgewiesen, dass wTir ein ziemlich ungefährliches Prä¬
parat vor uns haben.
Nun begannen die Versuche am Menschen, und zwar mit der
von Dreser als wirksam angegebenen Dosis von PO#. Wir ver¬
abreichten dieselbe entweder in Lösung (PO# Hedonal : 15 cm3 ab¬
soluten Alkohol -j- 35 cm3 Wasser) und Hessen etwas Wasser nach¬
trinken, oder wir gaben das Hedonal als Substanz in Oblaten. Wir
verfügen nach dreimonatlicher Beobachtungsdauer bis heute über
87 Versuche an 34 klinischen Patienten, ausschliesslich psychisch
Kranken; und zwar wählten wir Vertreter der verschiedensten
Psychosen. Einer gewissen Beschränkung unterliegt die Anwendung
von Hedonal insofern, als bei höchstgradigen Aufregungszuständen
dieses Schlafmittel ebenso schwer beizubringen ist, wie etwa Paral-
dehyd oder Chloralhydrat. Weiters ist es unmöglich, eine Substanz,
die so intensiv riecht und schmeckt wie Hedonal, inscio aegroto zu
geben. In der Regel aber begegnete die Aufnahme des Medicamentes
keinen Schwierigkeiten. Die Patienten wurden sowohl bezüglich der
beabsichtigten Hauptwirkung, als auch aller Nebenerscheinungen fort¬
dauernd ärztlich controlirt, speciell wurde das Verhalten des Pulses-,
der Respiration, des Blutdruckes, des Harnes festgestellt. Bei der
noch nicht ausreichenden Zahl von Beobachtungen verzichtet der Vor¬
tragende darauf, die Wirkungsweise mit Rücksicht auf die verschie¬
denen Krankheitsprocesse zusammenzustellen; er will nur eine vor¬
läufige Uebersicht geben. Wenn man als positiv (-(-) die Fälle rechnet,
wo der grössere Theil der Nacht, eventuell mit kurzen Unter¬
brechungen, durchschlafen wurde; als zweifelhaft (?) jene, wo der
Schlaf sehr spät eintrat, kurz dauerte, wiederholt unterbrochen war ;
als negativ ( — ) diejenigen, wo weniger als zwei Stunden durch¬
schlafen wurden, so lässt sich folgende Aufstellung machen:
PO# Hedonal in weingeistiger Lösung. 5 Versuche bei
5 Männern: lmal — , 4mal ?; 35 Versuche bei 18 Weibern : 2mal — ,
11 mal ?, 22mal -j-.
PO# Hedonol in Substanz. 20 Versuche an 9 Männern: lmal — ,
8mal ?, llmal -j-; 16 Versuche an 9 Weibern: 2mal — , 14mal -j-.
Schon diese Zahlen mussten den Gedanken nahelegen, dass die
Dosis von PO# Hedonal für männliche Individuen zu klein gewählt
war und die Darreichung in flüssiger Form, wahrscheinlich zufolge
überrascher Resorption keine genügend nachhaltige Wirksamkeit
sichere. Auf Grund unserer Thierversuche, sowie der Ergebnisse einer
genauen Controle aller Erscheinungen bei unseren klinischen Patienten
glaubten wir, mit der Dosis ohne Risico steigen zu dürfen.
Wir gaben je 2-0# Hedonal in 11 Versuchen an 7 Männern:
lmal — , 3mal ?, 7mal -f-.
Der einzige negative und zwei der zweifelhaften Ausfälle betreffen
einen an hartnäckigster Schlaflosigkeit und gleichzeitig an Kopfschmerzen
leidenden Paranoiker, bei dem 8-0 # Paraldehyd auch nicht selten ver¬
sagen. Am bedeutendsten wurde durch diese Dosis von 2# in einzelnen
Fällen die Körpertemperatur alterirt (bis 35‘6° C. um 5 Uhr Morgens
in der Achselhöhle gemessen). Nach kürzester Zeit war diese Störung
indess wieder ausgeglichen ; irgendwelche unangenehmen Neben- oder
Nachwirkungen wurden in keinem Falle beobachtet. Wir sind nun
daran, die Wirksamkeit grösserer Dosen auszuprüfen; die Zahlen der
obigen kleinen Statistik ermuntern zu einer Fortsetzung der Versuche
in dieser Richtung. Ein abschliessendes Urtheil über die Wirksamkeit
des Hedonal abzugeben, ist vor der Hand wohl noch unmöglich.
Ebenso können wir über das Verhalten der Patienten gegen länger
fortgesetzten Gebrauch des Mittels keine Angaben machen.
Anhangsweise bespricht der Vortragende ganz allgemein, wie
schwierig es ist, über die hypnotische Wirksamkeit eines Medicamentes
ins Klare zu kommen. Selbst bei den unter möglichst gleichmässigen
äusseren Verhältnissen lebenden klinischen Patienten schwanken Dauer
und Intensität des Schlafes von Nacht zu Nacht. Hinwieder tritt spon¬
taner Schlaf ein bei einem Kranken, der ein anderes Mal auch auf
grosse Dosen eines sonst sicher wirkenden Mittels nicht schläft. Ein
zufälliger Factor fälscht also jede Statistik. Dieser Factor dürfte aber
durch sehr grosse Beobachtungsreihen und immer wiederholte Ver¬
suche zu eliminiren sein Dass Wärterrapporte und ebenso die Angaben
aus der Umgebung ambulanter Kranker unzuverlässig sind, muss
gleichfalls berücksichtigt werden. Ausserordentlich wichtig aber, weil
einseitig die Resultate fälschend, ist die Suggestivwirkung eines
neu empfohlenen Schlafmittels bei besonnenen Kranken. Jeder, der
einmal Gelegenheit hatte, die suggestiv-hypnotische Wirkung ganz
indifferenter Substanzen bei Neurosen zu beobachten, wird gerne zu¬
geben, dass jede solche Statistik zu günstig ausfallen dürfte. Um die
rein chemisch-physikalische Wirkung eines Schlafmittels zu beurtheilen,
sind Psychosen wohl das einwandfreieste Versuchsmaterial. Sollte sich
das Hedonal hier bewähren, so wird es bei anderen Fällen von Schlaf¬
losigkeit gewiss nicht versagen.
(Eine ausführlichere Mittheilung wird seinerzeit erscheinen).
Discussion: Prof. Obersteiner hat in seiner Anstalt
Versuche mit Hedonal gemacht, ohne zu einem abschliessenden
Urtheile gelangt zu sein; Obersteiner selbst, der an neurastheni-
scher Schlaflosigkeit leidet und mit 1 — 3# Amylenliydrat Schlaf
erzielt, schlief auf 0-5# Hedonal nicht, wohl aber auf PO#.
Dr. Schüller findet Hedonal bei Neurasthenikern indicirt ;
weniger als PO# wirke nicht. Die Darreichung in Oblaten sei schon
wegen des Geschmackes die allein zweckmässige.
IV. Prof. v. Frankl-Hochwart und Dr. Alfred
Fröhlich: Ueber Tonus und Innervation der
Sphinkteren des Anus.
Vortragende sind auf Grund ihrer im Institute von Ilofrath
Zucker kan dl gemachten anatomischen Untersuchungen und auf
Grund von 95 Vivisectionsversuchen am Hunde im Institute von
Prof. v. Basch zu folgenden Resultaten gekommen:
Der elastische Verschluss ist wenigstens für flüssigen Darm¬
inhalt nicht sufficient. Wir brauchen zur Aufrechterhaltung der
Continenz einen permanenten, vom Willen unabhängigen, vom Nerven¬
system aber abhängigen Muskelverschluss. An diesem perma¬
nenten Muskelverschluss betheiligt sich nicht nur der glatte Sphincter
internus, sondern auch der quergestreifte externus, welch letzterer sich
in seinen Reactionen merkwürdiger Weise den glatten Muskeln nähert.
Er entartet nicht nach Nervendurchschneidung, seine Zuckungseurve
ist ähnlich wie bei den glatten Muskeln, er widersteht auffallend
lange dem Curare. Wie man durch Messungen zeigen kann, gebührt
ihm !/3 — !/2 der tonuserhaltenden Kraft.
Der periphere Nerv, welcher die Constriction erzeugt, ist beim
Hunde der Erigens, der dilatirende Nerv ist der Hypo¬
gas t r i c u s. Im Rücken marke ist eine Vorrichtung für die
Constriction vorhanden, indem man reflectorisch von der Medulla
leicht Erhöhung des Tonus erzielen kann. Wenn man die Constrictions-
fasern resecirt hat, gelingt es auch, reflectorisch Dilatation zu
erzeugen. Im Erigens und Hypogastrieus lassen sich durch anatomische
Untersuchungen, sowie durch das Experiment auch centripetale Fasern
von genügender Kraft nachweisen. Das Rückenmark ist aber nicht
das einzige Tonuscent rum; selbst wenn es total zerstört ist,
gelingt es noch, Constriction und Dilatation zu erzielen, als deren
Centralapparat wohl das Ganglion mesentericum
724
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 31
i n f e r i u s anzusehen ist; dass wir aber damit noch nicht alle Stationen
erschöpft haben, geht daraus hervor, dass nach Zerstörung des
R ü c k e n m a r k o s, des Ganglion mesentericum i n f e r i u s
und sämmtlicher Rectalnerven durch Musearin noch
immer Constriction erzielt wird, die durch Atropin wieder aufge¬
hoben wird.
Oesterreichische otologische Gesellschaft.
Officielles Protokoll der Sitzung vom 26. März 1900.
Vorsitzender: Prof. Politzer.
Schriftführer: Dr. Hugo Frey.
Einlauf: Die Herren Doctoren Victor Pick (Wien) und
Rudolf L ö w y (Mödling) suchen um Aufnahme als ordentliche Mit¬
glieder nach.
Dieselben werden einstimmig aufgenommen.
Demonstrationen:
I. Gomperz berichtet über einen gelungenen Versuch, durch
Schleie h’sche Infiltration Anästhesie des Trommelfells zum Zweck
der Ilammerexcision herbeizuführen. Die Injection wurde circa 1 cm
nach aussen von der Trommelfellperipherie in die hintere und obere
Gehörgangswand gegen den die Nerven und Gefässe führenden Cutis¬
abschnitt hin ausgeführt, was mit unbedeutendem Schmerz verbunden
war. Nach fünf Minuten wurden die Trommelfellschnitte, die Tenotomie
und Hammerextraction mit. der Schlinge vorgenommen, wobei eine be¬
deutende, wenn auch nicht absolute Unempfindlichkeit sicher constatirt
werden konnte. Der Vortragende bittet die Herren Collegen, welche
über ein grösseres Material verfügen, in geeigneten Fällen die Methode
nachzuprüfen, da dieselbe berufen sein könnte, die Nothwendigkeit der
Narkose bei der Excision der Gehörknöchelchen bedeutend einzu¬
schränken.
Nach Anlegung des Trommelfelllappens könnte durch Auftupfen
stärkerer Cocainlösung auf die Mucosa die Wirkung vervollständigt
werden.
Gomperz infiltrirte mit der l%o'gen Lösung Nr. II, möchte
aber künftig lieber die 2°/00ige Lösung Nr. I verwenden.
Zur Ausführung der Infiltrationsanästhesie bediente er sich einer
Canute, welche nach seiner Angabe von Reiner (Wien) gefertigt
wurde. Dieselbe ist auf den Spritzenconus passend, circa 1 1/% mm dick,
7 cm lang, winkelig abgebogen, aus Neusilber und trägt am Ende die
1 cm lange, sehr dünne Injectionsnadel angelöthet. Dieselbe kann
gerade oder leicht nach abwärts gekrümmt sein.
Discussion: Politzer fragt, ob nicht derselbe Effect auch
durch Einträufelung von Cocain hätte erzielt werden können.
Gomperz erwidert, es habe sich seiner Meinung nach haupt¬
sächlich um die Wirkung der Infiltration gehandelt.
II. Hamm er schlag: Fall von gleichzeitiger Er¬
krankung des Acusticus, Facialis und der Augen¬
mus k e 1 n e r v e n. (Wird an anderem Orte ausführlicher publicirt
werden.)
Hamraerscblag stellt eine Patientin aus der Klinik Politzer
vor. Hei derselben besteht seit mehreren Jahren eine chronische, linksseitige
Mittelobreiterung. Im Verlaufe der letzten Monate nun hatte sich bei
dieser Patientin eine Parese sämmtlicher Facialisäste, eine Parese
sowohl im sensiblen, als auch motorischen Trigeminusgebiet und eine,
mit Ausnahme des nur paretischen Trochlearis, complete äussere und
innere Ophthalmoplegie entwickelt. Bei der Aufnahme der Patientin auf
die Klinik bestand ausserdem hohes Fieber, welches indessen auf einen
peritonsillären Abscess zurückzuführen war. Ein Causalnexus zwischen
der bestehenden Mittelohreiterung und dem allmälig und fieberlos
auftretenden Symptomencomplex von Seiten der Nerven liess sieb mit
Sicherheit ausschliessen. Als Ursache desselben wurden luetische Ver¬
änderungen an den Meningen angenommen, obzwar die Anamnese
keinerlei Anhaltspunkte dafür ergab. Die Patientin ist Mutter von
sieben gesunden, lebenden Kindern. (Seither wurde Patientin mit Ein¬
reibungen von Unguent, colloid. Crede und grossen Gaben Jodkali
behandelt, und die Erscheinungen sind theilweise zurückgegangen, und
zwar die Facialislähmung vollständig, die Trigeminuslähmung bis auf
eine minimale Parese ; der Augapfel konnte bei der Entlassung aus der
Klinik in mässigem Umfange nach allen Richtungen bewegt werden,
die im Beginn hochgradig erweiterte und starre Pupille reagirt ziemlich
deutlich auf Licht.)
III. Docent Dr. F. A 1 t demonstrirt einen 53jälirigen Mann
mit tuberculöser, chronisch-eiteriger Mittelohrentzündung und Labyrinth¬
nekrose des linken Ohres. Es besteht sehr profuse, jauchige Otorrhoe,
der Gehörgang ist weit, die Promontorialwand vollständig zerstört,
ebenso ein grosser Theil der hinteren oberen knöchernen Gehör¬
gangswand mit dem Canalis facialis, so dass man in eine ganz unge¬
wöhnliche Tiefe sehen und das nekrotisirte innere Ohr mit der Sonde
untersuchen kann. Auch das Jochbein ist von dem tuberculösen Pro¬
cess mitbegriffen, und ein Abscess über demselben machte eine
Incision erforderlich. Es besteht links complete Lähmung des Nervus
facialis ; der Zustand entwickelte sich ohne stürmische Reizerscbei-
nungen seitens des Labyrinths, kein Schwindel, kein Erbrechen, und
erträgt der Kranke seinen Zustand relativ gut. Mit Rücksicht auf die
bestehende Lungenphthise wurde von einem grösseren operativen Ein¬
griffe abgesehen.
IV. Prof. A. Politzer demonstrirt das anatomische Präparat
eines Felsenbeines, an welchem bei annähernd normaler Weite des
Antrum mastoideum der Aditus ad antrum nur für eine feine Borste
durchgängig ist.
Die Versammlung beschliesst, wegen der bevorstehenden Oster¬
feiertage die nächste Sitzung Ende Mai abzuhalten. Im Monat Juni
wird anstatt des Otologentages eine Hauptversammlung der Gesellschaft
stattfinden.
Wissenschaftlicher Verein der k. und k. Militärärzte der
Garnison Wien.
Sitzung am 10. Februar 1900.
Vorsitzender: Oberstabsarzt Prof. Dr. Kratsclimei*.
Regimentsarzt Dr. Wiek hält den angekündigten Vortrag:
Ueber traumatische Hysterie. (Derselbe erscheint anderen
Ortes ausführlich.)
Sodann bespricht Oberstabsarzt Dr. Kirchenberger in
längerer Rede an der Hand ausführlicher Tabellen die Morbid i-
tätsverliältnisse bei den Truppen der europäischen
Grossmächte im Jahre 1898. (Der Vortrag erscheint ebenfalls
ausführlich.)
*
Sitzung am 24. Februar 1900.
Vorsitzender: Generalstabsarzt Dr. J. Uriel.
Oberarzt Dr. Doerr demonstrirt ein primäres Melano-
sarkom des linken Bulbus mit ausgedehnter Metastasenbildung
in allen Organen.
Es hatte sieb in diesem Falle eine secundäre diffuse Melano-
sarkomatose der Leber entwickelt, durch welche das Organ kolossale
Dimensionen angenommen batte. Ferner waren zahlreiche Metastasen
im Knochenmark und in der Corticalis der Röhrenknochen vorhanden.
Im linken Ureter sass eine 5 cm lange, gestielte Metastase in Form
eines walzenförmigen, den Ureter verschliessenden, schwarzen Polypen,
die eine Hydronephrose der linken Niere nach sich zog.
Ferner demonstrirte der Vortragende mehrere Präpaiate von
Herzklappenerkrankungen. Darunter ein durch seine
Grösse auffallendes Aneurysma der Bicuspidalklappe und einen
Klappenfehler der Aorta, der functionell ausgeheilt war; zwei sonst
zarte Aortenklappen waren an der Commissur verwachsen und die
Verwachsung secundär eingerissen, so dass nunmehr ein schlussfähiger,
aus zwei Taschenklappen bestehender Apparat vorhanden war.
Endlich eine Endaortitis mit weichen, schleimig entarteten
Plaques an der Aortenintima, welche auch die Aortenklappen er¬
griffen hatte. An diesen waren nur die Lunulae läppchenartig verdickt,
gallertig weich und nach abwärts ungekrämpt, so dass sich eine be¬
deutende Insufficienz bei sonst erhaltener Foinr und Lage der Klappen
entwickelt hatte.
Regimentsarzt Dr. Brosch hält sodann unter Vorzeigung
zahlreicher Zeichnungen und Präparate einen ausführlichen Vortrag
über „D ivertikel der Speiseröhre“. (Derselbe erscheint aus¬
führlich im Archive für klinische Medicin.)
*
Sitzung am 3. März 1900.
Vorsitzender: Oberstabsarzt Prof. Dr. Kratschmer.
Regimentsarzt Dr. Karl Franz stellt einen Unterofficier vor>
bei welchem eine hochgradige Tricuspidalinsufficienz, die
im Anschlüsse an dieselbe Affection der Mitralklappe sich entwickelte,
im Vordergründe steht. Von Weitem fällt schon die starke positive
Pulsation der Jugularvenen auf, weiters findet man Lebervenenpuls
und Andeutung des Cruralvenenpulses. Herz nach allen Richtungen
bedeutend vergrössert, namentlich nach rechts. Puls der Arterien
relativ noch gut gefüllt, regelmässig. Kurzes systolisches Geräusch an
der 'Mitralis, Accentuirung des zweiten Pulmonaltones, im geringeren
Grade auch des zweiten Aortatones. Auffallend ist jedoch, dass an der
Auscultationsstelle der Tricuspidalis keine Geräusche, sondern reine,
klappende Töne zu hören sind.
Des Weiteren führt derselbe einen Fall von Neuritis der
rechten oberen Extremität vor, die sich bei einem Sträfling
im Verlaufe einer chronischen Lungentubereulose einstellte. Es be-
Nr. 31
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
725
stehen lebhafte Sehmerzen, nameutlieh bei Druck auf Nervenstämme
und Muskeln ; letztere sind an der ganzen Extremität atrophisch mit
hochgradiger Herabsetzung der motorischen Functionen, dabei keine
wesentlicheren Sensibilitätsstörungen und iutacter Temperatursinn.
Der Vortragende bespricht dann im Allgemeinen die Aetiologie,
die er im vorliegenden Falle mit Tuberculose in Zusammenhang bringt,
macht insbesondere auch auf die bei Soldaten nach Bivouakiren am
nassen Boden öfters vorkommenden multiplen Neuritiden aufmerksam
und hebt schliesslich differentialdiagnostische Momente in Bezug auf
einzelne hier in Betracht kommende Rückenmarkserkrankungen
hervor.
Regimentsarzt Dr. Kapper hält sodann einen Vortrag: Ueber
neuere Behandlungsmethoden des Gelenksrheuma¬
tismus. (Mit Demonst ration vonHeissluftapp ar a te n.)
In der Einleitung betont Vortragender, wie häufig der Rheuma¬
tismus eigentlich zu den intraitablen Krankheiten gehöre, und wie oft
ASectionen nervösen Ursprunges, z. B. neuritische Processe, tabisclie
Arthropathien u. dgl. unter der Flagge „Rheumatismus“ einmal in
ätiologischem, ein anderes Mal in klinischem, oder endlich in patho¬
logisch-anatomischem Sinne gebraucht erscheinen.
Hinsichtlich der Aetiologie wird darauf hingewiesen, dass
seitens zahlreicher Forscher heute der Standpunkt eingenommen wird,
der Rheumatismus besitze keine einheitliche bacteriologische Aetiologie,
wie etwa der Typhus, die Tuberculose, Diphtherie oder Cholera, sondern
er werde ähnlich wie die Angina oder Pyämie durch die verschie¬
denartigsten Mikroben erzeugt.
Die Wechselbeziehungen zwischen Angina und Rheumatismus,
welche schon Hippo kr ates nicht unbekannt waren, später wieder¬
holt in Vergessenheit gerathen, und erst von Trousseau neuerdings
mit Nachdruck betont wurden, werden ebenso gewürdigt wie die That-
sache, dass der Rheumatismus auch im Gefolge der verschiedensten
infectiösen Processe, nach Typhus, Morbillen, Scarlatina, Erysipel,
Dysenterie etc., nach Gerhardt bei bronchiektatischen Erkrankungen
und nach Verneuil im Anschlüsse an Trauma verschiedensten
Sitzes aufzutreten pflegt.
Uebergehend auf die seit 1875 geübte Therapie, bespricht der
Vortragende die Wirkung der verschiedenen Salycilpräparate mit be¬
sonderer Hervorhebung ihrer störenden Nebenwirkungen und allfälligen
Intoxicationserscheinungen. In den letzten Monaten brachte er syste¬
matisch das Aspirin zur Anwendung und fand, dass es den Magen nie
belästige, wesentlich lieber als die anderen Salycilpräparate genommen
wurde und bei prompter Salycilwirkung keinerlei üble Begleiterschei¬
nungen aufzuweisen batte. In einer Beobachtung von acutem Gelenk¬
rheumatismus war die rasche Entfieberung und das anschliessende
Auftreten einer hochgradigen Bradycardie (postinfectiös) auffallend.
Er empfiehlt darum, gestützt auf eine grössere Beobachtungs¬
reihe, 4 — 5 (j Aspirin pro die in eingrammigen Dosen, womöglich auf die
Nachmittagsstunden veitheilt.
Vortragender würdigt nun den therapeutischen Werth der ver¬
schiedenen indifferenten Thermal-, Sool-, Schwefel , Moor-, Schlamm¬
bäder etc., bei welchen jedoch das für den Heileffect massgebendste
Moment nach übereinstimmenden neuesten Anschauungen nur in der
Höhe der angewandten Temperatur zu suchen sei, wobei die nebenbei
auch wirksamen mechanischen oder specifischen Factoren der Soole, des
Schlammes u. s. w. gar nicht in Abrede gestellt werden sollen.
Aus diesem Grunde hatte a priori die 1891 von Clado
und, unabhängig von ihm, von Bier empfohlene locale Heissluft¬
anwendung, welche ursprünglich bei tuberculösen Gelenkserkrankungen
zur Benützung gelangte, sehr viel für sich.
Naeh Darlegung einer kurzen Entwicklungsgeschichte der be¬
züglichen Apparate, dann der Leistungen Tatter man n’s, Linde-
m a n n’s, Bier’s und Anderer auf diesem Gebiete, gelangt eine Suite
von Heissluftapparaten, die seitens des Zander- Institutes des Herrn
Dr. Roth in Wien freundlichst zur Verfügung gestellt waren, zur
Demonstration.
Redner hatte im Garnisousspitale Nr. 1 Fälle von echter Gicht
und multiplem chronischem Gelenkrheumatismus mit diesen Apparaten
zu behandeln Gelegenheit und konnte ausnahmslos ein rasches Nach¬
lassen der Schmerzhaftigkeit und grössere Beweglichkeit der afficirten
Gelenke constatiren.
Insbesondere wurde ein Fall betont, der durch geraume Zeit in
Baden ohne nennenswerthen Erfolg behandelt, beim Spitalseintritte
sich nur mühsam auf zwei Stecken gestützt, einige Schritte weit fort¬
bewegen konnte und nach nur viermaliger Application des Heissluft¬
apparates, ohne jede weitere Stütze, relativ gut wieder gehen konnte.
Die Temperatur, welche bei diesen Apparaten erzielt und auch
anstandslos ertragen wnrde, schwankte zwischen 100° und 140° C.
und betrug in einem Falle sogar 200° C. Die eminente Wirksamkeit
dieser Temperaturen auf die afficirten Gelenke lässt sich durch die
mächtige Erweiterung und Erschlaffung der oberflächlich gelegenen
Gefässe, deren gesteigerte Blutfüllung und consecutive Entlastung der
tieferen Lagen erklären, indem diese Schwankungen zu einer leb¬
hafteren Bewegung des Venenblutes und der Lymphe in der Tiefe
und zu einer mächtigen Anregung der Resorptionsvorgänge führen
müssen. Der Umstand, dass so hohe Temperaturgrade überhaupt er¬
tragen werden, lässt sich nur so erklären, dass die starke Respiration
aut der Oberfläche der Haut eine kältere, schützende Luftschichte
lagern lässt, wofür auch noch das Moment spricht, dass die Temperatur
an der Oberfläche des dem Ileissluftstrom exponirten Gliedes die
Normaltemperatur nur um einige Zehntelgrade zu übersteigen pflegt.
Die demonstrirten Apparate besitzen noch weiters den Vorzug, dass
sie einfach, sauber, regulirbar und verhältnissnrässig billig sind, so
dass deren Einführung in die Militär-Heilanstalten wärmstens zu be-
grüssen wäre.
*
Sitzung am 17. März 1900.
Vorsitzender : Generalstabsarzt Dr. Josef Uriel.
Stabsarzt Dr. Haas demonstrirt einen Infanteristen mit c o n-
jugirter Deviation beider Augen nach links auf hysterischer
Basis. Die Krankengeschichte ist kurz folgende:
Infanterist F. M. des k. uud k. Infanterie Regimentes Nr. 25
ist am 17. Januar d. J. zur Constatirung seines Sehvermögens der
Abtheilung zugewachsen.
Die Anamnese ist recht dürftig. Vater vor Jahren an unbe¬
kannter Krankheit gestorben, Mutter und drei Geschwister leben;
erstere soll kränklich sein.
Er selbst war immer gesund. Seit seiner Jugend sei er schwach¬
sichtig; mit dem linken Auge allein sehe er leidlich, bei Zuhilfenahme
des rechten Auges treten jedoch zeitweilig Doppelbilder auf. Wie
lange er schielt, weiss er nicht. Im October 1899 eingerückt, machte
er die Rekrutenabrichtung mit Mühe und Noth durch; erst die Störun¬
gen anlässlich des Scheibenschiessens waren die Ursache seiner Abgabe
in das hierortige Spital.
Die Untersuchung ergab: Strabismus convergens oculi dextri;
beide Pupillen mittelweit, reagiren aufs Licht direct und consensuell
prompt, ebenfalls auf Accommodation; hochgradige concenfrische Ein¬
schränkung des Gesichtsfeldes beiderseits. Rechtes Auge V = zählt
Finger in 30 cm, Gläser bessern nicht. Linkes Auge V — 6/24, Gläser
bessern nicht. Medien rein; beiderseits emmetropische Einstellung.
Fundus normal.
Als das auffallendste Symptom zeigte der Mann — wir haben
die Untersuchung beim fixirten Kopfe vorgenommen — eine voll¬
ständige Unbeweglichkeit der Augen nach allen Richtungen; also, da
die Binnenmuskeln des Auges — Pupille und Accommodation — intact
sind, eine Ophthalmoplegia externa.
Diese ist fast immer nucleären Ursprunges und auf eine chroni¬
sche Polioencephalitis superior zurückzuführen.
Diese Diagnose erwies sich indes im Verlaufe der Zeit als hin¬
fällig. Bei nicht fixirtem Kopfe bleiben wohl die seitlichen Excursionen
der Bulbi unbedingt aus; bewregt man aber ein Object aus der Hori¬
zontalen schnell nach aufwärts und dann abwäits, so dreht der Mann
den Kopf nach oben und nach unten, oder sehr ausgiebig auch die
Augen, so dass die Unmöglichkeit, die Augen bei fixirtem Kopfe nach
oben und unten zu drehen, mehr der Ungeschicklichkeit des Mannes
zuzuschreiben ist. Man sieht also, dass eine vollständige Einschränkung
der Beweglichkeit nur nach rechts und links vorliegt.
Aber auch der Umstand, dass die Augenachsen nicht gerade
nach vorne, sondern beide nach links gerichtet sind — dies auch die
Ursache, warum der Kopf stets nach rechts gedreht ist — schliesst
schon von vorneherein eine Ophthalmoplegia externa aus; denn wie
wäre bei einer solchen die Deviation der Augenachsen zu erklären?
Es handelt sich vielmehr um eine Affection der Associations-
centren; eine Affection, die wir als conjugirte Augenablenkung nach
links bezeichnen.
Beruht die hier auf einer anatomischen Läsion etwa? Diese
Supposition wird durch folgende Untersuchung ad absurdum geführt.
Wenn man den Mann krampfhaft die Lider schliessen lässt,
und dann die Lidspalte gewaltsam öffnet, so kann ’man die Bulbi ge¬
wöhnlich in der Mitte und extrem nach oben gerollt sehen, sein-
häufig aber steht das linke Auge ganz im inneren Augenwinkel mit
der Hornhaut neben der Carunkel. Das schliesst also eine anatomische
Läsion unbedingt aus und es kann nur eine funotionelle Störung vor¬
liegen.
Da nebstbei Symptome sehr stark ausgeprägt sind, und zwar
die hochgradige concentrische Gesichtsfeldeinschränkung beiderseits
und die monoculäre Diplopie rechterseits — letztere haben wir immer
constatirt — die man als prägnante hysterische Symptome kennt,
muss man diese functioneile Störung mit grösster Wahrscheinlichkeit
als auf hysterischer Basis beruhend auffassen. Unterstützt wird diese
Diagnose durch andere Stigmata, die auf eine functionelle Störung des
Nervensystems hinweisen.
726
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 31
Die diesbezüglich vorgenommene Untersuchung auf der VI. Ab¬
theilung des Garnison8spitales ergab folgenden Befund:
Schädel im Hinterhaupte leicht gestuft. Ohren abstehend,
Cornealreflexe beiderseits prompt, desgleichen der Pharynxreflex. In
der Ruhe erscheint die rechte Kinngegend glatter als die linke, beim Stirn¬
runzeln wird der linke Stirnast des N. facialis besser iunervirt als der
rechte und zeigt sich ein ziemlich rasches Abnehmen der Innervations¬
kraft dieser Seite. Tricepsreflex beiderseits kaum auslösbar, Patellar-
Sehnenreflexe beiderseits lebhaft, links mehr als rechts, Plantar-,
Cremaster-, Bauchdeckenreflexe gut auslösbar, links besser als rechts.
Soweit bei der Beschränktheit des Mannes eine genaue Sensibilitäts¬
prüfung möglich ist, ergibt sich eine die ganze rechte Körperhälfte
betreffende deutliche Herabsetzung für Gefühls- und Schmerzeindrücke;
ausgeprägter Dermographismus; keine Störung der motorischen Kraft
der beiderseitigen Gliedmassen.
Ob diese conjugirte Deviation auf einer Lähmung der Rechts¬
wender, combinirt mit einer Contractur der paretischen Linkswender
beruht oder ob ein einfacher hysterischer Krampfzustand der Rechts¬
und Linkswender mit Ueberwiegen des Krampfes in den Linkswendern
die Ursache der Ablenkung ist, lässt sich schwer entscheiden. Für die
zweite Annahme spricht der Umstand, dass die hysterischen Augen¬
muskellähmungen überhaupt sehr selten sind; die bis jetzt beobachteten
Fälle sind nach Schmidt-Rimpler alle nicht unanfechtbar;
Charcot ebenso wie Moebius zweifeln an deren Vorkommen.
Ob das zugleich bestehende convergirende Schielen rechts eine Muskel¬
anomalie, die in dem hysterischen Zustande fortdauert — wofür die
höhergradige Amblyopie des rechten Auges spricht — oder ob der
hysterische Krampf auch diese Anomalie der Stellung bedingt, ist
wohl unmöglich zu constatiren, so lange nicht andere ähnliche Beob¬
achtungen mit genaueren anamnestischen Daten zur Verfügung
stehen.
Die Diagnose, nach mehrwöehentlicher gründlicher Beobachtung
und Untersuchung auf unserer und der VI. Abtheilung des Garnisons-
spitales gestellt, ist auch von competenten Autoritäten auf dem Gebiete
der Neurologie als die wahrscheinlichste bezeichnet worden.
Oberstabsartzt Dr. J. Hab art führt einen geheilten Fall von
Autolapara tomie vor, welcher einen Reserve-Feldwebel be¬
trifft, der sich im Juli 1899 anlässlich einer Feldübung im Prater
in einem Anfalle momentaner Geistesverwirrung mittelst eines Taschen¬
messers zu entleiben versuchte, indem er sich den Bauch in der Mitte
oberhalb des Nabels in der Länge von 8 cm und in der Quere von
5 cm aufschlitzte, so dass das grosse Netz vorgefallen ist und die
Schlitzöffnung verstopfte. Gleichzeitig durchschnitt er sämmtliche
Weichtheile an der Beugeseite beider Handgelenke mit Eröffnung der
Arterien und Durchtrennung der Nerven, so dass linkerseits zehn,
rechterseits zwölf Sehnenstümpfe blosslagen. Nachdem die Rettungs¬
gesellschaft den Nothverband angelegt hatte, wurde er in sterbendem
Zustande dem Garnisonsspitale Nr. 2 überbracht, woselbst Habart
zuerst die Arteriae radiales und ulnares unterbunden hat und das vor¬
gefallene Netz, welches in der Mitte durchstochen war und stark
blutete, durch acht Ligaturen unterband und mittelst Paquelin
resecirte. Hierauf wurden die dünnen Gedärme durchsucht, mit steriler
physiologischer Kochsalzlösung gereinigt und die durchti ennten Bauch¬
schichten durch eine dreireihige Etagennaht vereinigt. Die Rectus-
scheide wurde drainirt, da sie mit Erde verunreinigt war. Es erfolgte
sodann die langwierige Nerven- und Sehnennaht, welche grosse
Schwierigkeiten bereitete, da einzelne Sehnen doppelt durchschnitten
waren. Die Heilung der Bauchwunde war binnen 15 Tagen voll¬
endet; die Vereinigung der Sehnen gestaltete sich etwas langwieriger
und der Mann (ein Lehrer) kann gegenwärtig Clavierübungen machen.
Die Beugung der Finger ist jedoch theilweise eingeschränkt, da er
sich auf Drängen seiner Frau zu frühzeitig der meclrano-therapeutischen
Nachbehandlung entzogen hatte.
Derselbe führt ferner vier Fälle von radical o p e r i r-
ten Leistenbrüchen vor, welche dadurch bemerkenswerth sind,
dass sie vier verschiedene Typen (äusserer freier Leistenbruch, innerer
freier Leistenbruch, äusserer angewachsener Leistenbruch complieirt
mit wandständiger Samenwandcyste, und angeborener Leistenbruch)
darstellen und Soldaten betreffen, welche sich der Operation unterzogen
haben um freiwillig in das Heer eintreten zu können oder weiter im
1 leeresverbande verbleiben zu können und endlich, um von den Be¬
schwerden für immer befreit zu werden. Drei Fälle wurden nach
Bassini, ein Fall nach Kocher operirt. Sämmtliche vier Fälle
heilten nach 13 Tagen unter einem Verbände in ideal aseptischer
Weise.
Der Vortragende verweist auf seinen am 22. November 1890 in
dem Vereine gehaltenen Vortrag: „Ueber die Radicalbehandlung von
Leistenhernien mit Würdigung des Verfahrens von Prof. Bassini“
und bemerkt, dass er nach wie vor die Vorzüge der Bassin i’schen
Methode anerkenne, je loch dem Vorgänge des Stabsarztes Dr. Link
vollständig beipflichle und auch der K o c h e r’schen Methode ihre Vor¬
züge nicht absprechen will, weshalb er auch dieselbe ausgeführt habe
und der vorgeführte Fall (angeborener Leistenbruch) sei der am besten
gelungene. Er modilicirt die Koche r’sche Methode in der Art, dass
er die Aponeurose des M. obliquus externus spaltet, um einerseits auch
grössere Bruchsäckc isoliren zu können und andererseits die Canalnaht
im Sinne von Lucas Ghampionni&re und die laterale Ver¬
lagerung des Bruchsackes nach Kocher sicherer und leichter durch¬
führen zu können, was er an zwei von Oberarzt Dr. Kf estan schön
ausgeführten Zeichnungen demonstrirt. Anknüpfend au diese Fälle
hebt II abart hervor, dass heutzutage der Kernpunkt der chirur¬
gischen Leistungsfähigkeit in dem Gelingen der Aseptik gelegen
sei und diesbezüglich speciell in der Armeecbirurgie oft ganz einfache
Vorbedingungen genügen, wenn nur der Contact- oder Im-
plantationsinfection vorgebeugt wird. Die M i k u 1 i c z’sche
Klinik in Breslau verfügt über palastartige Räume und munificent
eingerichtete Laboratorien und nichtsdestoweniger gelangen gerade von
dort aus Klagen über Misslingen der Aseptik in die Oefientlichkeit,
wie die Verhandlungen des Congresses deutscher Chirurgen bezeugen.
Operationshandschuhe, eigenes Operationseostume, geschulte Hilfsärzte,
vorzügliche Technik u. dgl. m. vermögen nicht immer den Erfolg zu
sichern. B r u n n e r’s lehrreiche Studie lässt gleichfalls die noch vor¬
handenen Lücken der Aseptik durchblicken.
II ab art hegt Misstrauen gegen die Handbürsten zur Reinigung
der Hände und lobt die Verlässlichkeit der sterilisirten Holz¬
wolle, indem dieselbe die mechanische Reinigung der Hände und
des Operationsfeldes viel sicherer bewirkt. Ferner bewährte sich von
einer gewissen Höhe (Wasserreservoir!) herabfliessendes, warmes (vor
dem Gebrauche gekochtes!) Wasser, anstatt der Waschbecken,
dann die Steiilisirung mit Aether alkohol uud während der Ope¬
ration sterile physiologische Kochsalzlösung (beziehungsweise Tavel-
sche Lösung).
Regimentsarzt Dr. Scheidl stellt gleichfalls von der chirur¬
gischen Abtheilung des Garnisonsspitales Nr. 2 vor:
1 . Einen nach Schädeltrepanation und Hetero¬
plastik geheilten Dragoner, welcher am 7. Januar durch Hufschlag
einen offenen Schädelbruch der linken Stirnseite (Impressions-
fractur) mit Druckerscheinungen (Bewusstlosigkeit und Krämpfe er¬
litten hatte, am 11. Januar vom Truppenspitale in Göding zutrans-
ferirt und am 12. Januar in Chloroformnarkose von ihm trepanirt
wurde, wobei mehrere 3 — 5 cm lange und 1 — 3 cm breite eingedrückte
Knochensplitter nebst Resten von Stroh aus der Schädelhöhle entfernt
wurden. Die zerrissenen Gehirnhäute wurden mittelst Scheere uud
scharfem Löffel gereinigt, die Wundhöhle mittelst steriler Kochsalz¬
lösung abgetupft und sodann mit steriler Jodoformgaze locker tam-
ponirt. Der Defect im Knochen war 5'5 cm lang und 3 cm breit. Erster
Verbandwechsel am 23. Januar in Chloroformnarkose. Einlegen einer
Celluloidplatte nach A. Fränkel, nachdem die Gehiruwunde noch¬
mals mit scharfem Löffel von dem Detritus befreit worden ist, lockere
Naht der Weichtheile. Am 2. Februar zweiter Verbandwechsel, wobei
die stark gespannten Wundländer in der Mitte klaffend vorgefunden
wurden ; am 7. Februar abermals in Narkose Anfrischung derselben
im Bereiche der klaffenden Lücke und Anlegung von zwei langen
Entspannungsschnitten, worauf die Annäherung derselben leicht gelingt.
Vollständige Heilung bei aseptischem Verlaufe mit
Ende Februar vollendet.
2. Einen Kanonier mit geheiltem Beckenbruch, in dessen
G efolge innere Blutungen und Blutharnen beobachtet
wurde, und mit durch Knochennaht geheiltem S p 1 i 1 1 e r b r u c h des
rechten Olecranon, durch Sturz vom zwmiten Stockwerke
herbeigeführt. Nachdem die bedenklichen Erscheinungen der inneren
Blutungen durch intravenöse und subcutane Kochsalzinfusion behoben
waren, und der rechte Arm in gestreckte Stellung gebracht worden
ist, wurden Eisblasen am Becken applicirt. Mit Ende der dritten Woche
war der Splitterbruch des Olecranon noch ganz beweglich, weshalb
in der Narkose derselbe durch den Langen bec k’schen Längs¬
schnitt blossgelegt und nach sorgfältiger Reinigung und Entfernung
der zwischen den Knochensplittern eiugelagerten Blutgeriunst 1 und
knochensandartigen Detritusmassen durch eine Schnürnaht von
Platindraht vereinigt wurdo. Durch diese mechanische Reinigung
wurde das Hindeiniss der Knochenvereinigung beseitigt, welche nun¬
mehr binnen 14 Tagen in vollständiger Weise bei aseptischem Ver¬
laufe erfolgte. Durch orthopädische Nachbehandlung ist die Bewegungs¬
fähigkeit des Ellbogengelenkes ganz restituirt worden. In Folge
difformer Callusmassen an den gebrochenen Aesten des rechten Scham¬
beines blieb mässiges Hinken des rechten Beines zurück.
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
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Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
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Redaction:
Telephon Nr. 3373.
XIII. Jahrgang.
Wien, 9. August 1900.
Nr. 32.
iisrs:^.nLT:
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Orijjinalartikel : 1. Von der Abtheilung für interne Krankheiten (I. B)
des Landesspitales zum heiligen Lazar in Krakau. Weitere Fälle
von Tetanus traumaticus, welche mit subcutanen Injectionen von
Gehirnemulsion behandelt wurden. Von Primararzt Dr. Anton
Krokiewicz.
2. Ueber die Therme von Monfalcone. Von Prof. E. Ludwig und
Dr. Th. P a n z e r.
3. Aus der k. k. chirurgischen Klinik des Herrn Hofrathes Prof.
C. Nicoladoni in Graz. Beiträge zur Frage der »totalen
Darmausschaltung«. Von Dr Erwin Payr, Docent für Chirurgie
und Assistent der Klinik. (Schluss.)
II. Referate: I. Leitfaden der physiologischen Psychologie in 15 Vor-
lesungen. Von Th. Ziehen. II. Die Mimik des Menschen auf
Grund voluntarischer Psychologie. Von H. Hughes. III. Die
Leitungsbahnen des Gehirnes und des Rückenmarkes nebst, voll¬
ständiger Darstellung des Verlaufes und der Verzweigung der
Hirn- und Rückenmarksnerven. Von Rudolf Glaessner.
Ref. Ohersteiner.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Therapeutische Notizen.
V. Vermischte Nachrichten.
VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
Von der Abtheilung für interne Krankheiten (I. B) des
Landesspitales zum heiligen Lazar in Krakau.
Weitere Fälle von Tetanus traumaticus, welche
mit subcutanen Injectionen von Gehirnemulsion
behandelt wurden.
Von Primararzt Dr. Anton Krokiewicz.
Die Erfolge der Serumtherapie bei Tetanus traumaticus
sind bisher nicht besonders zufriedenstellend, w7enn nach der
diesbezüglichen Statistik Holsti’s (Zeitschrift für klinische
Medicin. 1899, Bd. XXXVII, Heft 5 und 6) von 171 über¬
haupt mit Serum behandelten Fällen 74, d. i. 43&/o> mit dem
Tode abgingen. Deshalb wandte ich im Jahre 1898 (Wiener
klinische Wochenschrift. Nr. 84) zum ersten Male, dann im
Jahre 1899 (Wiener klinische Wochenschrift. Nr. 28) angeregt
durch W assermau n’s und T a k a k i’s Thierversuche, bei
Tetanus traumaticus bei Menschen Injectionen von thierischer
Gehirnemulsion an. Von da ab begegnen wir in der Literatur
den casuistischen Beobachtungen Schramm’s (ein Fall,
Przeglad lekarski. 1899, Nr. 3), Kadyi’s (drei Fälle, Przeglad
lekarski. 1899, Nr. 39 und 47), Zupnik’s aus der Klinik
Prof. Pribram in Prag (ein Fall, Prager medicinische
Wochenschrift. 1899, Nr. 24 und 25), Schuster’s aus der
Klinik Prof. M e ndel in Berlin (ein Fall, Berliner klinische
Wochenschrift. 1899, Nr. 47 ; Sitzung der Berliner medicini-
schen Gesellschaft vom 1. November). Alle diese Fälle hatten
einen günstigen Ablauf; einzig allein trat im Falle Zupnik’s
von Tetanus bei einer Wöchnerin, nach vorübergehender auffallen¬
der Besserung der Tod ein; die Krankheit endete jedoch unter
Symptomen einer Störung im Urogenitalapparat und die Section
wies einen ungewöhnlich grossen, im rechten Harnleiter ein¬
geklemmten Stein nach, ferner Ruptur der Gebärmutter und
so schwere pathologische Nierenveränderungen, dass ihnen die
Kranke, auch wenn keine andere Affection hinzugetreten wäre,
in kurzer Zeit erliegen müsste.
Gegenwärtig führe ich weitere Ergebnisse der Behand¬
lung mit subcutanen Injectionen von Gehirnemulsion in zwei
Fällen von Tetanus traumaticus an.
1. Dr. A. K., 33 Jahre alt, k. k. Sanitätsassistent in Grybow
(Bezirk Grybow) verwundete sieh am Zeigefinger der rechten Hand
bei einer Section einer nach vier Tagen exhumirten Leiche in der
Ortschaft Polna (Bezirk Grybow). Die Wunde wurde oberflächlich
gewaschen und mit Argent, nitr. touchirt.
Anfänglich fühlte sich der Kranke wohl; doch schon in kurzer
Zeit, denn kaum nach 20 Stunden, traten in der oberen rechten
Extremität Tetanussymptome auf, die von Anfang kurz dauerten
und geringe Intensität hatten. Erst in der Nacht vom 11. auf den
12. April stellte sich ein heftiger, mehrere Stunden währender
Starrkrampf ein, tourweise sämmtliche Muskelgruppen ergreifend.
Von da ab nahmen die Tetanusanfälle einen drohenden Charakter
an. Als alle am Orte angewandten Heilmittel sich unwirksam er¬
wiesen und dem Patienten in Folge der andauernden Anfälle der
Tod drohte, wurde ich am 13. April telegraphisch zu ihm beruien.
Dort an demselben Tage gegen 4 Uhr Nachmittags angekommen,
fand ich den Kranken in einem allgemeinen, seit einigen Stunden
anhaltenden Starrkrampfe. Sich seines Zustandes bewusst, empfing
er die letzten Tröstungen der Religion und verabschiedete sich von
der Familie. Vorderhand war jede Untersuchung unmöglich. Erst
nach einer Injection von 0 015 Morph, hydrochloric, und nach
Verabreichung einer halben Flasche Champagner konnte im Masse
des Aufhörens der Krämpfe nachfolgender Status praesens constatirt
werden: Ein mittelgrosses Individuum, schwach genährt. Die Haut
mit Schweiss bedeckt, im Gesicht Cyanose; Körperwärme in der
linken Achselhöhle 38° C. In den inneren Organen keine Verände¬
rungen; 32 Athmungen; der Puls fadenförmig, kaum tühlbar. Der
728
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Ni 32
Harn wasserhell, enthält keine pathologischen Bestandtheile. Bedeu¬
tende Entkräftung des Patienten. Nach näheren Erkundigungen
wurde die Wunde am Zeigefinger des Kranken am dritten Tage
von dem dortigen Arzte Dr. Jakubowsk i, trotz ihres normalen
Aussehens, durch einen tiefen Schnitt erweitert und nach allen
Regeln der Antiseptik verbunden.
Nach kurzer Berathung mit dem anwesenden Collegen Doctor
Jakubowski und der Familie beschloss ich, den Kranken mit
dem nächsten Zuge nach Krakau zu überführen und ihn behufs
Vornahme von Injectionen mit Gehirnemulsion in meiner Abtheilung
des St. Lazarus-Spitales unterzubringen. Dies wurde auch mit nicht
geringen Schwierigkeiten vollzogen unter Anwendung von anregen¬
den und narkotischen Mitteln (der Kranke trank während der fünf¬
stündigen Reise fast zwei ganze Flaschen Champagner aus). In An¬
betracht des allgemeinen Kräfteverfalles war meinerseits die Pro¬
gnose in diesem Falle keine günstige.
Unmittelbar nach Ankunft des Kranken in der Heilanstalt, d. i.
nach 10 Uhr Nachts am 13. April, wurden ihm 0 5 g Jod- und
Bromkali eingegeben und 001 Morphium injicirt; daraufhin schlief
derselbe ein. Erst gegen 4 Uhr Früh trat heftiger Tetanus ein und
hielt trotz Aetherinhalation und Morphiuminjectionen 3'/2 Stunden
an; er äusserte sich hauptsächlich im Gebiete der Muskeln des
Brustkorbes, der oberen und unteren Extremitäten.
172 Stunden nach Rücktritt des Starrkrampfes wurde an
demselben Tage zum ersten Male eine nicht colirte Emulsion aus
einem ganzen Kaninchenhirn subcutan injicirt und wmrde dieselbe
Procedur hierauf am 16. und 18. April Vormittags wiederholt. Der
Kranke fühlte schon nach der ersten Injection eine bedeutende
Erleichterung; der Puls betrug 84, die Temperatur variirte zwischen
37'4 und 37'6° C. und Athmungen wurden 16 — 18 in der Minute
gezählt; nur zeitweilig hatte er in einzelnen Muskelgruppen ein
Gefühl von Starre und Schauder, die Möglichkeit eines Tetanus¬
anfalles fortwährend befürchtend; dieser Zustand hielt durch drei
Wochen mit verschiedener Intensität an. Seit Applicirung der ersten
Injection stellte sich der Starrkrampf nicht mehr ein und obwohl
der Patient ob der derart günstigen Wirkung eine vierte Injection
mit Gehirnemulsion verlangte, so wurde dieselbe nicht mehr aus¬
geführt.
Ausser den Gehirnemulsionsinjectionen wurden im gegebenen
Falle in dem Masse, als Symptome von Schlaflosigkeit, allgemeiner
Entkräftung, Verfall der Herzthätigkeit u. s. w. auftraten, Chloral-
hydrat, Sulfonal, Jod- und Bromkali, wie auch Herzmittel, wie
Strophanthus, Coffein, Digitalis und Valeriana verabreicht. Ueberhaupt
muss hervorgehoben werden, dass sich beim Kranken während
dessen ganzen 32 tägigen Spitalsaufenthaltes, vom Zeitpunkte des
Rücktrittes des Tetanus Hyperästhesie der Nervenstämme bald in
höherem, bald in geringerem Grade erhielt. Das Fieber hörte nach
der ersten Injection auf und zeigte sich später nicht mehr, trotz¬
dem, dass sich an der dritten Injectionsstelle ein aseptischer Ab¬
scess bildete, welcher nach Incision rasch (in acht Tagen) vollständig
heilte, eine schlaffe Narbe zurücklassend. Patient verliess im Zu¬
stande grosser Entkräftung die Anstalt und begab sich nach Kry-
nica, einem klimatischen, an Eisensäuerlingen reichen Curort in
Galizien, woselbst er nach entsprechender Behandlung seine Lebens¬
kräfte vollkommen wieder erlangte.
2. A. R. aus Os wi^cim in Galizien, Händlersgattin, 35 Jahre
all; sie kam mit Tetanussymptomen am 13. November 1899 nach
Krakau. Laut Erkundigungen stiess sie sich in den grossen Finger
der rechten Hand einen Splitter, worauf in sechs Tagen ein bedeu¬
tender Trismus, Behinderung beim Schlucken und Sprechen, wie
auch Athembeklemmung eintraten. Kurz darauf stellten sich kurz
dauernde, aber immer häufigere Anfälle von allgemeinem Tetanus
ein. Als sich dieselben bei gewöhnlicher Behandlung nicht verrin¬
gerten, erschien Patientin am neunten Krankheitstage bei mir und
unterzog sich auf meiner Abtheilung der Behandlung durch sub-
cutane Injectionen mit Kaninchenhirnemulsion.
Das Untersuchungsergebniss am Aufnahmstage war folgendes:
Körperbau und Nährzustand ziemlich gut; das Knochengerüst normal
entwickelt. Die Haut blass, elastisch; schwache Fettunterlage. Die
Lippenschleimhaut blass; die Körpertemperatur in der Achsel¬
höhle 377° C.
Andauernder Trismus, gesteigerte Muskelreizbarkeit. Nach
leichtem Schlag verfallen ganze Muskelgruppen, besonders die
Muskeln des Rückgrates, in Krampf. Die Nacken- und Rumpf¬
muskeln stark gespannt, so dass die Patientin in Folge der allge¬
meinen Gelenkstarre nicht gehoben, sondern nur aufgestellt werden
kann. Im Tastgefühl keine Veränderung.
Die inneren Organe weisen keine Abweichungen auf. Die
Athemzahl beträgt 26 in der Minute; der Puls gut gespannt, regel¬
mässig, 70 Schläge in der Minute. Harn und Fäces werden normal
entleert. Abends Körperwärme in der Achselhöhle 38° C.
14. September. Temperatur Früh 37‘7° C. ; Pulsfrequenz 84,
regelmässig; die Nacht unruhig. Andauernder Trismus, Opisthotonus,
wie auch Tetanuskrämpfe im Gebiete der unteren und oberen Ex¬
tremitäten. Gegen Mittag wurde in das Unterhautbindegewebe am
Brustkörbe rechterseils eine Emulsion von einem Kaninchenhirn
eingespritzt.
Tagsüber häufige, aber schwächere Anfälle des allgemeinen
Starrkrampfes; zweimal nur mit ziemlich heftiger Intensität. Gegen
772 Uhr Abends fühlte sich die Kranke freier, schluckte zum ersten
Male und sprach deutlich. Der Tetanus trat in den unteren und
oberen Extremitäten zurück und beschränkte sich blos auf den
Trismus und Opisthotonus; doch fühlt Patientin dauernd eine Er¬
leichterung und gibt an, das erste Mal den Kopf und Nacken
leichter, nicht so stark wie vorher, gespannt zu haben. Der Puls
ist regelmässig, 76; die Temperatur 37,6° C.; Athembewegungen 24.
In Folge des Trismus kann sie den Mund nicht öffnen. Abends
wurden ihr zwei Löffel voll Infus. Sennae comp, eingegeben.
15. September. Früh Körperwärme 37'4° C., der Puls 72,
regelmässig, normal gespannt. Die Kranke schlief die Nacht hindurch
vortrefflich; die Tetanusanfälle sind vorübergehend, schwach, in den
unteren Extremitäten; die oberen Extremitäten und die Bauch¬
muskeln sind frei. Von Zeit zu Zeit klagt Patientin über Krämpfe
in der Luftröhre. Zuweilen öffnet sie den Mund zuerst auf 5 mm.
Die Nackenstarre ist geringer; unbedeutende Schweissabson-
derung; die Kranke ist freier.
Von 10 Uhr Vormittags bis 3 Uhr Nachmittags ist Patientin
frei von Tetanusanfällen. Nach 3 Uhr besuchten sie verwandte
jüdische Glaubensgenossen und zwangen sie aus religiösen Motiven
mit allen Mitteln zum Aufstehen und Herumgehen; es war der Tag
des Versöhnungsfestes. Bei diesem Anlasse stellten sich ziemlich
heftige Nervenkrampfanfälle in den unteren Extremitäten ein, und
als hierauf die fanatischen Glaubensgenossen die Kranke trotz des
strengen Verbotes seitens des herbeigerufenen Inspectionsarztes
durch mehr als 20 Minuten in stehender Haltung erhielten und sie
zum Herumgehen zwangen, da bekam sie neuerlich einen allge¬
meinen Tetanusanfall und beruhigte sich erst gegen 6 Uhr Abends.
Um 8 Uhr Abends stieg die Temperatur auf 38’6° C.; der
Puls regelmässig, 90 in der Minute, von ziemlich guter Spannung.
Massiger Opisthotonus; die Kranke öffnet den Mund auf 6 mm; sie
ist bei Besinnung.
In der Nacbt unbedeutende Tetanusanfälle, die Patientin
schlief vorwiegend. Erst gegen 6 Uhr Früh stellte sich ein geringer
Tetanusfall ein. Die Kranke rief auf die Nachbarin, um Darreichung
von Trinkwasser bittend, und mit dem Aufschrei: »Es wird mir
übel, das Herz drückt mir!« starb sie plötzlich.
Die am 16. September im anatomisch-pathologischen Univer¬
sitätsinstitute vollzogene Leichenobduction wies folgenden Be¬
fund nach:
Bronchitis catarrhahs diff. Lipomatosis cordis dextri parvi
gradus. Ecchymoses subpleurales, subpericardiales et musculorum
recti abdominis, ileopsoatis dextri. Hyperaemia passiva recens cerebri,
hepatis, lienis, renum. Paronychia purulenta.
Im linken geraden Bauchmuskel wie auch an der Oberfläche
des rechten Muskels Ileopsoas und in dessen Nähe befinden sich
unter dem Bauchfell sehr bedeutende Extravasate.
Das Pericard und Epicard dünn, glatt, schillernd; unter dem
Epicard auf der hinteren Herzwand einige punktförmige Ecchy-
mosen. Das Herz der Grösse der Faust des Individuums ent¬
sprechend; dessen linke Kammer im Zustande der Systole und ent¬
hält eine geringe Menge schlaffes, postmortales, rothes Gerinnsel.
Bei näherer Betrachtung der obangefiihrten Fälle müssen
wir zu der Ueberzeugung gelangen, dass beide eine starke
Intensität zeigten. In beiden Fällen wurden pharmaceutische
Präparate wirkungslos verabreicht. Der günstige Ablauf im
Nr. 32
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
729
ersten Falle (Dr. Kurzyniec) ist auf das entsprechende Ver¬
halten des Kranken, ebenso wie auf die Vollziehung der In¬
jection von Gehirnemulsion am sechsten Krankheitstage und
am zweiten Tage des Auftretens heftiger Tetanusanfälle zurück¬
zuführen. In diesem Falle war der Heilerfolg der subcutanen
Injectionen geradezu staunenerregend, die lange Reconvalescenz
ist der beste Beweis für die starke Intensität des Krankheits-
processes trotz aller günstigen Vorbedingungen.
Im zweiten Falle (Ritter) ist, obwohl der Ausgang mit
dem Tode erfolgte, eine bedeutende Besserung nach der In¬
jection von Gehirnemulsion zu notiren. Dem klinischen Verlaufe
nach urtheilend, wäre es gewiss zur Heilung gekommen,
wenn die Gehirnemulsion früher injicirt und die Kranke in
vollständiger Ruhe belassen worden, nicht aber von anwesenden,
von Vorurtheilen befangenen Verwandten zum Stehen und
Herumgehen gezwungen worden wäre.
Die bisherigen Resultate von Injectionen der Gehirn¬
emulsion bei Tetanusfällen resumirend, sind auf die Gesammt-
zahl von zehn Fällen, acht von Genesung und zwei Todesfälle
zu verzeichnen. Aber auch in diesen zwei Fällen mit letalem
Ausgang war eine vorübergehende auffallende Besserung vor¬
handen. In allen diesen Fällen Hessen die pharmaceutischen
Präparate in Stich und in dem Falle Schuster’s aus der
M e n d l’schen Klinik in Berlin auch eine zweimalige, nach
Jacob’s Methode unter die Hirnhaut vorgenommene Injection
von Antitetanusserum. Unter den acht geheilten Fällen hatten
fünf (zwei meine, zwei Kadyi’s, einer Schuster’s) einen
klinischen Verlauf mit heftiger Intensität. In Anbetracht dessen
glauben wir, dass die Injectionen der Gehirnemulsion bei Tetanus
traumaticus eine breitere Anwendung gewinnen sollten und
uns die Behauptungen Zupnik’s und Schütze’s (Zeitschrift
für klinische Medicin. Bd. XXXVI) als allzu verfrüht dünken,
wenn der Erste den Injectionen von Gehirnemulsion bei Tetanus
traumaticus kaum nur prophylaktische, schützende Eigen¬
schaften zuerkennt, der Zweite ihnen selbst diese versagt.
Uebör die Therme von Monfalcone.
Von Prof. E. Ludwig und Dr. Th. Panzer.
An der Fahrstrasse, welche von Triest nach der Stadt
Monfalcone führt, ungefähr eine halbe Wegstunde von
dieser Stadt entfernt, entspringt eine Therme, die schon den
Römern bekannt war und von ihnen auch benützt wurde.
Im dritten Buche der Historia naturalis von Plinius,
Cap. XXVI, findet sich die folgende, darauf bezügliche Stelle:
» Insulae in Ausonio mari praeter iam dictas memoratu
dignae nullae, in Jonio paucae. Calabro litore ante Brundusium
quarum obiectu portus efficitur, contra Apulum litus Diomedia
conspicua monumento Diomedis et altera eodem nomine a qui-
busdam Teutria appellata. Illyrici ora mille amplius insulis
frequentatur, natura vadoso mari aestuariisque tenui alveo
intercursantibus. Ciarae ante ostia Timavi calidorum fontium
cum aestu maris crescentium, iuxta Histrorum agrum Cissa,
Pullaria et Absyrtides Grais dictae a fratre Medeae ibi interfecto
Absyrto.« !)
Mit dem Verfalle des römischen Reiches kam diese
Therme in Vergessenheit und wurde erst im Jahre 1433
wieder benützbar gemacht, nachdem sie der damalige Podesta
von Monfalcone, F r a n c e s c o Nani, wieder gefunden und in
geeigneter Weise hatte fassen lassen. Die Inschrift auf einer
aus jener Zeit stammenden Steintafel gibt davon Kunde; die¬
selbe lautet:
»Magnificius praetor Nani Franciscus amator justitiae
que bonis et amarus et hostis iniquis justos dilexit cunctos
dulcissime rexit Falconis Montis portum renovando salutis hic
fundavit opus felix memorabile cunctis mundavit foveam
studiose fere corruptam balnea construxit jam perdita digne
reduxit unde parit fructus splendens sua maxima virtus .
milesimo quadringentesimo trigesimo tertio«.
Seither ist die Therme von Monfalcone ohne Unter¬
brechung von der leidenden Menschheit aufgesucht worden.
Im Jahre 1840 wurde über der Therme ein ziemlich
umfängliches Badehaus aus Stein erbaut, in welchem etwa
20 Badecabinen mit Marmorwannen untergebracht sind. Für
die Unterkunft der Badegäste ist in den benachbarten Orten
Monfalcone einerseits, Duino und Sistiana andererseits gesorgt;
die Bodenverhältnisse in der Umgebung der Therme sind für
die Errichtung von Wohngebäuden ganz ungeeignet; wenn die
Curgäste in unmittelbarer Nähe der Therme untergebracht
werden sollten, müsste das Terrain vorerst entwässert
werden.
Die Therme ist ungefähr 1500 m vom Meere entfernt,
die dazwischen lagernden Kalke, aus denen die Therme ent¬
springt, gehören der Kreideformation an.
Nach den Angaben von Karl R. v. Hauer2) sind
diese Kalke theils hell gefärbt, theils fast schwarz, insbesondere
die Letzteren zeigen auf frischem Bruche bituminösen und an
Schwefelwasserstoff erinnernden Geruch.
An der Therme von Monfalcone besteht kein sichtbarer
Abfluss. Das Wasser erfüllt eine natürliche, fast rechtwinkelige
Vertiefung im Kalkfelsen, die einen Flächenraum von ungefähr
77-9 tri1 einnimmt.
Aus der tiefsten, nahezu im Mittelpunkte dieses natür¬
lichen Basins gelegenen Stelle wird das Thermalwasser für die
Bäder mit einer Dampfpumpe emporgehoben. In dem Masse,
als Thermalwasser herausgepumpt wird, strömt alsbald neues
nach, und nach langjährigen Beobachtungen ist die Therme
im Stande, einen grossen Bedarf zu decken. Sehr interessant
ist die Aenderung des Niveaus der Therme mit der Fluth
und Ebbe des Meeres, welche auch wir zu beobachten Ge¬
legenheit hatten.
Das Thermalwasser von Monfalcone ist wiederholt
chemisch untersucht worden, so von dem Apotheker G i o.
Antonio Vidali in Venedig3), von Cenedella4)
1848, von Chiozza im Jahre 1856, endlich von Karl
v. Hauer 5).
Der gegenwärtige Besitzer der Therme, Se. Durchlaucht
Alexander Fürst von Thurn und Taxis, hat vor Kurzem die
innere Einrichtung des Badehauses reconstruirt und dadurch
die Benützung der Therme der in den letzten Jahren grösser
gewordenen Frequenz an gepasst.
Se. Durchlaucht hat auch veranlasst, dass wir eine neue
Analyse des Thermalwassers Vornahmen. Wir haben uns
Anfangs Februar d. J. an Ort und Stelle begeben, die Vor¬
arbeiten an der Quelle besorgt und die erforderliche Wasser¬
menge in geeigneter Weise in Flaschen gefüllt. Dabei wurde
unter Anderem auch Rücksicht darauf genommen, für die
Analyse Wasser bei verschiedenem Niveau der Quelle zu ent¬
nehmen, nämlich zur Zeit der Fluth und zur Zeit der Ebbe
des Meeres.
Das Wasser ist, frisch geschöpft, vollkommen klar und
farblos, es riecht sehr schwach nach Schwefelwasserstoff,
schmeckt salzig, zugleich etwas bitter und reagirt schwach
sauer. Bleibt das Wasser in einem offenen Gefässe mit der
Luft in Berührung, so verschwindet bald der Schwefelwasser¬
stoffgeruch, und es ist dann geruchlos. Einen bituminösen
Geruch konnten wir absolut nicht wahrnehmer. Wird das
Wasser zum Kochen erhitzt, so scheidet sich ein geringfügiger
weisser Niederschlag ab, welcher aus Carbonaten besteht.
Der Gehalt an Schwefelwasserstoff ist ein minimaler. Wir
haben denselben ausser durch den Geruch auch noch durch
die Reaction auf ein mit Bleiacetatlösung getränktes Papier
nachgewiesen, indem wir eine Literflasche zu drei Viertel mit
dem Wasser füllten und über dem Wasser das Probepapier
aufhängten. Dasselbe nahm nur eine blassbräunlichgelbe
Färbung an.
2) Jahrbuch der k. k. geologischen Reichsanstalt. 1858, 9. Jahrgang,
pag. 497.
3) Notizie ed analisi chimica delle acque termali di Monfalcone di
Gio. Antonio Vidali. Venezia 1810.
4) Analisi chimica dell’ acqua termale di Monfalcone del Dr. Gia¬
como A tt.il io Cenedella. Udine 1832.
5) 1. c.
') C. Plinii secundi naturalis historiae liber III, cap. XXVI.
730
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
Nr. 32
Die Temperatur der Therme haben wir am 2. lebruar
d. J. mit einem corrigirten Thermometer an verschiedenen
Stellen gemessen. Sie betrug 37'9° C. (die Temperatur der
Luft war 91° C.). Messungen bei Ebbe und Fluth ergaben
keine Temperaturdifferenz.
Als Bestandtheile des Thermalwassers wurden durch die
qualitative Prüfung nachgewiesen:
Kalium
Chlor
Natrium
Brom
Lithium
Jod
Ammoniak
Schwefelsäure
Calciu m
Borsäure
Strontium
Phosphorsäure
Baryum
Kohlensäure
Magnesium
Kieselsäure
Eisen
Schwefelsäure
Aluminium
Flüchtige organische Säuren.
Lithium, Ammoniak, Baryum, Jod, Schwefelwasserstoff
und flüchtige organische Säuren konnten nur qualitativ nach
gewiesen werden, weil sie sich nur spurenweise in dem
Thermal wasser finden; alle übrigen Bestandtheile wurden
quantitativ bestimmt und dabei folgende Mittelwerthe für
10.000 Gewichtstheile des Thermalwassers erhalten:
Kaliumoxyd
Natriumoxyd .
Calciumoxvd .
Strontiumoxyd
Magnesiumoxytl
Eisenoxyd .
Aluminiumoxyd
Chlor . . .
Brom
Schwefelsäureanhydrid
Phosphorsäureanhydrid
Borsäureanhydrid
Kohlensäureanhydrid
Kieselsäureanhydrid
Organischer Kohlenstoff ....
Ammoniak, Lithium, Baryum, Jod, Sc
Wasserstoff, flüchtige organische
Controlsulfate gefunden . . .
Controlsulfate berechnet ....
Specifisches Gewicht .
Quellen temperatur .
. L626
. 50 729
. 4-615
. 0-058
. 6920
. 0-005
. 0002
. 67 687
. 0-204
. 9-750
. 0001
. 0 065
. P278
. . 0229
. . 0130
hwefel- 1 _
Säuren f SPuren
. . 152206
. . 15P475
. . L00986
. . 37-9° C.
Werden diese Bestandtheile zu Salzen gruppirt, so erhält
man für 10.000 Gewichtstheile des Thermalwassers:
Schwefelsaures Kalium .
Schwefelsaures Strontium
Schwefelsaures Calcium .
Schwefelsaures Natrium .
Borsaures Natrium .
Phosphorsaures Natrium .
Chlornatrium .
Chlormagnesium
Brommagnesium
Kohlensaures Magnesium
Kohlensaures Eisen . .
Aluminiumoxyd
Kieselsäureanhydrid .
Organischer Kohlenstoff .
Ammoniak, Lithium, Baryum, Jod, Schwefel
Wasserstoff, flüchtige organische Säuren
Kohlensäure, halb gebunden
Kohlensäure, frei ....
Summe der festen Bestandtheile . . . 1
3-007
0-103
11;213
3-064
0-095
0-002
93 026
15-123
0-235
1039°)
0007 7)
0-002
0229
0130
Spuren
0-547
0485
27-145.
6) Entsprechend 1’806<7 Magnesiumhydroeai bonat.
') Entsprechend 0 010«; Eisenbydrocarbonat.
Die folgende Tabelle enthält eine Darstellung der Zu¬
sammensetzung des Thermalwassers in Aequivalentprocenten
seiner Bestandtheile nach dem Vorgänge von C. v. Than.
K . .
.... 1-581
Na . .
.... 74-941
%Ca .
.... 7556
V2 Sr
.... 0051
'/2 Mg .
.... 15-865
%Fe .
.... 0 006
*
CI . .
.... 87531
Br . .
.... 0-117
V2so. .
.... 1P168
'/2 B4 o7
.... 0043
C 03 11 .
.... 1-141
*
CO,
Si o.
100
100
0-188
0-175
*
Die bereits erwähnten Niveauänderungen, welche die
Monfalconer Therme unter dem Einflüsse der Ebbe und
Fluth des benachbarten Meeres erfährt, haben schon früher
Veranlassung gegeben, zu prüfen, ob die Zusammensetzung
des Thermalwassers durch diese Vorgänge Aenderungen
erfährt. Die darauf abzielenden älteren Untersuchungen
haben ergeben, dass eine solche Aenderung nicht eintritt.
Auch wir haben Thermalwasser zur Zeit der Ebbe einerseits
und zur Zeit der Fluth andererseits untersucht und in Ueber-
einstimmung mit den älteren Angaben constatiren können,
dass die Zusammensetzung des Thermalwassers bei Ebbe und
Fluth gleichbleibt.
So erhielten wir bei der Fällung mit Silbernitrat an
Chlorsilber und Bromsilber zusammen für 1 0.000g Wasser
zur Zeit der Ebbe . . . 274"206g
zur Zeit der Fluth . . . 274 094g.
Die Menge des durch Abdampfen des Thermalwassers
mit Schwefelsäure erhaltenen Sulfatrüekstandes betrug für
10.000 g Thermalwasser
zur Zeit der Ebbe . . . 152 206 g
zur Zeit der Fluth . . . 152-131 g.
An keiner der zugänglichen Stellen der Therme Hessen
sich frei aufsteigende Gase wahrnehmen, es wurde uns auch
von Personen, die seit vielen Jahren in dem Thermalbade be¬
schäftigt sind, bestätigt, dass sie niemals Gasblasen in dem
Bassin der Therme beobachtet haben.
Das in dem Thermalwasser absorbirte Gas haben wir
durch Auskochen unter Anwendung einer G e i s s 1 e r’schen
Quecksilherluftpumpe gewonnen; 1 1 Wasser lieferte 31*27 cw?3
Gas. 8)
Die Analyse dieses Gasgemenges ergab folgende Zu¬
sammensetzung:
Kohlensäureanhydrid . . . 33-01%
Sauerstoff . 9' 17%
Stickstoff . 57-82%
Die Bestimmung des Gefrierpunktes und der elektrolyti¬
schen Leitfähigkeit des Wassers der Monfalconer Therme hat
Herr Dr. R. v. Zeynek ausgeführt; er ist zu den folgenden
Resultaten gelangt:
Die Depression des Gefrierpunktes des Wassers der
Therme von Monfalcone gegen den Gefrierpunkt von reinem
Wasser wurde im Mittel aus drei Versuchen zu 0 726° ge¬
funden.
Die elektrolytische Leitfähigkeit wurde nach der Kohl¬
rau sc h’schen Methode unter Verwendung zweier Gefätse
bestimmt, deren Wiederstandscapacitäten P4585 X 10“ 5 und
8) Bei 01 C. und einer Atmosphäre,
Nr. 32
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900
731
1-2862 X 10-3 betrugen. Als specifische Leitfähigkeit K des
Thermalwassers wurden folgende Werthe, bezogen auf reciproke
Ohms, erhalten:
Temperatur in Graden K X 10 —
16- 4 .... 1-8815
16-5 .... 1-8821
17- 5 .... 19215
87 2 .... 2-7976
17 0 .... 1-9038
18- 2 .... 1-9318
37-2 .... 2-8021
37-8 .... 2 8216
382 .... 28407
39-8 .... 2-9133
40 0 .... 29199
Die auf reciproke Ohms bezogene Leitfähigkeit des
Thermal wassers von Monfalcone bei 18"0°, aus den Werthen
berechnet, die zwischen 16"4 und 18"2° gefunden wurden,
ergibt sich zu 1932 X IO-6.
Aus der Gefrierpunktsdepression — 0-726° ergibt sich die
Zahl der Gramm-Molen und -Jonen im Liter durch Division
d» r Gefrierpunktsdepression durch 1 85. Das Thermalwasser
enthält demnach 0 3924 Gramm-Molen und -Jonen im Liter.
Sein osmotischer Druck berechnet sich zu 12"! X 0 726 = 8*78
Atmosphären.
Wie es nothwendig wurde, die Analysenwerthe bei
Mineralwasseranalysen nicht in Form von Salzen gruppirt,
sondern Basen und Säuren geirennt in Aequivalenten zu
schreiben, sobald man sich der Willkür der ersten Darstellungs¬
art bewusst war, so verlangt der Fortschritt unseres Wissens
über die Constitution der Salze in wässerigen Lösungen nun
auf die Dissociation der Salze Rücksicht zu nehmen.
Man hatte mehrfach, unter Anderem bei Studien über
den osmotischen Druck, respective die Gefrierpunktserniedrigung,
an Salzlösungen beobachtet, dass die gefundenen Werthe be¬
deutend grösser waren, als der Anzahl Molecüle entsprechen
konnte und war durch diese Thatsachen genöthigt, einen
theilweisen Zerfall — Dissociation — der Salzmolecüle in ihre
Componenten — Jonen — anzunehmen. Nach den modernen
Anschauungen sind diese Jonen als Atome oder Atomcomplexe
aufzufassen, welche mit sehr beträchtlicher elektrischer Ladung
versehen sind und sich eben durch diese von den Atomen etc.
im »status nascens« unterscheiden. Chlorjonen z. B. dürfen
durchaus nicht mit freiem, elektrisch neutralem Chlor ver¬
wechselt werden; die Kräfte welche die ersteren zu den etwa
zugehörigen Metalljonen hindrängen, sind enorm grosse. Bei
der Gefrierpunktserniedrigung wirken jedoch die Jonen selbst¬
ständig, wie die noch unzersetzten Molecüle
Nicht nur bei anorganischen Salzen, sondern auch bei
organischen Salzen und auch anderen Verbindungen wurde
eine, allerdings meist wesentlich geringere, Dissociation in
ihren wässerigen Lösungen beobachtet.
Von Wichtigkeit ist, dass nur diese dissociirten Antheile
der gelösten Stoffe den elektrischen Strom leiten. Durch die
Bestimmung der Leitfähigkeit einer Lösung für den elektrischen
Strom kann man daher ermitteln, wie gross der Grad der
Dissociation einer Flüssigkeit ist.
Für wässerige Lösungen, welche nur einen dissociirten
Bestandtheil enthalten, sind solche Bestimmungen auch viel¬
fach mit grosser Präcision ausgeführt worden; auf deren
Details kann hier natürlich nicht eingegangen werden. Diese
Bestimmungen haben ergeben, dass sowohl der Dissociations
grad als auch die Leitfähigkeit für die verschiedenen Jonen-
complexe verschieden gross ist. Complicirt und der Rechnung
bisher nicht vollkommen zugänglich sind jene Fälle, wo
mehrere Salze nebeneinander in Wasser gelöst werden ; die
Leitfähigkeit dieser Gemische erwies sich meist grösser als
erwartet.
Bei der physikalisch-chemischen Untersuchung von
Mineralwässern kommt eine weitere Schwierigkeit hinzu, dass
man ja die einzelnen Salze der Mineralwässer nicht kennt,
sondern, wie eingangs erwähnt, diesbezüglich auf Vermuthungen
angewiesen ist. Bei der Mineralwasseranalyse wird jeder Be¬
standtheil separat bestimmt; ein Auskrystallisiren von Salzen,
etwa durch Eindampfen, ist keineswegs beweisend für deren
Gegenwart in dem noch nicht so weit concentrirten Mineral¬
wasser. Aus alledem mag zu ersehen sein1'), dass die folgende
Rechnung nur ein annäherndes Bild von der Zusammen¬
setzung des Thermalwassers von Monfalcone im Lichte der
modernen Anschauungen über Lösungen geben kann, während
die mitgetheilten Zahlen für Leitfähigkeit und Gefrierpunkts¬
erniedrigung den Werth von Constanten für das be¬
treffende Wasser haben.
Als Concentrationseinheit wird bei physikalisch-chemischen
Rechnungen der Gehalt eines Moleculargewichtes, respective
Jonge wichtes in Grammen in 1 1 Lösung ange¬
nommen.
Die specifische Leitfähigkeit des Thermalwassers
(K= 1-932 X 10~6 reciproken Ohms 9 10) entspricht der Leit¬
fähigkeit einer Chlornatriumlösung, welche im Liter
0"22 Grammmolecüle Chlornatrium enthält; der Dissociations-
grad einer solchen Lösung ist 0"784 (1 — 0"784 wären un-
dissociirte Molen). Da im vorliegenden Falle mehrere stärker
dissociirte Salze (speciell Chlormagnesium) vorhanden sein
müssen, können wir rund 0"80 als Dissociatiousgrad annehmen.
Unter dieser Voraussetzung bestünde die aus der Gefrierpunkts¬
depression berechnete Summe der nicht dissociirten Molen und
der Jonen aus
0 314 Gramm- Jonen im Liter
0078 nicht dissociirten Gramm- Molen,
0 392 zusammen, nicht dissociirte Molen und Jonen.
Zur Vereinfachung der Anäherungsrechnung seien die
Ergebnisse der chemischen Analyse etwas zusammengezogen,
indem Natrium und Kalium als Chlornatrium, Calcium und
Strontium als Calciumsulfat, ein Theil des Magnesiums mit
den in kleinen Mengen vorhandenen Substanzen als Magnesium¬
sulfat in Rechnung gebracht werden. Der dadurch verursachte
Fehler ist jedenfalls zu vernachlässigen gegenüber der Un¬
sicherheit in der Berechnung des Dissociationsgrades.
In dieser Darstellungsart enthielte 1 l des Thermal¬
wassers:
Molen, wenn
von der Dis¬
sociation
abgesehen ist
i
Cß
O
4-3 , - -
& ^
- *
O hß
u.
K
Q
Dissociirte
Bestandteile
(Jonen)
1
, i ©
W £0 7Z
© =
5 'S
^ OS
(/.
Na CI .
01673
0-80
0-2677
00335
Mg CI., .
0 0121
0 85
0-0309
0-00 8
Ca SO) .
0-0083
0 85
0-0141
00012
Mg SO, .
0-0052
0-70
0-0073
00016
Si o„ CO.,, c .
0-0019
—
00019
0 1948
—
0-3200
0 0400
1
Ein Vergleich dieser Zahlen mit den aus der Gefrier¬
punktsdepression berechneten zeigt den Grad der Ueberein-
stimmung zwischen der physikalisch-chemischen und der
chemischen Analyse. Worauf die Differenz im Molengehalt
zurückzuführen ist, lässt sich dermalen nicht sagen.
*
Wenn man die vorliegenden Resultate unserer Analyse
mit denen der älteren Analysen vergleicht, so ergibt sich zu¬
nächst in qualitativer Hinsicht, dass wir Strontium, Baryurn,
Borsäure, Phosphorsäure, Ammoniak, Lithium und fluchtige
9) Vgl. diesbezüglich noch die Publication II J a h n’s, Zeitschrift
für physikalische Chemie. Bd. XXXIII, 5, pag. 545 fl.
10) Bisweilen wird die Leitfähigkeit nicht aut das Ohm, d. i. den
Widerstand einer Quecksilbersäule von 1 mm- Querschnitt ur:d 1 ( ■ >n
Läno-e bei 0°, sondern auf den Widerstand einer solchen von 1 cm Quer¬
schnitt und 1-063 cm Länge bezogen; die hier erhaltenen Werthe sind tur
diesen Fall mit 10 4 zu multipliciren.
732
Nr. 32
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
organische Säuren als neue Bestandtheile des W assers nach¬
gewiesen haben, welche von den früheren Analytikern wohl
zum Theil wegen Mangelhaftigkeit der Methoden übersehen
worden sind.
Von bituminösen Substanzen, deren in älteren Analysen
Erwähnung gethan wird, konnten wir absolut nichts con-
statiren.
Die Ergebnisse aller älteren quantitativen Analysen
haben wir mit den Resultaten unserer Analyse, um einen
Vergleich zu ermöglichen, in der folgenden Tabelle zusammen¬
gestellt.
u.
o
® CO
CS
N CO
CD
5 co
1900
^ CO
CD CC
.2 CO
'O
►U CO
* rH
►>
r*
ja r“
1
<D
o
O
Kaliumoxyd .
0-225
1-32
1-31
1-626
Natriumoxyd .
58-367
48637
53-71
54-23
50-729
Calciumoxyd .....
6882
5-093
3-87
4-32
4-615
Strontiumoxyd . ...
—
—
—
—
0058
Magnesiumoxyd ....
9-357
14-108
7-38
5-76
6-920
Eisenoxyd .
Aluminiumoxyd ....
—
0 090
0080
0-02
0 07
0-003
0 002
Chlor .
78-507
67-546
67-62
69-74
67-687
Brom .
—
0-206
0 19
—
0 204
Jod .
—
0-703
—
—
Spur
Scbwefelsäureanhydrid . .
9-477
8-862
9 99
994
9-750
Phosphorsäureanhydrid
—
—
—
—
0001
Borsäureanhydrid ....
—
—
—
—
0-065
Kohlensäureanhydrid . .
3-178
5 813
3-49
3-48
1-278
Kieselsäureanhydrid . . .
—
2-570
018
0 14
0229
Schwefelwasserstoff . .
Ammoniak und Lithium,
—
0 154
Spur
Spur
Baryum, flüchtige orga¬
nische Säuren ....
_
Spuren
Organische Substanz . .
—
1.600
—
—
0-130*)
Naphtha .
—
0-620
—
—
—
Kohlenwasserstoffe . . .
Stimme der festen Bestand-
—
0-072
—
theile .
148-054
140-492
1
126 99
131-54
127 145
*) Als organischer Kohlenstoff berechnet.
Die Ergebnisse der drei letzten Analysen, nämlich jener
von Chiozza (1856), K. v. Hauer (1858) uud uns zeigen
eine bemerkenswerthe Uebereinstimmung in der Concentration
des Thermalwassers, d. h. in seinem Gehalt an gelösten festen
Bestandteilen ; denn die geringen, aus der Tabelle ersicht¬
lichen Differenzen sind nicht grösser, als sie den unvermeid¬
lichen Versuchsfeldern entsprechen, zumal wenn die Analysen
nicht von einem Analytiker und nicht nach denselben Methoden
ausgeführt werden. Erheblicher sind die Unterschiede, welche
zwischen den Ergebnissen der bereits genannten drei letzten
Analysen und jenen der Analysen von Vidali und Cene-
della bestehen. Erwägt man, dass die Analyse von Vidali
im Jahre 1810 gemacht wurde, also zu einer Zeit, in welcher
tüchtige Analytiker noch sehr dünn gesäet waren und die
analytischen Methoden in Bezug auf ihre Verlässlichkeit noch
weit hinter den heutigen zurückstanden; unterwirft man ferner
die Methoden, welche Cenedella11) bei seiner Analyse ver¬
wendet hat, einer sachgemässen Kritik, so wird man zu der
Ansicht gedrängt, dass die beträchtlichen Unterschiede in den
Resultaten der Analysen lediglich in den Analytikern und
nicht etwa darin zu suchen sind, dass das Thermalwasser von
Monfalcone im Laufe der Zeit seine Zusammensetzung wesent¬
lich geändert hätte.
Man wird vielmehr anzunehmen haben, dass die Concen¬
tration des Wassers erhebliche Aenderungen nicht erfahren
hat. Dafür sprechen ganz besonders die drei letzten Analysen.
*
Die Therme von Monfalcone gehört, wie aus dem Resul¬
tate der chemischen Untersuchung ihres Wassers hervorgeht,
") Diese Methoden sind in der bereits eiiirten Abhandlung von
Cenedella genau beschrieben.
zu den Kochsalzthermen und nimmt unter denselben, -wie die
folgende Tabelle lehrt, einen hervorragenden Platz ein.
Die zum Vergleich herangezogenen Thermen sind in
dieser Tabelle alphabetisch angeordnet.1'2)
Temperatur
in Graden
Celsius
i
Summe der
festen
i Bestandtheile
Kochsalz
Kohlensäure
Baden-Baden, Brühquelle . .
68-36
30-014
22-266
0-607
» Fettquelle . .
63 90
28-971
22-105
—
» Judenquelle
68-3
29-089
21-849
0-469
» Ursprung . .
68-63
28 767
21-511
0-485
» Höllenquelle .
65-1
28-937
21101
0-932
» Ungemachquelle
—
29-514
20-834
0560
» Mui quelle . .
56 0
27-657
19-428
—
» Büttquelle . .
44-4
27-585
18-988
0-638
Battaglia .
58-5-7T2
23-670
15-770
—
Bourbonne-les-bains ....
58—66
76-79
58-00
—
Kissingen, Schönboi nsprudel
20T-20-4
158-470
117-194
26 209
Mondorff .
24-75
143-794
87-212
0651
Monfalcone .
37-9
127145
93-026
1-278
Nauheim, Curbrunnen . . .
21-4
186-828
154-251
19-558
» Friedrich Wilhelm-
Sprudel .
35-3
353-573
292-940
11-376
» Grosser Sprudel . .
31-6
263539
218-245
14 015
» Kleiner Sprudel .
27-56
211-663
171-388
15-599
Oeynhausen-Rehme, Thermal-
soole ... .
31-6
395-504
303-51
14-811
Oeynhausen-Rehme, Bohrloch
kr. II .
27-6
407 024
312-75
14-376
Oeynhausen-Rehme, Bohrloch
Nr. III .
27-3
322-843
247-12
12*043
Oeynhausen -Rehme, Biilow-
Brunntn, leichte Soole . .
—
420-294
358 12
—
Oeynhausen -Rehme, Biilow-
Brunnen, schwere Soole
—
970-103
856-37
—
Soden, Milchbrut. nen ....
24-38
33-990
24-255
18-698
» Warmbrunnen . . .
22-69
47-817
34-258
19 957
» Schlangenbadquelle
18-9-19-7
6033
2-988
1-409
» Soolbrunnen ....
2D55
169-259
142-328
16-608
» Soolsprudel .
30-5
168-674
145-500
14-857
Wiesbaden, Spiegelquelle . .
66-1
81-
68-24
4-89
» Gemeindequelle .
49 5
64-
52-64
4-009
» Kochbrunnen . .
68-75
82-627
68-357
3-940
Aus der k. k. chirurgischen Klinik des Herrn Hofrathes
Prof. C Nicoladoni in Graz.
Beiträge zur Frage der »totalen Darmaus¬
schaltung«.
Von Dr. Erwin Payr, Docent für Chirurgie und Assistent der Klinik.
(Schluss.)
Die Frage der totalen Darmausschaltung steht heute viel¬
leicht nicht mehr so im Vordergründe des Interesses, wie dies
vor fünf bis sechs Jahren der Fall war. Es sind ja die An¬
schauungen über die technische Ausführung des Eingriffes, über
die Indicationen und die Berechtigung viel geklärter als damals.
Heute ist die totale Darmausschaltung ein verhältniss-
mässig seltener Eingriff, da ja die partielle, die Entero-
anastomose M a i s o n n e u v e’s, mit all’ ihren späteren Ver¬
besserungen sehr leistungsfähig, ebenso sicher und vor Allem
technisch viel leichter ausführbar ist. v. Hacker5) ist Der¬
jenige, der durch moderne Technik und präcise Indications-
stellung letzteres Verfahren auf die hohe Stufe von heute brachte.
Es gibt aber gewisse Fälle, in denen die totale Darm¬
ausschaltung den einzigen Weg dar stellt, um
einen halbwegs erträglichen Zustand für den
Patienten herbeizuführen; es gilt entweder einen
widernatürlichen After, der sich durch spontane Fistelbildung
etablirt hat, zu verschliessen oder dem Patienten, der mit Darm¬
stenose behaftet ist, die Anlegung eines solchen zu ersparen.
,2) Die Zahlen dieser Tabelle sind dem Handbuche der allgemeinen
und speciellen Balneotherapie von Hofrath Dr. Tb. Valentiner
entnommen.
Nr. 32
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
733
Salzer (1. c.) gebührt das grosse Verdienst, der geistige
Urheber dieses Operationsverfahrens zu sein, wenn er auch
nicht der Erste war, der den Vorschlag machte oder zur Aus¬
führung brachte.*) Die erste totale Darmausschaltung mit gleich¬
zeitiger völliger Versenkung des ausgeschalteten Stückes ohne
Sicherheitsventil wurde von Trendelenburg0) schon im
Jahre 1885 ausgeführt. Diese Operation hatte aber nicht ein
Weiterrollen der Frage bedingt (Becker, Ueber Darm-
resection. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. Bd. XXXIX).
Dielndicationen, die Salzer für das Verfahren
aufgestellt hat, sind in weiter Voraussicht der Grenzen der
technischen Durchführbarkeit des Eingriffes gestellt und hat
Salzer, obwohl damals nur auf Thierversuche und noch auf
keine eigenen Erfahrungen am Menschen gestützt, mit grosser
Uebersicht das Indicationsgebiet entwickelt.
Es gab in der Frage der Darmausschaltung ein sonst
seltenes Zusammentreffen, von Versuchsreihen, von physio¬
logischer Seite angestellt, um über das Wesen der Darmsecretion
Aufschluss zu gewinnen, und von Ideen, bestimmt, die an Thier¬
versuchen gewonnenen Erfahrungen in der praktischen Chirurgie
mit Nutzen zu verwenden.
Die Geschichte der Entwicklung der Darmausschaltung
von ihren ersten Anfängen an, von der T h i r y 7) -V e 1 1 a’schen 8)
Fistel, den Versuchen Hermann’s9) und seiner Schüler bis
zur praktischen Nutzanwendung am Menschen kann in ihren
hauptsächlichen Zügen als bekannt vorausgesetzt werden; auf
einzelne Punkte im Entwicklungsgänge der Frage kommen wir
ohnedies später zurück.
Ein besonderes Interesse erheischt die Frage der
Indicationsstellung für die totale Darmausschaltung,
auf die wir mit einigen Worten eingehen müssen, obwohl
Salzer (1. c.) in seiner zweiten Publication bereits dieses
Capitel in eingehender Weise erörtert hat.
Salzer stellt als Indication mehrere Gruppen von Er¬
krankungen auf, die sich vortheilhaft in drei Kategorien ein-
theilen lassen :
1. Kotheiterfisteln nach Verletzungen, acuten und chro¬
nischen Krankheiten des Darmes.
2. Darmfisteln nach Durchbruch inoperabler Geschwülste,
nach Arrosion des Darmes in Folge tiefer Eiterungsprocesse
im Bauchraume und bei Communication zwischen Blase und
Darm; dazu ist seither die Behandlung von Darm-Genitalfisteln
durch totale Ausschaltung (N a r a t h) (1. c.) und die Pylorus-
ausschaltung gekommen (v. Eiseisberg 10). Letzterem Autor
verdankt die totale Darmausschaltung den Hauptantheil ihrer
praktischen Entwicklung und ist dieses Verfahren von v. Eiseis¬
berg in hervorragendstem Masse gepflegt und gefördert worden.
Endlich hat man ausgeschaltete Darmstücke zu plastischen
Zwecken (Blase) verwendet.
3. Stenotische Processe im und am Darme, neoplastischer
oder chronisch-entzündlicher Natur; die Ausschaltung bezweckt
entweder die Vermeidung eines Anus praeternaturalis, oder die
Ermöglichung einer Therapie für den erkrankten Darmantheil
oder endlich das spätere Möglich werden der Exstirpation; immer
vorausgesetzt, dass eine primäre Resection der Darmpartie
nicht möglich ist.
Unser Fall gehört nun zweifellos in die zweite Kategorie
der Indicationen : Arrosion des Darmes in F olge eines
tiefen Eiter ungsprocesses im Bauchraume. Nach
genauer Durchsicht der Literatur konnten wir keinen Fall
finden, in dem diese Indication, die theoretisch aufgestellt, sich
praktisch ergeben hätte und ist unser Fall somit der erste, der
den praktischen Beweis der Richtigkeit für dieselbe ergibt.
Ein Fall, der der Indicationsstellung nach mit unserem
wenigstens verwandt ist, ist einer jener, durch welche S a 1 z e r
zum Theil wenigstens die Anregung zum Suchen nach einer
anderen Behandlung von Darmleiden, als dies Resectio intestini
und Enteroanastomosis sind, erhielt.
Ein Bauchschuss in der rechten Inguinalgegend erzeugt
eine Darmfistel.
*) v- Hacker (1. c.) entwickelte die fragliche Idee als Vorschlag
in seiner Arbeit über die Anastomosenbildung am Darme.
Es entwickelt sich secundäre Osteomyelitis chronica ossis
ilei (wahrscheinlich tuberculöser Natur nach Infection vomDarm-
tractus aus); es entsteht ein Congestionsabscess am rechten
Oberschenkel. Die Ausschneidung des Projectils nach Spaltung
des Abscesses, die ausgedehnten Hautplastiken auf die Darm¬
fistel, der Versuch der Freilegung des pathologisch veränderten
Intestinums inmitten des Schwielengewebes — Alles war erfolglos.
Der Kranke musste nach Monaten aus der Spitalspflege ent¬
lassen werden, um ungeheilt nach Hause zu gehen.
In unserem Falle war die Arrosion des Darmes ein Er¬
eigniss, das unbedingt zu einem operativen Vorgehen zwang.
Das Einfliessen von Darminhalt in eine ungeheure, nach
hinten zu bis zur Synchondrosis sacro-iliaca und gegen die Lenden¬
wirbelsäule reichende Psoasabscessliöhle musste schwerste In¬
fection sgefahren für den Patienten heraufbeschwören. Ist es ja
doch bekannt, dass grosse kalte Abscesse im Becken unter
den peinlichsten aseptischen Cautelen be¬
handelt werden müssen, um acute Infectionen sicher zu
verhüten.
Wenn es auch durch einige Zeit hindurch möglich war,
durch festes Verstopfen der Darmfistel ein Einfliessen in die
Abscesshöhle hintanzuhalten, so ist dies für längere Zeit doch
unthunlich gewesen.
Unsere erste, zur Beseitigung der Darmfistel vorgenommene
Operation bezweckte, auf irgend eine Weise einen Ver¬
schluss der Communication zwischen Cöcum
und Abscesshöhle zu erzielen.
Eine Lospräparirung des Cöcums von der Abscesswand
wäre nach der Verdünnung, die daselbst bestand, wohl kaum
möglich gewesen und hätte ausserdem eine breite, nicht zu ver-
schliessende Communication zwischen Abscesshöhle und freier
Bauchhöhle gesetzt, kam daher überhaupt nicht in Betracht.
Wenn der Zustand des Kranken nicht ein so elender ge¬
wesen wäre, dass er einen irgendwie länger dauernden Ein¬
griff mir damals unbedingt unthunlich erscheinen liess, so wäre
natürlich die totale Darmausschaltung mit blinder
Vernäkung der vier Enden schon damals das Richtige gewesen.
So aber musste ich mich nach Anlegung der lateralen Ileo-
colostomie begnügen, durch eine circulär angelegte seromusculäre
Scknürnaht das zu- und abführende Darmlumen versuchs¬
halber zu verschliessen und dachte ich, dass vielleicht die
Fäcalmassen ihren Weg durch die Ileocolostomie nehmen würden,
da dieselbe sehr breit angelegt war und an der Stelle der an¬
gelegten Schnürnaht derzeit wenigstens das Darmlumen nach
der Fistel sowohl im proximalen als im distalen Schenkel auf¬
gehoben erschien. Die nach acht Tagen beobachtete Wieder¬
kehr des Ausfliessens von Darminhalt aus der Darmfistel bewies
mir am besten, dass mein allerdings nur durch die Verhältnisse
aufgezwungenes Verfahren des Verschlusses seinen Zweck nicht
erfüllte.
Ich halte es für angezeigt, über diese Sache einige Be¬
merkungen anzuschliessen.
Es ist schon zu verschiedenen Malen versucht worden,
durch Anlegung von Nähten, Ligaturen u. s. w., Darmlumina
bei Anastomosen und Ausschaltungen von Darm theilen einen
dauernden Verschluss herbeizuführen.
Ich erinnere dabei nur an die Publication von v. Hacker
(1. c.) aus dem Jahre 1888 über die Bedeutung der Anastomosen¬
bildung im Darm.
In einem Falle von Ileocolostomie wird mitgetheilt: »um
eine Ansammlung von Darminhalt in der jetzt ausgeschalteten
Darmpartie möglichst zu vermeiden, wird das Ileum in seinem,
von der Communicationsöffnung her gegen den Tumor ziehenden
Stücke durch Einstülpung der Wand in Längsfalten und An¬
legung die Faltenhöhen vereinigender Nähte verengt«. In
diesem Falle liess es sich nicht entscheiden, ob die angelegten
Faltennähte ihren Zweck erfüllt haben oder nicht.
Indess ist der Gedanke ja naheliegend, durch derartige
Nahtanlegung dem Darminhalte eine bestimmte Richtung zu
geben.
W. Körte11) machte anlässlich eines Falles von Darm-
tuberculose eine Reihe von Eingriffen, unter Anderem auch die
734
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 32
Ausschaltung eines bedeutenden Stückes de3 Dick- und Dünn¬
darmes.
Um dem Darminhalte den rückläufigen Weg durch Colon
descendens und transversum zur Darmfistel zu versperren, legte
Körte (1. c.) Faltennähte sehr enge nebeneinander durch
Serosa und Muscularis an, um das Colon zu verschliesscn
(13. Mai 1893).
Am 26. Mai, also nach 14 Tagen, entleerte sich wieder
ein Theil des Darminhaltes bei der Fistel — »offenbar hatten
die Faltennähte nicht gehalten« sagt Körte selbst.
Ganz ähnlich also, wie in unserem Falle war es nach
einigen Tagen scheinbar gelungenen Verschlusses des Darmes
zu einer Wiederherstellung des Lumens gekommen.
Es ist daher die Anlegung von Faltennähten
oder auch von einer seromusculären Tabaks¬
beutelnaht oder endlich von Ligaturen bei der
Darmausschaltung zur Ver sch lies sung eines
Darmabschnittes eine höchst unsichere Methode
Es liegen nach unseren heutigen Kenntnissen auch die Ur¬
sachen für die Unsicherheit sehr nahe.
Ich erinnere dabei nur an die sich immer öfter wieder¬
holenden Mittheilungen über das Hineingelangen von Fremd¬
körpern in den Darm; der vorjährige Chirurgencongress brachte
interessante Mittheilungen über diesen Gegenstand; besonderes
Interesse verdienen die Beobachtungen, die Kader12) bei
Thierexperimenten über die Ursache innerer Darmeinklem¬
mungen machte. Es wurden Darmschlingen durch Gummi¬
bänder und Schnüre massig strangulirt. Einige Hunde vertrugen
diesen Eingriff anstandslos und fand man die Schnur bisweilen
frei im Darminnern und manchmal per anum entleert; in anderen
Fällen fand sich die Gummischnur frei in der Bauchhöhle,
nach Durchschneidung des Darmes; das Lumen des Darmes
aber fand sich in allen diesen Fällen, wenn auch verengt, so
doch wieder hergestellt. Es fanden sich bisweilen auch mehrere
Enteroanastomosen zwischen den Schlingen.
Es ist also nichts wahrscheinlicher, als dass derartige
Schniirnähte, wenn sie an der Höhe der Convexität der Falten
angelegt sind, durchschneiden und vom Peritoneum abgekapselt
werden; wenn sie den Darm circular umspannen, durch¬
schneiden und in das Darminnere gelangen und
so nach kurzer Zeit die versperrte Passage wieder freigeben.
Ein Verfahren, das von v. M o s e t ig - M o o r h o f 13) für
die Technik der Colotomie mit Ausschaltung des distalen Dick¬
darmabschnittes angegeben ist, basirt eigentlich auf derselben
Grundlage; es wird der hervorgezogene Darm an einer Stelle
mittelst eines dünnen Seidenfadens einfach unterbunden; der
durch das Mesocolon durchgezogene Faden wird fest geschnürt;
es wölbt sich nun die Darmwand zu beiden Seiten der Ligatur
stark in die Höhe und werden die Darmwände durch sero-
musculäre Ringnähte in zwei Etagen miteinander vereinigt;
v. Mosetig nennt diese Methode »Colotomie mit
querem Doppelwandverschluss«; v. Mosetig war
in einigen bisher operirten Fällen mit dem Erfolge zufrieden;
trotzdem liegt nach den sonstigen gemachten Erfahrungen die
Vermuthung nahe, dass die Ligaturfadenschlinge einmal durch¬
schneiden kann und die Doppelwandbildung insufficient wird,
so dass wir auch dieses Verfahren, dass ja für viele Darm¬
ausschaltungen passen würde — als nicht genügend sicher be¬
trachten können.
Was die technische Seite des blinden Verschlusses der
Enden des ausgeschalteten Darmstückes anlangt, so würden
wir uns in Zukunft nur des Doy en’schen 14) Schnürverschlusses
mit den von v. Miculicz15) angegebenen Modificationen mit
dem Enterotrib bedienen; Sicherheit des Verschlusses, Schnellig¬
keit der Ausführung sind die Vortheile des Verfahrens.
Die Entscheidung, welches das zuführende und welches
das abführende Stück an einer Darmpartie ist, ist bei den
complicirten Verhältnissen, die man in der Bauchhöhle bis¬
weilen findet, sehr schwer und in einer Reihe von Fällen hat
die Unmöglichkeit, diese Frage sicher zu beantworten, zu einem
wesentlich anderen Vorgehen geführt.
Mehrmals findet sich in den Operationsberichten die An¬
gabe, dass es unmöglich war, der Verwachsungen wegen das
zu- und abführende Stück als solches zu erkennen, und dass
aus diesem Grunde von einer totalen Darmausschaltung abge¬
sehen werden musste, so dass man sich genöthigt sah, sich mit
einer seitlichen lleocolostomie zu begnügen, oder manchmal
sogar die Operation zu unterbrechen (v. Eiseisberg [1. c ]
Frank 16) und Andere).
In einem Falle von Bier17), Nr. 3, waren die Ver¬
hältnisse so complicirt, dass das zuführende Dünndarmende
verschlossen wurde; es kam zu Ileus und musste nach vier
Tagen abermals die Bauchhöhle geöffnet werden.
Bei Stenosen des Darmtractus leistet ja auch die laterale
Anastomose ohne totale Darmausschaltung ausgezeichnete
Dienste; aber gerade bei der Behandlung von Koth-
fisteln, insbesondere von jenen des Dünndarmes
ist meist nur durch die totaleAusschaltungdie
Sistirung des Kothab fl usses zu erzielen und
darum ein Verfahren ungemein wünschenswert!], das ermög¬
licht, sicherin jedem Falle das zu- und abführende
Darm stück zu erkennen. Von ganz besonderer Wich¬
tigkeit kann dies auch bei chronisch-entzündlichen Processen
im Bauchraume in der Umgebung des Cöcums, der Gallen¬
blase, des Duodenums sein.
Es scheint nun ein Verfahren gefunden zu sein, das im
Stande ist, in schwierigen Fällen die Entscheidung zu treffen,
ob man das zu- oder abführende Darmstück vor sich hat.
Buchbinder18) hat in einer äusserst lesenswerthen und
interessanten Arbeit über Versuche am lebenden Thier- und
Menschendarm berichtet, die das Verhalten des Darmes gegen
den elektrischen Strom, sowohl den galvanischen als auch den
faradischen untersuchten.
Er fand, das der normale Menschendarm, ebenso wie
Thierdarm, auf den faradischen Reiz in einer typischen
und leicht kenntlichen Weise reagirte, deren Charakter darin
bestand, dass besonders an der Anode eine starke locale
Ringcontr action entstand, der sich eine auf¬
wärts-, das ist magenwärtsgeh ende, das Darm¬
lumen circa 2 cm weit vollkommen ver sch Mes¬
sende Constriction anschloss.
Indem Buchbinder diese typische Reaction am
Menschendarme fand, entdeckte er zugleich eine einfache,
absolut gefahrlose Methode, am normalen Daune jederzeit die
Richtung desselben sicher erkennen zu können.
Buchbinder (1. c.) hält insbesondere bei der Behand¬
lung von Hernien zur Erkennung des zu- und abführenden
Rohres das Verfahren für brauchbar und wichtig; unseres Er¬
achtens ist dies vollkommen richtig, wenngleich gerade bei
Hernien wegen des verschieden turgescenten Zustandes der
zu- und abführenden Schlinge die Unterscheidung oft recht
leicht ist; insbesondere aber halten wir dafür, dass bei jenen
chronisch - entzündlichen Erkrankungen im
Bauch rau me, bei denen grosse Dar m schlinge n-
convo lute zusammengebacken sind, wo es sich
um Resectionen, besonders aber um Ausschal¬
tungen handelt, von geradezu ausschlaggebender
Wichtigkeit sein kann, durch das neue Verfahren zu und
abführendes Stück zu erkennen.
Zwei kugelförmige, 1 cm im Durchmesser haltende
Metallansätze, die sammt den in Gummischläuche eingehüllten
Drähten ausgekocht werden können, sowie ein gewöhnlicher
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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farad ischer Schlittenapparat sind das technische Erforderniss
für diese Methode. Es stellt sich eine das Lumen vollkommen
verschliessende Constriction des Darmes ein.
Man kann eigentlich nicht sagen, dass heute noch grosse
Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Berechtigung
der totalen Darmausschaltung mit totaler Ver¬
senkung beider Enden des ausgeschalteten Darmstückes be¬
stehen. Die beiden Plauptvertreter der Lehre, dass die totale
Occlusion erlaubt sei, haben, theils auf Grundlage eigener übler
Erfahrungen an vorher anscheinend glatt verlaufenen Fällen
(O b a 1 i n s k i 19), theils nach zahlreichen sorgfältigen Thier¬
versuchen (v. Baracz20) die frühere Lehre zurückgezogen
und stellen sich vollständig auf den Standpunkt Jener, die die
völlige Versenkung eines Darmabschnittes für gefährlich be¬
zeichnen, v. Eiseisberg (1. c.), Fran k (1. c.), Reichel21),
H o c h e n e g g 22), N a r a t h (1. c.) u. A.
Besonders v. Baracz (1. c.), hat in seiner letzten Arbeit
hochwichtige experimentelle Beiträge zur Frage der totalen
Darmausschaltung mit Verschluss der ausgeschalteten Schlinge
gebracht; die Gefahren, die dieser Vorgang nach sich zieht,
sind mehrfacher Art:
1. Gefahr der Infection der Peritonealhöhle bei der
Operation.
2. Gefahr eines inneren Darmverschlusses; es ist schon
mehrfach eine innere Einklemmung von Schlingen in dem offen
gelassenen Mesenterialschlitz beobachtet.
3. Die Gefahren, welche von der ausgeschalteten Schlinge
ausgehen; es wurde da Gangrän des Schlingenrandes, Platzen
der Schlinge in Folge von Ansammlung von Secret und Gasen,
Blutunterlaufungen, Gangrän und Geschwüre der Wand der
ausgeschalteten Schlinge mit nachfolgender Peritonitis beob¬
achtet.
Manche Thiere können selbst bei Vorhandensein eines
fäealen Inhaltes lange Zeit am Leben und dabei völlig gesund
bleiben.
Stets wurde in den ausgeschalteten Darmschlingen reich¬
licher Bacterieninhalt gefunden; chronischer Katarrh und Hyper¬
trophie der Wandung geboren zu den regelmässigen Befunden.
v. Baracz (1. c.) nennt jetzt selbst die Fistel des aus¬
geschalteten Darmtheiles »das Sicherheitsventil«.
Mit diesen Erklärungen des hauptsächlichsten Fürsprechers
der totalen Occlusion und dem Zusammenhalte mit den Er¬
fahrungen 0 b a 1 i n s k i's l9), in dessen Falle 27 Monate nach
der totalen Occlusion ein Durchbruch des Darmstückes nach
den Bauchdecken zu sich entwickelte und eiterig-jauchige, nach
Koth riechende Füssigkeit ausströmte, kann man wohl die
völlige Versenkung eines Darmstückes — sei es gesund oder
krank — als eine abgethane Sache bezeichnen, und dürfte dieser
Eingriff aus der Liste der erlaubten Operationen gestrichen
werden.
Ausser den drei Fällen, Baracz, Obalinski, Friele 23),
von denen der zweite durch den späteren Durchbruch in der
Reihe der totalen Ausschaltungen eine Rolle spielt, und der
dritte von Friele (1. c.) nach einer ausserordentlich kurzen
Beobachtungszeit zu Grunde ging, sind noch Fälle vorhanden,
die in der ganzen Frage eine Mittelstellung einnehmen: das
sind jene Fälle, in denen die ursprünglich vorhandene Oeffnung
des ausgeschalteten Darmstückes gegen die Körperoberfläche
entweder durch Kunsthilfe oder spontan zum Verschlüsse kam.
Im Falle von Wie singer24) wurde 5 4/2 Wochen nach
der ersten Operation die wenig secernirende Fistel geschlossen.
In fünf Fällen von v. Eiseisberg verschwand die Secretion
der Fistel längere oder kürzere Zeit nach der Operation; in
unserem Falle endlich ist es nach sehr kurzer Zeit — aller¬
dings bei Behandlung des ausgeschalteten Darmstückes — zu
einem spontanen Verschlüsse gekommen, in der¬
selben Zeit, in der im Falle von Wie singer (1. c.) der künst¬
liche Verschluss der Fistel gemacht wurde.
Diese Frage muss uns nach den Erfahrungen der Thier¬
experimente und der am Menschen beobachteten Thatsachen
(ein Fall von Funke25) u. A.) zur Ueberlegung führen, als
was man den spontanen Verschluss einer be¬
stehenden Fistel anzusehen hat, und ob es unter
Umständen erlaubt ist, zum Verschlüsse einer bestehenden Fistel
in irgend einer Weise etwas beizutragen.
Die Secretion aus dem ausgeschaltetem Darmstücke ver¬
hält sich ungemein verschieden; man wollte Unterschiede
zwischen ausgeschaltetem Dünndarm und Dickdarm heraus¬
finden und darauf Lehren für das Erlaubtsein der Ausschaltung
gewisser Darmpartien aufstellen.
Es steht nur so viel fest, dass die Secretionsmengen
enorm wechseln können, dass manchmal die Menge des aus¬
geschiedenen Secretes durch lange Zeit nahezu constant bleibt,
während sie in anderen Fällen nach kurzer Zeit abnimmt und
auf geringer Höhe bleibt, in wieder anderen Fällen gänzlich
zum Versiegen kommt.
Ferner kann man aus den Operationsberichten entnehmen,
dass die Fälle, in denen es zum spontanen Versiegen der Fistel
kommt, weder Tuberculose noch Neoplasmen betreffen, sondern
chronische Entzündungen oder Fistelbildungen, die durch in-
carcerirte Hernien, Durchbrechen von ausserhalb des Darmes
gelegenen Processen in diesen u. s. w. hervorgerufen werden.
Auch in unserem Falle, in dem sowohl Dickdarm circa 20 cm,
als auch unteres Ileum circa 20 — 25 cm ausgeschaltet worden
waren, handelt es sich um einen Durchbruch eines ausserhalb
des Darmes gelegenen Eiterungsprocesses in denselben und
nicht um eine speci fische Erkrankung des Darmes.
Es wäre nun von grossem Interesse, über die Fälle, bei
denen sich die Fisteln spontan schliessen, nach längerer Zeit
etwas zu erfahren; es ist nach den derzeit darüber zu Gebote
stehenden Kenntnissen keineswegs über allen Zweifel
erhaben, dass solche spontan oder durch Bei¬
hilfe verschlossene Fistelöffnungen für ein
weiteres ruhiges Verhalten derausgeschalteten
Darm schlinge garantiren.
Dass eifriges Ausspiilen mit desinficirenden und ad-
stringirenden Flüssigkeiten die Secretion einer ausgeschalteten
Darmpartie erheblich vermindert und einen äusserst wohl-
thätigen Einfluss auf die Beschaffenheit des Secretes bei localen
Erkrankungen des Darmes hat, ist wohl verständlich und nahe¬
liegend.
Es ist ferner verständlich, dass durch Aetzungen der
Darmschleimhaut mit Höllenstein, Salpetersäure, Carbolsäure,
durch Bepinseln mit Jodtinctur, Formalinlösungen, dieselbe ent¬
weder völlig zerstört oder in einen so atrophischen Zustand
versetzt wird, dass die Secretion aus dem ausgeschalteten, so
behandelten Stücke völlig versiegt.
Nicht ganz klar aber sind jene Fälle, in denen ohne
Aetzungen und eine ernstliche medicamentöse Behandlung der
Darmschleimhaut die Secretion völlig sistirt.
Unseres Erachtens handelt es sich nicht um ein »Auf¬
hören« der Secretion, sondern um ein Ver¬
schlossenwerden der Fistel, die bei der vorher minimal
bestehenden Secretion immer kleiner und enger wurde und
schliesslich durch rasch wachsendes Granulationsgewebe provi¬
sorisch, durch Narbengewebe endlich definitiv verschlossen wird.
Allerdings scheint auch bei längerem Ausgeschaltetsein
eines gesunden Darmstückes eine Art von Inactivitätsatrophie
aufzutreten, die es bedingt, dass die Menge des ausgeschiedenen
Secretes eine minimale ist. Fast in allen jenen Fällen, in denen
es sich um chronische Erkrankungen der Darmwand handelt,
wissen wir von reichlicher, oft der Qualität nach sehr 'ver¬
schiedener Secretion.
Es erscheint also nach den bisherigen Beobachtungen
der Schluss gerechtfertigt, dass ganz gesunder, ausgeschalteter
Darm nach längerer Zeit nur mehr sehr wenig Schleim
secernirt, so dass die Fistel spontan oder durch geringe Kunst¬
hilfe zum Verschlüsse kommt.
Es ist naheliegend, zu folgender Anschauung zu kommen:
Wenn es sich um einen sicher in seinen Wandungen
völlig gesunden ausgeschalteten Darm handelt, so mag man
dem spontanen Verschlüsse der Fistel kein Hinderniss entgegen¬
setzen; sollte es sich aber um einen Darm handeln, dessen
Wandung man erkrankt weiss, z. B. Tuberculose, Aktino-
mykose, Carcinom, so ist ein Verschluss der I istel durch
Kunsthilfe selbstverständlich zu unterlassen, aber auch ein
73«
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 32
spontaner, eventuell sich ausbildender Verschluss zu verhüten,
wohl am besten durch Einlegung eines Drainrohres in den
ausgeschalteten Darm.
Aber auch jene Individuen mit gesundem, ausge¬
schaltetem Darm mit spontanem Fistelver¬
schluss tragen eine gewisse Gefahr mit sich
d a u e r nd herum; die Thierexperimente haben ergeben,
dass Darmschlingen lange Zeit ohne Erscheinungen zu machen,
in maximal gefülltem Zustande in der Bauchhöhle liegen
können; es bleibt immerhin die Möglichkeit vorhanden, dass
die ausgeschaltete Schlinge später einmal stark secernirt und
dann erkrankt.
Es ist daher nicht zu empfehlen, auch in den harm¬
losesten Fällen allzuviel Mühe auf einen späteren Verschluss
der Fistel, des Sicherheitsventils, zu verwenden, wenn es nicht
vorher gelungen ist, durch operative Eingriffe, wie Exstirpation
der Mucosa oder Aetzungen die Schleimhaut zum grössten
Tlieile in der ausgeschalteten Schlinge zu entfernen. In manchen
Fällen ist die s e c u n d ä r e E x s t i r p a t i o n der ausgeschalteten
Schlinge möglich, und sind damit alle Schwierigkeiten beseitigt.
Die Exstirpation der Schleimhaut als zusammenhängender Cylinder
(A 1 b e r t 25). N a r a t h) ist da, wo ersteres unmöglich, natürlich
das ideale Verfahren, findet aber technisch bald seine Grenzen,
während die Aetzungen mit Mineralsäuren, Carbolsäure u. s. w.
bei schwer zugänglichen Fisteln angewendet werden können, aber
keine Controle der Ausdehnung der Wirkung erlauben und
doch gewisse Gefahren (Perforation) bedingen können. Ueber
die Art und Weise der Einwirkung der Jodtinctur, die auf
Jodoformgazestreifen in das ausgeschaltete Darmstück in
unserem Falle eingeführt wurde, ist derzeit wohl nichts
bekannt.
Auch das Formalin haben wir in l%iger Lösung auf
Gazestreifen in die Darmfistel eingeführt; eine secretionsver-
mindernde Wirkung kommt dem Formol sicher zu.
In manchem Falle ist das totale blinde Ver
schlossensein eines Darm stück es nur vor ge¬
täuscht; Naratb (1. c.) spricht die Ansicht aus, dass s e-
cundäre Communicationen der ausgeschalteten Darm¬
partie mit dem Hauptdarme entstehen und man bei solchem
Vorkommniss sich nicht wundern darf, wenn das versenkte
Darmrohr ohne beunruhigende Erscheinungen sich ruhig
verhält.
Gerade zwei Fälle, einer von v. Eiseisberg und der
von v. Baracz (1. c.) lassen aus ihren Krankengeschichten
die Vermuthung entstehen, dass eine solche Communication
sich hergestellt hat; meist liegt ja die eine Occlusionsnaht in
der nächsten Nähe der Nahtstellen am llauptdarm und kann
sich wohl der Inhalt der Schlinge in diesen entleeren.
Gerade durch eine Beobachtung in einem nicht total
verschlossenen, ausgeschalteten Darmstücke ist es sichergestellt,
dass selbst längere Zeit nach der Isolirung fistulöse Communi¬
cationen mit dem Hauptdarmrohre entstehen können; in einem
Falle Höchen egg’s (1. c.) kam es 14 Monate nach der
Operation plötzlich zu einem massenhaften Ausströmen von
Koth aus der ausgeschalteten Schlinge und wurde durch
Autopsie in vivo die Communication sichergestellt.
Den absoluten Beweis für das reactionslose Versenkt¬
bleiben eines ausgeschalteten Darmstückes kann nur die
Autopsie in vivo nach längerer Zeit und in noch voll¬
kommenerem Masse die Section erbringen.
^ on den bisher angeführten circa 30 totalen Darmaus¬
schaltungen sind nur zwei im Anschluss an die Operation
gestorben; der einzige Fall von Friele (1. c.*), bei dem das
ausgeschaltete Stück blind verschlossen wurde, kam zur Ob-
duction, doch ist für diesen Fall die Beobachtungszeit viel zu
kurz (circa fünf Wochen).
O b a 1 i n s k i |!) d) hatte Gelegenheit, bei der Operation
eines Bauchbruches nach 14 Monaten die von ihm ausge¬
schaltete Darmschlinge anzusehen; er fand die ausgeschaltete
*) Im Falle Trendelenburg’s (1. c ) erfolgte der Tod sechs
Tage nach der Operation. Bei der Section wurde auf das Verhalten der
ausgeschalteten Darmschlinge nicht geachtet und ist über sie nichts be¬
richtet.
Schlinge des Colon ascendens eingefallen und in einen dünnen
Strang verwandelt, ohne Zusammenhang mit dem übrigen In-
testinaltracte.
Völlig glatten Verlauf bot eigentlich nur der Fall von
Wiesinger (1. c.), wo fünf Wochen nach der totalen Aus¬
schaltung die Fistel bei noch bestehender geringer Secretion
geschlossen wurde; an ihn schliesst sich indirect unser Fall,
wo bei in seinen Wandungen gesundem Darme unter Anwen¬
dung von leichtem Aetzungsverfahren die ein über 40 cm
langes Dünn- Dickdarmstück mit der Körperoberfläche verbin¬
dende Fistel sich schloss; die übrigen spontanen
Fistelverschlüsse gehören ebenfalls hiebe r.
Endlich möge es mir noch gestattet sein, zur weiteren
Stütze für den heute allgemein anerkannten Satz, dass es
bedenklich ist, ein gesundes, im höchsten Grade
gefährlich, ein krankes Darmstück völlig ver-
schlossenzu versenken, einen pathologisch-anatomischen
Vergleich heranzuziehen.
Auf dem noch nicht allzusehr entwickelten Gebiete der
Pathologie der Darmdivei tikel hat Graser26) durch seine
Mittheilungen auf dem 27. und 28. Congresse der Deutschen
Gesellschaft für Chirurgie sehr werthvolle Bereicherungen
unseres Wissens gebracht. Er fand im Darme, besonders häufig
an der Flexura sigmoidea, insbesondere bei Individuen, in
deren Abdominalorganen seit längerer Zeit eine stärkere
Stauung besteht, Divertikelbildungen, die zwar vorher schon
theilweise bekannt waren, deren Entstehung, pathologische
Anatomie und klinische Bedeutung Graser wesentlich er¬
weiterte und vertiefte.
Es handelt sich dabei um Ausstülpungen der Schleim¬
haut durch Gefässlücken der Musculatur; der verbindende
Canal ist meist sehr enge oder kann auch ganz ver¬
schlossen sein.
In diesen kleinen Schleimhauthernien findet man sehr
häufig eine Druckatrophie der Darmschleimhaut; die tubu-
lösen Drüsen werden niedrig, die Abstände zwischen den
Drüsenschichten gross; Rundzelleninfiltration tritt auf; schliess¬
lich entwickelt sich eine Art von Narbengewebe, auf dem oft¬
mals das Epithel zu Grunde geht. Oefters findet man Koth-
steine oder grosse Kothklumpen, anderweitige schwere Verän¬
derungen der Schleimhaut, Druckgeschwüre, Durchbruch von
den Divertikeln in das umgebende Gewebe ; der Koth ist oft
verhärtet; es können Koth und Mikroorganismen in die lockeren
Gewebsschickten eindringen und es entstehen Entzündungs¬
herde, welche auf dem Wege der Lymphbahn sich weiter ver¬
breiten, so dass man in der Umgebung eines solchen Durch¬
bruches oftmals kleine Abscesse und Entzündungsherde nach-
weisen kann. Der Durchbruch findet meist in fetthaltiges Ge¬
webe statt, oftmals in Appendices epiploicae hinein. Die Ent¬
zündungserscheinungen sind daher oft nicht sehr stürmisch:
Man findet die Serosa schwielig verdickt, narbig ge¬
schrumpft, mit derben, fibrösen Pseudomembranen überkleidet
und durch die narbige Schrumpfung der Darm in pathologi¬
scher Weise verzerrt. Bisweilen ist die Mesenterialserosa in
sehnenartiges Gewebe verwandelt.
Diese Darmdivertikel, die sich oft in sehr bedeutender
Anzahl vorfinden, stellen eigentlich oftmals ein total aus¬
geschaltetes Darmstück im Kleinen vor, wenn auch die Ver¬
hältnisse in manchen Punkten wesentlich differiren. Immerhin
aber handelt es sich um eine kleine, mit Darm sch leim¬
haut ausgekleidete Höhle, deren Wandungen unter
normalen Ernährungsverhältnissen sich befinden.
Bei Verschluss der meist sehr engen Communication mit
dem Hauptdarm treten die Folgen der Rentention in deut¬
lichster Weise hervor; in manchen Fällen erinnert die Be¬
schreibung des Inhaltes sehr an das, was bei den Thierexperi¬
menten über totale Darmauschaltung von physiologischer Seite
(H ermann (1. c.), B 1 i t s t e i n 27), Ehrenthal 28), Bere n-
stein 29) und Anderen), sowie von Chirurgen, wie S a 1 z e r (1. c.),
Reichel, Klecki30), v. Baracz (l. c.) und Anderen ge¬
funden wurde.
Die mit grosser Regelmässigkeit beobachteten Entzün¬
dungserscheinungen in und um solche abgeschlossene Schleim-
Nr. 32
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
737
hautpartien sprechen doch auch gewiss dafür, dass blind
geschlossen eDarmtheileVeranlassungzu patho¬
logischen Vorgängen geben.
Es ist hiehergehörig, an die Pathologie des Processus
vermiformis und des Meckel’schen Divertikels zu erinnern.
Selbst die äussere Haut producirt, von der Körperober¬
fläche entfernt und in andere, tiefer liegende Gewebsschichten
verlagert, ihre physiologischen Secrete und entstehen dadurch
die sogenannten E p i t h e 1 cy s t e n, von denen ein grosser
Theil traumatischen Ursprunges ist. Es genügen ganz kleine
Hautstückchen zur Entstehung solcher Cystenbildungen
(Kaufmann31), Schwenninger 32), Reverdin33),
Garr e. 34)
Eine Gelegenheit zur Anstellung von physiologischen
Experimenten an der Darmfistel war in unserem F alle
nicht vorhanden; die Secretion war von Anfang an so minimal,
dass wir Versuche, die sich an jene Narath’s anlehnten,
nach kurzer Zeit als resultatlos aufgaben.
Die wenigen Beobachtungen, die ich in dieser Hinsicht
machen konnte, betrafen Folgendes:
Eine Steigerung der Secretion nach Nahrungsaufnahme
konnte ich nicht finden. Nach Reizungen des Darmes, wie
Sondirung, Einführung von Gazestreifen konnte man etwas
stärkere Secretion beobachten; es entleerte sich ein dicker,
trüber Schleim. Besonders stark war die Secretion nach
Aetzungen mit Argentum nitricum, viel geringer nach Ein¬
führung von in Jodtinctur getauchten Streifen.
Ueber die Peristaltik am ausgeschaltetem Stücke konnte
ich keine Beobachtungen machen, da es nur durch eine relativ
enge Fistel mit der Aussenwelt in Verbindung stand und
daher ein Einblick nicht möglich war, wohl aber konnte ich
feststellen, dass die Darmschleimhaut völlig empfindungslos so¬
wohl gegen Argentum nitricum und Jodtincturätzungen, als
auch gegen Einführung von in l°/0iges Formalin getauchten
Gazestreifen; letzteres Mittel wandte ich einige Male in Rück¬
sicht auf die bekannte schweisskemmende Wirkung des
Formaldehyds bei Anwendung auf der äusseren Haut an.
Literaturverzeichnis s.
*) König, Leinbuch der speciellen Chirurgie. 7. Auflage. Bd. III,
pag. 402 ff.
-) Salzer, a) Ein Vorschlag zur Modification der Enteroanastomose
durch völlige Ausschaltung des kranken Darmkeiles. Centralblatt für
Chirurgie. 1891. Nr. 26, und; Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für
Chirurgie. 1891.
b) Ueber Darmausschaltung. Beiträge zur Chirurgie. Festschrift für
Billroth. 1892.
3) Naratb, Die operative Behandlung der Dünndarm-Genitalfisteln
mit besonderer Berücksichtigung der »Darmausschaltung«. Archiv für klini¬
sche Chirurgie. Bd. LII, 330 ff.
4) Länderer, Bie Behandlung der Tuberculose mit Zimmtsäure.
Leipzig 1898.
5) v. II acke r a) Ueber Bedeutung der Anastomosenbildung am
Darme etc. Wiener klinische Wochenschrift. 1888, Nr. 17 und 18.
b) Zur Operation der Darmanastomose. Wiener klinische Wochen¬
schrift. 1892, Nr. 1.
6) Trendelenburg, siehe Becker, Ueber Darmresection.
Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. Bd. XXXIX.
7) T h i r y, Ueber eine neue Methode, den Dünndarm zu isoliren.
Sitzungsberichte der kais. Akademie der Wissenschaften zu Wien. 1864,
Bd. L, pag. 77.
8) Vella, Neues Verfahren zur Gewinnung reinen Dannsaftes etc.
Untersuchungen zur Naturlehre von S. M o 1 e s c h o 1 1. 1882, Bd. XIII,
pag. 40.
9) Hermann, Ein Versuch zur Physiologie des Darmcanales.
Archiv für Physiologie. 1900, Nr. 46, pag. 93.
10) v. E i s e 1 s b e r g, a ) Zur Casuistik der Darmausschaltung
Wiener klinische Wochenschrift. 1893, Nr. 8.
b) Over Darmausschaltung. Ned. Tijdschrift voor Geneeskunde. 1896,
Deel 1, Nr. 8.
c) Weitere Beiträge zur Casuistik der Darmausschaltung. Wiener
klinische Wochenschrift. 1896, Nr. 12.
d) Ueber die Behandlung von Kothfisteln und Stricturen des Daim-
canales mittelst totaler Darmausschaltung. Langenbeck’s Archiv. Bd. LVI,
pag. 281 ff.
") W. Körte, Ausgedehnte Darmresection wegen Tuberculose, ge¬
heilt durch Implantation des lleums in das Colon etc. Archiv für klinische
Chirurgie. 1894, Bd. XLVIII, pag. 715.
'-) Kader, Beitrag zu den Beobachtungen über die bei der Laparo¬
tomie in der Bauchhöhle vergessenen Fremdkörper. Discussion über den
Vortrag von R e h n. Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirur¬
gie. 1899, 1. Theil, pag. 92 ff.
1 !) v. Mosetig-Moorhof, Colostomie mit querem Doppelwand¬
verschluss. Wiener medicinische Presse. 1898, Nr. 3. Handbuch der chirur¬
gischen Technik. 4. Auflage, pag. 599.
,4) Doyen, Eine neue Methode der Pylorus- und Darmresection.
Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 1898, Bd. 1,
pag. 200.
15) v. Mikulicz, Handbuch der praktischen Chirurgie. Bd. IU,
pag. 173, 174.
,e) R. Fran k, Einige Darmoperationen mit Bemerkungen über die
Darmnaht. Wiener klinische Wochenschrift. 1892. Nr. 27, pag. 390.
17) Bie r, Ueber Darmausschaltung. Protokoll des physiologischen
Vereines in Kiel. Münchener medicinische Wochenschrift. 1895, Nr. 51,
pag. 1197.
18) Buchbinder, Experimentelle Untersuchungen am lebenden
Thier- und Menschendarm etc. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. Bd. LV,
pag. 458 ff.
19) O b a 1 i n s k i, a ) Zur totalen Darmausschaltung. Centralblatt für
Chirurgie. 1894, Nr. 49.
b) Zur Berechtigung der Darmausschaltung etc. Centralblatt für
Chirurgie. 1895, Nr. 6.
c) Noch einmal zur totalen Darmausschaltung etc. Centralblatt für
Chirurgie. 1896, Nr. 34.
d ) Ein weitorer Beitrag zur totalen Darmausschaltung. Wiener medi¬
cinische Presse. 1897, Nr. 35.
20) v. B a r a c z, «) Ueber die totale Darmausschaltung etc. Cential-
blatt für Chirurgie. 1894, Nr. 27.
b) Zur Frage der Berechtigung der totalen Darmausschaltung etc.
Centralblatt für Chirurgie. 1895, Nr. 28.
c ) Centralblatt für Chirurgie. 1897, Nr. 13.
d ) Experimenteller Beitrag zur Frage der totalen Dar mausschaltting
etc. Langenbeck’s Archiv Bd. LVIII, Heft 1.
21) Reichel, Ueber die Berechtigung der Darmausschaltung u. s. w.
Centralblatt für Chirurgie. 1895, Nr. 2.
Hochenegg, Chirurgische Eingriffe der Blinddarmerkrankun-
gen. Wiener klinische Wochenschrift. 1895, Nr. 16, 17, 18 und 20.
23) F r i e 1 e, Ueber Eliminatio intestini. Medicinische Revue. Referirt
in: Fortschritte in der Chirurgie. 1895, Bd. I.
24) W i e s i n g e r, Ein Fall von totaler Darmausschaltung mit
totaler Occulsion. Münchener medicinische Wochenschrift. 1895, pag. 1183.
25) Albert, Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 24. November 1893. Wiener klinische Wochenschrift. 1893,
Nr. 48, pag. 869.
26) Graser, a) Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für
Chirurgie. 1898.
b ) Das falsche Darmdivertikel. Verhandlungen der deutschen Gesell¬
schaft für Chirurgie. 1899, 2. Theil, pag. 480.
27) B 1 i t s t e i n, Zur Physiologie der Kotlibildung. Inaugural-
Dissertation. Königsberg 1890.
2S) Ehrenthal, Neuere Versuche zur Physiologie des Darmcanales.
Archiv für Physiologie. 1891, Bd. XLVm, pag. 47.
29) Ber enstein, Ein Beitrag zur experimentellen Physiologie des
Dünndarmes. Archiv für Physiologie. 1893, 'Bd. LIII.
3°) Klecki, Ueber Dannausschaltung. Wiener klinische Wochen¬
schrift. 1894, Nr. 25, pag. 457.
31) Kaufmann, Ueber Enkatarrapliie von- Epithel. Virchow’s
Archiv. 1884, Bd. XCVII.
32) Schweninger, Beitrag zur experimentellen Erzeugung von
Hautgeschwülsten. Charite-Annalen. 1886, pag. 462 ff.
33) Reverdin, Rev. med. de la Suisse. 1887.
34) Garre, Ueber traumatische Epithelcysten. Beiträge zur klini¬
schen Chirurgie. Bd. XI.
REFERATE.
I. Leitfaden der physiologischen Psychologie in 15 Vor¬
lesungen.
Von Th. Ziehen.
Fünfte, theilweise umgearbeitete Auflage. 267 Seiten.
J e n a 1 900, G. Fischer.
II. Die Mimik des Menschen auf Grund voluntarischer
Psychologie.
Von H. Hughes.
421 Seiten, 119 Abbildungen.
Frankfurt a. M. 1900, Job. Alt.
III. Die Leitungsbahnen des Gehirnes und des Rücken¬
markes nebst vollständiger Darstellung des Verlaufes
und der Verzweigung der Hirn- und Rückenmarksnerven.
Von Rudolf Glaessner.
61 Seiten. 7 farbige Tafeln.
Wiesbaden 1900, J. F. Bergmann,
I. Wenn es ein Lehrbuch der Psychologie im Verlaufe von
zehn Jahren zu fünf Auflagen bringt, kann wohl über dessen V or-
trefflichkeit kein Zweifel mehr bestehen.
738
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 32
Obwohl der Verfasser zunächst die Absicht hatte, nur die Be¬
dürfnisse des Psychiaters zu berücksichtigen, so ist das Buch in
seiner vorliegenden Form doch für den Arzt, überhaupt für jeden
» Naturwissenschaftler « bestimmt.
Die ungemein leicht verständliche Form der Darstellung lässt
die Lecture dieses Buches, zum Unterschiede von so vielen anderen
psychologischen Werken, nicht als Anstrengung, sondern als Ver¬
einigen erscheinen.
Dass immer der rein naturwissenschaftliche, empirische Stand¬
punkt festgchalten wird, ergibt sich schon aus der Stellung des
Autors.
*
II. Der Verfasser gibt eine ausführliche Darstellung und Er¬
klärung der mimischen Ausdrucksbewegungen »auf Grund volun-
tarischer Psychologie« (Voluntas im Gegensätze zu Intellect).
Nachdem die psychologischen Grundlagen der Mimik mit
Einschluss ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrer Beziehungen
zur Kunst abgehandelt wurden, wird auf die einzelnen mimischen
Bewegungen und zwar begreiflicher Weise vor Allem des Gesichtes,
dann aber auch der anderen Körpertheile eingegangen. Dabei dreht
es sich immer auch um die Frage, wie die natürliche Inslinct-
bewegung sich zur symbolischen Ausdrucksbewegung umge¬
wandelt hat.
Etwa die Hälfte des Buches wird durch eine systematische
Classification aller Affectäusserungen eingenommen.
*
III. Eine kurze, klare Uebersicht über den inneren Bau des
Centralnervensystems und den Verlauf der Nervenbahnen, die
hauptsächlich als compilatorisch und nicht als auf autoptischen
Untersuchungen beruhend angesehen werden will, daher auch
kaum einer Einzelkritik unterzogen werden kann.
Recht nützlich wird sich für den praktischen Arzt auch
insbesondere der zweite Theil erweisen, welcher die Topographie
der Gehirn- und Rückenmarksnerven in tabellarischer Form bringt.
Bei den Rückenmarksnerven sind hauptsächlich die motori¬
schen Aesle berücksichtigt; in den Tabellen sind die Muskeln, ihre
Ansätze, Function und Innervation gnt zusammengestellt.
Obersteiner.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
269. Die Messung der Stärke der Herztöne, ein
diagnostisches Hilfsmittel. Von Dr. Bock (München).
Ein für beide Ohren zum Auscultiren eingerichtetes Stethoskop ist
mit einem Spalt versehen, der bis zum vollständigen Verschwinden
eines beobachteten Herztones verengert werden kann; eine Scala
gibt die Weite des Spaltes an. Bock hat nun mit diesem vom
verstorbenen Prof. Oertel seinerzeit construirten Instrumente ge-
funden, dass die einzelnen Herztöne beim gesunden Menschen hin¬
sichtlich ihrer Stärke in einem constanten Verhältnisse zu
einander stehen, und zwar dass der erste Mitralton beim Auscultiren
mit dem genannten Instrumente bei 40, der zweite Pulmonalton bei 18,
der zweite Aortenton bei einer Spaltweite, welche dem Thoilstriche 20 der
Scala entspricht, verschwindet. Das normale Verhältniss der Tonstärken
zu einander ist: 1 M:2 P:2 A = 40: 18: 20. Der zweite Aorten¬
ion ist also halb so stark, wie der erste Mitralton. Zur Beur-
theilung einer Herzkraft muss man sich vor Augen halten, dass
der erste Mitralton über die Kraft des linken Ventrikels, mit
welcher er den grossen Kreislauf besorgt, beziehungsweise Hinder¬
nisse in diesen überwindet, Aufschluss gibt, der zweite Pulmonal¬
ton über die Kraft des rechten Ventrikels, beziehungsweise über
die Widerstände im kleinen Kreislauf, der zweite Aortenton über
die Widerstände im arteriellen Gefässsystem, die Beschaffenheit der
Gefässe und deren Tonus. Sechs Krankengeschichten erläutern die
Deutung der Befunde. Besonders lehrreich ist folgende: Ein 39jäh-
riger Mann empfindet schwere Athemnoth beim Gehen. Jede
Therapie war bisher vergeblich gewesen. Herzfigur kaum nachweis¬
bar vergrössert, Töne rein, aber dumpf. Tonstärken: M 12, P 18,
A 24 (normal die Hälfte von M); Deutung: Schwacher, linker
Ventrikel, Stauung im rechten und starke Spannung in den
Gefässe n. Diagnose: Allgemeine Arteriosklerose. Auf Jod bedeu¬
tende Besserung, nachdem das Verhältniss der Tonstärken acht
Wochen später folgendes geworden ist: M 20, P 14, A 16.
(Berliner klinische Wochenschrift. 1900, Nr. 23.) Pi.
*
270. (Königliche Akademie Pelorilana in Messina.) Vinci
Gaetano: Einfluss des Nervensystems auf die Harn¬
absonderung. Nach Einigen soll die Durchschneidung des Hals¬
markes, nach Anderen die Läsion bestimmter specifiseher Nerven¬
bündel die Urinsecretion beeinflussen. Vinci Gaetano narkoli-
sirte Hunde, durchschnitt das Halsmark in verschiedener Höhe,
leitete künstliche Athmung ein und inj icirte Diuretica in die
Jugularvene. Er erzielte bei diesen Versuchen eine das Normale
20fach übersteigende Diurese, jedoch ausgenommen den Fall, wenn
das Halsmark in der Gegend zwischen dem dritten und vierten
Wirbel durchschnitten wurde. Dann trat complete Anurie ein.
Vinci Gaetano resumirt, dass diese Portion für die Urin-
secretion noth wendig sei und hier ein Innervationscentrum für die¬
selbe bestehen müsse. — (La Riforma Medica. 27. Juni 1900.) Sp.
*
271. (Aus der III. medicinischen Klinik in Wien.) Beiträge
zur Physiologie und Pathologie der Pepsinsecre-
tion und zur medica mentösen Beeinflussbark eit
der Magensaftsecretion durch Atropin und Pilo¬
carpin. Von Dr. Schiff. Durch iy2 Jahre fortgeführte Beob¬
achtungen am Materiale der genannten Klinik haben zu folgenden
Erfahrungen geführt: Wir haben im Magen eine dreifache Secretions-
thätigkeit: Die Abscheidung reiner Flüssigkeit (Verdiinnungssecretion),
von Pepsin und von Salzsäure. Allen dreien entspricht ein ver¬
schiedener Grad der functioneilen Erregbarkeit. Die Verdünnungs-
secretion ist die beständigste Function und findet sich häufig noch
wenn die beiden anderen fehlen; sie wird durch Pilocarpin in
ganz besonderer Weise angeregt. An zweiter Stelle hinsichtlich der
Auslösbarkeit steht die Pepsinsecretion. Diese, sowie die erstere
fehlen nur bei totaler Schleimhautatrophie und in manchen Fällen
von Achylia gastrica. Die Secretion des Pepsins, welches als
fertiges Product in den Drüsenzellen liegt, erfolgt mit Leichtigkeit
und scheint einfach von der Energie des Flüssigkeitsstromes hei
der Secretion abzuhängen. Am schwersten auszulösen ist die Ab¬
scheidung der Salzsäure, die nicht fertig vorhanden ist, sondern
erst bei der Secretion gebildet wird. Die Salzsäureabscheidung ist
als die empfindlichste Function der Magendrüsen zu betrachten,
die nicht nur in vielen pathologischen Fällen vermindert oder auf¬
gehoben ist, während die Pepsin- und Verdünnungssecretion vor¬
handen ist, sondern die auch künstlich durch eine Herabsetzung
der nervösen Erregbarkeit (Atropin) vermindert oder zum Schwinden
gebracht werden kann. Eine Steigerung der Salzsäureabscheidung
durch Pilocarpin gelingt in der Regel nicht. — (Archiv für Ver¬
dauungskrankheiten. Bd. VI, Heft 2.) Pi.
*
272. Mignon: Multiple Echinococcen. Der 24jährige
Kranke wurde wegen enormer Hydatidencyste in der Bauchhöhle
laparotomirt. Es fanden sich viele kleine Cysten im subperitonealen
Bindegewebe. Nach einem Monate Operation eines Leber-
Echinococcus. Exitus. Bei der Autopsie fanden sich Echinococcen
in Milz, Leber, Netz, Zwerchfell, Nieren. — (Societe de Chirurgie.
Paris, 13. Juni 1900.) Sp.
*
273. (Aus der Universitäts-Kinderklinik zu Breslau.) Ueber
einen bei innerlicher Anwendung von Pyramidon
im Harne auftretenden rothen Farbstoff. Von Doctor
Gregor. Derselbe wurde in einigen Fällen beobachtet und war
mit Bestimmtheit auf die Darreichung des Pvramidon zu beziehen.
Er lässt sich leicht in grösserer Menge darstellen. Spektroskopisch
zeigt er keine Absorptionszeichen. Bekannt ist, dass manchmal
auch nach Antipyrin eine Rothfärbung des Urins auftritt. —
(Therapeutische Monatshefte. 1900, Nr. 6.) Pi.
*
274. N e 1 a t o n: A c ti nom y k o s e der Brustdrüse. Bei
der Eröffnung des Brustdrüsenahscesses fanden sich die charakteristi¬
schen Elemente. Nelaton hat vor vier Jahren dieselbe Frau an
einem perinephrilischen Abscesse operirt, der ebenfalls durch
Actinomykose entstanden war. — (Societe de Chirurgie. Paris,
13. Juni 1900.) Sp.
*
Nr. 32
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
739
275. Neue Theorie der Gonorrhoetherapie. Von
Dr. Jooss (München). Bei der jetzigen Gonorrhoetherapie behandelt
man, wie Verfasser sich ausdrückt, die Harnröhre als Reagensgläs,
giesst in sie alle möglichen Lösungen, um sie zu desinficiren. Der
Erfolg ist bis heute kein glänzender, trotz der Menge der Specifica
gegen die Gonorrhoe. Die Gonococcen dringen in kürzester Zeit
so weit in die Tiefe, dass sie kein Mittel mehr erreicht. Dort be¬
dingen sie durch ihre Stoffwechselproducte eine Lähmung der
Gefässwand und damit eine Erweiterung der Gefässe. Adstringentien
bringen hier keine vollständige Hilfe. Wichtig ist es, mit der An¬
wendung derselben eine Massage der Harnröhre zu verbinden, die
durch eine im Laufe der Behandlung zunehmende Dehnung der
Harnröhre erreicht wird; letztere wird dadurch erzielt, dass man
von den üblichen adslringirenden Mitteln so viel injicirt, bis in der
Harnröhre ein Gefühl der Spannung erzeugt wird. Der Werth der
Desinfection ist nach der Meinung des Verfassers nicht hoch anzu¬
schlagen. Durch die Massage der Urethra wird die Circulation in
derselben wieder eine normale und damit ist auch die Heilung von
der Infection erreicht. Dieselbe ist eingetreten, wenn 1. die letzte
Dehnung keine diffuse Trübung der ersten Harnporlion mehr ver¬
ursacht; 2. die Prostata weich, nicht mehr vergrössert ist und ihr
Secret keine Gelbfärbung mehr zeigt; 3. der Ausfluss völlig ge¬
schwunden und die Harnröhre trocken ist; 4. der Urin in beiden
Portionen klar ist. — (Centralblatt für Krankheiten der Harn- und
Sexual organe. Bd. XI, Heft 6.)
*
276. Die Gefahren der Scheidenirrigationen.
Von Dr. Theilhaber (München). Verfasser führt fünf Fälle an,
in denen die mittelst Irrigator von den Frauen selbst ausgeführten
Scheidenspülungen von üblen Zufällen begleitet waren. In einem
derselben war während der Irrigation unter heftigen Schmerzen
Ueblichkeit und Erbrechen eingetreten; bei der Untersuchung war
der Puls klein und frequent, weiter zeigten sich die Erscheinungen
einer leichten acuten Beckenperitonitis. Schädigungen durch vaginale
Einspritzungen können zu Stande kommen durch zu kalte oder
heisse Flüssigkeiten, wodurch Erscheinungen von Shock, Ohnmacht,
Frost auftreten können; bei acuter Reizung des Peritoneums kann
die Ausdehnung' der Vagina während der Irrigation eine Verschlim¬
merung bewirken; in einem Falle von Vaginalcarcinom war Flüs¬
sigkeit in offene Venen eingedrungen. Gelangt das Rohr gar in die
Cervix, so kann es zur ballonartigen Auftreibung des Uterus
kommen, ja es ist sogar ein Eindringen der Flüssigkeit in Tuben
und Bauchhöhle möglich. Diese Gefahren werden am ehesten
dadurch verhindert, wenn das Vaginalrohr blos seitliche Oeffnungen
besitzt. — (Münchener medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 24.)
*
277. Beitrag zur operativen Behandlung des
Magen- und Duodenalgeschwüres. Von Dr. Kiefer
(Mannheim). Im ersteren Falle, der ein perforirendes Magenulcus
betraf, wurde ein schon wiederholt beschriebenes Symptom im
Augenblicke der Perforation abermals beobachtet, nämlich Schmerzen
in Schulter und Arm, sowie eine acut einsetzende Dyspnoe. Das
Gefühl, als »rinne der Patientin etwas im Leib herunter«, war auch
hier mit Deutlichkeit verspürt worden. Bemerkenswerth war in
diesem Falle die Wirkung einer verabreichten Morphiumdosis,
welche über die Nothwendigkeit eines Eingriffes zu einer Täuschung
Veranlassung gab. Während der Vorbereitung zur Operation bes¬
serte sich das Befinden der Patientin in einer solchen Weise, dass
von der Operation Abstand genommen und erst zwölf Stunden
später ausgeführt wurde. Die Therapie hatte in der Excision des
Ulcus bestanden. — Im zweiten Falle war es in Folge von Gallen¬
steinen zur Cholecystitis, zu Verwachsungen mit dem Duodenum
und, wahrscheinlich in Folge des Druckes von Seiten der Steine,
zu einem Duodenalulcus gekommen. Die Diagnose war irrthümlich
auf ein Magengeschwür gestellt worden. Das Geschwür wurde Um¬
schnitten, der Defect vernäht und darüber noch eine kleine Netzpartie
befestigt. — (Münchener medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 24.)
*
278. In der Sitzung der Berliner medicinischen Gesellschaft
vom 16. Mai sprach Dr. Benda über die morphologische
Bedeutung der Aktinomyceskolben. Die Bedeutung der¬
selben ist noch nicht klar; sie werden von den Einen für Sporen, von
Anderen für gequollene Theile der Mycelfäden gehalten. Da neuestens
auch bei den Tuberkelbacillen kolbige Anschwellungen gefunden
wurden hielt man jene auch für Ausscheidungsproducte der Mycel¬
fäden. Benda ist der Ansicht, dass die Kolben eine Beziehung
zu den Leukocyten haben, indem diese die Enden der Mycelfäden
umgeben und dann dcgeneriren sollen. Pi.
THERAPEUTISCHE NOTIZEN.
(Aus dem Kaiser und Kaiserin Friedrich-Krankenhause in Berlin.)
Therapeutische Mittheilungen. Von Adolf B a g i n s k y.
Anwendung des Ung. Argenti colloidalis Crede
bei schwerem Scharlach. Das Mittel wurde genau nach den
Angaben Credo’s in 13 Fällen gehandhabt, ohne dass dadurch ein
Erfolg gesehen werden konnte.
Anwendung von Sozojodoln atrium bei s c a r la¬
tino s e r Angina. Seit Jahren wird von B a g i n s k y bei den
schweren Anginen eine Mischung von Hydrarg. bichlorati corros. 0 05,
Ammonii sulfoichthyolici 5 : 100 als Tupfmittel verwendet. Besser be¬
währte sich jedoch das in letzterer Zeit angewendete Sozojodolnatrium
mit Flores sulfuris ana, welche Mischung mehrmals täglich mit einem
Pulverbläser zur Anwendung gebracht wurde. Nur wo diese Application
zum Erbrechen reizte, wurde Sozojodol in Lösung dreimal täglich ein
halber Theelöffel innerlich verabreicht. Die Wirkung zeigte sieh schon
in zwei bis drei Tagen, indem die schmierigen Beläge sich abstiessen
und die Schleimhaut rein roth wurde. Verfasser sieht in der örtlichen
Anwendung der Sozojodolpräparate ein nicht zu unterschätzendes Unter¬
stützungsmittel bei der Behandlung schwerer geschwüriger Processe der
Pharynxorgane beim Scharlach.
Zur Behandlung der Dermatitis exfoliativa s.
Pemphigus malignus (foliaceus). Das Wesentliche in der
Behandlung, welche bei einigen sehr schweren Fällen von Erfolg war,
bestand im Gebrauche von Eichenrindenabkochungen zum Bade (1 /.v/
auf ein Bad). Temperatur des Bades 27 — 28° C., Dauer 6 — 8 Minuten.
Nach dem Bade folgt vorsichtiges Abtrocknen mit Watte und mehr¬
maliges tägliches Einpudern mit reichlich Zinci oxyd., Tale. ana. Ein¬
packung in Watte. Jede Anwendung von Salben ist verpönt.
Gehirnmassein jection bei einem Falle von
Tetanus neonatorum. Der Fall war ein sehr schwerer und
endete tödtlich, hatte aber auf die ausgeführten Injectionen hin immer
eine überraschende Besserung der Symptome gezeigt. Es waren täglich
2'5 cm 3 einer Kaninchenhirnemulsion subcutan am Schenkel injicirt
worden. — (Die Therapie der Gegenwart. 1900, Nr. 6.)
*
Eine Methode, um beim Röntgen - Verfahren aus
dem Schattenbilde eines Gegenstandes dessen wahre
Grösse zu ermitteln (Orthodiagraphie) und die
exacte Bestimmung der Herzgrösse nach diesem
Verfahren. Von Prof. Moritz (München). Um die Grösse eines
z. B. intrathoracal gelegenen Organes oder Fremdkörpers zu bestimmen,
hat man nöthig, aus dem ganzen Strahlenbündel, das von der Anti¬
kathode ausgeht, den senkrecht den Projectionsschirm treffenden Strahl
kenntlich zu machen, diesen (durch Verschiebung der Röntgen-
Röhre) längs des Umrisses des Körpers zu führen und denselben am
Schirme zu bezeichnen. Der ganze Apparat — von der Firma „Volt-
ohm-Elektricitäts Actiengesellschaft in München“ hergestellt — besteht
aus dem Durchleuchtungstisch, auf den der Patient zu liegen kommt,
einem beweglichen Rahmen, an welchem ein Bleiring befestigt ist, der
senkrecht über der Antikathode eingestellt ist, so dass dessen Schatten
die jeweilige Lage des senkrechten Strahles angibt. — (Münchener
medicinische Wochenschrift 1900, Nr. 29.)
*
Paraformcollodium zur Behandlung der Haut-
saprophyten. Von Unna. Gegen die hartnäckigen Formen von
Erythrasma und Pityriasis wird die Bepinselung mit folgender Com¬
position empfohlen:
Rp. Paraformii 2'0,
F. pulv. subtiliss. contere c.
Spiritus aetherei 2 0.
Adde Collodii ricinati 160.
M. D. Pinsel im Kork.
(Monatshefte für praktische Dermatologie. Bd. XXXI, Nr. 1.)
*
Ueber Moment-Röntgen-Aufnahmen. Von Professor
Rieder und Dr. Rosenthal (München). Mittheilung von zwei
Fällen mit beigegebenen Bildern, von welchen das eine ein in der
Nähe des rechten Herzrandes röntgenographisch festgestelltes Projectil,
das andere Lungenbefunde zeigt, die von den Verfassern als tuber-
culöso Herde erklärt werden. Zur Herstellung dieser Bilder wurde ein
von der bekannten „ Voltohm-Elektricitäts-Actiengesellschaft in München“
740
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 32
hergestellter R ö n t g e n - Apparat mit einer Funkenlänge von GO cm
benützt. — (Fortschritte auf dem Gebiete der R ö n t g e n - Strahlen.
Bd. III.)
*
Praktische Erfahrungen bei der Behandlung
chronischer Mittelohreiterungen. Von Dr. Gross-
kopff (Osnabrück). In sehr vielen Fällen ist es nothwendig, mit dem
Medicament zu wechseln. Als vorzügliche und manchmal direct heilende
Methode erweist sich namentlich bei Kindern die Behandlung mit Bor¬
säure nach Bezold; in vorsichtiger Weise angewendet, bringt diese
Behandlung keine Nachtheile. Um Granulationen zum Schrumpfen zu
bringen, empfiehlt sich besonders der Spir. vini rectif. Trockene Per¬
forationen werden zweckmässig mit Trichloressigsäure behandelt; die
Behandlung ist aber sehr schmerzhaft und die in einzelnen Fällen im
Anschlüsse an die Aetzung auftretende Eiterung ein Nachtheil. Etwaige
pathologische Veränderungen in der Nase und dem Nasen-Rachenraum
sind zu beseitigen. Operative Eingriffe werden zweckmässig in der
Bromäthylnarkose ausgeführt, die bei vorsichtiger Anwendung unge¬
fährlich ist und bei Kindern nach etwa zwei, bei Erwachsenen nach
drei bis vier Minuten eintritt. — (Therapeutische Monatshefte. 1900,
Nr. 7.)
*
Die Arzneibehandlung der Neurasthenie. Von
Dr. Dornblüth (Frankfurt a. M.). Nicht selten liegt die Ursache
der Neurasthenie in mangelhafter Blutbeschaffenheit. Anorganische
Eisenpräparate scheinen hier weniger zu wirken, besser die Krewel-
schen Sanguinalpillen dreimal täglich zwei Pillen, die nächsten Wochen
dreimal drei, dann wieder absteigend, bis 300 Pillen verbraucht sind;
weiters kommen in Betracht Arsen, Brom und besonders das Codein.
Letzteres kommt besonders bei solchen Neurasthenikern in Betracht,
welche an einer unüberwindlichen Schläfrigkeit leiden, die jede geistige
Arbeit erschwert; oft sind da dreimal täglich 0.01 Codein Knoll
und nach vier bis fünf Tagen fünf- bis sechsmal dieselbe Dosis ein
vorzügliches Anregungsmittel. Oft gelingt es, mit Codoin einzelne Fälle
ganz zur Heilung zu bringen. Je nach den einzelnen Fällen muss man
dann die genannten Dosen allmälig auf fünfmal 0’02 Codein steigern,
durch vier bis sechs Wochen geben und dann wieder damit herab¬
gehen. Weiters muss mit den üblichen Mitteln eine Regelung der
Lebensweise, Hydrotherapie, Elektricität verbunden werden. — (Thera¬
peutische Monatshefte. 1900, Nr. 7.)
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Ernannt: Der mit dem Titel eines a. o. Universitäts-Professors
ausgezeichnete Privatdocent an der Universität in Wien Dr. Norbert
O r t n e r, sowie der Privatdocent an derselben Universität Dr. Karl
Ewald zu Primarärzten zweiter Classe im Stande der Aerzte der
Wiener k. k. Krankenanstalten. — Geheimer Rath Prof. Czerny in
Heidelberg zum correspondirenden Mitgliede der Academie de Medecine
in Paris. — Dr. Nagel zum a. o. Professor der Physiologie in Frei¬
burg. — Dr. Wyllie zum Professor der medicinischen Klinik in Edin¬
burgh. ■ — Dr. T o n n i n i zum a. o. Professor der Psychiatrie in
Messina. — Dr. Romano zum a. o. Professor für Orthopädie in
Neapel. — Dr. Dodson zum Professor der Pädiatrie in Chicago.
*
V e r 1 i e h e n : Dem Oberstabsarzte Dr. Ferdinand Treu tier
der Generalstabsarztes-Charakter ad honores und der Orden der
Eisernen Krone III. CI. — Dem Regimentsarzte Dr. Michael
Stern schuss der fürstlich montenegrinische Danilo-Orden IV. CI.
*
Habilitirt: Dr. Friedr. Weleminsky für Hygiene an der
deutschen Universität in Prag. — In Heidelberg: Dr. Schwalbe
für pathologische Anatomie und Dr. M a gnus für Pharmakologie.
*
G estorben : Dr. Franz Michl, a. o. Professor der Chirurgie
an der böhmischen Universität in Prag. — Der Professor der Thera-
peutik in Manchester, Dr. J. Leech.
*
Am 2. August wurde im Festsaale der Weltausstellung der
XIII. internationale medicinische Congress zu Paris
eröflnet. Nach den otficiellon Ansprachen fand die erste wissen¬
schaftliche Hauptversammlung statt, welche einen Vortrag Virchow’s
„Trauma und Infection“ zum Gegenstände hatte. Hernach hatte ein
Empfang beim Präsidenten L o u b e t stattgefuuden.
*
Primararzt Dr. Ludwig Winternitz wohnt jetzt : I., Franz
Josefs-Quai Nr. 15; Dr. Otto Poliak: L, Grillparzer¬
strasse 14.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 29. Jahreswoche (vom 15. Juli
bis 21. Juli 1900). Lebend geboren: ehelich 686, unehelich 278, zusammen
914. Todt geboren: ehelich 43, unehelich 24, zusammen 67. Gesammtzahl
der Todesfälle 631 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
19 8 Todesfälle), darunter an Tuberculose 107, Blattern 0, Masern 6,
Scharlach 2, Diphtherie und Croup 4, Pertussis 6, Typbus abdominalis 3,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 2, Neu¬
bildungen 43. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
12 ( — 2), Masern 1C4 ( — 86), Scharlach 24 ( — 2), Typbus abdominalis
16 (-}- 4), Typbus exanthematicus 0 (=), Erysipel 20 (-f- 3), Croup und
Diphtherie 23 ( — 3), Pertussis 55 (-)- 6), Dysenterie 0 (=), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 3 (=), Trachom 2 ( — 3), Influenza 0 (=).
Bei der Redaction eingelangte Bücher.
(Mit Vorbehalt weiterer Besprechung.)
Schwalbe, Jahrbuch der praktischen Medicin. Heft 3 — 6. Enke, Stuttgart.
Posselt, Die geographische Verbreitung des Blasenwurmleidens. Ibidem.
Preis M. 12. — .
Robert, Arzneiverordnungslehre. 3. Auflage. Ibidem. Preis M. 9. — .
Pfeiffer, Taschenbuch der Krankenpflege. 3. Auflage. Böhlaus, Weimar.
Preis M. 5. — .
Zweifel, Aetiologie, Prophylaxis und Therapie der Rachitis. Hirzel,
Leipzig.
Bottazzi und Boruttau, Physiologische Chemie. Lieferung 1. Deuticke,
AVien. Preis M. 2. — .
Grellepois, Die Grundformen im österreichischen Apothekerwesen. Ibidem.
Preis M. 1-60.
Lorenz, lieber die Heilung der angeborenen Hüfcgelenksverrenkung
durch unblutige Einrenkung und fuuctionelle Belastung. Ibidem.
Preis M. 10. — .
Schenck und Gärber, Leitfaden der Physiologie des Menschen. 2. Auf¬
lage. Enke, Stuttgart. Preis M. 5.60.
Freund, Die Beziehungen der weiblichen Geschlechtsorgane zu anderen
Organen. (Volkmann’s Sammlung klinischer Vorträge.) Breitkopf
& Hättet, Leipzig.
Freie Stellen.
Districtsarztesstelle für den Sanitätsdistrict F 1 ey h - G eorge n-
dorf im Duxer Vertretungsbezirke, Böhmen, vorläufig in provisorischer
Eigenschaft wieder zu besetzen. Der rein deutsche Sanitätsdistrict umfasst
die Ortschaften Fleyh, Langewiese, Motzdorf, Willersdorf und Georgendorf
mit dem Jagdschlösse Lichtenwald mit zusammen 2169 Einwohnern. Mit
der ausgeschriebenen Stelle ist ein Dienstbezug von 1600 A an Gehalt
und 220 K an Reisepauschale verbunden. Die Bezirkskrankencasse Dux
zahlt ausserdem dem im gedachten Bezirke wirkenden Amtsärzte für
die Behandlung ihrer Mitglieder ein Jahrespauschale von 300 K. Die Be¬
dingungen zur Haltung einer Hausapotheke sind vorhanden. Bewerber um
diese Stelle, welche der deutschen Nationalität angehören müssen, wollen
ihre mit den Nachweisen ihrer Befähigung und ihrer bisherigen Ver¬
wendung belegten Ansuchen bei dem Bezirksausschüsse in Dux bis
15. August 1. J. einbringen. Aerzte mit Doctordiplom haben vor anderen
Bewerbern den Vorzug. Nach entsprechender Verwendung des Bestellten
erfolgt spätestens nach Jahresfrist dessen definitive Anstellung.
Districtsarztesstelle in dem 1614 Einwohner zählenden Sanitäts-
districte Vöttau, Mähren, politischer Bezirk Znaim. Gehalt und Fahr¬
pauschale 724 K. Von der Herrschaft Vöttau überdies 800 K jährlich,
freie Wohnung und 24 Raummeter Brennholz. Die mit den Nach Weisungen
über das Alter, die wissenschaftliche Befähigung, die bisherige Verwendung,
die Wohlverhaltenheit, die Heimatberechtigung und über die Kenntniss
beider Landessprachen, sowie mit einem staatsärztlichen Gesundheitszeugnisse
belegten Gesuche sind bis 20. August d. J. an den Obmann der Delegirten-
versammlung, Johann Bayer in Vöttau, einzusenden.
Gemeindearztesstelle in St. Veit a. d. Gölsen, politischer
Bezirk Lilienfeld, Niederösterreich. St. Veit zählt 3101 Einwohner und
ist eine beliebte Sommerfrischstation. Hausapotheke. Fixe Bezüge 1100 K,
und zwar 400 K Landessubvention, 400 K von der Gemeinde für die
Vorsehung des gemeindeärztlichen Dienstes, 300 K für Armenbehandlung.
Fixe Bezüge seitens der Krankencassen im Betrage von 1200 K stehen in
Aussicht. Die gehörig instruirten an den niederösterreichischen Landes¬
ausschuss • zu richtenden Gesuche sind bis 15. August d. J. bei dem
Gemeindeamte St. Veit a. d. Gölsen einzubringen.
Gemeindearztesstelle für die Sanitätsgemeindegruppe Schwarzau
im Gebirge und Rohr im Gebirge (politischer Bezirk Wr.-Neustadt)
Nieder Österreich, mit 1. October 1900 zu besetzen. Mit dieser Stelle
sind fixe Bezüge von den Gemeinden und dem niederösterreichischen
Landesausschusse zusammen 1560 K und Bezüge von mehreren Krankencassen
im Gesammtbetrage von circa 2477 K nebst Privatpraxis verbunden. Ausser¬
dem kann eine vollständig eingerichtete Hausapotheke von dem gegen¬
wärtigen Gemeindearzte abgelöst werden. Bewerber um diese Stelle haben
ihre im Sinne des Gesetzes vom 21. December 1888, L. G. und V. Bl.
Nr. 2 ex 1889, mit dem Nachweise der österreichischen Staatsbürgerschaft,
der Berechtigung zur Ausübung der ärztlichen Praxis in Oesterreich, der
physischen Tauglichkeit und sittlichen Unbescholtenheit, sowie dem legalen
Geburtsnachweise versehenen gestempelten Gesuche bis längstens 30. August
1900 beim Gemeindeamte Schwarzau im Gebirge zu überreichen. Auskünfte
werden daselbst, sowie bei der k. k. Bezirkshauptmannschaft Wr.-Neustadt
ertheilt.
Nr. 32
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
741
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Oongressberichte.
Verhandlungen der Wiener dermatologischen Gesellschaft. Sitzung
vom 13. Juni 1900.
13. Internationaler medicinischer Congress zu Paris. (2.-9. August 1900.)
Verhandlungen der Wiener dermatologischen Gesellschaft.
Sitzung vom 13. Juni 1900.
Vorsitzender : Kaposi.
Schriftführer: Kreihich.
Weiss stellt aus dem Karolinen-Kinderspitale ein 12jähriges
Mädchen mit einer über den ganzen Körper ausgebreiteten Sklero¬
dermie vor.
Im Anschlüsse an einen plötzlich aufgetretetenen Frieselauschlag
entstand seit drei Monaten allmälig eine Verhärtung der Haut, die fast
den ganzen Körper ergriff.
Das Gesicht zeigt das typische starre Aussehen, das sich beim
Lachen nur wenig ändert. Seine Haut ist ebenso wie die des ganzen
übrigen Körpers bretthart, gleichmässig dick und blass-weiss. Nur an
einzelnen Stellen, wie am Olecranon, den Handgelenken und den
beugeflächen der unteren Extremitäten finden sich noch weiche
Partien.
Besonders erwähnenswerth ist die Betheiligung der Zunge, die
in ihrer vorderen Hälfte verdickt, derb und wenig beweglich
erscheint.
Die Anwendung des Tbyreojodins in diesem Falle führte inso¬
weit zu einem Erfolge, als das Kind jetzt die Hände über den Kopf
erheben und die Zabnreihen auf 2 cm entfernen kann.
Kaposi glaubt, dass man trotz der universellen Erkrankung
beim Mangel jedweder atrophischen Veränderung noch an eine Restitutio
denken kann.
K reib ich demonstrirt bei einem 30jährigen Lehrer eine
eigenartige Form vonAlopecie. Besonders am Hinterhaupte
und der Halsgrenze sind zahlreiche, über hellergrosse, verschieden ge-
foimte, haarlose Flecken, nicht rund wie bei Alopecia areata und
ganz glatt mit leichter atrophischer Einsenkung.
Man könnte daher an eine Alopecia nach Lupus
erythemosus denken, wofür aber kein directer Anhaltspunkt vor-
üegt, da sonst keine Herde vorhanden sind mit Ausnahme eines
rothen, leicht eingesunkenen Fleckes an der Oberlippe.
Kaposi möchte sich umsoweniger direct für diese Annahme
entscheiden, als an den Flecken keine Veränderungen in dieser Be¬
ziehung zu sehen sind, auch nicht erweiterte Follikelmündungen.
Vielleicht handle es sich um die von den Franzosen beschriebene
Alopecia atrophicans; auch nach Impetigo contagiosa könnte eine
solche Form Vorkommen.
Kaposi stellt noch vor:
1. Zwei extragenitale Sklerosen an der Unterlippe bei
zwei Frauen, von denen eine ein beginnendes, die andere ein aus¬
gebildetes Exanthem zeigt.
2. Ein Erythema papula tum, das in seiner Form von
differentialdiagnostischem Interesse ist.
Bei der 24jährigen Frau sind am ganzen Körper zerstreut, be¬
sonders dicht am Halse und den Gelenksbeugen stecknadelkopf- bis
linsengrosse, blass -gelblichbraune, flache, feinschuppende, zum Theile
auch mehr glänzende papulöse Efflorescenzen. Das Bild ist daher sehr
dem eines papulösen Syphilides ähnlich, doch sind die Knötchen nicht
scharf und rund begrenzt, sondern am Rande fein gezackt. Gegen¬
über einem Herpes tonsurans fehlt jedes periphere Wachsthum und
Bilden grösserer Herde.
Der Ausschlag ging in der Folge bei indifferenter Behandlung
mit Zinkpasfe in zwei bis drei Tagen zurück. Die auffallende Acuität
des Auftretens und Verlaufes lassen daher den Schluss zu, dass es
sich um eine ganz ungewöhnliche Form von Erythema papulatum
handelt. 1 ^
13. Internationaler medicinischer Congress zu Paris.
(2. — 9. August 1900.)
Abtheilung für allgemeine Pathologie.
L v. Leube: Ueber extrabuccale Ernährung.
Eine extrabuccale Ernährung kann durch den Mastdarm und
duich die Haut bewerkstelligt werden.
A. Ernährung per rectum.
1. Von Eiweissstoffen eignen sich dazu Peptonpräparate
(G0 # in 300 Flüssigkeit [Milch]), ferner rohe Eier (3 Eier -|- 3 # Koch¬
salz). Bei Benützung beider Stoffe treten Eiweiss oder Albumosen im
Urin auf. Dagegen stellt sich bei längerem Gebrauch derselben Proktitis
ein, weswegen der Injection stets Reinigungsklystiere voranzugehen haben.
2. Kohlehydrate: Zucker 15—20# auf 300 Flüssigkeit
empfehlens werth. Noch besser ist die Verwendung von Amylum,
weil dasselbe im Rectum zum grössten Theil allmälig in Zucker ver¬
wandelt wird und den Darm weniger reizt. Als Dosis sind bis 100#
auf 300 Wasser oder Milch anzuwenden.
3. Fett ist als Ingrediens der Nährklystiere, weil es nur zum
allerkleinsten Theile resorbirt wird, ungeeignet.
4. Pankreasklystiere bestehend aus Fett (40), Fleisch
(100) und Pankreasmasse sind neben den oben genannten Klystieren
zu empfehlen. Als Menstruum für die Nährklystiere überhaupt passt
300 Milch mit einem Nährwerth von 150 Calorien. Mit jeder dieser
Klystiercompositionen werden circa 300 bis 450 Calorien in den Körper
eingeführt. Unter allen Umständen können zwei solcher Nährklystiere
am Tage verabreicht werden.
B. Subcutane Ernährung.
1. Peptone und Albumosen eignen sich nach den bis jetzt
gemachten Erfahrungen nicht als Stoffe zu subcutanen Injectionen,
ebensowenig andere Eiweissstoffe.
2. Von Kohlehydraten ist der Zucker als Ingrediens
cubcutaner Nährinjeetionen nicht empfehlenswert h, weil der¬
selbe in schwachen Lösungen zu wenig Nährstoff repräsentirt, bei
stärkeren Lösungen aber unfehlbar die Haut reizt und Schmerz und
Fieber macht. Ebensowenig eignet sich das Dextrin, weil es unverbrannt
mit dem Urin ausgeschieden wird. Eher ist vielleicht von Glykogen¬
lösungen Erfolg zu erwarten.
3. Fett eignet sich vorzüglich zu den sub¬
cutanen Injectionen, und zwar in einer Menge von 50 — 100#.
Dasselbe, langsam eingespritzt, macht, wenn überhaupt, jedenfalls nur
eine ganz geringe Spannung der Haut und wird gut resorbirt.
C. Eine Combination von Nähr klystieren und
subcutanen Fettinfusionen istim Stande, demKörper
die zur Erhaltung seines Stoffbestandes nöthige
Calorienmenge zuzuführen (2 Klystiere ä 550 Calorien =
1100 Calorien; 1 Fettinfusion = circa 930 Calorien; im Ganzen also
wenigstens 2000 Calorien). Die Menge des injicirten Fettes kann im
Nothfall über 100 gesteigert werden. Es ist zu hoffen, dass mit gleich¬
zeitig angewendeten Nährklystieren und subcutanen Fettinjectionen die
volle Ernährung von Kranken, denen auf gewöhnlichem Wege keine
Nahrung mehr beizubringen ist, erzwungen, und damit der Organismus
vor dem Tode durch Inanition geschützt werden kann, das heisst das
Ziel der künstlichen Ernährung erreichbar ist.
II. S e e g e n (Wien): G 1 y k ämieundDiabetesmellitus.
1. Das Blut enthält Traubenzucker als einen
normalen Bestandtheil, und Glykämie ist die Be¬
dingung für das gesunde Leben. Der Zuckergehalt des Blutes
bewegt sich in ziemlich engen Grenzen. Ich habe das Blut von 10 ge¬
sunden Menschen verschiedener Berufsclassen zwischen 20 und 30 Jahren
stehend untersucht; der Zuckergehalt schwankte zwischen 0'160 bis
OT80°/o- Dieser normalen Glykämie steht die Hyperglykämie gegen¬
über. Nach Bernard liegt die Grenze zwischen beiden bei
0'250" o- Jenseits dieser Grenze wird ein Theil des Blutzuckers
durch die Nieren amsgeschieden. Hyperglykämie wird als
nothwendige Vorbedingung für Glykosurie ange¬
sehen. Ueber das Entstehen der Hyperglykämie schwanken die An¬
schauungen. Berna rd bezog dieselbe auf mangelhafte Umsetzung des
Blutzuckers, und dieser Ansicht waren die meisten Diabetesforscher.
Chauveau und Kaufmann glauben, dass eine Ueberproduction
von Zucker die Ursache der Hyperglykämie und der durch diese ver-
anlassten Glykosurie sei. Ihre Beweisführung gipfelt darin, dass beim
diabetisch gemachten Thiere der Unterschied zwischen arteriellem und
venösem Blute ebenso gross sei, wie beim gesunden Thiere, dass also
die Zuckerumsetzung im Capillarsysteme nicht gestört sei. Aber ich
habe nachgewiesen, dass die von den genannten Forschern ermittelte
Differenz zwischen dem Zuckergehalte des arteriellen und des venösen
742
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900
Nr. 32
Blutes so gering ist, dass sie noch innerhalb der Fehlergrenzen liJgt.
Die aus dieser Differenz gezogenen Schlüsse über den Umsatz des
Zuckers sind hinfällig, und damit entfällt auch die Grundlage für den
Schluss, den Chauveau und Kaufmann aus der unveränderten
Differenz im Zuckergehalte diabetisch gemachter Thiere auf die un¬
veränderte Zuckerumsetzung ziehen. Ich halte es für zweifellos,
dass Hyperglykämie nicht durch Ueber production,
sondern nur durch gestörte Zucker Umfassung ver¬
anlasst ist. Den kräftigsten Beweis für diese Anschauung bieten
die zahllosen Beobachtungen an Diabeteskranken. Bei den schweren
Fällen dieser Erkraakung, und nur bei diesen wird Hyperglykämie
beobachtet, ist die Energie aller Lebensfunctionen beträchtlich herab¬
gesetzt, es ist vor Allem die Leistungsfähigkeit der Muskeln sehr
reducirt und die Wärmebildung vermindert. Es wäre unfasslich, dass
gerade bei diesen Kranken eine so wichtige Function wie die Zucker¬
bildung in der Leber in hohem Grade gesteigert sein sollte. Es liegt
weit mehr im Wesen des ganzen Krankheitsprocesses, dass die Zucker¬
umsetzung, welche mit der Lebensarbeit parallel geht, herabgesetzt ist
und dass in Folge dieser Herabsetzung der Zucker sich im Blute an¬
häuft. Ich habe ferner auf experimentellem Wege festgestellt, dass bei
Thieren, welche durch Chloroform oder durch Morphiuminjection
anästhesirt oder bei Thieren, welche curarisirt waren, der Zuckergehalt
des Blutes beträchtlich ansteigt, dass mit der Dauer der Einwirkung
des Giftes der Zuckergehalt selbst bis über die von Bernard für
normale Glykämie festgestellte Grenze ansteigt. Als Beispiel führe ich
an, dass bei einem Thiere der Zuckergehalt des Blutes 0'103°/o betrug;
es wurde chloroformirt: nach 3 Minuten betrug der Zuckergehalt
0,122°/0, uach 20 Minuten 0'175%, und als das Thier 50 Minuten
chloroformirt war, war der Zuckergehalt auf 0 333% gestiegen. In
einer zweiten Serie von Versuchen wurde an anästhosirten oder curari-
sirten Thieren der Zuckergehalt des Leber venenblutes mit dem des
Pfortaderblutes verglichen und die Vermehrung des Zuckergehaltes des
L°bervenenblutes weit unter dem Mittel gefunden, welche bei nicht
anästhesirten Thieren nachgewiesen wurde. Die Erscheinungen bei den
anästhesirten und curarisirten Thieren gaben ein Bild im Kleinen von
jenen, die wir beim Diabetes beobachten.
2. Ich habe ferner durch Bestimmung des Zuckergehaltes im
Blute von Diabeteskranken festgestellt, dass eine beträchtliche
Glykosurie vorhanden sein kann, ohne dass eine
Hyperglykämie besteht. Nur bei Fällen, die der schweren
Form des Diabetes angehörten, d. h. solchen, die trotz absoluten Aus
Schlusses von Amylaceis fortbestanden, war der Zuckergehalt des Blutes
bedeutend gesteigert und betrug 0 3 — 0'4%. Bei Diabeteskranken der
leichten Form war der Zuckergehalt oft tief unter der von
Bernard festgestellten Grenze und erreichte nie 02%, selbst wenn
durch den Harn 2 — 3% Zucker ausgeschieden wurden. Wenn in solchen
Fällen die Amylacea ausgeschlossen wurden, sank die Glykosurie sehr
rasch, der Blutzucker blieb unverändert, er nahm auch erst zu, wenn
durch Einfuhr von Amylaceis die Zuckerausscheidung durch den Harn
beträchtlich angestiegen war.
III. Ewald (Berlin) : Ueber extrabuccale Ernäh¬
rung.
1. Die extrabuccale Ernährung ist kein vollwerthiger Ersatz der
Ernährung per os, und kann die Ansprüche des Stoffwechsels auf die
Dauer nicht bestreiten, vielmehr tritt in der Mehrzahl der Fälle bei
ausschliesslicher extrabuccaler Ernährung von Anfang an eine Unter¬
ernährung ein. Eine Ausnahme machen nur diejenigen Fälle von
Magenfisteln, welche wegen einer benignen Strictur der Speiseröhre
angelegt sind.
2. Auf kurze Zeit kann die extrabuccale Ernährung aber bei ge¬
schwächten Personen mit darniederliegendem Stoffwechsel den Stickstoff¬
umsatz steigern und selbst einen Ansatz von stickstoffhaltiger Substanz
und Fett bewirken.
3. Sie hat die besten Erfolge, wenn es sich um einen vorüber¬
gehenden Ersatz der Nahrungsaufnahme per os handelt, oder wo sie
in Verbindung mit der letzteren als Ergänzung derselben eintritt.
4. Die Nährklysmata sind den subcutanen Injectionen von Nähr¬
stoffen in den meisten Fällen vorzuziehen. Letzteren kommt mehr die
Bedeutung eines vereinzelten Versuches zu, als eines Verfahrens, welches
eine breite Verwendung in der Praxis finden kann.
*
Abtheilung für Bacteriologie.
I. Buchner: Ueber Immunität.
a) Natürliche Resistenz. Die Bezeichnung „natürliche
Resistenz“ scheint vorzüglicher als die sonst gebräuchliche „natürliche
Immunität“, weil es werthvoll ist, den Begriff „Immunität“ ausschliesslich
für den specifischen Zustand zu reser viren, der in seinem inneren
Wesen eigenartig und von der natürlichen Resistenz durchaus ver¬
schieden ist.
Natürliche Resistenz besteht — abgesehen von den
Fällen angeborener Giftunempfindlichkeit — hauptsächlich in den
mikrobiciden Wirkungen der Säfte und gewisser Zellen des
Organismus, in ihrem Gehalt an Alexinen. Dies gilt namentlich
auch für die Heilung von bereits in Gang befindlichen, den Körper
bedrohenden Infectionsprocessen, soferne dabei nicht erworbene spe-
eifische Immunität eine Rolle spielt. Zum Beispiel bei Sfaphylococcen-
infectionen (Furunkel, Abseesse u. s. w.) scheint die Heilung durch
eine locale allgemeine Steigerung der natürlichenResistenz,
nicht durch eintretende specifische Immunisirung bedingt zu sein.
Eine rein humorale Theorie der natürlichen Resistenz
konnte nie aufgestellt wrerden und ist thatsächlich nie aufgestellt
worden, ausser von Seite der Gegner, welche dieselbe bekämpfen
wrollten. Mit den Alexinen der blossen Sera — ohne Zellen — können
die Resistenzerscheinungen nur in einzelnen Fällen genügend erklärt
werden. Trotzdem durfte nicht von vorneherein auf die nähere Erforschung
der Serumalexine verzichtet werden. Denn es war klar, dass ihre
Existenz eine gewisse Einschränkung der Phagocytentheorie bedeutete.
Seit aber die Abstammung der Alexine aus den Leukocyten 1894
nachgewiesen ist, haben sich die Forschungen über Phagocyten und
jene über Alexinwirkungen in ihrem Endergebniss immer mehr ange¬
nähert, und es ist eigentlich nur noch ein einziger Punkt, der
bisher unentschieden blieb.
Metschnikoff und Bordet haben nämlich seit mehreren
Jahren selbst constatirt, dass die Alexine der Sera zum grossen Theil
den Leukocyten entstammen. Aber sie sind der Meinung, dass es sich
nicht um eine Secretion der lebenden Zellen, sondern um einen Ueber-
gang der Alexine ins Serum aus den getödteten, aufgelösten Leukocyten
handelt. Dies eben ist der Differenzpunkt, der aber experimentell ent¬
schieden werden kann.
Laschtschenko hat in meinem Laboratorium nachgewiesen,
dass aus Kaninchenleukocyten durch eine ganze Reihe von Serumarten,
welche man vorher auf 60° erhitzt und dadurch inactivirt hat,
bactericide Alexine ohne Untergang der Leukocyten extrahirt werden
können. Hier haben wir also Secretion ohne Tödtung der Zellen.
Ueberhaupt können die Leukocyten gar nicht so leicht getödtet werden.
Nach Beobachtungen von Nakanishi in meinem Laboratorium
bleiben Leukocyten der verschiedensten Blutsorten im Eisschrank ein
bis vier Wochen lang nicht nur in ihrer Form erhalten, sondern
lebend; im destillirten Wasser tritt zwar der Tod rasch ein, aber
die Auflösung geht ziemlich langsam vor sich, so dass nach 24 Stunden
noch sehr viele Leukocyten gut in ihrer Form erhalten sind.
Hienach scheinen die Alexine in der Regel von lebenden
Leukocyten secernirt zu werden, und dann ist für Erklärung der
Phagocytose die Annahme am wahrscheinlichsten, dass die Bacterien
vor dem Gefressenwerden meistens schon eine chemische Schädigung
erlitten haben. Allerdings wurde vielfach constatirt, dass auch lebende
und virulente Bacterien von Leukocyten gefressen -werden können.
Diese Thatsache soll nicht bestritten werden, aber es gibt bei den
Mikrobien auch Zustände latenten Lebens, in denen die Lebens¬
äusserungen für eine Zeit lang unterbrochen sind, um nachher wieder
aufgenommen zu werden. Wenn also in Folge äusserer schädlicher
Einwirkungen Stoffwechsel und Vermehrung zeitweilig stille stehen, so
braucht der Mikroorganismus deshalb noch nicht getödtet oder dauernd
geschädigt zu sein.
Der Hauptgrund ferner gegen das allgemeine Princip der
Phagocytose liegt in der Thatsache, dass innerhalb des Körpers,
in Exsudaten u. s. w. auch ohne Anwesenheit von Leuko¬
cyten Bacterien zu Grunde gehen können. Man wird
also in anderen Fällen, wo thatsächlich Phagocytose stattfindet, nie
beweisen können, dass hier keine primäre chemische Schädigung
vor dem Auffressen stattgefunden hat. Das Mikroskop kann diese
Frage nicht entscheiden und sie wird voraussichtlich noch lange Zeit
controvers bleiben.
Sicher ist, dass die Phagocytose zum Untergang der Infections-
erreger nicht immer gefordert wird. Zur richtigen allgemeinen Be-
urtheilung der Rolle der Leukocyten darf ferner nie vergessen werden,
dass dieselben nicht nur durch lebende, sondern auch durch todte
Bacterien, durch Bacterienproteine, durch GlutencasA'n u. s. w.
chemotaktisch angelockt werden. Das beweist, dass ihr eigentlicher
Charakter derjenige von Resorptionszellen ist. Die Bildung
und Ausscheidung der Alexine scheint hiemit übereinzustimmen, in-
soferne letztere als histoly tische Enzyme im Sinne Th. Leber’s
aufgefasst werden müssen, Enzyme, welche Gewebselemente aufzulösen
vermögen (z. B. bei der Erweichung von Abscessen oder bei Injection
von Leukocyten anlockenden Mitteln, wie Perubalsam). Dieselbe
histolytische, auflösende Wirkung kann sich auch auf pathologische
Gewebsneubildungen erstrecken (Einschmelzung von Tuberkeln), und
ferner auf die Infectionserreger selbst (bactericide Wirkung). Die
Phagocytose, das Aufgelöstwerden im Innern der Leukocyten durch
die nämlichen histolytischen Enzyme, erscheint dann nur als ein
Nr. 32
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
743
specieller Fall, gegenüber dem allgemeinen Fall von Auflösung ausser¬
halb der Leukocyten.
b) Specifische Immunität. Zu unterscheiden sind haupt¬
sächlich :
1. specifisch antitoxische,
2. specifisch bactericide und
3. specifisch hämolytische Immunität.
Diese drei Hauptfälle von specifischer Immunität werden erzeugt
durch Vorbehandlung mit :
ad 1. specifischen Toxinen oder ungiftigen Modifieationen von
Toxinen,
ad 2. specifischen Bacterien, lebend oder getödtet,
ad 3. specifischen Erythrocyten, unverändert oder bis 60° erhitzt.
In allen drei Fällen erscheint im Blut und Serum des vor¬
behandelten Thieres ein specifischer Antikörper, welcher bei 65° C.
nicht zerstört wird. Im Falle 1 ist dies das bekannte Antitoxin, welches
dem Diphtherie , Tetanus- u. s. w. Heilserum zu Grunde liegt. Im
Falle 2 und 3 besitzt der jeweilige specifische Antikörper keine un¬
mittelbar wahrnehmbare Wirkung, sondern er wirkt erst in Combination
mit den normalen nicht specifischen Alexinen. Es gibt keine einheit¬
lichen specifisch bactericiden oder specifisch hämolytischen S u b-
stanzen, sondern in beiden Fällen handelt es sich um combinirte
Effecte, indem durch die specifischen Antikörper die Bacterien, respective
Erythrocyten prädisponirt werden für die Wirkung der normalen
Alexine. Dabei ist es gleichgiltig, ob diese Alexine von der nämlichen
Thierspecies stammen, bei welcher durch Vorbehandlung der Antikörper
gewonnen wurde, oder von anderen.
Die prädisponirende Wirkung besteht, wie sich nach weisen lässt,
bei der specifisch hämolytischen Immunität in einer Anziehung und
lockeren Bindung des Antikörpers an die specifischen Erythrocyten,
iu Folge deren dieselben durch normale Alexine leichter gelöst werden.
Wahrscheinlich ist es ebenso bei der specifisch bactericiden Wirkung.
Dass die Gegenwirkung der Antitoxine gegen die specifischen Toxine
durch gegenseitige Bindung zu Stande kommt, darf als sichergestellt
gelten.
Nach diesen Ergebnissen beruht das eigentliche Princip
der specifischen Immunität immer und in allen
Fällen auf der eigentümlichen Anziehung und
Bindung zwischen Antikörper und specifischem
Reactionsobject (Toxin, Bacterien, Erythrocyten u. s. w.). Das
der Zukunft vorbehaltene Räthsel liegt also hauptsächlich nur in der
Natur der zwischen Antitoxin und Toxin, Antikörper und Reactions¬
object eintretenden specifischen Bindung.
„Natürliche Resistenz“ und „specifische Immunität“ sind im
Princip Gegensätze. Erstere ist charakterisirt durch die Alexine, letztere
durch die specifischen Antikörper. Die Alexine werden bei 60° zerstört,
sind different je nach der erzeugenden Thierspecies, zeigen keine
Anziehung zum Reactionsobject. Die Antikörper sind bei 65° haltbar,
sind different nicht nach der Thierspecies, sondern nach dem zur
Vorbehandlung verwendeten Reactionsobject und zeigen zu letzterem
eine specifische Anziehung, werden von diesem gebunden.
Alexine und Antikörper wirken im lebenden Körper gleichzeitig,
oft in Combination. Natürliche Resistenz und specifische Immunität
können im gleichen Organismus vereint zur Geltung kommen. Zum
Beispiel die Heilung eines Abdominaltyphus kann durch gleichzeitige
Steigerung der natürlichen Resistenz, in Combination mit Bildung
specifischer Antikörper zu Stande kommen. Aufgabe der klinischen
Medicin ist es, diese einzelnen Zustände und Veränderungen zu
diagnosticiren und auseinander zu halten.
II. Ehrlich: Ueber Toxine und Antitoxine.
Durch Behring’s Entdeckung der Antitoxine hat das Studium
der Toxine eine ausserordentliche praktische Bedeutung und grosses
theoretisches Interesse gewonnen. Ein möglichst erschöpfendes Studium
der Toxine und Antitoxine bildet auch heute noch die Grundlage der
gesammten Immunitätslehre. Für den Fortschritt unserer Erkenntniss
waren folgende Momente besonders fruchtbringend:
aj Die Erforschung der Beziehungen zwischen Toxin und Anti¬
toxin nach allgemein physikalischen und chemischen Principien.
Reagensglasversuche (partielle Sättigung).
b) Die Ausdehnung der stereochemischen Betrachtungsweise,
wie sie von E. Fischer bereits für die Fermente angewandt war,
auf die Toxine.
c) Das Studium der Vertheilungsgesetze, welchen fremde, ins¬
besondere toxische Substanzen im Organismus unterliegen und die Er¬
forschung der besonderen chemischen und physikalischen Beziehungen
dieser Substanzen zu den Geweben. Es ergeben sich hieraus folgende
Anschauungen:
1, Die Toxine sind äusserst labile Substanzen, die als Secretions-
producte pflanzlichen oder auch thierischen Ursprunges auftreten.
2. Eine chemische Charakteristik sämmtlicher oder auch ein¬
zelner Toxine ist vorläufig unmöglich, da ihrer Reindarstellung in aus¬
reichender Menge vor Allem die leichte Zersetzlichkeit im Wege steht,
und die Trennung von gewissen, den Toxinen chemisch sehr nahe
stehenden Modifieationen (Toxoide) kaum durchzuführen sein dürften.
3. Die einzigen Kriterien für die Toxinnatur einer Substanz sind
biologischer Art; die eigenartige Giftwirkung und die Fähigkeit, in
geeigneterWeise in den thierischen Organismus eingeführt, die Bildung
specifischer Antitoxine zu veranlassen. Die letztere Eigenschaft theilen
die Toxine mit gewissen Enzymen, worauf schon Roux für das
Diphtheriegift aufmerksam gemacht hat.
4. Die Giftwirkung der meisten Toxine ist im Gegensatz zu der
Wirkung der chemisch definirten Gifte charakterisirt durch die Incu-
bationszeit, die durch keine Vergrösserung der Dosis aufzuheben ist.
Einige Substanzen, die ohne Incubationszeit wirken (Schlangengift,
giftige Substanzen des Serums) erweisen sich als zu den Toxinen
gehörig in erster Linie durch die Fähigkeit der Antitoxinbildung, in
zweiter Linie erst durch die höhere Labilität.
5. Die Fähigkeit der Antitoxinbildung kommt keinem der chemisch
definirten Gifte zu. Die Angaben über antitoxische Sera, welche gegen
organische Gifte, Glykoside oder Alkaloide wirken sollen, beruhen auf
Irrtbum.
6. Aus diesen Besonderheiten der Toxine ist zu schliessen, dass
ihre Wirkung im Organismus wesentlich verschieden sein muss von
der Wirkung der übrigen Gifte. Die Thatsachen zwingen, für die
Toxine als Grundbedingung der Giftwirkung eine specifisch-chemische
Bindung an das Protoplasma gewisser Zellbezirke anzunehmen. Für
die anderen Gifte, die Alkaloide z. B., gelten gleichfalls bestimmte
Gesetze der Vertheilung im Organismus, jedoch beruht die Beziehung
zu dem Parenchym nicht auf chemischer Bindung, sondern auf Vor¬
gängen fester Lösungen oder lockerer Salzbildung.
7. Der specifische Charakter der chemischen Bindung der Toxine
beruht auf der Anwesenheit einer besonderen Gruppe des Toxin-
molecrils, der haptophoren Gruppe. Die Giftwirkung der Toxine findet
jedoch in der Bindung derselben an die Organe vermittelst der hapto¬
phoren Gruppe noch keine ausreichende Erklärung, sondern hat zur
Voraussetzung die Anwesenheit einer zweiten Gruppe im Toxinmolecül,
der toxophoren Gruppe, deren Einfluss das Protoplasma durch die
Bindung der haptophoren Gruppe unterwarfen wird.
8. Die Wirkungen der haptophoren und toxophoren Gruppe
lassen sich in gewissen Fällen experimentell von einander trennen. So
hat Morgen roth nachgewiesen, dass bei Kaltblütern die baptopbore
Gruppe des Tetanusgiftes schon in der Kälte, die toxophore aber erst
in der Wärme auf die Zellen einwirkt (Erklärung des Courmont-
schen Versuches). Durch den zeitlichen Unterschied in der Wirkung
der haptophoren und toxophoren Gruppe findet auch die Incubations-
periode, welche fast allen Toxinen zukommt, eine ausreichende Er¬
klärung, nachdem von Dönitz und Hey mans nach principled ver¬
schiedenen Methoden die rapid erfolgende Bindung des Tetanus- und
Diphtherietoxins erwiesen ist.
9. Zur Bindung der haptophoren Gruppe der Toxine dienen
gewisse Seitenketten des Protoplasmas, die als Receptoren bezeichnet
werden. Die Receptoren dienen im normalen Leben des Protoplasmas
der Ernährung desselben durch Verankerung von Nahrungsstoffen. Es
müssen demnach die Toxine die haptophore Gruppe mit gewissen
Nahrungsstoffen gemeinsam haben. Thatsächlich kann man auch mit
bestimmten Nahrungsstoffen typisehe Antikörper, z. B. Coaguline
(Bordet) erzeugen.
10. Die Receptoren sind bald nur in einem einzigen Gewebe
vorhanden, bald über eine grössere Zahl von Organen verbreitet.
(Tetanusgift gegenüber Meerschweinchen einerseits, Kaninchen
andererseits.)
11. Das Fehlen von Receptoren bei gewissen Thierspecies kann
eine Ursache der natürlichen Immunität sein. Andererseits kann das
Vorhandensein zahlreicher Receptoren in minder lebenswichtigen Organen
durch Ablenkung des eingeführten Toxins zu einer Verringerung der
Giftempfindlichkeit führen. Die Receptoren des Organismus sind
nicht für die Gesammtheit der Gifte constant, sondern können in ein¬
zelnen Fällen (Crotin, Hämolysine) sehr erheblichen Schwankungen
unterliegen.
12. Die Besetzung von Receptoren des Protoplasmas durch die
haptophore Gruppe der Toxine bedingt für das Leben, besonders die
Ernährung der Zelle einen Defect. Dieser Defect löst Regenerations¬
erscheinungen aus, derart, dass die durch die Besetzung ihrer natür¬
lichen Function entzogenen Receptoren neugebildet werden. Einem von
Weigert erkannten biologischen Gesetz folgend, bleibt die Neubil¬
dung nicht auf den Ersatz des Defectes beschränkt, sondern es erfolgt
eine Ueberregeneration. Die Ueberregeneration kann durch fortgesetzte
Toxinzufuhr so gesteigert werden, dass endlich eine Abstossung der
übermässig gebildeten Receptoren in den Kreislauf erfolgt.
13. Die f r ei circuli r enden Receptoren des Proto¬
plasmas sind die Antitoxine. Sie haben ihre ursprüngliche
744
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 32
Eigenschaft, die haptophore Gruppe des entsprechenden Toxins chemisch
zu binden, bewahrt.
14. Diese Theorie der Antitoxinbildung ist im Stande, die ausser¬
ordentliche Mannigfaltigkeit der Antitoxine und ihren specifischen Cha¬
rakter auf der Basis physiologischer Vorgänge zu erklären, ohne dass
man dem Organismus eine völlig räthselhafte, gleichsam erfinderische
Thätigkeit zuschreiben muss.
15. Ihrer Entstehung entprechend sind die Beziehungen der Anti¬
toxine zu den Toxinen rein chemischer Natur. Beide Körper verbinden
sich zu einer neuen, für den Thierkörper indifferenten Verbindung,
wie durch Fraser, Ehrlich, Cherry und Martin sicher
erwiesen ist.
16. Das eingehende Studium der Neutralisationsverhältnisse
zeigt eine ausserordentlich complicirte Zusammensetzung der aus den
Culturen gewonnenen Gifte, die besonders am Diphtheriegift unter¬
sucht ist.
17. Der Diphtheriebacillus producirt zwei Arten Substanzen:
1. Toxine, 2. Toxone, die beide den specifischen Antikörper binden und
mithin dieselbe haptophore Gruppe besitzen. Dagegen ist der toxophore
Complex des Toxons von schwächerer und andersartiger Wirkung
(Fehlen der nekrotisirenden Wirkung, Erzeugung von spät eintretender
Lähmung [M a d s e n, E h r 1 i c h]).
18. Weiterhin finden sich in jeder Diphtheriebouillon ungiftige
Modificationen des Toxins, die noch den Antikörper binden und als
Toxoide bezeichnet werden. Die Entstehung der Toxoide begründet sich
darin, dass der toxophore Complex weit labiler ist, als der haptophore,
und zerstörenden Einflüssen thermischer oder chemischer Art leichter
unterliegt. Besonders beweisend sind hiefür fortlaufende Beobachtungen
über die spontane Abschwächung der flüssigen Gifte, die zeigen, dass
der Giftwerth der Bouillon sich erheblich vermindert, der Neutralisations¬
werth aber vollkommen erhalten bleibt. Es liegt aber hier eine quan¬
titativ verlaufende Umwandlung vor.
19. Entsprechend den verschiedenen Entstehungsarten sind ver¬
schiedene Arten von Toxoiden anzunehmen. Manche Thatsachen weisen
darauf hin, dass entsprechend dem complicirten Bau der toxophoren
Gruppe die vollkommene Entgiftung etappenweise verlaufen kann und
dass schonende Behandlungsarten zu Toxoiden führen, die noch partielle
Giftwirkung besitzen.
20. Es folgt hieraus, dass man die specifischen Antitoxine nicht
nur mit den Toxinen, sondern auch mit den Toxoiden erzeugen kann.
Können doch hochempfindliche Thiere (Mäuse, Meerschweinchen) gegen
Tetanus nur mit Hilfe von Toxoiden in leichter und schneller Weise
immunisirt werden.
Wo es sich also darum handelt, kranke und daher überempfind¬
liche Indviduen in schonender Weise zu immunisiren, werden an
erster Stelle Toxoide in Frage kommen.
21. Weitere Untersuchungen haben ergeben, dass die Annahme
zweier functionirenden Gruppen nicht nur für die Toxine, sondern auch
für gewisse Fermente zutrifft. Die von Morgenrot!) gemachte An¬
nahme, dass das Labferment eine haptophore und zymophore Gruppe
besitzt, ist neuerdings von Myers und Bashford durch den Nach¬
weis von Zymoiden sicher erwiesen.
22. Die so wichtige Classe der Bacterio-, Hämo- und Cystolysine
(Pfeiffer, Metschnikow, Bordet, Landsteiner,
v. D u n g e r n) sind complete Gifte. Nach den Anschauungen von E h r-
licli und Morgenroth vereinigt sich der specifische Immunkörper
mit dem nicht specifischen Complement (Alexin, Bordet) zu dem
toxischen Agens, das gewissermassen ein aus zwei Theilstücken be¬
stehendes Toxin darstellt. In dem einen Theilstück (dem Immunkörper)
ist die haptophore Gruppe enthalten, während der toxophore Complex
durch das Complement repräsentirt wird.
23. Die Thatsache, dass der Immunkörper eine specifische Ver¬
wandtschaft zu den betreffenden Zellen und zu dem Complement bat,
lässt sich nach der Seitenkettentheorie durch die Annahme von Recep-
toren, welche zwei verschiedene bindende Gruppen enthalten, unge¬
zwungen erklären.
Der Zusammenhang zwischen der Bacterienimmunität einerseits
und der Antitoxinimmunität andererseits findet so in einfacher Weise
seine Erklärung.
*
A b t h e i 1 u n g für Neurologie und Psychiatrie.
I. Pick (Prag): Ueber die Bedeutung des akusti¬
schen Sprachencent rums als Hemmungsorgan des
Sprachmechanismus.
Seitdem man den Hemmungsmechanismus im Gebiete der Herz¬
nerven kennen gelernt, lag es nahe, die Erfahrung auch auf die
höheren cerebralen Vorgänge anzuwenden; aber man kann nicht ver¬
kennen, dass diese auch auf die Pathologie übertragenen Versuche bis
in die neue Zeit alle eigentlich mehr auf eine Analogisirung hinaus¬
liefen; und trotzdem neuestens auch bezüglich intracerebraler Erschei¬
nungen Hemmungsmechanismen nachgewiesen worden sind, ist es,
namentlich in Folge der Complicirtheit der dabei in Betracht kommen¬
den Erscheinungen nicht gelungen, echte Hemmungsvorgänge und deren
Störungen auf dem Gebiete der psychischen oder der ihnen nahe
stehenden Vorgänge nachzu weisen.
Erst mit dem Zeitpunkte, als die vertiefte Erforschung des
Sprachmechanismus Gelegenheit bot, wenigstens von einer Seite her mit
Aussicht einem Verständniss jener Vorgänge sich zu nähern, eröffnet
sich uns die Kenntniss eines echten Hemmungsmechanismus auch auf
diesem Gebiete.
Während zunächst Hugh lings Jackson im Rahmen der
Lehre von der Evolution und Dissolution auch die ganze Lehre von
den Aphasien im Allgemeinen aus einem System von Hemmungs¬
mechanismen und Störungen derselben zu erklären versuchte, haben
Wernicke und Broadbent in klinischer Feststellung gezeigt,
dass die Functionen des motorischen Sprachcentrums unter Führung
deä acustischen Sprachcentrums sich vollziehen. Es ergibt sich jedoch
aus der Beobachtung entsprechender Fälle, dass nicht blos die akusti¬
schen Functionen des akustischen Sprachcentrums in seiner Beziehung
zum motorischen in Betracht kommen, aus deren Störung von jenen
Autoren bekanntlich die Paraphasie erklärt wird; vielmehr zeigt sich,
dass das akustische Wortcentrum thatsächlich ein echtes Hemmungs¬
centrum für das motorische ist, dessen Functionen nach Zerstörung
oder bei Fortfall der Function des erster en, für einige Zeit wenigstens,
jeder Hemmung ledig ablaufen; es ist die bekannte Erscheinung, dass
Kranke mit plötzlich eingetretener Worttaubheit ausser der Paraphasie
eine eigenthümliche formale Störung de3 Sprechens zeigen, eine
Logorrhoe, indem sie entweder spontan durch längere Zeit unauf¬
haltsam vor sich hinplappern, oder bei jeder, z. B. durch eine Frage
gegebenen Anregung des Sprachmechanismus neuerlich in dieser Weise
reagiren.
Man könnte diese Erscheinung in zweierlei Weise deuten: zu¬
nächst wurde ein Reizzustand im motorischen Sprachcentrum ange¬
nommen; zieht man jedoch in Betracht, dass die Erscheinung jedesmal
nur eintrat bei ausschliesslicher Läsion des akustischen Sprachcentrums
oder bei Mitbetheiligung desselben, niemals bei isolirter Läsion des
motorischen Sprachcentrums selbst, so wird schon dadurch allein die
Reiztheorie beseitigt und eine andere Deutung nahe gelegt, dass nämlich
die Logorrhoe die Folge der Ausschaltung einer dem akustischen Wort¬
centrum zugefallenen Hemmungsfunction darstellt. Die wenigen Autoren,
die sich mit dieser Erscheinung befassen, neigen wohl dieser Ansicht
zu, aber im Allgemeinen ist diese principiell bedeutsame Thatsache
noch nicht genügend gewürdigt.
Es lässt sich nun nachweisen, dass nicht blos die Form der Er¬
scheinung und deren Ablauf am besten durch die hier gegebene Deutung
sich verstehen lassen, sondern auch die relative Seltenheit der Erschei¬
nung aus den Wirkungen bestimmter Erkrankungen und deren
Einwirkung auf das akustische Sprachcentrum und dessen Umgebung
verständlich wird; weiter lässt sich zeigen, dass auch andere, zum
Tbeil functionelle Störungen ähnlicher Art, gewisse Formen der Echo-
lalie, paraphasische Logorrhoe im Petit mal und bei der Hemicrania
concomitata, durch eine solche Erklärung nicht blos besser verständlich
werden, sondern auch in einem richtigeren Zusammenhang mit anderen
sie begleitenden Symptomen gebracht erscheinen.
Die principielle Bedeutung dieser Feststellung liegt aber vor
Allem darin, dass damit der erste sichere Nachweis geliefert erscheint,
dass auch im Gebiete der höheren psychischen Vorgänge ebensolche
Hemmungsmechanismen thätig sind, wie sie bezüglich der niederen
nervösen Functionen jetzt immer zahlreicher nachgewiesen werden; und
damit erhalten die bisherigen Versuche, bei der Deutung psychischer
und psychopathischer Erscheinungen Hemmungsmechanismen in An¬
wendung zu ziehen, eine gesicherte Unterlage.
II. Flechsig (Leipzig): Die Projections- und Asso¬
ciation scent ren des menschlichen Gehirnes.
Die von mir beschriebene Gliederung der Grosshirnrinde in
Sinnessphären (Sinnescentren) und Associationscentren (Coagitations-
centren oder Denkorgane) tritt in voller Schärfe nur beim menschlichen
Fötus und jungen Kind hervor ; meine Eintheilung gründet sich somit
auf die Anwendung der entwicklungsgeschichtlichen (myelogenetischen)
Untersuchungsmethode des centralen Faserverlaufes. Es ist demgemäss
zur Würdigung meiner Beweisführung vor Allem nothwendig, die
Tragweite, beziehungsweise Zuverlässigkeit dieser Methode festzustellen.
Das allgemeine Gesetz, dass gleichwertbige (d. h. in gleicher
Weise eingeschaltete) Nervenfasern annähernd gleichzeitig Markscheiden
erhalten, verschiedenwerthige Elemente zu verschiedenen Zeiten in
gesetzmässiger Reihenfolge, tritt mit besonderer Prägnanz an den
Fasermassen der Grosshirnhemisphären zu Tage. In Folge der succes-
siven Ausbildung, z. B. der verschiedenen Siunesleitungen. der zuge¬
hörigen motorischen Bahnen, der kurzen und der langen Associations¬
systeme u. s. w. kommt es auch zu einer Flächengliederung der Gross¬
hirnrinde, zur Abgrenzung entwicklungsgeschichtlicher, beziehungsweise
Nr. 32
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
745
myelogenetiseher Rindenfelder, d. h. von Rindenabschnitten, welche
bei gleichalterigen Individuen gleich gross und gleich gelagert sind,
also gesetzmässige Bildungen nicht zufällige Befunde darstellen. Auf
Grund meiner fortgesetzten Untersuchungen, welche sich gegenwärtig
auf 41 Entwicklungsstufen erstrecken, habe ich die Zahl dieser
Felder auf circa 40 angegeben (Neurologisches Cntralblatt.
1898, Nr. 21) und sie der Uebersichtlichkeit halber rein chrono¬
logisch in drei Gruppen getheilt: frühreifende (Primordialgebiete),
spätreifende (Terminalgebiete) und solche, welche eine Mittelstellung
einnehmen (Intermediärgebiete). Diese Eintheilung ist keineswegs be¬
stimmt, meine ältere Unterscheidung von Sinnes- und Associations-
centren zu reetificiren, beziehungsweise zu ersetzen; das Eiutheilungs-
princip ist hier ein wesentlich anderes, als dort. Aus den allge¬
meinen Erfahrungen über die Entwicklungsfolge der Nervenfasern
folgt ja allerdings, dass die Primordialgebiete, welche theil weise vier
Monate früher markhaltige Fasern führen als die Terminalgebiete,
auch eine wesentlich andere Stellung im Gesammtsystem einnehmen
müssen. Indess kann nur durch die specielle Analyse jedes einzelnen
myelogenetischen Rindenfeldes die Besonderheit seiner Stellung dar¬
gelegt werden. Es kann diese Analyse aber mit Aussicht auf Erfolg
nur an der Hand von Methoden vorgenommen werden, welche
direct am menschlichen Gehirn ansetzen. Die ver¬
gleichend-anatomischen Methoden versagen, wie schon aus der ein¬
fachen Thatsache hervorgeht, dass der Hund etwa nur die Hälfte
der entwicklungsgeschichtlichen Rinde'nfelder zeigt (Dö liken) wie
der Mensch; 18 — 20 Felder des Menschen sind beim Hund überhaupt
nicht nachweisbar — mittelst der allein hier anwendbaren myelogene¬
tischen Methode ; die Behauptung, dass sie trotzdem vorhanden sind,
würde jeder thatsächlichen Grundlage entbehren. Er bleiben so neben
der Anatomie nur die pathologischen Erfahrungen am Menschen
übrig, um die Bedeutung der entwicklungsgeschichtlichen Rindenfelder
festzustellen.
Die Anatomie des ausgebildeten intacten Gehirnes gibt
nur wenig sichere Aufschlüsse, umsomehr die Anatomie des Fötus und
Neugeborenen. Hier lassen sich vor Allem nach einer Richtung
hin Unterschiede zwischen einer Anzahl von Rindenfeldern feststellen.
1. Es gibt 18 — 20 myelogenetische Felder, welche mit einem
wolilausgebildeten, leicht zu demonstrir enden Stabkranz aus¬
gestattet sind, und solche, wo der Nachweis einer Couronne ravonnante
weder am Kind, noch am Erwachsenen gelingt, wo sich der Stabkranz
also auch nicht später bildet, sondern niemals zur Entwicklung
gelangt.
2. Diese stabkranzfreien Gebiete sind reich an langen Asso¬
ciationssystemen, während diese Systeme in den stabkranzreiehen
Gebieten nur in geringer Menge Vorkommen.
3. Man kann demgemäss vom rein anatomischen Standpunkte
aus die Rindenfelder eintheilen in Projections- und Associationseentren.
Das Vorkommen vereinzelter Projectionsfasern in den Assoeiations-
centren macht diese Eintheilung nicht hinfällig, da die Benennung
a fortiori erfolgt. Nur der Nachweis, dass in beiden Feldergruppen
die langen Associationssysteme und die Projectionssysteme in annähernd
gleichen Proportionen vertreten sind, würde jene Eintheilung unhaltbar
machen. Für zahlreiche Felder ist aber bisher auch mittelst der secun-
dären Degenerationen der exacte Nachweis vereinzelter Projections¬
fasern nicht geführt, geschweige denn der Nachweis eines Kranzes
geschlossener Faserbündel, welche die Hirnrinde mit peripheren End¬
organen verbinden (Begriff der Projectionsfasern). Alle bisher publi-
cirten Angaben entgegengesetzter Art lassen Fehlerquellen ausser Acht,
welche ihnen jede Beweiskraft rauben.
Projectionscentren habe ich früher (vgl. : Die Lo¬
calisation der geistigen Vorgänge etc. Leipzig 1896,
Tafel) vier unterschieden; Körperfühlsphäre, Sehsphäre, Hörsphäre,
Riech- und Schmecksphäre. Diese Sphären sind nach meinen neueren
Befunden mit Ausnahme der Ilörsphäre aus einer grösseren Zahl myelo-
genetischer Rindenfelder zusammengesetzt, die Körperfühlsphäre aus
acht, die anderen aus je drei. Auch ist die Körperfühlsphäre (Tactil-
Gemeingefühl) etwas grösser, als ich es früher dargestellt, indem sie
im Gebiet der ersten Frontalwindung um einige Centimeter weiter
nach vorn reicht und auch der vorderste (circa 2 cm lange) Abschnitt
des Gyrus supramarginalis ihr zuzurechnen ist. Hiezu kommt als ein
weiteres später von mir erkanntes Projectionsfeld der Gyrus subangu-
laris (S. a. a. 0.). Jedes Sinnescentrum zeigt Besonderheiten im Bau
der Rinde.
Associationseentren habe ich zuerst vier unterschieden,
ein frontales, parietales, temporales und insuläres. Später habe ich das
parietale und temporale als hinteres grosses Associationscentrum zu¬
sammengefasst. Durch den Nachweis, dass im Gyrus subangularis ein
Projectionsfeld enthalten ist, reducirt sich die Verbindung beider
auf den hinteren Theil der ersten und zweiten Schläfenwindung; sie
fliessen also nicht in ganzer Breite zusammen, und man könnte inso¬
fern auch die alte Eintheilung in ein temporales und parietales Centrum
beibehalten.
Am parietalen und temporalen Centrum tritt ganz besonders
deutlich eine Gliederung in früher reifende „Randzonen“ und spät¬
reifende „Centralgebiete“ hervor. Am frontalen Associationscentrum ist
diese Gliederung gleichfalls angedeutet, aber complicirter gestaltet. Die
Randzonen liegen den Sinnescentren an und sind mit jeder derselben
durch zahlreiche Fibrae arcuatae verbunden. Insel und Präcuneus
scheinen nur aus Randzonen zu bestehen. Vielleicht bilden die
Randzonen insgemein Uebergangsformationen zwischen stabkranz¬
reichen und stabkranzfreien Gebieten. Gelegentlich, wenn auch sehr
selten, findet man in ihnen atypische Stabkranzbündel, welche
aberrirte Projectionsfasern der Sinnescentren darstellen. Einzelbefunde
dieser Art beweisen aber keineswegs das allgemeine und gesetzmässige
Vorkommen von Stabkranzbündeln in den Randzonen.
Die Centralgebiete der Associationseentren (besonders das
Mittelstück des Gyrus angularis, die dritte Temporal Windung, die
vordere Hälfte der zweiten Stirnwindung) sind allem Anscheine nach
Knotenpunkte langer Associationssysteme, während die Randzonen solche
spärlicher erkennen lassen. Die Centralgebiete sind sämmtlich Terminal¬
gebiete und am meisten für das menschliche Gehirn charakteristisch.
Ihre isolirte Zerstörung ist nie von sensiblen oder motorischen Aus¬
fallserscheinungen gefolgt. Reizungserscheinungen motorischer Art
können auch von ihnen ausgehen, sind aber als Fernwirkungen auf¬
zufassen.
Die Centralgebiete der Associationseentren sind Centren, welche
je mit mehreren, zum Theil mit allen Sinnessphären in mehr weniger
directer Verbindung stehen und deren Thätigkeit vermuthlich ver¬
knüpfen (associiren). Bei doppelseitiger Zerstörung zeigen sich stets
Intelligenzdefecte, besonders Associationsstörungen. Die Centralgebiete
sind demgemäss allem Anscheine nach von Bedeutung für das Zu¬
standekommen geistiger Thätigkeiten, für den Aufbau geistiger Gebilde,
an welchen mehrere Sinnesqualitäten betheiligt sind, z. B. Benennen
von Objecten, Lesen und dergleichen mehr. Indem diese Leistungen
besonders regelmässig bei Erkrankung der hinteren Associationseentren
leiden, bestätigt auch die klinische Beobachtung die Richtigkeit meiner
Eintheilung der Grosshirnrinde in Sinnes-(Projeetions-) und Associa-
tionscentren.
III. Hitzig (Halle): Ueber die Projections- und
Associationseentren des menschlichen Grosshirns.
Die Lehre des Herrn Flechsig über die Existenz von Pro¬
jections- und Associationseentren, die auf der Grosshirnrinde eine ver¬
schiedene Function haben sollen, gründet sich auf Folgendes:
1. Auf die behauptete Existenz von Projectionsfasern in den
ersteren, die Abwesenheit von Projectionsfasern in den letzteren.
Diese Behauptung kann in ihrer ganzen Ausdehnung nicht auf¬
recht erhalten werden, in Anbetracht dessen, dass Herr Flechsig
sie selbst für einen Theil seiner Associationseentren aufgegeben hat,
und dass andere Forscher angeben, auch in dem Rest der Associations-
centren Projectionsfasern gefunden zu haben. Aber es scheint sicher,
dass bestimmte Gebiete der Hirnrinde eine weit geringere Anzahl von
Projectionsfasern besitzen als die anderen. Diese letzteren sind in mehr
oder weniger directer Verbindung mit den Endigungen der sensiblen
oder der Sinnesnerven.
2. Auf die gesetzmässige chronologische Markscheidenentwicklung
der Projections- und Associationseentren ebenso wie die der ver¬
schiedenen Projectionscentren im Besonderen.
Diese Behauptung kann ebensowenig in ihrer ganzen Aus¬
dehnung aufrecht erhalten werden, in Anbetracht dessen, dass Herr
Flechsig selbst individuelle Verschiedenheiten gefunden hat, die er
allerdings pathologischen Einflüssen zuschreibt, während seine Gegner
sie mit demselben Recht noch in das physiologische Gebiet rechnen.
Es folgt daraus, dass dieses entwicklungsgeschichtliche Gesetz
zwar in seinen grossen Zügen wohlbegründet ist, aber auch zu un¬
bedingt aufgestellt wurde.
3. Auf die Verschiedenheit der anatomischen Structur der
Projectionscentren unter einander und gegenüber den Associations-
centren.
Die Ansichten der verschiedenen Forscher über diese Thatsachen
sind so widersprechend, dass es unmöglich ist, sich über sie eine
abschliessende Meinung zu bilden.
Die Aufgabe der Sinnescentren sucht Herr Flechsig in der
Wahrnehmung der Reize, die von den verschiedenen Sinnesflächen
ausgehen und der Association derselben zu geistigen Bildern. Er be¬
weist diesen Satz durch Schlüsse aus pathologischen Beobachtungen,
wie die Tactlähmung, die sensorische Aphasie etc. Diese Ansichten
entsprechen im Allgemeinen den unserigen.
Die Aufgabe der Associationseentren findet Herr Flechsig in
der Bewahrung der Erinnerungsbilder, ferner in der Reproduction und
Association derselben, sei es durch Erregung benachbarten Sinnes¬
centren, sei es vielleicht durch Erregung der anderen Associations.
746
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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centn n. Er sieht sie also als die eigentlichen geistigen Centren und
Denkorgane an.
Die Ansichten des Herrn Flechsig über diesen Gegenstand
erscheinen für den Augenblick hypothetisch. Die Hypothese von
Erinnerungsbildern, die in bestimmten Zellgmppen localisirt sein sollen,
ist völlig unbewiesen.
Abgesehen von den erwähnten Vorbehalten müssen die Arbeiten
des Herrn Flechsig und seine hauptsächlichen Ideen zweifellos als
ein wesentlicher Fortschritt in der Erkenntniss der Structur und der
Functionen des Denkorganes anerkannt werden. Es würde dies noch
in weit höherem Grade der Fall sein, wenn er sich mit mehr Zurück¬
haltung und weniger absolut ausgesprochen hätte.
IV. Monakow (Zürich): Ueber die Projections- und
die Associationscent ren.
Die Lehre F 1 e c h s i g’s von den Associations- und den Pro-
jectionscentren aus dem Jahre 1895 ist durch die neueren Mittheilungen
desselben Forschers (Neurologisches Centralblatt. 1898) wesentlich
inodificirt und erweitert worden. In dieser neuen Arbeit, die einen
entschiedenen Fortschritt in entwicklungsgeschichtlicher Beziehung
bedeutet, theilt Flechsig die Grosshirnoberfläche in circa 40 zeitlich
verschieden sich mit Mark umhüllende Felder ein, auch gibt er hier
manche bei ihm früher verfochtene Anschauungen wieder frei. Die
principiellen anatomischen Unterschiede zwischen den Projections- und
den Associationscentren erscheinen nur etwas verwischt (zwischen diese
beiden schieben sich die sogenannten Intermediärgebiete ein, welche
eine Zwischenstellung einnehmen), und die anatomische Fragestellung
gewinnt nunmehr die Fassung: Treten die Projectionsfasern gegenüber
den Associationsfasern in den Associationscentren um vieles mehr
zurück als in den Sinnescentren ? Die Primordialgebiete zeigen nach
Flechsig auch eine besondere Rindenstructur.
Die Resultate, zu denen Referent gelangt ist, sind folgende :
Die Summe der im Stabkranz vereinigten Projectionsfasern, auf
die ganze Grosshirnfläehe vertheilt, lässt von vorneherein directe Ver¬
bindungen nur mit einer relativ kleinen Anzahl von corticalen Punkten
zu. In allen Windungen bilden die Componenten der Projectionsfasern
einen nur kleinen Bruchtheil der gesammten Fasermasse der Mark¬
substanz. Es sind daher projectionsfaserlose Strecken an der ganzen
Hirnoberfläche (von verschieden grosser Circumferenz und in einander
übergehend), in Hülle und Fülle vorhanden. Man kann die Gesammt-
summe der projectionsfaserlosen Rindenpartien als Asscciationseentren
bezeichnen im Gegensatz zu den zerstreut liegenden Projections-
sammelpunkten (Loci), eine halbwegs scharfe Abgrenzung zwischen
den an Projectionsfasern armen und reichen Territorien ist aber nicht
durchführbar, auch konnte sich Referent ebensowenig wie andere
Forscher von grundsätzlichen anatomischen Differenzen zwischen den
beiden Hemisphärenterritorieu überzeugen. Uebrigens sind projections-
faserarme Partien, wenn auch geringeren Umfanges, in anderen Hirn-
t heilen (centrales Höhlengrau) in denen es bisher nicht üblich war
Projections- und Associationscentren zu unterscheiden, vorhanden.
Die Art der Gliederung der Fasern im Grosshirnmark ist sicher
keine ganz einheitliche ; die Eintheilung nach Flechsig, welche von
den Projectionsfasern nur die der Sinnesleitungen näheren berücksichtigt,
trägt aber den vielfachen anatomischen Postulaten in der Organisation
des Grosshirns zu wenig Rechnung. Referent vermisst in ihr die Re¬
präsentation des Kleinhirns, der Substantia nigra, des rothen Kerns,
mancher Abschnitte des Sehhügels (Pulvinar) etc., deren Einstrahlungs¬
zonen mehrfach in die von Flechsig zu eng begrenzten Sinnes¬
sphären übergreifen. Der Localisation nach embryologischen Gesichts¬
punkten ist die Localisation nach Repräsentation), der infracorticalen
Kerne (der sogenannten „Grosshirnantheile“ des Referenten) deren
Projectionsfasern vielfach in die Associationscentren (von Flechsig)
mit hiueiustrahlen, an die Seite zu stellen. Die Vertheilungs weise der
Projectionsfasern im Cortex ist eine sehr verschiedene und unterliegt
individuellen Schwankungen. In den Primordialgebieten liegen die
Projectionsbiindel höchst wahrscheinlich viel dichter als in anderen
Rindengebieten (Flechsig).
Die Methode des Studiums der Markscheidenbildung reicht, so
blendend ihre Resultate auf den ersten Blick auch sind, bei Weitem
nicht aus, um das Problem der feineren Organisation der Neurone im
Grosshirn nach physiologischen Gesichtspunkten zu lösen. Bei den
zahlreichen individuellen Schwankungen in der zeitlichen Reihenfolge
der Markreifung ist das bis jetzt vorliegende Beobachtungsmaterial zu
dürftig, um (über den richtigen Grundgedanken, dass die Entwicklung
der Sinnescentren im Allgemeinen derjenigen der dem Intellect zur Grund¬
lage dienenden Riudenabschnitte vorausgehe, hinaus) eigentliche Gesetze,
die der feineren Entwicklung der Bahnen und Ceutren zu Grunde
liegen, abzuleiten. Die Annahme, dass die höheren seelischen Functionen
vorwiegend in besonders abgetrenuten Rindeniuseln constigmatischer
Stiuctur ( Verstandescentren) sich abspielen, ist nicht haltbar, man muss
sich vielmehr die der geistigen Arbeit dienenden Elemente über die
ganze Rinde ausgebreitet denken. Es gibt aber sicher für die geistige
Arbeit nothwendige anatomische und architektonische Vorbedingungen
(complicate Zusammenfassungen nach noch unbekannten Ordnungen),
deren Structuren bald in diesen bald in jenen Windungen dominiren.
Referent möchte der F 1 e c h s i g’schen Theorie, nach welcher
sämmtliche Projectionsfasern einer corticalen Sinuesleitung ungefähr
gleichzeitig sich mit Mark umhüllen, eine andere Betrachtungsweise
bezüglich der Reihenfolge in der Reifung und des Ausbaues der ver¬
schiedenen Bahnen und Centren gegenüberstellen, eine Betrachtungs¬
weise, die den Neuronencomplex zur architektonischen Einheit hat. Es
wäre denkbar, dass die Markentwicklung von einem gewissen Stadium
aus neuronencomplcxweise erfolgen würde, immerhin aber so, dass die
einzelnen Componenten innerhalb des Neuronencomplexes von anderen
überholt würden. Unter Neuronencomplex versteht Referent die Summe,
der sich gliedartig (im Sinne der Meyner t’schen Projectionsordnungen)
aneinander reihenden und corticalwärts progressiv an Zahl zunehmenden,
reicher ausgestalteten Neuronenindividuen (Projections- und Associations-
zellen), die beim Erwachsenen für das Zustandekommen einer nervösen
Action (z B. Lichtemptindung im Minimum) nothwendig sind. Eine
Sinnesbahn setzt sich aus einer grossen Summe von in- und aneinander
gefügten gleichartigen Neuronencomplexen zusammen, deren am meisten
central gelegenen zuerst, die mehr in der Peripherie gelegenen später
mit Mark sich umhüllen.
V. Neiaser (Leubus) : Ueber Irrenbehandlung.
Die Einführung der Bettbehandlung bedeutet
den letzten und definitiven Schritt in der Beur-
theilung und Behandlung der Irren als Kranker. In
unzweideutigerWeise wird durch dieselbe der Kran¬
kenhauscharakter der Irrenanstalt auch äusser-
lich aufgeprägt, eine wirklich sachgemässe Kran¬
kenpflege gewährleistet und in der Therapie (na¬
mentlich der acuten Psychosen) den physiologischen
Gesichtspunkten Rechnung getragen.
Es empfiehlt sich gesondert zu behandeln die Bettbehand¬
lung als therapeutische Einzelanordnung und d i e
Bettbehandlung als Anstaltsregime. Ueber letztere möge
zuerst gehandelt werden, da zwar das Regime sich aus der Gesammt-
heit der Einzelacordnungen zusammensetzt, die Bettbehandlung des
Einzelnen aber in der Durchführung von der Gestaltung des Anstalts¬
ganzen im Wesentlichen abhängig ist.
a ) Die Bettbehandlung als Anstaltsregime.
1. Das allgemeine Princip möchte ich, sowie früher, dahin formu-
liren, dass alle Elemente, deren Haltung und äusseres Benehmen un¬
geordnet, erregt oder überhaupt auffällig ist, mögen sie melancholisch,
maniakalisch, hallueinatorisch verwirrt, Paranoiker, Epileptiker, Para¬
lytiker, oder einfach Demente sein, am besten im Bett aufgehoben
sind. Sie mögen, wenn der Arzt es für angezeigt hält, zur
Theilnahme an Arbeit und Zerstreuungen, zum Gartenbesuch oder viel¬
leicht zum Essen das Bett verlassen, aber ihr stumpfes Umherhocken
oder ungeregeltes Durcheinanderwirbeln auf Corridoren und in den
Aufenthaltsräumen ist unbedingt zu verpönen und durch die Bettruhe
zu ersetzen. *)
2. Die Bettbehandlung beginnt unmittelbar nach der Aufnahme
des Kranken in die Anstalt, beziehungsweise nach dem sich daran an¬
schliessenden Bade. Da auf alle Fälle für die genaue Untersuchung
des Arztes bei der Visite der Kranke zu Bett liegen muss, so bedarf
es für diese erste Anordnung keiner besonderen therapeutischen Indi¬
cation. Mit anderen Worten: Die Bettbehandlung ist das zunächst
selbstverständliche Anstaltsregime, ihre Unterbrechung für Zeit oder
ihre Aufhebung im Einzellfall bedarf der besonderen Anordnung des
Arztes.
3. Da durch die Bettbehandlung die nothwendige Aufsicht und
Pflege erleichtert, in vielen Fällen sogar erst ermöglicht wird, so k a n n
ihre Anwendung aus diesen curativen Gesichtspunkten und im Interesse
des Ganzen auch bei solchen Kranken geboten sein, wo eine directe
therapeutische Einwirkung nicht oder nicht mehr zu erhoffen ist.
(Fortsetzung folgt.)
’) Gewisse Angriffe zwingen mich zu einer persönlichen Anmerkung:
Niemals habe ich die Meinung zu erwecken gesucht, als stamme die thera¬
peutische Anwendung der Bettruhe bei psychischen Erregungszuständen von
mir her. Im Gegeutheil habe ich in meinen Publicationen mit Wärme Die¬
jenigen gefeiert, welchen diese segensreiche Therapie zu verdanken ist. Was
ich aber ausser der, zu meiner Freude erfolgreichen Propaganda und ab¬
gesehen von verschiedenen Einzelheiten unbedingt für mich in An¬
spruchnehmen muss, das ist: die Bettbehandlung als
durchgreifendes Anstalts regime aufgestellt und ge¬
zeigt zu haben, dass dasselbe auch in Anstalten alten
Styles in vollstem Umfange irnd mit einem Schlage
durchführbar ist.
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien,
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, O. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner,
M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann,
R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, G. Toldt, A. v. Yogi,
J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuekerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gussenbauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft derAerzte in Wien.
Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VII 1/1, Wickenburggasse 13.
9
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Die „Wiener klinische
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erscheint jeden Donnerstag
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Verlagshandlung :
Telephon Nr. 6094.
XIII. Jahrgang.
Wien, 16. August 1900.
Nr. 33.
XnSTHC^l^T:
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel: 1. Aus dem Spitale der Allgemeinen Poliklinik in
Wien. Zur Lehre vom pulsirenden Exophthalmus. Von Dr. Ro¬
muald Keschmann, chirurgischem Spitalsassistenten.
2. Aus der chirurgischen Universitätsklinik zu Athen (Director Prof.
M a n g h i n a s). Zur Casuistik der Echinococcusgeschwülste. Von
Docent Dr. D. Ko kor is, Assistenten der Klinik.
II. Referate: I. Das Sanitätswesen während des spanisch-amerikanischen
Krieges im Jahre 1898. Von Dr. Johann Steiner. II. Ver¬
öffentlichungen aus dem Gebiete des Militärsanitätswesens. Von Dr.
Knaak. Ref. Habart. — I. Ueber die therapeutische Beeinflussung
der Expectoration durch die Heilmittel der Hypurgie. Von Prof. Dr.
Martin Mendelsohn. II. Die geschichtliche Entwicklung
der wissenschaftlichen Krankenpflege. Von Dr. Iwan Bloch.
III. Untersuchungen über das Schlucken in verschiedenen Körper¬
lagen und seine Bedeutung für die Krankenpflege. Von Martin
Mendelsohn und Hermann Gutzmann. Ref. Hinter¬
berger.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Therapeutische Notizen.
V. Vermischte Nachrichten.
VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
Aus dem Spitale der Allgemeinen Poliklinik in Wien.
Zur Lehre vom pulsirenden Exophthalmus.
Von Dr. Romuald Keschmann, chirurgischem Spitalsassistenten.
Seit Travers im Jahre 1813 einen Fall von pulsiren-
dem Exophthalmus beschrieb, erschienen hie und da Berichte
über einschlägige Fälle aus allen Ländern, so dass Sa 1 1 1 er1)
im Jahre 1880 im Stande war, in einer sehr ausführlichen
Arbeit (» Pulsirender Exophthalmus«) im Graefe-Saemisch-
schen Handbuch eine Tabelle über 106 Fälle zu veröffent¬
lichen. Bedenkt man aber, dass diese Fälle aus den Jahren
1813 — 1880 und zwar aus allen Ländern umfasste, in denen es
eine medicinische Literatur gibt, so muss man zugeben, dass
die in Rede stehende Erkrankung eine recht seltene ist. Es ist
daher auch erklärlich, dass die Lehre von der Aetiologie und
Therapie des pulsirenden Exophthalmus viele Wandlungen
durchmachte, und auch jetzt noch manche Symptome nicht
völlig klargestellt sind.
Die Annahme Travers’, dass es sich um ein »Aneu¬
rysma per anastomosin« (Aneurysma cirsoideum oder arteriale
racemosum nach der neueren Nomenclatur) handle, wich bald
der Lehre von Bus k, der die Hauptrolle in der Pathogenese
den wahren Aneurysmen der Arteria ophthalmica — einem
äusserst seltenen Vorkommniss — zuschrieb. Auf Grund von
vier von ihm selbst beobachteten Fällen lehrte Nunneley,
dass der pulsirende Exophthalmus theils durch Aneurysmen
der Arteria ophthalmica, theils durch Ruptur der Carotis in¬
terna im Sinus cavernosus entstehe. Er gab aber später (1864)
zu, dass die Ursache meist intercraniell sitze. Später folgten
die Arbeiten von Rovington, N ela ton und Schläfke2)
und schliesslich die Arbeit Sattle r’s, die immer mehr der
Lehre zum Durchbruche verhalfen, dass die häufigste
Ursache des pulsirenden Exophthalmus eine
Ruptur der Carotis interna innerhalb des Sinus
cavernosus sei, und dass dieser gegenüber alle anderen
anatomischen Befunde als Raritäten anzusehen seien.
Seit dem Jahre 1880 liegen wieder mehrere Berichte
über diese Erkrankung vor; wenn ich nun einen kürzlich be¬
obachteten Fall veröffentliche, so geschieht dies einerseits, weil
Beobachtungen von pulsirendem Exophthalmus hierzulande
überhaupt sehr selten zu sein scheinen, andererseits, weil unser
Fall durch das Zusammentreffen mehrerer seltener Symptome
zu einem ganz singulären gemacht wird.
Unter den bei Sattler erwähnten sechs Fällen be¬
fanden sich:
25 Fälle aus England,
21 » » Frankreich,
16 » » Nordamerika und
13 » » Deutschland.
Oesterreichische Publicationen über dieses Thema finde
ich aus der Periode 1813—1880 überhaupt nicht angegeben.
Seit 1880 wurde offenbar das Interesse, das man in deutschen
Ländern diesem Krankheits- oder richtiger Symptomenbild ent¬
gegenbrachte, viel reger, denn unter 88 Fällen der zwei letzten
Decennien befinden sich 30 aus Deutschland, aber nur sechs *)
aus Oesterreich. Es ist daher wohl berechtigt, wieder einen
Fall trotz der bereits reichhaltigen Literatur zu puhliciren,
selbst wenn er nicht in so vielen Symptomen von den Schul¬
fällen sich unterscheiden würde, wie der folgende:
Anamnese: K. H., 14 Jahre alt, wird zur Operation
(wegen Entstellung des Gesichtes) am 20. Juni 1900 in das Spital
gebracht (Abtheilung des Herrn Docenten A. F raenke 1).
*) Der am 6. April d. J. von Herrn Dr. K a r p 1 u s in der hiesigen
Gesellschaft der Aerzte demonstrirte Fall gehört nicht dazu; es fehlte vor
Allem das Symptom der Pulsation des Bulbus. u)
748
WIENER KLINISCHE WOCH ENSCH RIET. 1900.
Nr. 83
Vor zwölf Jahren — also im Alter von zwei Jahren —
stürzte der Knabe aus dem Fenster auf die Stiasse (Fallhöhe über
2 m) und schlug dabei mit der rechten Kopfseite gegen das Pflaster
an. Angeblich entstand keine äussere Verletzung, auch traten keine
Symptome von Gehirnerschütterung oder einer schweren Störung
des Allgemeinzustandes auf. Der Knabe soll sich wenige Minuten
nach dem Sturz ganz wohl befunden, und erst eine Woche später
»zwei Tage lang gefiebert und phantasirt« haben.
Schon nach einigen Monaten fiel dem Vater die Verdickung
des rechten oberen Augenlides auf, welches allmälig immer tiefer
herabhing; im Verlaufe der folgenden Jahre wurde er auch auf die
immer ausgeprägter werdende Asymmetrie des
Gesichtes aufmerksam.
Seit dem Trauma soll das Kind stets gesund gewesen sein,
nie an Krämpfen oder Schwindel gelitten haben; es blieb aber in
seiner geistigen Entwicklung etwas zurück (absolvirte während des
schulpflichtigen Alters nur zwei Volksschulclassen). Patient klagte
nie über ein Sausen oder Zischen im Kopfe; der
einzige Grund, warum der Vater ärztliche Hilfe sucht, ist die Ent¬
stellung des Gesichtes durch die Ptosis des rechten oberen
Augenlides.
Status praesens vom 25. Juni 1900: Schwächlicher,
für sein Alter kleiner Junge; afebril; klagt weder über Schmerzen,
noch über Sausen im Kopfe.
Zunächst fällt die Asymmetrie des Kopfes und be¬
sonders die des Gesichtes auf. Das rechte Scheitelbein ist
in seinem vorderen Antheile weniger gewölbt, als das linke; das
rechte Stirnbein ist vorne flacher, zeigt aber nach der Seite zu
eine 1 */2 cm nach aussen vom äusseren Augenwinkel und 1 '/2 cm
oberhalb desselben beginnende Prominenz, die bei einem Durch¬
messer von circa 3 cm die Umgebung an ihrem höchsten Punkte
um Y| cm überragt. Sie ist knochenhart, höckerig, und gehört nebst
dem Stirnbein auch dem Scheitel- und Schläfen(?)bein an.
Unter dieser Hervorragung palpirt man durch die unverändert
scheinenden Weichtheile eine Grube von Dreieckform; die untere
Begrenzung wird vom Joclibogen gebildet, nach innen zu begrenzt
sich die Grube mit einer etwa 2 cm langen Knochenleiste (hinterer
Rand des Processus zygomaticus ossis frontis, respective des Pro¬
cessus frontalis ossis zygomatici). Die obere, mit der unteren vor
dem Ohre zusammentreffende knöcherne Grenze erweist sich als
eine nach innen unten eingezogene Knochenplatte. Jn dieser Grube,
die vorne am tiefsten zu sein scheint, ist nirgends eine Pulsation
zu fühlen.
Die Untersuchung mit Röntgen-Strahlen ergab, dass
die beschriebene Protuberanz nur dem Knochen angehört und in
das Schädelinnere nicht hineinragt.
Der Abstand des Margo supraorbitatis vom Margo infraorbi-
talis ist rechts um Y2 cm grösser, als links.
Auf den ersten Blick erscheint die rechte Wange voller als
die linke, was auf einer stark ausgebildeten Asymmetrie des
Unterkiefers beruht. Die Entfernung der Protuberantia men¬
talis vom linken Angulus mandibulae beträgt 9c»i, die vom rechten
nur 7‘/2c»i; auch scheint der Körper des Unterkiefers rechts etwas
dünner zu sein, als links. Rechts sind weder oben, noch unten
Mahlzähne entwickelt, auch stehen die Zähne rechts oben unregel-
massig angeordnet.
Die untere Zahnreihe ist gegen die obere um
Y.i cm nach rechts verschoben. Der Patient kann den Unter¬
kiefer leicht nach rechts, kaum aber nach links bewegen. Die Zunge
wird gerade vorgestreckt, ihre linke Hälfte ist dicker als die rechte,
welche — in geringem Grade — hypästhetisch ist. Gaumenreflex
beiderseits vorhanden, gleich stark.
Der rechte Musculus temporalis ist schwächer, als der linke;
in noch höherem Grade tritt die Atrophie des rechten
Masseter hervor.
Bei Kaubewegungen und bei elektrischer Reizung contrahiren
sich beide Muskeln, bei letzterer muss aber der Strom für die
rechte Seite verstärkt werden. Keine Entartungsreaction der atrophi¬
schen Muskeln. Alle Aeste des Facialis frei. Die Sensibilität ist bei
tactiler und elektrischer Prüfung auf beiden Seiten gleich, bis auf
eine geringe, nicht constante Ilypalgesie der rechten Wange und
die erwähnte Hypästhesie der rechten Zungenhälfte. (Vornahme der
elektrischen Untersuchung durch Herrn Docenten Mannaberg.)
Bei der Betrachtung des Gesichtes fällt ferner auf, dass der
Canlhus internus rechts etwas tiefer liegt, als links; die Verbindungs¬
linie des inneren und des äusseren Augenwinkels verläuft rechts
schräg nach aussen unten.
Das rechte Auge erscheint nach vorne und
unten verdi’ ä n g t, seine Beweglichkeit beim Blick nach aussen
und nach oben eingeschränkt.
Der Bulbus ragt um circa 3 mm weiter vor, als
der linke, und pulsirt synchron mit dem Radialis-
puls. Die Pulsation wird bei tiefer Exspiration stärker, bei Com¬
pression der rechten Carotis schwächer, ohne ganz aufzuhören;
beim Vornüberneigen des Kopfes ändert sich die Pulsation nicht.
Bei der Auscultation der Umgebung des rechten Bulbus hört
man nirgends ein Sausen oder Blasen.
Die Tarsoorbitalfalte ist verstrichen; das auffallend stark
braun pigmentirte obere Augenlid ist stark verdickt
und hängt, namentlich in seinem lateralen Antheile, tief
herab. Die Conjunctiva ist mächtig verdickt, diffus injicirt, und
ist als länglicher Wulst, der nach innen zu rasch abnimmt, vor¬
gestülpt. Die Lidspalte ist nur in ihrem medialen Theile offen, da
der beschriebene Wulst der Conjunctiva palpebr. sup. einen Theil
der Palpebr. inf. bedeckt. Das untere Augenlid ist diffus, aber
mässig verdickt, so dass der Margo infraorbitalis in der Gesichts-
configuration nicht zum Ausdruck kommt.
Die Lidspalte kann leicht vollkommen geschlossen werden,
auch kann Patient rechts die Lider fast ebenso fest zusanunen-
kneifen, wie links. Durch die Verdickung des oberen Lides wird
die mediale Vereinigungsstelle beider Lider so weit nach aussen
gezogen, dass der Uebergang des oberen in das untere Lid in einer
bogenförmigen Hautfalte erfolgt, welche die Caruncula lacrymalis
und die Plica semilunaris bedeckt.
Die Conjunctiva palpebrarum gerüthet und — besonders
oben — geschwollen.
Die Conjunctiva bulbi zeigt conjunctivale und ciliare In¬
jection.
Die Cornea ebenso gross wie links, normal gewölbt, glatt,
glänzend und durchsichtig. Cornealreflex gegen links nicht wesent¬
lich herabgesetzt.
Auffallend ist ferner, dass die Pupille rechts um die
Hälfte weiter ist, als links; beide Pupillen reagiren, die rechte
etwas langsamer, auf Licht und Accommodation.
Tension beider Augen gleich.
Rechts besteht (Untersuchung durch Herrn Prof. v. Reuss)
Myopie von 20 D; Fingerzählenin 2 m. Medien rein; die Papille
von einer ringförmigen atrophischen Partie der Chorioidea umgeben.
Arterien dünner als links; Papille vielleicht etwas
blässer, keine Erweiterung oder Pulsation der
Netzhautgefässe sichtbar.
Ohrenbefund ( Dr. Arthur Singer): Sowohl die Unter¬
suchung des Trommelfells, als auch die Hörprüfung ergeben voll¬
kommen normale Verhältnisse.
Die wesentlichsten Symptome dieses Falles sind also:
1. Die partielle Verdickung des Stirn- und Schläfen¬
beines, die Abflachung des ersteren und die über dem Joch¬
beine gelegene Einziehung des Schädelgerüstes.
2. Die Abflachung des Stirnbeines und die Verkürzung
des rechten Theiles des Unterkiefers.
3. Parese des M. pterygoideus internus dexter und
Atrophie des M. temporalis und Masseter derselben Seite;
Atrophie und Hypästhesie der rechten Zungenhälfte.
4. Pulsirender Exophthalmus ohne subjective oder objec¬
tive Geräusche; die Pulsation wird durch Compression der
Carotis communis abgeschwächt, aber nicht aufgehoben.
5. Tiefstand des rechten Auges.
6. Ptosis und Ektropium des oberen Augenlides; Parese
des Musculus rectus superior und externus.
7. Hochgradige Myopie des rechten Auges.
8. Fehlen der gewöhnlich bei pulsirendem Exophthalmus
vorkommenden Veränderungen am Äugenhintergrund, der hier
nur die bei typischer Myopie vorkommenden Erscheinungen
darbietet.
Gewöhnlich werden als Cardinalsymptome des
pulsirenden Exophthalmus angegeben :
N r. 33
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
749
Protrusion des Bulbus, Pulsation desselben und
in der Umgebung des Auges hörbare, mit dem Puls synchrone
oder intermittirende Geräusche. Das letzte Symptom
kann — und das macht unseren Fall besonders interessant
— auch fehlen. Unter 106 Fällen, die S a 1 1 1 e r zusammen¬
stellte, befinden sich nur fünf, in welchen die Patienten über
das höchst lästige Sausen im Kopfe nicht klagten, obwohl von
den Beobachtern (N 61 a ton, T hi baut, Oettingen,
Schmidt-Rimpler und Landsdowne) objecti v hörbare
Geräusche angegeben wurden. In einem einzigen von Sattler
selbst beobachteten Falle waren weder subjective, noch ob¬
jective Geräusche vorhanden. Unter den 91 Fällen der Jahre
1880 — 1900, über welche mir Berichte zur Verfügung standen,
war nur einmal angemerkt, dass keine Geräusche hörbar waren,
der Patient aber über ein schwaches Sausen im Kopfe klagte
(Graefe3); in einem Falle (BullerJ) finde ich angegeben,
dass weder subjective, noch objective Geräusche vorhanden
waren.
Sattler bezog in seinem Falle die Erkrankung auf ein
Angiom der Orbita, während die zwei letztgenannten Autoren
sich über die anatomische Ursache nicht aussprechen. Fast
vollkommen übereinstimmend mit dem beschrie¬
benen Falle erscheint ein von Israel5) im Jahre
1891 vorgestellter, indem er auch eine bedeutende trophi-
sche Störung in Form einer completen halbseitigen Gesichts¬
atrophie zeigte ; doch waren in diesem, sowie in einem zweiten
Falle Israel’s: 1. in der Umgebung des Bulbus Stränge zu
fühlen, die als Ausläufer eines blutreichen, pulsirenden Tumors
angesehen werden müssen, und 2. viele kleine Naevi und An-
giome über den ganzen Körper vertheilt, so dass die Diagnose
und auch der congenitale Ursprung der Krankheit mit Sicher¬
heit ausgesprochen werden konnte.
Von vornherein muss man bei einem von dem gewöhn¬
lichen so sehr verschiedenen Symptomenbild daran denken,
dass nicht die gewöhnliche anatomische Grundlage vorliegen
werde; das wurde denn auch in einigen Fällen bestätigt.
Bei einem Aneurysma arterio- venosum im
Sinus cavernosus, entstanden durch Ruptur der
Carotis interna innerhalb dieses Blutleiters (der häufigsten
Ursache des pulsirenden Exophthalmus auch nach den Er¬
fahrungen der letzten Jahre), oder bei einem echten Aneu¬
rysma d'erArteria ophthalmica innerhalb oder hinter
der Orbita werden wohl stets laute oder leise, beständig oder
intermittirend auftretende Geräusche hörbar sein oder vom
Patienten empfunden werden. Auch ist in diesen Fällen der
Erfolg der Carotiscompression grösser, als in unserem Falle.
Ich glaube daher diese zwei Ursachen hier ausschliessen zu
müssen. *)
Von anderen Ursachen wurden angeführt: Zerreis-
s u n g der Art. ophthalmica im Canalis opticus
als Folge einer Schädelbasisfractur (in einem solchen Falle
müssten sich alle Symptome rasch und unter schwerer Störung
de3 Allgemeinbefindens entwickeln); ferner vasomotorische
Störungen, die wohl die anatomische, respective functionelle
Ursache jener Fälle gewesen sein mögen, bei denen nach
psychischen Insulten Spontanheilung eintrat, oder bei jenen, in
welchen die Pulsation intermittirend auftrat.
Weiters wurden beobachtet, respective durch Obductionen
klargestellt, Fälle von Aneurysmata cirsoidea in der
Orbita, »encephaloiden Tumoren«, cavernösen
oder plexiformen Angiomen der Orbita und schliess¬
lich Fälle von pulsirenden Encephalocelen.
Unter der etwas unklaren Bezeichnung »encephaloide
lumoren« verstand man meist blutreiche Sarkome; bei der
langen Dauer der Erscheinungen (zwölf Jahre) ohne irgend
welche Zeichen eines malignen Tumors kann man ein solches
hier nicht annehmen.
Bei einem Aneurysma cirsoicleum müsste man in der Um¬
gebung des Bulbus in der Orbita Stränge oder weiche Tumoren
*) ®’n echtes Aneurysma der Carotis int. im Sinus cavernosus war
wiederholt zufälliger Sectionsbefund; bei den betreffenden Patienten bestand
niemals pulsirender Exophthalmus. Die Thrombose des Sinus cavernosus
mit nur einfachen (nicht pulsirenden) Exophthalmus hervor.
tasten können, was bei unserem Patienten selbst in Narkose
(bei der am 26. Juni an ihm vorgenommenen Operation) nicht
gelang.*)
Per exclusionem muss man wohl die Dia¬
gnose stellen: Retrobulbäres Angiom oder pul-
s i r e n d e Encephalocele der Orbita. Bei letzterer wäre
wohl auch kein Geräusch zu hören, würde die Pulsation bei
Compression der Carotis einer Seite nicht aufhören, sondern
kaum schwächer werden; trotzdem ist diese Ursache aus
mehreren Gründen auszuschliessen:
1. Eine angeborene Encephalocele ist hier wegen des
offenbaren Zusammenhanges der Erkrankung mit einem im
zweiten Lebensjahre erlittenen Trauma, sowie auch deshalb
nicht anzunehmen, weil die angeborenen Exophthalocelen der
Orbita sich fast immer in der Umgebung der Thränenbeines
entwickeln.
2. Eine traumatische pulsirende Encephalocele dürfte
aussen hinten in der Orbita — dorthin müssen wir wohl den
Sitz des Tumors verlegen — selten Vorkommen; auch ver¬
lieren diese Geschwülste immer im Laufe der Zeit die Pul¬
sation, die übrigens bei Encephalocelen auch vom Anfang an
fehlen kann.
3. In unserem Falle treten bei Zurückdrängung des
Bulbus in die Orbita weder Schmerz, noch Zeichen von Hirn¬
druck auf.
4. Ist der Erfolg der Carotiscompression bei einem Pro¬
lapsus cerebri gewiss noch geringer, als bei unserem Pa¬
tienten.
Ich glaube, dass die Annahme eines retrobulbären Angioms
die einzige ist, die bei der Erklärung der Symptome unseres
Falles möglich ist.
Die Frage, ob Angiome der Orbita Vorkommen, welche
pulsirenden Exophthalmus hervorrufen, ist nach mehreren Be¬
obachtungen, darunter der Fall von F r o t hr i n gai n 6) (mit
Obduction) entschieden zu bejahen. Aus den letzten Jahren
liegen Beobachtungen von (zum Theile traumatischen)
Angiomen der Orbita von G u s s e n b a u e r 7), Fialkowski
u. A. vor.
Von den früher unter 1 — 8 aufgezählten wichtigsten
Symptomen wären die Veränderungen der Schädelform und
die Deformität der Gesichtsknochen theils als directe Folge
des Traumas, theils vielleicht als trophische Störung anzusehen.
Die Atrophie des Masseter, des M. temporalis und der rechten
Zungenhälfte, sowie die geringe Herabsetzung der Sensibilität
müssen von einer Läsion des zweiten Astes des
Trigeminus abhängig sein. Die unter 4—6 aufgezählten
Symptome werden durch den Druck des Angioms auf
die entsprechenden Nerven und Gefässe (N. ab du eens,
Ramus superior, Nervi oculomotor ii und Vena
ophthalmica) hervorgerufen.
Auffallend ist die hochgradige Myopie des rechten Auges;
Störungen des Sehvermögens kommen bei pulsirendem Exoph¬
thalmus sehr oft vor, seltener Anomalien der Accommodation,
und zwar wurde in den wenigen derartigen Fällen Hyper¬
metropic — bedingt durch den Druck des Angioms oder
Aneurysmas auf den Bulbus und Verkürzung der Augenachse
— beobachtet. Bei unserem Patienten bleibt wohl nichts übrig,
als wegen der hochgradigen Myopie des rechten Auges eine
Achsenverlängerung des Auges durch Zerrung
des Sehnerven anzunehmen. Diese wäre möglich, wenn
das Angiom an der Spitze der Orbita, knapp beim Foramen
opticum, oder hinter der Orbita liegen würde.
Die letztere Annahme würde auch die weiteren Erschei¬
nungen von Seiten des zweiten Trigeminusastes leichter er¬
klären, als die Annahme eines noch in der Orbita liegenden
Angioms. Trotzdem ist die letztere Diagnose wahrscheinlicher,
da ein retroorbitales, kleines Angiom kaum eine Pulsation des
Bulbus bewirken könnte.
Durch die Fractur der Gesichts , respective Schädel¬
knochen und die erfahrungsgemäss an solche sich anschliessen-
*) Auf ein Aneurysma arterioso-venosum traumaticum in der Orbita
möchte, ich die Erscheinungen nicht beziehen, weil bei solchen »Aneurys¬
men« bisher niemals pulsirender Exophthalmus beobachtet wurde.
7f)0
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 33
den Fissuren und Fracturen der Orbita und der kleinen Keil¬
beinflügel wurde vermuthlich sowohl die Bildung eines orbi¬
talen Angioras begünstigt, als auch — durch den abgebrochenen
Proc. clinoideus anticus? — der Ramus supramaxillaris lädirt.
Die Diagnose lautet also: Cavernöses Angiom in
der Nähe des Foramen opticum und der Fissura
orbitalis superior; Läsion des zweiten Trig e-
minusastes durch einen Knochensplitter oder
durch eine Fissur in der Wand des Foramen ro¬
tund u m.
Da der Effect der Compression der rechten Carotis com¬
munis ein deutlicher, aber doch geringer war, und auch in
früheren Fällen die Unterbindung der Carotis bei Angiomen
wenig Nutzen brachte, die Sehstörung nach so langer Zeit
und unterdessen eingetretener Sehnervenatrophie durch die
Operation gewiss nicht behoben werden könnte, und endlich
der Patient keine Beschwerden durch sein so interessantes
Leiden hat, wurde von einer Unterbindung der
Carotis communis abgesehen und, entsprechend dem
Wunsche des Vaters unseres Patienten, nur an die operative
Beseitigung der Ptosis und des Ektropiums gegangen.
Am 26. Juni wurde der Knabe in Narkose von
Herrn Docenten A. Fraenkel operirt; zunächst wurde
durch Excision eines grossen Theiles der verdickten und um¬
gestülpten Conjunctiva palpebrae superioris das Ektropium
behoben und auch eine Verminderung der Ptosis bezweckt,
die auch nachher eintrat. Da man an eine durch die Fractur¬
en den bedingte Circulationsstörung denken musste, welche bald
ein Recidiv hervorrufen könnte, wrurde die Gegend der Fractur
durch einen horizontal über dem Jochbogen geführten Haut¬
schnitt blossgelegt. Da sich der grosse Keilbeinflügel und die
angrenzenden Theile des Stirn- und Schläfenbeines tief nach
innen eingezogen erweisen und diese Knochenplatte erst auf-
gemeisselt werden müsste, um etwaige Knochensplitter in der
lädirten Region bloszulegen — eine Operation, deren Schwierig¬
keiten und eventuelle Folgen in keinem Verhältniss zu dem
zu erwartenden Erfolg stehen — , wurde die Operation durch
Vernähung des Hautschnittes beendigt.
Das Ektropium ist nun (vier Wochen nach der
Operation) vollkommen behoben, das obere Augen¬
lid hängt nicht mehr herab und die Lidspalte
kann vollkommen geschlossen werden. Die erste
Klage des Patienten beim Verbandwechsel war, dass er jetzt
doppelt sehe (Doppelbilder beim Blick nach oben und aussen).
Doppelbilder hat Patient früher nie gehabt, weil das
rechte Auge immer fast vollkommen geschlossen war und die
Lidspalte nur innen etwas offen stand. Seither sind nun drei
Wochen vergangen und der Knabe klagt nicht mehr über
Doppeltsehcn, weil er theils durch Bewegungen des Kopfes eine
Kreuzung der Augenachsen vermeidet, theils auch das gewiss
sehr undeutliche, im rechten Auge entstehende Bild unter¬
drückt. Die Pulsation des Bulbus und die anderen Symptome
bestehen natürlich unverändert.
Seit 1880 sind mehrere Zusammenstellungen der seit
diesem Jahre publicirten Fälle im Anschluss an Beobachtungen
von verschiedenen Autoren (John Ecker lein8) [1880 bis
1886], Keller9) [ L880 — 1898] u. A.) erschienen. Da diese
Arbeiten aber meist als Dissertationen keinem grösseren Leser¬
kreise zu Gute kamen, glaube ich gut zu thun, wenn ich die
Resultate, die ich bei der Durchmusterung des mir erreichbaren
Materiales der letzten zwei Decennien fand, hier kurz mit¬
theile. Vorausschicken muss ich nur, dass ich eine kleinere
Zahl fand als Andere (z. B. Keller), weil manche Fälle aus
verschiedenen Gründen wohl auszuscheiden sind, manche Fälle
von mir auch übersehen werden konnten.
Diese Differenzen treten übrigens auch in den Arbeiten,
die bisher erschienen, hervor. Von 1880 — 1886 wurden z. B.
nach drei verschiedenen Autoren 11, 21 und 33 Fälle beob¬
achtet. Keller fand bis 1898 118 Fälle, während ich nur 91
sammeln konnte.
Unter diesen trat die Krankheit achtmal beiderseits auf
(nach Sattler unter 106 Fällen nur viermal).
In 3 Fällen war die Krankheit congenitalen, in 60 Fällen
traumatischen Ursprunges, und 22mal trat sie angeblich spontan
auf. (Sattler erwähnt 59 traumatische gegen 32 idiopathi¬
sche ; es nimmt also die Zahl der auf Traumen zu¬
rückgeführten Fälle zu.)
In 5 Fällen trat der pulsirende Exophthalmus rechts auf,
nachdem ein Trauma auf die linke Körperhälfte eingewirkt
hatte; das umgekehrte Verhalten fand ich nicht.
Während früher die unblutigen Methoden (Compression
des Bulbus, Digitalcompression der Carotis communis, Elektro-
punctur etc.) vorgezogen wurden, wurde in den letzten
Jahren die Unterbindung häufiger gemacht.
Unter den 91 Fällen, die ich sammelte, war nur in 58 die
Therapie und das Endresultat (von einigen auch nach längerer,
späterer Beobachtung) angegeben; viele Publicationen erschienen
nämlich gleich nach der Demonstration des Kranken vor der
Operation ; diese Fälle, sowie die, über welche mir keine
genauen Berichte Vorlagen, muss ich ausscheiden.
Es wurde die Unterbindung
einer Carotis communis 37 mal,
beider Carotiden . . . 4 »
der Carotis interna . . 1 »
zusammen 42
Unterbindungen in 58 Fällen vorgenommen.
Bevor ich über die Resultate referire, möchte ich eine
Bemerkung vorausschicken: Was bedeutet »geheilt« und »ge¬
bessert« ?
Die verschiedene Auffassung des Begriffes »geheilt« muss
es mit sich bringen, dass man nicht alle von den betreffenden
Autoren angegebenen Heilungen als solche gelten lassen kann,
obwohl man bei Beurtheilung der Wirksamkeit verschiedener
therapeutischer Methoden diesen Begriff auch nicht ganz genau,
d. h. als Behebung aller Störungen anatomischer und functio-
neller Natur, nehmen kann.
Auf einen Theil dieser Forderung will ich verzichten:
auf die Wiederherstellung des Sehvermögens, obwohl es doch
sehr eigenthiimlich klingt, wenn man liest, dass ein Patient,
der durch ein Trauma Erblindung eines Auges und unerträg¬
liches Sausen im Kopfe davongetragen hat, nach der Operation
nur den letzteren Theil seiner Beschwerden verliert, aber
»geheilt« entlassen wird.
Sattler fand in 77 Fällen nähere Angaben über das
Sehvermögen; darunter war dieses in 19 Fällen gar nicht, in
27 nicht erheblich gestört; 8mal war die Störung hochgradig,
9mal bestand nur quantitatives Sehen, 14mal war nicht einmal
Lichtempfindung vorhanden. Ich finde in 38 Fällen diesbezüg¬
liche Angaben: 6mal war keine, 3mal eine geringe, 18mal
eine schwere Sehstörung vorhanden und 11 mal trat Erblin¬
dung ein. 4
Die Frage, welchen Effect die Operation
quoad visum habe, möchte ich mehr in den Vordergrund
treten lassen. Ich finde einen einzigen Fall von normalem Seh¬
vermögen nach der Operation (in diesem Falle war nur eine
geringe Sehstörung — als solche rechne ich noch S = 3/c vor¬
handen gewesen) und wenige von Besserung des Sehvermögens.
Meist hat die Operation auf das Sehvermögen des einmal ge¬
schädigten Auges keinen Einfluss mehr, doch ist das weniger
der Methode, als dem Umstande zuzuschreiben, dass ein grosser
Theil der Patienten erst nach lauger Dauer der Krankheit und
nachdem schon Sehnervenatrophie eingetreten ist, ärztliche Hilfe
aufsuchte.
Lassen wir die Forderung nach Besserung des Sehver¬
mögens fallen, so müssen wir als Leistungsminimum der
Operation verlangen, dass die Protrusion und Pulsation, be¬
sonders aber die lästigen Kopfgeräusche behoben werden. In
diesem Sinne wurden als Resultat der 37 mal vorge¬
nommenen Unterbindung einer Carotis com¬
munis angegeben :
21mal »geheilt« 2mal »ungeheilt«
12 » »gebessert« 2 » »gestorben«.
Nr. 33
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
751
In zwei Fällen von »Heilung« trat bald Recidive ein;
in zwei Fällen musste man später noch die Gefässe im inneren
Augenwinkel unterbinden und in einem blieb noch leises
Sausen zurück; der letzte Fall kann wohl nur als »gebessert«
angesehen werden. Von den zwölf Fällen, die ursprünglich als
gebessert bezeichnet wurden, musste zweimal noch die Enuclea¬
tion, einmal die Unterbindung der Vena ophtkalmica gemacht
werden. Als Resultate der Unterbindung allein sind
also zu verzeichnen:
lömal »geheilt« 2 mal »gestorben«
10 » »gebessert« 9 » »ungeheilt«,
also 70% Erfolge der Operation. Nach den weiteren opera¬
tiven Eingriffen erhalten wir folgende Endresultate:
18mal Heilung 4mal keinen Erfolg
13 » Besserung 2 » Tod.
Einmal wurde (von Prof. Gussenbauer im Falle
Weiss10) die U n t e r b i n d u n g der Carotis interna
gemacht und Besserung geringen Grades erzielt. Viermal
wurde die Unterbindung beider Carotiden vorge¬
nommen und dreimal Heilung, einmal geringe Besserung er¬
zielt. Die Resultate sind besser, als die von Sattler für
die früheren Fälle berechneten, was gewiss hauptsächlich davon
abhängt, dass der grösste Theil dieser Fälle in die voranti¬
septische Zeit fällt.
Die Digitalcompression wurde 13mal längere Zeit
angewendet; es wurden dreimal Heilung, zweimal Besserung,
in zwei Fällen kein Erfolg erzielt, sechsmal griff man zu
anderen Methoden; also fünfmal Erfolg.
Die di recte Compression des Bulbus wurde
zweimal geübt; einmal erfolglos, einmal erzielte man (nach
neun Monaten) Heilung.11)
Einmal (Köhler12) wurde die Carotis comm. mit einem
Apparat comprimirt; es trat nach fast ein Jahr lang geübter
Behandlung Besserung ein. Einmal wurde der Bulbus primär
»wegen Gangrän« enucleirt.
Zweimal wurde die Galvano pu net ur angewendet
und Heilung erreicht.
Einmal trat Spontanheilung 13) (nach heftigem Erschrecken)
ein; einmal wurden Ergotininjectionen in den fühlbaren Tumor
ohne Erfolg gemacht.
Als Thesen für die Therapie des pulsirenden Exophthal¬
mus möchte ich nach den bisherigen Erfahrungen aufstellen:
1. In allen Fällen von Beobachtungen
frischer — traumatisch oder spontan entstandener — Er¬
krankungen dieser Art ist wegen der drohenden Gefahr für
das Auge die Therapie sofort zu beginnen.
2. Zunächst wäre die Digitalcompression der
Carotis communis, dann die Unterbindung der Carotis
anzuwenden. Mit letzterer warte man nicht allzu¬
lange, besonders wenn die Sehstörung während der Behand¬
lung zunimmt!
3. Ausgenommen sind die pulsirenden orbitalen Angiome,
die, wenn sie erreichbar sind, am besten wohl mittelst der
Galvanopunctur zum Rückgang gebracht werden; ferner die
pulsirenden Encephalocelen.
Zum Schlüsse erlaube ich mir, meinem geehrten Vor¬
stande, Herrn Docenten A. Fraenkel, für die Ueberlassung
des Falles und wiederholte Rathschläge bei der Abfassung dieser
Arbeit meinen wärmsten Dank auszusprechen.
Literaturverzeichnis s.
Da in den erwähnten Monographien über pulsirenden Exophthalmus
auch ausführliche Literaturarigaben gebracht wurden, so sei hier auf diese
hingewiesen; von der grossen Zahl der Publicationen seien hier nur die
erwähnt, auf welche ich mich im Texte bezogen habe.
H. Sattler, Pulsirender Exophthalmus. Handbuch der gesammten
Augenheilkunde von Graefe-Saemisch. Bd. VI, 4. Theil, pag. 745 — 940.
-) Schlaefke, Die Aetiologie des pulsirenden Exophthalmus.
Graefe’s Archiv. Bd. XXV, 4. Theil, pag. 112.
3) A. Graefe, Ophthalmologische Mittheilung. Deutsche medicinische
Wochenschrift. 1898, Nr. 40.
4) B u 1 1 e r, A case of pulsation of the orbit. British medic. Journal.
1891, pag. 597.
5) Israel, Pulsirender Exophthalmus. Deutsche medicinische Wochen¬
schrift, 1891, Nr. 51.
6) Citirt bei Sattler.
7) Wiener medicinische Wochenschrift. 1883, Nr. 9.
8) E c k e r 1 e i n J., Ein Fall von pulsirendem Exophthalmus beider
Augen. Inaugurations Dissertation. Königsberg, 1887.
9) Keller, Beitrag zur Casuistik des pulsirenden Exophthalmus.
Inaugurations-Dissertation. Zürich 1898.
10) Hugo Weiss, Zur Lehre von den subjectiven Kopfgeräuschen.
Wiener klinische Wochenschrift. 1898, Nr. 47.
n) D e s p a g n e t, Exophthalmus pulsatile. Recueil d’Ophthalm.
1893, pag. 262.
,2) Kohle r, Ein Fall von pulsirendem Exophthalmus. Berliner kli¬
nische Wochenschrift. XXIII, pag. 550.
,3) W a 1 c k e r, Pulsating exophthalmos. Ophth. Review. 1887,
pag. 209.
14) Wiener klinische Wochenschrift. 1900, Nr. 15.
Aus der chirurgischen Universitätsklinik zu Athen
(Director Prof. Manghinas).
Zur Casuistik der Echinococcusgeschwülste.
Von Docent Dr. D. Kokoris, Assistenten der Klinik.
Wir theilen im Folgenden zwei Fälle von Echinococcus¬
geschwülsten mit, die wohl besonders wegen ihrer ziemlich
seltenen Localisation etwas Interesse beanspruchen dürften.
I. Echinococcus des Halses.
K. A., 26 Jahre alt, Hausfrau aus Lamia. Hereditär nicht
belastet. Die Menses traten erst im Alter von 16 Jahren ein, waren
stets regelmässig, vier bis fünf Tage dauernd. Mit 22 Jahren ver¬
heiratet, wurde Patientin nie schwanger. Vor drei Jahren litt sie
an Malariafieber, wovon sie durch Chiningebrauch befreit wurde.
Seit einem Jahre verspürte Patientin an der rechten Supra-
claviculargegend einen stechenden Schmerz, der auf die ganze rechte
obere Extremität ausstrahlte, zudem hatte sie ein Gefühl von Taub¬
sein an der rechten Hand. Durch Bäder, die ihr ein Arzt verord-
nete, wurde ihr Zustand angeblich wesentlich gebessert. Bald darauf
aber, vor ungefähr elf Monaten, bemerkte sie auf der rechten Seite
des Halses eine circa mandelgrosse, schmerzlose Geschwulst, ohne
irgend welche Alteration der darüberliegenden Haut. Ein Arzt ver-
ordnete ihr innerlich verschiedene Mittel, jedoch ohne jeden Erfolg;
die Geschwulst wuchs immer mehr.
S t a t u s p r a e s e n s am 10. März 1900: Mittelgrosse, schlecht
genährte Frau, sehr anämisch. Auf der rechten Seite des Halses
liegt ein faustgrosser, kugelförmiger Tumor mit glatter Oberfläche,
von elastischer Consistenz, deutlich fluctuirend. Die Geschwulst er¬
streckt sich senkrecht vom oberen Rande der Glavicula bis auf
die Höhe des unteren Randes der Gartilago thyroides, seitlich ragt
sie, 1 — 2 cm rechts von der Mittellinie anfangend, bis zu einer
Senkrechten, die man einen Querfinger vor dem vorderen Rande
des M. cucullaris herunterzieht. Der Sternocleidomastoideus liegt
über der Geschwulst und erzeugt auf ihrer Oberfläche eine seichte
Furche. Die Haut oberhalb der Geschwulst, etwas stärker pigmentirt
als normal, ist mit letzterer nicht verwachsen und zeigt sonst
keine Veränderung. Transparenz lässt sich am Tumor nicht nach-
weisen.
Die Patientin neigt immer den Kopf etwas nach der rechten
Seite hin.
Sämmtliche vom rechten Plexus brachialis innervirte Muskeln
(Deltoides und die übrigen Schultermuskeln, Pectoralis major, Latis-
simus dorsi, Rhomboides etc., die Muskeln des Oberarmes, des
Vorderarmes und der Hand) sind sehr atrophisch; der Umfang der
rechten oberen Extremität ist um 2% — ‘5l/.2cm geringer, als der
linken. Am deutlichsten ist die Atrophie der Muskeln vom I henar
und Hypothenar und der Interossei. Die Muskelkraft und die will¬
kürliche Beweglichkeit der Extremität ist überhaupt vermindert,
entsprechend dem Grade der Muskelatrophie; die Finger bewegen
sich nur in beschränktem Masse, zumal die Beugung des Zeige-
und des Mittelfingers ist sehr schwach, am schwächsten jedoch
vollziehen sich die Bewegungen des Daumens. Die Sehnenreflexe
an der rechten oberen Extremität sind etwas gesteigert. Auf den
faradischen Strom reagiren die Muskeln der Beugeseite nur schwach,
diejenigen der Streckseite ziemlich gut. Auf der ganzen Oberfläche
der rechten Schultergegend und der rechten oberen Extremität lässt
752
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
.Nt. 33
sich eine deutliche Hyperästhesie nach weisen; die leichteste Berührung
wird als Schmerzgefühl empfunden.
Die rechte Pupille ist enger als die linke.
Probepunction ergab eine dünne, wasserklare Flüssigkeit.
Operation am 20. März 1900 (Prof. Mang hin as).
Durch einen 6 c?» langen, hinter dem Sternocleidomastoideus etwas
schräg nach unten aussen verlaufenden Schnitt wurde die Cyste auf-
gedeckt; nach Spaltung derselben entleerte sich der wasserklare Inhalt
und endlich wurde die Cvstenwand von der Umgebung ausgelösl, was
ziemlich leicht, und zwar grösstenlheils mit den Fingern, ausgeführt
werden konnte, und so der ganze Sack entfernt. Der in die so
entstandene Höhle eingeführte Finger konnte nach innen die seit¬
liche Fläche der vierten, fünften, sechsten und siebenten Halswirbel¬
körper abtasten, nach unten, hinter der Clavicula, reichte er bis
auf die obere Kuppe des Rippenfells; nach oben und nach aussen
erstreckte sich die Höhle nicht weit. Drückte man mit dem Finger
innerhalb der Wundhöhle seitwärts von den Wirbelkörpern, ver¬
langsamte sich sofort der Puls deutlich (Druck des Sympathicus).
Die Wunde wurde nicht genäht, sondern durch einige in die
Höhle eingeführte Gazestreifen tamponirt; die Heilung vollzog sich
ohne Zwischenfall und Anfangs Mai war die Wunde vollkommen
geschlossen.
Unmittelbar nach der Operation war die Bewegungsfähigkeit
der rechten oberen Extremität stark herabgesetzt; die Patientin
konnte weder mehr, wie früher, den Vorderarm beugen, noch den
Arm erheben. Allmälig aber, durch regelmässige Faradisation der
Muskeln, wurden die Bewegungen immer stärker, so dass am
12. Mai, als wir zum letzten Male die Patientin sahen, die Be¬
wegungsfähigkeit fast auf den früheren Zustand schon zurück¬
gekehrt war. Die Myosis am rechten Auge war nicht mehr zu be¬
merken.
Die Ilydatiden des Halses sind sehr selten. Die Statistik
von Giit er bock (1893) enthält im Ganzen nur 26 Fälle.
Die interessanteste Erscheinung im vorliegenden Falle
ist wohl der Druck auf den Plexus brachialis, der ohne
Weiteres durch die oben beschriebenen topographischen Ver¬
hältnisse der Geschwulst leicht erklärt wird; seitens des Plexus
cervicalis ist im Gegentheile kein Druckphänomen beobachtet
worden. Der auf den Plexus brachialis ausgeübte Druck
äusserte sich im Anfang durch stechende Schmerzen mit Taub-
seingeftihl an der rechten Hand; später, als die Geschwulst
sich vergrösserte und die Nerven immer mehr comprimirt
wurden, trat Parese mit zunehmender Atrophie der vom Plexus
brachialis innervirten Muskeln auf; am stärksten wurden die vom
N. medianus und vom N. ulnaris versorgten Muskeln (Flexoren
der Hand und der Finger, Muskeln des Thenars, des Hypo-
thenars und Interossei) befallen.
Ein anderes bemerkenswerthes Phänomen ist die Myosis,
die wahrscheinlich auf den durch die Geschwulst bedingten
Druck auf den Sympathicus zurückgeführt werden soll.
Die nach der Operation aufgetretene Steigerung der
paretischen Erscheinungen war vorübergehend, vielleicht bedingt
durch die Zerrung der Nerven während der Auslösung der
Cystenwand, obwohl letztere sehr vorsichtig ausgeführt wurde
und ohne Schwierigkeiten gelang; in der nächsten Zeit besserte
sich die Bewegungsfähigkeit allmälig. Sehr zweifelhaft ist es
aber, ob eine nahezu physiologische Beweglichkeit der Extre¬
mität noch zu erwarten ist; vielmehr ist wegen der sehr fort¬
geschrittenen Muskelatrophie zu vermuthen, dass schon be¬
trächtliche neuritische Veränderungen eingetreten sind, die
eine Wiederherstellung der normalen Motilität unmöglich
machen.
Was die Diagnose betrifft, hätte man hier wegen des
verhältnissmässig raschen Wachsthums des Tumors (innerhalb
eines Jahres) an ein weiches Sarkom denken können; die ganz
gleichmässige Consistenz wies aber eher auf eine cystische
Bildung bin, was auch die Probepunction bestätigte. Wenn
auch keine Häkchen, noch Scolices in der wasserklaren Flüs¬
sigkeit aufgedeckt wurden, liess die charakteristische Structur
der W and keinen Zweifel, dass es sich wohl um keine (etwa)
andere Halscyste, sondern um einen Echinococcus gehandelt
hatte.
Zur Behandlung konnte man hier die radicalste Methode
anwenden, nämlich die totale Exstirpation der Cyste; da nach
derselben eine grosse Höhle zurückblieb, wurde die Wunde
nicht genäht, sondern sicherheitshalber tamponirt. Die Heilung
erfolgte in verhältnissmässig kurzer Frist.
II. Multiple Echinococcusgeschwülste der Peritoneal¬
höhle.
Z. M., 25 Jahre alt, ledig, aus Domoko. Keine hereditäre
Belastung; Menstruation seit dem 15. Lebensjahre, immer regel¬
mässig bis jetzt.
Vor vier Jahren war Patientin mit Malariafieber behaftet.
Das Fieber batte zuerst den Typus einer quotidiana, späterhin war
es ganz unregelmässig; der Anfall trat immer Nachmittags mit Frost
und Kopfschmerz ein und endete mit profusen Schweissen. Das
Chinin half nur vorübergehend, so dass Patientin mit kleinen Inter¬
vallen volle drei Jahre an der Krankheit litt. Zu gleicher Zeit ver¬
spürte Patientin einen Schmerz an der Lebergegend, der bei Druck
heftiger war und auf die rechte Schulter ausstrahlte.
Vor einem Jahre bemerkte sie, dass ihr Bauch allmälig
grösser wurde, sie fühlte auch Schmerzen an demselben, die anfalls¬
weise äusserst heftig wurden; ausserdem magerte sie ab und fühlte
sich sehr matt, manchmal wurde sie von Schwindel und Ohnmacht
ergriffen. Deshalb suchte sie am 17. Juni 1897 unsere Klinik auf.
Status praesens am 17. Juni 1897: Mittelgrosses
Mädchen von blassem Aussehen und schlechtem Ernährungszu¬
stände. Kein Appetit; grosse Mattigkeit.
Der Bauch ist fassförmig aufgetrieben; sein grösster Umfang
befindet sich bei Rückenlage auf der Nabelböhe und ist circa
100 cm\ wenn Patientin sich aufsetzt, verlagert er sich um 3 cm
unterhalb des Nabels, wo er dann 103 c?» misst.
Die Bauchdecken sind mässig gespannt. Keine Striae, keine
erweiterten Venen auf der Haut des Bauches.
Durch die Palpation fühlt man im Innern des Abdomens, an
verschiedenen Stellen, mehrere elastisch-feste, nicht fluctuirende
Geschwülste mit glatter Oberfläche, mehr weniger beweglich, bei
der Percussion einen dumpf-tympanitischen Schall gebend. Die
grössten von diesen Tumoren sind hühnerei- bis über faustgross,
die kleinsten nuss- oder haselnussgross; einige davon sind kugel-
förmig, andere mehr abgeplattet, bei Druck sind sie etwas
empfindlich.
Solche Geschwülste trifft man, wie gesagt, überall in der
Bauchhöhle, theils treten sie vereinzelt vor, grösstentheils aber zu
Gruppen aus mehreren zusammen. Die bedeutendsten dieser Gruppen,
worin die einzelnen Tumoren mehr oder weniger deutlich abzu¬
grenzen sind, findet man an folgenden Stellen des Bauches: eine
unmittelbar unterhalb des rechten Rippenbogens, wo sie von der
Leber sowohl durch die Percussion, als durch die Palpation deut¬
lich zu trennen ist, fast bis zum Nabel hinabreichend; zwei findet
man zwischen dem Nabel und dem linken Rippenbogen; eine ober¬
halb des Nabels, unter dem Epigastrium; drei unterhalb des Nabels,
und zwar eine in der Mittellinie, eine rechts und eine links von
derselben; eine über dem rechten Inguinalbogen, in der Nähe der
Symphyse; eine in der linken Fossa iliaca; vom Rectum aus fühlt
man ebenfalls eine fäustgrosse, kugelförmige Geschwulst in der
Excavatio recto-uterina. In der Tiefe der Bauchhöhle fühlt man
etwas weniger deutlich eine Menge ähnlicher Tumoren.
Da man sofort an Echinococcuscysten dachte, machte man
an einer von diesen Geschwülsten eine Probepunction, die diese
Diagnose bestätigte, indem sie eine wasserklare Flüssigkeit mit den
charakteristischen Häkchen herausförderte.
Freie Flüssigkeit wird in der Bauchhöhle nicht constatirt.
Respirations-, Circulations-, Harnorgane, sowie alle übrigen
Systeme normal.
Hymen intact.
Patientin ist stets fieberlos. Sie klagt über Schmerzen im
Bauche, die anfallsweise sehr heftig werden. Einmal trat Durchfall
ein, der aber am folgenden Tage aufhörte.
Am 2. Juli 1897 Laparotomie (Prof. Manghinas).
Schnitt in der Medianlinie zwischen Nabel und Symphyse, 10c??i
lang. Nach Eröffnung der Bauchhöhle präsentirte sich eine eigrosse,
cystische Geschwulst, nach Spaltung derselben lief eine wasserklare
Nr. 33
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
753
Flüssigkeit aus und zugleich sprang eine Menge kleinerer (Tochter-)
Blasen heraus. Die Geschwulst, die mit breiter Basis an das Netz
lest adhärirte, wurde nach Abbindung derselben mit dem Thermo¬
kauter abgetrennt. Rings herum waren die Peritonealverwachsungen
so stark, dass man in die eigentliche Peritonealhöhle nicht ein-
dringen konnte. Deshalb wurde die Entfernung der übrigen Ge¬
schwülste vorläufig aufgeschoben und die Bauchwand durch Etagen¬
naht geschlossen. Der Eingriff wurde so einigermassen auf eine
Probelaparotomie beschränkt. Die Wunde heilte, nachdem am unteren
Theile derselben eine oberflächliche Eiterung, von den Stichcanälen
der Nähte ausgegangen, aufgetreten war, innerhalb ungefähr drei
Wochen vollständig.
Nach der Operation erholte sich die Kranke ein wenig; ihr
Appetit wurde besser, die Schmerzen im Bauche linderten sich.
Am 20. October 1897 zweite Laparotomie. Um die
ganze Peritonealhöhle zugänglich zu machen, wurde ein grösserer
Schnitt angelegt und so wurden im Ganzen 26 verschieden grosse
Cysten entfernt. Einige derselben hatten ziemlich starke Verwach¬
sungen mit dem Netz und dem Parietalblatte des Peritoneums; die
meisten aber sassen locker innerhalb der Bauchhöhle. Die Auslösung
wurde grösstentheils mit den Fingern ausgeführt, ab und zu musste
man die Geschwülste stielen und nach Abbindung des Stieles mit
dem Thermokauter abtrennen. Die Wunde heilte per primam.
Im Bauche fühlte man aber noch eine sehr grosse Menge
von Geschwülsten, die allmälig mächtiger wurden und den Leib,
zumal am Hypogastrium, stark ausdehnten; Patientin litt sehr an
Kurzathmigkeit.
18. Februar 1898 dritte Laparot omie. 10 cm langer
Schnitt unterhalb des Nabels, rechts von der Mittellinie. Es wurden
15 bis hühnereigrosse Hydatidencysten entfernt, die in der Bauch¬
höhle theils oberflächlich, theils in der Tiefe lagen. An einigen
Stellen musste man mit der Cystenwand einen Theil des Netzes
mit entfernen, der mit derselben stark verwachsen oder selbst ver¬
ändert war. Heilung der Wunde per primam.
Am 10. April wurde eine vierte Laparotomie aus¬
geführt, wodurch sieben grosse Hydatiden entfernt wurden, deren
eine mit dem Uterus und den Adnexen verwachsen war.
Endlich, 20. November 1898, fünfte Laparotomie, bei
welcher noch etliche Hydatiden herausgefördert wurden. Aber es
entwickelte sich eine Peritonitis und am 29. November trat Exitus
letalis ein.
Autopsie wurde von den Angehörigen der Patientin nicht
gestattet.
In diesem Falle bot die Diagnose ziemlich grosse Schwierig¬
keiten. Eine carcinomatöse Erkrankung konnte man ja sowohl aus
dem Krankheitsverlauf, als auch aus der Beschaffenheit der Ge¬
schwülste mit Sicherheit ausschliessen. Aber sehr gut hätte man,
mit Rücksicht auf den sehr schlechten Ernährungszustand der
Kranken und die Schmerzhaftigkeit des Bauches, verbunden mit
dem Vorhandensein zahlreicher Tumoren in demselben, an eine
Bauchfelltuberculose denken können. Der Mangel jeder hereditären
oder persönlichen Prädisposition, die Fieberlosigkeit und die Ab¬
wesenheit- von Erscheinungen aus anderen Organen und besonders
der Pleura, die wohl so häufig bei Bauchfelltuberculose auftreten,
waren keine sicheren Beweise gegen die Annahme dieser Krankheit.
W as aber vorwiegend auf die Diagnose von Echinococcencysten
hinwies, war die mehr minder kugelförmige Gestalt der einzelnen
Geschwülste, ihre glatte Oberfläche und ihre elastische Gonsistenz,
ohwohl nirgends Fluctuation nachgewiesen werden konnte.
Endlich hatte die Probepunction die Frage definitiv ent¬
schieden.
Die Zahl der Echinococcencysten war eine ungeheuer grosse.
Vielleicht gab es im Anfang nur eine solche, die später platzte,
und so erfolgte eine Aussaat von Echinococcen in die Bauchhöhle.
Wo aber diese primäre Cyste gesessen haben dürfte, das kann man
nicht sagen. Soll man die damaligen Beschwerden in der Lebergegend
auf eine solche primäre Geschwulst in der Leber zurückführen?
Obwohl die sehr grosse Zahl der Geschwülste vom Anfang
an den Eingriff wenig verlockend machte, führte man doch im
Ganzen fünf Laparotomien aus, durch welche sehr viele Cysten
entfernt wurden. Leider wuchsen die zurückbleibenden immer mehr,
weil ihnen nach Entfernung der anderen mehr Raum zur Aus¬
breitung gegeben war, und so gestaltete sich das chirurgische
Handeln zu einer, sozusagen, Sisyphusarbeit, bis endlich nach der
fünften Laparotomie die Patientin erlag.
REFERATE.
I. Das Sanitätswesen während des spanisch-amerika¬
nischen Krieges im Jahre 1898.
Von Dr. Johann Steiner, k. und k. Regiments- und Gardearzt.
Streffleur’s Oesterreichische Militär-Zeitschrift. 1900.
II. Veröffentlichungen aus dem Gebiete des Militär¬
sanitätswesens.
Herausgegeben von der Medicinalabtheilung des königlich preussischen
Kriegsministeriums.
Heft 16: Die subcutanen Verletzungen der Muskeln.
Von Dr. K n a a k, Stabs- und Bataillonsarzt des II. Bataillons, Infanterie-
Regiment Nr. 175.
123 Seiten.
Berlin 1 900, August Hirschfeld.
I. Die in verschiedenen Zeitschriften zerstreut vorliegenden Be¬
richte über den spannenden Krieg zwischen Spanien und Amerika
vom Jahre 1898 wurden zu einem schönen Gesammtbilde über
das Militär-Sanitätswesen zusammengetragen und kritisch gesichtet.
Nach einer kurzen Einleitung skizzirt der Verfasser die militär¬
sanitätsgeographischen Verhältnisse der in Betracht kommenden
Kriegsschauplätze auf Cuba, Portorico und den Philippinen. Sodann
wird die Organisation der Streitkräfte überhaupt, sowie des Sanitäts¬
wesens insbesondere bei beiden kriegführenden Parteien eingehend
besprochen. Die folgenden Capitel behandeln den Verlauf der
kriegerischen Ereignisse und den Sanitätsdienst im Anschlüsse
daran, sowie jenen im Rücken der Feldarmeen, d. i. zur See und
in den grossen amerikanischen Uebungslagern. Die Thätigkeit der
Vereine vom Rothen Kreuz erfährt gleichfalls besondere Er¬
wähnung.
Im Schlussworte wird versucht, die Erfahrungen und Lehren
des Krieges in Bezug auf die einzelnen Zweige des Heeres-Sanitäts-
wesens, wie Kriegschirurgie, Kriegshygiene, Sanilätstaktik, Kranken¬
transportdienst zur See u. s. w. kurz zusammenzufassen. Als Haupt¬
lehre ergab sich die Wichtigkeit einer gründlichen und allseitigen
Vorbereitung im Frieden, die sowohl bei den Amerikanern, wie bei
den Spaniern gefehlt hatte.
Bei dem grossen Interesse, welches das Militär-Sanitätswesen
gerade in den letzten Jahren beansprucht, ist vorliegende Arbeit
von doppeltem Werth, indem sie uns Lücken selbst auf Seiten der
Amerikaner vor Augen führt, bei denen im Secessionskriege (1861
bis 1865) der Apparat des Feldsanitätsdienstes so vortrefflich func-
tionirte. Steiner gebührt das Verdienst, den Militärärzten gezeigt
zu haben, wie man als Sanitätsofficier zu arbeiten hat, um sich
auch in jenen Kreisen Achtung und Anerkennung zu erwerben,
welche dem Sanitätswesen im Felde fremd gegenüber stehen. Sein
Princip verdient Nachahmung und allseitige Unterstützung.
*
II. Nach einer kurzen Einleitung, in welcher Verfasser den Grund
des häufigeren Vorkommens von Muskelverletzungen beim Militär
als in den mannigfachen Insulten bei den ungewohnten militäri¬
schen Uebungen gelegen, auseinandersetzt, entwirft er eine Ein-
theilung der Muskelverletzungen in Brüche, Zerreissungen, an welche
er das Auftreten von Verknöcherung der Muskeln (Reit- und Exercier-
knochen, Myositis ossificans progressiva multiplex) anschliesst,
Quetschungen und Verrenkungen. Jedem einzelnen dieser Abschnitte
sendet der Verfasser einen kurzen historischen Abriss voraus, in
welchem in erster Linie die Literatur der Franzosen angeführt
erscheint. An der Hand von 42 Krankengeschichten, welche dem
Verfasser von verschiedenen Militärärzten eingesandt wurden, sowie
an der Hand mehrerer in der Literatur beschriebener Fälle bespricht
er eingehend die Entstehungsursachen, die Symptomatologie mit
besonderer Berücksichtigung der differentialdiagnostischen Momente,
die Prognose und Therapie, bei der Verknöcherung speciell auch
die pathologische Anatomie. Verfasser kommt zu dem Schlüsse,
dass die operative Therapie (die einzelnen Methoden der Operationen
sind bei jedem einzelnen Abschnitte genauer beschrieben) bei den
754
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 33
Muskelbrüchen für d;is Militärwesen ungünstige Resultate ergibt
(von 67 Fällen waren 55 als »invalide zu entlassen« classificirt),
bei Muskelzerreissungen, -Quetschungen und -Verrenkungen sehr
günstige Resultate aufweist. Bei den Operationen von Reit- und
Exercierknochen stellt sich das Verhältniss der Heilung in der
Weise, dass ungefähr die Hälfte ungeheilt, je ein Viertel gebessert
und geheilt in Abgang kamen. Am Schlüsse des Buches bietet
Verfasser eine genaue Uebersicht der Quellen und Literatur obiger
Erkrankungen. II a b a r t.
I. Ueber die therapeutische Beeinflussung der Expecto¬
ration durch die Heilmittel der Hypurgie.
Von Prof. Dr. Martin Mendelsohn in Berlin.
Berliner Klinik, Heft 133.
II. Die geschichtliche Entwicklung der wissenschaftlichen
Krankenpflege.
Von Dr. Iwan Bloch in Berlin.
Berliner Klinik, Heft 136.
III. Untersuchungen über das Schlucken in verschiedenen
Körperlagen und seine Bedeutung für die Krankenpflege.
Von Martin Mendelsohn und Hermann Gutzmann.
Deutsche medicinische Wochenschrift. 1899, Nr. 44 — 47 (Separatabdruck).
I. Die Abhandlung bespricht die Erleichterung des Hustens
durch die Mittel der Krankenpflege, durch die » Politik der kleinen
Mittel« in der Medicin, in einer der Wichtigkeit des Gegenstandes
entsprechenden, erschöpfenden Weise. Der Hustenact kann nur auf
die jenseits der Mitte der grossen Bronchien befindlichen Secret-
massen Einfluss haben. Bis zu dieser Stelle wird das Secret zu¬
meist durch die Thätigkeit der Flimmerepithelien geschafft. Will
man diese Arbeit den Flimmerepithelien erleichtern, so kann man
die Schwere der Secrete als Hilfsmittel heranziehen, indem man
bei halbseitigen Erkrankungen (z. B. einseitige Bronchiektasie oder
Lungengangrän) den Kranken auf dessen gesunde Seite legt. Ger¬
hardt erklärt, dass dabei für die gesunde Lunge nur ausnahms¬
weise Gefahr besteht, durch herüberfliessendes Secret aus der
kranken Lunge zu erkranken. Bei Bronchiektasien in den Unter¬
lappen kann sogar eine zeitweise Hebung des Fussendes des Bettes
bei flacher Lage des Kranken von Nutzen sein. Die Bauchlage
nach Gerhardt, der Vorschlag Schillin g’s, Schultz e’sche
Schwingungen bei lungenkranken Kindern zu machen, sowie
Reusner's Handgriff zur Unterstützung der Zwerchfellaction bei
hustenden Myelitikern werden in Kürze erwähnt, worauf die zweite
Phase der Expectoration, die Expulsion der Sputa in die Mund¬
höhle, besprochen wird. Für diese Phase wird aufrechte Stellung
des Kranken und Vermeidung jeder, die Inspiration hemmenden
Compression des Thorax von Wichtigkeit sein. Die dritte Phase
der Expectoration, die Elimination der Sputa aus der Mundhöhle,
ist durch bequeme Speigefässe und gehörige Wartung des Kranken
zu unterstützen, um das mitunter bedenkliche Schlucken der Sputa
hintanzuhalten. Um durch erhöhten Flüssigkeitsgehalt der Sputa
deren Expectoration zu erleichtern, empfiehlt Mendelsohn die
Anwendung von Luftanfeuchtern und Verdunstungsapparaten.
Zum Schlüsse wird in der Abhandlung noch Einiges betreffs
Hintanbaltung zu häufigen oder zu heftigen Hustens durch hypurgische
Hilfsmittel (Abhaltung reflexauslösender Reize, beispielsweise par¬
tieller Abkühlung des Körpers, Vermeidung von Staub etc.) erwähnt.
*
II. Nach einer etwas breit gehaltenen Einleitung, in welcher der
Verfasser das Wesen der Hypurgie, der wissenschaftlichen Kranken¬
pflege, gegenüber der Krankenversorgung und Krankenwartung prä-
cisirt, wird Einiges über indische und altjüdische hypurgische
Massnahmen erwähnt und dann die Geschichte der Hypurgie im
Occident in Angriff genommen. Man erfährt, welche Sorgfalt schon
im classischen Alterthum auf eine correcte Bettung des Kranken
und die Lage, Temperirung und Ausschmückung seines Zimmers
verwendet wurde, liest manches Interessante und auch Erheiternde
über Schlafen und Wachen und findet einige culinarische Fein¬
heiten (z. B. den Vorrang des Gerstenschleimes gegenüber dem
Reisschleime) als Beispiele aus den antiken Autoren angegeben.
Des Weiteren wird Einiges über Byzantiner, Araber (Hospital
in el-Kähira) und die Hypurgie des Mittelalters gesagt, worauf der
Autor auf die Hypurgie des XIX. Jahrhundertes und deren eifrigen
Vertreter Mendelsohn in Form eines kurzen Referates der be¬
kanntesten hypurgischen Schriften dieses Autors übergeht. Etwas
bezwungen erscheint dem Referenten die im Schlüsse hervor-
gehobene Trennung der Begriffe »Krankenpflege«, als einer Diseiplin
für Krankenpflegende, und »Hypurgie«, als einer Diseiplin für
Mediciner.
Da der Aufsatz »Die geschichtliche Entwicklung der wissen¬
schaftlichen Krankenpflege« betitelt ist, sollte neben Anderen doch
wohl auch der Name des Verfassers des bekannten Buches: »Die
Krankenpflege im Hause und im Hospitale«, der Name Billroth’s
darin nicht fehlen.
Der Praktiker wird aus der Abhandlung kaum einen Nutzen
ziehen können, da die wenigen, heute eventuell anwendbaren
historischen Daten über Krankenpflege, die der Verfasser als zur
Hypurgie, zur Wissenschaft der »Dynamik der Krankenpflege-
Heilmittel« gehörige angeführt hat, ohnedies bekannt sind. Der
Historiker wird vielleicht Manches daraus verwerthen können.
*
III. Das Verschlucken kann in mehrfacher Weise Kranken und
Gesunden gefährlich werden. Es kann verminderte Nahrungs¬
aufnahme bei häufigerem Eintreten des Uebels bedingen, es kann
als Folge des Eintrittes von Fremdkörpern in die Luftwege Er¬
stickungsanfälle und wirkliches Ersticken, Entstehen von putrider
Bronchitis, von Schluckpneumonien hervorrufen, es können als
Folge der Blutdrucksteigerung Kopfschmerzen, Herzstillstand bei
stark insufficientem Herzen, Hirnblutungen, Hämoptoen, überhaupt
Gefässrupturen eintreten, es kann endlich die fortwährende über¬
mässige Dehnung des Lungengewebes Ursache von Elasticitäts-
verlusten der Lungen werden.
Die Empirie in der Krankenpflege schreibt Aufrichten des
Kranken oder wenigstens des Kopfes des Kranken beim Schlucken
vor. Um nun diese empirisch gewonnene Massregel auch wissen¬
schaftlich zu erklären, wurde der Mechanismus des Schlingactes,
und besonders die Absehlussraechanismen der sich kreuzenden
Wege des Respirations- und Digestionstractes, in verschiedenen
Körperlagen experimentell untersucht, und dabei gefunden, dass
der Abschluss in der Norm stets ein fester ist und von der
Körperhaltung in keiner Weise beeinflusst wird. Versuche mit
Röntgen - Strahlen zeigten, dass die Bewegungen der Gaumen¬
segel und der hinteren Rachenwand in jeder Körperlage gleich
verlaufend und gleich intensiv sind, so dass der Bissen durch sie
»blitzartig in den Oesophagus geschleudert wird«, gleichgiltig, ob
der Schluckende aufrecht oder auf dem Kopfe steht. Desgleichen
findet stets ein gleich vollständiger Verschluss der Luftwege durch
die Epiglottis statt, welche vom Zungengrund nach abwärts ge¬
drückt wird.
Diese Versuche beweisen, dass es ein primäres Verschlucken
in Folge der Körperlage allein bei normaler Bildung und Function
der Organe nicht gibt. Von primärem Verschlucken kann man
sohin beispielsweise bei Gaumensegellähmungen, B ulbärparalysen
oder Gaumenspalten etc. sprechen, primäres Verschlucken kann bei
Oeffnung der Luftwege durch Inspiration oder Exspiration während
des Schlingactes eintreten; als secundäres Verschlucken dagegen
ist jenes zu bezeichnen, welches in Folge eines zuvor reflectorisch
ausgelösten Hustenstosses erfolgt. Um primäres Verschlucken zu
verhüten, soll der Kranke in aufrechter Stellung, nicht zu rasch
und nicht durch Ansprechen u. dgl. gestört, essen. Bewusstlosen
Kranken soll die Nahrung auf der Höhe der Inspiration, wo dann
der Kranke automatisch zu schlucken pflegt, gegeben werden.
In Bezug auf das secundäre Verschlucken, das reflectorisch
ausgelöste Verschlucken, ergab sich das Gesetz, dass dies nicht
geschieht, wenn die Ingesta beim Schlucken die Medianebene des
Körpers nicht verlassen, da die Gebilde des Rachens in der Median¬
ebene weniger erregbar sind, als die seitlichen Abschnitte. Besonders
die seitlichen hinteren Rachenwände lösen leicht Würge- und
Inspirationsreflexe aus, die dann secundäres Verschlucken erzeugen
können. Je mehr der Körper beim Schlucken aufrecht gehalten
wird, je eher wird eine Berührung dieser Partien durch die Speisen
vermieden. Seitliche Lage des Kranken ist selbstredend besonders
unzweckmässig für einen correcten Schlingact.
Der zweite Theil der Abhandlung beschreibt eine Reihe von
experimentellen Untersuchungen auf dem Gebiete des Sehlingactes,
und zwar an einer operirten Kranken mit freiliegendem Gaumen,
Nr. 33
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
755
ferner an Gesunden mit Röntgen- Strahlen (wobei Bismuthum
subnitricum als Schattenbildner wirkte) und durch Verschlucken
von Methylenblaulösung zur Ersichtlichmachung des Weges der
Bissen. Dieser Theil der Arbeit bietet dem Theoretiker viel Inter¬
essantes, der erste Theil enthält manches Werthvolle für den
Praktiker. Hinterberger.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
279. Hygienische Anordnungen für die Lan¬
dungstruppen in China. Der französische Marineminister
de Lanessan hat am 3. Juli d. J. einen Erlass hinausgegeben,
welcher sich mit den Producten, Hilfsquellen und dem Klima des
nördlichen China, speciell mit dem Landstriche zwischen Tien-Tsin
und Peking, ausführlich beschäftigt. Regen, Südwinde und hohe
Temperaturen von Juni bis October; strenge Kälte, Nordwinde,
Staub- und Eisstürme von Mitte December bis Ende Januar. In
der Regenzeit treten die Wasserläufe aus, das Terrain wird inundirt,
die schlecht gehaltenen Strassen werden unpassirbar. Im Winter
bedeckt sich der Boden mit eisiger Staubschichte, in welcher die
Wagen versinken und nur mit grosser Schwierigkeit vorwärts
kommen. Das Trinkwasser ist schlecht, daher die endemischen und
schweren Darmkatarrhe; auf den Stationsschiffen in China wird seit
Jahren nur destillirtes Wasser getrunken. Den Marschcolonnen kann
weder destillirtes, noch sterilisirtes Wasser nachgeführt werden;
die Apparate hiefür müssen für die Spitäler und stabilen Land-
Etablissements reservirt bleiben. Selbst die Abgabe von gekochtem
Wasser wäre mit den grössten Schwierigkeiten verbunden. Man
halte sich demnach, wie die Chinesen, an den Thee, kalt oder
warm genossen, der bei mässigem Gebrauche keine Inconvenienzen
hat und nebstbei ein vortheilhaftes Aliment d’epargne ist. Zur
Befreiung des Wassers von inficirenden Keimen werden an die
Truppen Taschenfilter (System Lapeyrere) mit übermangan¬
saurem Kali abgegeben werden. Für die Desinfection der in China
stets verunreinigten Abtritte ist ebenfalls übermangansaures Kali
oder Kalk zu verwenden. Der Preis ist gering. 5 — 10 g des ersteren
auf einen Liter Wasser, gemischt mit einem Viertel gepulverter
Holzkohle und drei Viertel feinem Sande sind von bester Wirkung.
Den Soldaten ist Abstinenz, mindestens grösste Massigkeit in
Alcoholicis zu empfehlen. Wiewohl der Erfinder des Alkohols der
Sage nach mit dem Tode bestraft wurde, werden seit 4000 Jahren
enorme Alkoholmengen in China consumirt. So wird aus Sorgo
(Moorhirse, Holcus sorghum) ein höchst billiger Branntwein, der
Liter zu 30 — 50 Centimes, von empyreuinatischem Geschmacke
erzeugt, dessen Fälschung durch die grelle Färbung evident ist.
Auch der Kornbranntwein wird durchgehends gefälscht. — Wegen
o <D o
Trichinose sind Schweinefleisch und wegen excessiver Verunreini¬
gung der Gewässer Flussfische, Krebse etc. zu meiden. Die Pro¬
phylaxe des im Becken des Pei-Ho in der heissen Jahreszeit
wüthenden Sumpffiebers (Paludisme) wird nach älteren Er¬
lässen und durch specielle Massnahmen zu regeln sein. Hitzschlag,
Sonnenstiche, Lebercongestionen sind in China häufig; neben und
mit dem Sumpffieber werden die schwersten Gomplicationen von
Darmkatarrhen beobachtet. Daher ist selbst die gutartigste
Diarrhöe energisch zu bekämpfen, da selbe zum Ausgangspunkte
der so häufigen Cholera werden kann. Im Winter sind Petechial¬
typhus und Diphtherie nicht selten. Unter den Chinesen wüthet
beständig die Variola; vaccinirt wird nur in den Centren, wo
europäische Niederlassungen sind; daher Revaccination der Truppen
dringlich. Bezüglich der Kleidung sind Sommeranzüge, Flanell¬
binden, Casques (runde Helme), ferner Kautschukdecken auf der
leuchten Erde, Mosquitonetze möglichst zu verwenden; im Winter
Tuchkleider, Wollstrümpfe, Tricots und Pelzwesten. — (Gazette
medicale de Paris. 14. Juli 1900, Nr. 28.) Sp.
*
280. (Aus dem Institute für Infection skrankheiten in Berlin.)
Ueber die Werth igkeit des Alkohols als Desinfec-
tionsmittel und zur Theorie seiner Wirkung. Von
Dr. Salz wedel und Dr. Elsner. Die Aufgabe bestand darin,
festzustellen, welche bacterientödlende Kraft dem Alkohol im Ver¬
gleiche zu den sonst gebräuchlichen Desinfectionsmitteln zukomme.
Zu diesem Zwecke wurden Fäden, an denen sich Eiter oder Eiter¬
blut befand, noch feucht oder in einem verschiedenen Grade
trocken geworden, der Desinfectionsflüssigkeit ausgesetzt. Das Ver¬
halten des Alkohols hatte hiebei die grösste Achnlichkeit mit dem¬
jenigen, welches er gegen seinen Erzeuger, die Hefe, übt. Es ist
bekannt, dass die gewöhnlichen Hefen einen ganz bestimmten
Alkoholgrad erzeugen und dann zu gähren aufhören; gewöhnlich
hört bei 13%igen Alkoholgehalt das Wachsthum der Hefe, bei
14%igen die Gährung auf, während bei 65%igen die Hefe abge-
tödtet wird. Das allgemeine Ergebniss obiger Versuche war, dass
an Seidenfäden angetrocknete Staphylococcen am sichersten durch
einen etwa 55%igen (Gewicht) Spiritus bei -(- 19° C. abgetödtet
wurden. Lysol und auch der Liq. creosoli saponatus blieb in l°/0iger
Lösung stets weit hinter Sublimat, Alkohol und Carbolsäure zurück.
Aber auch schwächerer Alkohol übt schon auf Bacterien einen
schädigenden Einfluss aus. Die Entwicklung der Staphylococcen
wird schon gehemmt, wenn man den Nährflüssigkeiten sieben
Volumprocent Alkohol zusetzt. Die desinficirende Kraft des 55%’gen
Spiritus erreicht im Allgemeinen nicht ganz die der l0/noigen
wässerigen Sublimatlösung, ist aber der 3%igen Carbollösung
mindestens gleichwertig. Diese Wirkung ist aber von verschie¬
denen Verhältnissen abhängig. Stark ein getrockneter Eiter
setzt der Desinfectionswirkung des Spiritus, sowie aller anderen
Desinficientien einen starken Widerstand entgegen. Ganz feuchte
Eiterfäden konnten schon durch absoluten kalten Alkohol nach
sechs bis acht Minuten desinficirt sein; etwas ein getrocknete
Fäden wurden von diesem nicht mehr, wohl aber durch 80%igen
Alkohol desinficirt. Für die Wirkung der Desinficientien ist ferner
die Reaction des Eiters in Betracht zu ziehen. Ist der Eiter
alkalisch, wie er es wird, wenn er längere Zeit in Fisteln oder
Höhlen dem Zutritte der Luft ausgesetzt ist, so wird die Wirkung
des Spiritus und auch die des Sublimates gelegentlich geringer; es
muss dann die Desinfectionsflüssigkeit — bei Carbol nicht noth-
wendig — mit Bor-, Essig- oder Salzsäure angesäuert werden. Da
der Eiter oft auch durch die Seifenwaschung alkalisch wird, so
empfiehlt sich nach den Untersuchungen der beiden Autoren zur
Hände- und Hautdesinfection für alle Fälle einen 80%igen a n ge¬
säuerten Spiritus zu verwenden. Zur Erklärung für die Des¬
infectionswirkung des Alkohols nehmen die Verfasser ausser der
austrocknenden noch eine Giftwirkung des Alkohols an. —
(Berliner klinische Wochenschrift. 1900, Nr. 23.) Pi-
281. (Aus dem Spitale S. S. Giovanni e Paolo, Venedig.)
Cavazzani: Chirurgische Casuistik.
1. Bei einem Falle von ausgebreiteter Nekrose der Tibia
erzielte der Verfasser schmerzlosen Verlauf der Operation durch
Injection einer salzsauren Cocainlösung (1 cg auf 1cm3 sterilisirtes
Wasser) in den Meningealsack zwischen dem dritten und vierten
Lendenwirbel. Vorher werden einige Tropfen Flüssigkeit abgelassen,
um sich vom Eindringen der Spritze in die Höhle zu überzeugen.
(Verfahren von Bier.)
2. Neuralgie des rechten Trigeminus in allen Aesten
— - epileptiformo Neuralgie nach Trousseau. 70 — 80 Anfälle im
Tage mit einer Aura in den Zähnen und Alveolen, begleitet von
angioparalytischer Hyperämie und mimischen Krämpfen. Dauer zwei
bis drei Minuten. Rechterseits Ausgleichung der Gesichtsfalten,
Dermatosen, Haarausfall. Cavazzani resecirte das obere Ganglion
des Halssympaticus, woselbst spontane und auf Druck erhöhte
Sensibilität bestanden. Vollständige Heilung. Im Falle eines Miss¬
erfolges wäre die Resection des Ganglion Gasseri nachgefolgt.
3. Fractur desletzten Rückenwirbels durch Sturz. Com¬
plete sensorielle und motorische Paralyse einschliesslich der Empfindung
für Gewichte, Wärme etc. Alle Reflexe erloschen, Permanente
Extension auf Planum inclinatum, Fixirung von Schultern und
Brustkorb. Nekroskopie: Stauung in den encephalitischen Venen,
enormer seröser Erguss in den Meningen mit Compression der
Hirnmasse. Das Rückenmark in der Gegend des zwölften Brust-
und ersten Lendenwirbels erweicht, syrupartig zerfliessend, Fractur
des zwölften Brustwirbels.
4. Koprostase bei einem vierjährigen Kinde seit frühester
Zeit bestehend. Tympanismus bis zum dritten Intercostalraum
reichend, wurmförmige Bewegungen der Darmschlingen, Entleerungen
nur durch die stärksten Purgantia. Laparotomie: Enorme Hyper¬
trophie aller Schichten des Dickdarms vom Cöcum bis zur F lexura,
756
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 33
18 cm im Durchmesser. Resection des hypertrophischen Trades,
Vereinigung des Cöcum mit der Flexura. Exitus.
5. Leukoplasie der Schleimhaut der linken Wange und
der linken Rachenpartie mit Schmerzen beim Kauen und Schlingen;
weisse, gekochtem Eiweiss gleichende Plaques an der den Massetter
und die Kronenapophyse des Unterkiefers bedeckenden Schleimhaut,
Ränder scharf, Oberfläche rauh, mehrfache Zerklüftung. Diese auch
Leukoplakie, Tylosis Vidal, Hyperkeratose etc. benannte Krankheit
soll durch Traumen, ätzenden Tabaksaft entstehen; das Epithel
verhornt, schliesslich auch Transformation in Krebs. Die Dichtig¬
keit der Schichten beträgt oft mehrere Millimeter. Das Leiden
wurde in der Mund- und Rachenschleimhaut, in der Nase, Binde-
haut, im Gehörgang und in der Schleimhaut des Urogenitalapparates
vorgefunden. Es kommt hei Leukoplasie der Blasenschleimhaut zur
Cystitis mit pulverartigem Sediment, welches aus polygonen ver¬
hornten Zellen besteht. Injectionen von Silbersalzen in die Blase.
In der Mundhöhle müssen tiefe Abkratzungen, Excisionen, Kauteri¬
sationen vorgenommen werden. — (Gazetta degli Ospedali. 8. Juli
1900, Nr. 81.) Sp.
*
282. (Aus der militär-medicinischen Akademie in Petersburg.)
Ueber die Anwendung des Calcium - Car bids in der
gynäkologischen Praxis. Von Dr. Grusdew. Das vom
französischen Chemiker Mo iss an entdeckte Calcium-Carbid ist
eine Calcium-Kohlenstoffverbindung, die durch Wasser in Acetylen
und ungelöschten Kalk zerlegt wird. Letztere Eigenschaft hat den
französischen Arzt G u i n a r d bewogen, das Carbid als palliatives
Mittel beim inoperablen Uteruscarcinom und, wie sich herausstellte,
mit Erfolg zu verwenden; Grusdew erklärt es als das beste der
aus diesem Anlasse gebrauchten Mittel. Die von ihm befolgte
Technik ist folgende: Die Kranke wird in Steinschnittlage gebracht,
die Genitalien werden desinficirt, die Portio mittelst Speculum frei¬
gelegt, Scheide und Geschwür gut abgetrocknet; dann wird auf die
zerfallende Neubildung, je nachdem ein Krater oder ein flacher
Substanzverlust vorhanden ist, ein längliches, haselnussgrosses oder
plattenförmiges Stückchen Carbid gelegt, mit einem Tampon dort
festgehalten und zur Sicherung die Scheide leicht austamponirt.
Die gesunde Scheidenschleimhaut muss vor dem sich bildenden
Kalk auf diese Weise geschützt werden. Nach ein bis drei Tagen
wird das Ganze herausgenommen, die Scheide desinficirt und erst
bei neuauftretendem übelriechenden Fluor oder Blutungen diese
Therapie wiederholt. Die Blutungen kommen dadurch zum Still¬
stand, die Schmerzen werden zumeist verringert. Während das
Carbid auf den Geschwulstmassen liegt, sind die übelriechenden
Ausscheidungen nicht selten verstärkt. Um die heftige Entwicklung
von Acetylen, beziehungsweise eine Explosion zu verhindern, ist
die Scheide gut auszutrocknen, auch darf keine gleichzeitige Be¬
handlung des Tumors mit dem Thermokauter stattfinden. In ein¬
zelnen Fällen war die Anwendung des Carbids als schmerzlich
empfunden worden. Grusdew empfiehlt dieses Verfahren be¬
sonders für die ambulatorische Praxis, weiters für die gutartigen
Ulcerationen der Scheide. — (Münchener medicinische Wochen¬
schrift. 1900, Nr. 24.) Pi.
THERAPEUTISCHE NOTIZEN.
(Aus der psychiatrischen und Nervenklinik des Hofruthes
Flechsig in Leipzig.) Ueber einige neuere Arznei¬
mittel und Methoden zur Epilepsiebehandlung. Von
Dr. Laudenhei m e r. Die antiepileptischen Eigenschaften der Brom¬
salze beruhen wahrscheinlich darauf, dass diese die Fähigkeit haben,
die Erregbarkeit der eorticomotorischen Centren, vielleicht auch der
peripheren Nervensubstanz herabzusetzen, ja sogar zu lähmen.
Letzteres bringt die als Bromismus bekannten schädlichen Neben¬
wirkungen zum Ausdrucke, und zwar ist dabei weniger die Einzel¬
dosis, als vielmehr die cumulative Wirkung zu fürchten. Es steht
jetzt fest, dass der Organismus in den ersten Wochen weniger Brom
ausscheidet als er einnimmt, bis eines Tages die Sättigung mit
Brom erreicht und die Ausfuhr gleich der Einfuhr ist. Ist dieser
Sättigungspunkt erreicht worden, ohne dass Zeichen einer Brom¬
vergiftung aufgetreten sind, dann ist eine dauernde Toleranz zu er¬
warten. Diese Ueberlegung deckt sich mit der Erfahrung, dass der
Bromismus häufig in den ersten Wochen einer Cur eintritt. Aus dem
Gesagten ist zu entnehmen, dass bei grossen Tagesdosen anfänglich
ganz bedeutende Brommengen aufgespeichert werden, weshalb die
Zeichen der ausgebildeten Bromvergiftung (Benommenheit, Ataxie,
Tremor, Sprachstörung, Herzschwäche, Kachexie) wochenlang fort-
bestehen können. Die leichteren Erscheinungen des Bromismus
(mässige Akne, Müdigkeit, Verdauungsstörungen) sind im Allgemeinen
keine Gegenanzeige für die Fortsetzung der Cur. Nach Ziehen ist
zwei Tage hintereinander fehlender Cornealreflex das Signal für die
Unterbrechung der Cur. Hinsichtlich der Dosis soll man nicht mit
unter dreimal 2 g Bromkali (mit mindestens der 50fachen Flüssigkeits¬
menge verdünnt) beginnen. Die Thatsache, dass nur ein Theil der
Epilepsiefälle mit Brom geheilt wird, hat zur Anwendung verschiedener
Präparate und Methoden geführt. Für Bromnatrium (mit 78% Brom)
ist Bromalin mit nur 32% Bromgehalt empfohlen worden, ferner
das Br omipin zu vier Esslöffel pro die. Dieses Präparat kann auch
subcutan einverleibt werden. Von den Methoden sind die bekanntesten
die Brom-Opiummethode von Flechsig, über welche in
dieser Wochenschrift bereits ausführlich berichtet wurde; ferner die
Brom-Atropinmethode von M o e 1 i. Bechterew hat vor¬
geschlagen die monatelange Darreichung von: Rp. Infus, adon. vern.
2-0— 3-5, Natr. brom. 8— 12 0, Aq. d. ad 200 0. S. 4—8 Esslöffel
täglich; Gowers die Combination mit Digitalis, Seguin jene mit
Chloral. Zu den Bromsurrogaten gehören das Fluidextract der
Piscidia erythrina zu 5 — 15 Theelöffeln pro die und das Amylenhydrat
bei den zu Koma führenden serienweisen Anfällen. — (Die Therapie
der Gegenwart. 1900, Nr. 7.)
*
(Aus der Kiuderpoliklinik in Berlin.) Tannin und Silber¬
präparate bei dem Darmkatarrh der Kinder. Von
Dr. Cohn. In 60 Fällen von acutem Darmkatarrh wurde Protargol,
und zwar 0 05 : 50'0 Aq. bei ganz kleinen, 0 1 : 50 0 Aq. bei einigen
Monaten alten Kindern, stündlich ein Theelöffel, verordnet. Es ist an¬
geblich gelungen, dadurch Darmkatarrhe zu stopfen, die auf keine
andere Weise zu beseitigen waren. Für das dyspeptische Stadium
eines Darmkatarrhes empfiehlt Verfasser die Tanninpräparate, und
zwar besonders das T anno form zu 0'25 pro dosi. — (Therapie
der Gegenwart. 1900, Nr. 7.)
*
Der in Bezug auf Thier und Mensch zu Tage tretende Unter¬
schied in der Wirkung der Morphiumderivate, besonders des D i o n i n,
hat zu einer Meinungsverschiedenheit über den Werth der einzelnen
Präparate geführt. Winter nitz (Monatsschrift für Psychiatrie und
Neurologie. 1900) tritt dafür ein, dass Codein und Di on in die
Reizbarkeit der Luftwege herabsetzen, ohne die Athemthätigkeit zu
beschränken, und dass sie die Expectoration begünstigen. Wo sie
versagen, wird Morphium am Platze sein, welches durch Heroin kaum
wird vertreten werden können.
*
(Aus der Abtheilung des Hofrathes Stadelmann im Kranken¬
hause am Urban in Berlin.) Klinische Erfahrungen über
Salacetol bei rheumatischen Erkrankungen. Von
Dr. Lasker. Salacetol, ein weisses, in Wasser schwer lösliches
Pulver von bitterem Geschmack, ist eine Salicylsäure-Acetol-Ver-
bindung, die erst im Darm in ihre Componenten gespalten wird. Die
Wirkungen sind ungefähr die der Salicylsäure, doch sollen Intoxications-
erscheinungen bei jenem Präparate seltener und milder auftreten. An¬
fängliche Tagesdosis 6 — 8 g. — (Deutsche Aerztezeitung. 1900,
Nr. 12.)
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Ernannt: ln Budapest: Der Privatdocent für innere
Medicin Dr. A. v. K oranyi und der Privatdocent für Augenheil¬
kunde Dr. v. Grosz zu a. o. Professoren. — Dr. Constantin
S a v a s, Leibarzt des Königs von Griechenland, zum o. Professor der
Hygiene und Bacteriologie zu Athen. — Dr. D e b o v e zum Pro¬
fessor der medicinischen Klinik in Paris.
*
Verliehen: Der Stabsarztescharakter ad honores den Regiments¬
ärzten Dr. Anton Kaiser und Dr. Ignaz Kemeny des Ruhe¬
standes. — Dem Privatdocenten für Ohrenheilkunde Dr. Grün er t
in Halle das Prädicat Universitätsprofessor. — Dem Privatdocenten
für Physiologie Dr. Klein in Kiel der Professortitel.
*
Habilitirt: In Genua: Dr. B a d a n o und Dr. C u n e o
für innere Medicin. — Dr. Frey er in Lausanne für innere
Pathologie.
*
Gestorben: Dr. F a 1 c o n i, ehemaliger Professor der Ana¬
tomie zu Cagliari.
Nr. 33
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
757
Der XIV. internationale medicinische Congress soll, den Pariser
Beschlüssen zufolge, 1901 in Brüssel abgehalten werden.
*
72. Versammlung Deutscher Naturforscher und
Aerzte in Aachen vom 16. bis 22. September 1900.
Allgemein eTagesordnung: Sonntag den 16. Sep¬
tem b e r. Vormittags 10 Uhr: Sitzung des Vorstandes der Gesell¬
schaft, Technische Hochschule. Vormittags 11 Uhr: Sitzung des wissen¬
schaftlichen Ausschusses, ebendaselbst Vormittags 12 Uhr: Gemein¬
same Sitzung des Vorstandes der naturwissenschaftlichen Hauptgruppe
und der einführenden Vorsitzenden der zugehörigen Abtheilungen.
Mittags 12 Uhr: Gemeinsame Sitzung des Vorstandes der medi-
cinischen Hauptgruppe und der einführenden Vorsitzenden der zu
gehörigen Abtheilungen. Nachmittags 3 Uhr: Gemeinsames Mittag¬
essen der Mitglieder des Vorstandes und des Ausschusses der Gesell¬
schaft, der einführenden Vorsitzenden der Abtheilungen und der Mit¬
glieder der Aachener Ortsausschüsse im Curhaus auf der Curbrunnen-
strasse (Gedeck 3 M.). Abends 8 Uhr: Empfang der Gäste im Cur-
hause auf der Comphausbadstrasse.
Montag den 17. September. Vormittags 9^2 Uhr : Erste
allgemeine Sitzung im Curhause auf der Comphausbadstrasse. Dieselbe
ist bestimmt, nach der Eröffnung der Versammlung und den sich
daran schliessenden Begriissungsansprachen einen Rückblick auf die
Entwicklung der Naturwissenschaften und der Medicin im XIX. Jahr¬
hundert zu geben. Es werden reden: Prof. Dr. J. H. van t’H o f f
(Berlin): Ueber die Entwicklung der exacteu Naturwissenschaften
(Physik, Chemie und der sich daran schliessenden Zweige). Professor
Dr. G. Her twig (Berlin): Ueber die Entwicklung der Biologie.
Prof. Dr. N a u n y n (Strassburg) : Ueber die Entwicklung der inneren
Medicin mit Bacteriologie und Hygiene. Hofrath C h i a r i (Prag) :
Ueber die Entwicklung der Pathologie mit Berücksichtigung der
äusseren Medicin. Nachmittags 4 Uhr : Bildung und Eröffnung der Ab¬
theilungen.
Dienstag den 18. September. Vormittags 9 Uhr und
Nachmittags 3 Uhr: Sitzungen der Abtheilungen. Abends G1/^ Uhr:
Festmahl im städtischen ^ Curhause (Preis des Gedeckes 5 M.).
Mittwoch den 19. September. Vormittags 8 Uhr: Ge¬
schäftssitzung der Gesellschaft in der Aula der königl. Technischen
Hochschule. Vorläufige Tagesordnung: 1. Wahl des Versammlungsortes
für 1901. 2. Wahl der Geschäftsführer für 1901. 3. Neuwahlen in
den Vorstand. 4. Neuwahlen in den wissenschaftlichen Ausschuss auf
Grund der im Tageblatt zu veröffentlichenden Vorschläge des bisherigen
wissenschaftlichen Ausschusses. 5. Cassenbericht. Vormittags 10 Uhr :
Gemeinsame Sitzung der naturwissenschaftlichen
Hauptgruppe unter dem Vorsitze des Prof. Dr. van t’H o f f
(Berlin) in der Aula der kgl. Technischen Hochschule. Vorträge der Herren :
Prof. M. Beyerink (Delft): Der Kreislauf des Stickstoffs im orga¬
nischen Leben. Prof. E. F. Dürre (Aachen): Die neuesten Forschun¬
gen auf dem Gebiete des Stahles. Prof. P i e t z k e r (Nordhausen) :
Sprachunterricht und Sachunterricht (vom naturwissenschaftlichen Stand¬
punkte). Vormittags 1 1 Uhr: Gemeinsame Sitzung der medi¬
cin i s c h e n Hauptgruppe unter dem Vorsitze des Geheimrathes
Prof. Dr. v. W i n c k e 1 (München) in der Aula der städtischen Ober¬
realschule. Vorträge der Herren: Prof. Dr. V er worn (Jena) und
Privatdocent Dr. Nissl (Heidelberg): Der heutige Stand der Neuronen¬
lehre. Nachmittags von 2 Uhr ab: Ausflüge zur Besichtigung indu¬
strieller Werke. Abends von 8 Uhr ab: Zwanglose Zusammenkunft
im Belvedere des Lousberges.
Donnerstag den 20. September. Vormittags 9 Uhr
und Nachmittags 3 Uhr: Sitzungen der Abtheilungen. Abends 7 Uhr:
Festconcert im grossen Concertsaale des städtischen Curhauses.
Freitag den 21. September. Vormittags Uhr :
Zweite allgemeine Sitzung. Vorträge der Herren: Professor
Dr. Julius Wolff (Berlin) : Ueber die Wechselbeziehungen zwischen
Form und Function der einzelnen Gebilde des Organismus (mit Demon¬
strationen). Prof. Holzapfel (Aachen): Ausdehnung und Zusammen¬
hang der deutschen Steinkohlenfelder. Prof. Hansemanu (Berlin) :
Einige Zellprobleme und ihre Bedeutung für die wissenschaftliche Be¬
gründung der Organtherapie. Prof. Dr. Erich v. Drygalski
(Berlin): Plan und Aufgaben der deutschen Südpolarexpedition. Schluss¬
reden. Nachmittags 3 Uhr: Sitzungen der Abtheilungen. Abends 6 Uhr:
Concert am Elisen orunoen. Abends 8 1/2 Uhr: Abschiedsfest in den
Räumen des Curhauses, dargeboten von der Stadt Aachen.
Samstag den 22. September. Ausflüge in die Eifel unter
ortskundiger Führung. Es sind in Aussicht genommen: Ausflug nach
Montjoie, Ausflug nach Niedeggen.
Erläuterungen zur Organisation der Gesell
schaft und zur Tagesordnung der Aachener Ver¬
sammlung. Mitglieder der Gesellschaft können alle Die¬
jenigen werden, welche sich wissenschaftlich mit Naturforschung und
Medicin beschäftigen. Anmeldungen zur Mitgliedschaft
haben schriftlich beim Schatzmeister der Gesellschaft, Dr. Karl
Lampe-Vischer in Leipzig (an der Bürgerschule 2) zu er¬
folgen. Von Sonntag den 16. September Mittags bis Dienstag den
18. September Abends werden die Anmeldungen auch in Aachen im
Empfangsbureau in der unteren Halle der Erholung, Friedrich Wilhelm-
Platz Nr. 22, gegenüber dem Elisenbrunnen, entgegengenömmen, ebenso
von Sonntag den 16. September bis Freitag den 21. September, Mittags,
in der Hauptgeschäftsstelle der Versammlung in der Technischen Hoch¬
schule.
Die Mitglieder haben, so weit sie an der Versammlung theil
nehmen, einen Versammlungsbeitrag von M. 15. — zu
zahlen. Durch die Zahlung dieses Versammlungsbeitrages erwerben
die Mitglieder zugleich das Recht auf unentgeltliche Zusendung der
„Verhandlungen“. Für diejenigen Mitglieder, welche das Entgelt fin¬
den Bezug der Verhandlungen bereits an den Schatzmeister bezahlt
haben, ermässigt sich der Versammlungsbeitrag auf M. 9. — . Wer auf
der Versammlung als Mitglied bei t ritt, hat ausserdem noch den Mit¬
gliedsbeitrag für das laufende Jahr mit M. 5. — , somit im Ganzen
M. 20. — zu bezahlen. Die Mitgliedskarte und eventuell die Quittung
des Schatzmeisters über den bereits gezahlten Betrag für die Verhand¬
lungen ist mitzubriiigen.
Theilnehmer an der Versammlung kann, auch ohne
Mitglied der Gesellschaft zu sein, Jeder werden, der sich für Natur¬
wissenschaften interessirt. Die Theilnehmer an der Versammlung haben
einen Versammlungsbeitrag von M. 20. — zu entrichten. Zur
Ausweisung während der Versammlung dient für alle Mitglieder und
Theilnehmer die Theilnehmer karte. Diese berechtigt zum Bezüge
des Festabzeichens, des in fünf Nummern erscheinenden Tageblattes,
der Festgaben und sonstigen, für die Theilnehmer bestimmten Druck¬
sachen, sowie zur Theilnahme an den Festlichkeiten und wissenschaft¬
lichen Sitzungen (nicht zugleich auch an der Geschäftssitzung der Ge¬
sellschaft, für welche die Mitgliedskarte als Ausweisung dient), und
ferner zur Entnahme von Damenkarten zum Preise von
je M. 6.—.
Eine Inte rims-Theilnehmer karte, welche auf der
Versammlung in dem Empfangsbureau der Erholungsgesellsehaft oder in
der Hauptgeschäftsstelle (Technische Hochschule) gegen eine endgiltige
umgetauscht werden muss, ist von jetzt ab gegen Einsendung von
M. 20. — an die Direction der Aachener Disconto-
Gesellschaft in Aachen, Theater platz, zu erhalten. Die
von Seiten der Gesellschaft herausgegebenen „Verhandlungen“ werden
den Mitgliedern der Gesellschaft, soweit dieselben darauf abonnirt oder
an der Versammlung theilgenommen haben, unentgeltlich zugestellt.
Theilnehmer, welche nicht Mitglieder der Gesellschaft sind, erhalten
die „Verhandlungen“ gegen besondere Zahlung von M. 6. — , wenn sie
sich in eine in der Hauptgeschäftsstelle (Technische Hochschule) auf¬
liegende Liste einzeichnen. Der allgemeine Theil der Verhand¬
lungen (die Reden und Vorträge der beiden allgemeinen Sitzungen ent¬
haltend) wird a 1 1 e n Theilnehmeru unentgeltlich von der Gesell¬
schaft zugesandt. Die Stadt Aachen bietet den Theilnehmern der
Versammlung zum Willkommgruss eine Festschrift dar, in welcher
eine Reihe von Abhandlungen über Geschichte, Lage, Klima, Bau¬
wesen, Theimen, Cur- und Badeleben, Wasser- und Nahrungsversor¬
gung, Entwässerung, Beleuchtung, Verkehrs- und Unterrichtswesen,
sowie Vereine und Anstalten für Wissenschaft und Kunst, Volkswohl¬
fahrt, Armen- und Krankenpflege von Aachen niedergelegt sind. Von
Seiten der Geschäftsführung wird ein illustrirter Führer durch Aachen
dargeboten. In den Dienst der die Versammlung besuchenden Damen
wird sich ein aus Damen und Herren bestehender Ausschuss stellen,
dessen Bureau sich während der Festwoche in dt m Aachener Curhause
befindet und dessen besondere Aufgabe es sein wird, den Theil-
nehmerinnen während der fachwissenschaftlichen Sitzungen eine an¬
regende Unterhaltung zu bieten. Zu diesem Zwecke ist seitens des
Ausschusses bereits ein eingehendes Programm zur gruppenweisen Be¬
sichtigung der Sehenswürdigkeiten der Stadt und Umgebung unter
sachkundiger Führung ausgearbt itet. Die Damen erhallen ihr Festab¬
zeichen und können an allen programmmässigen Festlichkeiten, an den
allgemeinen Sitzungen, Besichtigungen und Ausflügen gegen Vorzeigen
ihrer Damenkarte, beziehungsweise der auf Grund derselben vorher aus¬
zugebenden Sonderkarten theilnehmen.
V o r a u s b e s t e 1 1 u n g e n von Wohnungen in den
Gasthöfen, sowie in Privathäusern nimmt der W o h n u n g s-
ausschuss, Technische Hochschule, Zimmer 22, von jetzt
ab entgegen. Man wolle Anmeldungen thuulichst beschleunigen,
damit bei dem an sich schon starken Besuche der Gasthöfe
im Monat September die angemessene Unterbringung unserer
Gäste , keine Schwierigkeiten bereitet. Der Wohnungsausschuss hat in
der unteren Halle der Erholungsgesellschaft, Friedrich Wilhelm-Platz
75«
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 33
Nr. 7, gegenüber dem Elisenbrunnen, von Samstag den 15. September
Mittags bis Montag den 17. September Abends, während der Tages¬
stunden und Abends nach Ankunft der Schnellzüge, ein Empfangs¬
und Auskunftsbureau eingerichtet. Dort werden Einzeichnungeu in die
Präsenzliste und Anmeldungen zur Mitgliedschaft der Gesellschaft an¬
genommen. Daselbst erfolgt auch an den genannten Tagen Samstag am
Nachmittage von 3 — 8, Sonntag und Montag Vormittags 8 — 1 und
Nachmittags 3 — 8 Uhr die Ausgabe der Theilnehmer- etc. Karten, der
Damenkarten, der ersten Nummer des Tageblattes, der Festgabe etc.
Die Erledigung dieser geschäftlichen Dinge erfolgt am 16. und
17. September gleichzeitig und von da ab ausschliesslich in der Haupt¬
geschäftsstelle in der Technischen Hochschule, wo also auch gegen
Vermerk auf den Theilnehmer-, beziehungsweise Damenkarten die Fest¬
gaben, Drucksachen und späteren Nummern des Tageblattes ausgegeben
werden. Die Abtheilungssitzungen finden der grossen Mehrzahl nach
in den Räumen der Technischen Hochschule, in den gewerblichen
Fachschulen in der Martinstrasse, und zum Theil auch in der Ober¬
realsehule (Vincenzstrasse) statt. Das Geschäftszimmer befindet sich
in der Technischen Hochschule, ebenso ist für den Vorstand ein
Zimmer in der Technischen Hochschule reservirt. Desgleichen wird in
der Technischen Hochschule von Morgens bis Abends ein Postamt zur
Annahme und Ausgabe von gewöhnlichen Briefschaften, sowie von
Telegrammen und zum Verkaufe von Postwerthzeichen geöffnet sein ;
postlagernde Sendungen sind dahin unter dem Vormerk „Postamt
Technische Hochschule“ zu richten. Neben einem allgemeinen
Schreibzimmer wird ferner ein besonderes für die Vertreter der Presse
in der Technischen Hochschule reservirt sein. Die näheren dies¬
bezüglichen Angaben, sowie alle weiteren Hinweise, die für die Ver¬
sammlungsbesucher von praktischer Wichtigkeit sind, werden im
Tageblatt veröffentlicht, das täglich Morgens von 8 Uhr ab in
der Technischen Hochschule zur Ausgabe gelangen soll. Dasselbe wird
ausserdem in seiner ersten Nummer die neuen Satzungen und die
Geschäftsordnung der Gesellschaft und weiterhin täglich das Programm
des betreffenden Tages, eine Aufzählung der am vorhergehenden Tage
gehaltenen Vorträge unter Nennung des Vortragenden und des Gegen¬
standes seines Vortrages, sowie ein möglichst vollständiges
Verzeichniss der Theilnehmer und ihrer Wohnungen
enthalten. Zur Ermöglichung dieser unbedingt not h-
w endigen Vollständigkeit ergeht an alle Theil¬
nehmer die dringende Bitte, bei Lösung der Theil-
neh merk arte, beziehungsweise Umtausch der In¬
terimskarte Namen, Wohnort und h i e s i ge Wohnung,
sowie später etwa eintretende Veränderungen der
letzteren in die im Empfangsbureau oder der Haupt¬
geschäftsstelle aufliegende Präsenzliste mit deut¬
licher Schrift einzutragen. — Mit der Versammlung ver¬
bunden, aber finanziell nach den diesbezüglichen Bestimmungen der
neuen Satzungen auf sich selbst angewiesen und deshalb zur Bean¬
spruchung eines besonderen Eintrittsgeldes gezwungen, wird eine
Ausstellung naturwissenschaftlicher Gegenstände
und medicinischer Apparate und Instrumente in der
Turnhalle der gewerblichen Fachschulen in der Martinsstrasse ver¬
anstaltet werden. Der Preis einer Karte zum beliebig häufigen Be¬
suche der Ausstellung ist auf M. 1. — festgesetzt. Unmittelbar vor dem
Beginne der Versammlung, am Sonntag den 16. September, Nach¬
mittags 3 Uhr, wird der Verein abstinenter Aerzte des
deutschen Sprachgebietes im Sitzungssaale der Abtheilung für
Psychiatrie seine fünfte Jahresversammlung halten, zu der sämmtliche
Theilnehmer der Naturforscher-Versammlung freundliehst eingeladen
sind. Die Sehenswürdigkeiten Aachens, unter Anderem das Rathhaus,
Museum etc. werden für die Theilnehmer der Versammlung täglich
zugänglich sein. Die Anmeldungen für das Festmahl (Dienstag)
werden bis spätestens Montag Mittag erbeten. Diejenigen Herren
^ orstands- und Ausschussmitglieder, die sich an dem am Sonntag
Nachmittag stattfindenden Mittagessen zu betheiligen ge¬
denken, wollen dies gütigst bis Samstag den 15. September, Mittags,
durch Postkarte an das Bureau der Geschäftsführung (Technische
Hochschule) melden.
Für die am Mittwoch den 19. September, Nach¬
mittags, in Aussicht genommenen technischen Excursionen ist nach¬
folgendes Programm entworfen: Besuch verschiedener Tuchfabriken
und Nadel fabriken in Aachen, des Aachener Hütten- Actien-Vereines zu
Rothe Erde bei Aachen; Besichtigungen: Eisenwalzwerk, Martinöfen,
1 homas Gilchrist-\ erfahren, Mahlen der Thomas Schlacken, Verladen durch
Hebevorrichtung mit elektrischem Antrieb, Laboratoriumseinrichtung.
Ausflug nach Kohlscheid. Besichtigung der Anlagen der Vereinigungs-
Gesellschaft für Steinkohlen im Wurmrevier und Vorführung der Ver¬
suche von Kohlenstaubexplosionen in der hiefür auf Grube „Maria“ an¬
gelegten Versuchsstrecke. Ausflug nach Stolberg und Eschweiler. Da¬
selbst können besichtigt werden: Glashütten, Walzwerk, Hochofen¬
anlage, Steinkohlengrube Nothberg des Eschweiler Bergwerksvereines,
woselbst Coaksofenanlago mit Gewinnung der Nebenproducte
(Ammoniak, Theer, Benzol), Zinkhütte der Rheinisch-Nassauischen
Gesellschaft, Bleihütte der Stolberger Gesellschaft, Chemische Fabrik
„Rhenania“. Ausflug nach Rheydt zur Besichtigung des Kabelwerkes.
Das genaue Programm der Ausflüge, sowie das Nähere über die An¬
meldungstermine wird den Theünehmern in Aachen bekannt gegeben
werden.
Zwei Tagesausflüge am Samstag den 22. September 1900 in
die Eifel. 1. Wenig anstrengende Wanderung ab Station Montjoie.
Zu Fuss IV2 — 13/4 Stunden. 2. Wanderung für geübtere Fussgänger
nach Forsthaus „Mausauel“ und „Niedeggen“. (Fortsetzung folgt )
*
S an itäts ver häl tn isse bei der Mannschaft d es k.u.k. Heer es
im Monat Mai 1900. Mit Ende April 1900 waren krank ver¬
blieben bei der Truppe 1738, in Heilanstalten 7454 Mann. Kranken¬
zugang im Monat Mai 1900 17.283 Mann, entsprechend pro Mille
der durchschnittlichen Kopfstärke 51. Im Monat Mai 1900 wurden
an Heilanstalten abgegeben 8423 Mann, entsprechend pro Mille der
durchschnittlichen Kopi'stärke 25. Im Monat Mai 1900 sind vom
Gesammtkrankenstande in Abgang gekommen 17.607 Mann, darunter als
diensttauglich (genesen) 14.948 Mann, entsprechend pro Mille des
Abganges 849, durch Tod 79 Mann, entsprechend pro Mille des Ab¬
ganges 4"48, beziehungsweise pro Mille der durchschnittlichen Kopf¬
stärke 0-23. Am Monatsschlusse sind krank verblieben bei der Truppe
1546, in Heilanstalten 7322 Mann.
*
A u 8 dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 28. Jahreswoche (vom 8. Juli
bis 14, Juli 1900). Lebend geboren: ehelich 646, unehelich 255, zusammen
901. Todt geboren: ehelich 44. unehelich 18, zusammen 62. Gesammtzahl
der Todesfälle 604 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
18‘9 Todesfälle), darunter an Tuberculose 109, Blattern 0, Masern 15,
Scharlach 4, Diphtherie und Croup 4, Pertussis 6, Typhus abdominalis 1,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 4, Neu¬
bildungen 44. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), VaricelleD
14 (-)- 1), Masern 190 (-j- 15), Scharlach 26 ( — 4), Typhus abdominalis
12 ( — 5), Typbus exanthematicus 0 (=0, Erysipel 17 ( — 6), Croup und
Diphtherie 26 (-j- 7), Pertussis 49 ( — 111, Dysenterie 0 (=), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 3 (=), Trachom 5 (-f- 4), Influenza 0 (=)•
Freie Stellen.
Districtsarztesstelle für den District Schwaderbach, mit dem
Amtssitze daselbst, im politischen Bezirke Graslitz, Böhmen. Zu diesem
Districte gehören die Ortschaften: Eibenberg, Grünberg, Markhausen und
Schwaderbach mit circa 6500 Einwohnern. Gehalt 800 K, Reisepauschale
400 K, Zulage von der Gemeinde Schwaderbach 200 K. Bewerber deutscher
Nationalität werden eingeladen, ihre im Sinne des § 5 des Gesetzes vom
23. Februar 1888, Nr. 9, belegten Gesuche bis 20. August 1900 bei dem
Bezirksausschüsse in Graslitz einzubriugen.
Gemeindearztesstelle für die in einen Sanitätsdistrict vereinigten
Gemeinden Castel Vitturi und Castel Sui5urac, Dalmatien, be¬
stehend aus vier Ortschaften (4000 Einwohner), welche längs der Reichs¬
strasse an der Küste in einer Ausdehnung von 5 hm gelegen sind. Jahres¬
gehalt 3200 K, zahlbar in monatlichen, und Reisepauschale 800 K, zahlbar
in dreimonatlichen Anticipativraten beim k. k. Hauptsteueramte in Spalato.
Verpflichtung: Einmaliger Besuch der Kranken täglich in sämmtlichen Ort¬
schaften und Verseilung des Sanitätsdienstes im Sinne des Landesgesetzes
vom 27. Februar 1874, L. G. und V. Bl. Nr. 10. Bewerber haben beizu-
briugen: 1. Das Diplom; 2. den Taufschein; 3. den Nachweis der Heimats¬
zuständigkeit; 4. den Nachweis über die Kenntniss der croatischeu
Sprache.
Gemeindearztesstelle in Leogang hei Saalfelden, Salzburg.
Die fixen Bezüge belaufen sich auf 2120 K. Haltung einer Hausapotheke
erforderlich. Bewerber um diese im September d. J. zu besetzende Stelle
wollen sich an die Gemeindevorstehung in Leogang wenden.
Stipendium für einen Arzt zur Ausbildung in der
Psychiatrie. Zur Ausbildung in der Psychiatrie hat der Bukowinaer
Landtag ein Stipendium von 3200 K für einen aller drei Landessprachen
mächtigen Arzt unter der Bedingung bewilligt, dass der betreffende
Stipendist sich mittelst Reverses verpflichtet, in der neu zu errichtenden
Landes-Irrenanstalt in Czernowitz sich verwenden zu lassen. Derselbe ist
■verhalten, die Zeit vom 1. October 1900 bis 31. December 1901 der fachlichen
Ausbildung zu widmen; hievon hat er das Wintersemester 1900 — 1901
auf den Wiener psychiatrischen Kliniken zuzubringen und in den darauf¬
folgenden Monaten April bis Juni 1901 in der niederösterreichischen
Landes-Irrenanstalt Kierling-GuggingVolontärdienst.e zu leisten; endlich ist die
Zeit von Juli bis November 1901 zum Besuche und zu Studien in mehreren
näher bezeichneten in- und ausländischen Irrenanstalten zu verwenden. Ueber
den Besuch der Irrenanstalten und der Kliniken hat sich der Stipendist
durch Verwendungs-, beziehungsweise Colloquienzeugnisse auszuweisen.
Gesuche sind bis 18. August 1900 an den Bukowinaer Landesausschuss zu
richten.
Nr 33
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
759
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
Wissenschaftlicher Verein der k. u. k. Militärärzte der Garnison
Wien. Sitzung- vom 24. und 31. März 1900.
13. Internationaler medicinischer Congress zu Paris. (2. -9. August 1900.)
(Fortsetzung.)
Wissenschaftlicher Verein der k. und k. Militärärzte der
Garnison Wien.
Sitzung am 24. März 1900.
Vorsitzender: Oberstabsarzt Prof. Dr. Kratschmer.
Regimentsarzt Dr. Wiek hält einen Vortrag: Ueber die
klimatischen Einflüsse auf Morbidität und Mortali¬
tät unter der Truppe. (Derselbe erscheint an anderer Stelle
ausführlich.)
*
Sitzung am 31. März 1900.
Vorsitzender: Generalstabsarzt Dr. Nagy R. V. RotllkreilZ.
Stabsarzt Dr. Huber bespricht zuerst seine Erfolge bei der Be¬
handlung der Bubonen, sodann in längerer Rede die Erkrankungen
der menschlichen Haut, welche durch Fliegenlarven verursacht werden
und von Hope mit dem Namen Myiasis (Tse tse) bezeichnet wurden.
Sodann stellt Regimentsarzt Dr. Franz einen seltenen, nicht
auf parasitärer Basis beruhenden Fall von Chylurie bei einem
23jälirigen Wachsoldaten vor. Der Vortragende bespricht auf Grund
der in der Literatur angeführten Fälle im Allgemeinen das Wesen
und die Ursachen der Chylurie und geht dann zu dem speciellen
Falle über. Bei diesem wurden in Verbindung mit Doctor
K. R. v. Stejskal und Dr. Erber die eingehendsten Unter¬
suchungen durchgeführt, die in einer gemeinschaftlichen Arbeit zur
Publication gelangen werden.
Hierauf hält Regimentsarzt Dr. Weil einen Vortrag über
„Stottern“.
13. Internationaler medicinischer Congress zu Paris.
(2—9. August 1900.)
(Fortsetzung.)
Abtheilung für Neurologie und Psychiatrie.
V. N e i s s e r (Leubus) : Ueber Irrenbehandlung.
(Fortsetzung.)
b) Die Bettbehandlung als therapeutisches Ver¬
fahren.
•
1. Die Bettbehandlung ist kein specifisches Heilmittel für Psy¬
chosen, ebensowenig wie sie dies für fieberhafte oder andere eon-
sumirende Krankheiten ist. Sie ist nur ein Hilfsmittel der Therapie,
welche im Uebrigen völlig indivuduell von Fall zu Fall zu gestalten
ist. Dass die Bettbehandlung, diese einfachste, nächstliegende und
populärste Massnahme jedes Arztes, in ihrer Ausdehnung auf Geistes¬
kranke fast wie ein neues und eigenartiges System wirkt, was sie nicht
ist und ihrer ganzen Natur nach nicht sein kann, ist nur im Hinblick
auf die historische Entwicklung der Psychiatrie verständlich.
2. Die Bettbehandlung erfüllt nur eine einzige d i r e c t e thera¬
peutische Indication: Sie erzeugt Gehirnruhe. (Es ist Werth
zu legen auf die physiologische Fassung dieses Ausdruckes im
Gegensatz zu den Versuchen psychischer Einwirkung!)
3. Sie ist also überall indicirt, wo es gilt, Reizsym¬
ptomen entgegen zu wirken, in erster Linie also bei allen
Erkrankungsformen acuten Charakters.
4. Dem psychischen Zustande im Einzelnen ist dabei hauptsächlich
durch geeignete Unterbringung und Gruppirung der Kranken Rechnung
zu tragen. (Bettbehandlung fh einem der gemeinsamen Krankensäle,
Bettbehandlung im Einzelzimmer, mit offener, mit geschlossener Thüre,
aber selbstverständlich bei dauernder Wartung u. s. w.) Weitgehendste
lndividualisirung ist in allen diesen Fragen dringendes Erforderniss.
5. Ist einerseits, so lange ein florider Krankheitsprocess besteht,
die therapeutische Hauptaufgabe, physische Ruhe, Ruhe für
das erkrankte Organ zu schaffen, so ist andererseits, sobald die
acuten Erscheinungen zu schwinden beginnen und bei fehlender Heilungs¬
tendenz die therapeutische Aufgabe : Erhaltung und Belebung
der Reste der psychischen Persönlichkeit durch
adäquate Bethätigung.
Die Schwierigkeit ist, den richtigen Zeitpunkt abzupassen; wird
derselbe versäumt, so bildet sich leicht physisch und psychisch un¬
günstig wirkende Bettsucht heraus, welche schwer zu bekämpfen ist.
Nicht selten empfiehlt es sich, noch während des acuten Stadiums
Bettbehandlung, Arbeit und Bewegung in frischer Luft zu combiniren,
was in verschiedener Weise geschehen kann. („Bettbeschäftigung“,
Systeme mixte [T o u 1 o u s ej).
Namentlich bei den Psychosenformen des Jugendalters darf die
Bettbehandlung nicht zu lange ausgedehnt werden.
c) Modificationen in der Organisation der Anstalten
durch die Bettbehandlung.
1. Die Bettbehandlung lässt sich ohne irgend erhebliche bauliche
Modificationen auch in alten Anstalten durchführen. (Demonstration der
Pläne von Leubus.)
2. Gesonderte Zellenabtheilungen müssen endgiltig verschwinden
(ausser in Verbrecherasylen).
3. Möglichst viele und in der Anlage im Einzelnen variirte, nicht
grosse Abtheilungen sind für Bettbehandlung wünschenswerth. Bei
Durchschnittsverhältnissen mittelgrosser gemischter Heil- und Pflege¬
anstalten dürften für je 100 Kranke etwa zwei bis drei solcher Ab¬
theilungen zu etwa 20 Kranken erforderlich sein. Jede dieser Ab¬
theilungen möge aus drei bis vier freundlich eingerichteten, verschieden
grossen Räumen für gemeinschaftlich Bettlägerige, einen gemeinschaft¬
lichen Aufenthaltsraum und ein bis zwei Einzelzimmern bestehen. Die
Räume sollen so angeordnet sein, dass eine genügende Aufsicht durch
wenige Wartepersonen (mindestens müssen aber jederzeit zwei für jede
Abtheilung anwesend sein) geleistet werden kann.
4. In jeder Abtheilung ist für möglichst reichliche Badegelegen¬
heit Sorge zu tragen.
5. Mehr als 100 bis höchstens 200 Kranke sollten auf den ein¬
zelnen Arzt — auch bei mässigem Wechsel des Bestandes — nicht
gerechnet werden. Andernfalls ist die Bettbehandlung schwer durch¬
führbar — aber auch überhaupt jede Art ärztlicher Behandlung!
6. Eine Vermehrung des Wartepersonals wird durch die
Bettbehandlung nur insofern bedingt, als kürzere Dienstzeit und somit
reichlichere Ablösung geboten ist. Es ist klar, dass wirkliche Kranken¬
pflege anstrengender ist als die Beaufsichtigung von in Zellen ein¬
gesperrten oder gar gefesselten Menschen.
7. Das Wartepersonal muss unbedingt dem Arzte unterstellt sein
und durch ihn seine Unterweisung empfangen.
8. Bei Einführung der Bettbehandlung wird durch Wegfall ge¬
sonderter Sehlafräume für eine Anzahl von Kranken Platz gespart.
9. Nach den in der Anstalt Leubus gemachten Zusammenstellungen
bedingt die Bettbehandlung auch in wirthschaftlicher Hinsicht (Be¬
kleidungstitel !) eine nicht unerhebliche Ersparnis s.
VI. Krafft-Ebing (Wien) : Ueber sexuelle Perver¬
sionen, welche, in Gestalt von Zwangsvorstellungen
und Zwangshandlungen sich äussernd, gerichtlich-
medicinisch von Bedeutung sind.
Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen, gleichwie Per¬
versionen der Vita sexualis finden sich ausschliesslich auf dem Boden
psychischer Entartung, und zwar fast nur der hereditär vermittelten.
Sie lassen sich als Stigmata dieser bezeichnen.
Die Häufigkeit von Zwangsvorstellungen mit sexualem Inhalt
bei Degeuerirten erklärt sieb aus der Häufigkeit sexualer Hyperästhesie
bei solchen und daraus entstehenden emotiven Zuständen, bis zu
lebhaften Sexualaffecten.
In Uebereinstimmung mit der Schule von St. Anne bezeichne
ich als Zwangsvorstellnug „eine Thätigkeitsäusserung des Gehirns, bei
welcher ein Wort, eine Idee, ein Bild sich dem Bewusstsein aufdrängt
und von einer peinlichen Angst begleitet ist, welche diese Idee (oft)
unwiderstehlich macht.“ (Magna n).
Unter Zwangshandlung verstehe ich „jeden innerhalb der Sphäre
des Bewusstsein vollzogenen Act, den zu verhindern der Wille ohn¬
mächtig war.“ (Legrain.) Zu den Begriffen der Zwangsvorstellung
und der Zwangshandlung gehören die Merkmale des Vollbewusstseins,
des Ankämpfens gegen die nöthigende Idee, der ängstlicher ver¬
zweifelnden Gemüthslage in der Erkenntniss des Versagens gegnerischer
Kräfte (Associationsenergie, Wille) gegen die zur Ausführung drängende
760
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 33
Idee, von welcher psychischen Zwangs- und Xothlage nur die Kealisirung
der betreffenden Idee erlösen kann.
Abzutrennen vom Gebiet der Zwangsvorstellungen sind dem¬
gemäss :
1. Die sexuellen Acte, begangen von Defectmenschen, bei
welchen der Antrieb auf Grund ihrer intellectuellen und ethischen
Insufficient, ohne Gemüthsaffect, ohne Widerstreit ethischer Gefühle
und Vorstellungen, somit ohne Kampf, sofort Befriedigung in einer
adäquaten sexuellen Handlung findet.
2. Impulsive sexuelle Acte Entarteter mit sexueller Hyperästhesie,
bei welchen plötzlich und übermächtig sich erhebende Sexualaffecte,
selbst mit Ausschaltung der Willens- und Bewusstseinssphäre, ohne
sich zu einer deutlich bewussten Vorstellung zu erheben, unmittelbar,
psychisch reflectorisch, quasi in Form einer psychischen Convulsion,
sich in einen sexuellen Gewaltaet (meist Nothzucht) umsetzen.
3. Die sexuellen Acte in episodischen psychischen Ausnahms¬
zuständen bei Alkoholismus, Hysterie, Epilepsie u. s. w., auf traum¬
hafter Stufe des Bewusstseins, mit entsprechenden Erinnerungsdefecten.
4. Die Erscheinungen der sogenannten conträren Sexualempfindung,
welche nur ein Aequivalent der normalen Geschlechtsempfindung ist und
ebensowenig als diese an und für sich als Zwangsvorstellung gedeutet
werden kann, ausser in Ausnahmefällen, in welchen abnorme Intensität
und Dauer des Sexualaffeetes, perverse Triebrichtung hinsichtlich der
Art, des Ortes oder der Person weitere Complicationen im Sinne der
Perversion und der Obsession schaffen.
Eine wichtige Rolle spielt bei den wirklichen Perversionen, bei
sexueller Hyperästhesie als emotiver Grundlage, die mangelhafte
Potentia eoeundi. Die perverse Triebrichtung erscheint hier als Aequi¬
valent eines aus irgend einem Grunde nicht möglichen Coitus und die
Ausführung der Idee als befreiende Handlung von einem unerträglichen
Sexualaffect.
Hierher gehören in erster Linie die sadistischen und zum Theil
auch fetischistischen Gruppen der Mädchenstecher, der Beschädiget-
von Damentoiletten, der Frotteurs, der Exhibitionisten, der Zopf¬
abschneider, der Diebe von Frauenwäsche, Schürzen, Taschentüchern,
Frauenschuhen u. s. w., ferner gewisse Falle von Bestialität, Pädo-
philia erotica. Für die Diagnose ist das vermuthliche Bestehen von
Zwangsvorstellung und von sexueller Perversion vorerst nur ein Hinweis
auf eine vorhandene psychische Degeneration. Erst der Nachweis dieser
gibt die sichere klinisch forensische Grundlage für die Geltendmachung
jener als Syndrome dieser. Ist die Entartung, ihre Art und ihr Grad
festgestellt, so mag die concrete Handlung, ihr Hergang und Mechanismus
untersucht werden.
Die Perversion als solche, ihre Zurückführung auf tiefgreifende
Störungen der Vita sexualis wird wichtig sein.
Die genaue Ermittelung des Herganges im Bewusstsein und des
Mechanismus der Handlung wird die Coincidenz mit einer Zwangsvor¬
stellung und die That als Zwangshandlung feststellen lassen. Eventuell
können frühere identische Acte selbst unter identischen Bedingungen
(Alkoholexess, Menstruation u. s. w.) von grosser Bedeutung werden.
Es gibt übrigens seltene Fälle, in welchen, im Uebergang zu
den impulsiven, der Kampf ein sehr kurzer war. Auch kann auf der
Höhe der Krise die Klarheit des Bewusstseins eine momentane Trübung
erfahren haben.
Da die Zwangsvorstellung nur ausnahmsweise in ein Zwangs¬
handeln übergeht, genügt nicht der Nachweis jener zum Freispruch —
es muss vielmehr der Nachweis der Unwiderstehlichkeit im concreten
Falle geliefert, beziehungsweise es müssen die Gründe ermittelt werden,
welche überhaupt oder gerade diesmal, den Zwang bewirkten. Dies
kann der Fall sein durch ethische und intellectuelle Minderwerthigkeit
(Uebergangsfälle zur Gruppe der geistig defecten Sexualverbrecher),
temporär durch übermässig starken Sexualaffect (ex Abstinentia,
Menses u. s. w.), wodurch eine Uebereompensation des mit der Zwangs¬
vorstellung verbundenen Angstaffectes durch einen Wollustaffect möglich
war. Besonders häufig ist die erogen wirkende und gleichzeitig die
sittliche Widerstandsfähigkeit herabsetzende Wirkung des Alkohols
anzuschuldigen.
Bezüglich der Zurechnungsfähigkeit ist geltend zu machen, dass
bei nachgewiesener ZwangUiandlung Verantwortlichkeit dem Thäter
nicht zugesprochen werden kann. Will man seinen Zustand tempore
delicti nicht als Geisteskrankheit anerkennen, so passt er jedenfalls
unter den des unwiderstehlichen Zwanges (Art. 04, Frankreich; § 52,
Deutschland; § 2, lit. g, Oesterreich).
Ist der psychische Zwang nicht nachweisbar, so bleibt immerhin
geltend zu machen, dass der Thäter ein Entarteter ist, dem die weitest
gehenden Milderungsgründe der Strafe vermöge seiner unverschuldeten
psychischen Degeneration zuzubilligen sind.
VII. Ziehen (Jena): Die Pubertätspsychosen.
Auf Grund von etwa 400 Fällen, in welchen der Krankheits¬
ausbruch in die Pubertät, das heisst im Allgemeinen in das 13. bis
21. Lebensjahr fiel, bin ich zu folgenden Schlüssen gelangt:
1. Die Morbiditätscurve der Psychosen zeigt in der Pubertät
eines ihrer Maxima. Bei erblich Belasteten sind Pubertätspsychosen etwas
häufiger als bei Unbelasteten. Ausser der erblichen Belastung sind
ätiologisch besonders wichtig : Die Chlorose, die geistige und körper¬
liche Erschöpfung, die acuten Infectionskrankheiten und sexuelle
Excesse.
2. Fast alle Psychosen kommen auch in der Pubertät vor. Die
letztere übt einen speeiellen Einfluss nur insofern, als sie das Auftreten
bestimmter Psychosen begünstigt und oft — nicht immer — die
Psj'chosen bezüglich des Verlaufes und der Symptome in bestimmter
Weise modificirt (hebephrene Modification). Die Annahme eines speeiellen
Pubertätsirreseins, welches die grosse Mehrzahl der Pubertätspsychosen
umfassen sollte, ist nicht haltbar. Die einzige Psychose, welche fast
ausschliesslich in der Pubertät vorkommt, ist die Dementia hebephrenica
oder Hebephrenie K a h 1 b a u m’s, aber diese liefert zur grossen Zahl
der Pubertätspsychosen nur einen relativ kleinen Beitrag.
3. Die Psychosen, welche in der Pubertät besonders häufig auf-
treten, sind ausser der Hebephrenie die Manie, die Melancholie, das
cireuläre Irresein, die acute hallucinatorische Paranoia (Amentia mancher
Autoren) und bestimmte hysterische und epileptische Psychosen.
4. Die -wichtigsten Modificationen, welche die Pubertät hervorruft,
sind folgende : Gesteigerte Labilität der Affectstörungen, Incongruenz
der mimischen Reaction und der Affectstörungen, Incohärenz des
normalen Vorstellungsablaufes und der Wahnbildung, Neigung zu
mimischen, verbalen und so weiter Stereotypien, unlogischer, alberner,
phantastischer Inhalt der Wahnstellungen und Tendenz zu circulärem
Verlauf einerseits und zu progressiver Demenz andererseits. Alle diese
Modificationen sind bei einigen Pubertätspsychosen häufiger als bei
anderen.
5. Die Prognose ist im Allgemeinen ernster, und zwar namentlich
in Anbetracht der letzterwähnten Modificationen.
6. Die Behandlung deckt sich im Wesentlichen mit derjenigen
der Psychosen des erwachsenen Alters. Nur ist eine vollständige Bett¬
ruhe - — abgesehen von Fällen schwerer Erschöpfung — nicht räthlich.
Von grosser Bedeutung ist in den meisten Fällen eine regelmässige,
stundenplanmässig geregelte körperliche und geistige Beschäftigung.
Die Anwendung narkotischer Mittel ist möglichst einzuschränken.
Das Zusammensein mit erwachsenen Geisteskranken ist nur mit grosser
Vorsicht und Auswahl zulässig.
VIII. Prof. Marro (Turin): Psychosen der Mannbar¬
keit. (Ref. Dr. Sp.)
In der Pubertätsperiode haben wir bei beiden Geschlechtern
ein ganz besonderes Zusammentreffen von Verhältnissen, welche man
sonst in keiner anderen Lebensperiode vorfindet. Verzeichnen wir
körperlich das ausnahmsweise rapide Wachsthum der Gestalt,
welches die Entwicklung der vorher fast atrophischen essentiellen
Zeugungsorgane begleitet; das Erscheinen der secundären sexuellen
Charaktere, Veränderungen in den Dimensionen des Stimmorganes, die
Entwicklung der Sehamhaare und beim Manne des Muskelsystems und
Bartes; Abrundung der Formen durch Fettansatz mit Entwicklung der
Brüste beim Weibe;
von biologischen Bedingungen die sich entwickelnde
Zeugungsfähigkeit, durch specifische Zeichen markirt; bei dem Weibe
von Erscheinen der Menstruation, von Hemmung der mit der Respi¬
ration ausgeschiedenen Kohlensäure und des mit der Ilarnsecretion
eliminirten Harnstoffes begleitet; bei dem jungen Manne mit Steigerung
der Lebenskraft;
von Seite des Nervensystems bei beiden Geschlechtern das Auf¬
treten von Erregungswellen im Gehirne, welche von den Zeugungs¬
organen mit wachsender Excitation, der Entwicklung instinctiver Impulse
und neuer Affecte ihren Ursprung nehmen.
Die unmittelbare Consequenz dieses Standes der Dinge ist eine
Umwandlung, indem Eiweiss und Salze, welche zur allgemeinen Ent¬
wicklung verwendet werden, aus der Circulation rasch verschwinden,
mit gesteigerter Arbeit der Organe, welche jene bereiten und ver¬
theilen müssen und mit temporärer Verminderung der lebendigen Wider¬
standskraft, die sich im Allgemeinbefinden als grössere Morbiditäts¬
neigung kundgibt; ferner eine Umwandlung in dem psychischen Ver¬
halten, Störungen im Benehmen und moralischen Leben der jungen
Leute, die umso schwerer sind, wenn eine vorhergehende Schwäche
in Folge hereditärer Krankheitsanlage oder auch erworbene Krank¬
heiten den Organismus weniger widerstandsfähig gestalten.
Die Wirkungen der sexuellen Impulse, welche in dieser Epoche
erwachen, und der Nichtbestand inhibirender Kräfte sind folgerichtig
mehr gefährlich, können sich verbinden, um die Gefahren und die
Wirkungen anderer prädisponirender Ursachen zu steigern und an und
für sich Bedingungen zu schaffen, welche auf das künftige Leben des
Individuums von Einfluss sind.
So kommt es, dass angeborene krankhafte Zustände in diesem
Zeiträume eine Intensität und Schwere erlangen, die sie früher nicht
besessen; dass sich der Ausblick auf Psychosen eröffnet, welche den
Nr. 33
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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früheren Altersstufen gänzlich oder fast ganz erspart blieben, und
dass wir unter den Psychosen dieses Alters solche mit specifischen
Charakteren gewahren, welche das Ensemble der Zustände dieser
Epoche an sich tragen, sei es nun in Bezug auf Aetiologie, oder be¬
sondere krankhafte Zeichen, welche sie darbieten ; und so kommt es,
dass von diesem Alter viele Dispositionen, welche auf das ganze übrige
Leben des Individuums von Einfluss sind, ihren Ursprung nehmen;
und dass uns die rationellsten Indicationen der Prophylaxe und der
Behandlung der psychischen Krankheiten der Pubertätsperiode daraus
erwachsen.
Uusere Studien und Beobachtungen führten zu folgenden Schluss¬
folgerungen :
1. Die Pubertät hat einen bemerkenswerthen Einfluss auf das
psychische Leben, welcher sich darin kundgibt, dass präexistirende
Deukstörungen Eigenschaften annehmen, welche dieselben früher nicht
besassen, oder die im minderen Grade voihanden waren, oder dass
sich der Ausblick auf Invasion von Psychosen eröffnet.
2. Unter den Psychosen, von welchen in der Pubertät junge
Männer und Mädchen befallen werden, gibt es eine ganz eigen tlnim-
liche, die Hebephrenie von Heike r, die man als specifisch be¬
trachten kann, und deren Besonderheit in dem Zusammentreffen ver¬
schiedener Charaktere liegt, welche sie wohl mit anderen Psychosen
theilt, die aber nur bei derselben allein sich vereinigt befinden.
3. Die krankhaften Zeichen dieser ganz eigenthümlichen Psychose
— Hebephrenie — und die bei Nekroskopien constatirten
Störungen beweisen, dass die Gehirnrinde uud die Meningen der Sitz
eines pathologisch-anatomischen Processes sind. Die Invasionssympfome
scheinen den Beweis zu liefern, dass man mit einer gewissen Wahr¬
scheinlichkeit die Quelle der Erkrankung von einer durch gastrische
Störungen erzeugten Autointoxication ableiten kann.
4. Von der Pubertätsepoche und dem vorzeitigen abnormen Ge¬
brauche der Zeugungsthätigkeit entspringen andere Krankheitserschei¬
nungen, deren Einfluss dem Charakter des Individuums ein besonderes,
bleibendes Gepräge verleiht, wenn auch das Alter und günstige Lebens¬
bedingungen dessen Evidenz verwischen können.
5. Die Prophylaxe der Geistesstörungen erfordert, dass man die
grösste Aufmerksamkeit der Verhütung aller schwächenden Einflüsse
widme, welche die Entwicklung der physischen und geistigen Organi¬
sation in dieser so wichtigen Lebensf poche zu stören im Stande sind;
hieher gehören übermässige körperliche und geistige Ueberanstrengungen
und vor Allem der vorzeitige und abnorme Gebrauch der sexuellen
Thätigkeit.
IX. Jules V o i s i n (Paris): Psychosen der Mann¬
barkeit. (Ref. Dr. Sp.)
Alle Autoren haben die Pubertät als eine wichtige Ursache des
Irrsinns bezeichnet. P i n e 1, E s q u i r o 1, Marc, Spurzheim
haben ganz besonders die Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand
gelenkt; aber nach diesen Autoren bilden die Pubertätspsychosen keine
krankhafte Wesenheit für sich.
Kahlbaum (1863) und sein Schüler Hecker (1871) be¬
schrieben als Erste unter dem Namen Hebephrenie oder Irresein der
Jugend eine essentielle Affection mit eigenem Bestände und Verlaufe,
sie reihten dieselbe in die Kategorie der Paraphrenien, nämlich der
an eine Phase der physiologischen Entwicklung gebundenen
Psychosen.
Bald erkannten diese Autoren, dass die Hebephrenie zwrei ver¬
schiedene Modalitäten darbiete •. eine schwere Form, für welche sie den
Namen Hebephrenie beibehielten, und welche in einen Zustand tiefer
Dementia abläuft; ferner eine leichte Form, die sie Heboid oder
Heboidophrenie benannten, die mit einem Hemmnisse der intelec-
tuellen Entwicklung, welches dem Schwachsinne nahesteht, ihr Ende
findet.
Sowohl in Frankreich, wie im Auslande erschienen hierüber
zahlreiche Arbeiten. Während Kahlbaum die Hebephrenie als von
hereditärer Belastung unabhängig betrachtete, haben Krafft-Ebing,
Sterz, Fink, Kowalewsky, Thomas Clonston, M a i c h-
1 i n e, Serbsky, Morel, Magnan, Legrand du Saulle,
F a i r e t, Regis, J o f f r o y und Andere die Krankheit entweder
als Folgezustand belasteter Heredität oder als Ausgang acuter
Psychosen in der Kindheit angesehen.
Fast alle diese Autoren constatirten, dass die Mehrzahl der
während der Pubertät und besonders in deren Beginne entstandenen
Psychosen ohne Spuren verheilten, und dass unter den dementieilen
Psychosen es eine Dementia gab, die in jedem Punkte der allgemeinen
progressiven Paralyse der Erwachsenen glich. Man musste daher ver¬
schiedene Arten der Pubertätspsychosen und nicht blos eine einzige
zugeben. Die Pubertät ist nicht die einzige Ursache. Ob man nun die
Theorie der cerebralen Reflexerregung oder die Theorie der Drüsen¬
absonderung anrief, sicher ist, dass andere Elemente mitwirken. Was
ist die Pubertät? Welches sind die Grenzen der Pubertätsperiode?
Untersuchen wir, ob sie nicht aus anderen Elementen gebildet ist, wie
die Sexualität? Die Pubertät ist nicht blos durch die geschlechtliche
Reife, sondern auch durch die Entwicklung des Körpers (Wachsthum),
die Entwicklung der Intelligenz und durch das Erscheinen neuer mit
der geschlechtlichen Reife in Verbindung stehender Empfindungen ge¬
kennzeichnet.
Die Pubertätsperiode, die sich von 12 — 14 Jahren, je nach
Geschlecht, Race und Klima, bis zum 22. Jahre ausdehnt, ist mit
verschiedenen physiologischen Zuständen ausgefüllt, welche in ihrer
Entwicklung gehemmt, gestört oder verkehrt (pervers) sein können
durch eine unendliche Reihe physischer oder pathologischer Zustände.
Diese Ursachen haben einen umso stärkeren Einfluss, sobald sie auf
ein prädisponirtes Individuum einwiiken. Schmerzhafte Menstruationen,
welche das Nervensystem erschüttern, abundante Menstruationen,
welche die Oekonomie unterdrücken, ein zu schnelles Wachsthum,
mangelhafte oder ungenügende Nahrung, übermässige physische oder
geistige Arbeit, eine Infectionskrankheit, moralische oder physische
Traumen — spielen die Hauptrolle, indem dieselben die über¬
wiegende Zahl der Fälle umfassen. Dies bekunden viele Autoren
(B i n s w a n g e r, Christian, Wille und Andere). Die schweren
Zustände, die Wahnsinnszustände scheinen viel eher durch die ge¬
nannten Ursachen, als durch die sexuelle Entwicklung bedingt
zu sein.
Marro macht überdies auf den Unterschied der Schwere
zwischen den Psychosen im Beginne der sich einstellenden Menstruation
und jenen am Ende der Pubertät aufmerksam. Diese Markirung ist
sehr begründet.
Das Erscheinen der Regeln bei der Mehrzahl der jungen
Mädchen bleibt unbemerkt, ohne irgend eine Geistesverwirrung
hervorzurufen. Tritt eine solche ein, so ist sie zumeist von kurzer
Dauer und zeigt sich blos bei hereditär belasteten Individuen. Das
Terrain muss eben für den Ausbruch der Psychose vorbereitet sein.
Diese Terrainfrage werden wir für alle schwächenden Ursachen, die
wir bereits angeführt haben, wiedei finden ; sie wirken eben nur bei
prädisponirten Individuen. Alle Personen, die physisch oder intellectuell
einen Ueberschuss haben, deliriren nicht.
Somit ist also das unentbehrliche Element zum Ausbruche dieser
Psychosen — die Heredität; die Pubertät, alle schwächenden Ur¬
sachen oder Krankheiten dieser Epoche, sind nur begünstigende,
gelegenheitliche Momente.
Das Ensemble der Symptome der Pubertätspsychosen ist noch
ein Beweis der wichtigen Rolle der Heredität bei diesen Aftectionen;
wechselnde Erregung und Depression, Periodicität der Symptome,
impulsive Anfälle. Diese Störungen sind sehr verschieden, sie haben
manchmal die Form einer reinen Psychose, manchmal eines Rück¬
schrittes im Denken, manchmal einer geistigen Degeneration oder
die Form einer Neuropsychose oder eines toxischen Deliriums. Diese
Classification haben wir für den Schlussbericht adoptirt, um die Be¬
schreibung dieser Geistesstörungen zu erleichtern. Wir haben jede
dieser Varietäten beschrieben und beenden unsere Arbeit mit einigen
Bemerkungen über gerichtliche Medicin und über die Behandlung.
Hiemit geben wir den Plan dieser Eintheilung und die Schlüsse,
zu denen wir gelangt sind.
Classification.
I. Reine Psychosen der Pubertät:
Einfache, passive Melancholie.
Melancholie mit Excitation, activ.
Melancholie mit Stupor, Katatonie.
Einfache, typische Form der Manie, selten in der Adolescenz.
Reizbare Manie.
Einfache, choreaartige und hallucinatorische Manie.
Katatonische Form der Manie.
Gedankenconfusion.
Hallucinatorische Narrheit.
II. Regressive Zustände:
Wahnsinn der Pubertät: Hebephrenie, acuter oder primitiver
Wahnsinn, acuter Stupor.
Vorzeitiger einfacher Wahnsinn.
Allgemeine progressive Paralyse.
Epileptischer spasmodischer Wahnsinn (siehe Epilepsie).
III. Geistige Degeneration:
Paranoia.
Periodisches Irresein, intermittirend.
Periodisches Irresein, circular.
Angstgefühle, Besessenheit, Irresein des Zw'eifels und der Be¬
rührung.
Kleptomanie, Dipsomanie.
Geschlechtliche Verirrungen.
Impulse, Selbstmord, Menschenmord.
Moralisches Irresein.
Delirium der Degenerirten.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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IV. Corabinirte Psychosen. Neuropsychosen.
Neurasthenie, Hypochondrie, Hysterie, Chorea.
Chronische Epilepsie. Spasmodischer Wahnsinn.
Acute Epilepsie. Psychose.
V. Psychosen durch Intoxication.
Infectionen. Autointoxication.
Alkoholische Intoxication.
Schlussfolgerungen.
1. Unter Psychosen der Pubertät muss man die Geistes¬
störungen begreifen, die sich in der Pubertätsperiode, also zwischen
14 und 22 Jahren, entwickeln. Diese Periode ist durch die Geschlechts¬
reife, die physische und geistige Entwicklung des Individuums gekenn¬
zeichnet.
2. In dieser Epoche können sich alle Arten der Psychosen
zeigen: Hebephrenie als Krankheitswesen existirt nicht (?). Die im
Beginne der Pubertätsentwicklung sich zeigenden Psychosen sind
weniger schwer, als jene im Verlaufe und am Ende. Erstere könnte
man als Pubertäts , die anderen als Psychosen der Adolescenz
bezeichnen.
3. Die hereditäre Veranlagung ist die Hauptursache dieser
Affectionen; diese Verbindung der unvollständigen geistigen Ent¬
wicklung des Individuums mit der Vererbung gibt der Krankheit das
hebephrenische Gepräge.
4. Die reinen Psychosen oder noch mehr jene, die sich den
reinen Formen annähren, geben atypische Bilder, Mischformen, die in
mehr als der Hälfte der Fälle zur Heilung kommen.
5. Die Melancholie erscheint zumeist unter dem schweren
Bilde des Stupor, gepaart mit impulsiven Acten, Besessenheit und
imperativen Hallucinationen, die gegen das Leben des Kranken und
seine Umgebung gerichtet sind. Sehr häufig signalisirt man zur selben
Zeit Mysticismus und Onanie.
G. Die Manie erscheint selten unter milder Form, sie nimmt
zumeist den Charakter der schwersten Krankheit an und zeigt ebenso
häufig impulsive Anfälle.
7. Der vorzeitige Wahnsinn (Hebephrenie), von Kahlbaum
und Hecker beschrieben, erscheint unter zwei Formen, einer
schweren und leichten. Die schwere Form kann Symptome des Stupor,
der Dementia, der Katatonie, der Gedankenverwirrung darbieten. Dies
erschwert die Diagnose. Die leichte Form oder der vorzeitige einfache
Wahnsinn (Stigma geistiger Degeneration, Morel) muss von der all¬
gemeinen progressiven Paralyse und dem spasmodischen epileptischen
Wahnsinn unterschieden werden.
8. Die geistige Verwirrung stellt ein traumaartiges Delirium
vor, welches mit dem alkoholischen Delirium viele Analogien hat.
Dieses Traumdelirium ist charakteristisch für die Psychosen der Auto¬
intoxication, und es ist beinahe sicher, dass die Ernährungsstörungen
der Adolescenz die Ursachen dieses Deliriums sind.
Heilung erfolgt in der Hälfte der Fälle; sie kündigt sich im
Allgemeinen durch Krisen, Schweisse, Diarrhöen, Salivation, Abscesse,
Menstruationen u. s. w. an, und man constatirt fast immer eine
retro-anterograde Amnesie, wie in allen Fällen polyneuritischer
Psychosen.
9. Die jugendliche allgemeine progressive Analyse unterscheidet
sich von jener der Erwachsenen durch die Abwesenheit von Grössen¬
wahnsinn und durch den mehr langsamen Verlauf. Eine grosse Zahl
von Schriftstellern nehmen hereditäre Syphilis als ätiologisches
Moment an.
10. Die degenerativen Psychosen und die Neurojjsychosen sind
am häufigsten; sie erscheinen im Allgemeinen im reifen Alter
wieder.
11. Die gerichtliche Medicin der Psychosen der Pubertät ist
den gewöhnlichen Gesetzen der legalen Medicin der Geisteskranken
unterworfen; aber die Fälle bezüglich der rechtlichen Befähigung
(Capacite civile) sind ausgeschlossen, weil das französische Gesetz die
rechtliche Befähigung vor dem 21. Lebensjahre nicht aner¬
kennt. Dieselben sind bloä vom Standpunkte der strafrechtlichen
Verantwortlichkeit zu betrachten, welche mit dem IG. Lebensjahre
fixirt ist.
*
Abtheilung für Chirurgie der Harnwege.
(Referent: Dr. Sp.)
I. Fenger: Ueber conservative Operationen,
Nierenverhaltungen.
Die remittirende oder beginnende Verhaltung (und in der Regel
ist jede Verhaltung in ihren Anfängen intermittirend) ist ein Zustand,
bei welchem immer an die Möglichkeit gedacht werden muss, das
Nierengewebe durch Wiederherstellung des freien Durchganges des
Harnes zu erhalten.
Der Sitz der Obstruction kann in den Kelchen, in einer der
Branchen des Harnleiters, im Grunde des Beckens, oder am Ursprünge
des Harnleiters, oder im Harnleiter selbst gelegen sein. Wenn das
Hinderniss in einem oder anderen der zwei ersten Punkte gelegen ist,
entsteht eine locale oder partielle Cystonephrose, welche die Niereu¬
spaltung nothwendig macht.
Die Stenose an der Beckenmündung des Harnleiters (valvuläre
Formation, schiefe Einpflanzung, aus der einseitigen Dilatation resul-
tirend) erfordert verschiedenartige Operationen, je nach der Abwesen¬
heit oder dem Bestände der Verengerung am oberen Theile des Harn¬
leiters. Wenn daselbst keine Verengerung besteht, so kann der Klappen¬
bildung durch eine Operation jenseits oder ausserhalb des Beckens
Einhalt gethan werden.
Wenn die Verengerung des Harnleiters am Beckenausgange
gelegen ist, wie man dies bei Infectionen erwarten kann, so wäre eine
plastische Operation ausserhalb des Beckens oder die Resection des
verengten Theiles des Harnleiters mit der Einpflanzung des oberen
resecirten Theiles in das Becken vorzunehmen.
Die Stenose oder das Hinderniss im Harnleiter ist nach den
chirurgischen Regeln der Resection und Reimplantation, oder nach
meiner plastischen Methode zu behandeln.
Sind die Resultate dieser conservativen Operationen bleibend,
oder gibt es mitunter Rückfälle?
Bei fünf von mir Operirten traten letztere nicht ein.
1. Klappenbildung (Formation valvulaire), Operation jenseits des
Beckens (transpelvienne), kein Rückfall in sechs Jahren.
2. Verengerung des oberen Theiles des Harnleiters, Operation
ausserhalb des Beckens (extrapelvienne), keine Recidive in sechs
Jahren.
3. Klappenbildung in der unteren Branche des Harnleiters,
Operation ausserhalb des Beckens, Zweitheilung der Niere, Trennung
der Klappe und der hemmenden Zwischenwände. Kein Rückfall in
drei Jahien.
4. Excision einer Klappe des Harnleiters mittelst meiner plasti¬
schen Operation, kein Rückfall in drei Jahren.
5. Stein im oberen Theile des Ureters, von mir extrahirt. Ein
Jahr darauf plastische Operation durch einen anderen Chirurgen. Sechs
Monate später completer Verschluss des Harnleiters am Orte der
zweiten Operation. Plastische Operation. Kein Rückfall in einem Jahre.
Recidive in zwei Fällen:
1. Klajapenbildung ohne Verengerung, Operation innerhalb des
Beckens, Recidive der Stenose, Occlusion der Beckenmündung, nach
einem Jahre Nephrektomie.
2. Kranker, von einem Anderen, dann von mir operirt, unvoll¬
kommene resultatlose Operation, zum Schlüsse Nephrektomie.
II. B a z y (Paris) : Ueber conservative Operationen
bei Nierenverhaltungen.
Man spricht von einer Nierenverhaltung, wenn der Urin in
Folge eines Hindernisses beim Abflüsse constant im Becken und in
den Kelchen verweilt.
Das Ilinderniss sitzt im Harnleiter von seinem Ursprünge im
Becken bis zum Ende, beziehungsweise in der Blase oder Harnröhre.
Die Hindernisse im Ureter können im Ursprünge, am Ende und im
Verlaufe desselben gelegen sein. Dieselben sind durch Verengerungen,
Verschlüsse, abnorme Insertionen, oder durch Steine bedingt.
1. Die Verschlüsse befinden sich im Allgemeinen fast ausschliess¬
lich im oberen Theile des Ureters. Ihr Studium hängt mit jenem der
beweglichen Niere und den abnormen Insertionen am Becken zusammen.
2. Steine können in allen Theilen des Harnleiters den Sitz
haben, aber man sieht sie zumeist am oberen und unteren Ende.
3. Verengerungen kommen auch in allen Theilen vor, aber ihr
Lieblingssitz ist entweder am oberen oder unteren Ende.
Die Verengerung kann durch eine Läsion der Wände des
Ganges oder Entzündungen der benachbarten Organe entstanden sein
(Perimetritis, Perinephritis etc.) mit Bildung von Narbengewebe,
welches den Gang einklemmt und verengert.
Von Wichtigkeit ist die Thatsaclie, dass die Verengerung in
allen Fällen von Ilarnleiter-Vaginalfisteln besteht.
Die Nierenverhaltungen können intermittirend, remittirend oder
continuirlich sein. Die zwei ersten Formen gehören den beiden ersten
Kategorien (1, 2) an: Verschluss, falsche Insertion, bewegliche Niere
einerseits, Steine im Becken andererseits. Die continuirlichen Verhal¬
tungen sind manchmal durch Steine bedingt, zumeist jedoch durch
Verengerungen, deren Ursache progressiv und permanent ist; der Aus¬
gang ist entweder Hydronephrose oder Pyonephrose.
Die Verhaltungen sind weiters aseptisch oder septisch. Die
ersteren sind die Hydronephrosen, die septischen die inficirten Hydro-
nephrosen und Pyonephrosen.
Die conservativen Operationen sind nur angezeigt, wenn die
Niere noch fähig scheint, ihre Dienste zu verrichten und nicht eine
Quelle von Gefahren ist; die Indication ist mehr präcis bei einfacher
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Hydronephrose, weniger bei inficirter Hydronephrose, absolut im Falle
einer einzigen Niere, wie auch immer deren Zustand sein mag.
Die Behandlung variirt je nach der besprochenen Art. Bei Steinen
muss deren Entfernung durch Nephrotomie, Ureterotomie, oder durch
einen Blasen-IIarnleiter- oder Scheiden-Harnleiterschnitt in Beurtheilung
gezogen werden. Verschmelzungen können spontan heilen; sie können
durch Nephropexie angegangen werden.
Bei abnormen Einmündungen kommen anaplastische Operationen,
Uretero-Pyelo-Neostomien in Erwägung; diese Operationen werden
bei aseptischen und einigen infectiösen Hydronephrosen primär, bei
anderen infectiösen Hydro- und bei Pyonephrosen secundär sein.
Die Eingriffe sind verschieden, unterscheiden sich aber wenig
untereinander.
Die Resection des Beckens ist unnütz, vorbehaltlich der primi¬
tiven Operationen.
Die Verengerungen sind ausnahmsweise durch Dilatation, mehr
noch durch anaplastische Operationen: Ureterotomien in der Mitte,
Uretero-, Pyelo-, Neostomie oben, Uretero-Cysto-Neostomie unten
anzugehen.
Die anaplastischen Operationen lassen sich auf transperitonealem
oder lumbären Wege durch die Pyelo-Ureteren-Miindungen in den
aseptischen Fällen durchführen; bei den septischen Fällen auf dem
lumbären Wege.
Die Harnleiter-Blasenmündungen werden auf abdominalem und
vorzugsweise transperitonealem Wege hergestellt, mit Medianschnitt.
Die Eingriffe durch die Scheide sind zu verwerfen.
In allen Fällen ist die Beseitigung der Verengerung absolut
nothwendig.
Infection des Ureters und Nierenbeckens ist keine Contraindi¬
cation für die Operation.
Die Nierenabscesse sind eine Contraindication jedes anaplasti¬
schen Eingriffes.
Die Resultate, welche für die älteste Operation von sieben Jahren
her datiren, sind hinreichend erprobt, damit alle oben ausgeführten
Schlussfolgerungen angenommen werden können und müssen.
III. Santo rph (Kopenhagen) : Werth der Chirurg i-
schen Eingriffe bei der Tuberculose der Harn¬
blase.
Der chirurgische Eingriff bei der Tuberculose der Harnblase ist
von der Pathogenie und dem directen Ursprünge der Infection ab¬
hängig, er hält sich an die Natur und Ausbreitung des anatomisch
pathologischen Processes in der Blase. Die Miliartuberculose der
Harnblase — wenn sie in Wirklichkeit besteht — ist nur ein un¬
wesentlicher Theil der allgemeinen Miliartuberculose; sie ist dem
chirurgischen Eingriffe nicht zugänglich und bietet von diesem Stand¬
punkte kein Interesse.
Es wird hier daher nur die chronische isolirte Tuberculose der
Harnwege in Frage kommen, und zwar ob sich dieselbe als reine
oder durch gewöhnliche pyogene Mikroben complicirt zeigt. Die Tuber¬
culose der Harnblase hat immer oder beinahe immer ihren Ursprung
in einem mehr oder weniger alten, zuweilen sehr alten tuberculösen
Lungenherd.
Die Infection der Blase findet sodann auf zwei Arten statt:
1. Die Tuberkelbacillen w’erden durch das Blut einer, seltener
beiden Nieren zugeführt, von wo sie in die Harnblase gelangen und
diese durch Ueberpfropfung auf die innere Sehleimhautoberfläche
inficiren. (Absteigende Infection.)
2. Die Bacillen gelangen mit dem Blutstrome zur Prostata, zu
den Samenbläschen oder zum Hoden und Nebenhoden, von wo die
Infection bis zur Blasenwand durch Contiguität aufsteigt und bis zur
Mucosa vordringt. (Aufsteigende Infection.)
Die Harnblase scheint gegen die tuberculose Infection sehr
resistent zu sein und ist fast nie der Gegenstand primärer Infection
vom Blute aus. (Hämatogene Infection.)
Bedenkt man, dass die Tuberculose der Harnblase immer
secundärer Natur ist, so ist es evident, dass dieselbe nie irgend einem
radicalen Verfahren unterzogen werden kann, als nach der Entfernung
der beständigen Infection, was nur durch die Nephrektomie und mehr
weniger totale Resection des Ureters oder durch Destruction der
tuberculösen Herde in den Genitalorganen bewirkt werden kann.
In den Fällen, wo diese Bedingungen nicht zutreffen oder sich
nicht herstellen lassen, wird jeder Versuch einer Radicalbehandlung
der Blasentuberculose unnütz und daher gegenangezeigt sein — ein
Schlag ins Wasser.
Wenn die Ursache der Harnblasentuberculose behoben oder in
ihrer Wirkung gehemmt ist, kann die Krankheit 1. spontan heilen,
wenn sie nicht zu alt oder zu tiefgreifend ist, 2. die Aufgabe eines
chirurgischen Eingriffes werden.
Letzterer wird bei beiden Geschlechtern durch einen Schnitt im
Hypogastrium ausgeführt; die erkrankten Theile werden so weit als
möglich, mit Bistouri, Scheere oder Curette beseitigt; der Exstirpation
muss energische Kauterisation mit dem Thermokauter nachfolgen. Alle
diese Eingriffe macht man, während die Blase den Augen des
Chirurgen klar vorliegt und der Kranke sich in der von Trendelen¬
burg angegebenen Stellung befindet. Je nach dem Falle wird die
Blase genäht oder drainirt. Nachträgliche locale und allgemeine Be¬
handlung sind unerlässlich.
Jeder chirurgische Eingriff bei Tuberculose der Harnblase, sowie
bei solcher der Harnwege überhaupt, muss nach Constatirung des
Tuberkelbacillus in diesen Organen vorgeschlagon und ehestens aus¬
geführt werden.
In allen Fällen, in denen die Ursache der Blasentuberculose
nicht behoben werden kann, ist jede Behandlung nur palliativ, mit
dem speciellen Ziele, die beiden schwereu Symptome: Schmerz und
Pyurie zu erleichtern und zu vermindern. Dies erzielt man :
1. Durch den hypogastrischen Schnitt mit oder ohne Thermo¬
kauter auf die erkrankten Schleimhautpartien. Drainage.
2. Durch den perinealen Schnitt beim Manne, mitunter mit
Curettement der Blase. Drainage.
3. Durch Curettement der Blase von den Harnröhren aus
beim Weibe.
4. Durch locale Behandlung. Diese besteht in sehr einfachen
und sehr mässigen Waschungen mit Borwasser gegen die accidentelle
Cystitis und zur Beseitigung der in der Blase befindlichen Secrete und
des Harnes. Alle empfohlenen speciellen Heilmittel haben keinen
reellen Werth. Silbernitrate werden nicht vertragen.
Allgemeines hygienisches und diätetisches Regime sind stets
nothwendig.
IV. Dr. Albert Hogge (Lüttich) : Werth der chirur¬
gischen Eingriffe bei Urogenitaltu be rculose.
Die unblutige chirurgische Behandlung der tuberculösen
Urethritis posterior combinirt sich mit jener der gleichartigen Cystitis.
Die localen Antiseptica, welche das beste Resultat ergeben haben,
sind Sublimat, Jodoform, Guajacol, Pikrinsäure und Ichthyol. Andere
Topica wurden gerühmt, ungenügend erprobt oder verlassen: Milch¬
säure, Chlorzink, Kupfersulfat, Perubalsam, Europhen und Andere.
Silbernitrat muss definitiv verlassen w'erden.
Sobald die topische Medication durchgeführt ist, modificirt sie
in nachstehender Ordnung die Cardinalsymptome der Ilarnröhren-
Blasentuberculose: 1. Die Häufigkeit und Schmerzen der Entleerungen,
2. die Hämaturie, 3. die Pyurie.
Die Mittel müssen zuweilen den Indicationen, den Allgemein¬
zustand betreffend, den Platz räumen, indem die medicinische und
hygienische Behandlung hier, wie bei allen Tuberculösen, ihr Prioritäts¬
recht bewahren muss.
Die beste Behandlung der tuberculösen Läsionen der vorderen
Harnröhre, welche übrigens sehr selten sind, bestände in deren
Modificirung oder Zerstörung mit Hilfe des Endoskops.
Die tuberculösen Ulcerationen am Penis sind am häufigsten der
Excision zugänglich.
Curette und Thermos werden die Hauptsache der blutigen Be¬
handlung der tuberculösen Urethritis beim Manne ausmachen, und
zwar mittelst eines gegen die begleitende Cystitis gerichteten Perinäal-
schnittes. Eventuell könnte zur Exstirpation des Prostatatheiles der
Harnröhre, gleichzeitig mit der totalen Prostatektomie und Harnröhren-
Blasennaht, nach dem Vorbilde Doyen’s, geschritten werden.
Die tuberculose Entzündung der C o w p e r’sclien Drüsen ist mit
Incision, Excision, Curettement, Drainage zu behandeln, letztere sobald
sich eine eiterige Infiltrationsquelle oder eine Fistel bildet.
Die Tuberkeln der Prostata, selbst wenn diese noch
primär und isolirt erscheinen sollten, sind für die Operation nicht
geeignet, welche übrigens von den Betheiligten zumeist verweigert
werden dürfte. Die topische Behandlung im Wege der Urethra darf
nicht früher versucht werden, als bis die prostatischen Herde mit dem
Urogenitalcanal communiciren, und auch dann lässt sich kein besonderer
Erfolg erwarten. Dasselbe gilt beiläufig von der curativen Wirkung
der Antiseptica oder der in das Rectum eingeführten Calmantia.
Die interstitiellen Injectionen von Jodoform, Zink¬
chlorid etc. in das Gewebe der Prostata im Wege der Blase, des
Rectums oder des Perinäums haben keine oder geringe Resultate er¬
geben. Selbst wenn die Prostata zum Zwecke der Injectionen blos-
gelegt würde, scheint diese Methode blind, unzuverlässig.
Die blutigen Eingriffe in die Prostata (Incisionen,
Curettement, Kauterisation) haben gute, mitunter Dauerresultate er¬
geben, ausgeführt von Guy on, B o n i 1 1 y, le D o n t u, Dittel,
Albarran, Zuckerkandel, Gaudier, Marwedel, Conitzer,
Czerny, Meyer, H a e n e 1 und A n d r y. In allen diesen Fällen
war der Eingriff systematisch gegen einen kalten Abscess gerichtet,
einen käsigen Herd, eine Fistel, und nicht eine Operation der Noth-
wendigkeit.
Wie in den Fällen von käsigen Herden der Prostata nehmen
die Samenbläschen, die Vasa deferentia, Hoden und Nebenhoden fast
764
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 33
immer an dem Processe der Tuberculisation Antbeil. Es war zu er¬
warten, dass sich die Chirurgen zu ausgedehnten Exeresen entsehliessen
und diese Organe ebenso wie die Protasta angehen würden. So
kommt es, dass seit 1889 Uli mann, Villeneuve, Platon,
lloux, Sick, Weir, Schede, G u ö 1 1 i o t, Kontier, Bändel,
K e n t d i g p y eine oder beide Samenbläschen, eine oder beide
Deferentia nach ein- oder beiderseitiger Castration exstirpirten. In
einer von R o u x inspirirten und im Vorjahre erschienenen Arbeit,
sind 20 derartige Operationen berichtet. In allen diesen Fällen, zu
welchen man einen letzten von Prof. Roux nicht veröffentlichten
von „totaler Castration“ hinzufiigen kann, waren die unmittelbaren
Resultate sämmtlich gute und einige Kranke wurden lange Zeit nach¬
her in gutem Zustande vorgefunden. Leider persistiren oft Fisteln im
Gefolge dieser Operationen. Man kann sich fragen, warum in diesen
Fällen die wahrscheinlich auch kranke Prostata in den operativen
Act nicht einbezogen wurde. Andererseits ist die Spermatocystektomie,
eine Ergänzung einer Operation an der Genitaldriise, nach den
richtigen Ansichten der Nebenhoden-Hodenchirurgie keine für die
Castration, zu der man in diesen Fällen greifen müsste, wohl aber
für eine oder die andere der ökonomischen Eingriffe, die in den letzten
20 Jahren vorgeschlagen und ausgeführt wurden.
ln Wirklichkeit ergibt sich aus zahlreichen gediegenen Arbeiten
und bedeutenden Discussionen, dass bei der Nebenhoden-IIodentuber-
culose die totale Castration nur eine Methode der Ausnahme sein soll.
Die Therapie der Wahl ist die conservative blutige Methode, bestehend
in typischen und atypischen Resectionen des Nebenhodens, des Deferens,
der Scheidenhaut mit oder ohne explorative Orchidotomie, eventuell
partielle Orchidektomie; diese Methode hat Anzeigen und Gegen¬
anzeigen, alle Formen passen nicht dafür und schliesst andere Be¬
handlungsweisen nicht aus, welche ihre berechtigten Anhänger haben.
Hieher gehören die Anwendung der Caustica, die Ingnipunctur, die
Injectionen von Naphthol-Kampher, Jodoform-Aether, Chlorzink in und
um die Knötchen (Injections intranodulaires-perinodulaires), die Aus¬
kratzung, gefolgt von caustisehen Applicationen, von Verbrühung, von
Blosslegung cavernöser Taschen und von Resection der tubereulogenen
Membran, diese besonders im Falle eines Abscesses. Jüngst hat
endlich Mauclaire bei der Behandlung der Hoden-Nebenboden-
tuberculose die Ligatur und Section der Elemente des Samenstranges
zu Ehren bringen wollen, zumeist in Combination mit den oben citirten
Konservativen Eingriffen. Die Thatsachen, die er berichtet, sind noch
zu neu und zu wenig zahlreich, um abschliessend sein zu können.
In Summa, wenn man die Tubereulose der Prostata, des
Deferens, der Samenbläschen, des Hoden oder Nebenhodens in Be
trachtung zieht — für alle ist die operative Anzeige formell und
zugegeben, sobald es sich um einen Abscess oder Fistel mit oder ohne
Fungus handelt; die operativen Methoden können nach der Wahl des
Chirurgen verschieden sein, aber in all diesen Fällen muss man mit
sehenen Ausnahmen, zum Beispiel die Berücksichtigung des Allgemein¬
zustandes, operiren, weil der blutige Eingriff sicher einen grösseren
Ileilwerth hat und geringere Gefahren für den Krankeu in sich
schliesst, als das bewaffnete Zuwarten oder die rein medicamentöse
Behandlung. Bei dem gegenwärtigen Stande unserer relativen Kennt¬
nisse der Tuberculose der Urogenitalorgane soll man nur diese Fälle
operiren? Das ist die Frage.
Wo beginnen der Zweifel und die Controversen? Dies ist bei
Vorhandensein anderer Formen der Fall oder, wenn man will, in
anderen Stadien der Tuberculisation dieser Organe. So rathen gewisse
Chi rurgen, in den Anfangsphasen der IIoden-Nebenhodentuberculose
eiuzugreifen, dann bei den kalten chronischen Formen mit einem oder
wenigen Knötchen und a fortiori bei den massigen Formen, bei denon
die Mehrzahl der Aerzte sich expectativ verhält.
Wo zeigen sich die Divergenzen der Anschauung? Dies ist bei
der Frage, welche Ausdehnung man der Operation geben soll und
der Organe, die man entfernen, auskratzen oder brennen will.
Soll man sich auf eine partielle oder totale Castration, auf eine
Ektomie des A as deferens und Nebenhodens beschränken dann, wenn
auch in minderem Grade vielleicht die Samenbläschen, die Prostata,
die Blase erkrankt sind?
Die jüngsten Thatsachen und die noch wenig zahlreichen Fälle
von totaler Exstirpation der Genitalwege in Folge von Tuberculose
scheinen nach den erlangten günstigen Resultaten die Chirurgen zu
verpflichten, in Zukunft noch häufiger diese kühnen Versuche zu
unternehmen.
V. Alfred Ponsson (Bordeaux) : Werth der c h i r u r-
gischen Eingriffe bei Tuberculose der Niere.
Die chirurgischen Eingriffe bei Tuberculose der Niere werden
erst seit etwa 15 Jahren geübt, aber deren Zahl ist so rapid gestiegen,
dass seit 1892 — 1893 A igneron, Saklam, Palet imponirende
Statistiken zusammenstellen konnten, welchen wir in den letzten Jahren
1G1 publicirte Fälle anreihen konnten.
1 . Allgemeine Resultate.
Unmittelbare Resultate:
a) Die Sterblichkeit nach Operationen im G a n z e n (Globale)
beträgt bei 600 Fällen 2L33°/o. Diese sinkt auf ll-68°/o in unserer
auf neuen Facten zusammengestellten Statistik, und sinkt weiter auf
78’95%, wenn man die Praxis einiger Chirurgen in Erwägung zieht.
b) Die Sterblichkeit nach Operationen von Nephrotomie und
Nephrektomie ist auffallend gleich (20 8% gegen 21*47%) im Block
unserer Statistiken, aber bei den persönlichen Aufzeichnungen einzelner
Chirurgen sieht man, dass der Schnitt in die Niere viel verderblicher
ist, als ihre Exstirpation (18-51% gegen 6'54%).
c ) Die Todesursachen nach Nephrotomie und Nephrektomie sind
die vollständige Unterdrückung der Ilarnsecretion und ihre Unzuläng¬
lichkeit (ölmal unter 128 Todesfällen), Ereignisse, welche wir mit den
Fortschritten der Diagnostik einst zu beschwören hoffen. Der Eingriff
scheint keinen Einfluss auf die früher vorhandenen bacillären Läsionen
zu haben. Shock, Septikämie, Peritonitis, Verletzung der Eingeweide
oder grosser Gefässe sind die anderen Todesursachen.
Dauerresultate:
Nach Nephrotomie erlagen von 63 Operirten 39 im darauf¬
folgenden Jahre der fortschreitenden Tuberculose oder anderen, der
unzureichenden Operation zuzuschreibenden Ursachen, 24 blieben am
Leben, von denen einige über drei, fünf und zehn Jahre, aber alle
behielten eine Lendenfistel.
Nach Nephrektomie starben von 335 Operirten 42 im
Jahre des allgemeinen Ausbruches der Tuberculose, die anderen 293
lebten noch und zwar am Ende eines Jahres 33 Kranke, nach zwei
bis drei Jahren 41, nach fünf Jahren 4, nach sechs Jahren 7, nach
acht Jahren 2, und 7 von 105 hatten eine Fistel.
Vergleicht man die Nephrotomie und Nephrektomie, so sehen
wir, dass das Ueberleben nach Unterdrückung der Nierenfunction nicht
geringer ist, als nach dem Nierenschnitte, ja selben noch übertrifft
(12*54% Todesfälle in dem der Nephrektomie folgenden Jahre gegen
61 '70% nach Nephrotomie).
2 . Resultate bei den verschiedenen Krankheits¬
formen und klinischen Verhältnissen des Leidens
(Anzeigen und Gegenanzeigen).
a) Im Stadium rein bacillär er Infection kam bei zehn
Eingriffen wegen Schmerzen oder Ilämorrhagien kein Todesfall vor,
und die Kranken haben durch lange Zeit den Ilarnapparat unversehrt
erhalten. Ein Eingriff zum alleinigen Zwecke, einen verborgenen bacil¬
lären Herd zu unterdrücken, wäre legitim.
b) Im Stadium von Mischinfection sind die weniger be¬
friedigenden Resultate auffallend dieselben bei primärer und secundärer
Tuberculose vom Gesichtspunkte der unmittelbaren Gefahr, aber besser
bei der primären Tuberculose bezüglich des Ueberlebens.
c) Die Beide rseitigk eit der Läsionen ist keine Gegen¬
anzeige des Eingriffes, wenn die andere Niere in Wahrheit bestehende
bacilläre Läsionen hat; eine leichte gewöhnliche Nephritis contraindicirt
weder die Nephrotomie, noch die Nephrektomie, verbessert im Gegen-
theil den anatomischen und physiologischen Zustand der erhal¬
tenen Niere.
cl) Was die Harnblase betrifft, so verschwanden die Reflex¬
schmerzen nach dem Eingriffe, während dieselben bei gewöhnlichen
oder bacillären reinen oder gemischten Infectionen von da ab durch
locale Behandlung glücklicher Weise gemässigt werden können.
e) Der Zustand der Lungen und der anderen Organe, Alter und
Geschlecht bilden keine andere Gegenanzeige, als wie bei Operationen
im Allgemeinen.
3. Resultate nach den verschiedenen Operations¬
arten.
(Wahl der Methode und des operativen Eingriffes.)
a ) Die Nephrotomie wäre bei der miliaren und Knötchen¬
form nicht zu vollführen, man kann aber bei der massigen (infiltrirten)
Form in Verbindung mit Curettement von derselben Gebrauch machen.
Ganz ausnahmsweise wäre dieselbe bei Ilydroneplirose zu verwenden.
Bis nun wurde die Methode fast ausschliesslich bei Pyelonephrose
geübt, aber die Resultate waren nur vorübergehend, besten Falles mit
Fistelbildung. Die Nephrotomie kann nur als Operation der Nothwendig-
keit angesehen werden.
b) Die primäre Nephrektomie ist eine Operation der
Wahl, die Mortalität beträgt nur 2L79 %, bei secundärer Nephrektomie
30 76%. Letztere kann immerhin grosse Dienste leisten, aber unter
der Bedingung, frühzeitig und im Zeiträume von zwei bis drei Monaten
ausgeführt zu werden.
c) Vergleicht man die extraperitonealen und transperitonealen
Wege, so beträgt die Mortalität bei ersterem 2L21 % gegen 34% der
istzteren. Combinirt man je nach den Fällen die parietalen Incisionen,
so kann man auf lumbaiem oder jjaralumbarem Wege voluminöse
Nr. 33
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
765
Nieren ohne Zerstücklung extrahiren, die verschiedenen Bestandteile
des Stieles gesondert unterbinden und die Ureterektomie ausführen.
d) Die partielle Nephrektomie, blos in einigen Fällen
ausgeführt, sollte man als ungenügend verwerfen, und weil der erhaltene
Theil der Niere, wenn derselbe von der tuberculösen Infiltration
nicht schon befallen ist, von benachbarter Entzündung häufig er¬
griffen wird.
SK
Abtheilung für interne M e d i c i n.
Referent: Albu (Berlin).
1. Sitzung.
I. Dieulafoy (Paris): Les Ulcerations gastriques.
Die Grösse der Ulcerationen wechselt von punktförmigen Ero¬
sionen bis zu Substanzverlusteu von FünfmarkstückumfaDg. Sie können
sehr oberflächlich sein, aber auch bis in die Tiefe der Musculatur
hineinreichen. Die Symptome und Complicationen (besonders das Car-
cinom) sind bekannt. Vortragender hat sich deshalb die Aufgabe ge¬
stellt, die verschiedenen Arten der Magenulcerationen zu skizziren, die
man vom klinischen und anatomischen Gesichtspunkt aus unterscheiden
kann. Da ist in erster Reihe die oberflächliche Erosion zu erwähnen,
welche sich in mehr oder weniger zahlreichen punktförmigen Hämor-
rhagien darstellt. Sie sind Local Wirkungen des auf der Magenschleim¬
haut angesiedelten Pneumococcus. Sie breiten sich darin herd¬
förmig aus und können sehr erhebliche Blutungen hervorrufen. Auf
die ursächliche Bedeutung der Bacterien und ihrer Toxine für die
Entstehung vieler Magenulcerationen legt Vortragender grossen Werth.
Daneben kommen als Ursachen Gefässverletzung und die Einwirkung
des übersauren Magensaftes in Betracht. Aus der kleinsten Erosion
kann sich allmälig ein Geschwür entwickeln. Die so entstandenen
Ulcerationen nennt Vortragender Exulceratio simplex, die auch multipel
sein kann. Geht sie in die Tiefe und erreicht dadurch die in der
Muscularis mucosa liegenden Gefässe, so führt sie oft zu schweren,
selbst tödtlichen Blutungen. Dieses Ulcus simplex (von Cruveilhier
zuerst beschrieben) ist dasjenige, das sich chronisch entwickelt und
zur Perforation neigt, die noch mehr zu befürchten ist, als die Blutung.
Als specifisch sind die tuberculösen und syphilitischen Ulcerationen
aufzufassen, haben aber dieselben Symptome und Complicationen. Das
Carcinom pfropft sich häufig auf das einfache Ulcus auf. Schliesslich
redet Vortragender bei Behandlung des chronischen, häufig zu Blutungen
führenden Ulcus simplex, das den Kranken herunterbringt, wenn alle
interne Therapie fruchtlos bleibt, dem chirurgischen Eingriff lebhaft
das Wort.
Ewald würdigt unter den Folgezustäuden des Ulcus besonders
die Perigastritis in Folge chronischer adhäsiver Peritonitis. Sie trotzt
aller internen Behandlung. Ihre Diagnose ist nicht leicht. Namentlich
ist Verwechslung mit nervösen Affeetionen häufig. Die einzige Hilfe
ist die Operation. Redner erwähnt den Fall eines jungen Mädchens
mit Ulcus ventr., das nach scheinbarer Heilung wieder rückfällig wurde.
Der Chirurg fand vier narbige Strueturen. Da sie wegen Verwachsung
mit der Nachbarschaft nicht zu lösen waren, wurde die Gastroentero¬
stomie gemacht, die zur vollkommenen Heilung führte. Der Sanduhr¬
magen, der oft aus solchen ulcerösen Stricturen hervorgeht, lässt sich
auch diagnostiren nach folgendem Verfahren: Der Magen wird erst
mit Luft aufgebläht, dann durchleuchtet, dann sieht man den abge¬
schnürten Pylorustheil rechts von dem rotlr leuchtenden oberen Magen¬
abschnitt.
Tourtoulis-Bey (Kairo) hat in einem Falle acuter fibrinöser
Pneumonie eine Intestinalblutung beobachtet, welche wohl als Wirkung
der Pneumococcen anzusehen ist.
Doyen (Reims) hält es für nothwendig, in allen Fällen, wo
die interne Therapie keinen Erfolg hat, der Kranke immer mehr herunter¬
kommt, zur Sicherung der Diagnose die Laparotomie zu machen. Man
findet dann häufig ein erst im Entstehen begriffenes Neoplasma, dessen
Entfernung noch die Chance der Radicalheilung gibt. Auch starke
Blutungen sind eine Indication zur Operation. In chronischen Fällen
wird der Kranke danach dauernd gesund. In der Mehrzahl der Fälle
genügt es, die Gastroenterostomie zu machen, welche Schmerzen und
Blutungen beseitigt und die Ernährung wieder ermöglicht.
II. M e u n i e r (Paris) : Recherche quantitative s u r
le labferment du sue gastrique.
Beim gesunden Menschen erreicht die Menge des Labferments
ihr Maximum eine Stunde nach der Mahlzeit und erhält sich eben so
lange in der gleichen Zeit. Bei Superacidität ist auch die Menge des
Labferments ; meist gesteigert. Dagegen vermindert sie sich bei chroni¬
scher Gastritis, am stärksten beim Carcinom. Im Grossen und Ganzen
ist das Verhältniss des Magensaftes proportional dem Zustand der activen
Zellthätigkeit der Magendrüsen, der Pepsin- und Salzsäuresecretion.
M o Differenzen zwischen den beiden letzteren bestehen, folgt das
Labferment den Veränderungen des Pepsinogens, dem es demnach
näher steht.
III. Bendersky (Kiew): Le vomissement nerveux
et son traitement.
Vortragender empfiehlt Magenausspülungen mit rein lauwarmem
Wasser, die er in 14 hartnäckigen Fällen wohl bewährt gefunden hat.
IV. F a v u 1 1 a (Barcelona) : Contribution ä l’ütude dos
crises gastriques essentielles.
Die gastrische Krisen sind keine selbstständige Krankheit, sondern
ein Symptomencomplex. Es gibt eine klinische Form, welche von einer
systematischen Läsion des Centrainei vensystems abhängig ist. Die dis-
ponirenden Krankheiten desselben sind die Tabes dorsalis im Stadium
der Ataxie, häufiger aber früher, ferner die allgemeine Paralyse und
die multiple Sklerose. Es gibt auch wirkliche Krisen, welche durch
nervöse Reizung des Magens (sei es der motorischen, secretorischen,
sensitiven Functionen desselben) hervorgerufen werden. So hat Vor¬
tragender einen Fall beobachtet, wo in sechs Jahren fünf Anfälle ein¬
traten, ohne dass sich Zeichen einer Nervenerkrankung bemerkbar
machten. Die beste Behandlung ist die subcutane Morphiuminjection,
mit der man aber nach Möglichkeit zurückhalten soll. In der Zwischen¬
zeit gebe man zur Abstumpfung der nervösen Reizbarkeit Valeriana,
im Uebrigen hygieniscli-hydriatische Behandlung.
V. Strauss (Berlin): Ueber ernährungstherapeu¬
tisch wichtige Beziehungen des Fettes zu den Func¬
tionen des menschlichen Magens.
Der Vortragende berichtet über Versuche, welche er über die
Einwirkung grosser Quantitäten von Milchfett auf die einzelnen Func¬
tionen des menschlichen Magens, sowie auf den Stoffwechsel und die
Ausnützurig des Fettes im Darme Hyperacider angestellt hat. Er fand,
dass grosse Quantitäten Milchfett die Salzsäure¬
secretion herabsetzen und die Motilität nicht
stören. Die Labsecretion war eher erhöht als erniedrigt, bei der
Pepsinsecretion war es meist umgekehrt und der Ablauf des osmotischen
Druckes im Magen zeigte keine deutliche Aenderung. Die Fettaus¬
nützung im Darme Hyperacider und die subjective Toleranz für grössere
Quantitäten Milchfett waren bei richtiger Darreichungsform stets sehr
gut. Mit Rücksicht hierauf hat Vortragender eine an Milchfett
sehr reiche Diät in den letzten dreiJahren bei zahl¬
reichen Fällen von Ulcus ventrieuli, ferner von
Hyperacidität, von Hypersecretion und von motori¬
scher Insufficienz des Magens angewandt und durch
tägliche Verabreichung von 120 bis 350 g Fett in Form
von Milch, J a w o r k i’scher Kraftmilch, Sahne und Butter und in ein¬
zelnen Fällen auch von Oel gute therapeutische Erfolge er¬
zielt.
Der Vortragende r ä t h deshalb, bei der Behand¬
lung der Hyperacidität (mit und ohne Ulcus), der
Hypersecretion und der motorischen Insufficienz
des Magens das Fett, und zwar besonders das Milch¬
fett, ausgiebig zu verwenden und gibt bei Hyper¬
acidität ei ne Diät, welche 100 — 1 20 g E i w e i s s, 200 — 250 g
Kohlehydrate und 150— 200 g Fett enthält. Für die
Behandlung der motorischen Insufficienz d e s M a g e n s
empfiehlt er gleichfalls in der Diät einen Theil der
leicht gähr enden Kohlehydrate durch das schwer
der Zersetzung an heim fallende Fett zu ersetzen
und zeitweise, s p e c i e 1 1 im Beginn der Behandlung,
eine reine Eiweissfettdiät zu verabfolgen, da diese
noch dazu durch Herabsetzung der Gährun gen direct
heilend wirkt.
VI. Cohnheim ( Berlin) : Ueber die Heilwirkung
grosser Dosen von Olivenöl bei organischen und
spastischen Stenose n des Pylorus und des Duodenums
und deren Folgezustände (Gastrektasie).
Fälle von Gastrektasie, welche nicht durch ein organisches
Hinderniss, sondern durch einen Spasmus des Pylorus in Folge Ulcus
oder Fissur am Magenausgang hervorgerufen sind, werden durch Ein¬
giessungen grosser Oelmengen (100 — 250 9 täglich) in kurzer Zeit ge¬
heilt oder erheblich gebessert. Fälle von narbigen Pylorus- oder
Duodenalstenosen mit secundärer Gastrektasie werden durch methodische
Anwendung grosser Oelgaben ebenfalls relativ geheilt, das heisst;
bleiben bei vorsichtiger Lebensweise beschwerdefrei. Das Oel wird am
besten längere Zeit hindurch dreimal täglich in Mengen von je 50 cmJ
eine Stunde vor dem Essen genommen oder per Sonde eingegossen,
oder man gibt einmal täglich in den leeren Magen 100 — 1 öOc/n’’ aut
Körpertemperatur erwärmtes Oel. Die Oelanwendung genügt drei
Indicationen, der Krampfstillung, der Reibungsverminderung und der
Hebung der Ernährung, da das Oel selbst bei hochgradigen Stenosen
in den Dünndarm gelangt^und dort resorbirt wird. Bei rein nervösen
(hysterischen) Magenkrämpfen ist keine günstige Wirkung bisher
erzielt, woraus sich differentialdiagnostische Gesichtspunkte zur
Unterscheidung des nervösen und organischen Pylorospasmus ergeben.
Mit Hilfe der Oelcur gelingt es, eine Reihe von Pylorusstenosen mit
766
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
Nr. 33
schwerer consecutiver Gastrektasie so weit zu bessern, dass ein
chirurgischer Eingriff nicht mehr noting ist. Vor jeder wegen Pylorus¬
stenose beabsichtigten Magenoperation sollte daher zunächst die Oel-
behandlung versucht werden.
Mat thi eu (Paris) hat festgestellt, dass Oel die Salzsäure¬
menge herabsetzt, deshalb bei Affectionen anzuwenden sich empfiehlt,
welche auf Hypercblorhydrie beruhen. Er hat wiederholt gute Erfolge
beobachtet.
VII. E inho r n (New York) : Die idiopathische Er¬
weiterung des Oesophagus.
Die Diagnose stützt sich auf folgende Punkte : Oesophagus und
Cardia sind für den Magenschlauch durchgängig. Aber man kann aus
dem Oesophagus noch unveränderte Nahrungsreste, mit der Sonde vor¬
sichtig herabgehend, herausholen. Magen- und Oesophagusinhalt kann
man noch besonders leicht unterscheidbar machen durch Genuss von
Kaffee oder anderen gefärbten Flüssigkeiten. Wichtig ist das Fehlen
des Schluckgeräusches. Vortragender hat zwölf Fälle beobachtet, von
denen in zweien sich eine Ursache in einem Trauma finden Hess. Es
ist ein sehr langwieriges Leiden. Behandlung: Anweisung an die Pa¬
tienten, durch Compression des Brustkorbes die Speisen in den Magen
herunterzudrücken, nicht zu grobe Diät und abendliche Ausspülungen
des Oesophagus.
VIII. Bourget (Lausanne): Des indications et des
resultats de 1 a gastro-enterostomie. (100 Beobachtungen
mit 4G Operationen.)
Die G. ist angezeigt in allen Fällen, wo der Passage der Nahrung
durch den Pylorus Hindernisse bereitet sind durch dauernde Ver¬
engerung desselben in Folge von Tumor, fibröser Hypertrophie oder
narbigen geschwiirigen Retractionen. Die G. ist contraindicirt bei vor¬
übergehender Pylorusstenose in Folge von nervösem Spasmus, bei
Stauungen des Mageninhaltes in Folge von Ptosis oder Atonie der
Magenwandnuisculatur. Der Ausführung der Operation muss die sorg¬
fältige Prüfung der motorischen Function des Magens vorausgehen.
Bei Verdacht auf Pylorusspasmus muss sie mehrfach wiederholt
werden, weil sie charakteristische, schwankende Ergebnisse liefert.
Auch der beruhigende Einfluss eines lauwarmen Bades und Bromkali
ist zu beachten. Die Aufblähung des Magens ist nothwendig zur
Unterscheidung von Gastroptose. Die G. bringt dauernde Heilung bei
den genannten Affectionen und auch perigastrischen Adhäsionen an den
Pylorus. Bei malignen Tumoren kann sie das Leben sehr erheblich
verlängern. Bei Pylorospasmus und Ptosis sind die Resultate wenig
befriedigend. Die secretorische Function des Magens leidet durch die
Operation nicht, die motorische bessert sich wesentlich. Die Ent¬
leerung des Magens ist gesichert, sie wird so rhythmisch wie durch
einen Pylorus. Die Verdauungsarbeit geht ebenso schnell vor sich. Der
Ma gen gewinnt allmälig seine normale Grösse und Lage wieder.
IX. G a 1 1 o i s (Pa ris) : Desinfectionsadeuoidiennes.
Unter den Complicationen der adenoiden Vegetationen sind die
von denselben ausgehenden Infectionskrankheiten noch nicht genügend
bekannt. Vortragender unterscheidet folgende Formen: 1. acute oder
chronische Entzündung der Vegetationen selbst, die ihrerseits Aus¬
gangspunkt von Septikämien werden können. 2. Ausbreitung auf die
benachbarten Schleimhäute (Angina in ihren verschiedenen Formen).
3. Ausbreitung auf die Haut der Nachbarschaft (Nase und Auge):
Erysipel, Impetigo, Eczema, Lupus. 4. Entzündliche Anschwellungen
der Halsdrüsen. 5. Interstitielle Bindegewebsentziindungen, die durch
die I ortschleppung der Keime durch Hals und Rachen zu Abscessen und
Eiterungen bis in das Gehirn hinein führen können. 6. Allgemeine
Blutinfectionen durch Tuberkelbacillen, die in den Adenoiden sitzen;
ferner können auch Rheumatismus, Endocarditis und Chorea auf
diesem Wege entstehen.
Ewald (Berlin) hat eine Sepsis in Folge einer chronischen
Otitis entstehen sehen, die bereits 1% Jahre bestand.
*
Section für Chirurgie.
Referent: Wohlgemuth (Berlin).
I. Sitzungstag. Vormittagssitzung.
Vorsitzender: Tillaux (Paris).
I . C e c c h e r e 1 1 i (Parma) : Ueber eine neue Art der
Anwendung der jodhaltigen Soolen von Salso-
Maggiore bei tuberculösen chirurgischen Erkran¬
kungen.
Indem er besonders die tuberculösen Drüsen berücksichtigt,
kommt er zu folgenden Schlüssen:
1. Der Chirurg soll jede tuberculöse Drüsenerkrankung operiren,
wenn sie einmal einen beträchtlichen Umfang angenommen, wenn die
Drüsen vereitert oder verkäst sind.
2. In allen anderen Fällen soll er die Behandlung mit der
Jodsoole versuchen, das Wasser von Salso Maggiore, nachdem es ge¬
reinigt, filtrirt und sterilisirt ist, in das Drüsenparenchym injiciren,
niemals periglandulär. Bäder der Jodsoole, zwei oder drei Jahre lang
genommen, sollen die Heilung unterstützen.
Bei den tuberculösen Abscessen, bei denen es nothwendig ist,
die verschiedenen Taschen zu eröffnen und bei denen man gerne eine
Flüssigkeit anwenden möchte, die auch im Stande ist, die Eiterung zu
beschränken, will Ceccherelli eine Auswaschung der Taschen mit
dem Wasser vornehmen in einer Mischung von 2/3 destillirtem mit ,/3
des Wassers von Salo-Maggiore, nachdem ein gründliches Evidement
voraufgegangen ist. Er hält die Injectionen des Wassers von Salso-
Maggiore für e’n mächtiges Mittel gegen die locale Tuberculöse be¬
sonders der Drüsen, wegen seines beträchtlichen Gehaltes an Jod-,
Brom-, Strontium- und Lithiumsalzen.
II. Biondi (Siena): Die Jod- Milch Sclavo bei den
tuber culös-chi rurgischen Erkrankungen.
III. F a u v e (Paris) : Die chirurgische Behandlung
des Krebses.
Wenn trotz aller Schwierigkeiten der Operation und trotz der
recht betrübenden Resultate, die die operative Behandlung des Krebses
oft gibt, die Zahl der geheilten Fälle von Krebs doch recht zahlreiche
sind, so muss man doch gezwumgenermassen annehmen, dass das
Messer vorläufig noch das einzige Heilmittel des Krebses ist, und dass
wir nicht das Recht haben, den Krebskranken die einzige Möglichkeit
einer Rettung durch eine Operation zu verweigern. Denn keine
Operation ist zu gross und schwer, wenn es sich darum handelt, einen
dem Tode Geweihten zu retten, und wenn er sich vor die Frage
gestellt sieht, ein Carcinom zu operiren, so fragt er nicht darnach, ob
er durch seine Operation einen bereits dem Tode Verfallenen tödten
könnte, sondern ob er ihn eventuell zu heilen im Stande sein wird.
Wir haben kein Recht, einen Krebskranken zu Grund gehen zu lassen
unter dem Vorwände, dass er bei unserem Eingriffe unterliegen würde,
ebensowenig wie wir das Recht haben, einen Kranken mit Peritonitis
sterben zu lassen, ohne den Versuch zu machen, ihn durch einen
operativen Eingriff zu retten, selbst auf die Gefahr hin, dass er auf
dem Operationstische bleibt. Der Krebs ist eine locale Erkrankung, die
auch durch eine locale Operation geheilt werden muss. Aber um ihn
zu heilen, muss man die Grenzen überschreiten. Jede unvollständige
Operation hat ein Rccidiv im Gefolge, oder, besser gesagt, eine Weiter¬
verbreitung ; denn der Krebs recidivirt nicht. Man muss daher sehr
ausgedehnte Operation«: n machen, und während man das Erkrankte
entfernt, soll man sich nicht mit der Ueberlegung beschäftigen oder
sich dadurch einschränken lassen, wie man den Defect wieder decken
wird. Man wird es eben später machen, so gut es geht, wenn es sich
nicht von selber reparirt. Nach diesem Princip bat er seit fünf Jahren
eine grosse Zahl von Krebsgeschwülsten operirt. Krebse des Gesichtes,
der Zunge und der Kiefer, des Pharynx und Larynx, der Thyreoidea
und der Halsganglien, Magen-, Darmcarcinom, Krebs an Hoden, Ovarien,
Uterus, Rectum, Brust, Schulterblatt, Femur und Becken. Fauve
rechnet dabei zu den Careinomen alle malignen Tumoren, Epitheliome
und Sarkome, die ja alle denselben Charakter zeigen, welches auch
ihre histologische Beschaffenheit sei, niemals spontan heilen und
ohne Unterschied mit dem Tode endigen. Er hat unter diesen
Voraussetzungen bis zum vorigen Jahre 93 Fälle operirt. Von diesen
sind 18 geheilt seit 12 bis 47 Monaten. Unter ihnen waren zwei, die
ein ausserordentlich schweres Epitheliom des Oberkiefers darboten,
nach 25 und 40 Monaten einer intercurrenten Krankheit erlagen, ohne
ein Recidiv bekommen zu haben. Im Ganzen hat er also 20% Hei¬
lungen erzielt. Er ist sich wohl bewusst, dass die Zeit noch nicht
lang genug ist, um von einer definitiven Heilung zu sprechen, ob¬
gleich er noch niemals mehr ein Recidiv bei den äusseren Krebsformen
hat entstehen sehen, wenn die (scheinbare) Heilung ein Jahr gedauert
hat. Aber 14 von seinen Kranken sind, nachdem sie aus der Be¬
handlung geheilt entlassen waren, nicht mehr aufzufinden gewesen.
Die Zahl von 20% Heilungen bei zum Theile sehr schlechten Fällen
scheint ihm doch so ermunternd zu sein, dass man unter keiner Be¬
dingung an der Heilung des Carcinoms verzweifeln darf und das Recht
hat, ja sogar die Pflicht, in allen Fällen Alles zu unternehmen und
Alles zu wragen.
(Fortsetzung folgt.)
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
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Gi >n f . Prof. Dr. Schwimmer, Wiener klinische Wochenschrift 1891, Nr. 26.
» Prof. Dr. Steuer, Arbeiten aus dem Ambulatorium und der Privatklinik etc.
Heft II, pag. 19 ff.
» Prof. Dr. V. Janovsky, Gasopis Lökaru Ceskyck 1892, Nr. 81 u. 22.
» Prof. A. Fasauo, Aerztliche Monatsschrift 1898, Heft 3.
» Prof. Dr. Seifert, Münchener medicinische Wochenschrift 1888, Nr. 47.
> Dr. Gaudin, am Höpital St. Louis, Paris, Specialbroschüre.
» Dr. M. Endlitz, am Höpital St. Louis, Paris, Special broschüre.
> Dr. Thomän, Wiener klinische Wochenschrift 1889, Nr. 38.
» Dr. Herzog, Therapeutische Monatshefte, August-Heft 1889.
»■ Dr. Rosinski, Therapeutische Monatshefte, December-Heft 1893.
» Dr. Mario Oro, Le Injecioni di Sozojodolato di Mercurio. Clinica dermopath.
di Prof, de Ainicis, Napoli 1894.
» Dr. Payet, Journal des Malad, cutan. 1895, pag. 200.
» Dr. Alfred Berliner (Dr. R. Ledermann’s Poliklinik für Hautkrankheiten,
Berlin), Allgemeine medicinische Central-Zeitung 1896, Nr. 38.
» Dr. Eugen Berneick, Inaugural-Dissertation, Königsberg in Preuasen
1897, pag. 28.
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Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VI 11/1, Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang.
Wien, 23. August 1900.
Nr. 34.
IHNTH IALT: (Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel : 1. Aus dem pathologisch-anatomischen Institute in
Wien (Hofr. Dr. A. Weichselbaum). Ein Fall von maligner
Endocarditis mit zahlreichen Metastasen. Von Dr. S. G a v a 1 a,
Athen.
2. Aus der Poliklinik des Dr. Gold fl am in Warschau. Einiges
über Epilepsiebehandlung. Von Dr. Max Biro.
II. Referate: I. Elemente der pathologisch-anatomischen Diagnose. Von
Prof. Dr. O. Israel. II. Dermato-histologische Technik. Von
Dr. M. Joseph und G. Lüwenbach. III. On Neuroma and
Neurofibromatosis. By Alexis Thomson. Ref. Dr. Oskar
S t o e r k. — Die Krankheiten der Nägel. Von Dr. Julius
Heller. Ref. L. I' renn d.
III. Ans verschiedenen Zeitschriften.
IV. Therapeutische Notizen.
V. Vermischte Nachrichten.
VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
Aus dem pathologisch anatomischen Institute in Wien
(Hofr. Dr. A. Weichselbaum).
Ein Fall von maligner Endocarditis mit zahl¬
reichen Metastasen.
Von Dr. S. Gavala, Athen.
Am 22. Juni 1. J. gelangte ein Fall von maligner Endo¬
carditis zur Obduction. welcher sowohl wegen seiner Ent¬
stehung, als wegen der ausserordentlich zahlreichen Metastasen
Interesse verdient.
Es handelte sich um einen 20jährigen Mann, welcher,
wie aus der freundlichst zur Verfügung gestellten Kranken¬
geschichte hervorgeht, am 16. Juni 1900 auf die Abtheilung
des Herrn Primarius Er. Pal auigenommen worden war.
Vor acht Monaten Gelenkrheumatismus, sonst stets gesund.
Kein Herzklopfen bis vor vier Tagen.
Patient musste ein schweres Fass im Eiskeller holen und
spürte dabei Herzklopfen, Schmerzen in der Brust und im Bauche.
Wenige Stunden später Schüttelfrost, Fieber, er musste das Belt auf¬
suchen. Husten mit dabei auftretenden Schmerzen im Kreuze und
in der linken Seite, Appetitlosigkeit, starkes Herzklopfen, Athem-
noth, zunehmende Schwäche und Schlafsucht. Kein Auswurf, kein
Erbrechen, gestern massiges Nasenbluten. Füsse nie geschwollen.
Stuhl regelmässig.
Status praesens: Passive Rückenlage, Sensorium etwas
benommen. Gesichtsausdruck leidend und ängstlich, Gesichtsfarbe
blass-cyanotiseh, Pupille enge, reagirend.
Sichtbare Schleimhäute blass, etwas livid, Zunge belegt.
Mittehnässiger Knochenbau, Musculatur und Panniculus entsprechend,
keine Oedeme, keine Drüsenschwellung, Temperatur 38’5°.
Ai terien weich, gerade, gut gefüllt, Spannung normal, wallend
und zugleich dikrot. Frequenz 96, rhythmisch.
Respiration ziemlich beschleunigt, inspiratorische Dyspnoe,
Nasenflügelathmen, oberer Costaltypus. Keine inspiratorischen Ein¬
ziehungen. Etwas Husten mit zähdickem Auswurfe.
Urin deutlich Nucleo- und Serumalbumin, Zucker negativ,
Harnmenge vermindert. Thorax mittel mässig, gut gewölbt.
Einige Venenerweiterungen auf der Brust. In den Lungen
nichts Abnormes.
Herz: Spitzenstoss im fünften Intercostalraum, zwei bis drei
Querfmger ausserhalb der Mamillarlinie, stark hebend, entsprechend
drei hintereinander gelegenen Fingerkuppen, palpabel und deutlich
sichtbar. Spilzenstossvorwölbung, etwas epigastrische Pulsationen
sichtbar und fühlbar. Positiver Venenpuls, daneben indulirende
Venen am Halse.
Percussion: Aeusserer Rand der Herzdämpfung ist drei
Querfinger ausserhalb der Mamillarlinie um einen Querfmger
wechselnd. Nach starker Percussion Verschiebung der Dämpfung
nach innen, linke Parasternallinie. Oberer Rand der Herzdämpfung
am unteren Rande der dritten Rippe. In der linken Sternallinie
am unteren Rande der zweiten Rippe eine Verbreiterung bis fast
zum rechten Sternalrand.
Auscultation: An der Spitze langes, systolisches Geräusch,
accenluirter, diastolischer Ton und leises, diastolisches Geräusch,
manchmal deutliche Spaltung des zweiten Tones an der Spitze.
Ueber der Pulmonalis systolisches Geräusch, zweiter Ton mit
diastolischem Geräusch.
Ueber der Tricuspidalis zwei blasende Geräusche, diastolisch
und systolisch mit musikalischem Charakter.
17. Juni. Temperatur 38 — 39'4°. Puls 108, Respiration 32.
Puls dikrot, schnellend und arhythmisch; nach vier bis lünf Pulsen
tritt eine längere Pause ein. Milz und Leber nicht vergrössert. Im
Abdomen nichts Besonderes.
Das ganze Sternum ' gibt einen gedämpften Schall.
18. Juni Temperatur 38—40°. Puls 112 — 116, Respiration
40 — 48. Systolisches knackendes Geräusch. Dämpfung beginnt in
der Mitte des Interscapularraumes in der Höhe des fünften bis
sechsten Brustwirbels. In der unteren Hälfte bronchiales Compres-
sionsathmen.
19. Juni. Temperatur 39 — 40°. Puls 112, Respiration 36.
Patient wird wegen unruhigen Zustandes auf das Gitterbett trans-
ferirt. 'Herzdämpfung beginnt in der linken Parasternallinie von der
76b
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 34
zweiten Rippe. Nach rechts reicht dieselbe bis zum rechten
Sternalrand.
Sternum gedämpft. Spitzenstoss im fünften Intercoslalraum
in der Mamillarlinie sichtbar und fühlbar. Der T r a u b e’sche Raum
klingt laut tympanitisch, Athmung hochgradig asymmetrisch, die
linke Seite bleibt zurück.
Die Auscultation ergibt systolisches Reiben. Ueber dem
Sternum pericardiales systolisches Reiben mit knackenden Geräuschen.
An der Herzspitze hört man einen accentuirten systolischen
Ton, leises, systolisches Geräusch, kaum hörbare Diastole.
An der Pulmonalis deutlich hörbarer zweiter Ton. Ueber der
Aorta liegt der Accent auf dem diastolischen Geräusch.
Beim Aufsetzen bewegt Patient die Kniegelenke. Ein Exsudat
in den Gelenken ist nirgends nachweisbar.
Abdomen ist mächtig aufgetrieben. Ueber der Vena jugularis
Undulation.
Cyanose der oberen Extremitäten und Lippen. Deutlicher
Capillarpuls. Auf der rechten Planta pedis ein etwa zweikronen¬
stückgrosses, bläuliches, auf Druck schmerzhaftes Infiltrat.
Vergangene Nacht war Patient verwirrt, vollkommen des-
orientirt, schrie, sprang auf, wurde gewaltthätig.
Heute ist Patient somnolent, Cyanose der Lippen. Puls 120,
Spannung gering, deutliche Dikrotie.
20. Juni. Temperatur 39 — 39'6°. Puls 112, Respiration 32.
Die Probepunction der linken Thoraxhälfte ergab serös-fibrinöses
Exsudat, das zur bacteriologischen Untersuchung gegeben wurde.
Nachmittags schwer benommen, delirirt, leichte Nackensteifig¬
keit. Beim Aufsetzen schmerzempfindlich. Drehen frei. Am rechten
Sternocleido ein guldengrosses, entzündliches Infiltrat. Kleine, bis
erbsengrosse Infiltrate und rothbraune Flecken auf den Schenkeln.
Herzdämpfung in der linken Parasternallinie an der zweiten
Rippe. Spitzenstoss im sechsten Intercostalraum sichtbar.
Pulsfrequenz 122. An der Spitze der erste Ton accentuirt.
Ueber der Pulmonalis und Aorta diastolische, blasende Geräusche.
Im Urin mässig viel Eiweiss, im Sediment keine Cylinder.
Deutliche Leukocytose, polynucleäre Leukocyten.
21. Juni. Temperatur 39 — 40'2°.
Puls 116, Respiration 3G.
Die bacteriologische Untersuchung der Probepunctionsflüssig-
keit ergab Staphylococcus pyogenes aureus und Streptococcus
pyogenes.
Patient ist 5 '/2 Uhr Nachmittags gestorben.
Sectionsbefund: Der Körper mittelgross, gracil gebaut,
mit schwacher Musculatur, wenig entwickeltem Panniculus adiposus
und blassvioletten Todtenflecken auf der Rückseite. Am rechten
Fussriicken in der Nähe des Malleolus externus eine mandelgrosse,
fluctuirende Geschwulst (subcutaner Abscess).
Das Schädeldach von gewöhnlicher Dicke und Form. Die
Hirnhäute mässig blutreich. An verschiedenen Stellen der Hirnober¬
fläche rundliche, bis 2 cm im Durchmesser haltende, flache, theils
dunkelrothe, zum Theil vereiterte Herde. Im linken Stirnlappen ein
4 cm langer und */2 cm breiter, weicher, röthlicher Herd. Die ihn
umgebende Hirnsubstanz erweicht und gelblich verfärbt. Auch im
rechten Schläfenlappen findet sich ein 3 cm langer und 2 cm
breiter, weicher, röthlicher Herd mit gelber Erweichung der benach¬
barten Hirnsubstanz. In den Ventrikeln und grossen Ganglien nichts
Abnormes.
Die Schleimhaut des Pharynx leicht geschwollen und diffus
dunkelroth. Beide Tonsillen geschwollen, die rechte fast vollständig
durch einen nussgrossen Abscess substituirt, während in der linken
Tonsille ein erbsengrosser Eiterherd vorhanden ist.
Die linke Lunge ist in ihrem oberen Abschnitt durch dicke
Pseudomembranen mit der Thoraxwand verwachsen. Zwischen dem
Unlerlappen und der Thoraxwand ist eine ziemlich reichliche Menge
fibrinös-eiterigen Exsudates vorhanden. Im Oberlappen der linken
Lunge finden sich multiple, keilförmige oder rundliche, braunrothe,
weiche, zum Theil vereiterte Herde von verschiedener Grösse. Des¬
gleichen im Ober- und Mittellappen der rechten Lunge.
Im Herzbeutel geringe Mengen fibrinös-eiterigen Inhaltes. Das
Herz grösser, und zwar durch Erweiterung des deutlich hypertrophi¬
schen linken Ventrikels.
Der Herzmuskel, von gelblichbrauner Farbe und verminderter
Gonsistenz, zeigt an verschiedenen Stellen punktförmige und grössere
hämorrhagische oder zum Theil vereiterte Herde. An der Valvula
mitralis, die fibrös verdickt, finden sich theils reichliche, grauröth-
liche, weiche Efflorescenzen, die sich leicht ablösen lassen, theils
einzelne seichte, mit weichen Massen bedeckte Geschwüre, deren
Rand zackig und etwas erhaben erscheint. Die Valvula aortae
gleichfalls fibrös verdickt und verkürzt.
Am Endocardium des rechten Ventrikels stellenweise unregel¬
mässige, weissliche Flecken.
Die Leber grösser (28 : 25 cm, 1620 <7), von braungelber Farbe
und etwas verminderter Gonsistenz, zeigt an verschiedenen Stellen,
besonders am Rande des rechten Lappens, weiche, theils hämor¬
rhagische, theils vereiterte Herde.
Die Gallenblase und Gallengänge normal.
Die Milz etwas grösser, blutreich, von verminderter Consistcnz,
zeigt an ihrem unteren Rande einen grossen, weichen, dunkel-
rothen Infarct und an verschiedenen anderen Stellen kleine, rund¬
liche Abscesse.
Die beiden Nieren etwas grösser, die Kapsel leicht abziehbar.
An verschiedenen Stellen der Rinde und der Pyramiden theils
punktförmige, theils linsen- bis nussgrossc, weiche, hämorrhagische,
oder zum Theil vereiterte Herde.
Im Dünndarm ausser diffusem Katarrh einige linsengrosse,
braunrothe, exulcerirte Herde.
Die Synovia im rechten Kniegelenke klar, die Synovialis
stark injicirt.
Diagnose: Eitrige Tonsillitis beiderseits,
nebst acuter Pharyngitis. Acute Endocarditis
der Valvula mitralis mit Myocarditis. Peri¬
carditis. Metastatische Entzündungsherde im
Gehirn, in den Lungen mit linksseitiger Pleu¬
ritis, in der Milz, der Leber, den Nieren, im
Dünndarm mit diffuser Enterititis und in der
Subcutis des rechten Fussrückens, acuter Milz¬
tumor, fettige Degeneration der Leber, des
Herzens und der Nieren. Insufficienz der V. mi¬
tralis und der Aortenklappen nach alter Endo¬
carditis mit excent rise her Hypertrophie des
linken Ventrikels.
Bacteriologische Untersuchung.
Für diese Untersuchung wurden theils Deckglas-
präp arate ängefertigt, theils C u 1 1 u r e n angelegt.
Für die ersteren wurden die Abscesse des Gehirnes, der
linken Tonsilla, der Lunge, Leber und Nieren, ferner der
Milzinfarct, das pleuritische und pericarditische Exsudat und
der subcutane Abscess am Fussrücken verwendet. In allen
diesen Präparaten fanden sich sehr reichliche Staphylococcen,
im Abscesse der Tonsille überdies auch Diplococcen.
Culturen wurden auf Agar in Petr i’schen Schalen
mittelst der Strichmethode angelegt, und zwar von den
Abscessen des Gehirnes, der Lunge, Leber und Nieren, der
linken Tonsille und des Fussrückens, vom pleuritischen und
pericarditischen Exsudate, den endocarditisehen Vegetationen
und dem Milzinfarcte.
Auf allen diesen Platten entstanden ausschliesslich und
sehr reichlich Colonien des Staphylococcus pyogenes aureus;
nur aus dem Eiter des Tonsillarabscesses gingen neben reich¬
lichen Colonien von Staphylococcus pyogenes aureus noch
spärliche Colonien des Staphylococcus pyogenes albus und
viele Colonien des Streptococcus pyogenes auf.
Pathologisch - histologischer Befund.
1. Gehirn. Im Bereiche der encephalitischen Herde ist
die Hirnsubstanz durch ein hämorrhagisch- eiteriges Exsudat
nahezu vollständig zerstört, indem man von ersterer nur an der
Peripherie der Herde noch Blutgefässe und gröbere Glia-
balken wahrnimmt. Im Exsudate sind die rothen Blutkörper¬
chen entweder noch deutlich zu erkennen, oder sie sind unter¬
einander zusammengebacken.
Das hämorrhagisch-eiterige Exsudat erstreckt sich bei
den oberflächlichen Herden auch in die darüber befindlichen
inneren Hirnhäute.
Nr. 34
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
769
Inmitten der Exsudatmassen sieht man kleinere und
grössere Häufchen von Coccen.
In der Peripherie der Herde und in der nächsten Um¬
gebung derselben sind ziemlich viele Capillaren oder kleinste
Arterien durch Coccen verstopft.
Die umgebende Hirnsirbstanz ist entweder noch unver¬
ändert, oder es sind die Gefässe von einer hämorrhagischen
oder eiterigen, oder nekrotisch-eiterigen Zone umgeben, wobei
den Gefässen zunächst die nekrotische und weiter nach aussen
die eiterige Zone zu liegen kommt.
Viele von den Eiterkörperchen zeigen Zerfall ihrer
Kerne.
Mitunter ist die Wand des verstopften Blutgefässes selbst
nekrotisch, wobei sie mit der nächsten Umgebung in ein durch
Eosin sich intensiv färbendes Balkenwerk umgewandelt
erscheint.
2. Lungen und Pleura. Die Pleura ist einerseits
durchsetzt von inselförmigen Fibrinnetzen, kleinen Hämor-
rhagien und zelligen Infiltraten, welch letztere zum Theile aus
polynucleären Leukocyten bestehen, von denen nicht wenige
Kernzerfall zeigen, andererseits ist sie bedeckt von einer
Exsudatschichte, welche zum grössten Theile fibrinöser, zum
kleineren Theile hämorrhagischer Natur ist. Die Fibrinnetze
enthalten zahlreiche polynucleäre Leukocyten, von denen ein
Theil Kernzerfall auf weist. In den oberflächlichen Schichten
des Exsudates findet man zahlreiche Coccenhäufchen.
In der Lunge sieht man entsprechend den hämorrhagisch¬
eiterigen Herden das Lungengewebe, das heisst Alveolen und
interstitielles Gewebe, theils von Hämorrhagien, theils von
einem eiterigen Exsudate erfüllt und durchsetzt, wobei die
Septa der Alveolen zum grossen Theile durch die Hämor¬
rhagien zestört, oder durch das eiterige Exsudat einge¬
schmolzen sind.
Im Bereiche des letzteren sind viele Häufchen von
Coccen oder Coccenembolien von Capillaren vorhanden.
3. Valvula mitral is. Man sieht auf ihrer Oberfläche
entsprechend den Efflorescenzen, zunächst Thrombenmassen,
welche grössere und kleinere Coccenhaufen beherbergen. Dann
folgt eine Schichte nekrotischen Klappengewebes, weiterhin
eine schmale Zone, in welcher das Klappenbindegewebe von
dicht stehenden, polynucleären Leukocyten durchsetzt ist,
während weiter nach abwärts die Eiterkörperchen spärlicher
werden, die Bindegewebszellen aber vergrössert und vermehrt
erscheinen. Auch ziemlich viele neugebildete Blutgefässe sind
zu sehen, welche offenbar von einer früheren, bereits abge¬
laufenen Entzündung stammen.
4. Leber. Bei der mikroskopischen Untersuchung sieht
man zahlreiche Herde von verschiedener Grösse. Die kleinsten
nehmen nur einen Theil eines Acinus ein und bestehen
durchwegs aus Eiterkörperchen, sind also kleinste, durch voll¬
ständige eiterige Einschmelzung des Lebergewebes entstandene
Abscesse, in deren Mitte man mitunter noch einen Coccen¬
haufen oder ein durch Coccen verstopftes Capillargefäss wahr¬
nehmen kann.
Die grösseren Herde erstrecken sich über einen Acinus,
oder selbst über mehrere Acini. In denselben bemerkt man
zunächst kleine Arterienäste, sowie einzelne oder viele
Capillaren durch Coccen verstopft. Im letzteren Falle gewinnt
man den Eindruck, als würden die Capillaren mit einer ge¬
färbten Masse injicirt worden sein.
Weiters findet man, und zwar in den centralen Partien
der Herde, die Leberzellenbalken, sowie die zwischen ihnen
befindlichen Capillaren vollständig kernlos (nekrotisch), während
gegen die Peripherie den Herden zu zwischen den nekrotischen
Leberzellenreihen polynucleäre Leukocyten erscheinen, welche
an Zahl allmälig zunehmen und schliesslich die Leberzellen
ganz verdrängen können.
5. Niere. Man findet kleine und grössere, zum Theile
conflnirende Eiterherde, in deren Mitte man mitunter noch
von Coccen verstopfte, kleine Arterienäste sehen kann. Diese
Abscesschen werden von einem breiteren oder schmäleren
hämorrhagischen Hofe umgeben, das heisst von Hämorrhagien,
welche die Harncarälchen entweder ganz verdrängt haben,
oder zwischen denen man noch einzelne, meistens nekrotische
Canälchen sehen kann. Ausserdem gibt es noch verschieden
grosse Herde, in deren Bereiche die Harncanälchen und
Glomeruli nekrotisch erscheinen, während zwischen diesen ent¬
weder Extravasate oder polynucleäre Leukocyten vorhanden
sind, welche stellenweise die Harncanälchen ganz substituiren
und dann kleinste Abscesse bilden.
6. Milz. Der grosse Infarct in der Milz weicht in
seinem mikroskopischen Verhalten von jenem der grossen
Herde in den anderen Organen nicht ab. Man sieht aber bei
der mikroskopischen Untersuchung noch viele kleine Herde,
die entweder einfache Hämorrhagien sind, oder theils aus
Extravasaten, theils aus mono- und polynucleären Leukocyten
bestehen. Diese Herde liegen ausschliesslich in der Pulpa,
wobei aber die Hämorrhagien mitunter die M a 1 p i g h fischen
Follikel von allen Seiten umgeben.
7. Darm. Die betreffenden Herde bestehen mikroskopisch
theils aus einem Extravasate, welches die Submucosa und
Muscularis einnimmt, theils aus Eiterkörperchen, welche in
den tieferen Partien der Mucosa liegen.
8. Herzmuskel. Bei der mikroskopischen Unter¬
suchung findet man ausser den schon makroskopisch wahr¬
nehmbaren Herden noch zahlreiche sehr kleine Herde, welche
entweder ausschliesslich aus Eiterkörperchen bestehen, oder
im Centrum eiteriger und in der Peripherie hämorrhagischer
Natur sind, oder blos kleinste Hämorrhagien darstellen. Im
eiterigen Antheile dieser Herde findet man häufig theils Coccen¬
häufchen, theils Coccenembolien von Capillaren. Im hämor¬
rhagischen Antheile der Herde sind die Muskelprimitivbündel
ganz oder theilweise nekrotisch.
*
Der eben beschriebene Fall zeichnet sich zunächst in
pathologisch-anatomischer Beziehung dadurch aus, dass er eine
sehr schwere Form von Endocarditis darstellt, bei welcher es
zu Metastasen in sehr zahlreichen Organen gekommen war,
nicht nur in solchen Organen, welche wie die Lungen, die
Milz und die Nieren eine sehr häufige Stätte von Embolien
darstellen, sondern auch in solchen Organen, welche, wie das
Gehirn, das Myocard, die Leber, der Darm und das Unter¬
hautbindegewebe, nur selten von Metastasen befallen werden.
Die metastatischen Herde, namentlich die grösseren,
zeigten in allen Organen eine ausgesprochene Tendenz zur
Vereiterung, was offenbar darauf zurückzuführen ist, dass sie
durchwegs durch den Staphylococcus pyogenes aureus ver¬
ursacht wurden, welcher, wie die bacteriologische Untersuchung
lehrte, nicht nur in den endocarditischen Vegetationen, sondern
auch in allen Metastasen in Reincultur vorhanden war.
Wenn wir uns nun fragen, in welcher Weise die Endo¬
carditis entstanden war, und wie die Vorgefundenen Processe
untereinander Zusammenhängen, so kann es zunächst als sehr
wahrscheinlich bezeichnet werden, dass die eiterige Tonsillitis
den Primärprocess darstellt, und dass es von diesem aus auf
dem Blutwege zunächst zur Infection der Valvula mitralis
kam, welche Klappe in Folge ihrer von einer früheren Ent¬
zündung herrührenden Veränderungen (Verdickungen, Uneben¬
heiten) zu Infection, das heisst zur Ansiedlung von Bacterien
disponirt war, und dass dann weiterhin durch Ablösung von
endocarditischen Vegetationen die Metastasen in den ver¬
schiedensten Organen veranlasst wurden. Für diese Annahme
lässt sich auch die Thatsache verwerthen, dass im Eiter der
Tonsillarabscesse der Staphylococcus pyogenes aureus nachge¬
wiesen werden konnte, allerdings neben demselben noch der
Streptococcus pyogenes, welch letzterer aber wahrscheinlich
nicht ins Blut gelangte oder wenigstens sich nicht an der
Valvula mitralis ansiedelte, vielleicht auch von dem viel
üppiger gedeihenden Staphylococcus pyogenes aureus über¬
wuchert worden war.
Dass eine Tonsillitis den Ausgangspunkt einer allgemeinen
Infection, sei es einer Endocarditis mit darauffolgender Pyämie,
oder einer Pyämie überhaupt, bilden kann, ist bereits wieder¬
holt beobachtet und beschrieben worden.
770
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 34
Iin vorliegenden Falle findet sich aber in der Anamnese
die Angabe, dass der Schüttelfrost, also das Initialsymptom
der Pyämie, wenige Stunden nach dem Heben einer sehr
schweren Last sich eingestellt hatte, während vorher der Patient
anscheinend wohl gewesen war.
Es entsteht nun die Frage, ob zwischen diesen beiden
Momenten irgend ein Zusammenhang anzunehmen ist. In
dieser Beziehung könnte man an zwei Möglichkeiten denken.
Die erste bestünde darin, dass in Folge der schweren körper¬
lichen Anstrengung beim Heben einer grossen Last eine
Läsion der Aortenklappen, die durch die vorausgegangene
Endocarditis bereits verändert waren, gesetzt, und hiedurch
das Eindringen bereits im Blute vorhanden gewesener, aus
dem Tonsillarabscesse stammender, pathogener Mikroorganismen
begünstigt worden war.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass bereits eine
frische, aber noch nicht manifeste Endocarditis vorhanden war,
und dass erst durch die grosse körperliche Anstrengung beim
Heben der schweren Last von den endocarditischen Vege¬
tationen Partikelchen abgerissen worden waren, oder dass
wenigstens deren Ablösung durch die körperliche Anstrengung
begünstigt worden war, und dass dann diese Thromben¬
partikelchen in verschiedene Organe eingeschwemmt
wurden.
Von diesen beiden Annahmen hat aber die letztere des¬
halb die grössere Wahrscheinlichkeit für sich, weil schon
wenige Stunden nach dem Heben der schweren Last
ein Schüttelfrost, das heisst das erste Symptom der Ueber-
schwemmung des Gefässsystems mit Bacterien, aufge¬
treten war.
Zum Schlüsse gestatte ich mir, den hochverehrten
Herren Prof. Dr. A. Weichselbaum und Docent Dr. A.
Ghon für die gütige Ueberlassung dieses Falles und für ihre
freundliche Unterstützung meinen besten Dank an dieser
Stelle auszusprechen.
Aus der Poliklinik des Dr. Goldflam in Warschau.
Einiges über Epilepsiebehandlung.
Von Dr. Max Biro.
Morbus sacer, eine Krankheit, deren bekannte Anfälle
unerwartet auftreten, des Ortes ungeachtet, wo die ausserhalb
der Anfälle gesund scheinende Person sich befindet, eine
Krankheit, welche ganze Jahre dauert, eine Krankheit, die
seit dem Alterthume bekannt ist, trotzt heute noch meist unseren
Massregeln. Alle Bestrebungen zu deren Bekämpfung oder
Bändigung scheinen des Besprechens wert. Der geringen Zahl
der speciellen Krankenhäuser halber wäre es nicht ohne
Nutzen, kurz selbst Bestrebungen der Anstalten, in welchen
man kaum solche präcise Thatsachen beobachten kann, wie
sie leicht in Epilepsiesanatorien gemacht werden können, zu
veröffentlichen. In Allgemeinkrankenhäusern finden die un¬
glücklichen Epileptiker keinen längeren Aufenthalt; deswegen
scheint es nicht ohne Nutzen, die Beobachtungen zu erwähnen,
welche ich während acht Jahre in Dr. Gold flam’s Poli¬
klinik in 185 Fällen von Epilepsie zu machen Gelegenheit
gehabt habe. Indem ich an dieser Stelle Dr. Goldflam
meinen herzlichen Dank ausdrücke für die Erlaubniss, zu
meinen Zwecken das entsprechende poliklinische Material zu
verwerthen, sei es mir erlaubt, hier einen Ueberblick auch
über unsere therapeutischen Erfolge zu geben.
Bevor ich dies thue, ist es wünschenswerth, die
Kriterien zu erwägen, welche uns erlauben, die Meinung aus¬
zusprechen, dass ein Fall geheilt oder mindestens gebessert
wurde. Da der Epileptiker in den Zwischenzeiten, welche
die Anfälle abgrenzen, last keine krankhaften Erscheinungen
bietet, könnte es scheinen, dass man in dieser Hinsicht auf
der Zeitdauer tusse, während welcher der Kranke seit der
Cur keine Anfälle durchgemacht. Mehrere Forscher ver¬
fahren eben in diesem Sinne. Sachs glaubt in jedem Falle
nach fünfjährigem anfallsfreien Zeitlaufe den Kranken als
geheilt betrachten zu dürfen. Erlenmeyer ist der Meinung,
dass, wenn nach vieljähriger Dauer Anfälle von Neuem auf¬
treten, man einer ganz neuen Erkrankung gegenüberstehe. Diese
seine nicht gerechtfertigte Behauptung bedarf kaum einer Be¬
kämpfung. Wo wollen wir die Grenze bezeichnet wissen, an
der wir einen anfallsfreien Zeitraum als Beweis von Heilung
erklären? Wenn wir überhaupt einen langen anfallsfreien Zeit¬
raum als Beweis von Genesung annehmen, dann gelangen wir
auf Irrwege. Es sind jahrelange Intervalla lucida ja Allen
bekannt. Ich erwähne zweier meiner Fälle, in denen bei
zwei siebenjährigen Mädchen, der erste Anfall im ersten,
die späteren erst nach dem siebenten Lebensjahre vorge¬
kommen; eines elfjährigen Knaben, der den ersten Anfall im
dritten und die nachfolgenden erst im elften Jahre durch¬
gemacht hat. Wenn man dem entgegen behaupten wollte, dass
ein langer Zeitraum nur zwischen dem ersten und dem zweiten
Anfalle auftreten kann, dass deshalb ein grosses Intervallum
lucidum nach einer Reihe von Anfällen und nicht nach dem
ersten eine Heilung oder Besserung aufweist, dann kann ich
auf einen Fall hindeuten, in welchem ein 17jähriges Mädchen
vom ersten bis zum sechsten Jahre fast alle sechs Monate
Anfälle gehabt, dann zehn Jahre anfallsfrei geblieben, um von
da an von Neuem alle sechs Monate wie vorher Epilepsieanfälle
durchzumachen. In Anbetracht dessen ist es kaum möglich,
nach dem absoluten Zeiträume, der ohne Anfälle geblieben,
sich für Heilung oder Besserung des entsprechenden Falles zu er¬
klären. Doch scheint ein gewisses Mass vorhanden zu sein,
kraft dessen man Heilung oder Besserung annehmen könnte.
Vielleicht wäre es wichtig, in jedem Falle in Acht zu nehmen,
welches Verhältniss zwischen dem Zeiträume seit der ange-
stellten Cur und den anfallsfreien Zwischenzeiten, welche vor
derselben vorgekommen, besteht. Ein solches Verfahren müsste
berücksichtigt werden, wenn man auch nur eine leise Ahnung
hätte, dass eine gewisse Regelmässigkeit im Verhältnisse der
Zeiträume, welche die Anfälle abgrenzen, bestehe. Es ist kaum
zu hoffen, dass die Zwischenzeiten untereinander richtig zu
ermessen seien, dass man mathematisch ihr Verhältniss be¬
stimmen könne. Dies scheint unmöglich, da Einwirkungen vor¬
handen, welche das Auftreten einzelner Anfälle erleichtern oder
verhindern. In 5% meiner Fälle könnte man einen solchen
Einfluss gewisser Erscheinungen auf das Entstehen von An¬
fällen beobachten. In 3% der Epilepsiefälle folgten manchmal
die Anfälle einem psychischen Trauma nach, in 1% einem
physischen und psychischen; fast in 0'8% kam der Anfall
ausserhalb seines regelmässigen Verlaufes während der Men¬
struation vor. Der blosse Heiratsfactor machte die Anfälle in
0'2% auf gewisse Zeit seltener, eine Thatsache, die nach
Bins w anger mehrmals beobachtet ist. Wie weit in den
letzteren Fällen auf die Verringerung der Zahl der Anfälle
das Aufhören der Meustruation Einfluss gehabt hat, ist schwer zu
behaupten, doch ist es zu vermuthen; es ist ja bekannt, und
dies war auch in zwei meiner Fälle zu beobachten, dass die
Anfälle oft zur Zeit der Menstruation auftraten. Es ist schwer,
blos mit Bin sw anger, überereinzustimmen, dass dies in
solchen Fällen vorkommt, in welchen die ersten Anfälle »zu¬
gleich mit dem erstmaligen Auftreten der Menstruation« ent¬
standen, da eine meiner Kranken mit Anfällen zur Zeit der
Menstrua den ersten Anfall im 11., den zweiten im 22. Jahre
hatte, während sie erst im 14. Lebensjahre zu menstruiren be¬
gonnen hatte.
Wenn wir im Stande sein werden, aus der Verlaufslinie
einzelner Fälle von Epilepsie die unbedeutenden Perturbationen
zu abstrahiren, welche von Factoren abhängen, die bei
Epileptikern den Ausbruch einzelner Anfälle beeinflussen, so
wird man mit gewisser Wahrscheinlichkeit beweisen können,
dass durch den unregelmässig scheinenden Epilepsieverlauf
eine gewisse Regelmässigkeit durchscheint. Einen solchen Ein¬
druck machten auf mich mehrere Epilepsiefälle, die ich jahrelang
beobachten konnte. Es haben wahrscheinlich die meisten
Aerzte, welche mit Epileptikern zu thun haben, dieselbe Er¬
scheinung beobachtet. Zwar glaubt Binswanger. dass »bei
ein und demselben Individuum die Häufigkeit der Anfälle
ausserordentlich schwankt«, doch ist ja bekannt und auch von
ihm betont, dass die Anfälle manchmal gruppenweise auf-
Nr. 34
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
771
treten und die Serien der Anfälle langdauernde Zeiträume
von scheinbarer Gesundheit scheiden; auch ist ein anderer
Verlaufstypus beobachtet, der sogenannte »Status epilepticus«,
»etat de mal«. Beau glaubt in den meisten Fällen an die vier-
wöchentliche Wiederkehr der Anfälle, Leuret, dass der
vierzehntägige Typhus der häufigste sei. In der Mehrzahl der
Fälle habe ich den Eindruck gehabt, als ob es Gruppen mit
zwei regelmässigen Verlaufstypen gäbe. Fälle, die ich
3 — 6V2 Jahre in Beobachtung hatte, habe ich 106 ge¬
sammelt. Darunter war es blos in vier unmöglich, irgend
einen Verlaufstypus herauszufinden; in 102 war er hingegen
klar bewiesen. In der Mehrzahl der Fälle, und zwar in 60°/0,
war im Verlaufe der Krankheit eine constante, obwohl nicht
genau arithmetische Progression der Zwischenfallszeiten zu
beobachten, die Anfälle traten immer häufiger auf; nennen wir
diesen Verlauf — Accrescenztypus. In 26% waren die An¬
fälle durch fast gleichartige Zeiträume abgesondert, bildeten
also den gleichartig intermittirenden Typus. 12% von Fällen
verliefen derart, dass die Intervalle immer anwuchsen, ge¬
hörten deshalb zum Decrescenztypus. Selbstverständlich sollte
untersucht werden, ob die Fälle des Accrescenztypus im
weiteren Verlaufe der Krankheit nicht in den Decrescenztypus
übergehen et vice versa. Eine solche Vermuthung war umsomehr
gerechtfertigt, als Fälle vorkamen, in welchen ein Accrescenz-
Decrescenztypus zu beobachten war, obwohl sie eine äusserst
geringe Zahl, und zwar 2% bildeten. In solchen Fällen aber
— und dies muss ich betonen — hat die Umwechslung des
Typus in sehr kurzer Zeit stattgefunden; der längste ent¬
sprechende Zeitverlauf dauerte D/4 Jahr. In Berücksichtigung
dessen ist es uns schwer, zu behaupten, dass die Fälle des
anderen Typus, des mehr langdauernden, blos einen Theil
deren Verlaufslinie bilden.
Wenn die Anschauung über das Vorhandensein einer
gewissen Regelmässigkeit im Zeitverlaufc der Zwischenzeiten
eine gewisse Berechtigung hat, obwohl verschiedene Factoren
die Verlaufslinie in gewissem Grade deformiren und darin
unbedeutende Perturbationen bilden, so scheint es mir
wünschenswerth, dieselbe beim Besprechen einer jeden thera¬
peutischen Einwirkung ins Auge zu fassen.
Der längste Zeitverlauf, während dessen der Epileptiker
zur Zeit der Behandlung anfallsfrei bleibt, erlaubt uns kaum,
irgend welche Schlüsse über ihre Wirksamkeit zu ziehen, be¬
sonders wenn im vorigen Verlaufe dergleichen anfallsfreie
Perioden vorgekommen oder wenn im Verlaufe eine gewisse
Tendenz zur Verlängerung der Intervalla lucida erscheint.
Deshalb schien es mir noting, der kritischen Untersuchung des
Einflusses irgend eines Heilverfahrens alle jene Fälle zu
unterziehen, in welchen der Verlauf den Decrescenztypus an¬
zeigt. Dieses Verfahren schien besonders deshalb gerecht¬
fertigt, weil Fälle von spontaner Heilung (Gowers, Fere)
bekannt sind, trotz der Anschauung von Esquirol,
Georget, Delasiauve, welche die Prognose der Epilepsie
für absolut schlecht erachten. Binswanger erwähnt einen
Knaben, der seit dem fünften Lebensjahre an Epilepsie litt,
dessen Anfälle vom elften Jahre beginnend immer seltener
auftraten' und seit sechs Jahren nie mehr vorgekommen sind.
Die Behandlung der Epilepsie soll, wie bei anderen
Krankheiten, darin bestehen, dass man ausser der speciellen
Cur den Patienten in solche Lebensverhältnisse versetzt,
welche das Auftreten der Krankheitserscheinungen am
wenigsten begünstigen. Ruhe ist für jeden Epileptiker von
grösster Wichtigkeit. Es sind Fälle bekannt, in welchen nach
monatelanger Bettruhe vollständige Heilung erzielt wurde.
Daher muss man zu dem Schlüsse kommen, dass Reisen,
bedeutende Bewegungen, seien es active oder passive (Mechano-
therapie, Massage) contraiudicirt sind. Dies erklärt uns
ebenfalls, dass kalte Douchen, für die besonders französische
Autoren (Fleury) eingetreten, nicht rathsam erscheinen.
Leichte hydropathische Verordnungen können als wesentliches
Unterstützungsmittel für die Ernährungscur in Anwendung
kommen. Ueber die Wirkung der Elektrotherapie bin ich bei dieser
Krankheit, sei es im E r b’schen Sinne, als Galvanisation des
Kopfes und des N. sympathicus, oder im A 1 1 h a u s’schen, als
derartige Behandlung der peripheren Gegend, in welcher die
Aura entsteht, noch im Rock well - Fische Eschen zu
einer eigenen Meinung gekommen. Alkohol-, Tabakgenuss
sind contraindicirt. Bei ausschliesslicher Fleischnahrung treten
die Anfälle, wie es die Untersuchungen von Jackson be¬
weisen, besonders häufig auf. Die älteren Erfahrungen haben
dabei vegetabilische Nahrung angepriesen. Die Milchnahrung,
von Neuem von W i s 1 o c k i angerathen, war schon von lange
her von anderen Forschern und in vielen Fällen von B e r g e r
angewendet worden. Nie war dabei eine Heilung, manchmal
blos Besserung, doch in gewissen Fällen auch Verschlimmerung
vorgekommen. Die Beschäftigungswahl für die Epileptiker ist
auch kaum schematisch anzuzeigen. Beschäftigung im Garten,
auf dem Felde, die anscheinend auf derart Kranke gut ein¬
wirkt, fordert grosse physische Anstrengung und einen ge¬
wissen Widerstand gegen die Einwirkung atmosphärischer
Einflüsse, kann deshalb blos Personen von gutem Körper¬
baue, starken Muskeln, angerathen werden. Für durchschnitt¬
liche Epileptiker scheinen solche Beschäftigungen zweck¬
mässiger, bei welchen keine besondere Ueberanstrengung des
Muskel- oder Nervensystems nöthie; ist, also Zeichnen,
Modelliren, mässige Bureauthätigkeit. Wenn die obengenannten
Umstände von selbst die Anfälle nicht beseitigen oder aus
verschiedenen Gründen nicht angestellt werden können, müssen
wir zur Pharmacie Zuflucht nehmen. Selbstverständlich werden
sie in gewissen Fällen gar nothwendig, und zwar in solchen,
bei denen die Anfälle häufiger als alle zwei bis drei Monate
auf treten, Avie es Binswanger fordert. »Wir sind bei keiner
anderen Krankheit«, sagt derselbe Verfasser, »so sehr auf die
Empirie angewiesen, wie gerade bei der Epilepsie«. Mir dünkt,
dass es nicht ohne Nutzen sei, die Resultate der Epilepsie¬
behandlung in der Poliklinik während eines Zeitverlaufes von
acht Jahren einer Durchsicht zu unterwerfen. Man kann
kaum die Frage besprechen, wie weit ein gewisses Mittel
symptomatisch oder causal wirkt, denn es ist ja schwer, wie
es richtig Binswanger betont, dabei bisweilen eine
scharfe Grenze durchzuführen. Ich erlaubte mir, die Behand¬
lung in jenen Fällen durchzumustern, welche mindestens fünf
Jahre beobachtet waren. Ich muss gestehen, dass man bei ver¬
schiedenen Heilverfahren deren günstigen Einfluss gesehen hat,
obwohl auch solche gewesen, die jeder Behandlung trotzten.
Unsere Thatsachen heissen uns mit den meisten Verfassern
übereinstimmen, dass bei Epilepsie eines der besten Medica-
mente die Bromsalze bleiben. Mehrere Jahre gelang es mir,
ihre Wirkung zu beobachten. Die meisten Patienten haben
sich leider selten der Anordnung in präciser Weise unter¬
worfen und blos eine geringe Zahl derselben hat die Cur nie
unterbrochen, und es ist ja von lange her bekannt, dass nach
Curunterbrechen die Epilepsieanfälle öfter und intensiver
als vor der Behandlung, auftreten. In acht Fällen konnte man
dies klar beobachten; Geschlecht, Alter, Intensität des Pro¬
cesses, Dauer und Häufigkeit der Anfälle vor der ange-
stellten Behandlung sind unbeachtet. Systematisch durch¬
geführte jahrelange Brombehandlung kann ich blos bei
33 Fällen angeben. In 10, also ungefähr in 30% aller Fälle,
bin ich keinen neuen Anfällen schon seit drei Jahren
begegnet; zwei Fälle sind seit fünf Jahren anfallsfrei ge¬
blieben; in 9 Fällen ist Besserung, die Anfälle selbst seltener
und schwächer aufgetreten und ungefähr in 30% sind die
Bromsalze ganz erfolglos geblieben. Unsere Daten stimmen
nicht vollkommen mit denen anderer Verfasser überein.
Legrand du Sau Ile hat Beseitigung der Anfälle in einem
Zeitverlaufe von — 4 Jahren in 78 Fällen (37%) beobachtet,
Besserung in 19 (9%), keinen Erfolg in 110 (50%). Nach
Bennet sollten die Anfälle in 12T% ausbleiben, in 83'3%
sich bessern, in 2-3% sich erfolglos erzeigen und in 2‘3%
sogar eine Verschlimmerung aufweisen. Berger, der die
Bromsalze für ein ausgezeichnetes, obwohl palliatives Mittel
hält, hat sie nur in seltenen Fällen als nutzlos gefunden, und
zwar dabei einen 1 — 2 '/.Jährigen Stillstand des Leidens beob¬
achtet, vollständige Pleilung aber will er nicht beobachtet
haben.
772
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 34
In der Anstalt Stefansfeld waren während der Brom¬
behandlung anfallsfrei 23'3% a^er Fälle, 40% bedeutend ge¬
bessert. 26% wenig gebessert, 10% erfolglos.
Nach F errand anfallsfrei 12*1% aller Fälle, 12-1%
bedeutend gebessert, 83% wenig gebessert, 2'3% erfolglos.
Nach Gowers anfallsfrei 40% aller Fälle, fast 40%
bedeutend gebessert.
Nach V o i si n anfallsfrei 50%.
F e r e bringt Mittheilungen aus 45 epileptischen Hospitälern
und schliesst daraus, dass man durch drei Jahre andauernde
methodische Behandlung bedeutende Besserung auch in solchen
Fällen erreichen kann, die für unheilbar erklärt waren. B i n s-
wanger reiht Behandlungsergebnisse aus der Bielefelder
Anstalt an, wo man hauptsächlich Bromsalze verwendet; nach
diesen Daten werden jedes Jahr ungefähr 1'5% Epileptiker
geheilt, 3% gebessert.
In der Anstalt Bethel soll durchschnittlich bei 7'7%
Heilung, bei 22-3% Besserung, bei 21% keine Besserung, bei
18 • 6 °/0 Exitus letalis beobachtet werden. Das Schicksal anderer
bleibt unbekannt.
Ein kurzer Ueberblick der angegebenen Mittheilungen
erlaubt zu vermuthen, dass Bromsalze in vielen Fällen grossen
Dienst leisten. Bedeutende Unterschiede, die man im Verhält¬
nisse des Einflusses der Bromsalze auf Epilepsie bei verschie¬
denen Verfassern findet, können sich gevvissermassen als Folge
ihrer verschiedenen Dosirung ergeben. Gowers verwendet
Bromkalium, Bromammonium, Bromnatrium oder Bromlithium
für sich allein oder in Mischung von 10 — 8 0 täglich und
setzt die Cur mit jenen Dosen fort, welche bei entsprechenden
Patienten die Anfälle coupiren, am öftesten 4 0 — 60 täglich;
diese Behandlung soll seiner Meinung nach nicht unterbrochen
werden, auch wenn die Anfälle zwei Jahre sich nicht wieder¬
holen; erst dann soll man die Dosen verringern. Fe re reicht
Bromkalium für sich oder in Mischung dar, mit 4'0 — 8*0
pro die beginnend; sein Maximum beträgt 12 0; manchmal
verwendet er eine gewisse constante Dose, in anderen
Fällen vergrössert er die Dosen nach Charcot mit einer
Steigerung um l'O pro Woche und beginnt mit 4'0, kommt
bis 7 0, dann verringert er sie allmälig in derselben Weise,
kommt bis 4 0 zurück, um einen derartigen neuen Turnus zu
begehen. Erlenmeyer wandte jeden Tag eine Mischung an,
aus Bromkalium 2'0, Bromnatrium 2 0 und Bromammonium l'O.
Wir reichten 6 0 Bromsalz täglich dar, am häufigsten als
Mischung, die aus Bromkalium 30, Bromnatrium und Brom¬
ammonium aa 1'5 bestanden. Grössere Dosen waren selten in
der Poliklinik angewandt. Ausserhalb der Krankenhäuser ist
es schwer, sehr grosse Dosen anzuordnen, ihre schädlichen
Folgen berücksichtigend. Zwar sollen die Epileptiker, wie
Bennett behauptet, Brom besser als die mit dieser Krank¬
heit nicht angegriffenen vertragen, doch auch bei ihnen kommt
es manchmal zu solchen unangenehmen Begleiterscheinungen,
dass man genöthigt ist, die Bromsalze zu beseitigen, oder sie
mit anderen darzureichen. Von unseren Patienten haben blos zwei,
nämlich eine 30jährige Frau und ein achtjähriger Knabe, nach
mittelgrossen Bromdosen Bromakne in Gestalt cyanöser,
schmerzhafter, nussgrosser, flächenhaft ausgedehnter indurirter
Plaques und Foetor ex ore bekommen. Gowers verordnet,
um die Bromakne zu vermeiden, Brom mit As combinirt.
Diese Me*hode verdient versucht zu werden, umsomehr, als
Brom nach den ersten Bromismuserscheinungen nicht beseitigt
werden soll. Ueberhaupt soll man beim Anblick der ersten
unangenehmen Begleiterscheinungen nach Bromgebrauch nicht
erschrecken. Ein 17jähriges Fräulein, das vom vierten Lebens¬
jahre an an Epilepsie gelitten, ist während der ersten Wochen
der Brombehandlung apathisch, deprimirt geworden; alles das
ist jedoch bei weiterer Fortsetzung derselben Behandlung voll¬
ständig geschwunden. Depression ist keine seltene Erscheinung
nach Bromgebrauch, manchmal war jedoch eine ganz gegen¬
teilige Erscheinung zu bemerken, und zwar ein Erregungs¬
zustand (Bins w ange r). Bei allen diesen Begleiterscheinungen
ist es schwer zu entscheiden, ob die Dosen verringert Averden
müssen, da es oft vorkommt, dass die Kranken sich daran
gewöhnen wie cs bei meiner 1 7jährigen Patientin vorgekommen;
man beobachtete, dass manche Erscheinungen oft nach
erhöhten Dosen gänzlich schwinden. Diese Meinung will F er e
für Bromakne bestreiten.
Die unangenehme reichliche Salivation nach Bromgebrauch
ist leicht nach dem Vorgänge von See durch Darreichung
von Tannin und Hyoscyamus zu bekämpfen. Das Eintreten
eines hartnäckigen Hustens soll nach Fere oft auf Phthise
beim Epileptiker aufmerksam machen. In Fällen, die der Brom¬
behandlung trotzten, haben wir die F 1 e c h s i g’sche Methode
versucht, und zwar der Anschauung von Flechsig, Col¬
lins, Bratz folgend, nach welchen diese Behandlung nur
in solchen Fällen angewendet werden sollte, wo die Bromsalze
selbst sich als erfolglos erwiesen. Opium war zurZeit des P a race 1-
s u s, auch im Mittelalter, als wirksame Arznei bei Epilepsie an¬
gepriesen. Die combinirte Opium-Brombehandlung hat schon einen
gewissen Ruf und sollte sich nach Wulff-Langenhagen
als werthvolles Verfahren bewährt haben. Binswanger
wagt nie, diese Behandlung ausserhalb des Krankenhauses zu
verordnen, und ist der Meinung, dass man dabei sehr vor¬
sichtig sein mus. Ueberschreitet die tägliche Dosis 0'5, müssen
die Patienten, seiner Anschauung nach, zu Bett bleiben, und
erfordern solche Sorgfalt, wie Schwerkranke. Bettruhe soll
auch in den ersten Wochen nach Opiumbeseitigung und nach
Einsetzen der grossen Bromdosen angezeigt sein. In den ersten
drei Tagen dieser Brombehandlung sollten die Patienten blos
flüssige Speisen bekommen. Es freut mich ausserordentlich,
dass diese übermässige Vorsichtigkeit bei diesem Verfahren
sich in unseren Fällen überflüssig erwiesen. Wir wagten die
Flechsig’sche Behandlung in der ambulatorischen Praxis
zu versuchen und steigerten die Dosen sogar schneller, als
andere Aerzte, jedoch haben wir nie unangenehme Folge¬
erscheinungen beobachtet. Wir haben nie gerathen, dass die
Patienten zu Bett bleiben sollen, und doch waren die schwersten
Erscheinungen, die vorgekommen sind, nicht mehr als Obsti¬
pation oder leichte Somnolenz. Die Obstipation wurde in 22%
meiner Fälle beobachtet, doch nie mit so ernsten Be¬
gleiterscheinungen, dass man die entsprechende Behandlung
unterbrechen musste; man begnügte sich mit Irrigationen.
Manchmal schien auch dieses Verfahren überflüssig, da ge¬
steigerte Opiumdosis schon die Obstipation beseitigte. Obstipation
war bei Darreichung von Dosen, die mehr als 0'3 pro die
betrafen, zu beobachten. Eine Tagesdosis von 0'45 ist mit
denselben Erscheinungen aufgetreten, 0'6 aber hat sie beseitigt.
Somnolenz war seltener, und zwar in 11% der Fälle zu be
obachten. Auch diese Erscheinung hat man oft bei gesteigerter
Dosis gewichen gefunden. In einem Falle hat die Tagesdosis
von 0'45 Somnolenz herbeigeführt, 0 6 aber ist ohne dieselbe
vorgekommen. In gewissen Fällen haben kleinere Dosen
(0 08 dreimal täglich) Obstipation, grössere (0'15 dreimal täg¬
lich) Somnolenz bewirkt. Die Flechsig’sche Behandlung
besteht darin, dass man sechs Wochen Opium in allmälig
gesteigerten Dosen darreicht, von 0 05 dreimal täglich be¬
ginnend, bis l'O pro die zu erreichen. Die Steigerung kann
alle zwei bis drei Tage um 003 — 005 eintreten. Wir haben
die Dosen blos jede Woche vergrössert. Bei Kindern im Alter
von sechs Jahren ist es rathsam, mit 0 01 pro die zu beginnen
und bis 0T2 — 0T5 zu kommen, bei Kindern vor dem zwölften
Lebensjahre bis zu 0'3 — 0'4 pro die, bei 13 — 16jährigen bis
0'6 — 0 75. Die Hauptsache der Behandlung ist das plötzliche
Aussetzen des Opiums in seiner grössten Dosis und das so¬
fortige Eintreten mit grossen Bromdosen. Flechsig beginnt
mit 6'0 Brom, reicht nach fünf Tagen 8'0 dar, um die Dosen
nach zwei Monaten zu verringern. Binswanger hat die
Behandlung bis zum Erreichen eines sechsmonatlichen anfalls¬
freien Zeitraumes nicht unterbrochen und meint, sie erst dann
gänzlich beseitigen zu können, wenn ein Jahr ohne Anfälle ver¬
gangen ist. Er gibt in letzterer Zeit einige Fälle mit Besserung
an. Mein entsprechendes Material, in welchem man systematisch
das Flechsig’sche Verfahren durchführen konnte und eine
Besserung erlangte, ungeachtet dass dasselbe der systematischen
Brombehandlung getrotzt hatte, besteht aus vier Fällen. Es ist
mir jedoch unmöglich, solche schöne Resultate zu berichten,
obwohl der Vorzug der Fl e c h s ig’schen Behandlung im Ver-
Nr. 34
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
773
gleiche mit der gewöhnlichen Brombehandlung daraus klar
hervortritt. Es sei mir gestattet, noch einmal das oben ange¬
führte Mass zum Bezeichnen der Wirksamkeit des Heilver¬
fahrens bei Epilepsie zu gebrauchen: die anfallsfreien Zeit¬
räume nach angestellter Behandlung mit denen, die vor der
Behandlung vorgekommen, zu vergleichen.
Geschlecht
Alter
Krank heitsv
erlauf
Nr.
vor der Flechsig’schen
Behandlung
nach derFlechsig-
schen Behandlung
1
Mädchen
7
Jahre
Vom zweiten Lebensjahre
beginnend, fast jede Woche
einen oder mehrere Anfälle.
Sechs Monate
anfallsfrei.
2
Knabe
17
Jahre
Vom zwölften Jahre im Be¬
ginne Anfälle alle zwei bis
drei Monate vorgekommen,
dann jeden Monat, seit einem
Jahre alle zwei bis drei
Wochen.
Acht Monate
anfallsfrei.
3
Frau
22
Jahre
Vom 20. Jahre ein ganzes
Jahr Anfälle fast alle zwei
Monate, das folgende Jahr
fast jeden Abend.
Sechs Monate
anfallsfrei.
4
Frau
23
Jahre
Vom 14. Jahre Anfälle in
Zeiträumen von ein bis zwei
Wochen.
14 Monate
anfallsfrei.
In drei anderen Fällen hat man eine bedeutende Besserung
erreicht. In zwei derselben waren die Anfälle vorher alle einige
Tage vorgekommen, nach der F 1 e c h s i g’schen Cur waren
anfallsfreie Zeiträume von 17 Tagen, von zwei Monaten sogar;
in einem Falle, in welchem das grösste Intervallum lucidum
vorher vier Wochen betragen, waren nach der angestellten
F l e c h s i g’schen Behandlung neun anfallsfreie Wochen ver¬
strichen.
Da gewisse Fälle der gewöhnlichen Brombehandlung und
auch dem F 1 e ch s i g’schen Verfahren trotzten, war der Ver¬
such anderer Mittel angezeigt. Nichts Sicheres erlauben
meine bisherigen Erfahrungen über die Wirksamkeit der
Bechtere w’schen Behandlung auszusprechen Es waren dabei
vier bis acht Esslöffel täglich der Mischung Inf. adonis ver-
nalis 2 0 — 3‘5 pt. 180 0, Natrii bromati 8 0 — 12-0, Codeini
OT — 02 gebraucht worden. Bei einem 17jährigen Knaben, der
seit dem 13. Lebensjahre mit epileptischen Anfällen behaftet
war, die nach F 1 e c h s i g’scher Cur fast alle einige Wochen,
oder alle zwei Monate auftraten, wollten wir die B e c h te r e w-
sche Behandlung anstellen. Der Erfolg war, dass die Anfälle
tlinf Monate ausblieben. Dieser Fall ist jedoch, der verschie¬
denen Behandlungen halber, die versucht worden, äusserst
complicirt; da fragt es sich, ob dabei nicht Brom allein schon
bedeutend wirkte, ob man dabei, nach Bechterew verfahrend,
nicht trotzdem weiter die F 1 e c h s ig’sche Behandlung ange¬
wendet. In zwei anderen Fällen hat diese Behandlung keine
auch nur scheinbar positive Resultate geliefert. Wunderbar, dass
bei einem 22jährigen Manne, der vom 19. Lebensjahre an an
Epilepsie gelitten, sich die B ec h t e r e w’sche Behandlung
unwirksam erwiesen und die darnach versuchten Mitteldosen
(6'0) einer Brommischung die Anfälle beseitigten.
Da manche Fälle den oben angeführten Methoden trotzen,
wären auch ältere Heilverfahren zu versuchen. Miche,
Lange u. A. haben Atropin als specifisches Mittel angepriesen.
Nach Berger soll es in vielen Fällen unwirksam geblieben
sein, aber, wie bekannt, haben sich auch andere Mittel in mehreren
Fällen hilflos erwiesen. Es wäre selbstverständlich sehr wün-
schenswerth, dass wir für jede Methode eine strenge Indication
feststellen könnten. Für Atropin versuchte Alber to ni der¬
artige Indicationen aufzustellen, und wollte es hauptsächlich bei
Reflexepilepsie als ein die Erregbarkeit der peripheren, sen¬
siblen, auch motorischen Nerven verringerndes Mittel benützen.
Trousseau verweist auf die Wirksamkeit der Belladonna auch
bei gewissen Erscheinungen, welche mit Epilepsie verknüpft
sein können, nämlich bei nächtlicher Incontinentia urinae.
H. Jackson wendet sie vornehmlich bei nächtlicher Epilepsie
an und glaubt, man soll sie Abends gebrauchen. Fere
verordnet Radix oder Pulv. belladonnae in steigenden Dosen,
von 002 beginnend, jede Woche um 0'2 die Dosis vergrössernd,
bis Intoxicationserscheinungen auftreten. Die Kranken gewöhnen
sich daran und vertragen selbst 02 pro die. Alle angeführten
Autoren sollten gute Resultate damit erreicht, Gowers Ver¬
ringerung der Anfälle danach gesehen haben. Von unseren Fällen,
wobei diese Behandlung der Unwirksamkeit der Brombehand¬
lung und des F 1 ec h si g’schen Verfahrens halber versucht
wurde, hat ein Fall sich bedeutend gebessert. Patient, der vor¬
her häufige Anfälle bei den angeführten Behandlungen gehabt,
ist bei dieser zwei Jahre anfallsfrei geblieben. Man muss jedoch
erinnern, dass, als der Kranke auf einige Tage diese Cur unter¬
brochen und darauf von Neuem 40 Tage Atropin verbraucht, er
von neuen häufigen und schweren Anfällen heimgesucht wurde.
Möglich, dass durch Absetzen des Atropins dieselbe Erschei¬
nung wie bei Brombeseitigung hervorgerufen wird; ein rapides
Unterbrechen der Behandlung wirkt auf den Zustand des
Kranken ungünstig.
Ich erwähne noch die versuchte Behandlung mit Brom
und Antipyrin (Brom 4'0, Antipyrin 0'8). Ein 28jähriger Mann,
der seit fünf Jahren einige Tage von Anfällen heimgesucht
wurde, hatte nach dieser Mischung mehr als zwei Monate keine
Epilepsieanfälle durchgemacht.
Diese kurze Uebersicht unserer Heilversuche zeigt, wie
sehr schwer das Bekämpfen der Epilepsie ist. Ausser den
allgemeinen hygienischen Verordnungen bleiben bisher die
Bromsalze als wirksames Mittel; wenn die Anfälle diesem
trotzen, soll das F 1 e c h s ig’sche Verfahren versucht werden.
Negative Resultate derselben erlauben andere Behandlungen zu
versuchen, die B e c h t er e w’sche, die Atropinbehandlung oder
die Combination der Bromsalze mit Antipyrin. Wir haben
leider keine deutlichen Indicationen für diese oder jene Mittel,
und es scheint äusserst bedauernswerth, dass wir keine sicheren
Kriterien haben, um das entsprechende Verfahren bei Epilepsie
anzuordnen; vielleicht kann man als solche ausser dem
Alter des Patienten, der Dauer und der Intensität der Krank¬
heit auch den Allgemeinzustand, dann den Verlauf der
Krankheit, den Abstand der einzelnen Anfälle im Zeiträume
ins Auge fassen. Der Verlauf der meisten meiner Anfälle macht
auf mich den Eindruck, als ob eine Regelmässigkeit im Auf¬
treten der Anfälle im Zeiträume stattfinde. Meine Absicht ist,
darauf die Aufmerksamkeit auf diesen Umstand zu lenken.
Wenn sich zeigt, dass ich geirrt habe, so wird der Irrtum
zur Besprechung der Wirksamkeit irgend einer Behandlung
dieser uralten und schweren Krankheit wahrscheinlich an¬
regen und zur Aufsuchung neuer Kriterien führen. Ohne Weg¬
weiser ist jeder Kampf undenkbar.
REFERATE.
I. Elemente der pathologisch -anatomischen Diagnose.
Von Prof. Dr. O. Israel.
Berlin 1900, Hirschwald.
II. Dermato-histologische Technik.
Von Dr. M. Joseph und G. Löwenbach.
Berlin 1900, Marcus.
III. On Neuroma and Neurofibromatosis.
By Alexis Thomson.
Edinburgh 1900, Turnbull und Spears.
I. Ein ungewöhnliches, in seiner Tendenz durchaus originelles
Buch — die gediegene Arbeit eines erfahrenen Lehrers.
Wer Gelegenheit hat, sich von Qualität und Quantität des
Wissens der Durchschnittsstudenten und -Rigorosanten der Medicin
zu überzeugen, wird jedes Wort, das Verfasser hierüber ausspricht,
zu bestätigen in der Lage sein. Es ist unbestreitbar, dass ein
grosser Theil der Durchschnittsmediciner nur für das Rigorosum-
calcül lernt — scholae, non vitae — speciell im praktischen Theil
des pathologisch- anatomischen Studiums bemüht ist, sich nur auf
das Treffen der Diagnose »einzuwerkeln« — allen Bemühungen
der Lehrer und Prüfer zum Trotz.
774
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 34
Verfasser sucht den Leser zur rationellen Analyse der Er¬
scheinungsformen anzuleiten, um erst auf dieser gesunden Basis
zur Diagnose zu gelangen. Er gibt durchaus kein umfassendes
Lehrbuch des Faches, vielmehr will er nur mit dem Leser an der
Hand sehr zahlreicher Beispiele üben, »methodische Analyse« statt
»gedankenloser Routine« anzuwenden.
Auf Einzelheiten einzugehen, ist bei der reichen Fülle des
Gebotenen unmöglich.
Das vortreffliche Buch möge auch bei den österreichischen
Sludirenden der Medicin einen ausgedehnten Leserkreis finden und
bei denselben den beabsichtigten pädagogischen Erfolg erzielen.
*
II. Binnen weniger Monate hat dieser »Leitfaden« seine
zweite Auflage erlebt — ein Beweis dafür, dass sein Erscheinen
trotz der zahlreichen und wirklich guten vorhandenen Lehrbücher
der pathologisch-histologischen Technik einem thatsächlichen Be¬
dürfnis Rechnung getragen hat. Der Schwerpunkt des Büchleins
liegt in seiner Specialisirung. Die Autoren haben sich der Mühe
unterzogen, die Angaben über hiehergehörige Methoden, welche, in
die verschiedenartigsten Archive, Zeitschriften etc. verstreut, zum
Th eil recht schwer auffindbar sind, zusammenzutragen und nach
den Originalien wiederzugeben. Was ihre Arbeit über das Niveau
einer compilatorischen erhebt, ist der Umstand, dass sie mit diesen
Methoden selbst gearbeitet haben und darum für dieselben gewisser-
massen persönlich einstehen.
Die vorliegende zweite Auflage bringt einige Ergänzungen und
Verbesserungen des in der ersten Enthaltenen.
*
III. Verfasser hat im Laufe der letzten sechs Jahre seiner
chirurgischen Spitalspraxis 1 5 Fälle von Nerventumoren beobachtet.
Dieses, sowie ein aus der Literatur gewonnenes Material verwendet
er zur klinischen und pathologisch-anatomischen Bearbeitung des
durch den Titel bezeichneten Capitels der Pathologie. — Hätte er
sich doch auf die Mittheilung des eigenen Materiales beschränkt!
Die 40 Seiten, welche die 163 Seiten starke Monographie den
eigenen Beobachtungen widmet, enthalten zum Theil sehr interessante
Fälle von gutartigen und bösartigen, isolirten und multiplen Tumoren
des Nervenbindegewebes, welche bezüglich der Symptome, des
klinischen Verhaltens, der Prognose, Behandlung etc. in gründlicher
und instructiver Weise vom klinischen Standpunkte aus geschildert
werden. Auch die Beschreibung der gewonnenen anatomischen
Präparate ist eine gründliche und anschauliche. Die histologischen
Befunde sind leider häufig unzulänglich, so insbesondere, wenn sie
sich auf knappe Diagnosen, wie Myom, Fibrom, Spindelzellen¬
sarkom etc. beschränken. Nur bezüglich des Verhaltens der Nerven¬
fasern und deren bindegewebigen Hüllen sind dieselben ausführlich,
wobei sich jedoch die fehlenden Untersuchungen auf degenerative
Veränderungen als Lücke fühlbar machen. Die Photogramme von
Patienten und makroskopischen Präparaten sowie die Mikrophoto¬
gramme sind durchaus gelungen.
Minder glücklich sind die Bemühungen des Verfassers ge¬
wesen, auf dem Material der herangezogenen Literatur nebst dem
eigenen fussend sich auf einen pathologisch-anatomischen resu-
mirenden Standpunkt zu stellen. Insbesondere die Abschnitte über
das Neuroma verum, über Fibroma molluscum multiplex, Elephan¬
tiasis neuromatosa und Hautpigmentationen auf nervöser Basis
machen dem Referenten einen recht dilettantischen Eindruck. Die
Publication hätte durch Weglassung dieser Capitel, welche aller¬
dings zwei Drittel ihres Inhaltes ausmachen, entschieden gewonnen.
Dr. Oskar Stoerk.
Die Krankheiten der Nägel.
Von Dr. Julius Heller.
Berlin 1900, A. Hirschwald.
Diese mit ungewöhnlichem Fleisse und Gründlichkeit ausge¬
führte Arbeit ist thatsächlich geeignet, eine Lücke auszufüllen,
denn die Pathologie und insbesondere die pathologische Anatomie
der eigentlichen Nagelerkrankungen, sowie deren Beziehungen zu
anderen Hautkrankheiten fanden bisher nicht die eingehende Berück¬
sichtigung, die sie verdienen.
Herr Heller hat die umfangreiche Literatur dieses Gegen¬
standes durchgearbeitet, kritisch gesichtet und sich schon durch
diese Zusammenstellung aller einschlägigen Publicationen den Dank
eines Jeden, der sich für diesen Gegenstand interessirt, verdient.
73 eigene, mit den Resultaten Anderer verglichene Untersuchungen
und Beobachtungen erhöhen nur den Werth des Werkes.
In eigenen Gapiteln werden die Anatomie, Entwicklungsge¬
schichte, Physiologie, die vergleichende Anatomie und die Ethno¬
graphie behandelt.
Die Ergebnisse einer Reihe von eigenen histologischen Unter¬
suchungen sind in dem zweiten Theile des Werkes gesammelt.
Bei Ichthyosis congenita fand Heller die Fingerhaut und
die Nagelplatte stark verdünnt, hingegen bestand hochgradige Blut¬
stauung in dem mächtig entwickelten Gewebe der Phalanx, auf
dessen Volumszunahme Heller die Beeinträchtigung in der Ent¬
wicklung der Weichtheile des Fingers zurückführt. Beim Nagel¬
ekzem fanden sich Epithelperlen unmittelbar unter dem Stratum
mucosum. Mit besonderer Vorliebe wird dasVerhalten der Nerven
geprüft, wozu sich der Autor seiner eigenen Methode bedient. Das
normale Nagelbett findet er nicht besonders reichhaltig an mark¬
haltigen Fasern; bei onychogryphotischen Processen, die im An¬
schlüsse an Nervenverletzungen auftraten, fand er sämmtliche peri¬
pherische markhaltige Nerven völlig gesund.
Grosse Sorgfalt ist der klinischen Seite der Nagelerkrankungen
zugewandt, bei deren Eintheilung der Verfasser seine eigenen Wege
geht; die Capitel: Syringomyelie, Onychogryphosis, Gewerbeerkran¬
kungen und forensisch wichtige Veränderungen dürfen allgemeines
Interesse beanspruchen.
Stets ist der Verfasser bedacht, den Zusammenhang der
Localaffection mit einer etwaigen allgemeinen Erkrankung, einer
Affection des Nervensystems, der Haut etc. aufzudecken; wenn er
auch in diesem Streben manche Ansicht äussert, die nicht allge¬
mein getheilt werden dürfte, so z. B. wenn er eine Querfurchen¬
bildung am Nagel mit einer Epididymitis in Zusammenhang
bringt, so muss doch hervorgehoben werden, dass das Buch durch
die Loslösung vom engherzigen specialistischen Standpunkte nur
gewonnen hat und eine anregende und lehrreiche Lecture bietet.
L. Freund.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
283. (Academie de Medicine, Paris.) Lancereaux;
Behandlung der Aneurysmen mit subcutanen
Gelatinein jectionen. Bei einem Kranken mit Aorten¬
aneurysma, welcher mit absoluter Bettruhe, Aderlässen und hohen
Jodkaliumdosen lange Zeit behandelt wurde und bei dem ein
Durchbruch des Sackes drohte, bewirkten schon wenige Gelatine-
injectionen eine Verkleinerung und Festerwerden des Tumors,
Nachlass der Schmerzen und Schwächerwerden der Pulsationen,
Die Heilung dauerte ein Jahr. Recidive durch Bildung kleiner, dem
Sacke anhängender Taschen. Coagula in denselben in Folge der
Gelatineeinspritzungen. Plötzlicher Tod durch Synkope. Nekroskopie:
Aortitis im Brustsegmente in Form von Plaques. Durch eine 3 cm
grosse Oeffnung in der vorderen Wand der aufsteigenden Aorta
gelangt man in eine kindskopfgrosse Geschwulst, welche mit allen
festen Gerinnseln durchwegs erfüllt ist, die das Eindringen von
Blut absolut verhinderten. — (Semaine Medicale. 11. Juli 1900,
Nr. 29.) Sp.
*
284. Ein Beitrag zur Kenntniss des Lupus
erythematosus. Von Dr. Ko pp (München). Verfasser hält
dafür, dass der L. e. weder eine tuberculöse Erkrankung, noch
dass der Beweis bis jetzt geliefert sei, dass er zu einem irgendwo
im Körper befindlichen tuberculösen Herde in Beziehung zu
bringen sei. Nach K o p p handelt es sich beim Lupus erythematosus
überhaupt um keine einheitliche Erkrankung. — (Deutsches Archiv
für klinische Medicin. Bd. LXVI.) Pi.
*
285. (Societe Medicale de Höpitaux.) Merklen:
Ictere acholurique. Ikterus ohne Gallenpigmente
im Harn e. Die Magensymptome seit zehn Monaten, der Ikterus
seit drei Monaten. Die Hautfärbung erinnert mehr an Xanthodermie.
In der Bindehaut und im Harne keine ikterische Färbung. Das
Blutserum zeigte die G m e 1 i n’sche Reaction und die spectro-
skopischen Charaktere der Gallenpigmente. Nieren durchgängig,
Nr. 34
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
775
Harn von geringer Dichte, log Harnstoffe in 24 Stunden. Diese
Beobachtung deckt sich mit dem von Hayem aufgestellten
klinischen Bilde. — (Semaine Medicale. 11. Juli 1900. Nr. 29.)
Sp.
*
286. (Aus der chirurgischen Klinik zu Greifswald.) U e b e r
die Behandlung von Gelenkergüssen mit heisser
Luft. Von Dr. Klapp. Zur Anwendung der trockenen Hitze
wurden einfache Holzkästen verwendet, das erkrankte Gelenk damit
umschlossen und täglich durch ein bis zwei Stunden einer Hitze
von 120 — 150° ausgesetzt. Diese Behandlung wird für seröse und
hämorrhagische Ergüsse empfohlen. Die Abnahme der Ergüsse ist
namentlich in den ersteren Tagen, wo die Spannung der Kapsel
noch mithilft, eine recht bedeutende und konnte oft eine Ver¬
minderung des Umfanges um 1 cm im Tage constatirt werden. Zu
warnen ist vor Anwendung dieser Therapie bei tuberculösen Gelenk¬
leiden, die, wie Bier festgestellt hat, sich gar nicht für Hitze¬
behandlung eignen; sie hat hier nicht nur keinen Erfolg, sondern
zieht oft sogar eine Verschlimmerung nach sieh. — (Münchener
medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 23.) Pi.
*
287. Ileotyphus mit hämorrhagischer D i a-
these. Von A. Pinard. Ein 13jähriger Kranker wurde nach
20 Tagen von einem leichten Darmtyphus geheilt entlassen. Nach
Verzehrung einer opulenten Kastaniensuppe kehrten alle Symptome
nach drei Tagen mit grösster Vehemenz zurück. Unter hohen
Delirien entstanden in den verschiedensten Hautregionen gesättigt
rothe, abgegrenzte, auf Fingerdruck nicht verschwindende, immer
dichter stehende Flecken (Petechien) von Linsen- bis Hellergrösse;
Epistaxis, blutendes Zahnfleisch, blutiges Sputum (aus den hinteren
Choanen), Hämaturie, Darmblutung, Orthopnoe, Bewusstsein total
erloschen, Pupillen ohne Reaction, Kräfteverfall. Ergotin, Opium,
Excitantia. Zwei Tage später Erholung, allmäliges Schwinden der
Hirn-, Haut- und Schleimhautsymptome. Verfasser glaubt, Morbus
V erlhofii und Petechialtyphus ausschliessen zu müssen und be¬
trachtet den crassen Diätfehler, die Bildung von Ptomainen und
deren Aufsaugung als ursächliches Moment. — (Gazetta degli
Ospedali. 8. Juli 1900, Nr. 81.) Sp.
*
288. (Aus der Abtheilung von Dr. Rumpel in Hamburg-
Eppendorf.) Ein Fall von geheilter Meningitis cere¬
brospinalis tuberculosa. Von Dr. Henkel. Der Fall war
bacteriologisch durch Auffinden von Tuberkelbacillen in der durch
Punction gewonnenen Spinalflüssigkeit sichergestellt worden. Trotz
der sehr schweren meningitischen Erscheinungen, ging die Er¬
krankung des zehnjährigen Knaben in Genesung über. Die Therapie
hatte anfangs nur in der Verordnung von zweimal täglich
0'05 Calomel und einigen Bädern von 28—24° bestanden. Der Fall
zeigt, dass manche Fälle von tuberculöser Cerebrospinalmeningitis
ausheilen können, und dass die Prognose trotz positiven Bacillen¬
befundes, trotz Neuritis optica und Paresen der Augenmuskeln
nicht als absolut schlecht hinzustellen ist. — (Münchener medici¬
nische Wochenschrift. 1900, Nr. 23.) Pi.
*
289. Jodbehandlung der chirurgischen T u ber¬
eu 1 o s e. Von G. M o r t a r i. Verfasser perhorrescirt un¬
nütze und verstümmelnde chirurgische Eingriffe. Statt der Jodoform-
Glycerinemulsionen gebraucht er subcutane und intramusculäre
Injectionen von Jod 30 cg, Jodkalium 3 g, Glycerin, Aq. dest. aa.
50 g (nach Durante), und spritzt jeden dritten Tag 5 cm7, ein.
Wenn auch das Jod den Tuberkelbacillus nicht abtödtet, so wirkt
es gegen dessen toxische Producte, und die neugebildeten Elemente
werden durch diese nicht geschädigt. Ausserdem wird die organische
Widerstandskraft erhöht, die Elimination der pathologischen Pro¬
ducte und der Ersatz durch frisches Gewebe gefördert. Die In¬
jectionen müssen aber in alle Höhlungen und Buchten der tuber¬
culösen Herde eindringen. — (Gazetta degli Ospedali. 8. Juli 1900,
Nr. 81.) Sp.
*
t 290. Achylia gastrica und die therapeutische
1 e i Wendung von natürlichem thierischen Magen-
saft. Dieses Thema war Gegenstand einer Discussion im Vereine
fiii innere Medicin in Berlin. Es gibt Zustände, bei denen die
Magenschleimhaut z. B. bei Amyloidose und Atrophie derselben
kein Secret mehr liefert, kein Pepsin, kein Labferment, keine Salz¬
säure. Die Erfahrung hat gelehrt, dass bei dieser Achylie die bis
jetzt zur Verfügung stehenden Präparate (Pepsin, Salzsäure) nicht
die wünschenswerthe Wirksamkeit besitzen. Da ist Prof. P a w 1 o f f
in Petersburg auf den Gedanken gekommen, den sehr kräftigen
Magensaft des Hundes zu verwenden und ihn in grösseren Mengen
solchen Kranken zu verabreichen. Die Schwierigkeit bei dieser
Therapie liegt vorläufig darin, dass sie viele in Bereitschaft stehende
operirte Hunde nöthig machen. Dieses Verfahren ist auch schon in
Frankreich aufgegriffen worden, aber auch in Berlin ist an der
Klinik von Leyden bereits ein Fall mit »Gasterine«, wie
dieser natürliche Magensaft bezeichnet wird, behandelt worden. —
(Deutsche medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 20.) Pi.
*
291. Lereboullet: Diarrhöen tertiär Syphili¬
tischer. Vortragender berichtet über einen Kranken, der, seit
eineinhalb Jahren an Diarrhöen, mitunter hämorrhagischen
Charakters, leidend, ausserdem multiple syphilitische Drüsen¬
schwellungen hatte. Vor acht Jahren Syphilis erworben. Tuber-
culose und Krebs ausgeschlossen. Injectionen von Oleum cine-
reum, gleichzeitig Jodkali steigend. Koliken und Diarrhöen ver¬
schwanden rasch. Ab und zu antiluetische Cur wiederholt. —
Hiezu bemerkte Fournier: Specifische Enteritiden sind selten,
Vortragender hat etwa zwölf Fälle beobachtet. Die Diagnose ergibt
sich aus klinischen Symptomen und anatomischen Facten. Bei
Autopsien Syphilitischer hat man wiederholt milliare Gummata,
diseoide Infiltrate, Narben etc. beobachtet, die nur auf Syphilis be¬
zogen werden können. Wenn diese Enteropathien verkannt werden,
ebenso wie z. B. jene bei Variola, so liegt der Grund in dem
Mangel an charakteristischen Eigenschaften. Trotz der Darm¬
geschwüre sind Mercurialpräparate, selbst innerlich gebraucht, nicht
zu fürchten. Die Enteritiden Syphilitischer recidiviren sehr leicht,
können sich nach vielen Jahren (20—40 Jahren ? Ref.) wieder¬
holen. — (Semaine Medicale. 4. Juli 1900, Nr. 28.) Sp.
*
292. Ueber die schmerzberuhigende Wirkung
der Röntgen-Strahlen. Von Stern bo (Wilna). Verfasser
hat in Folge einer zufälligen Entdeckung Neuralgien verschiedensten
Ursprunges mit Röntgenisation behandelt und es ist ihm gelungen,
unter 28 Fällen 21 zur Heilung zu bringen. Die Zahl der Sitzungen
betrug drei bis zehn, die Dauer derselben ebensoviele Minuten.
Dass es sich dabei um keine Suggestivwirkung handle, beweist
S t e m b o damit, dass, wenn statt der X-Strahlen nur die Anoden¬
strahlen verwendet wurden, keine Beruhigung der Schmerzen ver¬
spürt wurde. Verfasser meint, dass in Folge der elektrischen
Reizung der peripheren sensiblen Nerven eine Functionshemmung
der in der Tiefe befindlichen Gefühlsnerven und damit eine Be¬
ruhigung der neuralgischen Schmerzen eintrete. — (Die Therapie
der Gegenwart. 1900, Nr. 6.) Pi.
*
293. Roussel: Tr a umatische Läsionen des Atlas
und zweiten Halswirbels. Zumeist bricht der Zahnfortsatz.
Die Verletzungen dieser Wirbel, wenn auch schwer, sind nicht
immer tödtlich. Die Symptome sind mitunter geringfügig, wenn
auch der Tod unmittelbar bevorsteht. In jedem Falle von Schmerzen
und Starrheit der Nackenmuskeln ist der Kopf zu immobilisiren,
wenn auch keine Symptome von Verrenkung vorhanden sind. Sind
aber die Wirbel verlagert mit Zeichen von Compression oder
Irritation, so ist die Reduction in der Narkose zu versuchen. Kein
Eingriff, wenn keine Marksymptome vorhanden. — (These de
Paris, 1899 — 1900.) Sp.
294. Zur Behandlung des Bl utschwammes und
verwandter angeborener Gefässneubildungen. Von
Dr. Holländer (Berlin). Die Hauptmethode bildet nach Verfasser
die Heissluftbehandlung der erkrankten Stellen, bei kleinen Tele¬
angiektasien eventuell die Aetzung mit Salpetersäure. Die Heissluft¬
behandlung ist nur contraindicirt bei ausschliesslich subcutanem
Sitz der Krankheit. Die Kauterisation muss bis zur Mumificirung
des Gewebes fortgesetzt werden. — (Berliner klinische Wochen¬
schrift. 1900, Nr. 17.) Pi.
*
776
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 34
295. (Medic.-chir. Akademie, Palermo.) T a n s i n i be¬
spricht die Unzulänglichkeit der Seidennaht bei Radicaloperation
der Hernien, besonders bei älteren Individuen; auch der Silberdraht
ist dick, wenig beweglich und schwächt die Resistenz des
P o u p a r t'schen Bandes. T a n s i n i empfiehlt den G o 1 d d r a h t
als dünn, biegsam, resistent, keine Nahteiterung erzeugend, und
kann derselbe sowohl für die Ligatur des Bruchsackhalses, als
auch für dessen Naht verwendet werden. — (Glinica chirurgica.
30. Juni 1900, Mailand.) S p.
*
296. Im Allgemeinen ärztlichen Vereine zu Köln demonstrirte
Dr. Engelhardt einen Fall von primärem Lebercar-
cinom bei einem 14jährigen Mädchen. Das Krankheits¬
bild wurde von ausserordentlich heftigen Schmerzen in der Magen¬
gegend beherrscht; nie hatte Fieber und Ikterus bestanden. Bei der
Obduction fand man den linken Lappen der Leber, die 3800(7
wog, sowie dessen Nachbarschaft in einen derben Tumor ver¬
wandelt. Nirgends ein Tumor, der sich als der primäre hätte er¬
kennen lassen, dagegen Metastasen im kleinen Becken, auf Pleura
und Herzbeutel. Pi.
*
297. Prof. Giuseppe Or io (Padua): Pneumatischer
Apparat für den Thermokauter. Der Apparat besteht aus
einem Benzinbehälter und einem pneumatischen Behälter. Ersterer
hat einen kleinen Fortsatz, auf welchem der Griff der Platinspitze
ruht, so dass letztere der Flamme gegenübersteht. Der pneumatische
Apparat ist ein metallenes, cylindrisches, 2 l fassendes Gefäss, an
welchem eine Pumpe wie bei einem Bicycle angebracht ist. Der
Luftbehälter ist mit dem Benzinbehälter durch eine dünne, mittelst
Schlüssels versperrbare Röhre verbunden. Durch das Pumpen wird
der Luftbehälter geladen, dann wird das Benzingefäss an dem mit
»Lampe« bezeichneten Punkte geöffnet, durch langsames Drehen
des Schlüssels werden die beiden Cylinder verbunden und die
Lampe entzündet. Sobald die Platinspitze glüht, braucht man nur
den Stöpsel des Benzinbehälters zum Punkte »Incandescenza«
(Weissglut) zu drehen, worauf der Apparat automatisch functionirt.
Der Vortheil der ganzen Vorrichtung beruht nach Orio auf der
Entbehrlichkeit von Assistenz und Gummiballen. — (Immerhin ist
der P a q u e 1 i n’sche Apparat handlicher, bequemer und kann vom
Arzte in der Tasche getragen werden. Ref.) — (Clinica chirurgica.
30. Juni 1900. Herausgegeben von Dr. Vallardi, Mailand.)
Sp.
*
298. (Aus der II. medicinischen Klinik des Geheimen Rathes
Gerhardt in Berlin.) Ueber hysterische Aphonie. Von
Dr. O p p. In den letzten sieben Jahren waren an der Klinik
28 Fälle von hysterischer Aphonie behandelt worden (darunter vier
Männer). Klinisch zeigt sich die Function der Glottisverengerer
behindert, die Sensibilität im Rachen und Kehlkopfeingang gestört,
die elektrische und reflectorische Erregbarkeit der Kehlkopfmuskeln
ist jedoch erhalten. Von besonderer Wichtigkeit ist, dass die
Stimmbandlähmung nur bei einzelnen Functionen vorhanden ist,
bei anderen nicht; so waren mehrere Kranke im Stande, den Text
eines Liedes vollkommen deutlich zu singen, nicht aber zu sprechen.
Bei diesen relativen Stimmbandlähmungen findet man, dass der re¬
flectorische Glottisverschluss normal eintritt, dass demnach Singultus,
Niesen und Husten einen Klang hat, während bei »respiratorischen«
Lähmungen der Husten keinen Klang hat. Was das zweite Sym¬
ptom anlangt, so findet sich meist im Rachen und Kehlkopfeingang
halb- oder ganzseitig eine Hypästhesie, sogar Anästhesie, in
manchen Fällen auch eine Hyperästhesie. Hinsichtlich der elektri¬
schen Erregbarkeit der Kehlkopfmuskeln zeigte sich, dass es
manchmal bei blos cutaner Anwendung des Stromes schon gelang,
klangvolle W orte zu bekommen. Die Therapie ist die der Hysterie
überhaupt. Man hat beobachtet, dass Aphonisehe, deren Aufmerk¬
samkeit irgendwie lebhaft in Anspruch genommen war, oder bei
Zorn, Furcht, Schreck ihre Stimme vollkommen normal gebrauchen
konnten. Bisweilen konnte die Aphonie durch Massage des Kehl¬
kopfes, seitliches Zusammendrücken der grossen Zungenbeinhörner
oder der Schildknorpelplatten behoben werden. Am besten soll der
percutan oder intralaryngeal angewendete faradische, beziehungs¬
weise galvanische Strom wirken. Derselbe muss durch ein bis
zwei VTochen angewendet werden. Selbstverständlich darf die
psychische Behandlung, namentlich zur Verhütung der sonst
häufigen Rückfälle, nicht vergessen werden. — (Münchener medi-
cinische Wochenschrift. 1900, Nr. 21.) Pi.
*
299. Lambert: Seltene Heilung eines trans¬
versalen Kniescheiben bruches. Dieser erfolgte bei einer
älteren Kranken durch ein festes Band, welches den oberen Rand
der Kniescheibe mit dem vorderen Rande des Schienbeinplateaus
vereinigte. Dieses Ligament entstand durch Proliferation des fibrösen
Gewebes vom oberen Fragmente her und schritt bis zur Tibia vor.
— (Le Bulletin Medical. 20. Juni 1900, Nr. 49.) Sp.
*
300. (Aus der medicinischen Klinik des Prof. Erbin Heidel¬
berg.) Ueber eine besondere Form des chronischen
Ikterus. Von Dr. Bettmann. Der 29jährige Kaufmann litt
schon seit seiner Kindheit an einer zu Zeiten anfallsweise sich
verstärkenden Gelbsucht. Der Stuhl war nie lehmfarben gewesen.
Während der einjährigen Beobachtung konnte niemals Gallenfarb¬
stoff im Harn nachgewiesen werden, objectiv wurde keine Ver¬
änderung an der Leber wahrgenommen, als einziger Befund nur
ein mächtiger Milztumor vorgefunden, der in den Anfällen spontan
schmerzhaft und druckempfindlich war. Einige ähnliche Fälle hat
schon H a y e m beobachtet und sie als infectiösen Ikterus be¬
zeichnet. Nach ihm soll vom Darm aus eine bacterielle Infection
stattfinden, die gegen die grösseren jedoch nicht — was sonderbar
erscheint — trotz der jahrelangen Dauer nur gegen die feineren Ver¬
zweigungen der Gallenwege fortschreite. Bettmann fand, dass die
oft unter Schüttelfrost und ziehenden Schmerzen in den Extremi¬
täten auftretende Verstärkung des Ikterus durch ganz bestimmte
Veranlassungen ausgelöst wurde. Diese waren: übermässiges Essen
und Trinken, psychische Erregungen, ungewohnte körperliche An¬
strengungen, ganz besonders aber Kälteeinwirkung. Letzteres
Moment liess den Verdacht auf das Bestehen einer paroxysmalen
Hämoglobinämie aufkommen, der sich auch rechtfertigte. Damit ist
vielleicht eine Andeutung gegeben, wie diese räthselhaften
Formen von Ikterus erklärt werden könnten. Gleichzeitig drängt
der bestehende Milztumor hier zur Beantwortung der interessanten
Frage, ob er entfernt werden solle, wenn er durch seine Schwere
den Kranken in hohem Grade belästigt. Diese Frage ist nach
B e 1 1 m a n n entschieden zu verneinen, wenn dieser Milztumor als
spodogener aufzufassen ist, das heisst, wenn er durch die Auf¬
nahme und weitere Umwandlung der bei den Hämoglobinämie-
anfällen freigewordenen Erythrocytentrümmer und Stromata ent¬
standen ist. Während beim gesunden Menschen die Entfernung der
Milz keine auffallende Schädigung nach sich zieht, dürfte sich
unter Voraussetzungen, unter welchen das Organ besondere Func¬
tionen und eine intensive Inanspruchnahme erfahren hat, dessen
Exstirpation nicht rechtfertigen lassen. — (Münchener medicinische
Wochenschrift. 1900, Nr. 23.)
*
301. Ueber die Differenz zwischen der Tempe¬
ratur des Rectum s und der Achselhöhle, speciell
bei d e r ei t e r ig e n A p p e n d i c i t i s. Von Dr. S c h ü 1 e (Freiburg
i. B.). Die genannte Differenz, welche im Allgemeinen 0'3 — 0'4 be¬
trägt, fand Schüle in einem Falle von Perityphlitis mit Abscess-
bildung bis auf Dl und 1-4° C. erhöht. Den Grund für diese be¬
deutend höhere Temperatur im Mastdarm erblickt Schüle mit
grosser Wahrscheinlichkeit in der Hyperämie der Beckenorgane zur
Zeit der Abscessbildung. Dieser Befund empfiehlt es, wie schon von
mancher Seite aufgefordert worden ist, bei Appendicitis den Rectal¬
messungen eine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. — (Mün¬
chener medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 18.) Pi.
THERAPEUTISCHE NOTIZEN.
Eine eigenthtimliche Anwendung macht Sam ways vom
Collodium. Abgesehen von seiner Anwendung gegen Afterjucken,
Insectenstiche etc. empfiehlt er es zur Bekämpfung der Enuresis
nocturna. Die Harnröhrenmündung wird vor dem Schlafengehen
mit Collodium verklebt, so dass das Kind in Folge des verstärkten
Harndranges wach wird. — (Brit. med. Journ. 9. Juni 1900.)
*
Nr. 34
777
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
(Aus der k. k. landwirthschaftlich-chemischen Versuchsstation
in Wien.) Ueber ein neues Nährpräparat „Fers an“. Von
Dr. Kornauth und C z a d e k. Das pulverförmige, von Dr. Jo 11 es
hergestellte Präparat stellt einen aus den rothen Blutkörperchen ge¬
wonnenen eisen- und phosphor haltigen Eiweisskörper dar.
Die Verwendung desselben soll keine störenden Wirkungen auf Magen
und Darm besitzen und Fleisch in hohem Grade vertreten können.
(Zeitschrift für das landwirtschaftliche Versuchswesen. 1900,
Heft 5.) Pi.
*
Flüssiges Extract der Eberesche als Laxans.
Kroupetzky (Universität Youriev) behauptet eine laxative
Wirkung des flüssigen Extractes der Eberesche (Sorbus ancuparia) im
Gegensätze zur bekannt adstringirenden Wirkung der ganzen Früchte.
Das Extract ist tiefroth, angenehm zu nehmen. Man verordnet je nach
Alter und Constitution von 20 Tropfen bis zu einem Esslöffel, zwei-
bis dreimal täglich. — La Semain. Med. 25. Juli 1900, Nr. 31. Sp.
*
Ueber äusserliche und innerliche Anwendung
des Ar genta min. Von Dr. Bergei (Inowrozlau). Das gewöhn¬
liche Argentum nitricum hat nebst seiner Aetzwirkung für viele Fälle
den Nachtheil, dass es mit dem Eiweiss der Gewebe eine unlösliche
Verbindung eingeht und daher nur oberflächlich wirkt. Eine grössere
Tiefenwirkung soll das Argentamin, eine Aethylendiamin-Silberpliosphat-
verbindung, wirken. Verfasser hat es in vielen Fällen von Gonorrhoe
in Lösungen von l'O : 400-0 — 200‘0 zu Einspritzungen mit sehr gutem
Erfolge, weiters auch intern thee- und esslöffelweise eine i/2 — 3/40/oige
Lösung bei den verschiedenen Formen der Dünn- und Dickdarmkatarrhe
verwendet. — (Therapeutische Monatshefte. 1900, Nr. 7.) Pi.
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Verliehen: Den Universitätsprofessoren Dr. Max Gruber
und Dr. Anton Weich sei bäum in Wien der Titel eines Hof-
rathes. — Dem Bezirksarzte in Böhmisch-Brod Dr. Friedrich
Pelikan das goldene Verdienstkreuz mit der Krone.
*
H a b i 1 i t i r t : Dr. Hugo Lüthje für innere Medicin in
Greifswald. — In Neapel: Dr. Marracino und Dr. Badaloni
für modiciniscbe Pathologie, Dr. C u r c i o für Neuropathologie,
Dr. Cant a r a n o für klnische Medicin.
*
Gestorben: Der Chirurg Prof. W a g n e r in Königshütte in
Oberschlesien, dirigirender Arzt des dortigen Knappschaftslazarethes.
*
72. Versammlung Deutscher Naturforscher und
Aerzte in Aachen vom 16. bis 22. September 1900.
(Fortsetzung.)
Programm der Arbeiten: Medicinische Haupt¬
gruppe.
I. Gemeinschaftliche Sitzung der medicinischen
Hauptgruppe unter dem Vorsitze des Herrn Geheimrathes Prof.
Dr. v. Winkel (München). In der Aula der Ober-Realschule, Vineenz-
strasse, Mittwoch, den 19. September, Vormittags 11 Uh r :
Vorträge von Prof. V er worn (Jena) und Privatdocent Nissl
(Heidelberg): Der heutige Stand der Neurouenlehre. 1. V er worn
(Jena): Das Neuron in Anatomie und Physiologie. 2. Nissl (Heidel¬
berg): Die Neuronlehre vom pathologisch-anatomischen und klinischen
Standpunkte.
II. Ge meinschaftliche Sitzungen einzelner Ab¬
theilungen: 1. E. Ponfick (Breslau): Referat über die Be¬
ziehungen zwischen Scrophulose und Tuberculose, und 2. E. Feer
(Basel): Correferat: Prophylaxe der Tuberculose im Kindesalter. Zu
beiden Vorträgen (welche voraussichtlich Dienstag den 18. September,
Moigens 9 Uhr, in der Aula der Ober-Realschule gehalten werden)
sind eingeladen die Abtheilungen für pathologische Anatomie, innere
Medicin, Chirurgie und Hygiene zu gemeinsamer Sitzung, a ) An vor¬
genannte Referate soll sich unmittelbar anschliessen : Aus der Ab¬
teilung 34 für Hygiene und Bacteriologie: Das Referat von Ne iss er
(Frankfurt a. M.): Ueber die Bedeutung der Bacteriologie für Dia¬
gnose, Prognose und Therapie. Hiezu sind eingeladen die Ab-
theilungen für innere Medicin, Chirurgie, Gynäkologie, Kinderkrank-
heden und alle sich für das Thema interessirenden Abtheilungen.
^) Pur Donnerstag den 2 L, Morgens, ist vorgesehen das Referat von
vy. Ills jun. (Leipzig): Ueber Ertheilung von ärztlichen Gutachten
ü ei neu eifundene Arzneimittel. Es sollen dazu Correferate erstattet
werden von einem Chemiker und Pharmakologen, eventuell die Ansicht
eines Juristen gehört werden. Eingeladen sind hiezu Abtheilung 6
( emie), 22 (Chirurgie), 23 (Gynäkologie), 38 (Pharmacie) und die
anderen sieh dafür interessirenden Abtheilungen.
III. Sitzungen der einzelnen Abtheilungen. Die
bis zum 20. Juni angemeldeten Vorträge sind, so weit thunlich, in
alphabetischer Reihenfolge aufgeführt. Die Reihenfolge, in welcher sie
gehalten werden sollen, bestimmt der jeweilig Vorsitzende der Ab¬
theilung. Weitere Anmeldungen von Vorträgen sind erbeten und
ebenso wie Wünsche und Anfragen in Bezug auf die Abtheilungen an
die betreffenden Herren Einführenden oder Schriftführer zu richten.
Die Herren Vortragenden werden gebeten, die noch während der Ver¬
sammlung einzureichenden Manuscripte deutlich und nur auf einer
Seite des I apiers zu schreiben. Zur Demonstration bestimmte aus¬
wärtige Kranke finden in einem der hiesigen Hospitäler unentgeltlich
Aufnahme. Wegen Projections- Apparaten bittet man sich an Herrn
Prof. Dinkier, Louisenhospital, zu wenden.
Abtheilung: Anatomie, Histologie und Embryologie.
Einführende: Dr. Jakob d’Asse, Dr. P. C o m p e s. Schriftführer:
Dr. C. N ö s s e 1, Dr. C. Tendering. Sitzungslocal: Gewerbliche
Fachschulen, Martinstrasse Nr. 25. Angemeldete Vorträge:
Kollmann (Basel): Die Zotten der Chorion-Blase bei dem
Menschen und den Makaken und der erste Zusammenhang mit der
Schleimhaut des Uterus. Es wird der Abtheilung anheimgestellt, ihre
Sitzungen gemeinsam mit der Abtheilung 13 für Zoologie und ver¬
gleichende Anatomie abzuhalten. Stammlocal für diese und die folgende
Abtheilung: Hartmannstrasse 17, Englischer Hof.
Abtheilung: Physiologie. Einführende: Dr. Michael
Kaufmann, Dr. F.van Erckelens. Schriftführer : Dr. Leonh.
II einen, Dr. W. Chantraine. Sitzungslocal : Gewerbliche Fach¬
schulen. Angemeldete Vorträge: 1. Zw a ar de maker
Utrecht): Die specifische Riechkraft von Lösungen synthetisch be¬
reiteter chemischer Körper. 2. Derselbe: Demonstration des
phonetischen Armamentariums des physiologischen Institutes in
Utrecht.
Abtheilung : Allgemeine Pathologie u n d p a t h o lo¬
gische Anatomie. Zugleich Sitzung der deutschen pathologischen
Gesellschaft. Einführende: Prof. Dr. Max Dinkier, Sanitätsrath
Dr. Jos. 1 h o m a. Schriftführer: Dr. M. Gockel. Sitzungslocal:
Technische Hochschule. Angemeldete Vorträge: 1. E. Al¬
brecht (München): Ueber künstliche Erzeugung von Degenerations¬
bildern in Zellen. 2. Derselbe: Zur Pathologie der Kern- und
Zelltheilung. 3. Max Askanazy (Königsberg): Distomum felineum
in Ostpreussen beim Menschen. 4. Derselbe: Ueber das Verhalten
der Darmganglien bei Peritonitis. 5. P. v. B a u mgarte n (Tübingen):
Ueber die histologische Differentialdiagnose zwischen gummöser und
tuberculöser Orchitis. 6. Derselbe: Experimentelle Studien über die
Histologie des Hodentuberkels. 7. II. Chiari (Prag): Rückenmarks-
abscess. 8. F. Henke (Breslau): Zur Pathologie des Chalazions.
9. Derselbe: Demonstrationen. 10. L. Jores (Bonn): Ueber die
Regeneration des elastischen Gewebes. 11. R. Kretz (Wien): Thema
Vorbehalten. 12. B. Morpurgo (Siena): Ueber eine infectiöse Form
von Knochenerweichung bei weissen Ratten (mit Demonstrationen).
13. C. Nauwerck (Chemnitz): Demonstration augemeldet.
14. J. Orth (Göttingen): Ueber traumatische anämisch-nekrotische
Infarcte der Leber. 15. Derselbe: Ueber die Veränderungen der
Gelenk- und Epipliysen-Knorpel bei entzündlichen und tuberculösen
Vorgängen. 16. Derselbe: Ueber die Beziehungen der Lieber-
k ii h n’schen Krypten zu den Lymphknötchen des Darmes unter nor¬
malen und pathologischen Verhältnissen. 17. E. Ponfick (Breslau):
1 hema Vorbehalten. 18. M. Simmonds (Hamburg): Ueber Cysten
und Adenombildungen der retrotrachealen Schleimdrüsen. 19. K.
Winkler (Breslau): Das Myelom. 20. E. Ziegler (Freiburg i. Br.):
Thema Vorbehalten. 21. C. v. Kali Iden (Freiburg): Thema Vor¬
behalten. Bemerkun g. Die Abtheilung ist ausserdem eingeladen zu
dem Vortrage 6 und 19 in der Abtheilung Chirurgie, ferner zu den
Referaten von Ponfick und Feer, welche auf Aufforderung der
Abtheilung Kinderkrankheiten am Dienstag, 18. September, Morgens,
in der Aula der Ober-Realschule abgehalten werden; ferner zu Vor¬
trag 6 in der Abtheilung für Zahnkrankheiten. Stammlocal:
Zimmer 3, Altbaiern, Wirichsbongardstrasse 43.
Abtheilung : Innere Medicin und Pharmakologie.
Einführende: Prof. Dr. Felix Wesener, Sanitätsrath Dr. C.
Hommelsheim. Schriftführer : Dr. W i 1 h e 1 m M a y e r, Dr. Jakob
C o r n e 1 y. Technische Hochschule. Angemeldete Vorträge:
1. L. Brauer (Heidelberg): Ueber pathologische Veränderungen der
Galle. 2. A. Eulenberg (Berlin): Ueber gonorrhoische Nerven¬
erkrankungen. 3. Derselbe: Ueber Arsonvalisation (Anwendung
hochgespannter Wechselströme zu therapeutischen Zwecken). 4. J. F.
Hey mans (Gent): Ueber Entgiftung. 5. W. His jun. (Leipzig):
Ueber Ertheilung von ärztlichen Gutachten über neuerfundene Arznei¬
mittel. 6. H. Hochhaus (Kiel): Ueber functionelle Herzerkrankungen.
7. R. Lenz mann (Duisburg): Ueber Appendicitis larvata. 8. R.
O es t reich (Berlin): Zur Percussion des Herzens. 9. O. Preiss
778
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 34
(Elgersburg i. Th.): Ueber Massagebäder (mit Demonstrationen).
10. Th. Rumpf (Hamburg): Eiweissansatz und Zuekerausscheidung.
11. Ad. Schmid (Bonn): Beitrag zur Säuglingsernährung. 12. J.
Weiden bäum (Neuenahr): Die Diät bei Diabetes mellitus.
13. F. Wesen er (Aachen): Ueber Diphtherie und Scharlach.
14. W. W e i n t r a u d (Wiesbaden): Ueber eine neue einfache Technik
der Bluttransfusion. Bemerkungen. Zu Vortrag 2 und 3 ist die
Abtheilung Neurologie und Psychiatrie, zu Vortrag 9 die Abtheilung
Balneologie und Hydrotherapie, zu Vortrag 11 und 13 die Abtheilung
Kinderkrankheiten eingeladen. Vortrag 7 in gemeinsamer Sitzung mit
der Abtheilung Chirurgie. Vortrag :'> ist in Aussicht genommen für
eine gemeinsame Sitzung mit den Abteilungen : Chemie, Chirurgie,
Geburtshilfe und Frauenkrankheiten, Kinderheilkunde und Neurologie.
Ausserdem soll dazu ein Correferat erstattet werden von einem
Chemiker, einem Pharmakologen, eventuell auch von einem Juristen.
Die Sitzung ist vorläufig auf Donnerstag den 21., Morgens 9 Uhr,
festgesetzt. Ferner ist die Abtheilung eingeladen zu den Refeiaten
P on fick und Feer, welche auf Aufforderung der Abtheilung
Kinderheilkunde Dienstag den 18., Morgens 9 Uhr, in der Aula der
Ober-Realschule erstattet werden, zu den Vorträgen 4 und 5 in der
Abtheilung für Kinderheilkunde, zu Vortrag 21 in der Ab¬
theilung für Chirurgie, zu Vortrag 9 in der Abtheilung für
Neurologie und Psychiatrie, zu Vortrag 8 in der Abtheilung für
Balneologie und zu Vortrag 13 in der Atheilung für Hautkrank¬
heiten und Syphilis.
Abtheilung für Chirurgie. Einführende: Sanitätsrath Doctor
II. Krabbe 1, Oberarzt Dr. W. M ü 1 1 e r. Schriftführer: Dr. C. L o n-
g a r d, Dr. J. Classen. Sitzungslocal: Technische Hochschule. An¬
gern e 1 d e t o Vorträge: 1 . B. Bardenheuer (Köln) : Ueber
Behandlung der Phlegmonen. 2. Derselbe: Ueber Kapselverengerung
bei Gelenkaffectionen. 3. R. Bartz (Eschweiler) : Daueierfolg der
operativ behandelten Bauchfelltubereulose. 4. Derselbe: Operation
einer Spina bifida (Krankenvorstellung). 5. Ad. Becker (Aachen):
Demonstration von Präparaten. (I. Friedrich (Leipzig): Ueber
anämische Lebernekrosen. 7. Graff (Bonn): Demonstration neuer
orthopädischer Apparate. 8. A. Hoffa (Würzburg): Zur Behandlung
des Pes valgus (Demonstration). 9. II. Krabbe 1 (Aachen): Zwei
seltene Magenoperationen. 10. Derselbe: Ungewöhnlicher Abdominal-
tumor bei einem Manne. 11. Derselbe: Ueber Schussverletzungen
des Abdomen. 12. M. Landow (Wiesbaden): Centrales Osteum des
Humerusschaftes. 13. C. Longard (Aachen): Krankenvorstellung.
Fälle von Verletzung des Sprachcentrums. 14. Derselbe: Thorako-
plastik. 15. E. Martin (Köln): Zur chirurgischen Behandlung der
spindelförmigen Speisei öhrenenveiterung (spastische Stenose). 16. W.
Müller (Aachen): Demonstration zur Frage der Osteoplastik.
17. Derselbe: Zur Sehnenüberpffanzung. F r z. Niehuis (Bonn),
(siehe Nr. 29). 18. S. Pabst (Aachen): Demonstration von Prä¬
paraten. 19. W. Petersen (Heidelberg): Zur Kenntniss des Auf¬
baues des Careinoms. 20. Derselbe: Magenkrankheiten bei Chole¬
lithiasis. 21. J. Quadflieg (Aachen): Ueber Intubation. 22. A.
Rosenberger (Würzburg): Ueber die Art und Bedeutung des
chirurgischen Eingriffes w ä h r e n d eines Typhilitisanfalles. Schnitze
(siehe Nr. 30). 23. C. Stern (Düsseldorf): Beitrag zur Behandlung
subeutaner Nierenrupturen. 24. L. v. S t u b e n r a u c h (München) :
Thema Vorbehalten. 25. F r i e d r. Viertel (Breslau): Ueber
Blasenchirurgie, in specie über Operationen bei Prostata-Hypertrophie.
26. 0. Vulpius (Heidelberg): Behandlung des Klumpfusses bei Er¬
wachsenen. 27. 0. Wolff (Essen): Ueber Behandlung der Knöchel¬
brüche mit Barden heue r’seher Gewichtsextension. 28. R. Morian
(Essen): Vorübergehende Hämoglobinurie in Folge von Blutung in die
Bauchhöhle. 29. Franz Niliuis (Bonn): Ueber die Erfolge der
lletolbehandlung bei Tuberculose. 30. Ferd. S c h u 1 1 z e (Duisburg):
Ueber Klemmnaht. 31. A u g. Sträter (Berlin): Ueber Knochen-
erkrankungen im R ö n t g e n - Bilde. Bemerkungen. Zu den Vor¬
trägen 6 und 19 ist die Abtheilung für pathologische Anatomie
und zu den Vorträgen 15, 21 und 22 die Abtheilung für innere Me-
diein eingeladen. Ausserdem ist die Abtheilung für Chirurgie ein¬
geladen zu gemeinsamer Sitzung von der Abtheilung für innere
Medicin zu Vortrag 5 und 7, sowie zu den Referaten von E. Pon-
fick und E. Feer; ferner zu gemeinschaftlicher Sitzung mit der Ab¬
theilung für Zahnheilkunde für Vortrag 10 und 11 und zu dem Vor¬
trag von Sträter (Berlin) über Knochenerkrankungen im Röntge n-
Bilde mit der Abtheilung für wissenschaftliche Photographie, ausser¬
dem noch zu Vortrag 12 in der Abtheilung für Hautkrankheiten
und Syphilis. Stammlocal: Restauration Alt-Baiern, Wirichsbongard-
strasse 43.
*
(Fortsetzung folgt.)
Im Verlage von M. Perl es in Wien ist der von Dr. Hein¬
rich Adler herausgegebene „Medicinal-Kalender“ für 1901
(43. Jahrgang) erschienen.
Freie Wellen.
Gemeindearztesstellen in Oberösterreich. Im Grunde des
Landes-Sanitätsgesetzes für Oberösterreich vom 22. September 1893, L. G.
und V. Bl. Nr. 35, sind die Gemeindearztesstellen in nachbenannten Sanitäts-
gemeinden zu besetzen:
1. Feldkirchen (politischer Bezirk Braunau), 1932 Einwohner,
700 K Jahresbezüge.
2. Pischelsdorf (politischer Bezirk Braunau), 1725 Einwohner,
480 K Jahresbezüge.
3. Rossbach (politischer Bezirk Braunau), 1947 Einwohner, 640 K
von der Gemeinde, 400 K Landes-Subvention. Dienstesantritt eventuell
erst nach Ablauf der Kündigungsfrist des Gemeindearztes, d. i. mit Ende
November d. J.
4. Reichenthal (politischer Bezirk Freistadt), 2240 Einwohner,
1046 K von der Gemeinde und 200 K Landes-Subvention.
5. Feldkirchen (politischer Bezirk Linz), 2992 Einwohner.
Jahresbezüge 600 K. Der Gemeindearzt kann seinen Wohnsitz entweder in
Feldkirclien oder im Badeorte Miihllacken nehmen.
6. Niederneukirchen (politischer Bezirk Linz), 2050 Einwohner,
Jahresbezüge 720 K.
7. St. Peter am Wimberg (politischer Bezirk Rohrbach),
2870 Einwohner, 600 K von der Gemeinde und 600 K Landes-Sub-
vention.
8. Diersbach (politischer Beziik Schärding), 1842 Einwohner,
Jahresbezüge 280 K.
Bewerber um eine dieser Stellen wollen ihre mit dem Nachweise der
ärztlichen Befähigung und der bisherigen praktischen Verwendung, des
Alters und der Confession versehenen Gesuche bis Ende August 1900
an den oberösterreichischen Landesausschuss in Linz einsenden. In dem Ge¬
suche können auch mehrere der erledigten Stellen bezeichnet werden, wenn
auf dieselben für den Fall der inzwischen etwa erfolgten Wiederbe
Setzung der an erster Stelle bezeichnten Gemeindearztesstelle reflectirt
wird. Der Landesatistcliuss wird die eiulangenden Gesuche den betref¬
fenden Sanitäts-Gemeindevertretungen zur Beschlussfassung übermitteln und
in jenen Fällen, in welchen mit der Stelle eine Landessubvention verbunden
ist, die Ernennung im Einvernehmen mit der k. k. Statthalterei vor¬
nehmen.
Gemeindearztesstelle in der aus den Gemeinden Speisendorf,
Karlstein, Ober-Grünbacli, Thuma, Rossa, Eggersdorf, Münichreith undGöpfritz-
schlag bestehenden 3600 Einwohner zählenden Sanitätsgemeindegruppe
Speisendorf (politischer Bezirk Wahlhufen a. d. Thaya) (Nieder-
ö st er re ich). Fixe Bezüge: 400 K von der Sanitätsgruppe nebst freier
Wohnung. Eine entp>-echende Landessubventio.r ist in Aussicht. Haltung
einer Hausapotheke wird gefordert,. Bewerber um diese sofort zu be¬
setzende Stelle haben ihre gehörig instruirten, an den niederöstorreichischen
Landesausschuss gerichteten Gesuche längstens bis 25. August 1900 hei der
Bezirkshanptmannschaft Waidhofen a. d. Thaya oder beim Gemeindeamte
Karlstein einzubringen. Bewerber mit Spitalpraxis haben den Vorzug.
Bei der k. k. Forst- und Domänendirection in Wien ist die Stelle
eines k. k. Forstarztes für den Curbezirk Aschbach bei
Mariazell (Steier mark) zu besetzen. Mit der Stelle als k. k. Forstarzt ist
ohne Anspruch auf Pension eine Jahresbestallung inclusive des Reise-
pauschales im Betrage von 1600 K, sowie die Benützung einer Dienst¬
wohnung im fondsherrschaftlichen Hause C. -Nr. 152 zu Aschbach als Natural-
wohnung seitens des k. k. Aerars verbunden. Dem Arzte obliegt die unent¬
geltliche ärztliche Behandlung der im Curbezirke, d. i. in dem k. k. Forst-
und Domänen Verwaltungsbezirke Wegscheid (umfassend die Gemeinde
Aschbach vom Pfannhammer thalaufwärts) wohnenden Forstarbeiterschaft
und Provision isten sammt deren Angehörigen, dann des im Bezirke statio-
nirten Forstschutzpersonales sammt Angehörigen, sowie weiters die Haltung
einer Hausapotheke, aus welcher an die curberechtigten Arbeiterpersonen
die erforderlichen Medicamente und Verbandstoffe gegen Rechnungslegung
über die effvetiv verabfolgten Arzneimittel nach Ablauf jedes Quartales an
das k. k. Acrar abzugeben sind. Die Bestellung des Arztes erfolgt auf un¬
bestimmte Dauer unter Vorbehalt einer beiderseitigen halbjährigen Kündigung
und ist der Arzt zur Einhaltung der über den ärztlichen Dienst aufzu¬
stellenden Dienstin'tructionen, sowie zum Abschlüsse eines schriftlichen
Vertrages mit dem k. k. Aerar verpflichtet. Der Antritt der Arztesstelle
kann sofort nach der dem Bewerber zugestellten Entscheidung über die An¬
nahme seines Offertes erfolgen. Bewerber um diese Stelle haben ihre Ge¬
suche bpi der k. k. Forst- und Domänendirection in Wien, IV., Gusskaus-
strns.se 27, und zwar soferne sie in einer staatlichen Dienstleistung stehen,
im Wege ihrer Vorgesetzten Behörde unter Beibringung nachstehender Belege
bis 10. September d. J. einzureichen: «) Nachweis über den erlangten
Ductorgrad; b) Altersnachweis; c) Nachweis über ihre österreichische Staats¬
angehörigkeit ; d) über ihre untadelhafte staatsbürgerliche Haltung; e) amts¬
ärztliches Zeugniss über ihre physische Eignung und /) Nachweise über
ihre bisherige ärztliche Thätigkeit. Jene Aerzte, welche neben einer ent¬
sprechenden Spitalspraxis eine besondere Ausbildung in der operativen
Chirurgie und Geburtshilfe nachzuweisen im Stande sind, erhalten den Vor¬
zug vor allen anderen Competenten. Auch haben sich die Bewerber zu er¬
klären, ob sie diese Stelle sofort nach der eventuellen Ernennung, oder bis
zu welcher Zeit anzutreten im Stande sind. Später einlangende oder nicht
entsprechend belegte Gesuche können keine Berücksichtigung finden.
Nr. 34
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
13. Internationaler medicinischer Congress
13. Internationaler medicinischer Congress zu Paris.
(2—9. August 1900.)
(Fortsetzung.)
Abtheilung für Chirurgie.
Referent: Wohlgemuth (Berlin).
I. Sitzungstag. Vormittagssitzung.
Vorsitzender: Tillanx (Paris).
IV. Braquehaye (Tunis): Ueber das Nirvanin in
der Chirurgie.
Vortragender legt die Vortheile klar, die das Nirvanin vor dem
Cocain besitzt. Es ist besser zu sterilisiren, die Intoxicationsgefahr ge¬
ringer, die Dauer der Anästhesie ist länger. Auch bei den entzünd¬
lichen Aftectionen, wo die locale Anästhesie gewöhnlich schlecht anzu¬
wenden ist, leistet das Nirvanin noch viel mehr als das Cocain. Er
injicirt jetzt 0-5</ reines Nirvanin ohne Bedenken; noch niemals hat
er irgend eine Störung gesehen. Nur einmal hat er nach dieser Dosis
eine Neigung zur Nausea beobachtet. Nach der Injection soll man
fünf bis zehn Minuten warten und dann operiren. Die beste Wirkung
entfaltet das Nirvanin natürlich bei der Operation der kleinen Tumoren,
aber auch bei grösseren und grossen Operationen ist es mit Vortheil
anzuwenden. Er möchte seine Erfahrungen dahin resumiren, dass das
Nirvanin vor dem Cocain bedeutende Vortheile hat.
V. Sever eaun (Bukarest) : Ueber Anästhesie durch
Coca, inin jectionen in das Rückenmark. Vortragender will
die Aufmerksamkeit auf die Zufälle lenken, die bei der Injection von
Cocain in das Rückenmark eintreten können. Er hat Schwächeanfälle
gesehen, die enorm waren, und die manchmal bis zu acht Stunden ge¬
dauert haben. Was die Cocainmenge anbelangt, so hat er bis zu 4 cg
manchmal injicirt. Gegen die auftretende Intoxication wendet er gern
Coffein an.
VI. Tuffier (Paris): Ueber medulläre Cocainan¬
ästhesie oder int raa rach noideale Injectionen von
Cocain. Tuffier hat bereits G5 Fälle publicirt und seine Erfahrung
erstreckt sich jetzt auf 125 Operationen, die die unteren Extremitäten,
das Perineum, die Blase, das Rectum, Uterus und Adnexe und den
Darm betrafen. Er nimmt nie mehr als 1 ^l%cg Cocain und hat damit
stets vollkommene Anästhesie erreicht. Gelingt die Anästhesie nicht,
so ist das für ihn ein Beweis, dass die Lösung entweder schlecht ge¬
worden oder nicht in den Arachnoidalraum eiugedrungen ist. Zufälle
hängen wohl meist von einer zu grossen Dosis ab. Sie können während
und nach der Anästhesie auftreten. Während derselben kann Folgendes
auftreten: sobald die Flüssigkeit in die Rückenmarksnerven eingedrungen
ist, klagen 95% aller Patienten über Beklemmungen, über ein Gefühl
von Unempfindlichkeit und Abgestorbensein, welches von den Füssen
bis zum Nabel hinaufsteigt und sich sogar bis zur Mitte des Thorax
ausdehnen kann. Diese Anästhesie tritt nach fünf bis zehn Minuten
ein und dauert 1% 4 Stunden an. Während der Operation klagt der
Patient oft über Beklemmungen im Epigastrium, Angstgefühle, verlangt
nach frischer Luft, holt tief und langsam Athem und hat wieder fünf
Minuten später Erscheinungen und Gefühle von Nausea, die sich bis
zu thatsächlichem Erbrechen steigern, wenn die Cocainmenge zu gross
gewesen ist. Der Puls ist beschleunigt, 90—120 Schläge, der Patient
klagt über aufsteigende Hitze, das Gesicht ist mit Schweiss bedeckt,
sehr blass. Nach der Anästhesie treten oft keine unangenehmen Zu¬
fälle auf und die Kranken verlangen zu essen. Existiren sie aber, so
bestehen sie in Erbrechen, Frostschauern, Temperatursteigerungen bis
zu 39 9°, die aber zu keinem Bedenken Anlass zu geben brauchen,
wenn sie am nächsten läge wieder zurückgehen. Das einzige andauernde
und unangenehme Intoxicationssymptom sind Kopfschmerzen, die meist
15, nicht selten auch 48 Stunden dauern. Tuffier glaubt, dass man
le gefähi liehen bulbären Symptome nicht zu fürchten braucht, da die
Anästhesie selten oder niemals so hoch hinaufsteigt, sondern immer
untei alb des Zwerchfells bleibt. Von seinen 125 Operirten sind fünf
gestorben. Bei vier von diesen darf der Tod aber nicht auf die An¬
äst esie zuiückgeführt werden. Nur der Fünfte ist unter den Symptomen
ALT:
zu Paris. (2.-9. August 1900.) (Fortsetzung.)
einer Asphyxie gestorben. Die Section hat eine Mitralinsufficienz
und zwei frische Lungenapoplexien ergeben. Herzfehler sind keine
Contraindication. Er hat eine Kranke mit Mitralstenose operirt und
geheilt. Zum Schluss bemerkt Tuffier, dass er weit entfernt ist,
die allgemeine Anästhesie zu entfernen, aber er kann nicht leugnen,
dass die medulläre Anästhesie ihre grossen Vortheile hat.
VII. Trunczek (Prag) : Behandlung maligner Tu¬
moren mit Arsenik. Die Radicalbehandlung dos Epithelialcarci-
noms mit Acidum arsenicosum besteht nach seinem Vorgänge in täglichen
Pinselungen der Oberfläche des Tumors mit einer Lösung von 1 Theil
Acidum arsenicosum in 40 — 75 Theilen Alkohol und Wasser aa. Die
Gewebstransformation, die die Folge ist, geht schliesslich in eine
gewöhnliche granulirende Fläche über, die unter irgend einer antisepti¬
schen Behandlung zur Heilung kommt. Diese unter dem Namen der
Czerny-Truncze k’schen Methode bekannten Behaudlungsweise ist
aut die oberflächlichen und ulcerirten Sarkome anzuwenden. Wenn der
Tumor nicht zu gross und der Patient nicht zu schwach ist, kann
man so eine vollkommene Heilung erzielen, wie er sie in einem Falle
von Hautsarkom bei einer Frau von 24 Jahren erreicht hat, wo die
Heilung jetzt schon 18 Monate andauert. Gerade bei den Sarkomen
kann man recht gut die verschiedenen Phasen der Heilung studiren.
Die oberste Partie wird zuerst anämisch; das Gewebe ist zwar noch
von normaler Beschaffenheit aber blutlos, so dass aus selbst tiefen
Verletzungen nur etwas seröse Flüssigkeit aussickert. Allmälig aber
verändert sich der Tumor, wird hart, manchmal so, dass er sich nur
schwer schneiden lässt, und schliesslich ist er einige Centimeter tief
nekrotisirt. Ist die Nekrose eine vollständige, tritt eine demarcative
Entzündung auf und der Tumor stösst sich wie ein Fremdkörper ab.
VIII. Marechal (Chätillon-sur-Seine) : Reincultur und
Inoculation des Bacillus Ducrey.
IX. Nicoletti (Neapel): Experimentelle und histo-jjatho-
logische Untersuchungen über die medulläre Anästhesie
mit Injectionen von salz sau rem Cocain.
Seine Untersuchungen haben ergeben, dass unter der Einwirkung
des in den Cervicalcanal eingespritzten Cocains keinerlei histo-patholo-
gische Veränderungen der nervösen Elemente nachzuweisen waren. Er
ist der Ansicht, dass, wenn er auch eine specifische Wirkung des Co¬
cains nicht leugnen will, das Alkaloid erst durch Vermittelung der
Blutbahn wirksam ist; zur Controle hat er Einspritzungen von Ergotin,
Antipyrin und Chinin, muriat. gemacht und hier fast genau dieselben
Phänomene, dieselben circulatorischen Störungen erzielt wie beim Co¬
cain. Er berichtet zum Schluss über sieben Fälle, die er mit der
Cocainisation des Rückenmarks operirt hat und erklärt, dass er mit
der Methode sehr zufrieden ist.
X. Racovicea n u P i t e s c i (Bukarest) : Anästhesie
durch Cocainin jection in das Rückenmark.
Vortragender berichtet über 125 Fälle, deren Alter von 5—72
Jahren schwankt. Er macht die Injection, während der Patient auf
einem Stuhle sitzt.
Viermal ist ihm die Anästhesie nicht gelungen, und er hat zum
Chloroform zurückgreifen müssen. Zweimal hat die Anästhesie vor Be¬
endigung der Operation aufgehört. Wenn die Anästhesie mehrmals an
demselben Patienten ausgeführt wird, macht sich eine grössere Tole¬
ranz gegen das Cocain bemerkbar. Unter den ersten 100 Fällen ist
bei 16 keinerlei Störung eingetreten, 80 haben leichte Intoxications-
symptome gezeigt, die zwölf Stunden bis zu fünf Tagen andauerten,
dreimal traten so schwere Intoxicationserscheinungen auf, dass das
Leben der Patienten in Gefahr war. Die von ihm gebrauchte Dosis
schwankte zwischen 2 und 4 cg, entweder rein oder mit Morphium.
Nierenerkrankungen bieten eine Contraindication; Kranke mit Herz¬
fehler oder Arteriosklerose bedürfen einer genauen Ueberwachung. Das
Cocain kann, so schliesst Vortragender, sehr nützlich sein, doch kann
es natürlich nicht die allgemeine Narkose ersetzen, schon wegen der
Unbeständigkeit seiner Lösungen.
XI. Mincroini (Genua): Experimentelle und klini¬
sche Untersuchungen über die Retractilität der
Narben.
Seine Untersuchungen haben ihn zu folgenden Schlüssen
geführt :
780
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 34
1. Die Narbenretraction ist direct proportional der Heilungsdauer
und ausgedehnter bei Erwachsenen als bei jungen Individuen. 2. Sie
hängt weder von den elastischen, noch von irgend welchen contractilen
Fasern ab, sondern einfach von einer Gewebssclirumpfung bei dem
natürlichen Ileilungsprocess. 3. Hat sich einmal die Narbe ausgebildet,
so ist sie unverändert. Man darf daher nicht von retractilen, sondern
nur von retrahirten Narben sprechen. 4. Die Verbrennungsnarben sind
ähnlich den anderen. Auch sie haben keine grössere Retractilität.
5. Auch die Narben der inficirten Wunden sind nicht anders be
schäften. G. Um möglichst geringe Narbencontraction zu erzielen, soll
man während der Heilung die Ränder der Wunde auseinanderhalten
und möglichst breite Narben zu erreichen versuchen.
XII. F. B. Türck (Chicago) : Ueber eine neue Methode
während der Operation derlnfection und dem Shock
vorzubeugen.
Vortragender hat besonders die unglücklichen Zufälle bei der
Laparotomie im Auge, denen er durch folgende Massnahmen Vor¬
beugen will. Er legt sogleich nach der Eröffnung der Bauchhöhle eine
breite, sterilisirte, heisse Gummibinde um den Leib, schneidet in diese
einen Spalt, breit genug, um seine Operation zu machen, bei der
Gastroenterostomie zwei Löcher, durch deren eines er den Magen,
durch deren unteres er den Darm herauszieht zur Vereinigung. Nach
vollendeter Operation wird das Gummiband durchgeschnitten, die
Bauchwunde sofort vernäht. Türck glaubt, so dem Shock und der
Infection am wirksamsten entgegenzutreten.
XIII. Sever ano (Bukarest): Ueber die verborgene
Zickzacknaht.
Von der Ueberlegung ausgehend, dass jede Naht, die durch die
ganze Dicke der Haut geht, mehr oder weniger sichtbare Narben
hinterlässt, hat Sever ano eine Nabt ersonnen, die ihm besonders
bei der Operation der Hasenscharte ausserordentlich zufriedenstellende
Resultate geliefert hat, eine Naht, die unter der Haut verborgen
bleibt und der er wegen ihrer eigentümlichen Form den Namen Zick¬
zacknaht gegeben hat. Nach voraufgegangener Schleimhautnaht wird
eine kleine Nadel mit feinem oder stärkerem, am Ende geknoteten
Catgut, je nach der Tiefe der Wunde, armirt, etwas oberhalb des
äussersten Wundwinkels, 4—5 mm vom Wundrande entfernt, einge¬
stochen und schräg nach unten in die Tiefe der Wunde geführt, ohne
durch die Schleimhaut zu gehen. Die Nadel wird dann in derselben
schrägen Richtung, aber mit der Spitze nach aussen gerichtet, an der
gegenüberliegenden Wundfläche eingestochen, und 4 — 5 mm vom Rande
entfernt wird die Haut durchbohrt und der Faden angezogen. Nun
wird die Nadel durch dieselbe Stichöffnung wieder eingeführt, aber in
einem nach der Schnittfläche offenen Winkel, den man nicht sehr
gross macht, durchgestossen und in derselben schrägen Richtung
weitergeführt durch die gegenüberliegende Seite und wieder 4 — 5 mm
entfernt vom Wundrande durch die Haut gebohrt, wieder in dieselbe
Stichöffnung zurückgeführt u. s. w., bis die ganze Wunde geschlossen
ist. Ein Knoten beschliesst die Naht. Sollten, was Vorkommen kann,
besonders bei tiefen Wunden die Hautränder etwas klaffen, so werden
diese mit einer möglichst feinen und exacten Catgutnaht vereinigt.
XIV. M i c h a u x (Paris) : Eine neue Art der Blut¬
stillung, Demonstration eines automatischen Ap¬
parates zur Anlegung metallischer Ligaturen.
Es ist nicht zu bezweifeln, dass die Blutstillung nicht allein oft
das Wichtigste ist und die grösste Zeit bei unseren Operationen ein¬
nimmt, sondern zu lnfectionen verschiedenster Art durch die Luft,
die Hände des Operateurs und seiner Assistenten und schliesslich
durch den Faden selbst Gelegenheit gibt. Er hat deshalb, um den
Faden vermeiden und Zeit sparen zu können, ein Instrument mit
Dr. Michel construirt, mit welchem man durch einen einzigen
Händedruck das Gefäss mit einem Silberfaden von 0 7 mm Durch¬
messer umschnürt, dergestalt, wie jetzt die Bücher mit einem Stahl¬
drahtfaden geheftet werden. Die Ligatur ist nicht nur eine voll¬
kommene, sondern, was am meisten werth ist, in einem Augenblick
vollendet. Er hat bis jetzt bei fünf Amputationen, zxvei Ovarial-
castrationen und fünf Operationen verschiedener Art diese Unter¬
bindungsmethode angewendet. Bei einer Amputation in der Mitte des
Oberschenkels hat er in 9 Minuten 20 Secunden 32 Ligaturen mit
seinem Instrumente angelegt. Alle Ligaturen sind an ihrem Platze ge¬
blieben und wurden gut vertragen, obgleich es sich in einzelnen Fällen
um septische Zustände handelte, die einen Schluss des Stumpfes nicht
zuliessen.
XV. Michel (Paris) : Eine neue Hautnaht m i t Wund¬
agraffen.
Redner demonstrirt ein piucettenartiges Instrument, welches, mit
48 kleinen, nickeinen Wundagraften von 2*/2 mm Breite und 1 cm
Länge armirt, sinnreich derart construirt ist, dass beim Fassen und
Zusammendrücken der Wundränder mit demselben jedes Mal eine dieser
Agraffen wie eine kleine Kramme mit zwei kleinen Häkchen in die
Wundränder eingedrückt wird und diese zusammenhält. Er hebt die
Asepsis und die Schnelligkeit der Naht als besondere Vorzüge dieser
Methode hervor.
XVI. Bramson (Kopenhagen) demonstrirt ebenfalls eine neue
Methode der Wundnaht durch metallischen Ver¬
schluss.
XVII. II a g o p o f f (Constantinopel) : Eine neue Methode
der Etagennaht ohne versenkten Faden.
Die Methode besteht im Wesentlichen darin, dass die tiefe Naht
ganz nahe beim Wundrande durch die Haut geführt wird, wieder dicht
dabei durch die Haut in die Tiefe zurückgeht, auf der gegenüber¬
liegenden Seite, tief eingeführt, dicht beim Wundrande die Haut durch¬
bohrt und ebenso xvie auf der anderen Seite wieder in die Tiefe und
zur gegenüberliegenden Seite zurückgeht u. s. f. Dann wird durch die
Schleifen auf der äusseren Haut von einer Seite zur anderen je ein
Faden gezogen und, nachdem der Hauptfaden fest angezogen ist,
geknotet.
*
Nachmittagssitzung.
I. Ceccherelli (Parma) : Z u r Pankreas-Chirurgie.
Redner gelangt am Schlüsse seiner Betrachtungen zu folgenden
Schlüssen :
Die Chirurgie des Pankreas steht in directer Beziehung zu allen
Fragen, die die Function dieses Organes betreffen.
Abmagerung, Anwesenheit von Fett im Stuhlgang, Zucker im
Urin, Bronzefarbe der Haut, Ikterus und Schmerzen sind die meisten
Symptome der meisten Affectionen des Pankreas.
Man begegnet bei der Totalexstirpation oft beträchtlichen
Schwierigkeiten, die in den anatomischen Bedingungen, der Lage des
Organes in grosser Tiefe, der directen Nachbarschaft mit anderen Ein-
geweiden, seinem Reichthum an Gefässen und Nerven ihren Grund
haben. Ausserdem weil das Organ einen wichtigen und nothwendigen
Verdauungssaft absondert.
Die Chirurgie des Pankreas ist bis heute nicht so weit vervoll¬
kommnet, wie wir es im Vergleich mit der anderen Eingeweidechirurgie
hätten hoffen können, weil die Diagnose oft recht schwierig ist und
man aus diesem Grunde den Krankheitsprocess nicht in seinen Anfängen
beobachten kann. Wie sich aber in Zukunft auch immer die Fort¬
schritte gestalten mögen, jedenfalls wird man mit einem chirurgischen
Eingriff an der Cauda des Pankreas mehr Aussicht auf Erfolg haben,
als am Kopfe desselben.
Durch Experimente ist es erwiesen, dass die Totalexstirpation
möglich und mit dem Leben des Versuehsthieres vereinbar ist, ob es
aber auch auf dem Operationstische am Menschen möglich sein wird,
wo die Ivrankheitsprocesse nicht auf das Organ allein beschränkt
sind, wo maligne Tumoren die Umgebung infiltrirt haben, das steht
noch dahin.
Die Exstirpation ist nicht angezeigt, wenn es sich um tuber-
culöse und syphilitische Processe handelt.. Die partielle Exstirpation
soll so ausgeführt werden, dass man einen der beiden Ausführungs¬
gänge schont.
Die Tumoren, die das Pankreas am häufigsten aufweist, sind
Cysten, welche traumatischer oder apoplektischer Natur sein können
und blutigen Inhalt haben, oder Retentions- und Ilydatidencysten.
Hier ist der chirurgische Eingriff gerechtfertigt und nützlich,
aber die Exstirpation der Organe ist unnöthig, es genügt die Exstir¬
pation oder die Excision des Cystensacks. Bei der Incision des Cysten¬
sacks ist es vortheilhaft, die Cystenwände mit der Bauchwunde, wenn
es möglich is*, zu vernähen; nach der Excision oder Exstirpation des
Sackes soll die Incisionswunde sorgfältig genäht werden, damit der
Hohlraum ganz sicher geschlossen ist.
In den Fällen von Pankreassteinen wird man die Extraction der¬
selben vornehmen.
Eine Aftection, welche neuerdings sorgfältig beobachtet wird, ist
die Nekrose des Pankreas, die die chirurgische Intervention zur Ent¬
fernung der nekrotisirten Theile verlangen kann.
Bei den eiterigen oder gangränösen Formen der Pankreatitis thut
man gut, sich eines Eingriffes während der acuten Periode zu ent
halten, ist aber ein Abscess aufgetreten oder der Pankreas gangränescirt,
so ist doch die Nothwendigkeit dazu vorhanden, und man kann drei
Wege einschlagen: den lumbalen, extraperitonealen, den transpleuralen
oder den medianen subumbilicalen.
Die chronischen Pankreatiten können durch Compression des
Ductus choledochus oder des Pylorus Complieationen hervorrufen, und
in diesem Falle ist ein chirurgischer Eingriff von Nutzen, aber er
wird sich nicht auf das Pankreas richten, sondern auf die Leber oder
Nr. 34
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
781
den Magen, um die durch die Compression gestörte Function wieder
herzustelleu.
In den Fällen von Hernie des Pankreas durch Trauma kann
die Reduction genügen und auch die Fixation angezeigt sein Bei den
Zwerchfellhernien des Pankreas ist dann natürlich der Weg durch den
Thorax vorzuziehen.
Bei der Contusion des Organes kann ein chirurgischer Eingriff
nothwendig sein, wenn die Blutung eine grosse ist, die man durch
Naht oder Unterbindung der Gefässe stillt.
Man hat einige Fälle von Wander-Pankreas gesehen. Die experi¬
mentelle Pathologie würde ihre Fixation rechtfertigen.
Bei der Invagination des Pankreas kann und muss der Chirurg
eingreifen, wenn Complicationen auftreten.
Wenn im Verlaufe irgend eines Processes der Ductus zwischen
Pankreas und Duodenum verstopft ^ist,41 kann man dem Pankreassaft
einen neuen Weg schaffen und, wenn sich dieses als unausführbar
herausstellen sollte, eine Pankreasfistel anlegen.
Hämorrhagien des Pankreas können ohne Trauma auftreten,
hängen aber meist mit Gangrän zusammen. Der Chirurg kann
hier eingreifen, wie wenn es sich um traumatische Hämorrhagien
handelte.
In den Fällen von Pancreas annularis ist bis jetzt kein chirur¬
gischer Eingriff gemacht worden, aber es könnte nötliig werden, eine
Operation zu machen, um die Unzuträglichkeiten auf den Magen oder
den Darm zu entfernen.
Die Naht quer durch das Parenchym des Pankreas macht
keinerlei Störungen und wird, wie die der Niere, der Leber oder der
Milz, gut vertragen.
Ist man gezwungen, den Canalis pancreaticus zu nähen, so wird
man gut tliun, so zu nähen, dass der Faden nicht im Lumen des
Canales bleibt, um so Concretionen zu vermeiden.
M a y o Robson (Leeds) ist der Meinung, dass die Aftectionen
des Pankreas häufiger sind, als man anzunehmen glaubt, und begründet
diese Annahme durch seine persönlichen Erfahrungen. Er hat
40 Fälle operirt, eine viel grössere Zahl von Erkrankungen des Pan¬
kreas beobachtet, in denen eine Operation verweigert wurde, oder bei
denen er glaubte, dass es besser sei, nicht zu operiren. Bei den Fällen
von eiteriger Pankreatitis hält er eine Eröffnung von hinten her für
vortheilhafter. Um den Ausführungsgang des Pankreas am bequemsten
zu erreichen, schneidet man am besten in der zweiten Partie des
Duodenum ein und eröffnet an der Papilla das Ende des Ganges. Von
Pankreaskrebs hat er 50 Fälle gesehen. Sie waren meist über
40 Jahre alt, und er ist der Meinung, dass die Fälle von schein¬
barem Pankreascarcinom, welche sich bei jungen Individuen finden, oft
chronische Pankreatiten sind, die dem Pankreascarcinom nicht nur in
den Symptomen, sondern auch im makroskopischen Sectionsbefunde
ähnlich sind. Nach der Beschreibung der Symptome betont Redner die
Wichtigkeit der Unterscheidung zwischen dem Carcinom des Pankreas¬
kopfes, des Corpus und der Cauda und die häufige Notliwendigkeit
eines chirurgischen Eingriffes, der von Nutzen nicht nur bei den
jungen, sondern auch bei älteren Individuen sein kann, besonders
wenn es sich um eine chronische Pankreatitis handelt. Die Amputation
des Pankreas bei Carcinom hält er selten für tlumlich und gerecht¬
fertigt, mit Ausnahme der Fälle, wo es sich um einen entweder auf
den Kopf oder die Cauda beschränkten Tumor handelt, oder wenn,
was nur ausnahmsweise möglich ist, die Operation noch im Anfangs¬
stadium ausgeführt werden kann. 13mal hat er die Cholecystotomie oder
die Cholecystenterostomie machen müssen, um die bedrohlichen Symp¬
tome zu erleichtern, von denen neun heilten und noch einige Zeit
ein erleichtertes Dasein führten. Er ist der Meinung, dass alle
die Fälle von angeblichem Carcinom des Pankreaskopfes, welche nach
der Operation geheilt wurden und jetzt noch gesund sind, chronische
Pankreatiten waren. Darum glaubt er auch in allen Fällen, wo die
Erkrankung noch nicht zu weit vorgeschritten ist, die Operation em¬
pfehlen zu müssen, nicht blos bei jungen Individuen, nicht etwa in der
Hoffnung, dass, wenn ein Carcinom vorliegt, eine Heilung eiutreten
könnte, sondern dass der Tumor ein entzündlicher und nicht maligner
sein könnte.
Von Pankreascyste hat er fünf Fälle operirt, und er em¬
pfiehlt hier die Incision und die Entleerung des Sackes. Von vier
Fällen, die er so operirt hat, sind drei genesen.
Aber die Excision hält er nur in seltenen Fällen für gerecht¬
fertigt. Was nun die Pankreatitis anlangt, so vergleicht er sie
mit der entzündlichen Hepatitis, der infectiöseu und suppurativen
Cholangitis und der chronischen interstitiellen Hepatitis und glaubt,
sie richtig theils mit dem Namen eines infectiösen Katarrhs der
Pankreasgänge belegen, theils als chronische interstitielle Entzündung
auftassen zu können. Er ist der Meinung, dass, je mehr sich die Dia¬
gnose vervollkommnet, umso häufiger die Krankheit erkannt und
besser classificirt werden wird. Vorläufig will er die Eintheilung in
acute, eiterige, hämorrhagische und gangränöse Pankreatitis annehmen.
Die Aetiologie der acuten Formen ist meist eine bacterielle Infection,
doch bieten auch Gastro-Duodenalkatarrh, Verletzungen, Paukreas-
und Gallensteine Gelegenheit dazu. Der Weg der Infection ist fast
immer der Ausführungsgang. Redner erörtert dann die Symptome und
die Diagnose und betont, dass die acute Pankreatitis ohne patho-
gnomische Zeichen einhergehen kann. Von vier Fällen von suppura-
tiver Pankreatitis, in denen sich ein Abscess gebildet hatte, sind zwei
nach der Entleerung des Abscesses auf lumbalen Wege geheilt, die
anderen beiden, in denen er vorne einging, gestorben. In diesen
beiden Fällen hat sich der Eiter in den Magen entleert und ist per
os zu Tage gekommen. Es werden dann noch die Details erörtert, um
den Abscess auf lumbalem, subdiaphragmatischen, epigastrischen Wege
oder vom Becken aus zu erreichen.
Auf die interstitielle chronische Pankreatitis
legt Robson grossen Werth, weil sie oft mit Carcinom verwechselt
wird. Er glaubt, dass diese Frage auch so eingehend studirt worden
ist, wie sie es verdient. Seine zahlreichen Erfahrungen lassen ihn zu
dem Resultate kommen, dass in diesen Fällen, wo die Verstopfung des
Ductus choledochus, der chronische Ikterus, die Schwäche, Abmagerung,
die heftigen Schmerzparoxysmen und das Fieber, welches die An¬
wesenheit von Gallensteinen vermuthen lässt, durch medieamentöse
Behandlung unter keinen Umständen gehoben werden können, ein
chirurgischer Eingriff dringend nothwendig ist. Von 15 Fällen der Art
hat er 14mal Heilung erzielt. In dem einen Falle, der unglücklich
ausging, hat die Autopsie eine Cirrhose des Pankreaskopfes er¬
geben .
Er glaubt, dass die interstitielle chronische Pankreatitis mit Ent¬
zündung des Ausführungsganges fast regelmässig die Begleiterscheinung
von Choledochussteinen ist.
Nach einigen Bemerkungen über die hämorrhagische
Pankreatitis, welche nach seiner Erfahrung an drei Fällen jedes¬
mal traumatischen Ursprunges war, kommt Robson zur Besprechung
der Pankreassteine. Es hält diese Affection für sehr selten und
im Allgemeinen nur erkennbar durch die Pankreatitis und die Ver¬
stopfung des Ductus choledochus, in Begleitung eventuell einer infec¬
tiösen Cholangitis. Hier will er in der mittleren Partie das Duodenum
incidirt wissen.
Discussion: Micha ux (Paris) berichtet über einige per¬
sönliche Erfahrungen. Einmal hat er nach einer Contusion des Bauches
eine Ruptur des Pankreas gesehen. Da er eine Naht nicht anlegen
konnte, begnügte er sich mit einer Klemme und Tamponade. Der
Patient ging zu Grunde. Er ist daher der Meinung, dass die Con-
tusionen des Bauches mit Ruptur des Pankreas ausserhalb der chirur¬
gischen Hilfe stehen. Was die cystischen Tumoren anlangt, so glaubt
er auch, dass man eine grössere Operation dabei nicht nöthig hat. Die
Fälle von Carcinom des Pankreas findet man bei der Operation ge¬
wöhnlich sehr weit vorgeschritten. Seine beiden Patienten, die er
operirt hat, lebten höchstens noch zwölf Tage.
Boeckel (Strassburg) ist auch der Meinung, dass die Ver¬
letzungen des Pankreas durch ihre schweren Hämorrhagien und die
Verletzungen der Nachbarorgane in kurzer Zeit zum Tode führen.
Von den zehn bekannten Fällen sind acht gestorben. Die einzige
rationelle Hilfe kann in Tamponade der Wunde bestehen, da das
Aufsuchen und die Ligatur der blutenden Gefässe nicht möglich sein
wird. Die Operation der Pankreascyste hält er auch für sehr einfach,
da der Tumor meistens mehr oder weniger beträchtlich hervorspringt
und die ihn bedeckenden serösen Häute miteinander eng verwachsen
sind. Man hat eben nur nöthig, auf den am meisten hervorspringenden
Punkt einzuschneiden. Bei den Aftectionen, die die Drüse selbst be¬
treffen, ist der Eingriff schon schwieriger und peinlicher, weil das
Organ sehr tief gelegen, von wichtigen und zahlreichen Gefässen um¬
geben ist, deren Verletzung oder Ligatur tödtliche Zwischenfälle nach
sich ziehen kann. Die Operation ist ausserdem beschränkt, weil man
nur kleine Stücke des Pankreas entfernen kann. Die Totalexstirpatiou
würde unbedingt einen schnell zum Tode führenden Diabetes im Ge¬
folge haben. Die Radicaloperation aller Processe, die die Drüse selbst
betreffen, lassen ihn dieselbe bei dem grossen Risico des Eingriffes
und den sehr geringen Vortheilen seiner Erfahrung nach nicht em¬
pfehlen.
*
Abtheilung für Histologie und Embryologie.
Referent Dr. S p.
Henocque (Paris) : U e b e r Spectroskopie und
Mikroskopie in der allgemeinen Anatomie.
Zwei Jahre nach Erfindung der Spectralanalyse durch Kirch-
hoff und Bunsen wurde diese neue Methode von Hoppe
782
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Seyler auf die Analyse des Blutes angewendet (18G2). Dies war
eine erste Studie in der allgemeinen Anatomie. '1 hatsächlich fand
dieser grosse Gelehrte im venösen Blute zwei färbende Substanzen, das
P hieb in und Arterin, welche derzeit reducirtes Hämoglobin und Oxy¬
hämoglobin benannt werden.
Bald folgten in England, Deutschland und Frankreich bedeu¬
tungsvolle Arbeiten, welche nicht blos die Beschaffenheit des Blut¬
pigmentes und seiner Derivate, sondern auch die des Urins, der Galle,
zahlreicher gefäibter Säfte des thierischen Haushaltes feststellen, indem
präcise Berichte geliefert wurden, welche auf Zusammensetzung, Um¬
bildung und die gegenseitigen Beziehungen der unmittelbaren Pigment¬
grundstoffe ein neues Licht warfen.
In Summa: Die Anwendung der Spectralanalyse ergibt ein Ganzes |
von Thatsachen, welche ich unter dem 'Eitel „Biologische Spectro¬
skopie“ in dem ersten allgemeinen Expose dieses Theiles der Biologie,
welcher zahlreiche und verschiedenartige Capitel enthält, zusammen- j
gestellt habe, die aber in ganz besonderer Beziehung zur allgemeinen
Anatomie und Histologie stehen.
Andererseits ist das Blut in Wirklichkeit vielmehr ein G e-
w ehe, als eine simple, eonstituirende Flüssigkeit ; dieses fliessende
Fleisch (chair coulante) von Borden, dieses interne Milieu
von Claude Bernard wird von den Ilistologen als ein Gewebe
mit flüssiger Grundsubstanz angesehen, dessen zellge Elemente den
Stoffwechsel mit allen anderen Elementen der Gewebe und dem
äusseren Milieu besorgen. Deshalb war das Blut der Gegenstand der
wichtigsten und wiederholtesten Untersuchungen, deren Ergebniss eine
vollständige Umwandlung in der Kenntniss der färbenden Substanz
des Blutes gewesen ist. Die Beschaffenheit, die Holle, die Function des
Hämoglobins, die Erscheinungen der Reduction und des Wechsels,
welches es im Innersten der Gewebe erfährt, sind mit einer Präcision
ei forscht worden, dass deren Anwendung auf Pathologie und Therapie
in der ärztlichen Praxis unter der Bezeichnung Hämatospectro-
skopie adoptirt und nutzbringend gemacht werden konnte.
Diese vorläufigen Anzeigen erbringen den genügenden Beweis,
dass die biologische Spectroskopie einen Theil der definitiven und
bestehenden Wissenschaft bildet, und wenn sie auch noch nicht das
Object eines speciellen Unterrichtes ist, so muss man bekennen, dass
ihre Aufnahme, besonders jene der Hämatospektroskopie, in den prak¬
tischen Arbeiten der verschiedenen Unterrichtszweige, so in der Physik
und Chemie, in mehreren medicinischen Facultäten, zu Paris, Mont¬
pellier, Bordeaux u. A. nunmehr die Verbreitung der Spectralanalyse
unter den Studirenden sicherstellt. Wir sind glücklich, diesen P^ort-
schritt constatirt zu haben.
Die Mikrospectroskopie umfasst alle Vorgänge, in
welchen die mikroskopische mit der spectroskopischen Untersuchung
vereint ist. Bei den ersten Versuchen prüfte man den Einfluss der
verschiedenen färbigen Theile des Spectrums auf die Gewebe und deren
Elemente, gegenwärtig aber studirt man seit der Anwendung des
Spectroskops bei direeter Betrachtung, wie mit dem Ocular des Mikro¬
skops, die Gewebe oder Organe oder mindestens deren durch die
Objectivlinse vergrössertes Bild mit einem Ocular, welches ein Spectro-
skop in sich einschliesst. Die zu diesem Zwecke verwendeten Apparate
sind fast alle mehr oder minder vollendet, dem Mikrospectroskop von
Sorby-Bro w n i g nachgebildet. Nichtsdestoweniger ist, wie ich
gezeigt habe, ein kleines Spectroskop mit direeter Vision, welches das
Ocular des Mikroskops ersetzt, für diese Studien ausreichend. In
Wirklichkeit kann man mit diesem einfachen Mittel zwei Streifen Oxy¬
hämoglobin in drei übereinandergelagerten rothen Kärglichen wahr¬
nehmen, was die ausserordentlich färbende Kraft dieses Pigments
ebenso wie die exquisite Empfindlichkeit dieses Mittels der Analyse
beweist.
Die mikrospectroskopische Untersuchung kann entweder mit
starken Vergrösserungen, besonders beim Studium der Zellenpigmente,
oder sehr vortheilhaft mit mittleren Vergrösserungen, wie bei den
Untersuchungen über die Veränderungen des Blutes in den Organen
kleinerer Thiere, in den Capillaren des Froschschenkels angewendet
werden. Endlich die schwächsten Vergrösserungen, die Loupe selbst,
sind für das Studium der verschiedensten Thierclassen, z. B. des
Froschherzens, des Herzens der Schildkröte und auderer Reptilien
und Batrachier sehr nützlich. Auf diese Art wird man die Phänomene
der Muskelcontraction, ihr Erscheinen in den rothen und weissen
Muskeln der Hasen studiren. Alle Organe, selbst die Retina, können
im lebenden Zustande, intact erhalten oder einfach blosgelegt, Gegen¬
stand der Spectroskopie sein, übei'all wo das Blut kreist und in allen
pigmentirten Geweben hat das Spectroskop in den letzten Jahren viel¬
fache Anwendung finden können. Man wird auch constatiren, dass
man das Hämoglobin bei verschiedenen Crustaceen, in den Larven der
Chirnnomus, der Nereiden sehr verschiedener Gattung vorfindet und
die Hämolymphen enthalten ebenfalls Pigmente, an denen man die
Wii kung des Sauerstoffes in den lebenden Organismen untersuchen
konnte. Bacteriologie und Botanik würden uns ebenfalls wichtige
spectroskopische Resultate für das Studium des Chlorophylls und
anderer Pigmente der Pffanzenorganismen liefern.
Schliesslich will ich das Interesse mikro-spectroskopischer Studien
für die Krystallographie besonders hervorheben, was nämlich die
Krystalle der Grundbestandteile des Organismus betrifft. Die spectro¬
skopischen Eigenschaften erleichtern und klären den Unterschied der
diversen Ilämoglobinkrystalle und seiner Derivate, deren krystallo-
graphische und optische Charaktere sehr complicirt und bis in die
Gegenwart sehr unvollständig dargestellt worden sind.
Dies ist eine Uebersicht der Beobachtungen, welche das umfang¬
reiche Gebiet der Spectroskopie in der allgemeinen Anatomie derzeit
umfassen.
*
Abtheilung für Kinderheilkunde.
Referent Dr. S p.
I. M y a (Florenz) : Die acuten, nicht tuberculösen
Meningitiden.
Wenn man als rationelle Basis der Classification von Krank¬
heiten das ätiologische Moment betrachtet, so entdeckt man sehr bald
eine natürliche und wohlunterschiedene Gruppe von Meningitiden
bacteriellen Ursprunges, bei welcher das pathogene Agens einige Formen
acuter und subacuter Hirnhautentzündungen zu unterscheiden gestattet,
welche ehemals künstlich als einfache, als purulente Meningitiden nach
der Art des Exsudates oder wohl unterschieden als solche der Basis
des Gehirnes, der Convexität, der Hirnkammern je nach dem beson¬
deren Sitze der Entzündung bezeichnet wurden. Heute hingegen in
Folge der exacten Kenntniss des pathogenen Mikroorganismus begreift
mau bei identischer Aetiologie mehrere nach ihrem Sitze, der Natur
des Exsudates und zuweilen auch nach den klinischen Symptomen
anscheinend verschiedene Formen, in analoger Weise, wie dies bei in-
fectiösen Entzündungen anderer seröser Häute geschehen ist.
Die grösste Zahl der Meningitiden in der ersten Kindheit, indem
wir uns an die Beobachtungen in Deutschland (Jäger, Heubner
u. A.), in Amerika und bei uns halten, ist durch den Mikroorganismus
von Weich sei bäum (Meningococcus intracellularis meningitidis)
erzeugt, welcher von dem Diplococcus lanceolatus capsulatus der Pneu¬
monie (Talamon-Fränke 1) nach seinen morphologischen und bio¬
logischen Eigenschaften wohl unterschieden werden muss.
Die durch jenen Mikroorganismus hervorgerufenen klinischen
Typen reduciren sich hauptsächlich auf zwei (ungerechnet zahlreiche
Varietäten) :
a) Der acute oder überacute Typus mit den gewöhnlichen
Zeichen der Meningitis cerebrospinalis epidemica, also: ausgesprochene
Nackensteife, Opisthotonus, Erbrechen, tetanische Symptome, hohes
Fieber u. s. w. Das Exsudat ist in derlei Fällen abundant, über die
ganze Oberfläche des Gehirnrückenmarkes verbreitet und eminent fibrinös
eiterig. Der Mikroorganismus ist reichlich, mitunter extracellulär, in
der Mehrzahl der Fälle auf sensible Thiere (Mäuse, Ziegen) bei sub¬
duraler Injection von pathogener Wirkung.
Die Dauer der Krankheit schwankt zwischen drei bis zwölf Tagen;
Verlauf beinahe immer tödllich; zuweilen Abschwächung in nach¬
folgende Form:
b) Unteracuter, subacuter Typus, der sich zuweilen auf mehrere
Monate ausdehnt. Die von Carr als Simplex basis posterior-Menin-
gitis beschriebene Form gehört in diese Kategorie. Sie ist häufiger
im niedrigsten Alter (Säuglinge, erste Kindheit).
Bei diesem klinischen Typus prädominiren ebenfalls die Sym¬
ptome des Tetanus, allein viel schwächer, wie beim Typus a. Das
Exsudat weniger reichlich, weniger eiterig, kann auf die Basilar- und
hintere Region während des ganzen Krankheitsverlaufes beschränkt
bleiben. Das mittelst Lumbarpunction extrahirte Exsudat hat oft serösi n
Charakter (Meningitis serosa durch Diplococcus intracellularis). Der
Mikroorganismus, viel weniger abundant wie bei dem Typus a, ent¬
behrt zuweilen der pathogenen Wirkung auf sensible Thiere. Diese
Krankheit kann radical ausheilen, in das Stadium secundärer Hydro-
cephalie übergehen, oder den Tod herbeiführen durch secundäre Krank¬
heiten, oder durch Wioderkehr zur acuten Form und allgemeine Aus¬
breitung der Entzündung, indem auf diese Art der vorbesebriebene
Typus zurückkehrt.
Nächst dem oben erwähnten Meningococcus von Weichsel¬
baum ist bei Kindern niedrigen Alters das am häufigsten Meningitis
erzeugende Bacterium des Diplococcus lanceolatus capsulatus. Die von
diesem hervorgerufene klinische Form hat im Allgemeinen einen
acuten Verlauf, sehr schwere Prognose und pol}7morphe, viel weniger
charakteristische Symptome, als die durch den Meningococcus von
Weichselbaum erzeugten. Die Exsudation ist diffus, beinahe
immer fibrinös und eiterig; manchmal fehlen bei eminent serösem Ex¬
sudate die umschriebenen Formen nicht.
Nr. 34
783
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Bei diesen Meningitiden muss man den Ergebnissen der Lumbar-
punetion misstrauen, besonders was den Anblick der extrahirten Flüs¬
sigkeit, welche zuweilen serös ist., betrifft, während das in den Geweben
der Arachnoidea vorfindliche Exsudat oft fibrinös-eiterig ist. Die durch
Diplococcus lanceolatus capsulatus erzeugte Meningitis ist von Pneu¬
monie, Otitis oder einer anderen Localisation häufig begleitet, oder
sind die letzteren vorausgegangen.
Die durch Streptococcus pyogenes erzeugten Meningitiden sind
seltener, als die vorbeschriebenen Arten, und zumeist seeundär in
Folge von Septikämie oder einer in der Umgebung der Schädelhöhle
bestehenden Eiterung. Das Gleiche gilt von Staphylococcen.
Was die durch Bacterium coli, Bacillus E berth und andere
seltenere Mikroorganismen bedingten Formen betrifft, so kommen
diese im zarten Kindesalter selten vor, haben keine specifischen Sym¬
ptome und ihre Diagnose ist nur durch die Untersuchung des mittelst
Lumbarpunction gewonnenen Fluidums möglich.
Der Weg, welchen die pathogenen Organismen nehmen müssen,
um in die Subarachnoidal) äume zu gelangen, ist durch die Blutcircu-
lation vorgezeichnet — hämatogene Infection. Dio Infection kann aber
auch von Krankheitsherden stattfinden, welche mit dem Schädelraume
communiciren (Gehörorgan, Nasenhöhle u. s. w.).
Der natürlichen Gruppe der bacteriellen Hirnhautentzündungen
stellt man die Gruppe von Entzündungen gegenüber, welche toxisch -
infectiösen oder toxischen Ursprunges sind und als Hydrocephalus
acutus, acute Ependymitis, Meningitis der Kammern oder seröse,
nicht bacterielle Hirnhautentzündung bezeichnet werden. Für einige
derselben fehlen die Erscheinungen einer wahren Entzündung, eines
echten Exsudates, sowie die Spuren einer bestandenen oder bestehenden
Entzündung in den Wänden der Hirnkammern. Für diese Formen,
welche zuweilen zu infectiösen Krankheiten verschiedener Localisation
(Pneumonie, Typhus, Exantheme, Gastroenteritis) hinzutreten und durch
imposante klinische Symptome markirt sind, wäre die Benennung
Hydrocephalus acutus, Hyperhydrosis cerebrospinalis statt Meningitis
vorzuziehen.
Andererseits scheinen exacte und zahlreiche Beobachtungen den
Beweis erbracht zu haben, dass gewissen serösen Ergüssen in den
Hirnkammern toxischen Ursprunges, nach den Ergebnissen chemischer
und mikroskopischer Untersuchung, der Entzündungscharakter zuzu¬
sprechen ist.
Der pathogenetische Vorgang bei diesen Alten der Entzündung
bleibt immer dunkel und man kann zu seiner Erklärung nur auf
folgende Factoren rechnen:
a ) Reizende, lymphagoge und vasomotorische Wirkung von
primären und secundären Toxinen bacteriellen Ursprunges.
I) Specielle, der ersten Kindheit eigentümliche Empfindlichkeit
des cerebralen Capillarnetzes für die erwähnten toxischen Einflüsse.
Uebrigens ist es wahrscheinlich, dass das hauptsächliche Wirkungs¬
gebiet der Toxine bacteriellen oder autotoxischen Ursprunges in der
klinischen Symptomatologie der Meningitis durch das Centralnerven¬
system repiäsentirt wird und die Schwankungen in der Quantität der
Flüssigkeit in den Gehirn- und Rückenmarkshäuten nur ein Neben¬
symptom von untergeordneter Bedeutung darstellen, wie dies aus den
immer zahlreicheren Beobachtungen toxiscli-infectiöser oder autotoxischer
Cerebropathien hervorgeht.
II. Netter (Paris) : Acute, nicht tuberculöse Menin¬
gitis.
Neben den tuberculösen Meningitiden existirt eine grosse Zahl
von Meningitiden, deren Prognose weniger düster ist und eine rationelle
Behandlung ermöglicht.
Diese Entzündungen sind verschiedener Natur. Man muss
secundäre Entzündungen bei Otitis, bei verschiedenen Eiterungen, nach
allgemeinen oder localen acuten Erkrankungen (Typhus, Pneumonie),
endlich primäre endemische oder sporadische Entzündungen unter¬
scheiden.
Jede dieser Gruppen bietet dem Kliniker und Nosographen be¬
trächtliche Schwierigkeiten.
Wenn man sich leicht vorstellen kann, dass eine acute Otitis
durch eine Entzündung der Hirnhäute complicirt wird, so darf man
nicht vergessen, dass diese Ohrentzündung mit Sinusthrombose,
Phlebitis, Gehirnabseess verbunden sein kann, welche die gleichen
nervösen Symptome hervorrufen wird, wie die Meningitis selbst.
Uebrigens können diese Symptome bei einfacher acuter, nicht compli-
cirter Otitis auftreten.
Begreifen die im Verlaufe acuter Kinderkrankheiten und be¬
sonders im Beginne der Pneumonie sich einstellenden meningealen
Symptome in sich den Bestand einer entzündlichen Alteration der
Meningen? Man war lange Zeit geneigt, dies mit Rücksicht auf die
Flüchtigkeit der Symptome und die Idee der exceptionellen Schwere
der Meningitiden zu bezweifeln. Heutzutage gibt man gerne zu, dass
letztere nicht nothwendig eiterig sein müssen, dass die „Entzündung“
sich auf Congestion, seröse Exsudation beschränken kann. Man begreift
vollständig die Heilungsmöglichkeit seröser Meningitiden.
Die einfachen primitiven Meningitiden erheischen eine andere
Frage. Können sie in epidemiofreier Zeit Vorkommen? Besteht ein
fundamentaler Unterschied zwischen der Meningitis cerebro spinalis
epidemica und sporadischen Meningitis? Die Bacteriologie gibt hierauf
dieselbe Antwort wie die Epidemiologie. Zwischen sporadischen und
epidemischen Fällen gibt es keine strenge Grenzlinie. Von jedem
kleinen Herde aus kann eine Epidemie entstehen. Gegenwärtig scheint
die Meningitis auf einem grossen Theile der Erde einen epidemischen
Charakter anzunehmen.
Ausser den classischen Zeichen der Entzündung, unter denen
sicher die Lähmungen der Augenmuskeln, die Alterationen im Augen-
hintergrunde, die Nackenstarre, die Veränderungen in Respiration und
Puls, die wichtigsten sind, besitzen wir noch zwei wichtige Kenn¬
zeichen.
Auf das Symptom von Kernig, nämlich Unmöglichkeit, die
Knie vollständig zu strecken, wenn man den Kranken sitzen lässt,
sollte man nicht zu viel Werth legen. Zwar fehlt es fast nie bei den
nicht tuberculösen Meningitiden, kommt aber auch bei den meisten
tuberculösen Entzündungen vor, man kann demnach nie nach diesem
Symptomen die Natur einer Meningitis feststellen. Selten sind die
Fälle, wo das Symptom von Kernig ohne Meningitis bestand, man
muss sich fragen, ob selbe sicher nicht vorhanden gewesen ist.
Die lumbäre Punction nach Quincke liefert der Diagnostik die
schätzbarsten Aufschlüsse. Die Operation bietet keine Schwierigkeit,
wenn man nur die Flüssigkeit nicht zu rasch abfliessen lässt. Die
Diagnose der Meningitis ist evident, wenu sich eine trübe oder
eiterige, Klümpchen enthaltende Flüssigkeit entleert.
Häufig erscheint das Fluidium der Meningen anfänglich ganz
klar, in der Folge sieht man doch die Bildung eines Fibrin¬
gerinnsels.
Die Untersuchung der physikalischen Eigenschaften der Flüssig¬
keit reicht nicht aus; man muss den Albumingehalt feststellon, mikro¬
skopische Untersuchung, Culturen und Inoculationen vornehmen. Ge¬
wöhnlich wird man daraus Natur und Ursache der Meningitis ent¬
nehmen.
Die von Aufrecht eingeführte Warmbadbehandlung ist ein
werthvolles Heilmittel. Bei eiterigen Meningitiden können wiederholte
Lumbarpunctionen von Nutzen sein.
*
Abtheilung für Dermatologie und Syphiligraphie.
Referent Dr. Sp.
I. Boeck (Christiania): Ueber Tuberculide. Im Beginne
der Discussion über die neue Theorie der „Tuberculiden“ ist es vor
Allem nothwendig, die Thatsachen und Hypothesen darüber fest¬
zustellen.
Thatsächlich besteht eine Reihe von llautaffectionen, welche in
der Regel eine strict symmetrische Form annehmen und sich häufig
bei tuberculösen Individuen vorfinden, dass man nothwendig auf das
Bestehen eines causalen Zusammenhanges zwischen denselben und der
Tuberculöse schliessen muss. Jedes Mal fehlt der Koch’sche Bacillus
oder man trifft ihn nur ausnahmsweise; auf Meerschweinchen über¬
impft geben die Producte dieser Aftectionen niemals oder nur aus¬
nahmsweise positive Resultate. Nach Injectionen von Tuberculin ist die
Reaction inconstant.
Um diese scheinbar widersprechenden Thatsachen zu erklären,
stellte man folgende Hypothese auf: Die primäre und essentielle Rolle
bei der Entstehung dieser Hautleiden gebührt den von den Bacillen
entstehenden Toxinen, die sich in den Ganglien und Lingeweiden
entwickeln; Hallopeau naunte sie dieser Hypothese entsprechend
„Toxi Tuberculides“.
Glücklicher Weise kommt hier die giüsste Bedeutung den rl hat-
sachen zu, welche erprobt weiden können und der hypothetische I li eil
der Doctrin hat den geringeren Antheil.
Nichtsdestoweniger hat letzterer eine sehr grosse W ahrscheinlich¬
keit für sich, denn die Hypothese allein scheint gewisse lacten ei-
klären zu können.
Zu Gunsten dieser Meinung besteht ein wichtiges Argument:
Die verschiedenen Formen der wirklichen Hauttuberculose (Bacillo-
Tuberculides von Hallopeau), welche das Resultat einer directen
und localen Reaction der Haut gegen den Bacillus seihst sind, zeigen
im Allgemeinen eine unregelmässige und zufällige \ ertheilung in der
Haut. Dies ist die Regel sowohl für den Lupus vulgaris, als für die
scrophulosen Gummen. Wie oft sieht man eine der Gliedmassen von
Lupus vulgaris befallen, während die andere absolut frei davon ist.
Die Entwicklung der Läsionen scheint hier durch die zutällige Invasion
der Mikroben in diese oder jene Region bedingt zu sein. Die Aftec-
tionen, welche wir später als „Toxi-l uberculides betiaehten weiden,
784
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 34
verhalten sich sehr verschieden. Diese nehmen in Wirklichkeit als all¬
gemeine Kegel ihrer Yertheilung eine sehr ausgesprochene Symmetrie
an und häufig sind sie in verticalen Reihen angeordnet. Es erscheint
also nothwendig, dass die Localisation durch einen regulirenden cen¬
tralen Einfluss des Nervensystems bestimmt sei. Die Symmetrie ist oft,
wie z. B. beim Lupus erythematodes, so frappant, dass man um dies zu
erklären, speciell bei den sehr acuten und brüsken Ausbrüchen in
Verbindung mit sehr deutlichen vasomotorischen Störungen, einen Ein¬
fluss der circulirenden Toxine auf die vasomotorischen Centren zuzugeben
gezwungen ist.
Es ist wahr, man könnte, was die mehr zerstreuten Tuberculide
anlaugt, daran denken, dass die Mikroben beide Körperseiten sym¬
metrisch ergriffen haben, in Erwägung der bilateralen symmetrischen
Structur der Gewebe, besonders der Blut- und Lymphbahnen, und
dass die in allen mikrobischen Herden sich gleichzeitig entwickelnde
eruptive Thätigkeit das Resultat einer plötzlichen toxischen massen¬
haften Invasion in das Blut wäre, beiläufig so wie nach einer Tuber-
culininjection.
Aber gerade so wie ich es für die sehr umschriebenen, sehr
symmetrischen und sehr acuten Hauteruptionen behauptet habe, ist
man geradezu geuöthigt eine primäre Intervention der vasomotorischen
Centren unter dem Einflüsse eines im Blute kreisenden Toxins zuzu¬
geben, und es ist kein Grund vorhanden oder es besteht wenigstens
keine Nothwendigkeit, anzunehmen, dass bei den mehr disseminirten
Eruptionen ein anderer Vorgang stattfinde.
In jedem Falle scheinen die Toxine in einer sehr bestimmten
Art sich an der Genese der Tuberculiden zu betheiligen, und zwar
auffallend symmetrisch, und es ist daher am Platze, sie in eine Special¬
gruppe zu vereinigen. Was die Toxine des K o c h’schen Bacillus be¬
trifft, so zeigen die Tuberculininjectionen, dass dieselben ausser anderen
nervösen Centren in gleicher Weise die vasomotorischen Centren be¬
einflussen können und thatsächlich beobachtet man sehr häufig
acute und genau symmetrische Erytheme nach den Tuberculin¬
injectionen.
Die Symmetrie ist also ein sehr wichtiges Kenn¬
zeichen der Tuberculide.
Nun ist es also klar, dass die im Blute und in der Lymphe
kreisenden Mikroben sich vor Allem und sogleich in jenen Punkten
festsetzen werden, wo eine Circulationsstörung schon besteht, und es
ist dahei nicht zu verwundern, dass man in den Läsionen der Toxi-
Tubereulide einige wenige Bacillen vorfindet, oder dass ein Toxi-
Tuberculid durch Proliferation und Entwicklung dieser verirrten
(erratiques) sich in ein wirkliches Bacillo-Tuberculid (Hauttuberkel)
verwandle, wie ich in einem Falle von Lichen scrophulosorum beob¬
achtet zu haben glaube.
Die präeise Grenze zwischendengewöhnlichen
Formen der Hauttube rculose und den Hauttube r-
culiden ist seither meiner Anschauung nach markirt,
nicht durch die Anwesenheit einiger Bacillen oder
einiger typischer Riesenzellen in den Läsionen oder
durch deren Abwesenheit — sondern im Gegen theile
durch die Art des Auftretens der gesammten Affec¬
tion und ihrer Vertheilung in der Haut; wie ich
berei ts au sein andergesetzt habe, ist die vollkommene
Symmetrie oder As Symmetrie der Läsionen das
beste Kriterium.
Ausserdem sind die Tuberculide, wie bereits erwähnt, durch
ihre eruptive Natur und durch die gewöhnliche Tendenz einer spon¬
tanen Involution gekennzeichnet; man gewahrt nicht, wie bei den
fixen Formen des Lupus erythematodes, den Process durch die unauf¬
hörliche Wiederholung des Ausschlages in Permanenz.
Uebrigens muss man erkennen, dass die Grenze zwischen Haut-
tuberculose und Hauttuberculiden weniger streng werden kann, in der
Voraussetzung, dass Bacillen oder Toxine die Entwicklung wenigstens
gewisser dieser Tuberculide, vielleicht auch der Mehrzahl zwischen
denselben zur Folge haben kann.
Die Hypothese der Toxine hat natürlich keine andere Bedeutung,
als eine angemessene Erklärung der Thatsachen zu geben und die
Annahme leichter begreiflich zu machen, dass die Affectionen von
Tuberculose abhängig sind.
Immerhin sind, wie schon erwähnt, die Thatsachen selbst von
hervorragender Bedeutung.
Um die Zusammenfassung aller Formen der Tuberculide zu
unterstützen, ist es gut, dieselben in zwei Hauptgruppen zu theilen:
A. Formen, perifolliculär und oberflächlich, in
deren einem Theile man s e h o n den Bacillus ge¬
funden hat.
1. Lichen scrophulosorum.
2. Papulo-squamöse Tuberculide.
3. Perifolliculäre, pustulöse Tuberculide.
B. Formen, imAllgemeinenniclitperifolliculär,
die im Allgemeinen viel tiefer in der Haut gelegen
sind und in denen man bis jetzt die Existenz des
Bacillus nicht nachweisen konnte.
1. Lupus erythematodes, inbegriffen Lupus pernio.
2. Papulo nekrotische Tuberculide.
3. Knötchen-Tuberculide.
Jedoch wollen einige Collegen die erste Gruppe ausseheiden
und nur jene Affectionen, bei donen man den Bacillus nicht findet,
als Tuberculide bezeichnen. Aber ich setze voraus, dass Alle zugeben
werden, dass die Formen der ersten Gruppe nach Aussehen und
Eigenschaften sich mehr mit unserer zweiten Gruppe der Tuberculide
verbinden werden, als mit jenen bisher in die Hauttubereulose einge¬
reihten Formen. In jedem Falle scheint die Bezeichnung „An the me
der Tuberculose“ allen diesen Formen zu entsprechen.
Uebrigens gibt es noch einige Affectionen, bei denen die Ent¬
scheidung unmöglich ist, ob sie der Gruppe der speciell als Tuber¬
culide benannten angehören oder nicht.
Nichtsdestoweniger kann man von einigen derselben mit Sicher¬
heit sagen, dass sie tuberculösen Ursprunges sind oder von anderen,
dass sie in jedem Falle in irgend einer Weise zu der Tuberculose in
Beziehung stehen. Diese Affectionen sind die folgenden:
1. Acnitis. 2. Indurirtes Erythem, Speeialtypus von Bazin.
3. Angiomatose Tuberculide von L e r e d d e. 4. Exfoliative, generali-
sirte (?), subacute, maligne Dermatitiden. 5. Pityriasis rubra gravis
von H e b r a.
Wollte man nach den vorgehenden Auseinandersetzungen
Schlüsse ziehen, so könnte man dieselben so formuliren:
1. Die Grenze zwischen Hauttuberculosen und Hauttuberculiden
ist nicht sehr fest. Es gibt successive Uebergänge.
2. Nichtsdestoweniger ist es aus theoretischen und praktischen
Gründen angezeigt, die Hauttuberculide in eine bestimmte Gruppe
einzureihen.
II. Prof. Camp an a (Rom): Die Tuberculide. Mehrere
Autoren haben schon über die Tuberculide im Allgemeinen und die
Bedeutung ihres Erscheinens in den tuberculösen Processen gesprochen.
Aus diesem Grunde glaube ich nicht, über die Ausdehnung und
Bedeutung, die dieser Benennung zugegeben ist, sprechen zu müssen.
Meine Aufgabe ist, zu ergründen, welcher Ursache man die Pro¬
duction der Tuberculide zuschreiben müsse und zu untersuchen, ob sie
alle wieder in die Kategorie der Hauttuberculosen zurückkehren werden,
indem man in gleicher Weise die Läsionen toxischen und jene bacillären
Ursprungs in Betrachtung zieht.
Wir verdanken es Hallopeau, die Bezeichnung des Wortes
„Tuberculid“ auf Manifestationen beiderlei Ursprungs ausgedehnt zu
haben.
Ich werde hinzufügen, dass wir Darier die Anwendung des
Wortes Tuberculid vei danken, um damit die tuberculösen Toxidermien
zu bezeichnen.
Ich will noch bemerken, dass ich nicht die Absicht habe, über
Tuberculide im Allgemeinen zu sprechen, weder im Sinne Hallopeau’s,
noch in jenem Darier’s; ich will hier nur die ätiologische Seite der
Frage behandeln, nicht die Aetiologie der Dermatosen, welche sie um¬
fassen kann, sondern einen sehr begrenzten Theil der pathologischen
Manifestationen der Tuberculose.
Die Arbeiten von M a f f u c c i und Koch haben unsere Kennt¬
nisse sehr erweitert über die Bedeutung des Tuberkelbacillus in der
Erzeugung einer allgemeinen Intoxication, welche einen sehr schworen
Zustand nicht blos bei dem der Vergiftung unterworfenen Thiere,
sondern auch bei den Jungen eines so vergifteten Weibchens her¬
vorbringt.
Die Vielfachhoit der das Tuberculin zusammensetzenden Sub¬
stanzen und die verschiedenartigen toxischen oder nichttoxischen Eigen¬
tümlichkeiten derselben geben zu verschiedenartigen experimentellen
Manifestationen Anlass. Man weiss, dass das Tuberculin R eine sehr
schwache, locale, reizende Wirkung auf die entfernten Punkte jeder
tuberculösen Localisation ausübt, während das alte Tuberculin eine
sehr intensive Reizwirkung auf die Gefässe und das Nervensystem,
besonders auf das neurovasculäre System ausübt.
(Fortsetzung folgt.)
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900. Nr. 35.
Verlag von WILHELM BRAUMÜLLER, Wien und Leipzig.
f\ir Aeizte und OuLrgeiste.
113 Bändchen. 8°. Mit Illustrationen, Karten und Plänen.
Nr. 37. Abbazia von Prof. Dr. Glax und Dr. Igo Schwarz.
3 K — 2 M. 50 Pf.
„ 28. Achensee in Tirol. 1 A — 1 M.
„ 52. Admont von Th. Weymayr. 1 A 20 A — 1 M. 20 Pf.
„ 1. A reo von Dr. 0. Gerke. 2 A 40 h — 2 M.
„ 92. Arco von Dr. J. Schreiber. 2 A — 2 M.
„ 22. Arco von Dr. G. v. Kottowitz. 1 A 40 A — 1 M. 40 Pf.
„ 25. Attersee, Mondsee und Wolfgangsee von E. Keiter.
„ 1 A 20 A — 1 M. 20 Pf.
„ 31. Aussee von V. Konschegg. 2. Aufl. 1 A 60 A — 1 M. 60 Pf.
„ 90. A us see, Karte von. 3. Aufl. 1 A — 1 M.
„ 6. Baden bei Wien von Dr. J. Hoffmann. 2 A — 2 M.
„ 24. Baden von Dr. J. Schwarz. 3. Aufl. 1 A 60 A — 1 M. 40 Pf.
„107. Baden bei Wien von Dr. A. W ettendor fer. 2. Aufl. 1 Ä” 80 A
— 1 M. 50 Pf.
„ 102. Baden präs de Vienne par le Dr. Wettendorfer. 2 A — 2 M.
„ 38. Baden-Baden und seine Thermen von Dr. W. H. Gilbert.
2. Aufl. 3 K — 2 M. 50 Pf.
„ 108. Bartfeld von Dr. H. Hintz. 1 A 60 A — 1 M. 40 Pf. —
„ 93. Böhmens Heilquellen von Dr. H. Kisch. 5 A — 5 M.
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„ 94. Carlsbad von Dr. Hertzka. 2. Aufl. 2 A 40 A — 2 M.
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„ 36. FranzensbadvonDr.G.Loimann. 3. Aufl. 1 A407« — 1M.20PL
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„ 110. Fusch. — St. Wolfgang-Fusch von Dr. Fuchshofer.
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„ 5. Gastein von Dr. G. Pröll. 5. Aufl. 2 K 40 h — 2 M.
„ 44. Gastein von Dr. E. Bunzel. 7. Aufl. 2 A 40 A — 2 M.
„ 111. Gastein von Dr. A. Wassing. 2. Aufl. 1 A 80 A — 1 M. 50 Pf.
„ 13. Giesshübl-Sauerbrunn von Dr. Löschner und Dr. Willi.
Gastl. 13. Aufl. 2 A — 1 M. 80 Pf.
„ 34. Gleichenberg v. Dr. C. Höffinger. 6. Aufl. 4A80A — 4M.
„ 98. Gleichenberg von Dr. A. Ivan di. 2 A — 2 M.
„ 8. Gleichenberg von Dr. C. Clar. 1 A 20 A — 1 M. 20 Pf. i
„ 61. Gmunden von Dr. H. W ol fsgruber. 2. Aufl. 1A20A lM.-20Pf. \
„ 87. Goisern. 2. Aufl. 1 A 20 A — 1 M.
„ 42. Görz von Dr. Schatzmeyer. 1 A 60 A — 1 M. 60 Pf.
„ 53. Gräfenberg von Dr. Kut scher a. 2 K — 2 M.
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Telephon Nr. 3373.
Verlag von Wilhelm
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, O. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner,
M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann,
R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, G. Toldt, A. v. Vogl,
J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gussenhauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel.
Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VII 1/1,
Abonnementspreis
jährlich 20 K — 20 Mark.
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XIII. Jahrgang.
Wien, 30. August 1900.
Kr. 35.
X IST HEBE -A- Xj T:
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel: 1. Pathogenese des Ikterus. Von Prot. Browicz in
Krakau.
2. Aus der I. chirurgischen Klinik des Herrn Hofrathes Professor
Albert. Erfahrungen mit Dr. C. L. S c h 1 e i c h s Marmots taub-
seife. Von Dr. Ernst Fuchsig, Operationszögling.
II. Referate: Statistische Beiträge zur Lehre von der Scrophulose. Von
Prof. Monti. Ref. G a 1 a 1 1 i. — Syphilis. Von Dr. I. Neu¬
mann. Ref. Prof. M. v. Z e i s s 1.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Therapeutische Notizen.
V. Vermischte Nachrichten. . ..
VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressbenchte.
Pathogenese des Ikterus.
Von Prof. Browicz in Krakau.
Vortrag, gehalten auf dem Congresse polnischer Naturforscher und Aerzte in
Krakau den 23. Juli 1900.
Der Uebertritt von Galle in den allgemeinen Kreislauf,
was sich durch gallige Färbung der Gewebe kundgibt, charakte-
risirt den Ikterus. Betreffs der Fragen, unter welchen Bedin¬
gungen und auf welchen Wegen dieser Uebertritt von Galle
in den allgemeinen Kreislauf zu Stande kommt, ferner ob sich
dieser Vorgang bei allen Formen von Ikterus gleich verhalte,
sind die Meinungen noch sehr verschieden.
Es unterliegt heute keinem Zweifel, dass die Leber die
alleinige Quelle des Gallenfarbstoffs ist, sowie dass alle Formen
von Ikterus durch Aufsaugung von Galle innerhalb der Uebei
zu Stande kommen. Denn obwohl Hämatoidin, welches in Blut¬
extravasaten entsteht, in chemischer Hinsicht mit dem Bilirubin
identisch ist, so ist die Quantität von Hämatoidin selbst innei -
halb grösserer Blutextravasate zu gering, bildet sich dasselbe
zu langsam, als dass dasselbe als die Quelle des Ikterus be¬
trachtet werden könnte, welcher sich manchmal in Folge von
Blutextravasaten beim Menschen beobachten lässt ^ deL
Vorgang des Entstehens des Ikterus in Folge von Blutextra¬
vasaten ist, wie es Quincke1) mit Recht hervorhebt, so auf¬
zufassen, dass in dem Extravasat Hämoglobin aus den Blut¬
körperchen in Lösung kommt, in die Circulation gelangt und
in der Leber zu Bilirubin verarbeitet wird, der Ikterus nach
Blutextravasaten also ein Ikterus pleiochromicus ist. Die An¬
nahme nach den älteren Auffassungen eines hämatogenen, an¬
hepatischen Ikterus ist ebenso unhaltbar, wie die Annahme
eines Suppressionsikterus; wir sind nicht berechtigt, das Vor¬
kommen von Ikterus ohne Betheiligung der Leber anzunehmen.
Man betrachtet allgemein das mechanische Moment als
die gewöhnliche Hauptursache des Uebertrittes von Galle^ in
den allgemeinen Kreislauf, als die häufigste Ursache des Ent-
') Die Krankheiten der Leber. Specielle Pathologie und Iherapie
von Nothnagel. Bd. XIII, pag. 143.
ehens des Ikterus. Das mechanische Moment soll nach der
häufigen Anschauung auf solchen pathologischen Vorgängen
i den Gallenwegen oder im Leberparenchym beruhen, welche
3n normalen Abfluss der Galle erschweren oder hemmen wo-
urch die Aufsaugung der Galle durch die Lymphgefäße,
idlich auch durch die Blutgefässe, Blutcapillaren zu Stande
ommt. Wenn sich nämlich in Folge eines mechanischen
[indernisses Galle in den Gallen wegen immer mehr ansammelt,
nstaut, ja selbst eine Rückstauung der Galle bis m die kleinsten
fallen wege zu Stande kommt, entsteht zunächst eine Resorption
on Galle durch die Lymphbahnen, sodann häuft sich aber die
falle mehr und mehr auch in den intraaemösen Gallencapillaren
nd den Leberzellen selbst an, und es kann sich schliesslich
in mikroskopisch nachweisbarer Einbruch der angestauten
lalle in die Blutcapillaren nachweisen. Die Gallenstauung und
lachherige Rückstauung der Galle bis in die kleinen Gallen-
vege und Gallencapillaren bezieht man auf verschieden gradige
Verengerungen oder Verschluss der grossen Gallengange duic
Farben oder eingekeilte Gallensteine oder durch Geschwülste,
velche sich in den Gallengängen selbst entwickelt haben oder
ron aussen dieselben comprimiren. Ferner auch durch En -
iündungsherde, Abscesse, Bindegewebswucherungen oder
Geschwülste, welche innerhalb der Leber selbst liegen
liedurch Compression und Zerrung oder auch durc i vo i^
Obliteration von kleineren Gallengängen den Abfluss der Galle
ins den kleinen Gallengängen und Gallencapillaren behin u n.
Manchmal, ja sogar nicht selten, ist es schwer, ja selb
inmöglich, irgend ein mechanisches Moment anatomisch nac i-
zuweisen. Selbst in derlei Fällen war man bestrebt, eine Be¬
hinderung des Abflusses der Galle aufzudecken. Den 0.
z B bei Pneumonie hat Ponfick darauf zuruckfuhren
wollen, dass in Folge der Verminderung der respira oi nschen
Excursionen des Zwerchfells ein wichtiger Factor für ‘ die *ort
bewegung der Galle wegfällt. Der Ikterus bei Herzkianken
We auf die Verminderung des Blutdruckes oder die Com¬
pression der feineren Gallenwege durch die erweit®^ " ,
capillaren bezogen. Der bei Infecflonskrankheiten auft™tende
Ikterus wurde auf complicirende Darmkatarrhe zui ^
786
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 35
und als katarrhalischer Ikterus gedeutet. Bei pathologischen
Zuständen der Leber, wo man nicht irgend ein mechanisches
Moment der Behinderung des Abflusses der Galle aus den
Gallencapillaren aufflnden kann, führte man den Ikterus auf
den Einfluss vergrösserter, gleichsam gequollener Leberzellen
zurück, durch welche die Gallencapillaren comprimirt sein
sollen, auf den Katarrh feiner Gallenwege, auf die Verlegung
derselben durch körnige pigmentirte Masson, durch desquamirte
und gequollene Epithelien. Hanot2) gibt als Ursache mancher
Fälle von Ikterus morphologische Veränderungen und Ver¬
lagerungen der Leberzellen an, die zu einer Verschiebung der
Leberzellenbalken, einer dissociation des travees, führen sollen.
Es kommen jedoch gar nicht selten Fälle von Ikterus
vor, in denen man keine von den angeführten mechanischen
Ursachen, die den Abfluss der Galle behindern könnten, weder
nachweisen noch annehmen kann, in denen weder makro¬
skopisch innerhalb oder ausserhalb der Leber noch bei der
scrupulösesten mikroskopischen Untersuchung ein den Gallen¬
abfluss irgendwie behinderndes Moment nachzuweisen ist, und
dennoch Ikterus mit allen ihn charakterisirenden Merkmalen da ist.
Nebenbei muss ich erwähnen, dass ich auf Grund meiner Unter¬
suchungen die Existenz eines Katarrhs, Ablösung der Epithelien
und Verlegung der feineren Gallenwege, der interlobu’ären
und der in den Randpartien der Leberacini existirenden, mit
Epithel ausgekleideten Gallengänge nicht annehmen kann.
In solchen Fällen beziehen den Ikterus Minkowski,
Liebermeister, Pick auf besondere functionelle Störungen
der Leberzellen ; Minkowski drückt sich folgendermassen
aus: »Die besondere Eigenschaft der Leberzelle, vermöge deren
sie es vermag, gewisse Stoffe nach den Gallenwegen, andere
nach den Blutgefässen oder Lymphwegen zu leiten, also den
Gallenfarbstoff nach den Gallenwegen, Zucker und Harnstoff
nach dem Blute hin auszuscheiden, ist offenbar an die normale
Ernährung und normale Function der Zelle selbst gebunden.
Störungen dieser Function der Zelle können auch ohne mechanische
Behinderung des Gallenabflusses einen Uebertritt von Gallen-
bestandtheilen in das Blut zur Folge haben (Parapedesis bilis).
Lieber m eiste r versuchte das Zustandekommen gewisser
Ikterusformen dadurch zu erklären, dass die wesentlich ver¬
änderten Leberzellen nicht mehr fähig seien, die Galle voll¬
ständig zurückzuhalten und ihre Diffussion in Blut und Lymphe
zu verhindern. Lieber meiste r hatte hiebei hauptsächlich
diejenigen Fälle von Ikterus im Auge, bei welchen anatomische
Läsionen der Leberzellen direct nachweisbar sind. Pick legte
das Hauptgewicht auf die functioneilen Alterationen der Leber¬
zelle und leitete Ikterusformen, bei welchen kein irgendwelches
mechanisches Moment der Behinderung des Gallenabflusses
auffindbar ist, von einer besonderen Secretionsanomalie der
Leberzellen ab, die zu einer falschen Ström ungsrichtung der
Secrete führt und führte weiter die supponirte Secretions¬
anomalie auf abnorme nervöse Erregung einerseits und auf
toxische, beziehungsweise infectiös-toxische Wirkungen anderer¬
seits zurück. Pick suchte auch die Entstehung der meisten
Ikterusformen, selbst manche Fälle von Gallensteinikterus auf
diese Weise zu erklären.
Was die Wege, auf welchen die Galle in der Leber
in den allgemeinen Kreislauf gelangt, anbelangt, so er¬
klärte man dies lange Zeit hindurch derart, dass die Galle bei
abnormen Druckverhältnissen einfach aus den Gallengängen
in die Blutcapillaren diffundire, je nachdem der Gallen¬
druck gesteigert oder der Blutdruck gesunken ist. Später ent¬
standen Zweifel, namentlich seit den Experimenten von Fleisch 1
(1874), Kunkel, Kufferath, V. Harley, nach denen
beim Hunde nach der gleichzeitigen Unterbindung des Ductus
choledochus und Ductus thoracicus kein Ikterus aufgetreten
ist, Gallenfarbstoff und Gallensäuren nur in der Lymphe, aber
nicht im Blute oder Harn nachgewiesen werden konnten, woraus
gefolgert wurde, dass die Galle nicht durch Blutgefässe,
respective Blutcapillaren, sondern durch Lymphgefässe auf¬
genommen werde. Diese Anschauung wurde allgemein an¬
genommen und auch jetzt noch hält man sich daran. Die Ex-
:) Hanot, Ictere par dislocation de la travee (ictere par ob¬
struction intralobnlaire). Semaine mddicale. 1895, Nr. Hl.
perimente von W ertheimer und Lepage3), I). Ge r-
hardt4), Queirolo und Benvenuti5) ergaben ein ganz
anderes Resultat. Wertheimer und Lepage führten in
den einen Gallengang beim Hunde Ochsen- oder Hammelgalle
ein, deren Spectrum charakteristisch, verschieden vom Spectrum
der Hundegalle ist. In einer zweiten Reihe von Experimenten
gebrauchten sie auf dieselbe Art indigschwefelsaures Natron.
In beiden Serien dieser Experimente beobachteten Wert¬
heimer und Lepage, dass die aus den Gallenausführungs¬
gängen anderer Leberlappen, wohin nur auf dem Blutwege
Ochsen- oder Hammelgalle, sowie auch indigschwefelsaures
Natron gelangen konnte, entfliessende Galle diese fremden
Beimengungen enthalten habe und gelangten zu dem Schlüsse
»que non seulement les vaisseaux sanguins prennent une part
active ä la resorption du pigment bleu (ou du pigment etranger
ä la bile du chien) mais encore que les lymphatiques n’y ont
qu’une part tres restreinte.« D. Gerhardt wiederholte das
alte Experiment der gleichzeitigen Unterbindung von Gallen¬
gang und Milchbrustgang bei Hunden und fand im Gegensatz
zu den früheren Experimentatoren ganz regelmässig Ikterus
auftreten und bei Hunden, denen beide Gänge unterbunden waren,
wurde der Urin eben so rasch und eben so intensiv ikterisch
wie bei denen, wo der Thoracicus offen blieb. D. Gerhardt
folgert aus seinen Versuchen, dass auch bei Verlegung des
Thoracicus Galle resorbirt wird, und zwar wird schon in circa
20 Stunden Galle reichlich im Harn ausgeschieden, also zu
einer Zeit, wo von Bildung (?) neuer Lymphwege, die sich,
wie V. Harley besonders betont, im Laufe mehrerer Tage
regelmässig ausbilden sollen, wenigstens nichts nachzuweisen
ist. Um zu entscheiden, ob die Galle nur dann, wenn der
Hauptlymphgang verlegt ist, direct ins Blut gelange, oder ob
sie, so lange die Lymphbahnen frei sind, doch entsprechend der
Angabe der früheren Experimentatoren mit der Lymphe weg¬
geführt werde, legte D. Gerhardt einige Stunden nach der
Ligatur des Choledochus eine Fistel am Ductus thoracicus an.
Die Hunde blieben dabei im günstigen Fall etwa 14 Stunden
nach der zweiten Operation am Leben. Diese letzten Versuche
ergaben übereinstimmend, dass die Lymphe nach verschieden
langer Zeit ikterisch wird, dass im Blut und im Harn aber
kein Bilirubin erscheint. Trotzdem die erste Serie seiner Ex¬
perimente entschieden für die Aufnahme der Galle durch die
Blutgefässe spricht, kommt D. Gerhardt, die Resultate der
zweiten Serie der Experimente berücksichtigend, doch zu dem
Schlüsse, dass die Lymphbahn als der sozusagen normale Ab
flussweg der gestauten Galle erwiesen ist; erst wenn sie ver¬
legt ist, gelangt die Galle auf andere Weise ins Blut.
Queirolo und Be nvenuti gelangten auf Grund ihrer
Experimente zu dem Schlüsse, dass nach gleichzeitiger Unter¬
bindung des Choledochus und Thoracicus innerhalb 24 bis
30 Stunden stets Ikterus entsteht, welcher immer stärker wird,
und theilen die Ansicht, dass der Uebertritt von Galle in den
allgemeinen Kreislauf durch die Blutgefässe stattfindet, und
zwar durch die intrahepatischen Venen. Sie unterbanden auch
gleichzeitig beide Gänge, Choledochus und Thoracicus, öffneten
später den Thoracicus, unterbanden nur den Choledochus allein
und beobachteten in beiden Fällen in derselben Zeit wie in
der ersten Serie ihrer Experimente, wo beide Gänge gleich¬
zeitig unterbunden worden waren, das Auftreten des Ikterus.
Die Ergebnisse der an Hunden vorgenommenen Ex¬
perimente von F 1 e i s c h 1, Kunkel, Kufferath, V. Harley
sind also andere, als jene von Werthheim er und
Lepage, Queirolo und Benvenuti, sowie von D. G e r-
hardt. Meiner Ansicht nach ist der Schluss, welchen D. Ger¬
hardt aus der zweiten Serie seiner Experimente folgert, des¬
halb irrig, weil die Hunde nach der zweiten Operation zu
kurze Zeit sich am Leben erhielten.
Dies ist in groben Umrissen der jetzige Stand unseres
Wissens über die Pathogenese des Ikterus.
3) Absorption des pigments dans le foie. Archives de physiologie
normale et pathologique. 1897.
4) Zur Pathogenese des Ikterus. Verhandlungen des Congresses für
innere Medicin. 1897.
5) Neuvieme congres de la societe italienne de medecine interne. 1898.
Semaine medicale. 1898, Nr. 51.
Nr. 35
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
787
Was sagt uns das Mikroskop betreffs dieser oben an¬
geführten Fragen bezüglich der Pathogenese des Ikterus? Kann
man aus den mikroskopischen Bddern sicherere Schlüsse
folgern? Seit mehreren Jahren befasseich mich mit der mikro¬
skopischen Untersuchung von Lebern in verschiedenen patho¬
logischen Zuständen derselben, studire eingehender den Bau
der Leber, sowie theilweise den Bau der Leberzelle, lenke die
Aufmerksamkeit auf mikroskopische Bilder der Leberzelle, die
ich experimentell hervorgerufen habe. Auf Grund dieser Unter¬
suchungen* 6 *) gelangte ich betreffs der Frage über die Patho¬
genese des Ikterus zu Resultaten und Schlüssen, welche von
den allgemein herrschenden Ansichten abweichen.
Bei Hunden, bei welchen man, wie bekannt, mittelst
subcutaner Injection von Toluilendiamin Ikterus hervorrufen
kann, selbst schon nach zwei Tagen, bietet der entstehende
Ikterus alle Merkmale eines acuten Ikterus, welcher am
Sectionstische beim Menschen nur höchst ausnahmsweise zur
Untersuchung gelangen kann. Die mikroskopische Untersuchung )
der vor dem Experimente normalen Leber ergab Folgendes:
Toluilendiamin löst Erythrocyten auf, Hämoglobin geht in Lösung,
was die körnigen, braunschwarzen Pigmentablagerungen im
Lumen der Blutgefässe, ebensolche Ablagerungen innerhalb der
Wandzellen der Blutcapillaren, sowie in den Leberzellen so¬
wohl im Cytoplasma als auch im Kerne beweisen, welche an
mikroskopischen Präparaten von in Formalin gehärteten Lebet -
stückchen anzutreffen sind. Formalin ist nämlich ein mikro¬
chemisches Reagens für zur Zeit der Härtung in den Geweben,
Zellen vorfindbares flüssiges Hämoglobin (siehe: Ueber Krystal-
lisationsphänomene in der Leberzelle und das mikroskopische
Bild der Leberzelle nach intravenöser Injection von Hämo¬
globinlösung). Einen weiteren Beweis des Gelöstwerdens von
Hämoglobin bieten die im Lumen der Blutgefässe voifind-
G) Die Resultate meiner Untersuchungen habe ich in folgenden
Publicationen veröffentlicht : Q7
a) Ueber Dissociation der Leberläppchen. Nowiny lekarskie. lOUt,
und: Virchow’s Archiv. Bd. CXLVIII.
b) Intracelluläre Gallengänge, ihr Verhältnis zu den Kupftei-
sehen Vacuolen und zu gewissen Formen pathologischer Vacimlisation der
Leberzellen. Anzeiger der Akademie der Wissenschaften in Krakau.
März 1897. . .
cj Ueber Befunde im Kerne der Leberzelle, welche für die secretoriscne
Function des Kernes sprechen. Anzeiger. April 1897.
d) Ueber den Bau der Leberzelle. Anzeiger. Mai 1897.
ej Wie und in welcher Form wird den Leberzellen Hämoglobin zu¬
geführt? Anzeiger. Juni 1897.
fj Verschiedenartigkeit der intracellulären Pigmentablagerungen in
der Leberzelle etc. Przeglad lekarski und Deutsche medicinische Wochen¬
schrift. Nr. 23, 1897. _ .
g) Ueber Krystallisationspliänomene in der Leberzelle. Anzeiger.
April 1898. _ tv.
hj Ueber intravasculäre Zellen in den Blutcapillaren der Leberaeim.
Anzeiger. April 1898 (auch im Archiv für mikroskopische Anatomie. Bd. LV).
ij Das mikroskopische Bild der Leberzelle nach intravenöser Hämo-
globininjection. Anzeiger. November 1898. _
j) Intussusception der Erythrocyten durch die Leberzelle und die
daraus möglichen Bilder der Leberzelle. Anzeiger. Juli 18J9.
1c) Ernährungswege in der Leberzelle. Anzeiger. Juli 1899.
iy W obronie prac moich. Krytyka lekarska. 1899.
m) Bau der intercellulären Gallengänge und ihr Verhältniss zu den
Blutcapillaren. Anzeiger. Januar 1900.
n) Bau der intraacinösen Blutcapillaren und ihr Verhältniss zu den
Leberzellen. Anzeiger. Mai 1900.
7) Der Vorgang bei der Conservirung, Härtung der Leberstückchen
und Anfertigung der mikroskopischen Präparate ist bei der Untersuchung
ikterischer Lebern nicht gleicligiltig und ich verfahre folgendermassen . Zur
Härtung verwende ich 2 °/0 Formalin, weil bei diesem Procentgehalt das
Gewebe nicht schrumpft. Den Gallenfarbstoff conservürt Formalin sehr gut,
was auch Sublimat thut. Das Auswaschen der in Sublimat gehärteten
Stückchen, das Entwässern derselben mittelst immer stärkeren Alkohols,
das complicirte, das Gewebe thermischen als auch chemischen Einflüssen
aussetzende Verfahren bei der Einbettung der Stückchen in Pai affin o ei
Celloidin, das Entfernen des Paraffins oder Celloidins aus den mikro¬
skopischen Schnitten, dies Alles übt auf Gallenpigmentablagerungen, worauf
ja bei diesen Untersuchungen Alles beruht, welches Pigment dabei mane i-
mal gänzlich ausgelaugt wird, einen ungünstigen Einfluss aus. Nach
Härtung in Formalin kann man unmittelbar nach sehr raschem us-
waschen der Stückchen mit Wasser sehr feine Gefrierschnitte anfei tigen,
und höchst brauchbare Präparate gewinnen. Deshalb gebrauche ich ast
ausschliesslich Formalinhärtung, welche auch in mancher anderen Ilinsic it,
worüber ich in meinen Publicationen berichtet habe (unter Andeiem. Are iv
für mikroskopische Anatomie. Bd. LV), Vortheile bietet.
liehen Hämoglobinkry stalle, ebensolche wie diejenigen in den
Kernen der Leberzellen des Hundes.
Dieses Bild von Hämoglobinablagerungen in den Wand¬
zellen der Blutcapillaren, sowie in den Leberzellen entspricht
vollkommen demjenigen, welches man in der Muscatnussleber
des Menschen, sowie in der Leber des Hundes nach intra¬
venöser Hämoglobininjection vorfindet. Unter Einwirkung des
Toluilendiamins erleidet ein anderer Theil der Erythrocyten
Veränderungen, zufolge denen sie schon innerhalb der Blut¬
capillaren zu grossen Kugeln zusammenschraelzen. Ebensolche
mittelst Pikrinsäure, Eosin, auch Fuchsin sich färbende Kugeln
habe ich in den Leberzellen des Hundes beschrieben (vide:
Intususception der Erythrocyten durch die Leberzelle etc.).
Die intraacinösen Blutcapillaren fand ich verschieden-
gradig erweitert. In den Wandzellen der intraacinösen Blut¬
capillaren, in den normale Structur aufweisenden Leberaeim
fanden sich Gallenablagerungen in Gestalt von runden, läng¬
lichen, ovalen, ja selbst sich verzweigenden grünen, galligen,
scharfbegrenzten Massen, welche manchmal bis an den Rand
der Zelle reichten. Die Wandzellen der Blutcapillaren lagerten
dicht an der vasalen Fläche der Leberzellenbalken oder
lagen abgelöst frei im Lumen der Blutgefässe. Manchmal
konnte ich einen directen Zusammenhang zwischen den Gallen¬
ablagerungen in den Wandzellen und den Gallenablagerungen
in den Leberzellen, öfters zwischen den Gallenablagerungen in
den Wandzellen und denjenigen in den intercellulären Gallen¬
gängen nachweisen, welche intercellulären Gallengänge, (was
ich in meiner Publication über den Bau der intercelluläien
Gallengänge und ihr Verhältniss zu den Blutcapillaren angegeben
habe) die Blutcapillaren berühren.8 * *)
Die intercellulären Gallengänge sah ich mit Galle über¬
füllt, in Folge eines Uebermasses von Galle unregelmässig
erweitert. Die Leb er zellen, welche mit den intercellulären
Gallengängen, als auch mit den Blutcapillaren sich berufnen,
enthielten keine Gallenablagerungen oder selten nur Spuren
davon.
Aehnliche Bilder stellen die meinen Publicationen im
Anzeiger der Akademie der Wisssenschaften in Krakau bei¬
gelegten Tafeln dar.
Derlei Gallenablagerungen innerhalb der Wandzellen der
Blutcapillaren, als auch in den intercellulären Gallengängen waren
nicht in allen Leberacinis, nicht in ganzen Leberacinis, nicht in
allen Theilen der Leber gleich sichtbar, sie fanden sich fast aus¬
schliesslich in den centralen Partien der Leberacini, und z war in vei -
hältnissmässig kleinen Herden oder in einzelnen Blutcapillai en vor.
Die peripheren Theile der Leberacini bieten ein normales Aus¬
sehen dar und die Leberzellen, insoweit wir das jetzt aus dem
mikroskopischen Bilde folgern können, sahen normal aus.
Ein ganz gleiches Bild sah ich in einem Falle von zu¬
fälliger, künstlicher Verengerung des Ductus choledochus
beim Hunde, wo sieben Tage nach Anlegung der Ligatur der
Hund getödtet wurde. Die Ligatur brachte nur eine \ erenge-
rung des Choledochus zu Stande, die Galle gelange in den
Darmcanal. Der Harn enthielt Gallenfarbstoff.
In Fällen von Icterus neonatorum, also wieder in Fällen von
acuten Ikterus, z. B. bei einem vier Tage alten Neugeborenen,
fand ich dasselbe Bild wie beim Hunde bei künstlichem, acutem
Ikterus.
Ganz dieselben Bilder, was die Localisation der Galle¬
ablagerungen in den Blutcapillaren, den Wandzellen, das Ver¬
halten der Leberzellen im Bereiche der Herde, wo Gallen¬
ablagerungen vorhanden waren (ich abstrahire hier ganz von
den Veränderungen, welche nach längere Zeit dauerndem
Verschluss des Choledochus in der Leber sich entwiche n
können; in manchen Fällen entstehen selbst nach monatelang
8) Schon nach der Veröffentlichung meiner Arbeit über den Ba J
intercellulären Gallengänge und ihr Verhältniss zu en nl^olo„;e
wurde ich auf die folgende Angabe in Stöhrs Lehrbuc i ° J
8 Auflage pa- 229 Note 3 aufmerksam: »Ob dies ausnahmslose Regel
ist (sc. dkss die intercellulären Gallengänge die Blutcl|PllJ”®“n Wirten
rühren), scheint mir neuerdings zweifelhaft; ich ha be _an se *
Schnitten der Kaninchenleber an einzelnen Stellen Gallencap. £ “J t" * ^ „
neben Blutcapillaren gesehen.* Dies ist nach meinen Beobachtungen
Bildern aus ikterischen Hunde- und Menschenlebern Kegel.
788
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 35
dauernder Behinderung des Gallenabflusses keine schwereren
Veränderungen des Leberparenchyms) betrifft, fand ich in
Fällen von chronischem Ikterus beim Menschen, welcher durch
Leberkrebs. Krebs der Gallenblase, des Pankreas, Magens,
Gallensteine veranlasst war, also in Fällen, wo, sei es
innerhalb oder ausserhalb der Leber, die Wegsamkeit der
Gallengänge beeinträchtigt war. Derlei Fälle können den
künstlich bei Thieren hervorgerufenen Störungen des Gallen¬
abflusses gleichgestellt werden.
A priori urtheilend, sollten in derlei Fällen sowohl beim
Menschen als auch bei Thieren der Ductus choledochus und
später auch die höher gelegenen Gallengänge, ja bis in die
feinsten Gallencapillaren, selbst intracelluläre Gallenwege bei
fortdauernder Behinderung des Gallenabflusses immer mehr
der Erweiterung in Folge Gallenstauung unterliegen. Findet
dies in der That statt? Findet man ein solches Bild von
gleichsam ad maximum erweiterten Gallengängen beim Thiere
nach Unterbindung des Ductus choledochus? Weder das makro
skopische, noch das mikroskopische Bild bestätigt diese a prio-
ristische Supposition. Findet dies beim Menschen statt, sobald
nur eine rein mechanische Behinderung des Gallenabflusses
sich vorfindet und keine Infection der Gallenwege statthat?
Sobald nämlich pathologische Producte, Exsudat im Lumen der
Gallengänge sich ansammelt, gestaltet sich das anatomische
und mikroskopische Bild der Gallengänge ganz anders, worauf
ich besonderen Nachdruck lege.
Unlängst beobachtete ich einen Fall, welchen Docent
B o s s o w s k i operirte, in welchem bei einem 12jährigen Kinde
in Folge der Verwachsung des Ductus choledochus an der
Eintrittsstelle des Ductus in die Wand des Duodenums eine
kolossale Vergrösserung des Ductus choledochus stattgefunden
hat, so dass derselbe 9 1 gallegefärbter Flüssigkeit enthielt.
Das Lumen des so kolossal vergrösserten Ductus choledochus
communicirte durch eine schlitzförmige Oeffnung mit dem Ductus
hepaticus und cysticus. Die geschwulstartige Vergrösserung
des Bauches bemerkte die Umgebung der Kranken acht Mo¬
nate vor deren Tode. Docent Bossowski, welcher bei der vor¬
genommenen Laparotomie die wahre Sachlage erkannte, legte
eine Bauchfistel an, wodurch der Abfluss der Galle ermöglicht
wurde und der Ikterus zu schwinden begann. Zwölf Tage
nach der Operation tödtlicher Ausgang. Die Leber war nicht
vergrössert, nur die gröberen intrahepatischen Gallengänge
waren wenig erweitert, ihre Wand verdickt.
In den gewöhnlichen, nicht gar seltenen Fällen des Ver¬
schlusses der Gallenwege weisen selbst die interlobulären
Gallengänge, geschweige denn die intralobulären bei der mikro¬
skopischen Untersuchung nur hie und da Spuren von Erweite¬
rung und Abflachung des Epithelbelages auf, die Mehrzahl der
interlobulären Gallengängen zeigt normales Lumen, normalen,
was die Gestalt und Grösse anbetrifft, Epithelbelag. Von den
intralobulären Gallengängen zeigen nur die in den centralen
Partien der Leberacini gelegenen, intercellulären Gallengänge
eine Erweiterung und Ueberfüllung mit Galle, während die
peripheren sich normal verhalten.
Angesichts dieser makro- und mikroskopischen Bilder
kann von einer Gallenstauung, welche immer stärker sein
müsste, je nach der Dauer des Verschlusses, keine Rede sein,
umsoweniger von einer Rückstauung der Galle. Eine sich
potenzirende Gallenstauung oder Rückstauung könnte nur dann
platzgreifen, wenn die Leber nach Verschluss des Gallenganges
fortfahren würde, Galle normal zu secernircn. Dies findet
jedoch augenscheinlich nicht statt; dagegen spricht bei rein
mechanischem Verschluss das makro- und mikroskopische
Bild der Leber. Nach dem Verschluss des Gallenganges secer-
nirt früher oder später die Leber immer weniger Galle, des¬
halb kommt es nicht zur maximalen Erweiterung der Gallen¬
wege, was stattfinden müsste, wenn die Leber normal Galle
produciren würde; dass dem so ist, dafür spricht auch das
mikroskopische Bild. Die geringere Quantität seeernirter Galle
gelangt intraacinös in den allgemeinen Kreislauf. Ein grosser
Theil der Leberzellen wird wenigstens bezüglich der Gallen-
production unthätig, insufficient, was wahrscheinlich auch betreffs
anderer Functionen der Leberzelle statthat. Die gefährlichen
Erscheinungen, welche nach Verschluss der Gallenwege früher
oder später auftreten, sind auf Grund obiger Auseinander¬
setzung, meiner Ansicht nach, nicht Folge von Resorption von
Gallenbestandtheilen in das Blut, Cholämie, sondern die Folge
ungenügender Thätigkeit oder gar Unthätigkeit vieler Leber¬
zellen.
Auf welche Art die Behinderung des Gallenabflusses die
Leberzellen beeinflusst, kann ich mir nach dem oben ange¬
führten mikroskopischen Bilde nicht erklären, da ich aus den
angeführten Gründen eine Stauung, geschweige denn Rück-
stauunff der Galle und einen unmittelbaren Einfluss der Galle
c
auf die Leberzellen nicht annehmen kann. Ebensowenig kann
ich es mir erklären, warum, obwohl ein grosser Theil der
Leberzellen sowohl in den peripheren, als auch centralen Par¬
tien, in welchen das Mikroskop in den Blutcapillaren Gallen¬
ablagerungen aufweist, normales Aussehen darbietet, die Leber
in toto doch insufficient wird. Wahr ist es, dass die Beurthei-
lung des Zustandes der Zellen überhaupt nach dem mikro¬
skopischen Aussehen noch sehr prekär ist. Wahr ist es, dass
wir heute noch gleichsam nur gröbere, schwerere Veränderungen
der Zellen beurtheilen, diagnosticiren können. Weitere Studien,
welche auf einer genaueren Kenntniss des feineren Baues
der Zelle basiren werden, müssen uns lehren, Veränderungen
in Zellen zu erkennen, welche bis nun uns unbekannt sind,
in Folge dessen wrir nur Zellen, welche grössere Veränderungen
darbieten, als kranke betrachten. Thatsache ist es, dass die
sogenannte Hepatargie, Insufficienz der Leber, existirt, dass
ihre Wirkung und Bedeutung dieselbe ist, als wann wir immer
grössere Partien der Leber experimentell ausschliessen und den
Organismus einer Intoxication preisgeben.
Spielt das mechanische Moment bei der Pathogenese des
Ikterus gar keine Rolle? Nein, es hat einen mittelbaren Ein¬
fluss. Wir wissen ja, dass im Falle des Verschlusses des Ductus
choledochus Ikterus entsteht; ein Zusammenhang zwischen der
Behinderung des Galleabflusses und dem Ikterus lässt sich
nichtleugnen. Wir wissen ferner, dass nach Beseitigung des Hinder¬
nisses für den Abfluss der Galle der Ikterus schwindet und die
Leber weiter thätig ist, je nach dem Grade der stabilen Ver¬
änderungen, welche während der Dauer des Verschlusses sich
in der Leber entwickeln können und welche ich hier nicht
berücksichtige, da dieselben mit der Pathogenese des Ikterus
nichts gemein haben. Dieser Zusammenhang zwischen dem
Verschlüsse der Gallenwege und dem Ikterus ist, meiner
Meinung nach, nur ein mittelbarer.
Der Verschluss des Gallenganges führt anfangs zu
einer Anfüllung des Choledochus und der gröberen intra¬
hepatischen Gallengänge mit Galle, welche noch normal
secernirt wird. Bei einem gewissen Grade der Anfüllung der
gröberen intrahepatischen Gallengänge müssen dieselben die
intrahepatischen Venen comprimiren, wodurch nachher eine
Erweiterung der intraacinösen Blutcapillaren hervorgerufen
wird. Eine derartige Hyperämie der Leberacini constatirt man
sowohl bei Thieren nach experimentellem Verschluss des Chole¬
dochus, als auch beim Menschen. Es entsteht eine Kreislauf¬
störung im intraacinösen Gefässsystem, was sich manchmal
sogar durch Blutextravasate kundgibt. Eine Analogie einer
derartigen Kreislaufstörung bietet die Niere in den ersten Tagen
nach der Unterbindung des Ureters dar. Die Hyperämie in
der Leberacinis, hauptsächlich ihrer centralen Partien, bildet
den ersten Schritt zur Entstehung des Ikterus.
In vielen Fällen von Ikterus lässt sich gar kein median1'
sches Moment auffinden, in keinem Tlieile der Gallen wege
weder innerhalb noch ausserhalb der Leber.
Es entsteht Ikterus z. B. nach Bluttransfusionen, bei
Intoxicationen mit Substanzen, welche auf die Erythrocyten
einwirken, wobei Hämoglobin in Lösung geht, im Verlaufe
von acuten Infectionskrankheiten, wo manchmal starke Blut¬
alterationen Vorkommen, bei Hämoglobinämie, nach psychischen
Affecten etc. Das Entstehen des Ikterus in derartigen Fällen
erklärt man jetzt durch Störungen der functioneilen Thätigkeit,
im Allgemeinen durch krankhafte Zustände der Leberzellen
selbst (Icterus acathecticus, Parapedesis bilis, Paracholia), welche
Nr. 35
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
789
in abnormer Richtung nach den Lymph- oder Blutgefässen zu
Galle secerniren. , , , ., , . , Ä
Ich habe schon oben mitgetheilt, dass das mikroskopische
Bild betreffs der Localisation der Gallenablagerungen in den
intraacinösen Blutcapillaren, in den Wandzellen der Blutcapil-
laren des Aussehens der Leberzellen innerhalb der Herde, wo
Gallenablagerungen Vorkommen, in Fällen von künstlichen, acuten
Ikterus beim Hunde, nach z. B. mehrere Tage dauernder, künst¬
licher Verengerung des Ductus choledochus beim Hunde, bei
Icterus neonatorum, in Fällen chronischen Ikterus beim Men¬
schen ganz gleich ist, ein wichtiger Umstand, weicher
bezeugt, dass in diesen verschiedenen Formen des
Ikterus die Ursache des Ikterus und Art des Ueber-
trittes der Galle in den allgemeinen Kreislauf auch
dieselben sein müssen.
IUCU 3CU1
Auf Grund dieses in vier verschiedenen I ormen des
Ikterus übereinstimmenden, gleichen, mikroskopischen Bildes,
als auch hauptsächlich dadurch, dass die Leberzellen sowohl
bei acutem, als auch chronischem Ikterus keine Galie-
ablagerun gen oder kaum Spuren derselben enthalten
und angesichts dessen, dass bei allen diesen verschie¬
denen Formen des Ikterus Galleablagerungen inner¬
halb intraacinöser Blutcapillaren auftreten, gelangte
ich betreffs der Pathogenese des Ikterus zu folgender An-
Oben habe ich angeführt, dass das mikroskopische Bild
keinen Anhaltspunkt bietet zur Annahme einer Stauung und
Rückstauung der Galle bis in die feinsten Gallengänge, even¬
tuell in die intracellulären Anfänge der Gallenwege; Stauung
eventuell Rückstauung kann nicht die Ursache des Uebertrittes
der Galle aus den intercellulären Gallengängen in die Lymph- ,
eventuell Blutgefässe sein. Es muss also hier eine andere Ur¬
sache wirksam sein, welche den Uebertritt der Galle in den
allgemeinen Kreislauf ermöglicht.
In Fällen, wo keine Spur irgend welchen makro-, noch
mikroskopischen, mechanischen Momentes vorliegt, versteht sich
von selbst, dass irgend ein anderer Umstand bei dem Uebei-
tritte der Galle in den allgemeinen Kreislauf thätig sein muss.
Aus den mikroskopischen Bildern der Leberzelle im
Verlaufe der passiven Hyperämie der Leber beim Menschen,
wo ein gewisser Theil der Erythrocyten des so langsam inner¬
halb der erweiterten intraacinösen Blutcapillaren kreisenden
Blutes zu Grunde geht, Hömoglobin in Lösung geht (vide:
Intracelluläre Gallengänge etc., und: Ueber den pathologischen
Zustand des Kernes der Leberzelle etc.), aus den mikroskopi¬
schen Bildern der Leberzelle des Hundes nach intravenöser
Hämoglobin injection erhellt, dass die Leberzelle bedeutende
Quantitäten von flüssigem Hämoglobin einsaugen kann (die
Zelle nimmt am Hineingelangen des Nähr- und Functions¬
materiales thätigen Antheil, sie verhält sieb nicht passiv,
dies geschieht nicht auf dem Wege der Diffusion). Aus den
mikroskopischen Bildern der Leberzelle, welche ich in meinei
Arbeit über Intussusception der Erythrocyten durch die Lebet -
zelle beschrieben habe, folgt, dass die Leberzelle unter geeig¬
neten Umständen eine grössere Anzahl von Erythrocyten auf¬
nehmen kann. Daraus folgt, dass die Leberzelle, sobald dieselbe
auf irgend welche Art gereizt ist, mit grösserer Eneigie
arbeiten kann. Einer Steigerung der functionellen Energie ist
natürlich nur eine normale, gesunde Zelle fähig, welche nachher
das Uebermass des Nähr- und Functionsmateriales gehörig
zu Galle verarbeiten und endlich in normaler Richtung nach
den intercellulären Gallengängen secerniren kann. Sowohl ie
Aufnahme eines Uebermasses des Materiales, als auch die ge-
hörige Verarbeitung desselben und die gänzliche Ausschei¬
dung des Secretes kann nur, ich wiederhole es mit Nachdruck,
eine normale, gesunde Leberzelle ausführen. Die Lebet zellen
in ikterischen Lebern innerhalb der Herde, wo Gallenablage¬
rungen in den Blutcapillaren sich vorfinden, enthalten gerade
keine Gallenablagerungen oder manchmal kaum Spuren davon,
dahingegen die intercellulären Gallengänge mit Galle überfü t
sind, wohin Galle nur aus den Leberzellen gelangen konnte.
Nebenbei erwähne ich, dass, meiner Ansicht nach, dei
Vorgang des Ausscheidens der Galle aus der Leberzelle, wobei
die Zelle activ thätig ist, die Ursache der Gallebewegung inner¬
halb der intercellulären Gallengänge nach den intratrabeculären
und weiterhin nach den in den peripherischen Theilen der
Leberacini gelegenen, mit Epithel bekleideten Gallengängen ist 9),
welche sich mit den interlobulären Gallengängen verbinden.
Die übermässige Quantität von Galle, welche von der
Leberzelle in die intercellulären Gallen gän ge, welche, wie aus
meiner Arbeit über den Bau der intercellulären Gallengänge
und ihr Verhältniss zu den Blutcapillaren erhellt, mit den
Blutcapillaren in Contact sich befinden, ausgesebieden wird,
befindet sieb daselbst unter höherem Drucke, wodurch die sehr
feinen Wandungen der intercellulären Gallengänge und Blut¬
capillaren eingerissen werden und Galle sich in das Blut er¬
gibst. Man sieht jedoch sowohl in Fällen von acutem wie chroni¬
schen Ikterus, dass die Wandzellen der Blutcapillaren (Tallen¬
ablagerungen enthalten, welche, wie dies aus meiner Arbeit
über° den Bau der Wand der Blutcapillaren und ihr Verhältniss
zu den Leberzellen erhellt, dorthin unmittelbar aus den Leber¬
zellen gelangen können, abgesehen davon, ob man die Existenz
von intracellulären Ernährungswegen in der Leberzelle, welche
mit den Wandzellen der Blutcapillaren in inniger Verbindung
sind, was ich auf Grund meiner Untersuchungen behaupten
muss, annimmt oder nicht.
Wenn man die Existenz von Ernährungswegen m der
Leberzelle annimmt, welche mit den Wandzellen der Blut¬
capillaren in innigem Contact sein müssen (vide: Wie und in
welcher Form wird den Leberzellen Hämoglobin zugeführt? und:
Ernährungswege in der Leberzelle, sowie: Ueber den Bau dei
Wand der Blutcapillaren und ihr Verhältniss zu den Leber¬
zellen), so lässt sich das Gelangen von Galle in die Wand¬
zellen der Blutcapillaren und von da in das Blut leiclH er¬
klären. Im Falle einer übermässigen Production von Galle
durch die Leberzelle kann man in Folge der sehr nahen Lage
der intracellulären Gallen- und Ernährungswege einen intra¬
cellulären Durchbruch von den Gallenwegen in die Ernährungs¬
wege annehmen (vide: Ernährungswege in der Leberzelle), wo¬
durch ein Ausscheiden der Galle durch die Leberzelle nach
zwei Richtungen zu Stande käme, nämlich einerseits nach den
intercellulären Gallenwegen und durch die Wandzellen der
Blutcapillaren hindurch nach den Blutcapillaren.
Auf zweifachem Wege kann daher Galle in die Blutbahn
belangen. Wie immer man die Art und Weise des Gelangens
der Galle in die Blutbahn erklären möge, so unterliegt dies
keinem Zweifel, dass sowohl in acuten wie in chronischen
Fällen Gallenablagerungen sich in den Wandzellen der Blut¬
capillaren stets vorfinden. Auf Grund aller dieser,, sowohl in
acuten als auch chronischen Fällen von Ikterus sich wieder¬
holenden Bildern erachte ich, dass, obwohl dies paradox
klingt, die Grundlage des Ikterus in der über¬
mässigen Thätigkeit der normalen, gesunden
Leber zelle zu suchen ist, welche, irgendwie gereizt,
ein Uebermass von flüssigem oder in Erythrocyten enthaltenen
Hämoglobin aufnehmen, dasselbe verarbeiten, ein Uebermass
von Galle produciren und dieselbe gänzlich ausscheiden kann.
Dass die Ueberfüllung der intercellulären Gallengänge
nicht auf einer sich steigernden Erweiterung der Gallengänge
innerhalb der Leber im Falle des Verschlusses der Gallengänge,
nicht als Folge einer Stauung oder Rückstauung der Galle be¬
trachtet werden kann, bezeugt dieser Umstand, was ich mit
Nachdruck hervorgehoben habe, dass die Leberzellen keine
Gallenablagerungen enthalten, was doch stattfinden müsste,
wenn die Galle in den Gallenwegen sich anstauen, ruck¬
stauen würde in Folge der immer mehr sich anfüllenden
o-roberen Gallenwege, zweitens beweist dies auch der Umstan ,
dass auch in Fällen, wo kein mechanisches Moment wirksam
sein kann, ein ganz gleiches mikroskopisches Bild zum °r-
schein kommt. Das mechanische Moment hat, indem es mitte -
bar passive Hyperämie innerhalb der Leberacini auslost, un¬
bestreitbar eine Bedeutung und Rolle bei dem Entstehen des
9) Im Leberacinus unterscheide ich vier Kategorien von Galleugangen
a) intracelluläre, b) intercelluläre, e) intratraboculäre, d, > Gallengange in den
peripherischen Partien des Leberacinus, welche mit Epithel ausgekleidet sind
und sich in die interlobulären Gallengänge ergiessen.
790
Nr. 34
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Ikterus in Folge augenscheinlicher Behinderung des Gallen¬
ahflusses. Diese passive Hyperämie wirkt nicht dadurch, das
die intraacinösen Gallengänge durch die erweiterten Blut-
capillaren comprimirt wären, sondern weil dadurch den Leber¬
zellen mehr Hämoglobin zur Verfügung gestellt ist. Damit
jedoch die Leberzelle mehr Material aufnimmt, einsaugt, muss
dieselbe irgendwie gereizt sein, sie muss zur energischeren
Function angefacht werden.
Der Ikterus bei Neugeborenen entsteht, meiner Ansicht
nach, auf dieselbe Weise, dafür spricht das mikroskopische
Bild, welches mit den Bildern beim künstlichen Ikterus des
Hundes und des chronischen Ikterus beim Menschen überein¬
stimmt.
ln Folge der Hyperämie der Leber, welche bei Neu¬
geborenen stets vorhanden ist, der gesteigerten Function der
Leberzellen nach der Nahrungsaufnahme, des gesteigerten Zer¬
falles der Erythrocyten in der ersten Zeit nach der Geburt
bestehen also dieselben Verhältnisse bezüglich der Production
eines Uebermasses von Galle oder wenigstens von Gallenfarb-
stoff durch die Leberzellen, wie beim Thiere nach Toluilendiamin,
wie beim Menschen nach mittelbarer Einwirkung des mechani¬
schen Momentes oder in denjenigen krankhaften Zuständen,
wo Hämoglobin innerhalb der Blutbahn in Lösung kommt.
Was die zweite Frage bezüglich der Pathogenese des
Ikterus anbelangt, nämlich wo und auf welchen Wegen Galle
in den allgemeinen Kreislauf innerhalb der Leber gelangt, so
beweisen die mikroskopischen Bilder in Fällen von künstlichem
acuten Ikterus beim Hunde, in Fällen von acutem Ikterus
bei Neugeborenen, dass von Anfang an Galle in die intra¬
acinösen Blutcapillaren gelangt, was auch die Bilder in Fällen
von chronischem Ikterus beim Menschen aufweisen.
Schon in meinen früheren Arbeiten (Bau der intercellu-
lären Gallengänge und ihr Verhältniss zu den Blutcapillaren,
sowie Bau der Wände der intraacinösen Blutcapillaren und ihr
Verhältniss zu den Leberzellen) habe ich hervorgehoben, dass
betreffs der Lymphgefässe in den Leberacinis grosse Un¬
klarheit herrscht. Bei dem innigen Contact zwischen den Leber¬
zellen und den Wandzellen der Blutcapillaren, durch welche
hindurch das Nähr- und Functionsmaterial sowohl in flüssigem,
als auch festem Zustande (Erythrocyten) in die Leberzelle
gelangt, erscheint die Existenz perivasculärer Lymph-
räume unmöglich und die Lymphgefässe können in der Form
und Anordnung, wie sie allgemein beschrieben und angenommen
werden, nicht existiren. Die Existenz von intraacinösen
Lymphgefässen ist überhaupt, meiner Ansicht nach, sehr pro¬
blematisch und ich muss Teichmann beistimmen (Ab¬
handlungen der mathematisch-naturhistorischen Classe der
Akademie der Wissenschaften in Krakau, Bd. XXXIV), welcher
geradezu behauptet, dass Lymphgefässe innerhalb der Leberacini
nicht vorhanden sind.
Haben die Lymphgefässe der Leber beim Uebertritt der
Galle in den allgemeinen Kreislauf gar keinen Antheil? Meiner
Ansicht nach sind dieselben aber nur in beschränktem Masse
daran betheiligt, nur geschieht dies nichtinner halb
der Leberacini, wo Galle direct in die Blutbahn ge¬
langt. Dies findet statt im Bereiche gröberer Gallengänge, in
welchen nach Einwirkung eines mechanischen Momentes, be¬
sonders nach plötzlichem Verschluss des Ductus choledochu-n
Galle sich ansammelt, den Choledochus und die groben Gallen¬
gänge weiter werden. Von hier aus kann die Resorption der
Galle mittelst der Lymphgefässe stattfinden.
Damit die Unterbindung des Ductus choledochus ihren
Einfluss auf den Blutkreislauf innerhalb der Leberacini aus¬
üben kann, verstreicht eine gewisse Zeit und erst nach Ent¬
wicklung der Circulationsstörung innerhalb des intraacinösen
Blutkreislaufes entwickeln sich Verhältnisse, welche den Ueber¬
tritt der Galle in die Blutbahn ermöglichen, während schon
früher aus dem überfüllten Ductus choledochus und den gröberen
intrahepatischen Gallengängen Galle auf dem Wege der Lymph¬
gefässe in den allgemeinen Kreislauf gelangen könnte. Nach
Unterbindung des Ductus choledochus bei Kaninchen, bei
welchem im Verhältniss zum Körpergewicht verhältnissraässig
viel Galle producirt wird, kann mau binnen kurzer Zeit den
Inhalt des Brustganges gallig gefärbt finden.
Dass die Galle auch auf der Lymphbahn in den allge¬
meinen Kreislauf gelangen kann, dies beweisen alle angeführten,
verschieden modificirten Experimente, bei welchen früher oder
später Gallen farbstoff in der Lymphe nachgewiesen werden
konnte. Dass dies wirklich, wie ich es mir vorstelle, auf dem
Wege von im Bereich der groben und gröberen Gallenwege
vorfindliehen Lymphgefässe stattfindet, dafür kann ich zur Zeit
noch keinen mikroskopischen Beweis liefern; nur auf diesem
Wege kann der Beweis dafür erbracht werden und derselbe
kann, meiner Ansicht nach, geliefert werden.
Die Resultate meiner Untersuchungen betreffs der Patho¬
genese des Ikterus zusammenfassend, gelange ich zu folgenden
Schlüssen :
1. Die Grundlage des Ikterus beruht auf der
gesteigerten Function normaler Leberzellen,
welche, durch verschiedenartige Einflüsse an¬
gereizt, grössere, übermässige Quantitäten N ä h r-
und Functions materiales, eventuell Hämoglo
bins aufnehmen undve rar beite n, einUeber mass
von Galle, respective Gallenfarbstoff prod u-
c i r e n können.
2. Nur eine normale, gesunde Leberzelle,
welche ein übermässiges Nähr mate rial auf¬
nehmen, verarbeiten und dementsprechend viel
Galle, respective Gallenfarbstoff zu produciren
vermag, kann dieses Uebermass von Gallegänz¬
lich in die intercellulären Gallengänge a u s-
sc beiden, woher und t heilweise durch die Wand¬
zellen der Blutcapillaren hindurch dieGalle in
die Blutbahn gelangt.
3. Das mechanische Moment hat nur einen
mittelbaren Einfluss auf die Entstehung des
Ikterus, indem dadurch i n t r a a c i n ö s e Kreislauf¬
störungen innerhalb der Blutcapillaren hervor¬
gerufen werden.
4. Den Weg, auf welchem Galle in den all¬
gemeinen Kreislauf gelangt, bilden die Blut¬
capillaren der Leberacini und nur in beschränk¬
tem Masse die Lymphgefässe im Bereichegrober
G a 1 1 e n w e g e.
5. Alle Formen von Ikterus lassen sich auf
die angegebene Weise erklären, d. i. durch diege-
steigerte Function der Leberzellen, durch Pro-
duction eines Uebermasses von Galle, respective
Gallenfarbstoffes.
Aus der I. chirurgischen Klinik des Herrn Hofrathes
Prof. Albert.
Erfahrungen mit Dr. C. L. Schleich’s Marmor¬
staubseife.
Von Dr. Ernst Fuchsig, Operationszögling.
Eine der acutesten Fragen ist jetzt in der Chirurgie
wohl die nach der Sterilisationsmöglichkeit der Hände des
Operateurs und der Haut des Operationsfeldes. Wenn man zu
Beginn der antiseptischen Aera die Hautkeime mit den ge¬
bräuchlichen Desinficientien abzutödten, d. h. ihnen die Keim¬
fähigkeit zu nehmen sich bestrebte, huldigte man im Banne
der chemischen Desinfection der Antisepsis, welche nicht Keim¬
freiheit, wohl aber Sterilität der vorhandenen Keime verlangte.
Die Methode, die neben vielen anderen allmälig die bevor¬
zugteste wurde und auch heute noch vielfach vertreten und
fast allenthalben geübt wird, ist die Heisswasser-Alkohol-
Sublim atdesinfection nach Fürbringer. Mit derselben kamen
auch die bacteriologischen Untersuchungen der Resultate der
Desinfection auf. Unvollkommenheiten der Untersuchungs¬
methoden und Vernachlässigung von Fehlerquellen täuschten
die Untersucher und Hessen sie auf ihre Methoden schwören,
umsomehr, als die unter solchen Cautelen Operirten in eiuem
Nr. 35
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
791
hohen Procentsatze aseptischen Wundverlauf boten F u r-
b ring er selbst spricht dem Alkohol nur Nebenwerth, den
Hauptwerth der l%0igen Sublimatlösung zu Später erstand
dem Alkohol in Ahlfeld ein begeisterter Vertreter der noch
im Vorjahre die Alkoholdesmfection m der Gebuitshilfe
predigte, weil sie für die kurze Dauer der geburtshilflichen
Eingriffe Sterilität der Operateurshände schaffe
° Mit der Verbesserung der Versuchstechnik bei der bac-
teriologischen Nachprüfung der Desinfectionsresultate stellte
sich allmälig heraus, dass weder der Alkohol, noch das Sublimat
das in sie gesetzte Vertrauen rechtfertigen, dass man über¬
haupt mit den gangbaren Desinfectionsmethoden Sterilität der
Hände nicht erreiche. Man tröstete sich mit der Beobachtung,
dass das menschliche Gewebe, allerdings je nach dem Alige-
meinzustande des Einzelindividuums verschieden, ein gewisses
Bacterienquantum abzutödten vermöge. Döderleins ) N ach-
weis, dass sich vom Peritoneum bei länger dauernden Laparo¬
tomien Keime abimpfen lassen, beobachteter aseptischer VV un
verlauf trotz nachgewiesenen Keimgehaltes der Operateurshande,
erbrachten den Beweis, dass der Organismus gegen die VVund-
keime mit eigenen Mitteln ankämpfe und bei entsprechender
Relation zwischen der Virulenz der Keime und den Alexmen
des Gewebssaftes die ersteren vernichte.
Mit dem Schwinden des Vertrauens in die Wirksamkeit
der chemischen Desinfectionsmittel stieg langsam, aber stetig,
der Werth der rein mechanischen Desinfection. Man kam theils
auf dem Wege der Conclusion, theils durch experimentelle
Beobachtungen dahin, dass nicht die Tödtung der Keime,
sondern deren Fortschwemmung das zu erstrebende Ziel jeg¬
licher chirurgischer Reinigungsmethode sein müsse. Man ward
sich aber bald bewusst, dass man da ein höchst schwieriges
Problem vor sich habe, indem es schwer halten wurde, die in
den Poren und Talgdrüsenausführungsgängen steckenden Keime
wegzuschaffen, umsomehr, als die zu stark misshandelte Haut
mit Ekzem antworte. Bürste und Seife beherrschten jetzt die
Desinfection, Alkohol und Sublimat wurden nur mehr zur
Beruhigung des chirurgischen Gewissens beibebalten. Das Pre¬
käre der Sterilisirung der Bürsten einerseits, andererseits die
überdies nicht befriedigenden Resultate der Desinfection in
Bezug auf Keimfreiheit der Hände führte zur Herstellung ver¬
schiedener neuer Seifencompositionen. Was bei der Für brin¬
ge Eschen Methode ebenfalls als Nachtheil empfunden wurde,
war die mehractige Procedur. Auch da sollte Abhilfe ge¬
schaffen werden
Bahnbrechend auf diesem mühevollen W ege war
Schimmelbusch, ihm folgte Sänger2), beide bestrebt,
die ganze Händedesinfection in einem einzigen »mechanisch-
physikalischen Acte« zu ermöglichen. Sänger verwendete
als Erster den Quarzsand als Reinigungsbehelf. Er gebrauchte
ihn in Verbindung mit Schmierseife.
Auf diesem vorgezeichneten Wege weiterbauend fühlte
C. L. Schleich nach mehrjährigem Bemühen den energi¬
schesten Vorstoss gegen die Fü r b r i n g e Esche Desinfection s-
methode. In seinem Buche »Neue Methoden der Wundheilung«
verwirft er Alles, was bis nun als Desinfectionsmittel in Vei-
wendung stand: die Bürste, den Alkohol und das Sublimat
und setzt an deren Stelle eine Seifencomposition als Frucht
seiner langjährigen Bestrebungen, ein Mittel ausfindig zu
machen, welches sowohl Bürste, als die chemischen Desinti-
cientien überflüssig macht und die ganze Procedur dei Hüne e-
sterilisation in einem einzigen Acte ermöglichen _ soll: seine
Marmorstaubseife. Das wirksame Princip derselben ist Marmoi-
staub, suspendirt in einem Gemische von Harzseife und emei
eigenen ammoniakhaltigen Stearin- und Wachspaste. Dei Am¬
moniakzusatz unterstütze als Fettemulgens die Wirkung <. es
Marmorstaubes. Den Wachszusatz machte er in der Ei wägung,
dass es nicht gelinge, die tiefen Hautkeime zu entfernen, diese
aber weiter nicht schaden könnten, würde man die Haut mit
einer undurchlässigen Wachsschichte überziehen. Schleie i
1) D ö d e r 1 e i n, Die Bacterien aseptischer Operationswunden. Mün¬
chener med'cinische Wochenschrift. 1899, Nr. 26.
2) M Sänger und W. O d e n t h a 1, Medicinische Bibliothek tur
praktische Aerzte. Nr. 31 — 33.
berichtet auch über die mit seiner Seife erzielten Resultate
er erhielt in 97% der controlirten Fälle Sterilität.
Die nicht befriedigenden Resultate mittelst der Für-
b rin ge Eschen Methode waren mit den glänzenden Resul¬
taten S c h 1 e i c h’s Veranlassung, an unserer Klinik die Hände¬
desinfection mit der Marmorstaubseite zu versuchen. Dank
dem Entgegenkommen der Krankenhausapotheke, welche
genau nach Sch leie h’s Angaben die Seife in vorzüglicher
Weise herstellte, waren wir bald in der Lage, Schleich-
Seife zu verwenden und bacteriologische Untersuchungen der
mit derselben desinficirten Hände vorzunehmen.
Die Procedur erfolgte ganz genau nach Schleich’s
Angaben: Möglichste Kürzung der Nägel wurde immer voraus-
geschickt*, gegen Schluss der Waschung, die immer mindestens
fünf Minuten währte, wurden überdies zur energischeren Be¬
arbeitung der Nagelnischen sterile Tupfer mitverwendet.
Die Keimabnahme erfolgte anfänglich nach der alten
Kümme l’schen Methode mittelst Eindrückens der Finger
kuppen in in Pe t r i - Schalen ausgegossenen Agar. Hierauf
wurden die Platten im Brutofen (37°) durch mindestens vier
Tage beobachtet.
In den meisten dieser Versuche blieben die Platten
steril. Das veranlasste mich, unter Beibehaltung des Agars als
Nährbodens, zur Abimpfung in kochenden Wasser sterilisirte
zugespitzte harte Hölzchen zu verwenden. Mit denselben
wurden gewöhnlich Unternagelraum und Nagelfalz ausgekratzt
und die Hölzchen dann, da eine genaue Zählung der etwa
aufgehenden Keime nicht beabsichtigt war, direct in den ver¬
flüssigten Agar geworfen, die Platten durch mehrere Tage im
Brutofen beobachtet. Natürlich wurden die verwendeten Hölz¬
chen auf ihre Sterilität controlirt.
Die Resultate der Versuche blieben hinter denen
S c h 1 e i c h’s sehr zurück.
Bei 33 ausgeführten Versuchen blieben die Platten nur
viermal steril. In den übrigen Fällen war meistens schon nach
24 Stunden stärkeres oder schwächeres, von den Hölzchenspitzen
ausgehendes Wachsthum zu beobachten. Der Umstand, dass
die & vier steril gebliebenen Platten gleich im Beginne dieser
Versuchsreihe beobachtet wurden, bei der zweiten Hälfte dieser
Reihe aber kein einziges Mal Sterilität erzielt wurde, lässt es
wahrscheinlich erscheinen, dass die angeführten vier Platten
nur in Folge zu wenig energischer Keimabnahme steril blieben,
denn sonst hätte sich wohl auch später eine unterbrochene
Reihe ergeben müssen. 1 „ .
Die Zahl der Keime war nach einer bestimmten Zeit
verschieden gross, doch glaube ich, dass dieser Befund mein
von der Wachsthumsenergie als von der Zahl der übertragenen
Keime abhängt. . rT , . . , u.
Ich halte auch den Beweis, dass eine Hand keimhaitiger
war als eine andere, durch die grössere Anzahl der, sagen
wir nach 24 Stunden constatirten Keime noch nicht erbracht.
Da muss doch auch die Art und Wachsthumsenergie der
übertragenen Keime berücksichtigt werden.
Bei einigen Versuchen, wo zuerst von den unreinen
Händen abgeimpft und dieselben nach vollzogener peinlicher
Waschung einer zweiten Prüfung unterzogen wurden,^ ergab
sich die anfänglich paradoxe Erscheinung, dass von aen un¬
reinen Händen weniger Keime aufgingen als von den ge¬
waschenen. Dieser constante Befund lässt sich nach meiner
Meinung auf zweierlei Weise erklären. Entweder die Zahl der
oberflächlichen Keime, denn nur die nimmt das Hölzchen a >,
war in den erwähnten Fällen eben zufälliger V eise gering,
die Seife legte aber in Folge ihrer stark macerirenden
Wirkung die tiefer liegenden Keime blos, welche dann, uber¬
impft, wucherten. Oder aber die Wachsthumsenergie der tiefen
Keime war grösser als die die der oberflächlichen, m Edge
dessen die Wucherung eine stärkere. T,
Eine weitere Versuchsreihe wurde ausgefuhrt, um Kennt-
niss zu erhalten von der Wirksamkeit der Marmorstaubseite
bei künstlich inficirten Händen.
Ich verwendete Aufschwemmungen von 1 rodigiosus-
culture», verrieb sie an den Händen und liess sie antrocknen.
Von diesen Händen gingen neben anderen immer rodigiosus
792
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 35
keime auf. Wurden die Hände dann mit Marmorseife ge¬
waschen und hierauf abgeimpft, so zeigte keine der Platten
Prodigiosuskeime, wohl aber andere Bacterien arten.
Fasst man die angeführten Resultate zusammen, so ergibt
sich, dass die Marmorstaubseife wohl im Stande ist, künstlich
in ficirte Hände von der aufgetragenen Bacterienart zu be¬
freien, dass aber Keimfreiheit der Hände mit derselben nicht
zu erzielen ist. Immerhin gelingt es, die Zahl der Keime auf
ein vom Durchschnittsorganismus zu bewältigendes Mass zu
reduciren. Das beweisen auch die Operationsresultate der
letzten Zeit an der Klinik, welche denen der früheren Zeit,
wo die F ü r b r i n g e r’sche Methode ausschliesslich gehand-
habt wurde, analog blieben.
Wie ist es nun möglich, dass Schleich in 97°/0 der
Fälle Sterilität erzielen könnte, wo es mir und, wie später er¬
wähnt wird, Anderen kaum einmal gelang? Das erklärt sich
sofort, betrachtet man S c h 1 e i c h’s Controlmethode. Er be¬
gnügt sich, von den gewaschenen Händen mit einer weichen
Platinöhr oder Platinnadel abzuimpfen. Diese Art der Abimpfung
ist aber ganz ungenügend, die Resultate daher gar nicht be¬
weisend. Die Methode ist ungefähr der auch von mir anfangs
geübten Fingereindruckmethode gleichzusetzen. Beide Methoden
liefern unrichtige Resultate.
Zur Desinfection des Operationsfeldes wurde die Marmor¬
seife nur anfangs verwendet. Es stellte sich nämlich bald heraus,
dass sie gegenüber der hier bisher gebräuchlichen Waschung
mit Holzwollbauschen und Seife nur Nachtheile bietet, so die
schwierige Entfernung des Marmorstaubes, der auch bei inten¬
siver Wasserspülung noch haftet, was auch ihre Anwendung
an behaarten Stellen sehr erschwert. Vortheilhaft ist ihre Ver¬
wendung zur Reinigung von Vagina und Rectum, obwohl man
hier, da man wohl Sterilität des Cavums nicht erwartet, mit
Seife und Holzwolle dasselbe erreicht. Die Marmorseife zur
Mundreinigung zu verwenden, bleibt wohl Geschmacksache.
Hat auch die Marmorseife in Bezug auf Desinfection der
Hände nicht gehalten, was Schleich ihr nachsagte, so hat
sie gegenüber der F ü r b r i n g e r’schen Methode doch viele
Vortheile, die nicht unerwähnt bleiben dürfen. Der wichtigste
Vortheil ist die Schonung der Operateurshände. Da man an
die rücksichtslose Misshandlung der Haut mit der Bürste ge¬
wöhnt war, hatte man anfänglich das Empfinden, als könnte
eine so sanfte Behandlung nicht dasselbe leisten, wie das
Schinden mit der Bürste. Ekzem und Folliculitiden blieben
seit Einführung der Marmorstaubseife aus.
Das Gefühl des »Gebohntseins« ist exquisit, wie es aber
mit dem praktischen Werthe des theoretisch sehr plausiblen
Vortheiles des Wachsüberzuges steht, ist eine andere Frage,
deren Lösung mir vorläufig nicht gelang. Jedenfalls aber
schwindet die Empfindung des Gebohntseins bei länger dauern¬
den Operationen. Sehr zu beherzigen ist die von Schleich
empfohlene Pflege der Nägel und Hände auch ausser der
Operationszeit.
Diese Arbeit wurde begonnen, bevor noch eine Publication
über die Erfahrungen mit der S ch 1 e i c h’schen Seife be¬
kannt Avar.
Inzwischen hat Sänger3) in seinen »Aphorismen über
mechanische Desinfection und Infectionsprophylaxe« die
S c h 1 e i c h - Seife besprochen, deren Vorzüge hervorgehoben,
aber auch auf die Unvollkommenheit der bacteriologischen
Controlmethoden aufmerksam gemacht. Auf seine Anregung hin
machten seine Assistenten, Schenk und Zaufal4) Versuche
mit der Seife. Sie kamen zu dem Resultate, dass Sterilität der
Hände nicht zu erzielen sei, schlugen vor, nach der Waschung
mit Marmorseife noch Alkohol und Sublimat anzuvrenden.
Auch diese Resultate controlirten sie auf Sterilität. Ihre
Platten blieben in 73% der Versuche steril; es ist aber
nicht angegeben, ob sie nach der Sublimatwaschung das Subli¬
mat blos mit sterilem Wasser abspülten, oder nach G e b b e r t
mit Sclnvefelammonium ausfällten.
3i Prager medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 2.
4) Bacteriologisches zur mechanisch-chemischen Desinfection der
Hände. Münchener medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 15.
Ganz ungünstige Resultate erhielt Sarwey5): in zwölf
von ihm untersuchten Fällen keinmal Sterilität.
Ich habe auch die Combination S c h 1 e i c h - Seife- Alko¬
hol-Sublimat versucht, erhielt aber nur unwesentlich bessere
Resultate, beobachtete allerdings das Postulat Gebbert’s,
das Sublimat vor der Impfung mit Schwefelammonium aus¬
zufällen.
Nach den Erfahrungen, die wir an der Klinik, wo die
Marmorseife seit mehr als einem halben Jahre in Verwendung
steht, machten, kann ich, trotz der ungünstigen Impfresultate,
die S c h 1 e i c h - Seife ob ihrer anderen obgenannten Vorzüge
nur empfehlen. Sie bedeutet jedenfalls einen Fortschritt in der
Frage der rein mechanischen Desinfection der Hände.
REFERATE.
Statistische Beiträge zur Lehre von der Scrophulose
Von Prof. Monti, Wien.
(Separatabdruck aus dem Archiv für Kinderheilkunde. Bd. XXVI.
Diese fleissige statistische Arbeit umfasst ein Material von
610.000 Kranken, Avelche auf der Allgemeinen Poliklinik in Wien
behandelt AAmrden sind. Monti unterscheidet darin drei Stadien von
Scrophulose. In das erste Stadium reiht er alle diejenigen Fälle
von Ernährungsstörungen ein, welche in mangelhaftem histologischem
Aufbau der Gewebe, soAvie in uirvollkommen vor sich gehendem
Stoffwechsel ihren Grund haben, Solche Kinder besitzen eine schlaffe
Musculatur, ein schlecht gebildetes Fettpolster, torpide oder erethische
Beschaffenheit der Haut, abnorm zarten Knochenbau, Anämie, Herz-
sclrwäche und leichte hypertrophische Schwellungen der Lymph-
drüsen.
Als ZAveites Stadium der Scrophulose Avird man alle jene
Fälle bezeichnen müssen, avo die eben beschriebene Ernährungs¬
störung vorliegt und überdies durch äussere Einflüsse bedingte ent¬
zündliche Processe der Haut der Schleimhäute und des Periosts,
Processe, Avelche sich eben durch ihre geringe Tendenz zur
Heilung und durch die vielen Recidiven auszeichnen.
Für diese beiden Krankheitsgruppen ist man nicht berechtigt,
Tuberculose als Grundursache anzunehmen.
Mit dem dritten Stadium endlich bezeichnet Monti den
Ausgang des scrophulösen Processes in locale Tuberculose.
Die von dem Autor gezogenen Schlussfolgerungen summiren
sich in folgenden allgemeinen Sätzen:
1. Die Unterscheidung zAvischen Scrophulose und Tuberculose
muss noch aufrecht erhalten Averden und bezieht sich nur auf die
ersten zAvei Stadien, wo eben der Nachweis der tuberculösen Pro-
ducte fehlt.
2. Die Häufigkeit der Scrophulose beträgt ungefähr 9% aller
zur Behandlung kommenden Erkrankungen.
3. Die Scrophulose kommt am häufigsten im Alter von einen
bis fünf Jahren vor.
4. Die Heilbarkeit der Scrophulose ist nach den Stadien ver¬
schieden.
5. Die Mortalität beträgt
für das erste Stadium kaum ... 1%
» » zweite » ungefähr . . 3%
» » dritte » über . . . 8%.
6. Die Todesursachen sind im ersten Stadium vonviegend
Tuberculose der inneren Organe, im ZAveiten Stadium Tuberculose
der Lunge und des Darmes und im dritten insbesondere Meningitis
tuberculosa und amyloide Entartung der inneren Organe.
G a 1 a 1 1 i.
Syphilis.
Von Dr. I. Neumann, k. k. o. ö. Professor der Dermatologie und Syphilis
an der Universität Wien.
Spezielle Pathologie und Therapie, herausgegeben von Hofratb H. Noth
n a g e i.
Bd. XXIII, zweite Auflage.
Wien 1899, A. Holder.
Dass in verhältnissmässig kurzer Zeit — drei Jahre nach
dem Erscheinen der ersten Auflage — schon eine ztveite heraus-
r>) Experimentaluntersuchungen über Händedesinfection. Archiv für
klinische Chirurgie. Bd. LXI.
Nr. 35
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
793
gegeben werden musste, legt Zeugniss für die ausserordentlich
günstige Aufnahme, die das genannte Werk gefunden hat, ab. Der
Umfang der vorliegenden zweiten Auflage ist ein erheblich geringerer
o-eworden und einzelne Capitel, wie das von Kahane bearbeitete über
die Nervensyphilis, ferner der Abschnitt über die hereditäre Lues,
sowie der Abschnitt über die Behandlung der Syphilis und andere
wurden wesentlich eingeengt. Die hiedurch erzielte Kürze und Ge¬
drängtheit der Besprechung sind anerkennenswerthe Vorzüge der
zweiten Auflage, und hat dadurch die Uebersichtlichkeit und
Klarheit wesentlich gewonnen.
L Neumann vertritt unentwegt die Dualitätslehre und hält
in dem Capitel der Therapie an dem bekannten Standpunkt der
Wiener Schule, der immer mehr Anhänger gewinnt, fest. Von den
beigegebenen 60 Abbildungen sind einzelne bedeutend besser und
zarter ausgeführt, als in der ersten Auflage. Zum Ersatz für einige
fortgebliebene Bilder sind neue, sehr gut wiedergegebene, eingefügt
worden, von denen wir Fig. 59 und 60: Jodexantheme, erwähnen
wollen.' Wir halten es für zweifellos, dass das Werk in seiner
neuen Gestalt seine zahlreichen alten Freunde behalten und viele
neue gewinnen wird. Prof. M. v. Z e i s s 1.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
306. Zwei Fälle Addison’ scher Krankheit. Von
Bianchini. Verfasser berichtet über zwei Fälle Addison¬
scher Krankheit, bei denen Tuberculose beider Nebennieren ge¬
funden wurde. Im Bauch- und Halssympathicus waren die Altera¬
tionen nicht bedeutend: Leichte Ghromatolyse, spärliche Kern¬
veränderungen, Pigmentdegeneration; in den Gentralorganen: totale
Chromatolyse; Verschwinden der Kernes, Zertrümmerung der
Protoplasmafortsätze, primäre Degeneration einiger Rückenmarks¬
stränge. Dieser Befund widerspricht der Meinung Derjenigen, welche
die asthenischen Symptome durch Alteration des Sympathicus er¬
klären, oder Derjenigen, welche die Bronzekrankheit als primäre
Erkrankung des Bauchsympathicus ansehen. In beiden Fällen be¬
standen tiefe Veränderungen im Gehirn und Rückenmarke; in
einem mit Koma und Convulsionen endenden überwogen die
Rindensymptome. So sehr auch eine beträchtliche Alteration der
P u r k i n j e’schen Zellen bestand, so kann dieser die hochgradige
Asthenie in beiden Fällen nur schwer zugemessen werden. Die
Degeneration der Hinter- und zum Theile der Seitenstränge hatte
durchwegs primären Charakter mit bedeutenden Veränderungen der
Achsencylinder durch Carmin nachgewiesen. Die Strangdegeneration
war von Gefässveränderungen, Bindegewebsproliferation, myelitischen
Herden u. s. w. unabhängig. — (Gaz. degli Ospedali Nr. 90,
29. Juli 1900.) SP-
*
302. Exstirpation vonFibromen bei Erhaltung
des Uterus. Von Tuffier. Wiewohl die Hysterektomie beider
Behandlung der Uterusfibrome von den Chirurgen jetzt vorzugsweise
gehandhabt wird, wurde in mehreren Hundert von Fällen die ab¬
dominale Hysterotomie ausgeführt, die Enucleation des fibrösen
Tumors bei Erhaltung des Uterus und seiner Adnexe. Unter 15
von Tuffier Operirten verlor er nur eine durch peritoneale
Septikämie. Die Hysterotomie hat selbstverständlich grössere tech¬
nische Schwierigkeiten als die Hysterektomie. — (La Semaine
Med. 1900, Nr. 31.) SP-
*
303. Ueber die Bedeutung der Gaumentonsillen
von Kindern als Eingangspforte für die tuber¬
culose Infection. Von Dr. Friedmann (Berlin). Ein reiches
von Todten und Lebenden gewonnenes Untersuchungsmaterial scheint
folgende Schlüsse zuzulassen. Die Tonsillartuberculose entsteht
secundär durch bacillenhaltiges Sputum oder primär durch Infection
mit Nahrung. Letztere Behauptung ist umsomehr von Interesse,
als andere Autoren, darunter Koch selber, die Ansicht vertreten,
dass es sehr fraglich sei, ob jemals ein Fall von menschlicher
Tuberculose sich habe einwandfrei auf den Genuss von Fleisch
oder Milch tuberculöser Thiere zurückführen lassen.
(Deutsche medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 24.) Pi.
*
304. Ueber eine nach 11 Jahren geheilte
Aphasie. Von Antony. Der von einer rechtsseitigen Hemiplegie
in Folge eines apoplektischen Anfalles betroffen gewesene Kranke
lag vier Tage bewusstlos und konnte hernach nicht mehr sprechen;
er antwortete nur wenige einsilbige Worte, Wiederholung des Ge¬
fragten. Weder Worttaubheit, noch Wortblindheit. Diagnose: Mo¬
torische 'corticale Aphasie, wahrscheinlich auf Zerstörung des Fusses
der dritten linken Stirnwindung durch einen hämorrhagischen Herd
beruhend. Erst elf Jahre später begann die Wiederherstellung der
Sprache, so dass der Kranke jetzt einige Worte deutlich sprechen
kann. — (La Semaine Med. Nr. 31. 25. Juli 1900.) Sp.
*
305. Drei Fälle von intracranieller Complica¬
tion bei acuter Mittelohreiterung. Von Prol . B e z o 1 d
(München). Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass nicht nur
die jahrelang bestehenden Mittelohreiterungen das Leben bedrohende
Folgezustände hervorrufen können, sondern dass dieselben auch
nach frischen Fällen eintreten können. Als Beispiel hiefür werden
drei Fälle von eiterigem Mittelohrkatarrh angeführt, in denen es in
einem nach acht Wochen zur Entstehung eines Gehirnabscesses,
in einem zweiten nach vier Wochen zu einer Sinusphlebitis und
im dritten Falle zu einem Senkungsabscess am Halse gekommen
war. — (Münchener medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 22.)
*
307. Die Vererbung des Locus minoris resi-
stentiae bei der Lungentuberculose. Von Doctor
Turban (Davos). Nach der Ueberzeugung des Verfassers hätte
man sich das Auftreten der Tuberculose bei verschiedenen Genera¬
tionen einer Familie in der Weise zu erklären, dass ein bestimmter
Theil der Lunge, welcher minderwerthig geworden sei, gewisser-
massen verkümmert vererbt werde und derselbe in der Folge
immer einer Infection besonders zugänglich sei. Man muss sich
dabei auch an die von B i r c h - Hi r s c h f e 1 d gefundene That-
sache erinnern, dass der zu einer Lungenspitze gehörige Bronchus
nicht gar so selten verkümmert ist und dieser Zustand sich eben
falls vererben kann. Diese Anschauung würde dadurch gestützt
werden, wenn sich bei Eltern, Kindern und Geschwistern immer
dieselbe Lunge als zuerst erkrankt erweisen würde. Turban hat
nach dieser Richtung hin in den letzten acht Jahren 55 Familien
mit 121 Personen untersucht und in 80% der Fälle die Tuber¬
culose bei den Verwandten immer an derselben Stelle zuerst auf¬
tretend vorgefunden. — (Zeitschrift für 1 uberculose und Heil¬
stättenwesen. Bd. I, Heft 1 und 2.) PT
*
308. In der Sitzung vom 27. Juni 1900 der königlichen
Akademie Peloritana zu Messina demonstrirte Gab bi einen schweren
Fall von completer Verschmelzung der Wirbel¬
säule, der Hüft- und Kniegelenke mit Deformation der Gelenks¬
köpfe. (La Riform. med. 12. Juli 1900.) Die Tibio-Tarsalgelenke
wenig betheiligt. Obere Extremitäten frei. Polyarthritis rheumatica
vorausgegangen. Der Kranke bewegt sich aul allen viel Gliedern
mühsam vorwärts. — (Gaz. degli Ospedali. 1900, Nr. 88.)
Sp.
THERAPEUTISCHE NOTIZEN.
Ueber Milchklystiere bei schwerer Hämoptoe.
Von Dr. Aronsohn (Nizza). Die Hämoptoe batte in einem Falle
schon durch zehn Tage bestanden, die üblichen Mittel hatten sich als
erfolglos erwiesen; nach einem Einlauf von Milch und Aussetzen jeg¬
licher Nahrung war die Blutung sofort zum Stillstände gekommen. -
(Deutsche medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 31.)
*
Ueber Ichthargan. Von Dr. Aufrecht (Beilin).
Das pulverförmige, im Wasser lösliche, durch hohen Silber- und
[chthyolgehalt ausgezeichnete Präparat wurde von Verfasser geprüft
und soll sich bei relativer Ungiftigkeit durch einen hohen Grad oac-
tericider Kraft und Tiefenwirkung auszeichnen. (Deutsche me< ici-
nische Wochenschrift. 1900, Nr. 31.)
*
K a t a p 1 a s m e n bei gonorrhoischer Arthritis und
Tendovaginitis, sowie anderen Complication e n t er
Gonorrhoe. Von Freudenberg (Berlin). Verfasser behandelt
die genannten Affectionen seit acht Jahren mit Ivataplasmen, die mog-
794
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 35
liehst heiss, beständig (eventuell Tag und Nacht) und so umfangreich
angelegt werden, dass sie das ganze Gelenk einhüllen. Auf diese
Weise wurden acute und chronische Arthritiden gonorrhoischer Natur,
bei denen ja die Salicylpräparate gewöhnlich ganz wirkungslos, in sehr
günstiger Weise behandelt. Von Kälteanwendung hat Verfasser keinen
günstigen Eindruck gewonnen, einen direct schädlichen sogar von der
vielfach geübten Behandlung, gonorrhoische Gelenke mit immobilisirenden
Verbänden zu behandeln. Ebenso wendet Verfasser bei der acuten
gonorrhoischen Prostatitis nebst Ichthyolsuppositorien gleich am Damme
angelegte heisse Kataplasmen an. — (Die Therapie der Gegenwart.
1900, Nr. 8.)
*
Das als Antidiarrhoicum bekannte T a n n i g e n kommt
nun auch in Form von Tabletten (ä 0'5) in den Handel, welche sich
in Wasser leicht lösen und, abgesehen von der bequemen Darreichungs¬
form, den Vortheil haben, billiger zu sein als die abgetheilten Pulver.
*
Zur Iländedesinfection, nebst Bemerkungen
über Ly so form. Von Strassmann (Berlin). Verfasser benützt
das Lysoform seit Herbst 1899 ausschliesslich als Desinficiens in der
geburtshilflichen Praxis, als 2— 3°/0ige Lösung zur Händedesinfection,
zu 1% für Scheidenspülungen, zu 7* — 1% für Blasenspülungen. Der
Katheter kann direct aus der Lysoformlösung entnommen werden.
Weder Instrumente noch Wäsche werden von Lysoform angegriffen
und da es selbst rein nicht ätzt, kann es Patientinnen unbedenklich
in die Hand gegeben werden. Lysoform stellt eine klare, gelbe, mit
Wasser und Alkohol in jedem Verhältnisse mischbare Flüssigkeit dar,
die hinsichtlich ihrer Desinfectionskraft nicht an das Sublimat heran¬
reicht und auch gegenüber Lysol das doppelte Procentverhältniss
erfordert. — (Die Therapie der Gegenwart. 1900, Nr. 8.)
*
(Aus der II. medicinischen Klinik zu Budapest.) Klinische
Erfahrungen über zwei neuere Heilmittel. Von Doctor
v. Ketly. Verfasser fand das Dormiol, eine ölige Chloral-A mylen-
hydratverbindung, als ein „ausgezeichnetes, sicher wirkendes, unange¬
nehmer Nebensymptome entbehrendes und hinreichend billiges Schlaf¬
mittel“, das in allen Fällen gebraucht werden kann, wo der Gebrauch
eines reinen Hypnotieums indicirt erscheint. Verabreichte Dosis: ein
Kaffeelöffel einer 10%igen wässerigen Lösung. — Weiters wurden
Versuche mit dem Oxykiimpher angestellt, * dessen Wirkung darin
besteht, dass bei Dyspnoischen die Athembewegungen tiefer und regel¬
mässiger werden. Das Mittel erwies sich besonders gegen die bei Herz-
und Nierenkrankheiten auftretende Dyspnoe wirksam. Formel:
Rp. Oxycamphor. (50%) 10-0,
Spir. vini reet. 20 0,
Succ. liquir. 10*0,
Aq. dest. 150 0.
M. I). S. Dreimal täglich ein Esslöffel.
(Die Therapie der Gegenwart. 1900, Nr. 8.)
*
Dr. G o 1 1 h e i 1 hatte eine acute eiternde Balgent¬
zündung (Folliculitis der Kopfhaut) bei einer 1 6jährigen
Patientin mit einer 3%igen Xeroform-Olivenölsuspension behandelt.
Wiewohl es in Folge der Erkrankung zu einem gänzlichen -Verlust des
Kopfhaares gekommen war, soll durch die genannte Behandlung inner¬
halb weniger Monate das Haar wieder vollständig regenerirt sein. —
(Med. Record. 9. Juli 1900.)
*
Dr. H. Moore spricht sich über die Verwendung des Actol
bei der Behandlung von Zahnwurzel-Abscessen
folgendermassen aus: Grossen Nutzen und Erfolg habe ich bei der
Behandlung chronischer Abscesse der Zahnwurzeln mit Actol con-
statiren können, während andere Heilmittel versagten. Meine Be¬
handlungsweise ist folgende: Ich treibe mittelst einer hypodermischen
Spritze eine frisch bereitete Actollösung (1 : 500) durch die Fistel-
Öffnung gut in den Abscess hinein. Ich glaube, dass sich dies als ein
werthvolles Mittel, nicht allein bei Erkrankungen erwähnter Art,
sondern auch bei allen solchen bacterienartigen Ursprunges erweisen
wird, welche in das Bereich der zahnärztlichen Behandlung fallen. —
(The Dental Digest. Chicago. Mai 1900.) Pi.
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Ernannt: Bezirksarzt Dr. Anton Pietrzycki zum
Oberbezirksarzte in Galizien. Zu ausserordentlichen Professoren :
Dr. M. N i t z e in Berlin, Dr. O. v. H e r f f , Oberarzt an der Frauen¬
klinik in Halle, und P. E i s 1 e r, Prosector an der Anatomie in Halle.
— Dr. L u d w i g Bach zum ordentlichen Professor der Augenheil¬
kunde in Marburg.
*
Verliehen: Dem Oberstabsarzte II. Classe Dr. Franz
Schirmer der Charakter eines Oberstabsarztes I. Classe. — Dem
Stabsarzte Dr. Velde vom Hannoverschen Infanterie-Regimente
Nr. 74, Gesandtschaftsarzt in Peking, das Ritterkreuz des Franz
Josef-Ordens.
*
Gestorben: Generalstabsarzt Dr. Huber in Agram. — In
Pietermaritzburg der englische Chirurg Prof. William Stokes. —
Prof. Domingo Freiri in Rio de Janeiro, bekannt durch seine
Arbeiten über den Gelbfieberbacillus.
*
72. Versammlung Deutscher Naturforscher und
Aerzte in Aachen vom 16. bis 22. September 1900.
(Fortsetzung.)
Abtheilung : Geburtshilfe und Frauenkrankheiten.
Einführende: Dr. Ed. Springsfeld, Dr. Eug. B e a u c a m p.
Schriftführer: Dr. A r n. Kloth, Dr. Ernst Viehöfer. Sitzungs¬
local : Technische Hochschule. Angemeldete Vorträge:
1. A. Benckiser (Karlsruhe): Thema Vorbehalten. 2. H. Cramer
(Bonn): Impression des vorangehenden Kopfes in Wa 1 e h e r’scher
Hängelage. 3. Derselbe: Grundsätze des Geburtshelfers für die
erste Ernährung des Kindes. 4. F. Eber hart (Köln): Ueber Myom¬
degeneration (mit Demonstration). 5. H. Fritsch (Bonn) : Ueber vaginale
Köliotomie. 6. H. v. Guerard (Düsseldorf): Bemerkungen zur abdo¬
minalen Totalexstirpation bei Myom. 7. B. Kroenig (Leipzig): Pro¬
gnose und Therapie der gonorrhoischen Adnexerkrankung. 8. B. Kroe¬
nig und Blumberg (Leipzig): Weitere Untersuchungen zur Frage
der Händedesinfection. 9. H. Pletzer (Bonn): Ueber Dystokien
durch narbige Stenosen der Cervix. 10. L. Prochownick (Ham¬
burg): Ueber Diätcuren in der Schwangerschaft. 11. Derselbe:
Demonstration interessanter Präparate. 12. H. Schroeder (Bonn):
Untersuchungen über den Blutdruck vor und nach der Operation.
13. Derselbe: Demonstrationen. 14. Stoeckel (Bonn): Ueber
Atmokausis. 15. Derselbe: Demonstration von Präparaten.
16. Fehling (Halle): Ueber Diagnose und Behandlung der Compli-
cationen von Schwangerschaft und Ovarialkystom. 17. v. Winckel
(München): Demonstrationen. 18. Derselbe: Ueber die Schwauger-
schaftsdauer. Bemerkung: Zu Vortrag 3 ist die Abtheilung für
Kinderheilkunde, zu Vortrag 8 die Abtheilung für Chirurgie eingeladen.
Abtheilung : Kinderkrankheiten. Einführende : Geheimer
Sanitätsrath Dr. G. Mayer, Dr. L u d w. Schweitzer. Schrift¬
führer: Dr. M. van Rey, Dr. J. G. Rey. Sitzungslocal: Technische
Hochschule. Angemeldete Vorträge: a ) Auf Beschluss des
Vorstandes der Gesellschaft für Kinderheilkunde: 1. E. Ponfick
(Breslau): Referat über die Beziehungen zwischen Scrophulose und
Tuberculose, und 2. E. Feer (Basel): Correferat: Prophylaxe der
Tuberculose im Kindesalter. Zu beiden Vorträgen (welche voraussicht¬
lich Dienstag den 18. September, Morgens 9 Uhr, in der Aula der
Oberrealschule gehalten werden), sind eingeladen die Abtheilungen für
pathologische Anatomie, innere Medicin, Chirurgie und Hygiene zu
gemeinsamer Sitzung. I) Sonstige angemeldete Vorträge: 3. A. Back¬
haus (Königsberg): Forschungen über Milchgewinnung. 4. Ph. Bie¬
dert (Hagenau) und 5. W i 1 h. M e i n e r t (Dresden) : Die Thätigkeit
des Ausschusses für die Versuchsstation für Ernährung. 6. H. Con¬
rads (Essen a. d. Ruhr): Thema Vorbehalten. 7. II. Falkenheim
(Königsberg): Ueber familiäre amaurotische Idiotie. 8. F. Fisch¬
bein (Dortmund): Beitrag zur Behandlung des Stimmritzenkrampfes.
Oppenheimer (siehe Nr. 15). 9. H. v. Ranke (München): Zur
chirurgischen Behandlung des nomatösen Brandes. 10. J. G. Rey
(Aachen): Phimosis, deren Begriff und eine bisher nicht berücksichtigte
Contraindication der Phimosisoperation. 11. Ad. Schmidt (Bonn):
Beitrag zur Säuglingsernährung. 12. Ferd. Siegert (Strassburg
i. E.): Ueber die chemische Zusammensetzung des Fettgewebes der
Säuglinge und deren Abhängigkeit von der Ernährung. 13. H. S o 1 t-
mann (Leipzig): Thema Vorbehalten. 14. E. Ungar (Bonn): Ueber
chronische Peritonitis und peritoneale Tuberculose bei Kindern.
15. C. Oppenheimer (München): Beitrag zur künstlichen Säuglings¬
ernährung. 16. II och singer (AVien): Die hereditär-syphilitische
Phalangitis der Säuglinge. 17. F. Förster jun. (Dresden): Zur
Pathogenese der Vulvovaginitis gonorrhoica im Kindesalter. 18. S. Weiss
(Wien): Zur Prophylaxe der Masernotitis. 19. H. Leo (Bonn): Thema
Vorbehalten. Die Abtheilung ist eingeladen zu Vortrag 11 und Vor¬
trag 13 in der Abtheilung für innere Medicin. Zu den Vorträgen 4
und 5 sind eingeladen die Abtheilungen für innere Medicin und
Hygiene. Stammlocal: Gartensaal im Hotel Bellevue, Holzgraben 11.
Abtheilung : Neurologie und Psychiatrie. Ein¬
führende: Sanitätsrath Dr. J. Rademaker, Dr. L. Goldstein.
Schriftführer: Dr. C. K r a p o 1 1, Dr. Philipp Schoebel. Sitzungs¬
local: Technische Hochschule. Angemeldete Vorträge:
1. G. Aschaffenburg (Heidelberg): Die klinischen Formen der
Puerperalpsychosen. 2. A. Bumm (München): Thema Vorbehalten.
Nr. 35
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
795
n M Dinkier (Aachen): Ueber cerebrale Kinderlähmung (mit
Demonstration). 4. L. Edinger (Frankfurt a M ): Thema Vor¬
behalten. 5. A. Erlenmeyer (Bendorf a. Rh.): Ueb0r die Bedeu¬
tung der Arbeit in der Behandlung der Nervenkranken. 6. H. Hilbert
(Baden-Baden): Ein weiterer Fall von Pseudotabes mercuriales. (Zu¬
sammen mit ' der Abtheilung für Hautkrankheiten und Syphilis )
7 L Goldstein (Aachen): Beitrag zur Lehre von den Schadei-
Hirnverletzungen. 8. N. Länderer (Andernach): Zur Verminderung
der Todesfälle durch Status epilepticus. 9. S i e g f. Lil i enstein
(Bad Nauheim): Ueber Herzneurosen. 10. Th. Kaes (Hamburg-
Friedrichsberg): Thema Vorbehalten. 11. M. Nonne (Hamburg): Zur
Differentialdiagnose von Meningomyelitis syphilitica et tuberculosa.
12. Ralf Wichmann (Wiesbaden): Ueber sexuelle Neurasthenie.
13. A. Sänger (Hamburg): Neuere Erfahrungen über Nerven¬
erkrankungen nach Eisenbahnunfällen (zusammen mit der Abtheilung
für Unfallheilkunde). Die Abtheilung ist eingeladen zu Vortrag 1 in
Abtheilung für Augenheilkunde, zu Vortrag 8 in Abtheilung für
Balneologie, zu Vortrag 2 und 4 in der Abtheilung für innere Medicin.
Stammlocal- Alt-Baiern, Wirichsbongardstrasse 43.
Abtheilung : Augenheilkunde. Einführende : Dr. C. T h i er,
Dr. B. Kirch. Schriftführer: Dr. H. V ü 1 1 e r s, Dr. B. Treutier
Sitzungslocal: Gewerbliche Fachschulen. Angemeldete Vor
träge: 1. L. Bach (Würzburg): Ueber das Ganglion ciliare.
2. E w.' Bertram (Düsseldorf): Ueber Ophthalmoplegia totalis (mit
Krankenvorstellung). 3. H. Cohn (Breslau): Ueber Schielen.
4. W. Kühne (Duisburg): Ueber eine neue Methode der Symble¬
pharonoperation. 5. J. Kirch (Aachen): Thema Vorbehalten. 6. Jul.
v. Michel (Berlin): Pathologisch -anatomische Demonstrationen.
7. F. Nieden (Bochum): Ueber Nystagmus der Bergleute und seine
Behandlung. 8. A. Peters (Bonn): Weitere Beiträge zur Frage der
Kataraktbildung durch Tetanie. 9. G. P f a 1 z (Düsseldoif): Ueber
Sclerokeratitis rheumatica nebst Bemerkung über die Wirkung von
Natr. salieyl. und Aspirin. 10. W. Stood (Barmen): Künstliche
Reifung des grauen Staares in geschlossener Kapsel. 11. C. Thier
(Aachen): Auge und Erysipel. 12. Derselbe: Demonstrationen.
13. Bo do Treu tier (Aachen) : Demonstrationen. 14. H. Vüllers
(Aachen): Ein seltener Fall von Keratoplastik. 15. Derselbe'
Demonstrationen.
Abtheilung: Ohrenheilkunde. Einführender: Dr. Theodor
Ko 11. Schriftführer: Dr. H. Dremmen, Dr. M. Winands.
Sitzungslocal: Gewerbliche Fachschulen. Soll combinirt werden mit:
Abtheilung Kehlkopfkrankheiten. Einführender : P.
Schmithuisen. Schriftführer: Dr. A. Lieven, Dr. H. Dremmen
An gemeldete Vorträge: 1. M. Braun (Triest) : Vibrations
massage der oberen Luftwege mittelst Sonden, demonstriit an Kranken.
Specielle Berücksichtigung derselben in der Nase bei Stirnhöhlen¬
katarrh und der Tube bei Schwerhörigkeit. 2. Fr. Fischen ich
(Wiesbaden): Ueber Syphilis des Nasen-Rachenraumes. 3. Lieven
(Aachen): Zur Therapie der syphilitischen Nekrose des harten Gaumens.
4. Derselbe: Mercurielle Erscheinungen im Munde. 5. P. Sch mit
h u i s e n (Aachen): Zur Therapie der syphilitischen Nekrose des Nasen
bodens. 6. Derselbe: Mercurielle Erscheinungen im Halse. 7. Der¬
selbe: Vorstellung von Kranken mit typischen Nasen-Rachenpolypen
und Demonstration der Nasen- und Rachenverhältnisse von Personen,
welche durch Elektrolyse geheilt wurden. 8. P. Heymann (Berlin;:
Zur Lehre von den Geschwülsten in der Nase. Zu Vortrag 2 ist die
Abtheilung für Hautkrankheiten und Syphilis eingeladen.
Abtheilung: Hautkrankheiten und Syphilis. Ein¬
führende: Geheimer Sanitätsrath Dr. P. Frank, Dr. L. Schuster
Schriftführer: Dr. M. S c h r o e d e r, Dr. C. B e r 1 i n e r, Dr. F. W ings.
Sitzungslocal : Gewerbliche Fachschulen . Angemeldete Vor¬
träge: 1. C. Berliner (Aachen): Ueber spontane und Narben-
keloide (mit Demonstrationen). 2. B. Brandis (Aachen-Godesbeig
a. Rh.): Bemerkungen über Syphilis im Allgemeinen nach eigenen
Erfahrungen. 3. B. Goldberg (Wildungen): Die Urethrotomia in¬
terna. 4. C. Kollmann (Leipzig): Meine Erfahrungen über die An
Wendung der Spüldehner bei chronischer Gonorrhoe. 5. Derselbe.
Instrumentelles. 6. Gust. K u 1 i s c h (Halle) : Gonorrhoe und Diabetes.
7. E. Roth sch uh (Maragua) : Die Syphilis in Nicaragua. 8. Am.
Sack (Heidelberg): Ueber die Ueber tragbarkeit der Spätproducte der
Syphilis. 9. M. Schroeder (Aachen): Zur Frage der Resorptions¬
wege des Quecksilbers bei Inunctionen. 10. A. Strauss (Barmen):
Zur Abortivbehandlung der Gonorrhoe mit Protargol. 11. H. Wos-
sidlo (Berlin): Thema Vorbehalten. 12. Frz. Wings (Aachen):
Krankendemonstrationen. 13. v. Nies sen (Wiesbaden): Die neueren
Ergebnisse der ätiologischen Syphilisforschung. Hiezu sind eingeladen
die Abtheilung für innere Medicin, Abtheilung für Chirurgie und Ab-
theilung für Hygiene und Bacteriologie. 14. Schlagint weit
(München-Bad Brückenau) : Der Psychrophorkatheter, ein neues Instill¬
ment zum Katheterismus unter Kälteanästhesie. Die Abtheilung ist
eingeladen zu Vortrag 6 in der Abtheilung für Neurologie und 1 sy-
chiatrie und zu Vortrag 2 in der Abtheilung für Kohlkopfkrankheiten,
ferner zu Vortrag 8 in der Abtheilung für Pharmacie. Stammlocal :
Restauration Lennertz, Klostergasse.
Abtheilung: Zahnheilkunde. Einführender: Dr. G.
Kersting. Schriftführer: Zahnarzt P. B a h r. Sitzungslocal: Gewerb¬
liche Fachschulen. Angemeldete Vorträge: 1. Jak. Berten
(München): Thema Vorbehalten. 2. M. Eich ler (Bonn): Neuere
Untersuchungen über den Mechanismus des Durchbruches der Zähne.
3. v. Guerard (Aachen): Zahnarzney aus Oeconomia ruralis et
domestica von M. Johann et Bolero. Mayntz 1656. 4. Derselbe.
Verwendung von Nosophen und Thymol zur Wurzelbehandlung.
5. G. Kersting (Aachen): Zwei seltenere Krankheiten, Xerostomie
und Akromegalie in ihren Beziehungen zu den Zähnen (mit Kranken¬
vorstellung). 6. Oskar Römer (Strassburg): Ueber 1 ulpapolypen.
7. S t e h r (Roermond) : Etwas über Stomatologie im XIX. Jahrhundert.
8. Ad. Witzei (Jena): Ueber partielle Resection des Processus
alveolaris vor dem Zahnersatz. 9. Derselbe: Die Herstellung von
Amalgamkronen als Stützpunct für Prothesen. 10. K. Witzei (Dort¬
mund): Ueber Kieferersatz (mit Demonstration von Apparaten), besonders
nach totaler Exarticulation des Unterkiefers. 11. Derselbe: Ueber
künstlichen Nasenersatz (nebst Demonstration). 12. Zier ler (Würz¬
burg) : Untersuchungen über die Resistenz des Gangränbacillus mit
Vorrede über die Therapie gangränöser Zähne. Vortrag 3 soll in
gemeinschaftlicher Sitzung mit Abtheilung für Geschichte der Medicin,
Vortrag 6 in gemeinschaftlicher Sitzung mit Abtheilung für Patho¬
logie, Vortrag 10 und 11 in gemeinschaftlicher Sitzung mit Abtheilung
für Chirurgie gehalten werden. Stammlocal für Mittag: Alt-Baiern,
Wirichsbongardstrasse 43. Stammlocal für Abend: Elisenbrunnen.
Abtheilung: Militär sanitätswesen. Einführender: Ober¬
stabsarzt I. CI. Dr. Wilh. Weber. Schriftführer: Stabsarzt Doctor
Josef G i 1 1 e t. Sitzungslocal : Gewerbliche Fachschulen. Ange¬
meldete Vorträge: 1. Dedolph (Saarburg) : Aachen als
Militärbad. 2. Dü ms (Leipzig): Ueber die Sachverständigenthätigkeit
der Sanitätsofficiere und die neue Strafgerichtsordnung. Stammlocal:
Hotelrestaurant Elisenbrunnen.
Abtheilung: Gerichtliche Medicin. Einführender: Stadt-
physieus Sanitätsrath Dr. A. Baum. Schriftführer: Dr. Jos.
T h e 1 e n, Dr. Leonh. Baurmann. Sitzungslocal : Gewerbliche
Fachschulen. Angemeldete Vorträge: 1. C. Ipsen (Inns¬
bruck): Der spectrale Blutnachweis für forense Zwecke. 2. Der¬
selbe: Zur Frage des Nachweises von Pflanzenalkaloiden bei vor¬
geschrittener Fäulniss. 3. J. Kratter (Graz): Thema Vorbehalten.
4. Arth. Lippmann (Berlin): Der Unfallverletzte als Rechts¬
brecher. 5. Moriz Mayer (Simmern) : Ueber Giftwirkungen leuko-
taktischer Mittel. 6. N i k. Peren (Montjoie): Die gerichtlich- medici-
nische Bedeutung der Sturzgeburt. 7. C. St üben rath (Würzburg).
Experimentelle Untersuchungen über Leichenwachs. 8. Ungar (Bonn):
Ueber den Einfluss der Fäulniss auf die Lungenprobe und die Magen-
Darmprobe. Stammlocal: Alt-Baiern, Wirichsbongardstrasse 43.
Abtheilung: Balneologie und Hydrotherapie. Ein¬
führende : Sanitätsrath Dr. I g n a z B e i s s e 1, Bade-Inspector Doctor
C. Schumacher II. Schriftführer: Dr. Jos. This sen, Doctor
Eduard Klinkenberg. Sitzungslocal: Gewerbliche Fachschulen.
An gemeldete Vorträge: 1. Ignaz Beissel (Aachen):
Ursprung und Verwerthung der Thermalquellen in Aachen-Buitscliei .
2. B. Brandis (Aachen-Godesberg a. Rh.): Behandlung des chroni¬
schen Gelenkrheumatismus in Badeorten. 3. Am Ende, Oberbiiigei-^
meister (Bad Pausa i. S.): Ueber gemeindeörtliche Einrichtungen auf
dem Gebiete der Gesundheitspflege. 4. Kisch (Marienbad): Bäder in
der Gynäkotherapie. 5. Oskar Liebreich (Berlin): Ueber künst¬
liche und natürliche Quellsalze. 6. G. Mayer (Aachen): Ueber Vei-
gangenheit und Zukunft der Aachener Bäder. 7. Pollacsek (Berlin-
Levico): Ueber die Neueinrichtung der Arsenbäder Levico und Vetnolo
Südtirol. 8. C. Schütze (Borlachbad): Die Hydrotherapie im
Lichtender modernen Naturforschung. 9." W. Wagner (Aachen):
Orthopädische Behandlung von rheumatischen Gelenkerkrankungen.
10. Winter nitz (Wien- Kaltenleutgeben) : Thema Vorbehalten.
11. F. P. Weber (London): Der Nutzen von Bädern, Mineralwässern
und Curorten in der Behandlung der Syphilis. Hiezu sind die Abthei¬
lungen für innere Medicin und für Syphilis eingeladen. Zu “\ ortrag
sind eingeladen Abtheilung für innere Medicin und Abthei-
lung für Neurologie. . .... ,
Abtheilung : Hygiene und Bacteriologie. Einfuhrende :
Regierungs- und Medicinali ath Dr. B. Schegtendal, Kreisphysicus
Sanitätsrath Dr. L. S c h m i t z. Schriftführer: Dr E r i c h K o c h
Dr P. Kranz. Sitzungslocal: Technische Hochschule. A. fest¬
gesetzter Vortrag: Ueber „Die Bedeutung der Bacteriologie
für Diagnose, Prognose und Therapie“ wird sprechen: 1. Ne i s s e i
(Frankfurt a. M.). Hiezu sind eingeladen die Abtheilungen fur innere
Medicin, Chirurgie, Gynäkologie, Kinderkrankheiten und alle sich fm
das Thema interessirenden Abtheilungen. B, A n g e m < 6
796
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 35
träge: 2. Erismann (Zürich) : Tagesbeleuchtung der Schulzimmer.
3. L. Fürst (Berlin): Die neueren Bestrebungen zur Herstellung
sogenannter Kindermilch. 4. W. Ricken (Malmedy): Typhus und
Molkereien. 5. G. E. Wex (Düren): Ueber das Hebammenwesen im
Kreise Düren. 6. Th. Weyl (Berlin): Keimfreies Trinkwasser durch
Ozon. Die Abtheilung ist eingeladen zu Vortrag 13 der Abtheilung
für Hautkrankheiten und Syphilis und zu den Vorträgen 4 und 5 von
der Abtheilung für Kinderheilkunde. Der in der Abtheilung für
Nahrungsmittelchemie angemeldete Vortrag von Popp (Frankfurt a. M.):
Beiträge zur Kenntniss der Enzyeme, ist für die Abtheilungen für
Nahrungsmittelchemie und für Hygiene und Bacteriologie gemeinsam
bestimmt. Stammlocal : Alt-Baiern, Wirichsbongardstrasse 43.
Abtheilung: Unfallheilkunde. Einführender: Dr. Willi.
II ou be. Schriftführer: Dr. W. Wagner, Dr. Josef Unver-
f e h r t. Sitzungslocal : Technische Hochschule. An gemeldete
Vorträge: 1. F. Bähr (Hannover): Thema Vorbehalten. 2. Jak.
Rieding er (Würzburg): Ueber traumatische Skoliose. 3. C. Thiem
(Cottbus) : Die Projection einzelner Skeletpunkte auf der Haut.
4. Derselbe: Weiteres über gynäkologische Unfallfolgen. 5. W.
Wagner (Aachen): Ambulante Beinbruchbehandlungen und über
Leimverbände. Die Abtheilung ist eingeladen zu dem Vortrag 7 in
Abtheilung für Neurologie und Psychiatrie.
Abtheilung : Geschichte der Medicin und medicini-
sche Geographie. Einführende: Dr. Otto Vossen, Dr. Jos.
Dressen. Schriftführer: Dr. Jul. Q u i n t i n. Sitzungslocal: Ober¬
realschule. Angemeldete Vorträge: 1. Iwan Bloch (Berlin):
Die antike Aussatzliteratur. 2. C. Gerster (Braunfels): Die medicin-
historischen Quellen der sogenannten Naturheilkunde. 3. C. Sudhoff
(Hochdahl bei Düsseldorf) : Theophrast von Hohenheim und die Lehre
von den drei Principien. 4. Derselbe: Iatromathematiker im XV.
und XVI. Jahrhundert. 5. Peypers (Amsterdam): Eine nationale
und internationale Allianz der Medicohistoriker und Geographen. Die
Abtheilung ist eingeladen zu Vortrag 3 in der Abtheilung für Zahn¬
heilkunde.
Abtheilung : Thier heilkunde. Einführender : Dep. -Thierarzt
Dr. C. Schmidt. Schriftführer: Schlachthofdirector C. B o c k e 1-
m a n n, Kreisthierarzt B. Jan n es. Sitzungslocal: Gewerbliche Fach¬
schulen. Angemeldete Vorträge: 1. Imminger (München) :
Thema Vorbehalten. 2. Kaiser (Hannover): Aus dem Gebiete der
thierärztlichen Geburtshilfe. 3. Steinbach (Trier) : Ist zur Diagnose
des Milzbrandes die Obduction erforderlich? Erörtert auf Grund zahl¬
reicher Erfahrungen und mit Berücksichtigung der seuchengesetzlichen
Bestimmungen. 4. Vater (Eupen) : Ueber Rauschbrand. Stammlocal:
Hotel Kaiserhof, Hochstrasse 2/4.
Abtheilung : Pharmacie und Pharmakognosie. Ein¬
führende : Apotheker Dr. Jos. Bongart z, Apotheker Arnold
T h e 1 e n. Schriftführer: Apotheker Dr. G. König, Apotheker
C. Sieberger. Sitzungslocal: Oberrealschule. An gemeldete
Vorträge: 1. Bernegau (Hannover) : Ueber Droguen aus
Deutsch-Kamerun. 2. Dietrich (Helfenberg bei Dresden): Zur
Werthbestimmung des Senfsamens. 3. Fuchs (Biebrich a. Rh.) : Ueber
das Dormiol. 4. II i 1 g e r (München): Thema Vorbehalten. 5. Partheil
(Bonn): Aus der Stickstoffreihe. 6. Paul (Tübingen): Physikalisch-
chemisehe Untersuchungen über das Verhalten der Harnsäure und
ihrer Salze in Lösungen. 7. Derselbe: Die Constitution der
Lösungen von Coffein natric. -benzoic, und Theobromin natric.-salicylicum
und ähnlicher Präparate. 8. P. R e d e n z (Aachen) : Ueber die Methoden
zum qualitativen und quantitativen Nachweis von Quecksilber im Harn
und über ihre Empfindlichkeit. 9. C. Schaerges (Basel): Ueber
neueste Arzneimittel. Zu Vortrag 8 ist eingeladen die Abtheilung für
Syphilis.
Während der Correctur angemeldete Vorträge:
Abtheilung für Physiologie: Rudolf Funke (Prag): Ueber
die Schwankungen im Fettgehalte der fettführenden Organe der Am¬
phibien und Reptilien im Kreisläufe des Jahres. Abtheilung für
Innere Medicin und Pharmakologie: Derselbe: Ueber
nervöse llerzerkrankungen. Abtheilung für Neurologie und
Psychiatrie: Derselbe: Ueber Zitterbewegungen und deren
Verzeichnung. Abtheilung für Unfallheilkunde: Derselbe:
Zur Diagnostik der traumatischen Neurose.
V. Jahresversammlung des Vereines absti¬
nenter Aerzte des Deutschen Sprachgebietes zu
Aachen, Sonntag den 16. September 1900, Nachmittags 3 Uhr, im
Saale Nr. 23 der Technischen Hochschule. Tagesordnung :
1. Dr. Frick (Zürich): Alkohol und Fieber. 2. Dr. L i c h t e n b e r g
(Berlin), ehemaliger I. Arzt der kaiserlichen Schutztruppe für Kamerun:
Der Alkohol in unseren Colonien. 3. Dr. Fibieg (z. Z. Geral, Ober¬
arzt I. CI. in der königlich niederländisch ostindischen Armee: Alkohol
in den Tropen. Weitere Vorträge sind den Unterzeichneten anzumelden.
Gäste sind willkommen. Heidelberg, 30. Mai 1900. Prof. Kraepelin,
I. Vorsitzender. Prof. Dr. G. Aschaffenburg, Schriftführer.
V. Versammlung des Allgemeinen deutschen
Vereines für Schulgesundheitspflege, am Sonntag den
16. September, Vormittags 9 Uhr, in der Aula der Oberrealschule zu
Aachen, Vincenzstrasse. Tagesordnung: 1. Begrüssungsan-
sprachen. 2. Erledigung der Vereinsgeschäfte: a ) Endgiltige Fassung
der Satzungen. I) Wahl des nächstjährigen Versammlungsortes.
c ) Wahl der Vorstandsmitglieder, d) Bericht des Schatzmeisters. Vor¬
träge: 1. Dr. med. Gerhard (Lüdenscheid): Psychologie in Bezug
auf Pädagogik und Schulhygiene. 2. Dr. med. Kor mann (Leipzig):
Samaritereinrichtungen im Dienste der Schule (mit Demonstrationen).
3. Dr. Herb er ich (München): Was ist Bildung? 4. Dr. Schmid-
Monnard (Halle): Die Ursachen der Minderbegabung von Schul¬
kindern. Zur Theilnahme an der Versammlung sind Alle eingeladen,
welche sich für Schulgesundheitspflege interessiren.
*
Von der im Verlage von Lamer tin, Brüssel, von Depage
herausgegebenen ,,L’ annee c h i r u r g i c a 1 e“ ist der 2. Jahrgang
(1899) erschienen.
*
Dr. Karl Czerwenka, Vorstand der gynäkologischen Ab¬
theilung des St. Elisabeth-Spitales, Wien, III, wohnt: III., Seidlgasse
Nr. 32.
Freie Stellen.
Gemeindearztesstelle für den Sanitätssprengel Dornawatra,
Bukowina, bestehend aus den Gemeinden Dornawatra, Dornakandreny
und Pojanastampi und den gleichnamigen Gutsgebieten, mit dem Wohn¬
sitze in Dornawatra. Die mit diesem Posten verbundene Jahresdotation
beträgt 700 K , welche in monatlichen Anticipativraten beim k. k. Steuer¬
amte in Dornawatra zur Auszahlung gelangt. Für Dienstreisen erhält der
Gemeindearzt die normirten Gebühren. Bewerber um diesen Posten haben
nacbzuweisen : 1. Die Berechtigung zur Ausübung der Heilkunde in den im
Reicbsrathe vertretenen Königreichen und Ländern. 2. Die österreichische
Staatsbürgerschaft. 3. Dass sie der von der Mehrheit der Bevölkerung
gesprochenen Sprache (rumänisch) in hinreichendem Masse mächtig sind.
Die dementsprechend instruirten Gesuche sind binnen vier Wochen vom
Tage der ersten Einschaltung dieses Concurses im Amtsblatte der »Czerno-
witzer Zeitung« bei der k. k. Bezirkshauptmannschaft in Kimpolung einzu¬
reichen.
Volontärstelle im Landesspitale zu Laibach Krain.
Adjutum jährlicher 600 K. Bewerber um diesen Posten wollen ihre mit
dem Taufscheine, dem Doctordiplome und den Nachweisen über die Kenntniss
der slovenischen und deutschen Sprache belegten Gesuche bis 1. Sep¬
tember d. J. an die Direction der Landes-Wohlthätigkeitsanstalten in
Laibach einsenden.
Gemeindearztesstelle in der Gemeindesanitätsgruppe Franken-
fels-Sch warzenbach, politischer Bezirk St. Pölten, Niederösterreich.
Mit dieser am 1. October zu besetzenden Stelle ist ein Fixum von
240 K seitens der Gemeinden und eine Landessubvention im Betrage
von 800 K verbunden. Ausserdem erhält der Gemeindearzte für die pro¬
visorische Versorgung des Gemeindesauitätsdienstes in der angrenzenden
Gemeinde Puchenstuben bis auf Weiteres eine Remuneration von 200 K\
auch besteht die Verpflichtung zur Führung einer Hausapotheke. Bewerber
um diese Stelle haben ihre ordnungsgemäss belegten Gesuche bis längstens
1. September bei dem Gemeindevorstaude von Frankenfels einzubringen.
Persönliche Vorstellung erwünscht.
Gemeindearztesstelle in B öheimkirchen, N i e d e r ö s t er¬
reich. Mit dieser am 1. October zu besetzenden Stelle ist ein Fixum
von 300 K seitens der Gemeinde und eine Landessubvention im Betrage
von 600 K verbunden. Führung einer Hausapotheke nothwendig. Bewerber
um diesen Posten haben ihre ordnungsgemäss belegten Gesuche bis
längstens 1. September 1900 bei dem Gemeindevorstaude von Böheim-
kirchen einzubringen. Persönliche Vorstellung erwünscht.
Im Status der Abtheilungsvorstände der Wiener k. k. Kranken¬
anstalten ist eine Primararztesstelle II. Classe, zugleich Leiters
der Infectionsabtheilung im k. k. Kaiser Franz Josef-Spitale in Wien, mit
dem Range der VIII. und dem Bezügen der IX. Rangsclasse, das ist dem
Gehalte jährlicher 2800 K, mit zwei Quadriennalzulagen zu je 200 K und
mit Rücksicht auf die vorhandene Naturalwohnung der halben Activitäts-
zulage jährlicher 500 K, endlich mit einer in die Pension nicht anrechen¬
baren Personalzulage von 1200 K, welche bei einer späteren Beförderung
entsprechend der Erhöhung der Bezüge eingezogen wird, zu besetzen.
Bewerber um diese Stelle haben ihre vorschriftsmässig gestempelten, mit
dem Tauf- oder Geburtsscheine, dem Heimatscheine, den Nachweisen über
die Erwerbung des Doctorgrades der gesammten Heilkunde an einer öster¬
reichischen Universität, sowie mit den sonstigen Dienstdocumenten, be¬
ziehungsweise Nachweisen über ihre theoretische und praktische Vorbildung
versehenen Gesuche, und zwar, wenn die Bewerber bereits im öffentlichen
Dienste stehen, im Wege ihrer Vorgesetzten Dienstbehörde, sonst unter
Anschluss eines amtsärztlichen Gesundheits- und legalen Sittenzeugnisses
unmittelbar im Einreichungsprotokolle der k. k. niederösterreichischen
Statthalterei bis spätestens 20. September 1900 einzubringen. Jenen
Bewerbern, welche überdies bei gleicher sonstiger Qualification praktische
Erfahrungen in der Behandlung von Iofectionskrankheiten, eine ausreichende
wissenschaftliche Befähigung, sowie ferner die nothwendige Vorbildung in
epidemiologischer und bacteriologiseher Hinsicht nachzuweisen vermögen,
wird der Vorzug eingeränmt.
Nr. 35
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
797
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte,
INHALT:
13. Internationaler medicinischer Congress zu Paris. (2.-9. August 1900.) (Fortsetzung.)
13. Internationaler medicinischer Congress zu Paris.
(2. — 9. August 1900.)
(Fortsetzung.)
Abtheilung für Dermatologie und Syphiligraphie.
Referent Dr. Sp.
II. Prof. Camp an a (Rom): Die Tuberculide. (Fort¬
setzung.)
Injectionen der Tuberculine.
Die Injectionen haben bei Thieren verschiedene Grade der Infil¬
tration und Entzündung der Organe hervorgerufen, in welche dieselben
gemacht wurden. .
Das Pferd verträgt Injectionen des alten Tuberculin in kolos¬
salen Quantitäten; ich halte mich an Prof. B a ru c h el 1 o, welcher
diese Injectionen vorgenommen hat, dass man weder an der Injections-
stelle, noch im Organismus überhaupt irgend eine Alteration wahr¬
nehmen kann; nur in der Gegend, in welcher injicirt wurde, findet
sich ein sehr schwacher Grad ödematöser Infiltration, dev in zwei bis
drei Stunden verschwindet. Man kann constatiren, dass das Tuberculin
im Blute des Thieves geblieben ist, und wenn ich einer von Lupus
befallenen Frau das Serum des Thieres, welches zu dem Versuche ge¬
braucht wurde, einspritzte, so erhielt ich die Phänomene allgemeiner
und localer Reaction, welche das alte Tuberculin erzeugt (Ca mp a na,
La Tuberculina nel Lupus. Policlinico. 1896. — Brocchieri, Sulla
Tuberculina antica e la Tuberculina R (R). Policlinico. 1898)..
Beim Hasen und Meerschweinchen haben die Tuberculininjectionen
eine sehr schwache Reaction am Orte der Einspritzung, sowie in dessen
Umgebung erzeugt.
Wenn die persönlichen Erfahrungen, von denen ich beuchtet
habe, den Beweis liefern, dass die Derivate des Bacillus der Tubercu-
lose an und für sich die Ursache der Störungen in den Organen sind,
auf welche sie wirken, so zeigt dies, dass die tuberculösen Alterationen
die Folge der directen Wirkung des Bacillus und seiner Derivate sind
Aber man beobachtet auch indirecte Folgen.
Man begreift leicht, dass auf der Klinik, wo es unmöglich ist,
zu unterscheiden, wo die Wirkung des Bacillus anfängt oder endet,
wo die Wirkling der Gifte beginnt, es unmöglich ist, eine exacte
Definition des Wortes Tuber culid zu geben. Aus diesem Grunde
nennen wir alle durch Tuberculose hervorgerufenen Hautaffectionen
Tuberculide.
Ausser den sicher tuberculösen Manifestationen begegnen wir
auch hereditären, welche wir scrophulöse nennen.
Auch bei Kindern alkoholischer Eltern beobachtet man hereditäre
Folgen auf Ernährung und Knochen, ebenso hängen viele Hautleiden
von der Tuberculose der Eltern ab.
Die Unterernährung der Gefässe, die Oedeme des Bindegewebes,
des Gesichtes und der Gliedmassen haben eine sehr grosse Aehnlichkeit
mit den experimentellen Wirkungendes alten Tubeiculins au f io e
fässe und das Bindegewebe. . ,
Die Haut ist für die Wirkungen der tuberculösen T oxme sehr
empfindlich, auch sieht man sehr häufig, scrophulöse Hautleiden ohne
andere tuberculose Läsionen sich entwickeln, entweder direct oder^ durch
Vermittlung des Nervensystems, auf welches die tuberculösen Toxine
einen sehr grossen Einfluss haben.
Hingegen ist die Wirkung der Toxine auf das Protoplasma sehr
langsam.
Ich denke, dass die grosse Widerstandsfähigkeit der Haut gegen¬
über dem Tuberkelbacillus nicht das Resultat ihres Baues ist, sondern
weil die Haut wenig Sauerstoff einschliesst, so dass der Bacillus ge-
nöthigt ist, von einer sehr stark aerobischen Existenz., vie diejenige,
welche er in den Lungen hat, woselbst er die gefährlichsten Läsionen
hervorruft, in ein fast anaürobisches Leben Überzugellen, welches tur
seine Vitalität verhängnisvoll ist. _
Der Beweis für diese Hypothese ist durch die giosse > e ten iei
dieses Bacillus in den primären, tuberculösen Läsionen der Haut, und
durch die Abschwächung seiner basophilen Eigenschaften gegeben,
wenn man die Haut studirt; man weiss, dass er sich in der Haut viel
rascher färbt und nur schwach gesäuerte Bäder verträgt.
In Folge dieser Erwägung denke ich, dass man klinisch ein
Tuberculid, erzeugt durch Toxine, von einem Tuberculid, erzeugt durch
den Bacillus, nicht unterscheiden kann, denn es ist unmöglich, eine
tuberculose Affection, in welcher man die Anwesenheit von Bacillen
nicht constatirt, einfach als toxischen Ursprungs zu betrachten. Anderer¬
seits glaube ich, dass eine allgemeine tuberculose Vergiftung wohl die
prädisponirende Ursache gewisser Hautläsionen äusseren Ursprungs mit
langsamem Verlaufe ist, welche wahre tuberculose Erkrankungen Vor¬
täuschen und die man mit Aufmerksamkeit studiren muss, um selbe
nicht als Tuberculose oder Tuberculide, sondern als das Ergebniss
einer scroptiulösen Prädisposition zu betrachten, ebenso wie man täglich
Ekzeme, Akne, als Resultat einer an constitutionelle Ernährungsstörung
gebundenen Prädisposition gewahrt, welche Dicht mehr die Syphilis
selbst, sondern eine Abweichung in der Ernährung mit Schwächung
der Umwandlung der Gewebe darstellt.
III. Darier (Paris) : Ueber Tuberculide. _ .
A. Neben und ausser den bacillären Hauttuberculosen existirt
eine Gruppe Dermatosen, welche man Tuberculide mit folgenden
charakteristischen Zügen benennt.
a) Die Tuberculide stehen klinisch in Beziehung zur Tuberculose,
so dass man sie nur bei Kranken beobachtet, welche von dem Koch-
scheu Bacillus inficirt sind, oder mit Berechtigung dessen ver¬
dächtig sind. ^ groggen MehrzaW der Fälle scheinen die tuberculiden
Läsionen den Koch’schen Bacillus nicht zu enthalten; in Wirklichkeit
haben, Ausnahmen zugegeben, die bacteriologischen und experimentellen
Nachforschungen die Anwesenheit dieses Bacillus zur Evidenz nie
nachweisen können. „.
Der Widerspruch, welcher zwischen diesen wichtigen Eigen¬
schaften der Tuberculide bestellt, entrollt ein interessantes Problem,
nämlich der Signification, Natur und Pathogenie dieser Eruptionen
Um dieses zu lösen, darf keines der zu Gebote stehenden Mittel
vernachlässigt werden. . „ . . .
Nach Verzeichniss der Liste jener Affectionen, welche man
heutzutage als zur Gruppe der Tuberculide gehörig betrachten kann,
werde ich berichten, was über dieselben vom ätiologischen, klinischen,
histologischen und bacteriellen Standpunkte bekannt ist. Endlich werde
ich, da dieses Stadium im gegenwärtigen Zeitpunkte noch weit davon
entfernt ist, vollendet zu sein, noch zu den Hypothesen greifen müssen,
welche man zur Ausfüllung von Lücken der positiven, wissenschaftlichen
Thatsachen erdacht hat.
B. Die Gruppe der Tuberculide umfasst eine grosse Zahl erup¬
tiver Formen, von denen folgende die wichtigsten sind .
1. Lupus erythematodes disseminatus (Böckh) .— disseminirte
Folliculitis der kahlen Hautstellen (Brocq) — Acmtis und .1 ollic is
(Barthelemy) — Folliculitis exulcerans (Lukasiewicz)-
Hydradenitis suppurativa (Pollitzer, Dubreuilh) cne e an
giectodes (K aposi) — Granulome innominö (T e n neso n).
Toxi-tuberculides papulo necrotiques (H a 1 1 o p e a u) — diese vielfac
Namen bezeichnen ein und dieselbe Gattung.
2. Acne cachecticorum.
3. Lichen scrophulosorum. t .
4. Lupus erythematodes (Gazen ave) und seine Varietäten.
5. Lupus erythematodes disseminatus (K a p o s i), exanthematoide
(B e s n i e r).
6. Lupus pernio.
7. Erytheme indure de Bazin.
8. Einige Arten von Lupus nodulaire eruptif und von Lupus
tubereulosus en placards multiples (Darier).
Für einige andere, übrigens zerstreute Affectionen ist es zwe.fe
haft, ob man sie liier einreihen solle oder nicht. Ich führe blos an.
1. Pityriasis lubra (H e b r a, Jadassohn .
2. Eczema scrophulosorum (BoeklO.
3. Angiokeratom von Mibelli (Le redd et.
4. Gewisse Formen von Frostbeulen (Engelures).
5. Akroasphyxie
798
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 35
Sehr häufig sieht man verschiedene eruptive Formen, die ich
bereits angeführt habe, bei einem und demselben Kranken. Ausser
diesen Combinationen beobachtet man sehr häufig Uebergänge zwischen
zwei benachbarten Typen. Daraus geht hervor, dass nichts sicherer ist,
als die engen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den einzelnen
Formen, welche man unter die Tuberculide einreiht, dass aber auch
nichts schwieriger ist, als zwischen denselben eine präcise Eintheilung
festzustellen. Ich betrachte die bezüglichen Bestrebungen noch für
verfrüht.
C. A e t i o 1 o g i e. Im Allgemeinen beobachtet man die Tuber¬
culide bei tuberculösen Kranken.
Manchmal handelt es sich dabei um allgemeine viscerale Tuber-
culose, um gewöhnliche Phthise; doch ist dies nicht der häufigste Fall.
Manchmal sind die Tuberculide an langsam verlaufende Tuberculösen
gebunden, hauptsächlich an Localisation in den Drüsen, aber auch in
den Lungen, in den serösen Häuten, Gelenken oder Knochen, welche
Affectionen mit Verlängerung des Lebens, mit einem hinreichend guten
und selbst blühenden Allgemeinzustande verträglich sind, in vielen
Fällen verheilen können, und im Ganzen abgeschwächte, bacilläre In-
fectionen darstellen. Manchmal sind die Tuberculide mit bacillären
Tuberculösen der Haut, wie Lupus tubereulosus oder Scrophuloderma,
vereinigt.
Manchmal begegnet man ihnen bei anscheinend gesunden, aber
nichtsdestoweniger verdächtigen Individuen, sei es wegen erblicher
oder persönlicher Antecedentien, sei es wegen deren gegenwärtiger
Blässe, Schwäche u. s. w. Bei Manchen derselben, die man längere
Zeit überwacht hat, konnte man das Erscheinen der lange Zeit latent
gebliebenen Tuberculose wahrnehmen; ein Ausbruch von Tuberculiden
kann ein frühzeitiges Zeichen (und dadui'ch von hoher Bedeutung)
bacillärer Infection darstellen. Endlich kann man beobachten, dass die
Tuberculose in den Centren ungemein häufig ist, wobei wir wahr¬
nehmen, dass die Diagnose unendlich schwierig ist, ja dass die Krank¬
heit sich entwickeln und heilen kann, ohne in irgend einem Momente
klinisch evident gewesen zu sein. Selbst die Autopsie kann die Spuren
einer abgeschwächten Tuberculose entwischen lassen, wenn jene nicht
mit äusserster Sorgfalt vorgenommen wurde.
D. Bacteriologische und experimentelle Er¬
gebnisse.
Die Nachforschung nach Koc h’schen Bacillen in den tuber¬
culiden Läsionen hat fast durchgehends negative Resultate ergeben.
Aber man kennt die Sorge und Geduld, welche diese Untersuchung
erheischt, da selbst Koch beim tuberculösen Lupus den Bacillus erst
nach 30 — 40 Schnitten gefunden hat.
Die Ueberimpfungen auf das für die Tuberculose empfindliche
Meerschweinchen hat fast immer das Nichtvorhandensein eines inficiren-
den Vermögens der Tuberculide bewiesen. Die Bedingungen des Alters
der Läsionen, der Quantität des inoculirten Gewebes müssen in Er¬
wägung gezogen und die Versuche dieser Art können nicht oft genug
vervielfältigt werden.
In Wirklichkeit kann man bei verschiedenen Formen, die be¬
sonders die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt haben, in Berücksichti
gung gewisser Misserfolge einige positive Ergebnisse anführen. So
gelang es Jakobi, dann Haushalter, P e 1 1 i z z a r i und Wolff
bei Lichen scrophulosorum Bacillen zu finden, und haben sie durch
Inoculation den Beweis der inficirenden Kraft dieser Bacillen
erlangt.
Beim Erythema induratum von Bazin, Thibierge und
R a v a u x haben sie keine Bacillen gefunden, aber in einem Falle von
dreien gelang ihnen die Inoculation auf das Thier.
Was die Wirkung der Tuberculininjectionen auf die Träger von
Tuberculiden betrifft, kann man nur sagen, dass hier die locale regel¬
mässige und constante Reaction mangelt.
E. Klinisches.
Die Formen der Tuberculide sind zu sehr verschieden, als dass
man von denselben eine einheitliche Beschreibung geben könnte. Die
Symptomatologie der wichtigsten derselben ist ohnehin genügend
bekannt.
Ich werde mich beschränken, hier nur einige Eigenschaften her¬
vorzuheben, welche der ganzen Gruppe gemeinsam sind.
Die Tuberculide erscheinen gewöhnlich plötzlich, ohne Fieber.
Die Eruptionen schreiten stossweise vorwärts, zuweilen ohne Unter¬
brechung, continuirlich, zuweilen intermittirend.
Die Abschnitte haben oft eine symmetrische Vertheilung. Sie
können alle Hautpartien befallen, je nach ihrer Form eine bestimmte
Vorliebe für diese oder jene Region nachweisend.
Diese Elemente sind an Zahl sehr verschieden; oft isolirt, zu¬
weilen gruppirt; gewöhnlich von violettrother oder livider Färbung;
von selbst schmerzlos, beim Berühren schmerzhaft. Ihre Dimensionen
variiren von der kleinsten Papel oder Pustel bis zu umfangreichen
Knoten oder au9gebreiteten Plaques.
Ihre individuelle Entwicklung ist relativ langsam und dehnt sich
auf Wochen aus, mitunter auf Monate. Sie geht nach Form und Ver¬
lauf in verschiedenem Sinne vor sich, mit dem Ausgange in Resorption
mit oder ohne consecutive Atrophie, oder in Eiterung, oder in zu¬
weilen tiefgehende Nekrose mit Geschwürsbildung, Elimination und
bleibende Vernarbung.
Alter und Geschlecht üben einen wohlbekannten Einfluss auf
das Erscheinen dieser oder jener der wichtigsten Formen der
Tuberculide.
F. Pathologische Anatomie.
Die tuberculiden Läsionen sind nicht von einheitlicher Gestaltung;
die Untersuchungen beweisen, dass man sie in eine continuirliche Serie
einreihen kann, welche mit unmerklichen Abstufungen zwei dem An¬
sehen nach entgegengesetzte Typen vereinigt, die ich mit A und B
bezeichnen werde.
Beim Typus A (zu welchem am öftesten Lichen scrophulosorum,
Acnitis, Lupus nodularis disseminatus gehört) geht in der Haut eine
Neubildung charakteristischen tuberculösen Gewebes vor sich, mit
zahlreichen Riesenzellen, epithelioiden Zellen, lymphoiden oder plas¬
matischen Zellen; diese Elemente nehmen eine noduläre oder follicu-
läre Gruppirung an mit Tendenz zu käsiger Degeneration.
Beim Typus B (Lupus erythematodes, dessen Varietäten, Fol-
lictis etc., bestehen die Läsionen hauptsächlich in Zügen runder oder
plasmodischer Zellen rings um die Gefässe der Haut; in Gefässalte-
rationen mit Erweiterung oder gegentheilig mit Verengt rung und selbst
Obliteration ihres Calibers; in der Bildung mehr weniger ausgedehnter
nekrotischer Herde.
Der Beweis, dass die Typen A und B fundamental nicht ver¬
schieden sind, ist durch ihre Vereinigung in gewissen Fällen und
durch die verschiedenen Ergebnisse der histologischen Untersuchung
in derselben klinischen Form geliefert. Bei verschiedenem Lupus ery¬
thematodes, dessen histologische Structur fast immer dem Typus B an¬
gehört, haben Andry und Leredde die Gegenwart der Knötchen
des Typus A verzeichnet. Dasselbe gilt vom Erytheme indure von
Bazin und man hat von diesem Gesichtspunkte nur die von
Leredde und die von Thibierge und R a v a u t erhaltenen Re¬
sultaten zu vergleichen.
G. Pathogenic.
Die von mir berichteten ätiologischen, klinischen, histologischen
und experimentellen Thatsachen sind nicht ausreichend, um den
Tuberculiden eine wissenschaftlich feststehende Pathogenese zu ver¬
leihen.
Man ist auf diesem Gebiete auf mehr minder plausible Hypo¬
thesen angewiesen.
a ) Die Hypothese der Intervention unbekannter Mikroben
welche von den Koc h’schen Bacillen verschieden sind, aber zu ihrer
Entwicklung ein von anderen Bacillen besetztes Terrain erforderten,
hat gar keinen Beweis ihres Bestehens und ist durch die einstimmig
negativen Resultate der diesbezüglichen Nachforschungen wider¬
sprochen.
b) Die Hypothese, welche mit Toxi-Tuberculides be¬
zeichnet wird, vorgeschlagen für die Affectionen, welche wir studiren,
und deren Erscheinen durch die Wirkung der vom Koc h’schen
Bacillus ausgeschiedenen Toxine bedingt wären, ist eine Anschauung
genialen Geistes. Nach dem Einen würden die Toxine local wirken auf
den Theil der Haut, wo die Eruption ihren Sitz hat; nach Anderen
würden die in Rede stehenden Toxine gewisse vasomotorische Centren
beeinflussen, deren Läsion eine trophische Eruption hervorriefe.
Ich möchte dieser Anschauung nur einen Vorwurf machen,
nämlich, dass sie die ausnahmsweisen, aber sicheren Fälle nicht erklärt,
bei denen man die Gegenwart des K o c h’schen Bacillus oder die In-
fectiosität der Läsionen constatirt hat.
c) Erübrigt noch die Hypothese, nach welcher die Tuberculide
durch Embolien geschwächter und sehr wenig virulenter Bacillen ent¬
stünden, welche in die Haut im Wege des Kreislaufes gedrungen sind
und in ihrem Kampfe gegen die phagocytische oder bactericide Reaction
der ergriffenen Gewebe rapid unterlägen. Die Tuberculide wären in
diesem Falle nur vom Blute abstammende Hauttuberculosen, bacillär
in einem mehr weniger kurzen Zeiträume, in der Folge aber ohne
Wirkung.
Diese Anschauung erklärt in hinreichender Weise alle bekannten
Thatsachen und besonders die zufällige Anwesenheit von Bacillen; sie
lässt voraussehen, dass die positiven Resultate mit der Zahl der Unter¬
suchungen sich vervielfältigen werden.
Sie erklärt das zerstreute Auftreten und die habituelle Sym¬
metrie der Läsionen, Eigenschaften, die auch den embolischen Affec-
tionen zukommen.
Sie ist nicht im Widerspruche mit den Kenntnissen der Patho¬
logie über bacilläre Läsionen, von denen man weiss, dass diese
auch in anderen Geweben als der Haut, in Drüsen- und Knochen-
Nr. 35
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
799
gewoben z. B., spontan ausheilen können und weder mehr nachweisbare
Bacillen in sich schliessen, noch auch überimpfbar sind. _
Uebrigens muss man anerkennen, dass diese Theorie für den
Moment noch hypothetisch ist und neue Untersuchungen erfordert,
welche dieselbe bestätigen oder umwandeln können.
*
A b t h e i 1 u n g für innere M e d i c i n.
II. Sitzung.
I. Referent : Boas (Berlin) : Symptomatologie, Dia¬
gnostik und klinischer Verlauf der Colitis mem¬
bra n a c e a. ... , . , ,
Unter Colitis membranacea verstehen wir eine eigenartige, katar¬
rhalische, zu plastischer Schleimbildung tendirende Erkrankung des
t'1 ■’ ^ -- erheblich
Colon. Neben dieser häufigsten Form gibt es eine zweite,
seltenere, bei welcher die Krankheitserscheinungen anfallsweise auf-
treten, während in den Intervallen keine wesentlichen subjektiven Be¬
schwerden bestehen, ausgenommen vielleicht Koprostase. Diese Form
bezeichnet man als Colitis mucosa. Es gibt ferner eine dritte Form,
die man als Colitis membranacea arteficialis bezeichnen kann. Man
kann dieselbe durch wiederholte adstringirende Einläufe (besonders
Tannin) bei Individuen mit Colitis, nicht aber bei Gesunden hervor
rufen. Das Symptomenbild der Colitis membranacea wird im Wesent
liehen beherrscht durch Stuhlverstopfung, Kolik, Entleerung schleimig
membranöser Massen, spastische Atonie des Darmes, und den nervösen
Allgemeinzustand. Indessen können mehrere der genannten Symptome
fehlen. Indessen ist Obstipation fast constant. Entscheidend für die
Diagnose ist lediglich der Befund der charakteristischen Schleim¬
massen. Die übrigen Symptome, die Druckempfindlichkeit, die Enteio-
oder Coloptose, die Wanderniere können allenfalls die Diagnose unter¬
stützen. Es ist eine unerlässliche Aufgabe des Diagnostikers, festzu¬
stellen, ob die Colitis membranacea ein primäres oder secundäres,
respective complicirendes Leiden darstellt. Auch die Feststellung des
arteficiellen Ursprunges der membranösen Colitis ist von praktischer
Wichtigkeit. Eine Differentialdiagnose kommt bei aufmerksamer Unter¬
suchung lediglich gegenüber der Colitis mucosa in Betracht. Duich
häufige Beobachtungen der Anfälle, sowie durch methodische in den
Intervallen vorzunehmende Darmspülungen wird eine Entscheidung fast
immer möglich sein. Der Verlauf der Colitis membranacea geht genau
parallel dem der habituellen Obstipation. Einflüsse, welche diese
bessern, bringen auch jene zum Schwinden und umgekehrt..
Correferent: Mannaberg (Wien): Man muss zwischen En¬
teritis membranacea und Cohca mucosa unterscheiden. Eisteie ist eine
häufig vorkommende subacute oder chronische katarrhalische Affection
des Dickdarmes, welche von besonders schleimreichen Entleerungen be¬
gleitet ist. Dagegen ist die Colica mucosa ein sehr seltener Krankhejts-
zustand, der durch Anfälle heftiger Leibschmerzen gekennzeichnet ist,
denen die Entleerung der Schleimmassen folgt. Jede der beiden Iviank
heiten stellt eine selbstständige Einheit dar. Die erstere ist nur ein
gewöhnlicher Darmkatarrh mit Beimischung reichlicher Schleimmassen.
Ihre Pathogenese ist dieselbe wie beim Dickdarmkatari h im All¬
gemeinen. Die Colica mucosa dagegen hat eine besondere. In der
Mehrzahl der Fälle beruht sie auf der Grundlage allgemeiner
Neurasthenie oder Hysterie, so das man sie als eine Darmnemose be¬
trachten kann. Dieselbe kann als isolirte Erscheinung der Neurasthenie
auftreten. Bei so Disponirten können Gelegenheitsursachen die Anfälle
hervorrufen: Vor allen Erkrankungen des Genitalapparates beim
Manne wie bei der Frau, ferner chronische Stuhlverstopfung, reizende
Mastdarmeingiessungen, organische Darmerkrankungen. Die Colica
mucosa ■ ist häufig von anderen Krankheitserscheinungen begleitet,
welche sie zwar nicht hervorruft, aber auf dieselbe neivöse Basis
zurückzuführen sind: Die Achyilia gastrica, nervöse Dyspepsie,
spastische Darmcontractionen, Enteroptose. Die pathologische Anatomie
der Enteritis membranacea ist dieselbe wie die der Enteritis im All¬
gemeinen. Bei der Colica mucosa haben die sehr spärlichen
Autopsien bisher kein wesentliches anatomisches Substrat erkennen
läSSCD
Correferent: Mathieu (Paris): Bei der „Colite muco-membra-
neuse“ besteht in der Regel Obstipation, die häufig spastischen .Ur¬
sprunges ist. Wenn vorübergehend Diarrhöe eintritt, ist sie I olge eines
zufällig hinzukommenden Darmkatarrhs. Stets ist eine secretoiisclie
Reizung der Darmschleimhaut vorhanden. In ihrer ganzen Stärke. tritt
diese Affection nur bei neurasthenisehen Personen auf. Sie steigert
diese Disposition noch wesentlich und dehnt sie auf das Abdomen aus.
Sie geht oft mit Visceralptosis einher, die auf dieselbe Ursache zurück¬
zuführen ist. Die nervöse Reizbarkeit des Darmes führt zu einer
Hyperästhesie und Steigerung der Motilität, welche die Ursache der
spastischen Contractionen sind. Die locale und allgemeine Neurose be¬
einflussen sich beständig gegenseitig, so dass die eine immer zeitweise
die andere steigert. Darauf muss die Therapie Rücksicht nehmen. In
Folge unzureichender Ernährung und der Schmerzanfälle kommt es
zuweilen zu Abmagerung und Anämie. Die Obstipation ist gleichzeitig
Ursache und Wirkung der Colitis. Mit ihrer Beseitigung ist auch die
Heilung der Colitis sicher gegeben. Zur Behandlung der Obstipation
empfehlen sich besonders das Ricinusöl, hohe Darmeinläufe und Bella¬
donna. Dagegen sind alle Mittel zu vermeiden, welche die Secretron
der Schleimhaut oder den Spasmus der Darmwand steigern könnten.
Das Ricinusöl wird am frühen Morgen in kleinen Dosen verabreicht
abwechselnd mit dem Klystieren, die nur langsam und unter geringem
Drucke, ungefähr 40° warm, in Menge von lVj 2'/2 ^ geg0t>en werden
sollen. Diese Darmspülungen mildern den Darmreiz und den Spasmus,
führen zur Entleerung der angehäuften Schleimmassen und haben
dadurch eine mechanische antiseptische Wirkung, welche der Ent¬
stehung intestinaler Autointoxicationen vorbeugt. Man kann warmes
Wasser benützen, auch Natron bicarb, oder Natron salicyl, zusetzen,
und zur Einwirkung auf den Darmkatarrh eine sehr verdünnte Lösung
von Ammon, ichthyol. Drastische Purgantien, adstringirende Injectionen
und Darmmassage sind zu untersagen. Die mehrfach empfohlene vege¬
tarische Diät wird nicht immer vertragen, und man ist gezwungen,
eine blande Diät zu verordnen, wenn sie auch die Obstipation be¬
günstigt. Zu empfehlen sind noch prolongirte warme Bäder und
warme Abwaschungen. Die allgemeine Neurasthenie ist nach den
üblichen Methoden zu behandeln.
Discussion: Langenhagen (Plumbieres) meint, dass
neben der Hauptform, welche mit Obstipation einhergeht, eine zweite
anzunehmen ist, bei welcher ständig Diarrhöen bestehen. Er fand 32
solche unter 600 Fällen. Von den drei Hauptzeichen der Erkrankung
(Abgang von Schleim und Membranen mit den Fäces, Unregelmässig¬
keit der Darmfunction und Schmerzen) fehlen letztere etwa in 5 dei
Fälle. In 9 von 100 Fällen hat Redner das Vorkommen von Darm¬
steinen bei Enterocolitis muco-membranosa beobachtet. Sie ist anderer¬
seits eine stete Begleiterin der Darmsteine.
Dieulafoy (Paris) erörtert die Frage eines Zusammenhanges
zwischen Enterocolitis mucosa und Appendicitis, die nach Ansicht
einiger Autoren aus ersterer hervorgehen könnte. Die Thatsachen
sprechen aber dagegen. Man findet bei solchen Kranken nie Ei-
scheinungen von Blinddarmentzündung, auch wenn sich der Process
auf das Cöcum erstreckt. Nur einmal bei 117 Kranken mit Appendi¬
citis, welche D i e u 1 a fo y hat operiren lassen, hater eine Entero¬
colitis gefunden. Aber es gibt Kranke, die Diarrhöen in Folge der
Appendicitis haben. Nach der Operation hören sie sofort auf. Bei
einer Kranken, in welcher man Appendicitis vermuthet batte, fand
sich bei der Operation der Wurmfortsatz gesund. Die Schmerzen
rührten vielmehr von einer Colica mucosa her.
Ewald (Berlin) : Es gibt eine Form der Enteritis membranacea,
welche die Folge einer Entzündung oder Reizung der Schleimhaut des
Darmes ist, zum Beispiel nach Dysenterie, acutem oder chronischen
Darmkatarrh irgend welcher Ursache. Aber, die Mehrzahl der Falle
lässt eine solche Basis doch vermissen, sie sind vielmehr vollkommen
neuropathischen Ursprunges. Was die Pathogenese der sogenannten
Colica mucosa und der Enteritis membranacea anlangt, so bestehen
keine principiellen Unterschiede zwischen ihnen, es handelt sich viel
mehr nur um verschiedene Symptome ein und derselben Krankheit.
Dafür sprechen folgende Thatsachen: 1. Die grössere Häufigkeit bei
den Frauen. 2. Die häufige Complication mit Genitalerkrankungen,
besonders des Uterus. 3. Das gleichzeitige Vorhandensein von Achylia
gastrica, die der Ausdruck allgemeiner Neurasthenie ist. 4. Das Ab¬
wechseln beider Krankheitszustände bei ein und derselben Person.
5. Es bestehen keine qualitativen oder quantitativen Unterschiede in
dem Verhältniss der entleerten Schleimmassen. 6. Die Obstipation ist
nicht die Ursache, denn es findet sich öfters auch Diarrhoe. 7. Die
Heilung mit Beseitigung der Neurasthenie. ..
Einhorn (New York) hält die nervöse Grundlage gleichfalls
für sicher. Dafür spricht das häufig periodische Auftreten in Zeiten
vollkommenen Wohlbefindens, ferner die Neurasthenie der Kranken
(meist Frauen), die Vergesellschaftung mit Enteroptose und die otters
vorkommende Achylie.
II. Hemmeter (Baltimore) : Etude experimentale sur
Faction mot rice et digestive des intestins.
Man sollte glauben, dass kleinste Theile Stärkemehles, die ms
Rectum eingeführt werden, bis in den Magen hinauf gelangen könnten.
Augenscheinlich verhindern aber die Salzsäure und das Koc isa z ks
Bewegung, welche sich wahrscheinlich bei der Berührung mi ei
Schleimhaut selbst vollzieht in Folge der Contraction der Muscularis
mucosa. Der wässerige Extract des Rectalinhaltes enthalt noch
proteolytisches und amylolytisches Ferment. Wenn man bei Hum n
drei Wochen hindurch eine sterile Kost verabreicht und mehrfach
Chymol- und Sublimatauswaschungen vornimmt findet man doch
immer noch Mikroben im Darme, unter denen Fact, coli, btxep > o-
coccen und Proteus vulgaris vorherrschen Die Gegen wait i
800
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 35
Mikroben scheint übrigens für die normale Verdauung unerlässlich
zu sein.
III. Zabe (Paris) : Hernie ombilieale et enteroptose.
Correlation de cause äeffet.
Theoretische Betrachtungen über die Entstehung des Nabel¬
bruches: Der fibröse Nabelring ist das statische Centrum der Bauch¬
höhle; wenn er nicht mehr straff gespannt, kommen die Eingeweide
aus dem Gleichgewicht und sinken nach unten.
IV. Esguerra (Columbien) : Intervention chirur-
gicale dans l’appendicite.
Vortragender w’endet sich dagegen, dass jede Appendicitis nur
durch Operation zu heilen ist — eine Anschauung, die bereits ins
Volk einzudringen beginne. Es kommt doch noch oft genug vor, dass
eine Appendicitis spontan heilt, und das muss sich der Arzt selbst
sagen, wenn er dem Kranken und seinen Angehörigen die Operation
vorschlägt — ein Eingriff, der oft eine ebenso grosse Gefahr be¬
deutet, als die Krankheit selbst. Nur ein sehr geübter Chirurg kann
der Unschädlichkeit der Operation sicher sein. In allen Ländern ist
aber die Technik noch nicht so vollkommen.
V. Netter (Paris) : Des symptömes meningitiques
dans la fievre typhoide.
Durch meningitische Symptome im Verlaufe des Typhus
(K erni g’schos Symptom) wird die Prognose besonders bei Kindern
sehr getrübt, ebenso bei Greisen und geschwächten Personen. Ent¬
weder handelt es sich nur um eine Pseudomeningitis, odtr es ist
wirklich ein seröses Exsudat vorhanden, das den Bacillus Eberth
enthält. Redner hat unter 44 Fällen dieser Art 9 Todesfälle und
8 Recidive, dagegen unter 969 Fällen von gewöhnlichem Typhus nur
15 Todesfälle und 43 Rückfälle. Die meningitischen Fälle haben sich
in den letzten Jahren auffällig gehäuft.
VI. G a 1 1 i a r d (Paris): Pleuresie purulente ä bacill es
d’Eberth. Guerison sans pleurotomie.
Ein Mädchen von 16 Jahren erkrankte im März d. J. an
leichtem Typhus. Einen Tag nach der Entfieberung traten plötzlich
Schmerzen in der linken Seite auf, leichtes Fieber andauernd. Nach
14 Tagen Probepunction: blutig-eiteriges Exsudat. Durch
Thoracocentese werden 250 cm :i Harn entleert und Einspritzung von
50 g verdünnter Carbolsäure in die Pleura zur Desinfection. Danach
ein Anfall schwerer Carbolintoxication, welcher nach einigen Tagen
voi überging. In den nächsten Wochen hat Redner dann die
Thoracocentese noch fünfmal wiederholt und stets eiterige Flüssigkeit
in verschieden grosser Menge entleert. Die Kranke hat nur eine
pleuritische Schwäche zurückbehalten, ist sonst aber völlig gesund
geworden.
VII. Bloch: Origine de la teinte jaune chloro-
t i q u e.
Man hat bisher angenommen, dass die gelbgrüne Farbe der
Bleichsüchtigen dadurch zu Stande kommt, dass das Hämoglobin in
concentrirter Lösung die vollen Strahlen nicht durchlässt, dagegen die
gelben und grünen. Das scheint nicht richtig zu sein. Redner glaubt
vielmehr, dass diese Farbe, wie bei den braunen Racen und den
Kachektischen, von Pigmentanhäufungen herrührt, die man bei Chloro-
tischen an den Mammae, Gesicht und Fingern findet. Das Pigment
stammt aus zerstörtem Hämoglobin, welches sich in dem Rete Malpighii
der Haut ausscheidet.
VIII. Ferdinandez de Harra (Columbien): La t rai te¬
rn e n t moderne de la fievre jaune.
*
Abtheilung für Chirurgie.
Referent: Wohlgemuth (Berlin).
I. Sitzungstag. Nachmittagssitzung.
II. M. Villa r (Bordeaux): Diagnose und Behandlung
der Pankreastumoren.
Vortragender erwähnt zwei Fälle von Pankreastumoren, bei
denen erst die Section die Diagnose geklärt hat, und ist der Meinung,
dass man noch zu selten einen Tumor des Pankreas in den Kreis
seiner diagnostischen Erwägungen einschliesst. Trotz der Laparotomie
wurde in den beiden erwähnten Fällen die Pankreaserkrankung nicht
erkannt. V i 1 1 a r erinnert daran, dass gewisse subphrenische Abscesse
nicht selten ihren Ursprung von einer Erkrankung des Pankreas her¬
leiten, dass gewisse plötzliche Todesfälle den Gedanken an eine Apo¬
plexie des Pankreas aufkommen lassen müssten, und macht auf ein
bedeutsames Zeichen, bei dem man immer an das Pankreas denken
müsste, aufmerksam, d. i. der Schmerz, welcher sich von links nach
rechts und in die Fossa iliaca hinzieht. Die Diagnose der Tumoren
hält er für leichter, schon wegen der besonderen Symptome, dem
Schmerz, der sich zum Magen und zur Wirbelsäule erstreckt, dem
Dämpfungsbezirk in der Mittellinie, der nach oben von dem Magen¬
schall, nach unten von dem tympanitischen Klang des Darmes begrenzt
wird. In schwierigen Fällen geht allerdings die Tumordämpfung in die
Leberdämpfung über, hier muss man dann nach den erwähnten specifi-
schen pankreatischen Symptomen fahnden. Was nun die Therapie
anlangt, vorerst der Cysten, so ist die Exstirpation nicht selten
wegen der Adhärenzen und der starken Gefässe gefährlich, wenn
man nicht, was sehr selten der Fall ist, auf einen gestielten Tumor
trifft, dagegen gibt die einfache Entleerung derselben oft gute
Resultate. Die benignen solitären T u more n sind leicht zu exstir-
piren. Von den malignen Tumoren kann man die des Pankreas¬
schwanzes und gewisse Formen des Körpers wohl entfernen, doch nicht
gut die de3 Kopfes.
III. Soubbovitsch (Belgrad): Uebe reinen operirten
Fall von hämorrhagischer Pankreascyste.
Die pathologisch-anatomische Untersuchung hat ergeben, dass im
Anschluss an ein Trauma sich eine chronische Pankreatitis mit Indu¬
ration, Verengerung, respective Obliteration der Ausführungsgänge und
cystischen Erweiterungen gebildet hat, deren eine die Grösse eines
Kindskopfes erreichte.
IV. M i c h a u x (Paris) : Die Cholecystektomie in
Rücksicht auf ihre unmittelbaren und späteren
Resultate.
Von 50 Operationen an den Gallen wegen hat er 32mal bei ein¬
facher Calcnlose der nicht inficirten Blase mit verdickten Wänden die
Exstirpation derselben vorgeuommen. 28 Heilungen und 4 Todesfälle.
Sechsmal hat er die Choledochotomie mit der Cholecystektomie ausgeführt.
Dreimal traten dabei in den ersten 24 Stunden Herzanfälle auf, die
mit dem Gallenausfluss sistirten. Der Gallenfluss dauerte bis zu 3 '/s
Monate, trotz Unterbindung des Ductus cysticus. Michaux glaubt,
dass dieser Gallenfluss von der unteren Fläche der Leber oder von
einem Vas aberrans kommt. Nach der Operation sind hin und wieder
noch kleine Steinchen, die wahrschninlich in der Nachbarschaft geblieben
waren, abgegangen. Jedesmal ist eine grosse Besserung in dem Allge¬
meinzustande der Patienten eingetreten, die stets ein Jahr und länger
dauerte. Die Cholecystektomie gibt bessere Resultate, als die Chole-
cystotomie.
V. Reyncs (Marseille) ; Gallensteinerkrankung mit
den Symptomen einer Appendicitis. Transhepatische
Cholecystotomie.
Eine Frau von 60 Jahren erkrankte unter allen Zeichen einer
recidivirenden Appendicitis. Die Operation deckte eine Eitermasse auf,
die vom Cöeum bis zur unteren Leberfläche sich erstreckte, die mit
der Gallenblase und den angrenzenden Eingeweiden in undurchdring-
bare Verwachsungen eingebettet war. Nach Erweiterung des Bauch¬
schnittes nach oben Punction in der Richtung der Gallenblase von
der Leberconvexität aus. Der Troikart stiess auf eine Menge kleinster
Steinchen, wie wenn man ihn in Eis einbohrte. Spaltung der Leber in
der Richtung des Troikarts, so weit, dass eine Auslöffelung der Gallen¬
blase und Drainage derselben gemacht werden konnte. Eine analoge
Form der Erkrankung hat Terrier 1895 publicirt.
VI. Jonnesco (Bukarest): Die chirurgische Be¬
handlung der Hydatidencysten der Leber.
Redner bespricht die vier verschiedenen Arten des chirurgischen
Vorgehens: die Punction mit oder ohne Injection von antiparasitären
Flüssigkeiten, die sogenannte Marsupialisation, die Incision mit Aus¬
räumung und Naht der Cyste, die Enucleatien und Exstirpation. Die
letzte Operation ist so selten ausführbar, dass man sie nur ausnahms¬
weise wird anwenden können. Die Punction ist gefährlich und un¬
sicher. Die Operation der Wahl soll die Incision der Cyste, die Aus¬
räumung seines Inhaltes, die Entfernung der serösen Haut und Naht¬
drainage sein. Keine Tamponade, keine Befestigung an der Bauchwand.
Weder Umfang, noch Inhalt sollte von dieser Operation abhalten. Er
hat sechs Fälle von Faustgrösse bis zu einem Durchmesser von 30 cm
operirt, alle mit Erfolg. In einem Falle einer enormen Cyste der Leber
mit galligem Inhalt, der nie eine Contraindication bieten soll, hat er
gleich die rechte tuberculöse Niere mit fortgenommen. Der Patient ist
geheilt worden.
VII. Giordano (Venedig) : Beitrag zur chirurgischen
Behandlung der Leber abscesse.
Vortragender hat 72 Abscesse der Leber — eine Krankheit,
die nicht nur in heissen Ländern, sondern auch als Intoxication bei
Alkoholikern Vorkommen kann — operirt. Es waren meist Erwachsene
zwischen 30 — 50 Jahren. Der Eiter war in 58-4°/0 der Fälle steril, in
20,7°/o enthielt er ämoboide Formelemente, in 9'6% nur das Bacterium
coli und pyogene Mikroben. Die explorative Punction des Abscesses
hat keinen Werth. Es ist nur Laparotomie in Frage zu stellen. Von
seinen 72 Kranken sind 42 geheilt, 30 gestorben.
VII I. A d a m i d i (Kairo) : Pathologie und Behand¬
lung der Leber abscesse.
Redner sagt nichts Neues über diesen Gegenstand. Ueber das¬
selbe Thema spricht noch Hache (Beyreuth). Er hält die freie In-
Nr. 35
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
801
cision für äusserst gefährlich. Er hat zwei seiner Operirten an Peri¬
tonitis verloren. Verwachsungen sind eine Ausnahme, wenn man huh-
zeitig operirt. Die Sterilität des Eiters ist nicht immer constant. Die
beste Methode, die Peritonitis zu vermeiden, scheint ihm eine bieite
Incision der Bauchwand und Annähung der Leber an die Bauchwunde
zu sein- entweder ohne, oder mit einer vorhergegangenen Punetion
des" Abscesses. Wenn ein sehr voluminöser Abscess die Wahl lässt
zwischen einer intercostalen oder epigastrischen Incision, so glaubt er
die letztere vorziehen zu müssen. Mit der Punetion wird man auch einen
ziemlich voluminösen Abscess nicht immer treffen. Von seinen 48 Ope¬
rirten sind 7 gestorben, 4 an einem Rückfall und die 3 anderen an
Peritonitis, von denen eine schon vor der Operation bestand.
IX. Segale (Genua) : Eine neue Art der Blut¬
stillung bei der Leber durch eine besonders be¬
festigte Naht.
Redner glaubt, dass die Blutungen bei der Leberresection auf
eine unvollkommene Technik und auf eine Unzulänglichkeit unserer
blutstillenden Mittel in Rücksicht auf die anatomische Structur des
ausserordentlich gefässreichen und lockeren Organes zurückzufühlen
sind. Er ist daher der Meinung, dass man das directe lassen der
blutenden Gefässe vermeiden, und die Blutung vielmehr durch
eine gleichmässige und constante Compression hintanhalten muss. Zu
diesem Zwecke zieht er auf einen Catgutfaden kleine Röllchen aus
Ebenholz oder Elfenbein so fest auf, dass sie einen ganzen biegsamen
Stab zu bilden scheinen, legt diese nach der Naht der Leberwunde in
einem Abstand von ungefähr 1 cm ringsum die Naht herum und zieht
sie mit mehreren Catgutschlingen, die durch die Dicke der Lebersub¬
stanz hindurchgehen, fest an, so dass sie nun im Stande sind, einen
gleichmässigen Druck auf die Wundflächen auszuüben.
X. Jonnesco (Bukarest) : Splenektomie.
Vortragender hat 32mal die Splenektomie gemacht, 28mal
wegen Milzvergrösserung nach Sumpffieber, dreimal wegen leukämischer
Milzvergrösserung und einmal wegen Milzechinococcus. Nach diesen
Erfahrungen ist er zu folgenden Schlüssen gelangt: Die Splenektomie
ist contraindicirt bei leukämischer Hypertrophie der Milz, auch dann,
wenn der allgemeine und locale Zustand zufriedenstellend sind.. e
drei Operirte sind ohne irgend welche Complication ihrem leukämischen
Leiden erlegen. Bei den Hydatidencysten der Milz ist die Exstirpation
das rationelle Verfahren. Bei der Malariamilz ist die Exstirpation
immer gerechtfertigt, doch unter Beobachtung der Contraindicationen,
welche sind: 1. Cirrhose und überhaupt atrophische Zustände der
Leber, 2. ausgedehnte partielle Verwachsungen, 3. starker Ascites,
4. schlechter Allgemeinzustand mit Erkrankungen der Eingeweide.
Leichte Lebervergrösserung, mässiger Ascites, selbst ausgesprochene
Kachexie, Alter der Patienten und Umfang der Milz sind keine Contra¬
indicationen. Die Operation ist natürlich umso leichter und besser aus¬
führbar, je mobiler die Milz ist. Die fixirte Milz macht die Blutstillung
schwer, aber doch immer möglich. Die postoperativen Complicationen
sind am häufigsten Lungencongestionen, die zur Pneumonie führen
können. Ausserdem Pericarditis, Pleuritis, Peritonitis und secundäie
Blutungen. Nach jeder fieberlosen Milzexstirpation beobachtet man eine
Hypotoxicität des Urins, die drei bis vier Jahre andauern kann. Dei
therapeutische Effect der Exstirpation der Malariamilz ist ein ausge¬
zeichneter. Die Fieberanfälle verschwinden, der Allgemeinzustand wird
rapid besser, die Malariakachexie schreitet nicht weiter vor, der Ascites
wird geheilt. Vier Operirte hat er nach 4, S1/^, 3 und 2 Jahien
wiedergesehen, die vollkommen geheilt waren. Die Zahl der rotlien
Blutkörperchen wächst schnell von 2 — 3,000.000 auf 5 6,000.000,
die der weissen geht zur Norm zurück.
XI. Michailowsky (Sofia) gibt ebenfalls 16 Beobach¬
tungen von Exstirpation der Malariamilz zur Kennt-
niss, eine Exstirpation wegen hämorrhagischer Cyste nach Trauma.
Er betont ebenfalls die relative Gutartigkeit der Milzexstirpation,
ihre glänzenden Resultate, den Schwund der kachektiscben Symptome
nach der Operation und stellt diesen Resultaten die Machtlosigkeit der
internen Therapie gegenüber. Für die Operation wählt er gern den
Medianschnitt, der stets am vortheilhaftesten ist, sei es, dass die Milz
verwachsen, fixirt, mobil oder verlagert ist.
Als postoperative Complication hat er unmittelbar nachher eine
Temperatursteigerung beobachtet, die auf eine Pleurapneumonie zurück¬
zuführen war. Zu den Indicationen, respective Contraindicationen der
Operation möchte er noch hinzufügen, dass Schwangerschaft von
der Exstirpation nicht abhalten soll. Er hat eine Frau im fünften
Monate der Gravidität operirt, ohne dass letztere gestört worden
wäre. Von seinen 16 Operirten starb nur einer an linksseitiger 1 leuia-
pneumonie. Die Exstirpation der Milz ist nach seinem Dafürhalten das
rationelle Verfahren bei der Milzvergrösserung nach Malaria.
II. Sitzungstag. Vormittagssitzung.
Vorsitzender: Soimenburg (Berlin).
I. Morestin (Paris): Der Krebs der Wange.
Der Wangenkrebs ist ziemlich häufig. Prädilectionssitze sind die
Lippen, die Zunge und der Mundboden. Selten dagegen sieht man ihn
sich auf die Schleimhaut des Gaumens oder auf das Gaumensegel aus¬
breiten. Unter zwölf Kranken hat er nur eine einzige Frau. Die meisten
waren Raucher, alle Kranken hatten schlechte Zähne. Bei den meisten
Kranken war die Neubildung schon so weit vorgeschritten, dass es nicht
mehr möglich war, zu eruiren, ob Leukoplakien auf der kranken Wange
vorhanden waren. Meist begann die Krankheit in dei I uiche zwischen
Backe und Zahnfleisch, bei zweien in dem Winkel zwischen oberer
und unterer Zahnreihe. Nicht selten fanden sich in der Nachbai schaft
der Neubildung Abscesse, die, sei es, dass sie sich von selbst
öffneten, sei es, dass sie incidirt wurden, sich nicht mehr schlossen,
von den neoplastischen Sprossen ausgefüllt wurden. Gewöhnlich ist
der Krebs der Wange indolent so lange, bis entzündliche Erscheinungen
auftreten. Die Perforation der Backe ist ein schweres Symptom;
ihr folgt gewöhnlich bald darauf die Kachexie. Häufig sieht man,
dass der Ductus Stenonianus sich in der Mitte der carcinomatösen
Vegetationen öffnet, und dass er von einer aufsteigenden Infection ver¬
schont bleibt. Ein Umstand, der wohl auf den dauernden Speichelaus¬
fluss zurückzuführen ist, der diesen Ausführungsgang säubert. Die Pro¬
gnose des Wangenkrebses ist stets eine sehr ernste. Er entwickelt sich
in einigen Monaten, und sehr schnell ist er so weit vorgeschritten, dass
er sich der operativen Behandlung entzieht. Im Allgemeinen wird man
heute mit dem Tumor zusammen gleich den Unterkiefer und die sub-
maxillaren Drüsen fortnehmen. Von seinen zwölf Kranken hat er
fünf operirt; die anderen waren inoperabel. Von diesen fünfen ist
einer noch an demselben Tage gestorben. Die übrigen vier haben
die Operation ganz gut ertragen. Den einen von ihnen hat er aus
dem Gesieht verloren. Die anderen drei haben ein Recidiv be¬
kommen und sind drei bis acht Monate nach der Operation zu Grunde
gegangen.
II. Le Fort (Lille) : Experimentelle Fracturen der
Gesichtsknochen, besonders des Oberkiefers.
Vortragender zeigt die R ö n t g e n - Photographien dieser Frac¬
turen, deren äussere Zeichen, trotzdem sie manchmal recht ausgedehnt
waren, nicht zu erkennen waren. Die Knochenverschiebungen und die
Beweglichkeit derselben sind relativ selten gewesen.
Die Verletzungen der Gesichtsknochen haben die lendenz, die
Schädelbasis durch einen grossen Spalt von der Nasenwurzel bis zum
Foramen occipitale zu trennen.
Der Stoss, der die Mitte des Gesichtes trifft, sei es von vorne
nach hinten, von oben nach unten oder von unten nach oben
gehend, lässt die Backenknochen gewöhnlich intact, die dann am
Schädel fest bleiben, während nur die mittlere Partie des Gesichtes
nachgibt. # » . . .
Der Redner geht dann auf die Einzelheiten der fracturirten
Knochen ein mit genauer Beschreibung der einzelnen Fragmente.
III. Sever eanu (Bukarest) :Ueber eine neue Methode
der Oberkiefer resection.
Sie besteht darin, dass er die transversale D i e f f e n b a c h s
mit der verticalen Schnittführung von Maisonneuve verbindet
Für Vortheile dieser Schnittführung hält er, dass das Operationsfeld
grösser, die Narbe fast unsichtbar ist. Was die Resection des Neiv.
infraorbitalis anlangt und die Frage, ob nach der Durchschneidung
desselben auch eine Anästhesie der correspondirenden Gesichtshai fte
eintritt, so würde das nach der Meinung des Vortragenden nicht
schwer ins Gewicht fallen. Nichtsdestoweniger hat er jedes Mal nach
Möglichkeit den Nerv geschont und nie hat er eine Störung in der
Thränenabsonderung gesehen. Während er zuerst an nicht chloroformn-
ten Patienten operirt hat, hat er doch später die I rendelenbuig-
sehe präventive Tracheotomie und die Operation am herabhängenden
Kopfe vorgezogen. . x .
IV. Cuneo und V e a u (Paris) : Ueber die Pathogenie
der gemischten parabuccalen Tumoren.
Nach ihren Untersuchungen ist die glanduläre l heone dei
französischen sowohl wie die bindegewebige der deutschen Forscher für
sich allein unzureichend, die Pathogenie dieser Tumoren zu erklären.
Ihre Untersuchungen von Embryonen haben den Beweis geliefert, dass
diese Geschwülste stets Mischformen darstellten, wedei iein in e
eewebiger noch rein epithelialer Natur.
V. Morestin (Paris) : Ueber einen Speichel tumor
der Par otisgegend. . .
Mores tin beobachtete bei einem Kranken eine Erweiterung
der Speichelgänge der Parotis. Doch war es keine t-yste, 1 enn . 'est
sind geschlossen, währen der Inhalt dieses Tumors unter dem leichte¬
sten Druck in den Mund floss. Auch war es keine von den Dilata¬
tionen, die sich an eine chronische Entzündung anschliessen oder die
802
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 35
durch , irgend ein Hinderniss am Ausführungsgange hervorgerufen
werden, denn dieser war vollkommen durchgängig und kein Fremd¬
körper konnte in ihm nachgewiesen weiden. Die Geschwulst bestand
aus reinem flüssigen Speichel. Schliesslich trat, was nicht zu ver¬
meiden war, eine Infection ein und Morestin machte eine
Incision. Er war sehr erstaunt, auf keinen Hohlraum mit eigener
Wandung zu stossen, beschränkt sich auf Auslöffelung und Chlorzink¬
ätzung, unter deren mehrmonatlichen Anwendung schliesslich Heilung
ein trat.
VI. P e r a i r e (Paris): Trepanation wegen alte r V e r-
letzungen des Schädels.
Redner citirt zwei interessante Fälle, in deren ersten es sich um
eine Verletzung des Schädels sieben Jahre vor der Operation handelte.
Der Kranke bot das Bild schwerer Encephalitis. Die Operation legte
einen Abscess frei, nach dessen Entleerung und Drainage schnelle
Heilung eintrat. Im zweiten Falle verursachte eine Revolveikugel die
Gehirnerscheinungen, die nach der Extraction aufhörten. Der Fremd¬
körper sass zwölf Jahre an seinem Platze, ohne Erscheinungen zu
verursachen.
VII. C o d i v i 1 1 a (Bologna) : U e b e r die Technik der
Craniotomie.
Vortragender präsentirt ein Craniotom und den Schädel eines
kleinen Mädchens, welches D/2 Jahre nach der Craniotomie an all¬
gemeiner Tuberculose gestorben ist, um die Vorzüge seines Craniotoms
an ihm zu zeigen, die darin bestehen, dass es eine lineäre Incision in
den Knochen ohne Substanzverlust macht. Das Princip dieses
Craniotoms besteht darin, dass ein kleines Stahlmesser durch
mehrmaliges, kräftiges Hinüberführen in derselben Linie eine Furche
in den Schädel schneidet und ihn nach sechs bis zehn Zügen voll¬
ständig durchtrennt.
VIII. Nanu (Bukarest): Die temporäre Cr a niektomie
bei Gehirnabscessen.
Redner erzählt die Krankengeschichte eines Falles von Gehirn-
abscess, ausgehend von einer rechtsseitigen eiterigen Otitis interna, in
welchem er zuerst eine Aufmeisselung des Warzenfortsatzes vornahm,
als er aber hier nicht auf Eiter stiess, die temporäre Craniektomie an¬
schloss und durch Punction einen Abscess im Schläfenlappen aufdeckte.
Nach Entleerung desselben schloss er die Wunde bis auf eine kleine
Oeffnung im hinteren Winkel, durch welche er ein Drainrohr einführte.
Es trat vollkommene Heilung ein. Er t mpfiehlt die temporäre Crani-
ektomie wegen des grossen Ueberblickes.
IX. Fedor Krause (Berlin): 24 intracranielle
Trigeminusresectionen und deren Ergebnisse.
Die intracranielle Resection der einzelnen Trigeminusäste ist
nicht sicher im Erfolge; daher muss, sofern überhaupt der schwere
Eingriff mit Eröffnung der Schädelhöhle angezeigt erscheint, die E x-
stirpation des Ganglion Gasse r i und des Trigeminusstammes
vorgenommen werden. Krause hat diese Operation 24mal an Kranken
im Alter von 30 — 72 Jahren ausgeführt und stets das temporale Ver¬
fahren benützt, das er im Jahre 1892 angegeben. Eine 58jährige,
äusserst entkräftete Frau ist im Collaps gestorben, ein 72jähriger
Mann am sechsten Tage nach der Operation bei fieberlosem Verlauf
und prima intentione verklebter Wunde in Folge Sklerose der Coronar-
arterien und llerzinsufficienz, eine G7jährige Frau 14 Tage nach der
Operation bei geheilter Wunde an Influenza. Von den erst Operirten
sind noch jetzt am Leben eine 75jährige Frau und ein 62jähriger Mann,
die vor 772 Jahren, eine 76jährige und eine 58jährige Frau, die vor
6 Jahren, eine 42jährige Frau, die vor 5 Jahren und eine 50jährige
Frau, die vor 41/* Jahren operirt worden sind. Alle diese Kranken
sind bisher völlig schmerzfrei geblieben.
Die Erfolge der Operation sind trotz der ihr innewohnenden
Gefahr so gross, dass sie die errungene Stellung behaupten wird.
Bei den hier in Betracht kommenden schwersten Fällen von Neur¬
algie sind Selbstmordversuche in Folge der entsetzlichen Qualen an
der Tagesordnung.
X. Jonnesco (Bukarest) : Ueber die Resection des
Cervical ab Schnittes des Sympathicus.
Jonnesco gibt eine Statistik über 126 derartiger Resectionen
in 97 Fällen von Epilepsie, 15 Fällen von Kropf mit Exophthalmus,
12 Fällen von Glaukom, einem von Schwindel auf Grund cerebraler
Anämie und einem Fall von essentieller Migräne. Er hat die Opera¬
tionstechnik derart ausgebildet, dass er den ganzen Cervicalabscbnitt
und sogar das erste Brustganglion, wie in den letzten 4 Fällen fort-
nehraen konnte, ohne den Plexus cervicalis und den N. facialis zu
% ei letzen. Er glaubt, dass die totale Entfernung des Sympathicus „die
Sympathektomie“ ebenso wie die partielle Resection des Nerven in
einer Sitzung ohne Schaden ausgeführt werden kann. Was nun die
therapeutischen Resultate anlangt, so sind von 97 wegen Epilepsie Ope¬
rirten auf das Jahr 1896 13 Fälle gekommen, von diesen sind 5 bald
gestorben, 3 absolut geheilt, 1 gebessert, 4 ohne Erfolg; 1897 von
17 Operirten 6 geheilt, 2 gebessert, 5 erfolglos und 4 mit unbekanntem
Resultat; 1899 von 27 Fällen 2 gebesert, 1 erfolglos und 24 mit un¬
bekanntem Resultat; 1900 von 21 Operirten 1 geheilt, 2 gebessert,
1 erfolglos und 17 mit unbekanntem Resultat. Dazu kommen noch
vom Jahre 1898 19 Fälle mit 2 Heilungen, so dass er im Ganzen über
12 Heilungen bei 97 Operationen verfügt, nicht wie er in seiner
Statistik annimmt unter 49 Operationen, die er bis zum Jahre 1898
ausgeführt hat. Von den 15 wegen Basedow operirten Fällen sind 6
definitiv geheilt seit 4, 3 und 2 Jahren, 4 dauernde Besserungen.
Die beiden Fälle von Migräne sind angeblich noch zu jung, um eine
dauernde Heilung feststellen zu können, aber die unmittelbaren Re¬
sultate sind gut.
Discussion: Chipault (Paris) hat 40mal die Resection
des Sympathicus cervicalis gemacht und behauptet, dass sie niemals
irgend welche trophischen Störungen oder Kachexie nach sich zieht.
Die Operation ist aber nur dann rationell, wenn man das ganze
Ganglion cervicale supremum mit fortnimmt. Seine Operationen be¬
trafen 26 Fälle von Epilepsie mit 3 Heilungen, 2 Fälle von Basedow
mit 2 Heilungen, 7 Glaukome, von denen 2 hämorrhagischer Natur
waren, mit 6 Besserungen, 1 Fall von Migräne mit vorübergehendem
Resultat, 1 Fall von Torticollis mit dauerndem Resultate, 3 Fälle von
Facial-Neuralgie, bei denen die Schmerzen seit drei oder vier Monaten
verschwunden sind.
Die intracranielle Resection nach Krause hat er zweimal aus¬
geführt, und zwar mit Erfolg. Doch hält er die Operation für ausser¬
ordentlich schwer und eingreifend.
XL Alberto Ramon Hernandez (Mexiko) berichtet über
einen Fall von Unterbindung des Truncus innominatus
mit Heilung.
Vortragender wirft die Frage auf, wie sich der Chirurg bei der
Verletzung des Truncus innominatus verhalten soll und meint, dass
zwei Fälle in Betracht kommen : entweder ist die Wunde breit, leicht zu
exploriren und man kann sich unverzüglich an die Unterbindung des
Gefässes machen, oder die Wunde ist klein, der Blutverlust aber be¬
trächtlich und man muss sich mit einer möglichst beschränkten Tampo¬
nade begnügen; nach der Erfahrung, die er an seinem Falle ge¬
macht hat, muss man den Truncus innominatus unterbinden, wenn
die Wunde auf der rechten, dagegen die Carotis möglichst nahe an
der Aorta, wenn sie auf der linken Seite ist. Was den pulsirenden
Tumor anlangt, der sich unterhalb der Unterbindungsstelle ausbildet,
so glaubt er seiner Ausdehnung am besten durch Gelatineinjectionen
entgegentreten zu können. Sein Fall ist der erste, in welchem der
Truncus innominatus am Lebenden wegen Verletzung des Carotis¬
ursprunges unterbunden worden ist.
XII. Chipault (Paris): Statistik über 147 Fälle von
Wirbelfractu r.
Unter 34 Fällen, die er unmittelbar nach der Verletzung zur
Beobachtung bekommen, hat er 20mal von jedem therapeutischen Ein¬
griff abgesehen, einestheils wegen Shock, andererseits weil neben un¬
bedeutenden Zeichen von Verschiebung der Wirbelfragmente doch
schwere Symptome verschiedener Art bestanden. In 2 Fällen konnte
er durch Laminektomie eine peridurale und perimedullare Hämor-
rhagie aufdecken. Von 10 Fällen, in denen eine sichtbare Verschiebung
der Stücke mit schweren Rückenmai kssymptomen verbunden war, hat
er 5mal die Reduction bewerkstelligt, 3mal mit gepolsterten Apparaten,
2mal mit Knochennaht, in den anderen 5 Fällen hat er die Lamin¬
ektomie gemacht, 3 mit Resection der in den Rückgratcanal hervor¬
springenden Knochenstücke, 2 mit Reduction und Naht. Immer hat er
die Dura mater eröffnet und direct den Zustand des Rückenmarkes
beobachtet.
Von frischen Fracturen hat er 57 Fälle gehabt, 20 mit schweren
Complicationen : Ascendirender Myelitis, Pneumonie, Pyelonephritis, In¬
fection; diese Zustände haben ihn von weiteren Massnahmen Abstand
nehmen lassen. 10 Fälle mit wenigen bedrohlichen Erscheinungen sind
Gegenstand palliativer Massregeln gewesen: Tiefe Kauterisation, Drai¬
nage der Blase, Cystostomia sujirapubica, etc. 7 Fälle mit beträcht¬
licher Verschiebung sind durch Corset oder durch Naht reducirt worden.
Von 14 Fällen mit mittelmässiger Verschiebung der Fragmente boten
6 die Form schlaffer Lähmung und kennzeichneten somit eine quere
Durchtrennung des Rückenmarkes. 2mal wurde von therapeutischen
Massnahmen Abstand genommen, einmal wurde die Reduction mit
einem Corset erreicht, in 3 Fällen wurde die Laminektomie mit
Resection des Callus bei sehr kräftigen Individuen gemacht und
in 2 von diesen Fällen machten die vielfachen und progressiven
trophischen Störungen keine weiteren Fortschritte. Die übrigen Fälle
boten in den therapeutischen Massnahmen nichts Neues.
Von den 49 alten und sehr alten Fällen von Wirbelfractur ist
in Bezug auf die Therapie nur zu erwähnen, dass in 2 Fällen
ein im Rückgratscanal sitzender Callus mit Erfolg reducirt
WOlden ist. (Fortsetzung folgt.)
\ erantwoitlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, O. Ghiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner,
M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann,
R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, G. Toldt, A. v. Vogl,
J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Ghissenbauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel.
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©~ . — o
Verlagshandlung :
Telephon Nr. 6094.
©
Die „Wiener klinische
Wochenschrift“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von minde¬
stens zwei Bogen Gross¬
quart.
Zuschriften für die Redac¬
tion sind za richten an
Dr. Alexander Fraenkel,
IX/3, Maximilianplatz,
Günthergasse 1. Bestellun¬
gen und Geldsendungen an
die Verlagshandlung.
Redaction :
Telephon Nr. 3373.
XIII. Jahrgang.
Wien, 6. September 1900.
Nr. 36.
UTHALT:
(Alle Rechte Vorbehalten )
I. Originalartikel: 1. Ueber Stoffwechselstörungeii an magen-darmkrauken
Säuglingen. Von Dr. Meinhard Pfaundler, Graz.
2. Aus der Abtheilung des Herrn Prof. Dr. Frühwald an der Wiener
Allgemeinen Poliklinik. Honthin, ein Darmadstringens, und seine
therapeutische Verwendung in der Kinderheilkunde. Von Dr.
Josef Reichelt.
II. Referate: I. Physikalische Chemie in der Medicin. Von Dr. Hans
Koeppe. II. Die Anschauungen über den Mechanismus der speci-
fischen Ernährung. Von Docent Dr. Max Neuburger. Ref.
Pauli. — Lungentuberculose und Heilstättenbehandlung. Von
Dr. B. v. Fetz er. Ref. Dr. Pollak.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften nnd Congressberichte.
Ueber StofFwechselstörungen an magen-darm-
kranken Säuglingen.
Von Dr. Meinhard Pfaundler, Graz.
Nach einem in der pädiatrischen Section des internationalen medicinischen
Congresses in Paris am 3. August 1900 gehaltenen Vortrage.
I.
Die pathogenetische Erforschung der Verdauungskrank¬
heiten im Säuglingsalter hat eine lehrreiche Vergangenheit
hinter sich; ihre Geschichte spiegelt die führenden Gedanken
der medicinischen Doctrin in den verschiedenen Perioden ihrer
Entwicklung getreu wieder. Realisten, Vitalisten, Humoral-
und Cellularpathologen, Homöopathen, Anhänger der Diakrisen-
lehre, Parasitiker suchten das grosse Räthsel zu lösen, das auf
diesem Gebiete die höchste Morbidität im Kindesalter mit der
grössten Mortalität vereint. Man trachtete die ursächlichen
Schäden auf rein mechanische Verhältnisse, beziehungsweise
Missverhältnisse, zurückzuführen, man dachte an primär ge¬
störten Chemismus, an endogene und ektogene Gifte, an
thermische Schädlichkeiten, man fahndete im Darminhalte und
in der Darmwand nach pathogenen Mikroorganismen.
Es ist unleugbar, dass die klinische Bacteriologie auch
auf diesem Gebiete den epochemachendsten Fortschritt gezeitiget
hat. Forschungen, die in unsere Tage hereinreichen, lehrten
uns eine Reihe wohlcharakterisirter Darminfecte im Säuglings¬
alter wahre Krankheitsindividuen — und deren Beziehungen
zu ihren bacteriellen Erregern kennen. Wenn diese Erkenntniss
in der vielgestaltigen Gesammtkeit der einschlägigen klinischen
Krankheitsbilder auch noch weite Lücken klaffen lässt, so
hat sie doch die Wege für künftige erfolgreiche Forschung
gewiesen.
Die Fortschritte, die wir der bacteriologischen Richtung
verdanken, liegen jedoch fast ausschliesslich auf dem Gebiete
der acuten Verdauungsstörungen. Jenes der chronischen
Verdauungskrankheiten und der mit diesen einhergehenden
eigenthümlichen, interessanten und hochwichtigen Zustände
von Atrophie und Kachexie im Säuglingsalter ist grösstentheils
noch völlig dunkel. Vor zwei Jahren wurde auf der Klinik
E s c h e r i c h’s gezeigt, dass manche der in die letztgenannte
Kategorie einschlägigen Krankheitsfälle auf schleichend ver¬
laufende, septische Allgemeininfecte zurückzuführen seien; doch
trifft diese Erklärung sicherlich nur für eine beschränkte
Gruppe solcher Erkrankungen zu.
Neue und, wie es scheint, sehr fruchtbare Gedanken
brachte in dieses Gebiet seit vier Jahren die Breslauer pädiatri¬
sche Schule unter Führung Czerny’s.
Es entsprach wieder dem Geiste der die innere Medicin
unserer Tage beherrschenden Ideen, wenn Czerny das
Wesen des im Gefolge chronischer Magen-Darmerkrankungen
auftretenden Säuglingssiechthums in einer Störung des inter¬
mediären Stoffwechsels suchte. Es geschah dies auf Grund
eines höchst interessanten und eigenthümlichen Befundes, den
Keller auf der Breslauer Klinik im Harne solcher Säuglinge
gemacht hatte, nämlich des einer sehr beti*ächtlichen, relativen
Vermehrung des NH3 auf Kosten anderer N-haltiger Bestand-
theile. Während bekanntlich beim Erwachsenen auf 100 Theile
Gesammt-N des Harnes in der Norm etwa vier bis fünf Theile
N H3 — N entfallen, beim Neugeborenen nach S j ö q v i s t dieser
N Hg-Index 7'8 — 9 6% beträgt, fand Keller bei chronisch
magen-darmkranken Säuglingen in vielen Fällen 20 — 50% des
Gesammt-N und noch mehr in Form von NH3 anwesend.
Bei der Einsichtnahme in die diesbezüglich vorliegende
Literatur der experimentellen und allgemeinen Pathologie ergab
sich nun, dass nach dem Urtheile der massgebendsten Autoren
— Walther, Coranda, Hallervorden und anderer
Schüler Schmied eher g’s — eine solche Erhöhung der
NH3- Ausscheidung im Harne auf vermehrte Acidität der Körper¬
säfte hin weise; namentlich vertritt Hallervorden den Stand¬
punkt, die Function des N H3 im Körper sei ausschliesslich
die Neutralisation von Säuren; bei abnorm erhöhter N H3- Aus¬
scheidung habe man daher stets nach den Quellen abnormer
Säuren zu fahnden. Man stellte sich vor, dass im krankhaften
804
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 36
Stoffwechsel gebildete Säuren oder saure Producte das N H3
durch Bindung in Beschlag nehmen und derart seiner weiteren
Verarbeitung in den U-bi!denden Organen entziehen.
So gelangten Czerny und Keller zur Hypothese,
das Substrat jener Kachexien bei chronisch magen- darmkranken
Kindern sei ' eine pathologische Säuerung der Gewebe und
Gewebssäfte, eine »Säureintoxication«.
Um diese Annahme zu stützen, brachte Czerny zunächst
ein klinisches Kriterium bei. Er hatte bei seinen magen-darm¬
kranken Säuglingen in manchen Fällen tinem versus einen
abnormen Athmungstypus beobachtet und nun verglich er
diesen — allerdings mit gewisser Reserve — mit der »grossen
Athmung« K u s s m a u l’s beim diabetischen Koma, welches
bekanntlich als das classische Beispiel eines durch paroxysmale
Säureautointoxieation hervorgerufenen Krankheitssymptomes
gilt. Gegen die Stichhältigkeit dieses Argumentes wurde von
allen Seiten (ich nenne z. B. Heubner, Esch er ich, Ba¬
gin sky) mit seltener Einmüthigkeit Einsprache erhoben, und
zwar namentlich deshalb, weil die beiden in Rede stehenden
Atlunungstypen doch in ihren wesentlichsten Merkmalen von
einander abweichen und es sich bei dem von Czerny ge¬
meinten Typus allem Anscheine nach um ein einfaches Ab-
sterbephänomen handelt, welches bei magen-darmkranken und
anderweitig erkrankten Kindern in gleicher Weise in Erschei¬
nung tritt.
Einschlägig ist hier auch der an H e u b n e r’s Klinik ge¬
machte Befund, dass die Nerveuzellenveränderungen, welche
Mülle r und M a n i c a t i d e an magendarmkrank verstorbenen
Kindern fanden, jenen, welche bei experimentell säurevergifteten
Thieren zur Beobachtung kommen, sehr ähnlich sind. Jedoch
geben Müller und M an i ca tide selbst an, dass es sich
hiebei keineswegs um irgend specitische Veränderungen, sondern
um gleichartige Folgezustände toxischer Einflüsse im Allge¬
meinen handle.
Auf anderem Wege suchte Hijmanns van den Bergh
aus der Breslauer Klinik die Ansicht C z e r n y’s zu stützen.
Walther hatte bei seinen bekannten, grundlegenden
Untersuchungen über die experimentelle Säurevergiftung bei
Hunden und Kaninchen gefunden, dass in den Körper einge-
brachtes Alkali die bei der Säureintoxication vorliegende Stoff¬
wechselanomalie in günstigem Sinne beeinflusse. Hijmanns van
den Berg h brachte daher darmkranken Kindern, in deren Harne
er eine abnorm hohe Ausscheidung von N H:J beobachtet hatte,
Alkalicarbonat in grösseren Dosen per os bei und stellte thatsäch
lieh unter dem Einflüsse dieser Medication auch hier eine be¬
trächtliche Verminderung der N H3-Werthe fest. Dabei ist zwar zu
bedenken, dass auch der N H3-Gehalt vollkommen normaler,
jedenfalls nicht »säurevergifteter« Menschen, durch Zufuhr
von fixem Alkali (z. B. schon in Form von vegetabilischer
Kost) jederzeit sehr beträchtlich herabgesetzt werden kann,
doch mag dies allerdings als ein Ein wand gegen die Argumen¬
tation von Hijmanns van den Bergh nicht gelten, sofern man,
den extremen Standpunkt Hallervorden’s theilend, annimmt, es
sei nicht nur ein pathologisch vermehrter N H.rGehalt des Harnes
Ausdruck einer pathologisch erhöhten Gewebssäuerung, sondern
auch der gesammte N H;,-Gehalt des normalen Harnes Ausdruck
der physiologischen Gewebs- und Saftacidität. Diese Auffassung,
nach welcher das N H3 des Harnes stets nur als Säurebegleiter
auftreten soll, wird übrigens keineswegs allgemein getheilt;
bei späterer Gelegenheit werde ich darauf hin weisen, dass ihr
manche von Keller und mir gefundene Thatsachen wider¬
sprechen.
Besonderen Werth legt Hijmanns van den Bergh auf
jene Fälle, in welchen es ihm gelungen war, die N H r Aus¬
scheidung durch die Nieren in 24stiindigen Harnportionen voll¬
kommen zu unterdrücken, was bei Erwachsenen niemals erreicht
worden sei. Dieser Befund ist aber deshalb nicht so auf fallend,
weil in den betreffenden Fällen der native Harn stets »alkalisch»
befunden worden war. Wenn darunter verstanden ist, dass er¬
setzbare H-Jonen in der Flüssigkeit fehlten, so musste das
N H3 durch das in den Harn übergetretene fixe Alkali —
so weit der Magnesiavorrath reichte — als Tripelphosphat
gefällt1), im Uebrigen aber als flüchtiges Alkali ausgetrieben
worden sein und konnte so der Bestimmung nach Schlösing
freilich entgehen.
Aber auch schon vor Eintritt der theoretisch-alkalischen
Reaction pflegt bekanntlich das saure NH.-Urat in Harnen,
welche Lakmus bläuen, wegen seiner geringen Wasserlöslichkeit
auszufallen und als krystallinisches Sediment gefunden zu
werden. Ein solches Sediment wird vor Ausführung der Schlü-
s i n g’schen Bestimmung nach der Keller und H ij m anns van
den Bergh massgeblichen methodischen Angabe von Vogel-
Neubauer durch Filtration entfernt. Hier kann es sich also nach
den bisher vorliegenden Angaben um eine einfache Täuschung
handeln.
Tripelphosphatbildung kann überdies in den Versuchen
von Hijmanns van den Bergh durch die Alkalizufuhr
bereits im Darme ermöglicht worden sein und die Resorption
von N H:t- Salzen beeinträchtigt haben, welche sonst durch die
normaler Weise im ganzen Säuglingsdarm (nicht im Darmcanale
des Erwachsenen!) herrschende, selbst gegen Lakmus saure
Reaction begünstigt wird.
Es bleibt ferner zu erwägen, ob die Ueberscliwemmung
des Körpers mit fixem Alkali nicht eine Verdrängung des
NH:{ aus den Gewebssäften vor seiner Verarbeitung in der
Leber und eine Ausscheidung desselben auf dem Wege der
Exspiration2) und Perspiration verursachen kann. Es kommt
endlich in Betracht, dass jene Verarbeitung des N ll;t zu U,
welche durch fermentative Oxydation und Synthese in der
Leber zu Stande kommt, durch die Gewebsreaction beeinflusst
wird. Diesbezüglich liegt die Angabe Jacoby’s vor, dass die
Action eines in wässerigen Leberextracten enthaltenen, bei der
+
intravitalen U-bildung wahrscheinlich wesentlich betheiligten
oxydativen Fermentes durch Zusatz von ganz geringen Alkali¬
mengen gesteigert wird. Auch dieser Umstand könnte also
möglicher Weise die Befunde von Hijmanns van den
Bergh ganz unabhängig von der Säuerungsfrage erklären.
Wenn es sich bei der in Rede stehenden vermehrten
N H . -Ausscheidung thatsächlich blos um eine Bindung des
N H , durch abnorme Säuren handelte, so müsste in den
gelungenen Versuchen von Hijmanns van den Bergh
die Beschlagnahme des N H:i durch Alkalizufuhr zu be¬
lieben und das N H:( seiner weiteren normalen Bestimmung
zuzuführen, der Verminderung der N H:j-Werthe im Harne
eine Vermehrung der IJ-Werthe entsprechen. Leider hat
+
Hijmanns van den Bergh den U in seinen Versuchen
nicht bestimmt, oder wenigstens die betreffenden Daten nicht
mitgetlieilt, und dadurch eine klaffende Lücke in seiner Schluss¬
reihe bestehen lassen. Diese Lücke trachtete K e 1 1 e r gelegent¬
lich späterer — anderen Zwecken dienender — Versuche
theilweise auszufüllen. Keller fand in einem der beiden ge¬
prüften Fälle auf Alkalizufuhr eine mit der Verminderung des
I
~r # #
NIL— N einhergehende U-Vermehrung, im zweiten Falle jedoch
+
eine sehr beträchtliche U-Verminderung. Wenn sich der erstere
Befund, obgleich es sich nicht um völlig äquivalente Mengen
der beiden vicariirend ausgeschiedenen Substanzen handelt,
unter gewissen Annahmen mit der Säurevergiftungshypothese
recht gut vereinbaren Hesse, kann dies vom letzteren Befunde,
den in diesem Sinne zu deuten oder aufzuklären auch Keller
nicht in der Lage ist, kaum gelten. Hier bleibt also ein dunkler
Punkt in jedem Falle bestehen und erscheinen die Versuche
über den Einfluss der Alkalizufuhr auf die N H , -Ausscheidung
aus mehreren Gründen für die Säureintoxicationshypothese
nicht beweisend.
') Im normalen Harne Erwachsener reicht (1er Mg-Gehalt zur Fällung
von etwa ein Drittel des vorhandenen N H3 als Tripelphosphat aus.
~) Es ist mir bekannt, dass Salaskin bei Hunden mit E c k’scher
Fistel, bei welchen eine NH3- Ausscheidung durch die Lungen zu erwarten
war, eine solche nicht naelnveisen konnte. Hiebei ist aber zu bedenken,
dass die Verdünnung des Gases durch die Exspirationsluft eine sehr beträcht¬
liche ist. Würde ein Erwachsener das ganze NH, des Harnes durch die
Lungen ansscheiden, so betiiige der NH-, Gehalt der Exspirationsluft höchstens
0-005 Gewichtsprocent.
Nr. 36
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. HJOO.
80.')
Der Nachweis vermehrter N H3-Excretion im Harne gilt
in der Literatur der Säurevergiftungsfrage als eine acci-
den teile Stütze für die Erkennung dieser Stoffwechsel¬
anomalie. Als entscheidendstes Moment und directester Mass¬
stab für diese Art von Intoxication wird aber die Feststellung
des verminderten C 0.,-Gehaltes und der herabgesetzten Alka-
lescenz des Blutes für jenen Nachweis allgemein für unent¬
behrlich gehalten (F. Kraus u. A.). Die Bedeutung eines
solchen Befundes erkennt auch Czerny ausdrücklich an und
stellt in einer aus dem Jahre 1897 stammenden Arbeit ein¬
schlägige Mittheilungen, von denen man eine definitive Ent¬
scheidung der Frage erwarten durfte, in Aussicht. Diese Mit¬
theilung blieb aber bislang aus. 8) Hingegen erschien im
nächsten Jahre eine Arbeit Keller’s, in deren Eingänge aus¬
geführt wird, dass von Blutuntersuchungen für die Klärung
der bei magen-darmkranken Säuglingen vorliegenden Stoff¬
wechselstörung wenig oder nichts zu erwarten sei: »Man könnte
annehmen, dass wir durch Untersuchung der chemischen Zu¬
sammensetzung des Blutes die Vermehrung der Säuren im
Organismus und auch die Folgen der vermehrten Ausscheidung
saurer Verbindungen nachweisen können, aber wir wissen,
dass die Zusammensetzung des Blutes sehr geringen Schwan¬
kungen unterworfen ist, dass aus dem Blute sowohl die seiner
Zusammensetzung fremden, wie die im Ueberschuss vorhandenen
homogenen Substanzen in kurzer Zeit ausgeschieden werden.
Bei der Untersuchung des Blutes kann man nur die Ab¬
weichungen finden, die im gegebenen Augenblicke vorhanden
sind; die Folgen der vorangegangenen Stoffwechselstörung
machen sich in der Zusammensetzung des Blutes nicht
geltend.« Dagegen hofft Keller durch Harnanalyse die Folgen
der chronischen Säureintoxication auf den Organismus der
magen- darmkranken Kinder erkennen zu können. Hiebei
schliesst sich Keller einem Gedankengange Lieblein’s an.
Lieblein hat bekanntlich angegeben, dass in Fragen
vermehrter Säuerung der Körpersäfte die Harnanalyse, bezie¬
hungsweise die Bestimmung der Harnacidität, in gewissem
Sinne die Analyse des Blutes ersetzen könne, bei welch letzterer
die Bestimmungsgrössen kleiner, die analytischen Fehler grösser
und die zu erwartenden Abweichungen jederzeit geringe sind.
Lieb lein will durch Bestimmung der Harnacidität erfahren,
»wie weit saure Substanzen vorübergehend dem Blute angehört
haben, welche Veränderungen die Acidität des Blutes im Ver¬
laufe einer gewissen Zeit erlitten hat«.
Diese Auffassung L i e b 1 e i n’s ist — wie schon F. Kr aus,
einer der führenden Geister in der Lehre der Säureautointoxi-
eation — gezeigt hat, keine völlig zutreffende. In den Acidi¬
tätsschwankungen des Harnes finden nämlich nach den auf
der Grazer medicinisehen Klinik ausgeführten Versuchen von
H. Kr a us s mancherlei anderweitige, im Blute und in den
Gefässen vorhanden gewesene Störungen — namentlich vaso¬
motorischer Art — ihren Ausdruck. So beeinflussen die Harn¬
acidität z. B. kalte und heisse Bäder in bestimmter Richtung.
Ueberdies ist zu bedenken, dass der Ausscheidung von Phos¬
phorsäure und anderen Säuren aus dem Blute nebst dem
Harnwege auch noch der Weg durch den Darm offen steht.
Diese beiden Ausscheidungsarten stehen vermuthlich im Ver-
hältniss gegenseitiger Vertretbarkeit. All dies hängt mit der
bekannten Thatsache zusammen, dass ein Phosphorgleich¬
gewicht im Sinne des N-Gleichgewichtes beim Menschen auf
die Dauer nicht existirt und beim Versuchsthiere nicht zu
erzielen ist. Unbeherrschbare und grossentheils noch unbekannte
Momente beeinflussen die P2 0-- Ausscheidung durch den
Harn, welche für dessen Acidität von entscheidender Bedeu¬
tung ist.
Auf diese oder ähnliche Einwände gegen die Aus¬
führungen Lieblein’s nahm jedoch Keller keinen
Bedacht.
3) Keller erwähnt einschlägige, nicht publicirte Untersuchungen
Thiemich’s nur mit wenigen Wo ten in der Brochure »Malzsuppe«,
worin es heisst, eine Verminderung der lixen Alkalien im Blute habe bei
den säurevergifteten Säuglingen nicht nachgewiesen werden können, und
zwar, wie er meint, deshalb nicht, weil der Verlust sogleich aus den Geweben
ersetzt weide.
Die einzige für K e 1 1 e r’s Zwecke in Betracht kommende
Methode der Aciditätsbestimmung war jene nach Freund-
Lieblein. Lieblein hat bekanntlich das Verdienst,
den Nachweis geliefert zu haben, dass unter gewöhnlichen
Umständen jede dem Plarne zugeführte Säure und jedes
saure Salz von beliebig geringer Avidität den Harnphosphaten
Alkali bis zur völligen Sättigung der ersetzbaren H-Jonen ent¬
zieht, derart, dass jegliche Zu oder Abnahme des Gehaltes
an diesen im Harne durch eine Verschiebung der Werthe
von einfach- und zweifachsauren Phosphaten zum Ausdrucke
kommt. Hierauf gründet sich seine Methode zur Bestimmung
der Harnacidität. Als Mass für dieselbe dient ihm das Mengen-
verhältniss der zweifach- und einfachsauren Phosphate aus¬
gedrückt in Procenten der ersteren zukommenden P205-Werthe
bezogen auf den Gesammt-P2 05-Werth.
Es scheint mir evident, dass die Wahl dieser Masszahl
eine unglückliche ist. Sie bringt die Aciditätswcrthe in eine
schwer ausdrückbare Abhängigkeit von der absoluten Menge
der Gesammtphosphorsäui e des Harnes und gestattet daher
eine einwandfreie Vergleichung derselben an Harnen ver¬
schiedener Individuen nur bei gleicher Ausscheidung an Ge¬
sammtphosphorsäure, wofür identische Ernährung nur erst
eine Bedingung ist.
Aber auch die absolute Menge der zweifachsauren Phos¬
phate, ausgedrückt in P2 O-, ist aus ähnlichen Gründen kein
einwandfreier Massstab für die »Acidität des Haines« ; an
Stelle dieses nach den Angaben der gebräuchlichen Lehr¬
bücher keineswegs Klaren, vielfach irrig aufgefassten und
stets nur conventioneilen Begriffes empfiehlt es sich, einen
objectiven zu setzen, nämlich den der Basencapacität
des Harnes, worunter die absolute Menge der mit dem Harne
ausgeschiedenen, durch Metalle ersetzbaren H-Jonen ver¬
standen ist. _1)
Nach dem von L i e b 1 e i n erwiesenen Principe findet die
Basencapacität des Harnes ihren Ausdruck in der Summe des als
zweifachsaures Phosphat und als Gesammtphosphat enthaltenen
P., 03. Eine anschauliche Darlegung dieser Verhältnisse würde mich
hier zu weit führen und verweise ich diesbezüglich auf eine spätere,
ausführliche Publication.
Aus den hieraus ersichtlichen Gründen blieben die von
Keller angestellten. einschlägigen Versuchsreihen an sich ohne
wesentliches Ergebniss für die Frage der Säurevergiftung: »Die
Acidität des Harnes, ausgedrückt im Verhältniss von zweifach-
saurem Phosphat zur Gesammtphosphorsäure, wird nur dann
beeinflusst, wenn die Menge der Gesammtphosphorsäure durch
Aenderung der Diät vermehrt oder vermindert wird. Dagegen
bleibt die Acidität des Harnes dieselbe, wenn die Menge der
eingeführten Phosphorsäure nicht geändert wird, mögen nun
viel oder wenig Säuren im Organismus gebildet werden, selbst
wenn wir experimentell anorganische Säuren in den Organis¬
mus eiuführen.«
Das von Keller gesammelte werthvolle Material kann
jedoch nach dem angeführten Principe zur Berechnung der
Basencapacität des Harnes in den einzelnen Fällen dienen.
Ich habe diese Berechnung an einigen der Kelle Eschen
Tabellen durchgeführt und gefunden, dass eine bestimmte Be
ziehung des rationellen Masses für die Harnsäuerung zur
NHj- Ausscheidung, dem für Keller massgeblichen Symptome
vorliegender Säure Vergiftung, nicht besteht. Diesbezüglich
decken sich die weiter unten mitzutheilenden Erfahrungen,
die ich bei der Basencapacitätsbestimmung des Harnes nach
anderer, directer Methode an gesunden und kranken Säuglingen
selbst gewann, vollkommen mit den Resultaten, die sich aus
Keller’s Zahlen ableiten lassen, Die Vermehrung des Harn-
Nil., bei Magen-Darm- und anderen Erkrankungen des Säug¬
lings geht nicht principiell mit einer Vermehrung der »Harn
acidität«, beziehungsweise Basencapacität des Harnes einher.
Bei näherer Ueberlegung erscheint allerdings dieses Er¬
gebniss als das erwartungsgemässe; denn da die hypothetischen,
abnormen und in den Harn übergehenden Säuren sich nach
der Säurevergiftungslehre mit N H3 paaren, worauf eben dei
4) Will man einen relativen Index dafür gewinnen, so kann mai
diese Basencapacität auf den Gesammt-N-Gebalt des Harnes beziehen.
806
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 36
erhöhte NH3 Gehalt des Harnes in solchen Zustanden beruhen
soll, könnte eine Vermehrung der durch Metall ersetzbaren
11-Jonen im Harne höchstens dadurch zu Stande kommen,
dass saure N H3-Salze mehrbasischer (?) Säuren ausgeschieden
würden, oder das NH3 überhaupt nicht für die ganze Masse
der abnormen Säuren disponibel wäre. Hingegen müsste die
Beimengung abnormer, eventuell durch N H3 gedeckter Säuren
zum Harne durch Bestimmung der gesammten freien, vertret¬
baren _|_ der durch NH3 vertretenen H-Jonen (»Capacität für
fixe Basen«) evident werden. Auch diese Aciditätszahl ist
jedoch kein Mass für den Grad einer vorliegenden Säurever¬
giftung, da bei einer solchen, wie Limbeck nachgewiesen
hat, neben dem N H3 stets auch fixe Alkalien zur Säure¬
bindung dienen, jenes sogar überhaupt nur in zweiter Linie
hiezu herangezogen wird. Dies gilt wenigstens nachgewiesener-
massen für die experimentelle Vergiftung des Menschen mit
Mineralsäuren, welche Keller mit der bei Magen- Darmkrank¬
heiten vermutheten spontanen Vergiftung in Vergleich setzt
und nach Keller’s Annahme auch bei dieser letzteren selbst.
Das nächstliegende und beweiskräftigste Argument, das
bei vorliegender Säurevergiftung aus der Untersuchung des
Harnes iiberlegungsgemäss zu gewinnen sein musste, ist der
Nachweis der abnormen Säuren, wie er in der That bei
den Zuständen von Säureautointoxication des Erwachsenen —
wenigstens in den für dieselben charakterist i-
schen Paroxysmen — gelingt. Bei den Erwachsenen
handelt es sich hiebei namentlich um die niederen Fettsäuren
(mit 1 — 4 C-Atomen), Oxyfettsäuren (mit 3 — 4 C-Atomen),
die Acetessigsäure und einen Säureabkömmlung, das Aceton.
Während dem sicheren Nachweise der meisten Fett- und Oxy¬
fettsäuren nur ihre Reindarstellung aus grösseren Mengen
Harnes dienen kann, vermag man den Gehalt an den beiden
letztgenannten Substanzen durch einfache Reactionen zu er¬
kennen.
Die Darstellung von Fett- und Oxyfettsäuren aus dem
Harne magen-darmkranker Säuglinge hat Keller — ver-
muthlich wegen der schwierigen Beschaffung ausreichenden
Materiales — nicht versucht; auch erinnere ich mich nicht,
Angaben über Aceton- und Diacetsäuregehalt dieser Harne in
seinen Arbeiten gefunden zu haben; doch liegen über die Frage
des Vorkommens der beiden letztgenannten im Harne magen-
darmkranker Säuglinge namentlich die bekannten Angaben
von v. Jak sch, jene seines Schülers Sch rack (aus der
Grazer Kinderklinik) und die vorzüglich commentirten Angaben
von Baginsky vor. Während nach dem übereinstimmenden
Urtheile dieser Autoren Aceton und Acetessigsäure namentlich
bei jenen acuten fieberhaften Magen-Darmkrankheiten der
Kinder (jenseits des ersten Lebenshalbjahres), welche zu
eklamptischen Zufällen führen, recht häufig gefunden werden,
pflegt die Acetonurie bei chronischen Magen-
Darmerkrankungen der Säuglinge zu fehlen
(Sch rack). (Dass im Mageninhalte dyspeptischer Kinder
nach Baginsky und S c h r a c k nur ganz ausnahmsweise
Aceton gefunden wird und die Quelle der Acetonurie nach
Baginsky nicht in Darmgährungsprocessen zu suchen sei,
entspricht der heute ohnedies geläufigen Annahme einer Bildung
dieser abnormen Säuren und Säureproducte erst jenseits der
Darmwand, im intermediären Stoffwechsel.)
Mithin liegt meines Wissens für die Hypothese Czerny’s,
welche sich (wenigstens in den ersten Publicationen Keller’s)
auf die chronischen Magen-Darmerkrankungen der Säug¬
linge bezieht, zum Mindesten ein positiver directer Befund
abnormer Harnsäuren bisher nicht vor.
Der Befund einer vermehrten N H3-Excretion durch die
Nieren kann, wenn man den Standpunkt der Schmiedeberg-
schen Schule verlässt, auch eine andere Deutung, als die ver¬
mehrter Säuerung der Körpersäfte erfahren. Er lässt sich
nämlich auch durch eine primäre Schädigung der U-bildenden
Functionen im Körper erklären. Wenn aus irgend welchen
Gründen die Reihe fermentativer Oxydationen, welche in der
+ 4-
Leber und anderen U-bildenden Organen die U-Syntkese (aus
NH3 oder in letzteren vermuthlich aus N H3 einerseits und
Amidosäuren der Fettreihe andererseits) bewirkt, theilweise
ausbleibt, oder in beschränktem Umfange zu Stande kommt,
so kann das der Verarbeitung entgangene N H3 den Weg
durch die Nieren in den Harn finden. Als Zellgift wird es
mit Säuren gepaart dorthin ausgeschieden.
Diese Deutung der hohen NH3-Werthe im Harne
kranker Säuglinge war anfangs auch C z e rn y nahe gestanden;
sie hatte sogar den Ausgangspunkt seiner Forschungen gebildet.
In der weiteren Entwicklung seines Ideenkreises aber wurde
sie auf Kosten der Säureintoxicationshypothese mehr und mehr
in den Hintergrund gedrängt. Nur an einzelnen Stellen finden
sich bei Keller noch Bemerkungen, betreffend eine eventuell
verminderte Oxydationsfähigkeit im Organismus der kranken
Kinder — wie sie übrigens auch zur Säurevergiftung in
pathogenetische Beziehung gebracht wird — und Aehnliches.
Doch macht es den Eindruck, als hätten diese Hinweise nur
den Zweck, im Falle des Schiff braches der Säureintoxications¬
hypothese als Rückzugspforten zu dienen.
Ueberdies war der Gedanke, dass eine primäre Störung
4-
der U-bildenden Function der Leber (in Folge fettiger De¬
generation ihres Parenchyms) bei jungen, magen-darmkranken
Kindern zu einer Stoffwechselstörung mit vermehrter N H3-
Excretion führen könne, zur Zeit, als man in Breslau diese
Studien begann, nicht mehr völlig originell, da er von Mya
gelegentlich der Beobachtung einschlägiger Fälle bereits 1884,
beziehungsweise 1893 ausgesprochen worden war.
Dass es sich darum also in den von Czerny und
Keller gemeinten Fällen nicht handeln könne, trachtete
Keller in zwei besonderen Versuchsreihen nachzuweisen.
Die Säureintoxicationshypothese sollte dadurch quasi per ex-
clusionem gestützt werden; freilich brach man damit auch
endlich doch alle Brücken zur Theorie der primär gestörten
Oxydation ab.
In der ersten Versuchsreihe führte Keller mngen-darm-
kranken Säuglingen per os kohlensaures N 1L zu und beob-
T
achtete, in welcher Weise dadurch die N H3- und U-Ausschei-
dung durch den Harn beeinflusst wird. Da bekanntlich nur
, . T
die Leber im Stande sein soll, aus N H3-Salzen allein U auf¬
zubauen, so dachte Keller hiebei einen Einblick in die
Leistungsfähigkeit der inneren Function dieses Organes bei
den kranken Säuglingen zu gewinnen. In drei von den sechs
Versuchsreihen stieg auf NH3-Fütterung die NH3-Ausscheidu;ig
durch den Harn an, in zweien war sie »eher vermindert«, in
einer Versuchsreihe deutlich herabgesetzt. Es bestehen also
schon diesbezüglich beträchtliche Verschiedenheiten, welche
vermuthlich wohl auf den differenten Krankheitszuständen der
einzelnen Kinder (über welche alle Angaben fehlen) zurück¬
zuführen sind. In jedem Falle muss zugegeben werden, dass
bei diesen kranken Kindern nur ein kleiner Theil des zuge¬
führten N H3 den Körper als solches durch die Harnwege ver¬
lässt. Was mit der Hauptmasse des N H3 geschieht, lässt sich
nach den Daten, welche Keller gibt, kaum vermuthungs-
weise entscheiden, namentlich deshalb nicht, weil die NH;(-
Ausscheidung durch den Darm nicht bestimmt wurde und
mithin die Kenntniss der Resorptionsquote für den in dieser
Form zugeführten N mangelt. Die während der Versuchsdauer
stets beträchtlich erhöhte Gesammt-N-Ausscheidung durch den
Harn kann sicherlich nicht ohne Weiteres als Mass für die
resorbirte N H3-Menge gelten, da es nicht bekannt ist, in
welcher Weise die Zufuhr des Alkalis die Resorptionsbedin-
gungen anderer N-haltiger Nahrungsbestandtheile beeinflusst.
Ein Umstand könnte allerdings bei flüchtigem Urtheile dafür
zu sprechen scheinen, dass die Leber der Versuchsobjecte
betreffs der oxydativen Synthese des N H:( prompt functionirte,
nämlich die unter dem Einflüsse der NH3-Zufuhr in allen
4-
Fällen erfolgte, sehr beträchtliche Steigerung der U-Werthe.
Genauere Einsicht aber ergibt einen eigentümlichen Befund:
4-
Die Steigerung der U-N-Werthe übertrifft nämlich
nach meiner Berechnung in allen drei darauf unter¬
suchten Fällen die Steigerung der Gesammt-N-Aus-
Nr. 36
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
807
Scheidung, und zwar in einem Falle sogar sehr beträchtlich.
Damit ist erwiesen, dass der U-N der Yersuchstage zum Min¬
desten nicht ausschliesslich aus dem resorbirten N H3
stamme.
Die nach Erkenntniss dessen naheliegendste Annahme,
dass das eingeführte Gift, welches den Gesundheitszustand der
Versuchskinder nach Keller’s Beobachtungen merklich beein¬
flusste zu Steigerung des Eiweisszerfalles und derart zu Ver-
’ +
mehrung der U-Ausfuhr führte, glaubt Keller durch Bestim¬
mungen der Phosphorausscheidung während des Versuches
(Zahlenbelege fehlen!) ausschliessen zu können. Wir haben
uns daher nach einer anderen Quelle für einen Theil des in
Form von U erscheinenden N umzusehen. Als solche Quelle
kommen die Amidosäuren in Betracht, welche nächst dem
N H3 das wichtigste Material zur U-bildung abgeben und welche
bei der Ernährung mit Malzwürze (wie sie Keller in diesen
Versuchen an wandte) den Stoffwechsel geradezu über¬
schwemmen 5)- . , +
Wenn hiemit erwiesen ist, dass sich an der U-Vermehrung
in den N H3-Fütterungsversuchen sicher nicht allein der N des
zugeführten N H3, sondern auch anderer, und Zwar wahrschein¬
lich jener der (aus der Nahrung direct oder dem Abbau der
Eiweisskörper stammenden) Amidosäuren betheiligt, so kommt
für den hiebei gemachten Aufwand an synthetischer und oxy¬
dativer Energie nicht mehr ausschliesslich die Action der Leber,
-t-
sondern jene aller übrigen U-bildenden Organe in Betracht.
Während nämlich nach dem bisherigen Stande der Kenntnisse
4-
die U-bildung aus N H4 Salzen allein, wie erwähnt, nur der
Leber zugeschrieben wird, scheint die Befähigung von Ge-
+
weben zur U-bildung aus N H3, Amidosäuren und anderen
Abbauproducten des Stoffwechsels im Körper weit verbreitet
+
zu sein. Dann ist aber auch der Nachweis, dass die U-bildung
bei jenen NH3-Fütterungsversuchen an magen-darmkranken
Kindern unbehindert erfolgt, noch kein Kriterium für eine
vollerhaltene, fermentative Oxydationsenergie des Lebergewebes.
Noch weniger sprechen gegen eine Schädigung der
inneren Leberfunctionen die Befunde Keller’s, dass gewisse
Amidosäuren bei Verfütterung an magen-darmkranke Säuglinge
+
theilweise in U übergeführt werden können.
Alle diese Versuche leiden übrigens an dem Mangel
jeder Ermittlung des Resorptionsverhältnisses und eines an
gesundem Individuum unter gleichen Bedingungen durchge¬
führten Controlversuches.
Auch kommt noch ein methodischer Einwand in Betracht.
Das Verfahren von Mörner-Sjöqvist, dessen sich Keller
+
zur U-bestimmung bediente, ist bei Anwesenheit grösserer
Mengen von gewissen Amidosäuren und deren Derivaten,
z. B. Hippursäure, nicht ganz zuverlässig, da solche Substanzen
+
als U -mitbestimmt werden können. Aus diesem Grunde ist
das Verfahren, wie jüngst Salaskin und Zalesky gezeigt
haben, z. B. auf den Harn von Pflanzenfressern gar nicht an¬
wendbar und verlangt stets eine besondere Con-
t r o 1 e.
All dem entgegen hat Keller in seiner ersten Mitthei¬
lung auf die sehr beachtenswerthe Thatsache hingewiesen,
5) Die Malzwürze enthält nämlich nach Keller’s Angaben etwa die
Hälfte ihres N in Form von »Amiden und Amidosäuren« und diese Sub¬
stanzen gehen, wie ich an unseren mit »Malzsuppe« ernährten Säuglingen
wiederholt constatiren konnte, grossentheils unverändert in den Ham über.
Der Gehalt des Harnes an diesen Substanzen ist es auch, nebenbei bemerkt,
+
welcher die bei Malzsuppenfütterung oft auffallend niederen U-Werthe er¬
klärt. Eine von mir im Laboratorium Prof. Hofmeister’s in Strassburg
ausgearbeitete Methode gestattet, den N der Amidosäuren im Harne quanti¬
tativ zu bestimmen und ist geeignet, zu zeigen, dass diese Substanzen oft
als Ballast durch den ganzen Stoffwechsel geschleppt werden, ohne, wie
+
Keller meint, im U übergeführt zu werden.
dass sich die schwersten Formen von fettiger Degeneration
der Leber bei jenen seiner obducirten Fälle fanden, bei
welchen im Leben hohe N H3- Ausscheidung constatirt worden
war, und dass jener einzige von seinen eilf Fällen, in welchem
die NH3-Werthe relativ niedrige geblieben waren, bei der Ob-
duction auch als einziger einen völlig normalen Leberbefund
ergeben hatte. Keller weist noch darauf hin, wie sehr dies
die Annahme von einem Zusammenhänge der Lebererkrankung
und der abnormen N H3-B efunde nahe legt.
Der grundlegendste aller Befunde, welche Czerny und
Keller betreffs der Stoffwechselstörung bei magen- darmkranken
Säuglingen erheben konnten, ist jener der vermehrten NH3-
Ausscheidung. Die Werthe, welche Keller mittheilt, sind zum
grossen Theile ganz exorbitante. Dass mehr als 40% des
Gesammt-N im Harne als NH3 erscheint, ist nach Keller’s
Angaben durchaus keine Seltenheit (viermal unter elf Fällen);
mehr als 30% findet sich — wenigstens vorübergehend —
in mehr als der Hälfte der Fälle (erste Mittheilung) und zwei¬
mal notirt Keller sogar einen N H3-Gehalt von 52%.
Den Erwachsenen betreffend liegen Daten über ver¬
mehrte N H3-Ausscheidung in sehr beträchtlicher Zahl vor
(z. B. von Münzer, Engelien, Badt, Lieblein, Wein-
traud, Haller vorden, Stadelmann, Favitzky, Rumpf,
Senator, Schupfe r u. A.), doch finden sich so ungewöhnlich
hohe Zahlen nur ganz vereinzelt. Die von Rumpf gemachte, einen
Fall von Cholera asiatica betreffende Angabe über eine N H3-
N-Ausscheidung, welche 33*55% des Gesammt-N betrug, steht
meines Wissens völlig isolirt.
Angesichts dieser Umstände ist es wohl gestattet, die
Möglichkeit von Versuchsfehlern in Betracht zu ziehen. Ein¬
schlägige Zweifel haben schon Heubner und Bendix ge-
äussert und fanden dabei Unterstützung von Seite anderer,
namhafter Autoren, wie Neumann, Magnus Levy, Marfan.
Bendix, dessen ursprüngliche Versuchsanordnung aller¬
dings von jener Keller’s in einigen, vielleicht wesentlichen
Punkten abgewichen war (Leitung des Harnes durch Kautschuk¬
schlauch in den Recipienten) und der gleichfalls aussergewmhn-
lich hohe N H3-Zahlen gewonnen hatte, konnte zeigen, dass bei
Anwendung gewisser Cautelen (Auffangen über Schwefelsäure,
Untersuchung frischer Proben), die durch Doppelbestimmungen
controlirten NH3- Werthe bei einer Anzahl von gesunden und
kranken Säuglingen durchwegs relativ niedere waren (Maxi¬
mum 210%).
Keller untersuchte den Harn niemals frisch, sondern
sammelte die 24stündige Menge in einem mit Cloroform be¬
schickten, gekühlten Kolben, in welchem seiner Erfahrung
nach (Zahlenbelege fehlen!) die im Recipientien eventuell be¬
gonnene U-Zersetzung nicht fortschreiten soll. Diese selbst
aber kann nach Versuchen Keller’s einen Fehler von höch¬
stens circa 7% verursachen.
Es muss zugegeben werden, dass die von Keller an¬
geordneten Vorsichtsmassregeln nach den für den Harn
von Erwachsenen und Versuchsthieren gemachten Erfahrungen
ausreichend erscheinen müssen. Ob aber die zumeist dem Warte¬
personal (Nachtdienst!) überlassene Ausführung in jedem
einzelnen Falle allen Anforderungen entsprochen hat, entzieht
sich dem Urtheile Kellers selbst und darf wohl angezweifelt
werden. Wer von uns Anstalts-Kinderärzten hat nicht erfahren,
dass sich das sonst verlässlichste Wartepersonal aut Säuglings¬
stationen, namentlich im Nachtdienste unter dem Drucke der
selbst in der bestausgestatteten Anstalt oft schier unerfüllbaren
Forderungen manches kleine Versäumniss zu Schulden kommen
lässt. Das persönliche Interesse des Personales an derartigen,
sichtlich blos Untersuchungszwecken dienenden Unternehmun¬
gen ist ein überdies sehr geringes. Das eine allerdings will ich
Keller gerne zugeben, dass bei einer so grossen Ausdehnung
der Versuchsreihen und einer derart intensiven Ausnützung
des Materiales, wie er sie übte, die einzig vollkommen zuver¬
lässige Methode der ausschliesslich persönlichen
Handhabung aller technischen Details — wie ich sie z. B. bei
meinen unten mitzutheilenden Versuchen anwandte nicht
durchführbar ist.
8U8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. .Ifi
Was mir an den N H3-Zahlen Keller’s besonders be¬
denklich erscheint, sind die ausserordentlichen Schwankungen,
welche sich in vielen seiner Fälle innerhalb 24- oder 48stün-
diger Perioden ergeben, ohne dass in der Nahrungszufuhr oder
im Zustande des Kindes eine beträchtliche (in der Kranken¬
geschichte erwähnte) Aenderung eingetreten wäre. Es sei
beispielsweise auf einige solche Beobachtungen aus der ersten
Mittheilung hingewiesen:
Fall 2. Schwankung vom 21. auf 22. Mai 29 4% — 44,7%-
» 6. » » 22. » 23. » 13-2% — 28*1%.
»11. » » 18. » 19. » 26-2%— 45*1%.
Wie erklärt sich Keller solche Intensitäts-Schwankun¬
gen der vorliegenden »Säurevergiftung« (Paroxy»men ?) bei
unveränderten äusseren Umständen? Das Gleichgewicht des
Stoffwechsels ist doch sonst selbst bei kranken Säuglingen
kein so völlig labiles.
Inwieweit meine eigenen einschlägigen Zahlenangabcn den
Zweifel an jenen Kellers rechtfertigen, wird sich unten
ergeben.
[ch komme endlich bei der Sichtung der für und gegen
die Säure-Intoxicationshypothese vorliegenden Argumente zu
einem Punkte, auf den bereits hingewiesen zu haben, gleich¬
falls das Verdienst von Bendix ist. Wenn man nach
Keller die erhöhte N H;t-Ausscheidung als ein »Symptom«
der bei magen-darmkranken Säuglingen vorliegenden speeifl-
schen Stoffwechsel-Anomalie ansieht, so liegt zum Mindesten
die Annahme nahe, dass — so weit nicht andere Umstände
störenden Einfluss üben — auch eine gewisse graduelle Be¬
ziehung zwischen dieser und jener vorliegen werde. Dies ist
jedoch anscheinend durchaus nicht der Fall. Es zeigt sich —
so weit unter gleichen äusseren Ernährungsbedingungen ange-
stellte Versuche vorliegen — weder in evidenter Weise, dass
die schwerer erkrankten Kinder höhere NH3-Werthe auf¬
weisen, als die leichter erkrankten (gesunde Säuglinge hat
Keller nicht in den Kreis seiner Betrachtungen gezogen),
noch dass entscheidende Wendepunkte im Krankheitszustande
der einzelnen Individuen durch entsprechende Veränderungen
der N H., -Ausscheidung gekennzeichnet sind. Keller’s kurz-
gefasste Krankengeschichten gestatten zwar eine Beurtheilung
dieser Verhältnisse nur in beschränkten Masse, doch lässt sich
seinem Materiale immerhin manches recht drastische Beispiel
hiefür entnehmen.
Bend ix constatirte an seinen eigenen Fällen eine sehr
ausgesprochene Incongruenz der klinischen und chemischen
Befunde.
Man gewinnt derart den Eindruck, dass die vorliegende
Magen-Darmerkrankung nicht oder wenigstens nicht allein
und erst in zweiter Linie die Ursache der beobachteten, auf¬
fallenden N-Vertheilung im Harne sei. Die hohe N IL- Aus¬
scheidung muss offenbar durch ein anderes Moment in ent¬
scheidender Weise beeinflusst werden.
Es liegt nahe, an der Hand von Kelle r’s Tabellen in
seiner ersten Mittheilung nach diesem Momente zu forschen
und in der That gewinnt man hiebei sehr leicht einen Anhalts¬
punkt an der Qualität der Nahrungszufuhr. Es besteht —
nach Kellers Zahlen — eine ausgesprochene Abhängigkeit
der N H.rWerthe im Harne vor der Einfuhr eines bestimmten
Nahrungsbestandtheiles, nämlich des Fettes. In den »Sahne«-
Perioden sind die NH3-Werthe fast durchwegs ungewöhnlich
hohe, beim Uebergange zu fettärmerer Nahrung (Malzsuppe)
tinden jene steilen Abstürze der NH,-Werthe statt, welche
Keller auf Alkalizufuhr zurückzuführen scheint,, weil er sie
als Kriterien für bestehende Säure- Intoxication anführt.
Die Entdeckung, dass die N II.rAusscheidung beim
Säug ling namentlich eine Function der Nahrungszufuhr in dem
besagten Sinne sei, machten Czerny und Keller selbst
gleichfalls, allerdings erst etwas später, zu einer Zeit, als die
Säurevergiftungstheorie in ihrer ursprünglichen Gestalt bereits
ihren Weg in die Fachkreise genommen hatte.
Wäh rend die von Kolsky aus der Breslauer Klinik im
.fahre 1897 mitgetheilten, einscldägen Versuchsergebnisse noch
dahin gedeutet wurden, dass »die Art der Ernährung bei
kranken Säuglingen insoferne eine Wirkung auf die NK-
Ausscheidung im Harne habe, als sie das Allgemeinbeflnden
beeinflusst« {i) und höchstens für einzelne Fälle die Möglichkeit
einer directen Beeinflussung zugegeben wurde, gewannen
Czerny und Keller in der fünften Mittheilung über die
»Säurebildung« andere Gesichtspunkte. Sie variirten systema¬
tisch den Eiweiss-, Fett- und Kohlehydratgehalt der Nahrung
und bestimmten die NH3-Ausfuhr an denselben (kranken)
Kindern bei solcher verschiedener Diät. Die hiebei gewonnenen
Erfahrungen veranlassen sie zum Schlüsse: »dass zur Er¬
höhung d e r N H:t - Ausscheidung bei magen-darm¬
kranken Säuglingen fast ausschliesslich die
Säuren Veranlassung geben, welche bei der
Spaltung der Fette entstehen«. Erhielten diese
m agen-darmk ranken Säuglinge eine Nahrung von
geringem oder mittlerem Fettgehalte dann schwankten die
Zahlen für die relative N H3- Ausscheidung zwischen 1T% und
7’5°/0, also in Grenzen, wie sie z. B. etwa der normale Er¬
wachsene aufweist. Auch höherer Eiweiss- und Zuckergehalt
der Milch verursachte bei den kranken Säuglingen keine be¬
trächtliche Steigerung der N H3-Werthe über diese Norm. Die
fast durchwegs hohen NH3-Werthe, welche Keller in seiner
ersten Publication mittheilte, erklären sich nun daraus, dass
die Kinder damals eben mit Sahne, id est sehr fettreicher
Nahrung gefüttert wurden.
Damit war nun allerdings die Säureintoxicationsfrage in
ein anderes Stadium eingetreten. Dem von Seiten der Breslauer
Schule begreiflicher Weise vorliegenden Wunsche, diesen Ueber-
gang möglichst schonend zu gestalten, trug die Aufstellung
einer Vermittlungs-Misch-Hypotliese Rechnung, die an ver¬
schiedenen Orten etwas differenten Ausdruck findet, im Wesent¬
lichen aber dahin gebt, dass für die vermehrte N H3-Ausscheidung
zweierlei Umstände verantwortlich zu machen seien:
1. Eine besondere Beschaffenheit der Nahrungszufuhr,
nämlich vor Allem hoher Fettgehalt (betreffs des Einflusses
der Kohlehydrate liegen widersprechende Angaben vor).
2. Der »Zustand des Kindes«, das ist die Schwere der
Erkrankung oder der durch die Erkrankung hervorgerufenen
const itutionellen Stoffwechselstörung.
(Als drittes Moment werden zum Theile auch aus früherer
Zeit nachwirkende Erkrankungszustände und Diät-Qualitäten
genannt.)
Zur Stütze des namentlich fraglich gewordenen zweiten
Punktes verweist Keller in der jüngsten einschlägigen
Publication (»Malzsuppe«) darauf, dass in früheren Arbeiten
Fälle mitgetheilt seien, in welchen trotz geringen Fett¬
gehaltes der Nahrung eine auffallend hohe N II3-Ausscheidung
Vorgelegen habe. Ich konnte mich jedoch trotz genauer
Einsichtnahme in diese Arbeiten hievon nicht überzeugen.
Stets handelte es sich bei hohen N IL-Werthen um stark fett¬
haltige Nahrung oder um die unmittelbare Nachwirkung eines
anderweitig irrationellen Ernährungsregimes. (Eine Ausnahms¬
stellung nehmen anscheinend auch hiebei die Brustkinder ein,
bei welchen übrigens über den Fettgehalt der Nahrung durch
Keller nichts bekannt wird.)
Angesichts der nach Keller’s Meinung bestehenden
Concurrenz der beiden, im Sinne vermehrter N H3-Ausscheidung
wirkenden Ursachen, drängt sich die Frage auf, ob
bei a 1 1 m ä 1 i g steigender Fettzufuhr eine Ver¬
schiedenheit zwischen gesunden und m agen-
darmk ranken Säuglingen etwa in dem Sinne
v o r 1 i e g t, dass letztere früher und in höherem
Masse durch vermehrte NH3 - Ausscheidung
reagiren, also weniger fett-tolerant sind, als
e r s t e r e.
Zur Entscheidung dieser Frage konnte Keller nicht
beitragen, da er an gesunden Kindern keine Versuche anzu¬
stellen Gelegenheit hatte, ein Umstand der auch hier wieder
als schwere Lücke empfunden wird. Der belehrende Vergleich
des Verhaltens kranker und unter ähnlichen äusseren Bedin¬
gungen stehender gesunder Kinder fällt bei den Untersuchungen
K e 1 1 e r’s überall aus.
6) Im Originale directe Rede.
Nr. 36
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
809
Die Erfahrungen, welche Keller über den Stoffwechsel
magen-darmkranker Säuglinge gemacht hatte, bewogen ihn,
Versuche mit einer neuen Nahrung für solche Kinder anzu¬
stellen; für die Zusammensetzung derselben waren ihm Indica-
tionen massgebend, die er aus seinen Befunden ableitete. Mit
dem eingehenden Studium der so entstandenen »Malzsuppe«
und der damit erzielbaren Ernährungserfolge schloss die Reihe
der einschlägigen Arbeiten aus der Breslauer Klinik vor¬
läufig ab.
II.
Das hohe Interesse, welches die Säurevergiftungsfrage
für die Pathologie der kindlichen Magen-Darmerkrankungen
durch die Forschungen der Breslauer Schule gewonnen hatte,
veranlasste mich, einige Punkte derselben nachzuprüfen.
Hiebei erfreute ich mich der Anregung und des werthvollen
Käthes meines Chefs, des Prof. Esc her ich, und seiner Er¬
laubnis, mich der klinischen Mittel und des Krankenmateriales
zu bedienen.
Ich konnte mich bisher mangels der nöthigen Müsse nur
mit vereinzelten, herausgerissenen Themen beschäftigen, glaube
aber, dass die Mittheilung meiner bisherigen Ergebnisse
immerhin zur Klärung gewisser, besonders belangreicher
Fragen schon beitragen kann. Betreffs der zahlenmässigen
Belege, der technischen Details und der Methodik verweise
ich auf eine spätere ausführliche Publication. Hier sei ein¬
schlägig nur erwähnt, dass der Harn in meinen Versuchen
bei weiblichen Kindern stets durch Katheterismus, bei männ¬
lichen durch Vorlage »quantitativ« gereinigter Kölbchen von
mir persönlich gewonnen wurde und in jedem Falle ohne
Ausnahme noch körperwa r m zur Verarbeitung kam.
Die Forderung, nur absolut frischen Harn zu allen Be¬
stimmungen zu verwenden, verträgt sich natürlich nicht mit
jener, den 24stiindigen Mischharn zu untersuchen; doch halte
ic,h erstere für weit wichtiger als letztere. Da beim Säugling
die den Stoffwechsel namentlich beeinflussenden Functionen,
als Nahrungsaufnahme, Schlaf- und Wachen, innerhalb der
24stündigen Perioden nahezu gleichmässig vertheilt sind, steht
bei ihm eine beträchtliche Tagesschwankung in der Zu¬
sammensetzung des Harnes nicht zu erwarten. Die mir man¬
gelnde Kenntniss vom 24stündigen Gesammtharnvolumen fiel
wenig ins Gewicht, da ich alle bestimmten Grössen relativ
ausdrückte, nämlich auf Gesammt-N berechnete. Die Con¬
centration des Harnes ist für die vorliegenden Zwecke
belanglos.
Das Nil, wurde nach dem Principe des Verfahrens von
Wurster in absolut einwandfreier Weise, der Gesammt-N nach
Kjeldahl bestimmt. Die Bestimmung des IJ geschah nach einer
von mir im Laboratorium von Prof. Hofmeister in Strassburg
angewandten Methode, beruhend auf der durch Phosphorwolfram-
säurefällung und Abscheidung des leicht abspaltbaren N zu be¬
wirkenden Auttheilung des Gesammtharn-N auf vier Fractionen,
. 4-
wovon eine dem U-N entspricht. Diese Methode bietet fast allen
bisher angewandten gegenüber den Vortheil, dass sie einen durch
l
~T~
Mitbestimmung der Amidosäuren als II gemachten Fehler sicher
ausschliesst. Der N-Gehalt der »Amidosäurenfraction« wird hiebei
gleichzeitig ermittelt.
Die Basen-Capacität des Harnes bestimmte ich nach einem
neuen, von mir ad hoc ausgearbeiteten Verfahren, dessen Princip
ist, jene Substanzen, welche die directe Titration des Harnes mit
den üblichen Indicatoren vereiteln, ohne Zersetzung von U
durch Ba (OH).2 auszufällen und den ursprünglichen Gehalt an
vertretbaren H-Jonen durch Hinzufügung einer entsprechenden
Menge auf die Baryumhydroxydlösung eingestellter Normalsäure
wieder herzustellen. In dem so vorbereiteten Harne ergibt die
rl itration auf Phenolphthalein scharfen Umschlag. Die Bestimmung
der Basen-Capacität wurde mit jener des NR, verbunden. Die ein¬
gesetzten Werthe sind durchwegs Mittelwerthe zweier gut
stimmender Analysen.
Das Untersuchungsmaterial lieferte mir die Säuglingsstalion
unserer Klinik und die dieser angegliederte Krankenabtheilung der
steiermärkischen Landes-Findelanstalt. In letztere werden häufig
Säuglinge wegen Ophthalmoblenorrhoe, Mastitis, Kephalhämatom und
anderer das Allgemeinbefinden meist in keiner Weise beeinträchti¬
gender Erkrankungen aufgenommen und war mir derart die will¬
kommene Gelegenheit geboten, an vollkommen magen-darmgesunden,
künstlich und natürlich ernährten Säuglingen und solchen in
denkbar bestem Allgemeinzuslando befindlichen Untersuchungen an¬
zustellen.
Das Gesammtbereich der Untersuchungen betrifft 40 Kinder,
wovon 30 im ersten Lebenshalbjahre standen. Ich theilte das ganze
Material nach einem Gesichtspunkte in zwei Kategorien: »magen¬
darmgesund« und »magendarmkrank« und nach einem anderen
Gesichtspunkte in zwei andere Kategorien : »guter« und »schlechter
Allgemeinzustand«. Die Kriterien, wonach diese Eintheilung ge¬
troffen wurde, werden sich aus den später zu publicirenden Kranken¬
geschichten, beziehungsweise den darin enthaltenen klinischen und
anatomischen Befunden ergeben.
Die von Keller geübte Zusammenreihung aller »magen¬
darmkranken« Kinder in eine gemeinsame Gruppe erscheint mir
— nebenbei bemerkt — durchaus unzweckmässig, weil a priori
durchaus nicht anzunehmen ist, dass alle — oder auch nur alle
chronischen — Magen-Darmerkrankungen dieselbe Stoffwechsel¬
anomalie zur Folge haben sollen; doch behielt ich auch diese
Gruppirung bei, um meine Befunde jenen Kellers conform zu
gestalten.
A. Was zunächst die Ergebnisse der Bestimmung des
»NH3-Coefficienten« (NIL, — N, ausgedrückt in Procenten des
Gesammt-N) betrifft, so sind dieselben namentlich folgende:
1. Der N H.rCoefficient beträgt im ersten Lebenshalb-
jalire durchschnittlich (an gesunden und kranken Kindern)
15- 69%. (Die entsprechenden an frisch untersuchten Harnen
von Bend ix gewonnenen Zahlen ergeben ein Mittel von
17*30%.) Der NH. -Coefficient beträgt in dieser Altersclasse bei
magen-darmgesunden Kindern rund . . . 15%,
magen-darmkranken » » ... 16%;
Kindern in gutem Allgemeinzustande rund 14%,
» » schlechtem » » 17%.
Er beträgt im zweiten Lebenshalbjahre im Mittel 6*28%. 7)
2. Der N H:! -Coefficient schwankt im ersten Lebenshalb¬
jahre (wechselnde Ernährung, wechselnder »Zustand«) in der
grossen Mehrzahl der Fälle (73%) nur zwischen 10 und 20%.
Mehr als 20% (Maximum 30 0%) betrug er nur in vier
Fällen (drei Kinder betreffend), wovon drei Fälle (zwei
Kinder) moribund untersucht wurden. Weniger als 10°/0
(Minimum 4*6%) betrug er nur in drei Fällen.
3. Der N H:J Coefficient bei demselben Individuum und
derselben Ernährung in Zeiträumen von wenigen Tagen unter¬
sucht, schwankt nur sehr wenig; die grösste beobachtete
absolute Schwankung betrug 5*2% auf 24*8%.
4. Erhöhung des Fettgehaltes in der Nahrung von
Flaschenkindern steigert den N H.,-Coefficienten unabhängig
vom Gesundheitszustände der Kinder in einem gewissen, be¬
schränkten Masse.
Ad 1. Aus den vorgelegten Zahlen ist ersichtlich, dass
der mittlere N H:. -Coefficient im ersten Lebenshalbjahre auch
in der Norm beträchtlich höher liegt, als bei normalen Er¬
wachsenen (Mittelwerth bei letzteren nach W eintraud 4*1%,
nach Rumpf 4*80%). Schon im zweiten Lebenshalbjahre
nähert sich der Mittelwerth jenem beim Erwachsenen.
Es ist weiter ersichtlich, dass der Gesundheitszustand des
Darmes als solcher einen kaum erkennbaren Einfluss auf die
Grösse des NH3-Coefficienten hat, da^s dieser jedoch vom
Allgemeinzustande in gewissem Grade abhängig erscheint. Die
geringe Differenz, die sich im ersten Werthepaare findet, kann
wohl darauf bezogen werden, dass Magen Darmerkrankungen
eben die häufigste Ursache der Schädigung des Allgemein¬
befindens in diesem Alter sind. Diese aus der summarischen
Betrachtung sich ergebenden Gesichtspunkte lässt auch das
detaillirte Studium der einzelnen Fälle und Daten gewinnen;
7) Für weitere Detaillirung reicht die Zahl der in dieser Altersclasse
untersuchten Fälle nicht aus.
810
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 36
es schien mir evident, dass Magen-Darmcrkrankun-
»cn nur dann einen Einfluss aut die N 11^ - A u s-
scheidung durch den Harn (im Sinne einer Steigerung)
haben, wenn sie bereits die Functionen der
A t h m u n g, des Kreislaufes und des Stoffwechsels
in höherem Masse und dauernd zu schädigen
begonnen haben.
Dass in solchen Fällen die oxydative Verarbeitung des
NH, im Organismus gehemmt sei. ist einleuchtend, wenn man
bedenkt, dass die Gfewebe nicht hinreichende Mengen von
Sauerstoff zugeführt bekommen oder diesen nicht in gehörigem
Masse aufzunehmen im Stande sind.
Inwieferne schon unzureichende Sauerstoffzufuhr den
+
oxydativen Aufbau von U zu hemmen im Stande ist, konnte
ich in sehr anschaulicher Weise an einem Falle schwerer,
diphtheritiseher Larynxstenose darthun, bei welchem das Ath-
mungshinderniss in der drohendsten Erstickungsgefahr durch
Intubation augenblicklich behoben wurde; der Harn — un¬
mittelbar vor und einige Zeit nach der Intubation untersucht
enthielt den N des N 1I:!, der Amidosäurenfraction und des
4-
U in sehr verschiedenem Masse vertheilt und die Aenderung
der N-Vertheilung entsprach ganz dem Sinne obiger These
4-
(Anstieg der U-, Abfall der N II :i- und Amidosäurenwerthe
durch Freigabe der Athmung). Einschlägige Beobachtungen
wurden überdies experimentell an Thieren von Reale und
Boeri, an Menschen klinisch in allerjüngster Zeit auch von
Michaelis gemacht. In ähnlicher Weise, wie ein in den
äusseren Athmungswegen sitzendes, grobmechanisches Respi-
rationshinderniss wirkt natürlich auch ungenügende Ventilation
der Lungen und verlangsamte Circulation, Zustände, wie sie
bei magen-darmkranken, aber auch bei anderweitig erkrankten
Kindern in der That häufig vorliegen.
Einem Missverständnisse dieser Ausführungen in dem
Sinne, dass ich etwa verminderte Sauerstoffzufuhr für das ein¬
zige derart wirksame Moment ansehc, brauche ich wohl kaum
ausdrücklich vorzubeugen. Pflüger hat bekanntlich den
principiellen Satz aufgestellt, dass Sauerstoffaufnahme und
-verbrauch im Körper durch den Zellen immanente Bedin¬
gungen geregelt seien und nicht durch äussere Factoren.
Ad 2 und 3. Die relativ geringen Schwankungen, die
ich bei der Bestimmung des N H:j-Coefficienten im Allgemeinen
fand und die Stetigkeit seines Werthes bei wiederholter Prüfung
an demselben Individuum sind den gegenteiligen Befunden
Kellers gegenüber zu halten. Ich will aber nicht unter¬
lassen, an dieser Stelle anzuführen, dass Rumpf beim Er¬
wachsenen ähnliche, unregelmässige und unerklärliche Schwan¬
kungen an einem und demselben Individuum fand, wie
Keller; allerdings untersuchte auch er die Proben niemals
Irisch und wandte vielleicht keine hinreichenden Vorsichts-
4-
massregeln gegen die U-Zersetzung an.
Ad 4. Die Nahrung meiner Versuchskinder bestand in
der Mehrzahl der Fälle aus G ä r t n e r'scher Fettmilch, welche
einen oft controlirten. um 3% nur wenig schwankenden Fett¬
gehalt aufwies und in verschiedenen Verdünnungen gereicht
wurde. Ferner wurden einige mit Vollmilch von bekanntem
Fettgehalte ernährte und mehrere Brustkinder untersucht.
Es liegen mir vier Versuchsreihen über den Einfluss der
Fettzufuhr durch die Nahrung auf den N H..-Coefficienten vor.
Das Resultat derselben war ziemlich eindeutig; es weist darauf
hin. dass ein solcher Einfluss, wie schon Czernv und
Keller überzeugend dargethan hatten, besteht; nur konnte
ich keine so bedeutenden Ausschläge erzielen. Auch ergab
sich nicht, dass betreffs der Fetttoleranz e c 1 a-
tante Unterschiede zwischen gesunden und
magen- darmkranken Kindern v o r 1 i e g e n : es
stiegen die R H;[-\V er the bei gleicher Steigerung
der Fettzufuhr in beiden Kategorien von Fällen
ungefähr in gleicher Weise an.
Als Mass für die »Fettzufuhr durch die Nahrung« galt
mir nicht der Fettgehalt des Nahrungsgemisches, sondern die
absolute, pro 24 Stunden eingeführte Fettmenge. Auch dieses
Mass würde für die vorliegenden Zwecke — namentlich in
pathologischen Fällen — rationeller durch jenes der resor-
birten Fettmenge ersetzt, deren annähernde Bestimmung auf
dem Wege der Stuhlanalyse geschehen könnte; denn das den
Verdauungscanal passirendc Fett bleibt für den Stoffwechsel
ante portas und kann eine Fernwirkung auf den Säuregehalt
der Gewebe nur in beschränktem Masse durch Beeinflussung
der Darm- und Drüsensecretion ausüben. Diesbezüglich konnte
ich einen recht lehrreichen Fall beobachten. Ein chronisch
magen-darmkrankes, stark abgemagertes, viermonatliches Kind
war mir durch den wiederholt constatirten Befund eines sehr
niederen Harn-N H.rCoefficienten (5'5%) aufgefallen. Das Kind
bekam reichlich Fett in der Nahrung zugeführt, litt aber an
schwerer Fettdiarrhöe; der Stuhl enthielt enorme Mengen von
Fett und Seifen (und auffallend wenig Gallenfarbstoffe).
Eine genaue Controle der den Stoffwechsel beeinflussen¬
den Fettmenge lässt sich allerdings auch bei Rücksichtnahme
auf das Stuhlfett nicht gewinnen, denn ein Kind, das in Folge
darniederliegender Verdauungsfunctionen irgend einen Nahrungs-
bestandtheil schlecht ausnützt, wird schon durch Zehrung an
seinem Körperbestande zum Fettconsumenten. Ich will damit
sagen, dass Versuche, die Abhängigkeit einer bestimmten
Stoffwechselanomalie vom Fettumsatze im Körper, einer in-
commcnsurablen Grösse, darzuthun, niemals völlig exact durch¬
führbar sein werden.
Um mich zu überzeugen, welchen Einfluss die Qualität
der Säuglingsnahrung auf die N H;(- Ausfuhr im Harne hat,
setzte ich einen gesunden Erwachsenen auf Säuglingskost. Ich
nährte mich selbst durch drei Tage ausschliesslich von Milch,
der nur wenig Kohlehydrat beigefügt war. In der Milchdiät¬
periode stieg der N H. [-Coefficient meines Harnes merklich an,
erreichte jedoch lange nicht den bei Säuglingen vorliegenden
Durchschnittswerth. Ich glaube daher, dass ein, aber nicht
der einzige, noch der wichtigste Grund der hohen N H.,-
Ausscheidung im Säuglingsalter in der Nahrungsqualität gelegen
ist und zwar kann von den verschiedenen Milehbestandtheilen
nach dem Ergebnisse Keller’s und meinen Versuchen in der
That nur das Fett in Betracht kommen.
Ueber die Art und Weise der Beeinflussung des Stoff¬
wechsels durch das Fett der Nahrung im Sinne der ver¬
mehrten N IL-Ausscheidung äussert sich Keller sehr unbe¬
stimmt: »Der Einfluss der Ernährung auf N H.,- Ausscheidung
ist so zu erklären, dass durch die Zufuhr bestimmter Nahrungs-
bestandtheile, z. B. Fett (und gewisse Kohlehydrate) die Ent¬
stehung von Säuren und eventuell schwer verbrennbarer
Säuren begünstigt wird«. Mir scheint jedoch gerade dieser
Punkt ziemlich leicht und ungezwungen deutbar.
Fetteinfuhr hemmt, wie wir seit Langem, namentlich
aber seit Pawlow wissen, die Secretion des sauren Magen¬
saftes, es fördert die Ausscheidung des alkalischen Darm- und
Pankreassaftes und jene der alkalischen Galle; es zerfällt in
saure Producte, worunter sich auch schwer verbrennbare,
niedere Fettsäuren (vom Abbau durch ein im Darmsecrete
enthaltenes Ferment stammend) befinden; cs kann vielleicht
4-
auch auf die inneren Functionen der Leber (U-bildung) durch
Inanspruchnahme der äusseren Secretion des Organes hemmend
einwirken. Alle diese Momente müssen im Sinne einer Säure¬
stauung wirken.
Erwähnt sei hier noch, dass Geelmuyden, sowie
Schwarz in jüngster Zeit eine genetische Beziehung des
Acetons zu den Fettsubstanzen im Körper dargethan haben.
Das Fett der Frauenmilch scheint eine NH;$-Ver-
mehrung im Harne nicht in dem Masse, wie jenes der Kuh¬
milch, zu bewirken.
In diesem Sinne besteht also thatsächlich bei jedem
künstlich genährten Säugling als hohem Fettconsumenten dem
Erwachsenen gegenüber ein gewisser Grad von physiologischer
Uebersäuerung. Von einer Säurevergiftung8) durch er¬
höhte Fettzufuhr, sowie auch bei der von Keller auf gleiche
8) Nur II ij man ns van den Bergh gebrauchte die Vorsicht,
diesen Ausdruck zu vermeiden.
Ni. 3(5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
811
Stufe gestellten, von Erkrankungszuständen des Darmes ab¬
hängigen Stoffwechselstörung der Säuglinge kann aber allge¬
mein deshalb schon keine Rede sein, weil im Organismus
circulircnde Säuren, so lange sie nur N H;!, eine werthlose
Schlacke des Stoffwechsels, in Beschlag nehmen, wie auch
Keller betont, keinen ernsten Schaden stiften.
Allerdings ist K e 1 1 e r nach dem Ergebnisse der Versuche
v. Lim beck’s über künstliche Säurevergiftung beim Menschen
(MCI und Milchsäure) — die er mit ähnlichem Erfolge wieder¬
holte — geneigt, anzunehmen, dass beim magen-darmkranken
Säuglinge, ebenso wie beim Erwachsenen das N H3 »erst als
Neutralisationskörper zweiter Ordnung« auftritt und Verlust
an fixem Alkali zwar nicht aus dem Blute, aber aus den
Geweben (durch das Blut) statt hat; doch bringt er für diese
Vermuthung keinen objectiven Befund bei.
Angesichts der Bedeutung dieser Frage habe ich mich
der keineswegs dankbaren Aufgabe unterzogen, das fixe Alkali
im Harn und in der Leber magen-darmgesunder und magen¬
darmkranker Säuglinge mit verschieden hoher NH3-Ausfuhr
zu bestimmen. Das mir vorliegende Zahlenmaterial ist kein
grosses, aber das Ergebniss ein eindeutiges. Während der
Gehalt der Leber an fixem Alkali (Na -j- K, g e-
wogen als Na Cl -|- K 01 nach Lehmann und be¬
rechnet a u f N) in allen Fällen ziemlich constant
war, schwankte der Alkaligehalt des Harnes
zwar in beträchtlicher Breite, ohne aber die
von Keller vermut bete Beziehung zum Krank¬
heitszustande des betreffenden Kindes er¬
kennen zu lassen.
+
]>. Die Bestimmungen des U und des N der Amido-
säurenfraction ergaben Folgendes:
1. Der Ü-Gehalt im Harne der im ersten Lebenshalb¬
jahre stehenden gesunden und kranken Kinder beträgt — aus-
4-
gedrückt in U — N und bezogen auf Gesammt N — im Mittel
51*05% (Maximum 717 °/0 , Minimum 17'2%),
bei den magen-darmgesunden Kindern rund 55*94%
» » magen darmkranken » » 46*74°/o-
Die U-Werthe in diesem Alter wurden meist beträchtlich
höher geschätzt, vcrmuthlich weil die meistgebrauchten Be¬
stimmungsmethoden unter Umständen zu hohe Zahlen liefern
konnten.
Im zweiten Lebenshalbjahre beträgt der entsprechende
4-
U- Werth im Mittel 76*53%.
2. Im Harn der Säuglinge aus dem ersten Lebenshalbjahre
findet sich eine Gruppe N-haltiger Köiper, zu welcher Oxy-
proteinsäure, Amidosäuren der Fettreihe und vielleicht andere,
noch unbekannte Substanzen gehören. Der N dieser Körper¬
gruppe (» Amidosäurenfraction«) beträgt im Durchschnitte
1 2 • 0 1 °/0 des Gesammt N (Minimum 4*5%> Maximum 19*1 °/0),
also beträchtlich mehr als beim Erwachsenen.
4-
3. Der Gehalt des Harnes an U steht zum Gehalte an
N H:i und an Körpern der Amidosäurcngruppe in annähernd
altern iron dem Verhältnisse.
G. Die Basencapacität des Harnes betreffend, sind meine
Befunde folgende:
1. Die Basencapacität des Harnes (ausgedrückt in Cubik-
centimetern n/10 Lauge und bezogen auf eine Harnmenge, welche
100 mg Gesammt-N enthält) beträgt bei Kindern des ersten
Lebenshalbjahres im AI ittel 37 08%! nach vorangegangener
Austreibung des N H:t 47'98% (»Capacität für fixe Basen«);
im Mittel sind also 25*49% der nicht an fixes Alkali gebun-
lenen, vertretbaren H-Jonen durch N H:t ersetzt.
Im zweiten Lebenshalbjahre beträgt die Basencapacität
des Harnes nur mehr etwa ein Di ittel des angegebenen Werthes.
Ihr numerisches Verhältnis zur N IL-Deckung bleibt unge¬
fähr dasselbe.
2. Die Wertlie für die Basencapacität des Harnes und
jene für die N II..- Ausscheidung stehen in keiner irgend
erkennbaren, fixen Beziehung zu einander. Diesen Befund
ergeben auch, wie schon oben erwähnt, die nach Keller’s
Angabe berechneten Werthe. Er weist darauf hin, dass das
N H3 nicht — wie Haller vor den meint — ausschliesslich
als Säurebegleiter, sondern auch selbstständig im Harne er¬
scheint, wenn es gleich unter gewöhnlichen Umständen stets
durch Metalle ersetzbaren Wasserstoff vertritt.
Die Durchschnittswerthe für die Basencapacität sind in
den Kategorien der magen -darmgesunden und -kranken Säug¬
linge ungefähr dieselben.
I). Keller neigt, wie erwähnt, sehr entschieden zur
Ansicht, dass eine primäre Störung der Lebensfunction für die
hohe N H3-Ausscheidung bei magen darmkranken Säuglingen
nichts zu thun habe. Da ich seine diesbezügliche Beweisführung*
c? o
jedoch nicht als zwingend anerkennen konnte, und mir jene
ältere Annahme von Mya und Czerny immerhin noch zum
Mindesten als Eventualfrage in Betracht zu kommen schien,
suchte ich weitere Erfahrungen hierüber auf neuem und
directem Wege zu gewinnen. Angeregt wurde ich hiezu durch
die schönen Untersuchungen Jacoby’s über Leberfermente,
deren neue Serie ich im Strassburger physiologisch chemischen
Laboratorium entstehen zu sehen, das Vergnügen hatte.
Durch eine Reihe neuerer Arbeiten, um welche nament¬
lich Schmiedeberg, Salkowsky und seine Schüler,
ferner J a q u e t, Pohl, Spitzer, A b e 1 o u s verdient sind,
wurde festgestellt, dass die an fermentartige Köi per gebundene
Fähigkeit verschiedener Organe, gewisse Substanzen zu oxy-
diren, auch ausserhalb des Körpers nach dem Tode fortdauert.
Lässt man z. B. Extracte frischer Thierleber unter bestimmten
äusseren Bedingungen auf gewisse, leicht oxydable, organische
Substanzen, z. B. Aldehyde, einwirken, so bilden sich alsbald
Oxydationsproducte, deren Gesammtmenge ceteris paribus als
relatives Mass für die intravitale, oxydative Energie der be¬
treffenden Fermente und der sie bergenden Organe gelten
kann. Was speciell die Leber betrifft, so wurde von Jacoby
gezeigt, dass jene oxydative Synthese, welche, allem
4-
Anscheine nach, den Schlussact der U-bildung in der Säuge-
thierleber bildet, durch ein oder mehrere an die Leber¬
zellen gebundene Fermente bewirkt wird, deren Actions¬
energie einer annähernden Bestimmung auf dem angedeuteten
Wege zugänglich ist.9 10)
Ich habe daher eine grössere Zahl von Lebern aus
Leichen magen- darmgesunder und -kranker Kindern aus jeder
Altersperiode in der Weise verarbeitet, dass ich das wässerige
Extract des fein vertheilten und durch leichte Pepsinverdauung lü)
dem Extractionsmittel besser zugänglich gemachten Gewebes
unter gewissen, an anderen Orten zu detaillirenden, in jedem
Falle vollkommen gleichartig gestalteten, äusseren Bedingungen
auf überschüssige Mengen säurefreien Salicylaldehydes einwirken
Hess und die nach gewisser Zeit entstandene Salicylsäure
quantitativ bestimmte. Zur Controle der Versuchsanordnung
diente ein Versuch, wobei der Einwirkung auf den Aldehyd
eine erfabrungsgemäss fermentzerstörende Wärmezufuhr vor¬
ausging; hiedurch konnte in der That die Bildung von Salicyl¬
säure absolut behoben werden.
Die Menge der von verschiedenen, bestimmten Gewichts-
mengen Lebersubstanz gebildeten Salicylsäure wurde behufs
Vergleichbarkeit nach der von Medwedew aufgestellten
Formel auf eine gewisse Gewichtseinheit Substanz (sowie aut
das jeweilige Gesammtgewicht der Leber) berechnet und diente
als Mass für die Energie der postmortalen, fermentativen
Oxydation in jedem Einzelfalle.
Die Ergebnisse dieser bislang allerdings nicht sehr weit
ausgedehnten Versuchsreihe sind folgende:
Die auf 100 g frischen Leberbreies berechnete Menge
der gebildeten Salicylsäure beträgt bei den 17 im ersten
Lebenshalbjahre verstorbenen Säuglingen zwischen 14*1 und
166*7 mg, im Mittel 63*59 mg.
9) Zur Zeit noch nicht publieirte, persönliche Mittheilung.
10) Diese für meine Zwecke bewährte, die oxydative 1‘ ermenlwirkung
wie vorauszusehen war, nicht unbeträchtlich steigernde Massnahme Li die
einzige wesentliche Modification, die ich an dem von Medwedew uusfüht-
lich- dargelegten und begründeten Verfahren vernahm.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 36
S12
Neun von diesen 17 Lebern waren bei der Obduction
im hiesigen pathologischen Institute (Vorstand Prof. Lppinger)
völlig oder nahezu normal befunden worden (makroskopische
Untersuchung), die übrigen Organe batten nach dem Ausspruche
des jeweiligen Obducenten höhere Grade parenchymatöser
oder fettiger Degeneration (oder in einem Falle schwere, durch
Stauung hervorgerufene Veränderungen) geboten. In der
ersteren Kategorie von Fällen betrugen die Salicylsäurewerthe
53*9 — 1667 mg, im Mittel 92 90 mg, in der zweiten Kategorie
1 41— 622 mg, im Mittel 30 6 1 mg. Die krank befundenen
Organe hatten also in keinem Falle sovielSali-
c y 1 8 ä u r e gebildet, als dem Gesammtdurch-
schnittswerthe entspricht und hatten im Mittel
n i c li t einmal ganz den dritten Theil des von den
gesunden Lebern umgewandelten Aldehydes
o x y d i r t.
Diese Daten sprechen wohl sehr deutlich dafür, dass
Erkrankungen des Leberparenchyms die Energie seiner fermen¬
tativen Oxydationsfähigkeit beträchtlich herabsetzen. Ueber-
raschend war mir dieser Befund deshalb, weil beim Erwachsenen
(Mensch und Thier) bekanntlich Parenchymerkrankungen der
Leber in der Kegel keinen, wenigstens keinen durch Stoff-
wechseluntersuchungen erkennbaren, erhebliehen Functions¬
ausfall zur Folge haben (Münzer, W eintraud), sei es,
weil die Leber mit grossen Reservekräften arbeitet, sei es,
weil andere Organe vicariirend für sie eintreten.
Es schien mir nun sehr wissenswerth, ob die in Fällen
solcher parenchymatöser Erkrankung der Leber bestehende
Functionsuntüchtigkeit des Organes auch intra vitam etwa in
einer abnormen Harnbeschaffenheit Ausdruck findet. Dass dies
in der That der Fall ist, lehrt mich die Beobachtung jener
instructiven Fälle (zehn), in welchen ich Gelegenheit hatte,
den frischen Harn des Lebenden und post mortem die Leber
zu untersuchen. Vergleicht man den N H3-Coefficienten des
Harnes mit der oxydativen Energie des Leberextract.es, so
findet man, dass diese Werthe in neun von jenen zehn Fällen
alterniren, d. h. dass sich bei über dem Mittel hegender N IL-
Ausscheidung unter dem Mittel hegende Salicylsäurewerthe
ergeben und umgekehrt. Damit ist ein wertli voller
Anhaltspunkt gewonnen für die Annahme, dass
Schwankungen in der oxydativen Energie der
Leber auf die N-Vertheilung im Harne der
Säuglinge von Einfluss sind, dass nämlich ver¬
minderte, fermentative Oxydation sfähigkeit
des Organs, w i e s i e b e i schwereren anatomischen
E r krank ungen des Leberparenchyms v o r z u-
liegen pflegt, mit vermehrter N H.(- (u n d v e r m i n-
d e r t e r U-) Ausscheidung e i n h e r g e h t.
Mit der Frage, auf welchen Ursachen die in meinen
Fällen vorliegende Lebererkrankung zurückzuführen sei, und
wie weit hiefür namentlich primäre Magen-Darmerkrankungen
verantwortlich zu machen seien, habe ich mich nicht be¬
schäftigt.
In sieben Fällen konnte ich die Leber älterer Kinder
(über sechs Monate) untersuchen. Diese Organe zeichneten sich,
so weit keine pathologischen Veränderungen Vorlagen, durch
eine beträchtlich höhere oxydative Energie aus. Letztere
scheint mit zunehmendem Alter steil an zu steigen.
Das Ergebniss der angeführten Untersuchungen über die
oxydative Energie des Leberextraetes bei Säuglingen und
deren Beziehung zu einer durch eigenartige N-Vertheilung im
Harne gekennzeichneten Stoffwechselveränderung ist. nicht ohne
Bedeutung für die Kritik der C z er ny- Kelle r’schen Hypo¬
these. Ein besonderes Interesse dürfen diese Befunde vielleielit
aber noch von weiteren Gesichtspunkten aus beanspruchen.
Die Action des oxydativen Leberfermentes (oder der Gesammt-
heit der in diesem Sinne wirkenden Leberenzyme) ist nur ein
Beispiel für die Thätigkeit einer sicherlich grossen Reihe ver¬
schiedenartiger, theils in den Gewebssäften, theils in den Zellen
localisirter, vermuthlich durchaus den Fermentcharakter be¬
sitzender activer Principien, deren Wechselspiel die wichtigsten
Functionen des Stoffwechsels beherrscht. Diese Organ- und
Saftfermente führen die aus dem Verdauungstracte aufge¬
nommenen Nahrungsmittel durch Ab- und Wiederaufbau der
Atomcomplexe in den intermediären Stoffwechsel ein, bereiten
aus ihnen die Zellnahrung, führen die Zellstoffwechselproducte
in ausscheidbare Form über etc. Während nun, speciell in
der Verdauungspathologie, der Anwesenheit und Wirksamkeit
der äusseren Verdauungsfermente, als: Pepsin, Lab, Trypsin
u. s. w. in den verschiedenen Krankheitsprocessen emsig nach¬
geforscht und mit Ei folg getrachtet wurde, die Ergebnisse
dieser Forschung in Beziehung zu den vorliegenden Störungen
zu bringen, blieben die das Schicksal der resorbirten Nahrung
leitenden »inneren« Feimente, deren Bedeutung sicherlich nur
unterschätzt werden kann, in der Pathologie zumeist unbe¬
achtet. Vielleicht kann der betreffs des oxydativen Leber¬
fermentes vorgelegte Befund als Hinweis dafür gelten, dass
von einschlägigen klinischen Forschungen Manches zu
erwarten ist. Allerdings lassen sich viele jener analytisch und
synthetisch wirksamen Enzyme vorderhand überhaupt erst nur
annehmen, nicht aber in wirksamer Form aus dem Körper
gewinnen und auf ihre Energie prüfen. Aber auf neu er¬
schlossenen Bahnen in diesem Gebiete wird, wie ich glaube,
die klinische Forschung der experimentell-pathologischen mit
sicherem Gewinne auf dem Fusse folgen.
Die äusseren Verdauungsfermente des Neugeborenen und
jungen Säuglings betreffend hegen aus jüngerer Zeit zumeist An¬
gaben (z. B. von Krüger, Moro) vor, die ihre Wirksamkeit nicht
so geringfügig erscheinen lassen, als man vormals anzuuehmen ge¬
neigt war. Wenn es erlaubt wäre, die an einem Beispiele gewonnene
Erfahrung zu verallgemeinern, so könnte man sagen, dass hin¬
gegen die Thätigkeit gewisser Organfermente bei jungen Säug¬
lingen fast brach zu liegen und sich erst vom zweiten Lebens¬
halbjahre ab mächtig zu entwickeln scheint. Dies wäre nicht
verwunderlich, denn die secretorische Function der Verdauungs¬
drüsen steht der Aussenwelt, deren Ansprüchen sie zu genügen
hat, näher und kann leichter durch accommodative Triebe zur
vollen Leistungsfähigkeit angeregt werden. Die Saft- und
Organfermente scheinen ferner mehr als die Fermente des
Grastrointestinaltractes durch Erkrankungszustände an Actions-
fähigkeit einzubüssen. So wird, namentlich bei kranken
Säuglingen, ein folgenschwerer Zustand von Missverhältniss
der Leistung jener und dieser vorhegen können, der in seinen
verschiedenen Erscheinungsformen vielleicht das Substrat
mancher unerklärten Stoffwechselstörung darstellt.
Um hienach den realen Ausgangspunkt meiner Unter¬
suchungen, die Säureintoxicationsbypothese von Czerny und
Keller, wiederzugewinnen, so glaube ich, gezeigt zu haben,
dass manche der von der Breslauer Schule beigebrachten
Stützen ihrer Anschauung nicht völlig beweiskräftig sind und
dass andererseits gewisse Thatsachen für eine mit dieser Hypo¬
these nicht vereinbare Auffassung sprechen. Die beiden Nach¬
weise, die nach meiner Meinung für eine standkräftige Säure¬
vergiftungshypothese vor Allem gefordert werden müssen,
jener der verminderten Alkalescenz und Kohlensäuerung des
Blutes und jener bestimmter, abnormer Harnsäuren begegnen
beim Säugling grossen Schwierigkeiten, weil hinreichende
Mengen frischen Materiales kaum zu beschallen sind. So wird
die Frage vielleicht noch lange in Schwebe bleiben; wie immer
aber künftige Forschung über das Schicksal der Czerny-
K eile r’schen Hypothese entscheiden mag, so bleibt den Ge¬
nannten das Verdienst, einen weiten Kreis fruchtbarer Ge¬
danken in die augenblicklich nach mancher Richtung stagnirende
Pathologie der kindlichen Magen-Darmerkrankungen neu ein¬
geführt zu haben. Wahre Erkenntniss ist der exacten Natur¬
wissenschaft unmittelbares, der klinischen Forschung aber in
weiter Ferne vorschwebendes Ziel; letzterer dient eine geistvolle
Discussion als Baugerüste, das, auch wenn es später abge¬
brochen werden müsste, doch unentbehrliche Dienste ge¬
leistet hat.
Nr. 36
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
813
Aus der Abtheilung des Herrn Prof. Dr. Frühwald an
der Wiener Allgemeinen Poliklinik.
Honthin, ein Darmadstringens, und seine thera¬
peutische Verwendung in der Kinderheilkunde.
Von Dr. Josef Reichelt.
Hat man bis vor Kurzem dem Zuge folgend, der durch
die ganze Therapie in der Medicin ging, auch bei Behandlung
von Darmkrankheiten den Standpunkt der Antisepsis hervor¬
kehrt, so dürfte es nicht Wunder nehmen, dass man, enttäuscht
durch die allzuhoch gespannten Erwartungen, sich wiederum
der früheren Behandlungsweise der Darmerkrankungen zu¬
wandte, und die Adstringentien zu neuen Ehren kamen.
Suchte die eine Richtung nun ein in möglichst concen-
trirter Form unschädliches Darmantisepticum zu linden, so
holte die andere all die alten pflanzlichen und mineralischen
Adstringentien aufs Neue hervor, prüfte sie durch und strebte
nach deren Verbesserung, nach Beseitigung der im Laufe der
Zeit durch die Erfahrung zu Tage geförderten Mängel und
Nachtheile.
Traten die Einen für Kalomel, Resorcin, Salol, Thymol,
Naphthalin oder Kreosot ein, so schwärmten die Anderen wieder
für Argent, nitr., Plumb, acet., Alaun, Tct. Catechu, Tct. Ra-
tanh., Lign. Camp., Rad. Colombo, Bismuth in seinen Variationen
oder fürs Opium.
Ich will nicht mit der Aufzählung der Vorziigeund Nach¬
theile jedes einzelnen der oberwähnten Präparate ermüden, von
denen Kalomel, Bismuth und Tannin wohl am meisten in An¬
wendung kamen. Allein da keines befriedigte, trat die Forderung
immer mächtiger auf, Mittel zu schaffen, die diesem Mangel
abhelfen sollten.
Zur Zeit des Aufschwunges der Chemie wurden bald
eine Anzahl von Verbindungen des Tannins, dem hervorragend¬
sten Repräsentanten der Gruppe der Adstringentien, geschaffen,
und damit in der Therapie der Darmerkrankungen ein grosser
Schritt vorwärts gemacht.
Man hielt sich dabei folgende Grundsätze vor Augen:
Die Präparate sollen im Mund und Magen möglichst wenig
gelöst und resorbirt werden; die Wirkung im Darm soll nicht
eine rasche, sondern eine womöglich auf den ganzen Darm
sich erstreckende sein und auch den Dickdarm beeinflussen.
Zuerst suchte man diesen Forderungen nachzukommen
durch Darreichen des Mittels in Form von Pillen, die man
mit einer erst im Darm löslichen Hülle von Salol, Keratin und
dergleichen überzog, eine Art der Einverleibung eines Medica-
mentes, die in der Kinderpraxis in den meisten Fällen un¬
möglich erscheint.
Bald darauf kam es zur Einführung des von Professor
II. Meyer in Marburg zuerst dargestellten Tannigens, einer
Diacetylverbindung des Tannins.
Waren die mit diesem Präparate erzielten Erfolge auch
ganz gute, so zeigte sich doch bald, dass es bei längerer An¬
wendung den Appetit verdirbt, da es adstringirend auf die
Schleimhaut des Magens einwirkt, ja bereits im Munde adstrin-
girende Wirkung sich erkennen lässt (Vierordt).
Das von Gottlieb erzeugte, durch Empfehlung
Engel’s, Vierordt’s u. A. in die Therapie eingeführte
Tannalbin, einer Eiweissverbindung des Tannins, hergestellt
durch Erhitzen auf 110 — 120°, hatte diese Mängel nicht oder
nur in bedeutend geringerem Grade und eroberte sich rasch
den ersten Platz, den es bis heute behauptet.
Das Tannocol, eine Verbindung des Tannin mit Gelatine
und das Tannoform = Tannin -|- Formaldehyd, vermochten
das Tannalbin nicht zu verdrängen und kamen namentlich in
der Kinderpraxis wenig zur Anwendung, da die Erfolge nicht
die auf das Mittel gesetzten Hoffnungen erfüllten (Dwo-
r e t z k y).
Das Tannopin, ein durch Einwirkung des Urotropin auf
Tannin erhaltenes Medicament, scheint, wie aus der Arbeit von
Tittel hervorgeht, den Ansprüchen mehr zu genügen, als die
beiden vorgenannten, und insbesondere für die Kinderheilkunde
in Betracht zu kommen. Freilich ist der Preis dermalen noch
ein ziemlich hoher.
Ueber Fortoin, das von 0 verlach empfohlen wurde,
fehlen bisher noch entsprechende Erfahrungen.
Den Vorzug grösserer Billigkeit dem Tannalbin gegen¬
über, sowie andererseits das Vorhandensein der diesem zu¬
kommenden guten Eigenschaften in vermehrtem Grade bei
Fehlen mancher Nachtheile hat ein neues Mittel, dessen Er¬
probung ich während fünf Monaten auf der Abtheilung des
Herrn Prof. Frühwald an der Wiener Allgemeinen Poli¬
klinik vornahm.
Honthin — so lautet der Name des Medicamentes nach
dem Wohnorte des Erfinders Dr. A. Stankay — ist ein
hellbraunes, vollkommen geruch- und geschmackloses, nicht
hygroskopisches Pulver. Seiner chemischen Zusammensetzung
nach ist es ein Tanninpräparat, bei dem das Albumintannat
keratinirt ist. In kaltem und warmem Wasser ist es gänzlich
unlöslich, in Alkohol und alkalischen Lösungen dagegen zum
Theile löslich. Die alkalische Lösung nimmt eine braunrothe
Färbung an.
Die Lösung findet je nach der Concentration rascher
oder langsamer statt und es gelingt nach einiger Zeit, mit
Ferrum sesquichl. die für die Anwesenheit von Tannin charak¬
teristische schwarzblaue Färbung der Honthinlösung zu erzeugen.
Scheidet man das Tannin durch Alkohol aus, so kann man
durch Verdampfen des Alkohols und Auflösen des Rückstandes
im Wasser das Tannin durch seine Eigenschaften, wie Fällung
von Leim und Eiweiss, sowie durch seine adstrinairende
Wirkung nachweisen. In verdünnten Säuren ist Honthin zwar
auch löslich, jedoch in geringerem Grade, als in Alkalien.
Dem Tannalbin gegenüber hat es den Vorzug weitaus
geringerer Löslichkeit im Magen, beziehungsweise in künstlicher
Verdauungsflüssigkeit voraus. Die den Magen ungelöst ver¬
lassende und dadurch im Darm zur Geltune: kommende Mensre
ist, wie mehrfache Versuche1) nachgewiesen haben, beinahe
doppelt so gross, wie die des Tannalbin.
In Procenten ausgedrückt, verhält sich die durch den
Magensaft nicht veränderte Menge des Tannalbin zu der des
Honthin so wie 41'5 : 72' 1.
Sind nun auch die Versuche, die mit künstlicher Ver¬
dauung gemacht werden, nicht vollkommen gleichwerthig mit
den Vorgängen bei der natürlichen Verdauung, so kann man
doch einen Rückschluss ziehen, und dies umsomehr, je con-
stanter einerseits die Resultate und andererseits je ähnlicher
die Vorgänge bei der künstlichen Verdauung den natürlichen
gemacht werden.
Die therapeutische Einwirkung der nun in den Darm
gelangten Menge unveränderten Honthins wird durch die
Eigenschaft des Präparates, in alkalischen Flüssigkeiten löslich
zu sein, ermöglicht. Denn die Secrete der Drüsen der Darm¬
schleimhaut sowie des Pankreas reagiren alkalisch. Ist nun
auch, wie Esche rieh zeigte, die Reaction des Speisebreies
bei Brustkindern im ganzen Verlaufe, bei künstlich Genährten
zum grössten Theile sauer, welche Reaction namentlich durch
die Zersetzungsproducte des Milchzuckers gefördert wird, so
muss man doch zugeben, dass nicht an allen Stellen des Ver-
dauungscanales die saure Reaction allein vorhanden ist. Wird
mehr Secret von den Drüsen der Darmschleimhaut abgesondert,
so wird, und dies in ausgesprochener Weise, an der der
Darmwand zunächst liegenden Zone des Darminhaltes alkalische
Reaction sich zeigen, und so eine langsame, successive Lösung
des Arzneimittels ermöglichen. Noch mehr aber wird die Ein¬
wirkung eines in alkalischen Flüssigkeiten löslichen Präparates
statthaben können, wenn, wie dies bei Darmerkrankungen so
häufig vorkommt, durch die Reizung der Darmschleimhaut
eine vermehrte Secretion und Schleimabsonderung erfolgt.
Dass die Wirkung des HoDthins eine intensivere als
bei anderen Präparaten sein kann, sowie durch eine längere
Strecke des Darmes, eventuell bis zum Dickdarm, anhalten
kann, erklärt sich aus der relativ grösseren Menge, die als
') Dr. Stankay, Honthin, ein neues Darmadstringens. Phanna-
ceutische Post. 1899 Nr. 46 — 47.
814
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 3fi
wirksam den Magen verlässt, und aus der langsamen Löslich¬
keit des Medicamentes.
Hontliin wird selbst von so empfindlichen Patienten, wie
es an Dyspepsie erkrankte Säuglinge sind, gut vertragen. Im
Verlauf meiner Beobachtungen, die, wie erwähnt, durch fünf
Monate währten und, Dank dem mir von der Firma G. Hell
& Co. in Troppau reichlich zur Verfügung gestellten Materiale,
sich auf 800 — 900 Einzeldosen erstrecken, konnte ich niemals
irgend welche Beschwerden, wie Erbrechen, Aufstossen, Uebel-
keiten, Brennen und Drücken im Magen, oder andere sub¬
jective Beschwerden, welche direct oder indirect durch die Ein¬
verleibung des Medicamentes hervorgerufen sein könnten, con-
statiren.
Da das Pulver auch geschmacklos ist und keinerlei
sonstige Einwirkung auf die Schleimhaut des Mundes ausgeübt
wird, kann man es ohne jegliches Corrigens oder Hülle selbst
wenigen Wochen alten Säuglingen pur oder in Mixtur geben,
ohne dass es zurückgewiesen w'ird.
Wie man sich die Wirkung des Ilonthins als Adstringens
vorzustellen hat, glaubt Kölbl2) dahin beantworten zu
können, dass das Tannin, das durch oberwähnten Process frei
wird, mit dem Eiweiss der mucinhaltigen Flüssigkeit sich auf
chemischem Wege verbindet, und einen häutchenartigen,
festen, wasserunlöslichen Niederschlag bildet, welcher die ent¬
zündete und in ihren Epithelien gelockerte Schleimhaut vor
äusseren Reizen und vor dem Eindringen der im Darminhalt
vorkommenden Bacterien und schädlichen Stoffe schützt. Auch
die fast blossliegenden sensiblen Nervenendigungen sollen
geschützt, der Schmerz gelindert und dadurch Beruhigung
herbeigeführt werden. Verengerung der Gefässe, Verringerung
der Secretion bedingen dann das Aufhören der Durchfälle.
Wenn, wie bereits früher behauptet und in neuerer Zeit
von Vierordt, Esch er ich, Cantani und Anderen als
möglich hingestellt wurde, dem Tannin eine directe Wirkung
auf die Darmbacterien und ihre Toxine zukommt, kann das
Honthin diese Eigenschaft gleichfalls für sich in Anspruch
nehmen, dass auch diese Wirkung eine möglichst lange Zeit
andauernde, auf den ganzen Verdauungstract sich erstre¬
ckende ist.
Das Honthin wurde von mir in beiläufig 76 Fällen an¬
gewendet. Zu Beginn der Erprobung gab ich ziemlich kleine
Dosen, Ol bei Säuglingen, 03 bei älteren Kindern. Es liess
sich bei dieser Gabe ein unzweifelhafter Einfluss auf den
Krankheitsprocess feststellen, allein die Erfolge waren doch
nicht so ganz befriedigende. Nachdem ich jedoch noch keinerlei
üble Nebenwirkung, hervorgerufen durch das Mittel, bemerken
konnte, gab ich alsbald grössere Dosen und konnte nunmehr
mit den Erfolgen zufrieden sein. Es erschien dann auch später
die Arbeit Dr. Kölbl’s, welche meinem Vorgehen entsprechend
lautete. Meine Einzeldosis betrug nunmehr 025 (/ vier- bis
fünfmal täglich bei wenige Wochen alten Säuglingen steigend
auf 0'5<7 und darüber bei älteren Kindern.
Ein Umstand freilich beeinflusste auch späte) hin meine
Ergebnisse, nämlich der, dass mit Ausnahme zweier privater
Fälle und eines Kindes, das in Spitalspflege sich befand, ich
durchaus ambulante Patienten zu verzeichnen hatte. Und wie
genau bei diesen oft die einfachsten diätetischen und hygieni¬
schen Vorschriften befolgt werden, weiss Jeder. Konnte ich es
doch erfahren, dass eine Mutter ihrem neunmonatlichen, an
Dyspepsie erkrankten Kinde frische Kirschen gab, weil »das
Kind sie haben wollte«!
In die angeführte Zahl der Patienten, denen ich Honthin
verordnete, theilen sich acute Enterokatarrhe, aus einfachen
Dyspepsien hervorgegangen (20), 15 acute Enterokatarrhe
bei älteren Kindern, 8 Fälle von ausgesprochener Ent. follic.
und membranacea, chronische Katarrhe (8), Katarrhe, vor¬
wiegend den Dickdarm betreffend (4), Diarrhöen wie sie im
Vei laufe von Tubeieulose vorzukommen pflegen (6), sowie
solche bei Rachitikern (10), seien sie durch den Process als
solchen oder durch Einverleibung eines Medicamentes, wie
F. Kölbl, Untersuchungen über (len tlierap« iitisehen We»lh des
nemn Uarmadstringens »Honthin«. Wiener klinische Rundschau 1900
Nr. 25. ’
01. jecoris und Andere bedingt. Daran schliessen sich drei
Fälle von Wurstvergiftung und zwei von leichten, durch zu
grosse Gaben von Somatose hervorgerufene Enteritiden. Fälle
von typhösen Katarrhen konnte ich, da ja diese Erkrankung
der häuslichen, beziehungsweise Spitalsbehandlung angehören
in meine Untersuchung nicht einbeziehen. Das Alter meiner
Patienten schwankte zwischen wenigen Wochen und 15 Jahren,
doch überwog die Zahl der Säuglinge und Kinder unter zwei
Jalnen.
Ohne w'eiter auf die zahl) eichen Krankengeschichten ein¬
zugehen, die ja im Allgemeinen ziemlich gleich lauten, kann
ich berichten, dass in den leichteren Fällen von Dyspepsien
und acuten Enterokatarrhen bereits am nächsten, eventuell
am dritten Tage Heilung oder doch merkliche Besserung ein¬
getreten war. Die wässerige Beschaffenheit der Stühle machte
einer festeren Consistenz Platz, die Zahl der Entleerungen
sank auf das normale Mass herab, die Koliken Hessen nach
und damit trat wieder Beruhigung der Kinder ein. Erbrechen
des Medicamentes trat niemals auf, es wäre denn hervor¬
gerufen durch Hustenreiz bei Pertussis oder heftiger Bron¬
chitis, wo man ja die Ursache nicht in dem Medicamente zu
suchen hat.
Gleich günstig waren auch die Resultate bei chronischem
Katarrh; bei einer Anzahl dieser Patienten waren bereits ver¬
schiedene Medicamente, wde Tct. ratanh., Bismuth, subn., selbst
Tannalbin versucht wrorden. Wenn auch da Heilung nicht
nach so kurzer Zeit eintrat, so konnte man doch Besserung
schon am zweiten und dritten Tage bemerken und zumeist
trat im Verlaufe einer Woche Heilung ein. Die zahlreichen
Entleerungen wrurden weniger häufig, die Beimengung von
Blut und Schleim geringer und schwand allmälig, Form und
Consistenz der Stühle schliesslich normal. An diesen Fällen
liess ich — wie auch bei Katarrhen Tuberculöser — durch
einige Zeit noch Honthin nach erfolgter Genesung nehmen,
um, entsprechend dem Vorgehen von Künkler, Drews,
Vierordt und Tittel, ein etwaiges Wiederaufleben des
Processes nach Tlmnlichkeit zu verhindern.
Dass in zwei Fällen von tuberculöser Diarrhöe die
Wirkung nur von kurzer Dauer war und mit dem Fort¬
schreiten der Grundkrankheit von Neuem sich diarrhoische
Entleerungen einstellten, ist wrohl in der Schwere des Krank¬
heitsfalles begründet.
Gut waren auch die Erfolge die von mir bei rachitischen
Kindern erzielt wurden, so dass ich bei diesen 01. jec. nicht
auszusetzen brauchte oder eventuell verordnen konnte.
In drei Fällen (eine Familie) von acuter Enteritis,
hervorgerufen durch den Genuss verdorbener Würste, gab ich
zuerst Kalomel und schloss daran die Verordnung von
Honthin mit gutem Endergebnisse.
Auch bei Dickdarmkatarrhen konnte man mit der
Wirkung des Mittels zufrieden sein, umsomehr als eine Bei¬
hilfe durch Unterstützung der Medication mittelst Irrigationen
nicht stattfand und auf die Erkrankung nur durch Honthin
ein gewirkt wurde.
Ob die Erfolge auch bei Cholera infantum gleich gut zu
nennen sind, vermag ich nicht zu entscheiden, da ich keinen
ausgesprochenen Fall dieser Art hatte. Kölbl berichtet über
gute Ergebnisse bei zwei Kindern.
Die durch zu reichlichen Genuss von Somatose hervor¬
gerufenen katarrhalischen Erscheinungen gingen gleichfalls
binnen Kurzem unter Darreichen von Honthin und Aussetzen
der Somatose zurück.
Negativ war das Ergebniss bei zw'ei Kindern, die mit
Plasmon ernährt wurden, sowie in einem Falle von schwerer
Tuberculose, der binnen Kurzem letal endigte.
Ueber die Art der Einverleibung ist nicht viel zu sagen.
Ich gab das Honthin in Pulverfonn oder Mixtur; ich liess das
Pulver auf die Zunge bringen und mit irgend einer Flüssig¬
keit hinabschwemmen ; auch gab ich es bei Säuglingen und
kleineren Kindern mit Milch oder Reisschleim, jedoch nie mit
der Saugflasche, sondern mit dem Löffel, da sonst zu viel von
dem Medicament an den Wänden und im Schlauche hängen
bleibt.
Nr. 36
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
815
Meine Erfahrungen in Kürze zusammenfassend kann ich
erklären, dass wir in dem Honthin ein rasch wirkendes, ver¬
lässliches und unschädliches Darmadstringens besitzen, bei
dein selbst bei längerem Gebrauche und bei grösseren Dosen
keinerlei schädliche oderunangenehme Nebenwirkungen auftreten
Da es vollkommen geruch- und geschmacklos ist, erscheint es
gerade für die Kinderheilkunde werthvoll. Die Dosirung sei nicht
zu gering; man kann 025 — 03 bei Säuglingen von wenig
Wochen, älteren Kindern 0 3—05 und darüber vier bis fünf¬
mal täglich geben; auch kann es wegen seiner Ungefährlich¬
keit als Schachtelpulver verschrieben und messerspitzweise ge¬
nommen werden. Es empfiehlt sich, das Medicament bei
schweren Erkrankungsprocessen nach bereits erfolgter Genesung
in verminderter Dosis von den Patienten gebrauchen zu
lassen.
Zum Schlüsse sei es mir gestattet an dieser Stelle
meinem verehrten Chef, Herrn Prof. Dr. Früh w aid, für die
freundliche Ueberlassung des Materiales, sowie die Unter¬
stützung bei dieser Arbeit meinen besten Dank auszudrücken.
REFERATE.
I. Physikalische Chemie in der Medicin.
Von Dr. Hans Koeppo, Privatdocent in Giessen.
17ü Seiten.
Wien 1 900, Alfred Holder.
II. Die Anschauungen über den Mechanismus der speci
fischen Ernährung.
Das Problem der Wahlanziehun g.
Von Docent Dr. Max Neuburger.
Leipzig und Wien 190 Franz Deutick e.
I. ln diesem Werke liegt der ferste Versuch vor, in einer
grösseren Monographie einen elementaren Abriss der physikalischen
Chemie zu geben und im Anschlüsse daran ihre Verwendung in
der Medicin zu erläutern. Diese Erläuterung geschieht jedoch nicht
an dem ganzen, in einem geradezu unheimlichen Wachsthume be¬
griffenen Materiale, sondern ausschliesslich an der Hand der von
Koeppe bearbeiteten Abschnitte des Gebietes. Die Untersuchungen
Koeppe's, die zumeist in physiologischen Journalen erschienen
sind, wurden den Lesern dieser Zeitschrift in Sammel- und Einzel¬
referaten zum Theilo schon vorgeführt. Sie umfassen osmotische
Versuche über die Beziehungen der Blutkörperchen und des Plasmas,
Studien über die Frauen- und Kuhmilch, die Magensaftsecretion,
die Bedeutung des Wassers und der Salze für den Organismus
und über die Zusammensetzung und Wirkungsweise der Mineral¬
wässer.
Die einfache Methodik und der Reichlhum der von Koeppe
gefundenen interessanten Thatsachen sind gewiss geeignet, die
Leser des Büchleins zur Mitarbeit auf dem Gebiete einzuladen, in
welchem ein beigegebenes Literatur verzeichniss den willkommenen
Wegweiser bildet.
Die Einführung in die physikalische Chemie, mit der das
Buch beginnt, enthält die wesentlichsten theoretischen Ausführungen
in anschaulicher und gemeinverständlicher Kürze.
Mögen auch manche allgemeine Bemerkungen, die Koeppe
einzelnen Gapiteln voranschickt oder sonst in die Darstellung ein¬
streut, sich nur einer gothcilten Zustimmung erfreuen, die Vorzüge
des Buches, die verdienstliche wissenschaftliche Agitation, für ein
neues Arbeitsfeld werden dem Verfasser den Dank eines grossen
Kreises von Lesern sichern.
*
II. Es ist eine besondere Art medicinischer Geschichtsforschung,
welcher wir in dem jüngsten Werke unseres Historikers N e u-
burger begegnen, von Grund auf abweichend von der herge¬
brachten und allgemein geübten, die sich theils in der Schilderung
des Lebenslaufes und Wirkens hervorragender Persönlichkeiten,
theils in der synchronistischen Darstellung des Werdeganges unserer
Wissenschaft Genüge thut, und etwa als »anekdotische« oder
»episodistische« der »erkenntnisskri tischen« unseres Autors gegen-
übergcstellt werden könnte.
Denn nicht die Geschichte einer Person oder eines Zeit¬
abschnittes, sondern die Entwicklung eines bestimmten Pr ob le nies
wird uns vorgeführt aus ihren ältesten und allgemeinsten Anfängen
durch alle Wandlungen, deren jede einen, wenn auch oft geringen
Fortschritt birgt, bis zu dem gegenwärtigen Stande der Frage. In
ähnlicher Weise hatte Neuburger in seinem ersten grossen
Werke ') die Entwicklungsgeschichte einer wissenschaftlichen Me¬
thode mit grossem Erfolge behandelt.
An einer Grundfrage der Physiologie — - der specifischen
Selection der Nahrung heim Aufbau und der Erhaltung der leben¬
digen Substanz — führt der Verfasser seine Aufgabe durch. Die
Veränderung der Fragestellung seif den kühnen Versuchen der
grossen antiken Denker, deren »Einbildungskraft noch wenig durch
das Bleigewicht positiver Erfahrungen im Fluge gehemmt wurde«,
bis zu der dürren, von Form und Dialektik erstickten Epoche der
Scholastiker wird uns in meisterhafter Darstellung vorgeführt. Im
XVII. und XVIII. Jahrhundert treten mit dem Aufblühen der physi¬
kalischen Forschung immer mehr physikalische Analogien und Er¬
klärungen der electiven Organernährung auf den Plan, bis die
dogmatische Meehanistik zur kräftigen Reaction durch die vital isti-
sehe Biologie führt. Mit der Schilderung der Anschauungen in
CD <ZJ <D
unserem Jahrhundert, die schliesslich zur Entdeckung von Be¬
ziehungen und vielfacher Uebereinstimmung zwischen physikalischer
und physiologischer Selection, aber auch der Unterschiede beider
geleitet hat, schliesst der Verfasser seine Schrift.
Wie sich in der Auffassung der engeren Frage, die das eigent¬
liche Thema bildet, in scharfem, wenn auch verkleinertem Bilde
der gewaltige Streit der Weltanschauungen spiegelt, wie die zur
Erklärung herangezogenen Analogien historisch und psychologisch
zu begreifen sind, wie jeder Umschwung der Meinungen sich schon
im Keime weit früher vorgebildet zeigt, dies alles setzt Neu¬
burger anschaulich auseinander, indem er den oft vielfach ver¬
hüllten Kern der einzelnen Ansichten blosslegt und zum Vergleiche
darbietet. Eine blendende Darstellungsweise, wie sie nur selten in
unserem Fache zu finden ist, die Klarheit und Einfachheit der
begrifflichen Formulirung- lässt uns beinahe die grosse intellectuelle
Schwierigkeit vergessen, welche eine solche Behandlung des Stoffes,
darbietet.
Dass aber der Weg, den Neuburger betreten hat, ein
lehrreicher und fruchtbringender ist, wird Niemand bezweifeln, da
auch die Reifung eines Problemes im einzelnen Forscher denselben
Gesetzen unterliegt, wie diejenige im Laufe der Jahrhunderte. In
der That hat diese Einsicht die Geschichte anderer Wissensgebiete,
so der Mathematik und vor Allem der Physik, in die Bahn der
erkenntnisskritischen Forschung gelenkt. Der mächtige, moderne
phänomenologische Zug in der Physik ist als unmittelbare Wirkung
solcher historisch-kritischer Untersuchungen zu betrachten. Ver¬
bal tnissmässig spät tritt nun ein analoges Streben in der medicini-
schen Geschichtsforschung zu Tage, wenn man von geringen An¬
sätzen absehen will, die sich in der Literatur vorfinden. (Man vgl.
Wh e well, Geschichte der inductiven Wissenschaften, übersetzt
von J. J. v. Littrow, Stuttgart 1841, Bd. Ill, pag. 433.)
Diese Verspätung scheint nicht zum geringsten Theilo in der
Natur der biologischen Wissenschaften begründet zu sein, welche
dem Historiker nur selten eine abgeschlossene Frage zur Behand¬
lung bieten können, so dass er des sicheren Führers bei seiner
kritischen Untersuchung entrathen muss und zum Vergleiche nur
ein fortgeschrittenes Stadium, kaum aber eine definitive Lösung
eines Problemes vorfmdet. Anders der Physiker, dem etwa zur
kritischen Darstellung des Trägheitsgesetzes, des Temperaturbegriffes
ii. s. f. eine völlig ausgebaute Lohre bereit steht.
Betrachtungen dieser Art lassen uns das Verdienst dos Ver¬
fassers als Pionuier einer fruchtbaren Forschungsrichtung gebührend
würdigen und zugleich erkennen, welchen Gewinn unsere Wissen¬
schaft von derselben noch zu gewärtigen hat. Pauli.
Lungentuberculosa und Hailstättenbehandlung.
Eine medicinisch-sociale Studie.
Von Dr. B. v. Fetzer.
Stuttgart 1900, F e r d. E n k e.
Den Zweck dieser Brochure führt der Verfasser in den Schluss¬
zeilen seines Büchleins an, indem er sagt: »Leicht ist es, Hoffnungen
') Die histori«che Entwicklung der experimentellen Gehirn- und
Rückenmarksphysiologie vor F 1 o u r e n s. 1897, F. Enke.
816
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 86
zu erwecken und Wohllhaten zu gewähren, aber schwer wird es
sein, Enttäuschte zu befriedigen und Zugesagles zurückzuziehen«,
mit einem Worte, man möge nicht zu viel Hoffnungen auf die
Heilstättenbehandlung setzen. Um dies auch zu begründen, bringt
der Verfasser in den ersten Capiteln eine übersichtliche Darstellung
des heutigen Standes der Tuberculosen frage in nuce, indem er
die wichtigsten Fragen, besser gesagt Thesen, erörtert. Er spricht
über die Tuberculose als Volksseuche, bringt statistische Daten, wie
sie von einzelnen Autoren, z. B. Ewald, Engel mann, zu-
sammengestellt wurden. Ferner beleuchtet er die schädlichen Folgen
der Tuberculose als typische Volkskrankheit auf den Volkswohl¬
stand und auf die Volksgesundheit. Er bekennt sich als Anhänger
der Dispositionslehre, gibt auch die congenitale Uebertragung der
Tuborkelbacillen zu, legt aber das Hauptgewicht auf die erbliche
Uebertragung der Disposition selbst.
Was die Heilbarkeit der Tuberculose anlangt, stellt er sich
auf den Standpunkt der diesbezüglichen jetzt gütigen Ansicht der
meisten Autoren, ln den Schlussseiten der Brochure spricht Ver¬
fasser über die sociale Bedeutung der Heilstätten und die Prophy¬
laxe der Tuberculose und gelangt zu dem Resultate, dass die Heil¬
stätten, auch wenn sie ihre grösste Verbreitung gefunden haben
werden, zur Verminderung der Infectionsgefahr der Tuberculose im
grossen Ganzen nichts beitragen werden, dass ein besonderer
nationalökonomischer Gewinn von den Heilstätten über¬
haupt nicht zu erwarten sein werde. Trotz alledem hält er den
Bau von Volksheilstätten nicht für nutzlos und betont es besonders,
»dass er in ihnen eine nicht zu unterschätzende Beihilfe bei der
Pflege und Behandlung der Tuberculose und der Tuberculosegefähr-
deten erkenne, und deshalb lebhaft wünsche, dass die Schaffung
vieler Heilstätten möglich werden möchte«. Er anerkennt also den
therapeutischen, h u m an c n Werth der Heilstätten voll¬
kommen und spricht sich nur gegen übertriebene Hoffnungen in
n a t i o n a 1 ö k o n o m i s c h e m Sinne aus.
Dr. Pollak (Alland).
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
309. Im Allgemeinen ärztlichen Verein zu Köln demonstrirte
Dr. Engelhardt einen Fall von p r i m ä r c m Lebe r-
carcinom bei einem 14jährigen Mädchen. Das Krank¬
heitsbild wurde von ausserordentlich heftigen Schmerzen in der
Magengegend beherrscht; nie hatten Fieber und Ikterus bestanden.
Bei der Obduction fand man den linken Lappen der Leber, die
3800 (J wog, sowie dessen Nachbarschaft in einen derben Tumor
verwandelt. Nirgends eine Geschwulst, welche sich als die primäre
hätte erkennen lassen, dagegen Metastasen im kleinen Becken, auf
Pleura und Herzbeutel. — (Münchener medicinische Wochen¬
schrift. 1900, Nr. 18.)
*
310. (Aus der Klinik von Prof. Schul tze in Bonn.) Fehl¬
diagnose eines A o r t e n a n e u r y s m a in Folge 1) u r c h-
1 e u c h t u n g m i t R ö ntgen-Sl r able n. Von Dr. K i r c h-
gaesser. Die klinische Diagnose hatte auf eine wahrscheinlich
durch Carcinom bedingte Oesophagusstenose gelautet; die Durch¬
leuchtung ergab einen läustgrossen, nach allen Seiten hin deutlich
pulsirenden Tumor im Mediastinum. Von einer entsprechenden
Pulsation war klinisch jedoch nichts wahrzunehmen. Bei der Section
fand sich eine ausgedehnte, durch ein Carcinom an der Cardia
bedingte Verwachsung zwischen Speiseröhre und Aorta; erstere war
im Bereiche der Verwachsung stark ausgedehnt. Der am Röntgen-
Schirm sichtbare Schalten war durch die mit Flüssigkeit gefüllte
Speiseröhre und die Pulsation durch deren Verwachsung mit der
Aorta hervorgerufen worden. Die Patientin hatte sich nur ein
einziges Mal durchleuchten lassen. — (Münchner medicinische
Wochenschrift. 1900, Nr. 19.)
*
311. lieber die Wirkung der Digitaliskörper
a uf das i s o 1 i r t e S ii u g e l h i e r h e r z. Von Dr. B r a u n und
Dr. Mager (Wien). In der Aorta des entbluteten Thieres —
Kaninchen und Katzen — wurde eine Canule eingebunden,
das Herz dann aus dem Thorax herauspräparirt, der rechte Vorhof
eröffnet und in den Durchblutungsapparat gebracht, in welchem
die verschiedenen Präparate auf das Herz einwirken konnten. Die
Untersuchungen ergaben unter Anderem folgende Stadien der
Digitalisvergiftung: 1. das der vermehrten llerzaction; 2. jenes der
primären Verlangsamung; 3. das der Irregularitäten mit der secundären
Verlangsamung. Die primäre Verlangsamung entsteht durch Ver¬
längerung der Pausen und Diastolen, die seeundäre durch jene der
Pausen und Systolen. Die erstere ist eine Hemmungswirkung, die
letztere Muskelwirkung. Die Digitaliswirkung ist in einigen ihrer
Componentcn der Vagusreizung analog. Die Tonusschwankungen
sind, wie die übrigen Irregularitäten, als Erschöpfungsphänomene
zu deuten. Die Leistungsfähigkeit des Herzens wird durch mässige
Digitalisgaben zunächst erhöht, sodann herabgesetzt. Dem Herztode
gebt am isolirten Herzen niemals unmittelbar eine Frequenzerhöhung
voraus. Die Digitaliskörper wirken immer herabsetzend auf die
Coronarcirculation ein. — (Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie
der Wissenschaften. 1899.)
*
312. U e b e r die Wirkung der Galle und gallen¬
sauren Salze auf das i s o 1 i r t e Säugethier herz. Von
Dr. Braun und Dr. Mager (Wien). Das Ergebniss der Unter¬
suchungen war, dass durch grosse Dosen von Fel lauri, Natr.
glycocholicum und Natr. taurocholicum unter bedeutender Abnahme
der Coronargefässcirculalion und Verkürzung des Herzens in kurzer
Zeit systolischer Stillstand und Tod des Herzens, bei kleineren
Gaben ein Scltenenverden der Herzschläge auftrat. Da die Ver¬
langsamung des Herzschlages durch Atropin nicht aufgehoben wird,
kann dieselbe nicht nervöser Natur (Erregung intracardialer Vagus¬
fasern) sein, sondern muss als ein Effect der Muskelwirkung der
Präparate angesehen werden, die wahrscheinlich in einer Herab¬
setzung der Muskelerregbarkeit und einer Veränderung des Con¬
tradionszustandes zu suchen ist. — (Sitzungsberichte der kaiser¬
lichen Akademie der Wissenschaften. 1899.)
*
313. Im Vereine für innere Mcdicin in Berlin hatte
v. L e y d e n Gelegenheit, einen Patienten mit hochgradiger
Aphasie, aber erhalte n e m musikalischem G e d ä c h l-
niss vorzustellen. Der Fall ist besonders dadurch von Inter¬
esse, dass der Patient, dessen Wortschatz in Folge einer Apoplexie
sich auf einige Worte blos beläuft, sein musikalisches Gedächtniss
nicht verloren hat, Melodien vollkommen correct singt und dabei
sogar sämmlliche Worte des Liederlextes aussprechen kann, was
ihm, ohne gleichzeitig dabei zu singen, sonst nicht möglich ist. —
*
314. (Aus dem hygienischen Institute zu Giessen.) Ein Bei¬
trag zu r F rage de r W achsthumsgeschwindigkeit
des Tuberkelbacillus. Von Dr. Römer. Die Langsamkeit
des Wachsthums des Tuberkel bacillus auf den gewöhnlichen Nähr¬
böden bildet immer ein Hemmniss bei diagnostischen und bacterio-
logischen Untersuchungen. Hesse hat nun gefunden, dass der
Tuberkelbacillus auf Agar, dem Nährstoff Heyden zugesetzt worden
ist, schon in ein bis drei Tagen sein charakteristisches Wachsthum
zeige. Römer konnte diese Thatsache bestätigen und weiter hinzu¬
fügen, dass die mit den Tuberkelbacillen aufgeslrichenen Schleim¬
massen auf den gebräuchlichen Nährböden ein wachsthumförderndes
Moment abgeben. — (Centralblatt für Bacteriologie. Bd. XVII,
Nr. 20 und 21.)
*
315. lieber eine Relation zwischen Sternum
und Conjugate. Von Dr. Kurz (Wien). Unter 150 unter¬
suchten Fällen wurde gefunden, dass die Länge des Sternums mit
der Conjugate vera last iibereinstimmme; in nur 7°/0 betrug die
Differenz etwa 1 cm. — (Cenlralblatt für Gynäkologie. 1900, Nr. 15.)
*
316. lieber die Castration bei P r o s t a t a h y p e r-
trophie. Von Dr. Lanz (Bern). Socin hat die Resultate der
indireclen Operationen bei Prostatahypertrophie als trostlose be¬
zeichnet; ähnlich haben auch andere Chirurgen geurt heilt. Lanz
ist gegentheiliger Ansicht; er hat in vier Fällen die Castration aus¬
geführt und dadurch drei vollständige symptomatische Heilungen
Nr. 36
817
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
erzielt, jedoch auch einen Todesfall zu beklagen gehabt. Lanz
glaubt, dass zu diesem günstigen Resultate auch der Umstand mit
beigetragen haben könnte, dass er mit der Castration immer auch
eine weitgehende Resection des Samenstranges — bis 18 cm
Länge — verbunden habe. Ra die Hoden auch im Aller nicht nur
einen decorativen, sondern auch einen psychischen Werth besitzen,
so könnte in geeigneten Fällen der Versuch gerechtfertigt sein,
sich mit der Resection des Vas deferens zu begnügen, oder wenn
schon die Testikel verloren gehen, an ihrer Stelle künstliche ein¬
zuheilen. — (Correspondenzblatt für Schweizer Aerzte. 1900, Nr. 11.)
*
317. Ueber die Behandlung inficirter Wunden
mit Wasserstoffsuperoxyd. Von Prof. Bruns (Tübingen).
Merk in Darmsladt ist es gelungen, ein absolut reines, säure¬
freies, hochconcentrirtes (30%), monatelang haltbares Wasser¬
stoffsuperoxyd herzusLellen, welches im Preise ungefähr dem der
essigsauren Thonerde gleichkommt. Die Haupteigenschaft des Präpa¬
rates liegt in seiner leichten Zersetzung in Sauerstoff und Wasser,
die augenblicklich durch zellreiche Flüssigkeiten (Eiter, Blut), lang¬
sam durch Körpergewebe, gar nicht durch Berührung der äusseren
Haut eingeleitet wird. Die Zersetzung gibt sich durch massenhafte
Schaumentwicklung zu erkennen, ln bactericider Hinsicht erwies
sich das 3%ige Wasserstoffsuperoxyd in wässerigen Medien dem
Sublimat 1%0 vollkommen gleich, in eiweisshaltigen überlegen; in
zellreichen eiweisshaltigen Flüssigkeiten sind beide gleich unwirk¬
sam. Das Wasserstoffsuperoxyd erwies sich bei inficirten Wunden
in Form der Irrigation oder feuchten Tamponade in l%iger —
sehr selten in 3%iger — Lösung sehr geeignet, indem sie sich
rasch reinigten und der üble Geruch schnell verschwand. B r u n s
glaubt, dass vornehmlich der sich entwickelnde Sauerstoff auf die
anaeroben Fäulnissbacterien einwirke und dass der sich entwickelnde
Schaum das keimbeladene Secret mechanisch von der unebenen
Wundfläche wegreisse und so dieselbe reinige. — (Berliner klinische
Wochenschrift. 1900, Nr. 19.)
*
318. (Aus der chirurgischen Klinik des Prof. Küster zu
Marburg.) Experimentelle Harnblasenplastik. Von
Prof. Enderlen. Bei Hunden wurde ein künstlicher Blasendefect
in der Weise gedeckt, dass ein ausgeschaltetes Stück lleum gegen¬
über dem Mesenterial ansatze aufgeschnitten und der so entstandene
viereckige, am Mesenterium gestielte Lappen in den Defect einge-
näht wurde; oder indem eine Anastomose mit dem ausgeschalteten
Darmstücke hergestellt wurde. Die später angestellten Untersuchungen j
ergeben, dass beide Epithelarten erhalten bleiben, dass jenes des
Darmes auch seine Function beibehält. Die Darmlappenplastik hat
ebenso wie die Anaslomosenbildung nur ein beschränktes Anwen¬
dungsgebiet, auch ist die Möglichkeit einer Niereninfection nicht
ausgeschlossen. — (Sonderabdruck aus der Deutschen Zeitschrift
für Chirurgie. Bd. LV.)
*
319. Ueber Esel milch als Säuglingsernährung s-
mittel. Von H. v. Ranke, v. Ranke zieht aus seinen Er¬
fahrungen den Schluss, dass die Eselmilch, deren allgemeineren
Verwendung freilich der hohe Preis, die schwierige Beschaffung ent¬
gegenstehen, für die ersten Lebensmonate der Säuglinge zweifellos
eine passende, zuträgliche und leicht verdauliche Nahrung darstelle,
was offenbar darin begründet sei, dass bei dieser Milch das Ver-
hällniss zwischen den einzelnen Nährbestandtheilen am meisten
jenen der Frauenmilch gleichkomme. — (Münchener medicinische
Wochenschrift. 1900, Nr. 18.)
*
320. Mediastinaltumor mit Metastase in die
Haut des Nasenrückens. Lewandowsky stellte in der
Gesellschaft der Charite- Aerzte zu Berlin einen Patienten mit einem
Mediastinaltumor vor, der allem Anscheine nach seinen Sitz am
linken Bronchus gegen den Oesophagus zugewendet, hatte. Trotz¬
dem die objectiven Symptome immer schwerer wurden, besserte
sich das Befinden des Patienten unter symptomatischer Behandlung
so weit, dass er entlassen werden konnte. Nach ungefähr sechs
Wochen kehrte derselbe jedoch in einem vollkommen kachektischen
Zustande wieder zurück. Das Eigenthümliche an dem Falle liegt
nun darin, dass sich in der Zwischenzeit am Nasenrücken ein
markstückgrosser, die Haut nur wenig überragender, mit der Unter¬
lage verwachsener Tumor gebildet hatte, der als eine Krebsneu¬
bildung erklärt und als Metastase des Mediastinaltumors aufgefasst
wurde, welcher dann ein Carcinom des Bronchus, Oesophagus oder
der Pleura mediastinalis darstellen würde.
*
321. Ueber die Behandlung der Bleichsucht.
Von E. Grawitz (Charlottenburg). Grawitz betrachtet die
Chlorose nicht als eine Erkrankung des Blutes, sondern als Theil-
erscheinung einer allgemeinen Neurose, die besonders die Blut¬
gefässe betrifft und sich in einer Störung des normalen Flüssigkeits¬
austausches zwischen Blut und Geweben äussert. Dadurch kommt
es zu einer Flüssigkeitsanhäufung in den Geweben, zu einer
Quellung der Knochenmarkszellen, wodurch dieselben unvollkommen
hämoglobinhaltig werden. Dementsprechend ist häufig eine psychi¬
sche Therapie, Entfernung der Kranken aus der gewohnten Um¬
gebung von besonderem Nutzen. Sonst verordnet Grawitz Bett¬
ruhe, bei Chlorotischen mit gedunsenem Ansehen heisse Bäder mit
nachfolgender Schwitzprocedur, medicamentös Eisen als Unter¬
stützungsmittel, Eisenbäder, Chinin etc. In Bezug auf die Prognose
muss man sich erinnern, dass es eine Anzahl Bleichsüchtiger gibt,
bei welchen jede Therapie machtlos ist. Es sind dies die fettarmen
Individuen mit sehr zarter, blasser Haut, bei denen oft schon die
oberflächlichen Gefässe auffällig schwach entwickelt erscheinen. Bei
diesen findet sich öfter eine Hypoplasie des Herzens und der
grossen Gefässe. Um die Widerstandsfähigkeit dieser »habituellen
oder persistirenden Chlorotischen« zu erhöhen, ist es geboten,
schon frühzeitig durch gewisse Massnahmen — viel körperliche
Bewegung im Freien etc. - das ganze Gefässsystem zu kräftigen.
— (Therapie der Gegenwart. 1900, Nr. G.)
*
322. Die Behandlung des Gelenksrheumatismus
namentlich mit Rücksicht auf die Complicationen
von Seite des Herzens. Von Dr. R. Powell. Jeder Fal I
von Gelenksrheumatismus, auch die leichtesten Fälle, gehören für
längere Zeit ins Bett, auch wenn die Schmerzen schon geschwunden
sind. Ist der Herzklappenapparat in Mitleidenschaft gezogen, so kann
er sich in der Ruhe am leichtesten erholen. Das sonst vorzüglich
wirkende Salicyl ist in einer Beziehung nicht ohne Gefahr; es be¬
seitigt die Schmerzen und der Patient glaubt sich genesen, während
die Krankheit doch nur latent geworden ist; er verlässt das Bett
und dann treten erst nicht so selten die Herzgeräusche auf, von
denen man während der offen vorliegenden Krankheit und während
Bettruhe eingehalten worden ist, nichts gemerkt hat. Ausser dem
Salicyl kommt beim Auftreten schwerer Herzcomplicationen Opium
in Betracht, welches den Puls herabsetzt, den Kranken beruhigt
und das Herz auf diese Weise entlastet. Digitalis ist meist ohne
Einfluss. — (Lancet. 31. März 1900.)
*
323. (Aus der chirurgischen Klinik des Prof. v. Hacker
in Innsbruck.) Ueber die Gefahren der Aethylchlorid-
narkose. Von Dr. Lotheissen. Im Ganzen dürften bis jetzt
etwa 2550 Aethylchloridnarkosen ausgeführt worden sein, davon
850 in geeigneten Fällen an der chirurgischen Klinik in Innsbruck;
die meisten Aethylnarkosen sind bis jetzt von Seite der Zahnärzte
angestellt worden. Als Vorzüge werden ihnen nachgerühmt: rascher
Eintritt, tadelloser Verlauf der Narkosen und schnelles Erwachen
aus denselben. Bisher wurden einige Asphyxien und ein Todesfall
auf der Kocher’schcn Klinik berichtet, dem nun ein weiterer
bei einem Individuum mit starker Arteriosklerose der Coronararterien
in Innsbruck gefolgt ist. Lotheissen macht nochmals auf die
Vorsichtsmassregeln aufmerksam, die nöthig sind, um diese Narkose
zu einer ziemlich gefahrlosen zu machen. — (Münchener medici¬
nische Wochenschrift. 1900, Nr. 18.)
*
324. Ein neues Verfahren zur Catgutsterilisa¬
tion. Von Dr. Eisberg (New York). Von den bisher bekannten
Verfahren hat jedes seine Mängel. Eisberg empfiehlt das Folgende:
Nach Entfettung des Catguts in einer Mischung von 1 Chloroform
zu 2 Aether durch 24 — 48 Stunden wird es, in einfacher Lage
auf Glasrollen gewickelt, durch 10 — 30 Minuten in einer concen-
trirten wässerigen Lösung von Ammonium sulf. gekocht und dann
818
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 36
in sterilem Wasser, oder Sublimat etc. abgewaschen, womit das
Catgut gebrauchsfähig geworden ist; zum Aufbewahren dient
starker Alkohol. — (Centralblatt für Chirurgie. 1900, Nr. 21.)
*
325. Vierter Bericht über dieThätigkeitder
Malariaexpedition. Von Prof. Koch. Der Bericht, welcher
die Monat März und April umfasst, datirt aus Stephansort und hat
die Thätigkeit der Expedition in Neu-Guinea, sowie auf den nahe¬
liegenden Inseln des Archipels zum Gegenstand. Alles in Allem
will der Bericht darthun, dass es möglich ist, jede Malariagegend
ganz oder nahezu malariafrei zu machen, falls die erforderliche
Zahl von Aerzten, eine ausreichende Menge von Chinin zur Hand
ist und die Bevölkerung auch verständig und folgsam genug ist,
den Kampf gegen die Malaria durchführen zu helfen. — (Deutsche
medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 25.)
*
326. Ueber die Beziehungen der Mosquitos zu
den Malariaparasiten in Kamerun. Von Dr. Z i e m a n n
(Victoria). Es konnte die wichtige Thatsache festgestellt werden,
dass auch in Kamerun der Parasit der tropischen Malaria im
Magen der Stechmücken, Gattung »Anopheles« sich zu einem pig-
mentirten, coccidienähnlichen Gebilde umwandeln kann, in dessen
Innern sich dann die sogenannten Sporozoiten bilden. Diese ge¬
langen in die Speicheldrüsen, von wo sie durch den Stechrüssel
wieder anderen Menschen eingeimpft werden können. Es wurde
weiters fcstgestellt, dass Larven und Puppen dieser Mosquitos sich
nur in stehenden Gewässern finden, und dass eine dünne Schichte
Petroleum die Larven schon zum schnellen Absterben bringt. —
(Deutsche medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 25.)
*
327. In der Nürnberger medicinischen Gesellschaft hielt
Dr. Frankenburger einen Vortrag über seine bei etwa 2000
von ihm geleiteten Chloroform narkosengemachten Er¬
fahrungen. Frankenburger bemerkt, dass der Cornealreflex
nur im Beginne der Narkose von Bedeutung ist; später kann er
bei tiefer Narkose vorhanden sein und bei oberflächlicher fehlen;
um den Pupillarreflex richtig zu beurthcilen, müsse man das Ver¬
halten der Pupillen vor der Narkose kennen. Der Puls ist in
jedem Falle, und zwar vom Narkotisirenden selbst zu beobachten.
Das Erbrechen in der Narkose hält Frankenburger durchaus
nicht unter allen Umständen für ein Zeichen mangelhafter Auf¬
merksamkeit, sondern er könne selbst in tiefer Narkose reflectorisch,
namentlich beim ersten operativen Insult des Peritoneums ein-
treten. Pi.
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
E mannt : Dr. Adolf Loewy zum Professor für Physio¬
logie in Berlin, Dr. B o d i n zum Professor der pathologischen Ana¬
tomie in Rennes, C. W e s t c o 1 1 zum a. o. Professor der Augenheil¬
kunde in Chicago, Dr. P e r i o 1 zum Professor der chirurgischen
Pathologie in Grenoble. — In Baltimore: Dr. Rowland zum Pro¬
fessor der Geburtshilfe, Dr. Lord zum a. o. Professor der Anatomie.
*
Verliehen: Den Privatdocenten an der medicinischen
Facultät in Wien Dr. Leopold Königstein, Dr. Salomon
E h r m a n n, Dr. J a k o b P a 1, Dr. E m i 1 R e d 1 i c h und Dr. Anton
El sehnig der Titel eines ausserordentlichen Universitäts-Professors.
— Dem Regimentsarzte Dr. Ignaz Weiss der Stabsarztes-Charakter
ad honores. — Dem Leibarzt des Fürsten Ferdinand von Bulgarien,
Dr. Stanislaus Ludwig, der kaiserlich russische St. Stanislaus-
Orden zweiter Classe, der kaiserlich ottomauische Medschidje-Orden
dritter Classe, der königlich serbische St. Sava-Orden dritter Classe,
der fürstlich bulgarische Civil-Verdienst-Orden dritter Classe und der
fürstlich bulgarische St. Alexander-Orden fünfter Classe. — Dem
praktischen Arzte Dr. Oskar Lanzer in Wien das Ritterkreuz
erster Classe des königlich sächsischen Albrecht- Ordens. — Dem Chef
der sero-therapeütischen Abtheilung am Pasteur’schen Institute in
Paris, Dr. Alexander Marmo re k, das Ritterkreuz des französischen
Ordens der Ehrenlegion. — Dem praktischen Arzte und Privatdocenten
an der Universität in Wien Dr. Gustav Singer das Ritterkreuz
des königlich spanischen Ordens Karl III. — Dem Arzte im deutschen
Spitale in Constantinopel Dr. Edmund Saustein der königlich
preussische Rothe Adler-Orden vierter Classe.
I
Habilitirt: Dr. Ludwig Braun für interne Medicin in
Wien und Dr. Theodor Pfeiffer für Pathologie und Therapie
der inneren Krankheiten in Graz.
*
S a nitätsve r hältnisse bei der Mannschaft des k.u.k. Heer es
im Monat Juni 1900. Mit Ende Mai 1900 waren krank ver¬
blieben bei der Truppe 1546, in Heilanstalten 7322 Mann. Kranken¬
zugang im Monat Juni 1900 14.968 Mann, entsprechend pro Mille
der durchschnittlichen Kopfstärke 49. Im Monat Juni 1900 wurden
an Heilanstalten abgegeben 7225 Mann, entsprechend pro Mille der
durchschnittlichen Kopfstärke 24. Im Monat Juni 1900 sind vom
Gesammtkrankenstande in Abgang gekommen 15.554 Mann, darunter als
diensttauglich (genesen) 13.165 Mann, entsprechend pro Mille des
Abganges 846, durch Tod 76 Mann, entsprechend pro Mille des Ab¬
ganges 4‘88, beziehungsweise pro Mille der durchschnittlichen Kopf¬
stärke 0'25. Am Monatsschlusse sind krank verblieben bei der Truppe
1396, in Heilanstalten 6886 Mann.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien i in er¬
weiterten Gemeindegebiete. 30. Jahreswoche (vom 22. Juli
bis 28. Juli 1900). Lebend geboren: ehelich 576, unehelich 298, zusammen
874. Todt geboren: ehelich 35, unehelich 27, zusammen 62. Gesammtzabl
der Todesfälle 712 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
223 Todesfälle), darunter an Tuberculose 120, Blattern 0, Masern 15,
Scharlach 2, Diphtherie und Croup 4, Pertussis 8, Typhus abdominalis 3,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 0, Neu¬
bildungen 40. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
22 (-{- 10), Masern 139 (-f- 35), Scharlach 23 ( — 1), Typhus abdominalis
15 ( — 1), Typhus exanthematicus 0 (=), Erysipel 13 ( — 7), Croup und
Diphtherie 21 ( — 2), Pertussis 44 ( — 11), Dysenterie 0 (=), Cholera 0 (=),
Puerperalfieber 2 ( — 1), Trachom 3 (-(- 1), Influenza 0 (=).
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 31. Jahreswoche (vom 29. Juli
bis 4, August 1900). Lebend geboren: ehelich 631, unehelich 301, zusammen
931. Todt geboren: ehelich 41, unehelich 16, zusammen 57. Gesammtzahl
der Todesfälle 670 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
210 Todesfälle), darunter an Tuberculose 113, Blattern 0, Masern 8,
Scharlach 0, Diphtherie und Croup 3, Pertussis 6, Typhus abdominalis 4,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 1, Neu¬
bildungen 43. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 {—), Varicellen
16 ( — 6), Masern 110 ( — 29), Scharlach 19 ( — 4), Typbus abdominalis
21 (-[- 6), Typbus exanthematicus 0 (=), Erysipel 12 ( — 1), Croup und
Diphtherie 17 ( — 4), Pertussis 26 (— 8), Dysenterie 0 (—), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 3 (-j- 1), Trachom 7 (-|- 4), Influenza 1 (-(- !)•
Freie Stellen.
Districtsarztesstelle im Sanitätsdistricte Reichenau, politischer
Bezirk Mährisch-Trübau, mit dem Sitze in Reichenau, Mähren. Der District
umfasst die Gemeinden Altstadt, Biosdorf, Rehsdorf, Dittersdorf und
Reichenau mit 4559 Einwohnern durchgehends deutscher Nationalität
und hat eine Flächenausdehnung von 59 03/rm2. Einkommen 1170 K, und
zwar: Gehalt 476 K, Pauschale 294 K und von der Gemeinde Reichenau eine
jährliche Zulage von 400 K\ ausserdem eine aus zwei Zimmern, einer Küche,
Speisekammer, Keller und Bodenabtheilung bestehende Wohnung. Der Arzt
ist zur Führung einer Hausapotheke verpflichtet. Gesuche, belegt mit
Geburtsschein, Heimatschein, Diplom, Nachweis der bisherigen Verwendung
sind bis 16. September 1900 an den Obmann der Delegirten-Versammlung,
Fr. Homma, welcher auch nähere Auskünfte ertheilt, einzusenden. Christ¬
liche Bewerber werden bevorzugt.
Gemeindearztesstelle in der Sanitätsgemeindengruppe Gross-Pert-
holz, Weikertschlag, Abschlag, Reichenau am Freiwalde, Karlstift, Watzmanns,
politischer Bezirk Gmünd, mit dem Sitze in Gross-Pertholz, Niederöster¬
reich. Flächenausmass derGruppe 84-67&?n2. Einwohnerzahl2984. Fixe Bezüge
800 K Landessubvention, 256 K von den Gemeiuden. Haltung einer Haus¬
apotheke erforderlich. Bewerber um diese am 1. October zur Besetzung
gelangende Stelle haben ihre ordnungsgemäss instruirten Gesuche bei dem
Obmanne der Sanitätsgemeindengruppe, dem Gemeindevorsteher in Weikert¬
schlag, einzubringen.
Gemeindearztes stelle in der Sanitätsgemeindegruppe Wolf-
passing a. H., politischer Bezirk Korneuburg, Niederösterreich. Bei¬
träge der Gemeinden Wolfpassing, Bogenneusiedl, Streifing und Traunfeld
600 K, Landessubvention 600 K, Hausapotheke. Bewerber um diese am
1. October 1900 zu besetzende Stelle wollen ihre Gesuche an die Ge¬
meindevorstehung in Wolfpassing a. H., Post Schieinbach, richten.
Gemeindearztesstelle in der Sanitätsgemeindengruppe Aalfang-
Amaliendorf-Langegg, politischer Bezirk Gmünd, mit dem Sitze in
Aalfang, Nied er Österreich. Flächenausmaass der Gruppe 19 23 /cwU,
Einwohnerzahl 2591. Fixe Bezüge: 1200 K-, Subvention aus dem Landes-
fonde und 290 K von den Gemeinden. Eventuell ärztliche Behandlung der
Arbeiter der Glashütte Aalfang (Firma C. Stölzle’s Söhne). Haltung einer Haus
apotheke erforderlich. Bewerber um diese am 1 . October 1900 zu besetzende
Stelle haben ihre ordnungsmässig belegten Gesuche bei dem Obmanne
der Gruppe, dem Gemeindevorsteher in Aalfang, einzubringen.
Nr. 36
81!)
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und
INHALT:
13. Internationaler medicinischer Congress zu Paris. (2.-9. August 1900.) (Fortsetzung.)
13. Internationaler medicinischer Congress zu Paris.
(2. — 9. August 1900.)
(Fortsetzung.)
Abtheilung für Bacter iologie und Parasitologie.
Referent Dr. Sp.
III. Lave ran: Ueber den Hematozoairedupalu-
d i s m e.
Der Blutparasit des Sumpffiebers (Haemamoeba malariae) prä-
sentirt zwei Varietäten, welche man je nach den Dimensionen der
parasitären Elemente als parva und magna bezeichnen kann. Wenn
zum Beispiel ein Kranker, in dessen Blut man in Senegal Haemamoeba
malariae parva gefunden hat, nach Frankreich zurückkehrt und daselbst
Rückfälle des Fiebers erleidet, so findet man dann in seinem Blute
Haemamoeba malariae magna vor; es handelt sich daher nicht um ver¬
schiedene Arten, sondern um einfache Varietäten.
Die zum Studium des Parasiten angewendete Technik hat in
den letzten Jahren bedeutende Fortschritte gemacht. Koch, Ziemann,
Nocht, Rüge, haben die Methode von Romanovski vervoll-
kommt; ich selbst habe einen Färbungsprocess der Kerne der endo-
globulären Hämatozoen angegeben, dessen Anwendung mir leichter
und sicherer erscheint als die primitive oder modificirte Methode von
Romanovski.
Die Untersuchungen von Simon d, Schandinn und S i e d-
lecki über die Coccidien haben die so oft discutirte Frage der
Geissein der Hämatozoen des Sumpffiebers in einem ganz neuen
Lichte erscheinen lassen. Es ist nunmehr erwiesen, dass die Geissein
männliche Elemente sind, bestimmt, die weiblichen Elemente zu be¬
fruchten. Die Beobachtungen von Mac Callum, Opie, Koch,
March oux, lassen über die Rolle der Geissein keinen Zweifel mehr
übrig; ich glaube, dass Niemand mehr behauptet, dass es sich um
Degenerationsformen der Hämatozoen handle.
Seit 1884 habe ich die Hypothese vertreten, dass Haemamoeba
malariae sich ausserhalb des menschlichen Organismus im Zustande
des Parasiten auf Moskitos befindet. Diese Annahme, gestützt auf
zahlreiche Wahrscheinlichkeiten, wurde durch die schönen Unter¬
suchungen von R. Ross, welche noch durch die von Koch, Grassi,
B i g n a m i und B a s t i a n e 1 1 i vervollständigt sind, bestätigt.
Alle Anophelen scheinen der Verbreitung des Sumpffiebers
dienen zu können ; in vielen Gegenden der Erde hat man die Coexistenz
von Anophelen und Sumpffieber bereits constatirt, während man in
gesunden Gegenden blos die Culex findet.
Die Anophelen, welche vom Sumpffieber befallene Menschen
gestochen haben, können gesunde Individuen inficiren ; man findet in
den Speicheldrüsen dieser Insecten Keime (Blästen von R. Ross),
welche mit dem Producte der Secretion der Giftspeicheldrüsen inoculirt
sind. Immerhin wäre es verfrüht, den Schluss zu ziehen, dass der
Paludismus auf diese Weise inoculirt wird. Man begegnet sehr häufig
demselben in unbewohnten Gegenden ; die Thatsache, dass in Folge
von Erdarbeiten und Aufwühlung des Bodens häufig Endemien des
Sumpffiebers stattgefunden haben, ist auch schwer zu erklären, wenn
man annimmt, dass der Paludismus immer durch Anophelen übertragen
wird, welche sich mit Sumpfblut genährt haben.
Wiewohl noch einige Punkte dunkel sind, ist es nicht zweifel¬
haft, dass man von jetzt an bei der Prophylaxis des Wechselfiebers
in erster Linie die Schutzmassregeln gegen die Mosquitos anwenden
müsse. Es ist also nothwendig, den Rückfällen des Fiebers, bei den
schon lange in Sümpfen Lebenden vorzubeugen, damit diese Kranken
nicht zur Infection der Anophelen dienen können.
Pi 'ofessor Koch hat in Afrika und Java bezüglich der er¬
worbenen Immunität bei den Eingeborenen sumpfiger Gegenden günstige
Erfahrungen gemacht. Diese Immunität wäre die Folge eines Ergriffen-
seins vom Fieber im jugendlichen Alter. Zahlreiche Thatsachen be¬
weisen, dass die Eingeborenen sumpfiger Gegenden häufig in einen
Zustand von Kachexie verfallen, welcher wohl die acuten Er¬
scheinungen des Paladismus ausschliesst, jedoch nicht den Namen
Immunität verdient. Die bisher gemachten Versuche, um eine künst¬
liche Immunität gegen den Paludismus zu erreichen, sind bis jetzt
misslungen.
*
Abtheilung für Militär - Medicin und Chirurgie.
Referent Dr. Sp.
I. Le Dantec (Bordeaux): Ueber den tropischen
Phagedänismus.
In den heissen Ländern verwandeln sich die Zusammenhangs-
Trennungen der Haut sehr leicht in Geschwüre und unter diesem
kann man eine Varietät unterscheiden, welche man die phagedänischc
nennt und die durch die Anwesenheit eines pulpösen, graulichen Ex¬
sudates auf der Oberfläche der Wunde gekennzeichnet ist, welches
eine grosse Neigung zeigt, die gesunden Gewebe anzufressen. Der
tropische Phagedänismus kann daher als eine Complication der Wunden
angesehen werden, welche durch die Anwesenheit einer Pseudomembran
charakterisirt ist, die eine einfache Wunde in ein sich ausbreitendes
Geschwür verwandelt.
Beim Studium des tropischen Phagedänismus hat man drei
Perioden unterschieden:
In einer ersten Periode beschreibt jeder Beobachter ein Geschwür
als besondere Affection des Landes, in welchem er sich befindet; daher
die Namen: „Geschwür von Mozambique, Plaie annamite, Plaie de
l’Yemen“ u. s. w.
In einer zweiten Periode fassen Le Roy de Mericourt
und R o u c h a r d, indem sie die klinische Beschreibung der ver¬
schiedenen Colonien verglichen, die Identität der Krankheit in allen
intertropischen Ländern mit der Bezeichnung „phagedänisches Geschwin¬
der heissen Länder“ zusammen.
In einer dritten Periode, in welcher wir uns befinden, scheint
die Identität des Phagedänismus der heissen Länder mit
dem Spitalsbrande eine doppelte Stütze in der Klinik und in
der Bacteriologie zu finden. Vom klinischen Standpunkte ist der Spitals¬
brand ebenso wie der Phagedänismus durch grauliche Exsudate auf
der Oberfläche der Wunden gekennzeichnet. Vom bacteriologischen
Standpunkte gleicht der Bacillus, welchen ich schon 1884 im Exsudate
des phagedänischen Geschwüres angezeigt habe, vollständig dem von
Vinzent 1896 im Spitalsbrande bei den von Madagaskar kommenden
arabischen Wanderern gefundenen und beschriebenen Bacillus. Derselbe
Bacillus wurde von Coyon in einem Falle von Spitalsbrand, ent¬
standen in Paris, vorgefunden.
Der Phagedänismus der heissen Länder scheint also eine Com¬
plication der Wunden, identisch mit jener zu sein, welche in den ge¬
mässigten Klimaten als Spitalsbrand beschrieben wurde.
Die Pathogenie des phagedänischen Geschwürs bei Eingeborenen
gestattet die Annahme, dass der natürliche Wohnsitz des Mikroben
nicht das Spital, sondern der feuchte Erdboden ist. Demnach enthielte
die Erde drei Mikroben, gefährlich für die menschlichen Wunden: den
septischen Vibrio, den Bacillus des Starrkrampfes und den phagedäni¬
schen Bacillus. Diese allgemeinen Betrachtungen sind von grösster
Wichtigkeit für die den Sanitätsdienst in Zeiten der Expedition ver¬
sehenden Aerzte.
II. Fontan (Toulon) : Ueber die Sorge für die Ver¬
wundeten auf den Schiffen, während und nach dem
Gefechte: Verband. Transportmittel. Erste Hilfe.
Dringende Operationen.
Dieses so complicirte Problem begreift eine Vorfrage in sieh.
Kann die Thätigkeit des Arztes während des Gefechtes reell vor sich
gehen? Wir in Frankreich glauben, dass eine Menge von materiellen
und moralischen Gründen die Chirurgen abhalten sollen, sich mitten
unter den Combattanten zu bewegen, um denselben an Ort und Stelle,
wo sie verwundet fallen, eine gänzlich illusorische Hilfe zu bringen.
Die Aerzte müssen auf dem Platze der Verwundeten
bleiben.
Kann man aber die Verwundeten in jedem Momente des Ge¬
fechtes auf diesen Platz bringen? Leider nein. Beinahe immer wird
820
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nj. -SB
man das Einstellen des Feuers, oder mindestens einen Nachlass des¬
selben ab warten müssen, um den Tiansport der Verwundeten zu unter¬
nehmen. Mit dem Zuwarten bleiben die Verwundeten neuen Schlägen
ausgesetzt, der Obsorge beraubt, und können an Verblutung und Shock
sterben. Diese traurigen Verhältnisse können wohl ein wenig gelindert
werden durch Rathschläge, welche man vorher allen Combattanten ge¬
geben hat, welche es verstehen müssen, sich eines Knebels (garrot,
tourniquet) eines besonderen Verbandpäckchens u. s. w. zu bedienen.
Diese Gegenstände und ein hinreichendes Getränk, wie z. B. leicht
alkoholisirtor Thee, müssen überall für die Verwundeten bereit sein.
Nun ist der Moment der Aufhebung und des Transportes der
Verwundeten gekommen. Jedes Schiff hat seine Plätze für die Ver¬
wundeten und deren Passage vertheilt, je nach der verschiedenen
Nothwendigkeit. Aber überall wird diese Thätigkeit durch die Enge,
die vielen Winkel, die Verschiedenluit des Niveaus und der Richtung
erschwert und erfordert ein besonderes Transportmaterial. Die gewöhn¬
liche Hängematte schützt nicht den Verwundeten, welcher jeden
Augenblick gescbütttdt, gedreht, hin und her geworfen wird in einer
oder der anderen Richtung. Die Hängematte wurde durch geniale
Chirurgen viele Male umgewandelt, deren Bestreben es war, sie stark
zu machen, den Verwundeten darin besser zu immobilisiren u. s. w.
Alle diese Modificationen sind nur zufällige und sehr unvollkommene
Mittel, welche die Kriegsmarine überall durch eine besondere, zu diesem
Zwecke geeignete Ausrüstung ersetzen muss, welche darin besteht,
e:n 'n Verwundeten zu transportiren, überall leicht den Weg sich
bahnend ohne ihn noch mehr zu verletzen.
Die metallische Schiene von Auf fr et erfüllt diese Bedingungen
in wundei barer Weise, sie ist an dem Körper des Verwundeten, in
Folge Berechnung absolut exacter Curven, wie angeschmiegt, sie im-
mobilisirt denselben in allen Theilen, erhält ihn in gleicher Weise
in allen denselben gegebenen Lagen, passirt leicht die engsten und
gewundensten Stellen. In unserer Marine reglementmässig eingeführt,
wird die Schiene auch in einigen fremden Marinen sehr geschätzt. Es
ist traurig, dass für eine Equipage von 30 0 Mann in unserer Kriegs¬
marine nur eine Schiene bestimmt ist, weil dieses absolut unzureichend
ist. Denn die Zahl der Schienen sollte nicht nach dem Stande der
Equipage, sondern nach der Zahl der Verwundeten bemessen werden.
Denn wenn man anerkennt, dass dies der Apparat ist, der für diese
Transporte erforderlich ist, wie kann man dieselben zulassen ohne sie
damit zu versehen?
Es wäre von Vortheil, jede Abtheilung von Verwundeten mit
zwei Schienen auszurüsten, die eine wäre im Gebrauch, die andere
verladen.
Ist der Verwundete an Ort und Stelle, so wird er auf den
Operationstisch gelegt. Hierauf sind unverzüglich noth wendig:
1. Die Asepsis. Hiezu braucht man kochendes Wasser, welches
durch ein Röhrenwerk von einer Hilfsmaschine mit Leichtigkeit zuge¬
führt wird, einige antiseptische Lösungen in Gefässon von Emailblech,
versiegelte Pakete von Watte und antiseptischer Gaze. Die Sterilisation
in einem Trockenapparat oder Kochtopf ist blos für die Instrumente
und die Fäden nothwendig, wenn die Verbandstoffe gut verpackt sind.
2. Bekämpfung der Blutungen. Man muss vor Allem dem Blut¬
verluste durch Infusionen begegnen. Eine Spritze von Roux,
heisses, leicht gesalzenes Wasser werden genügen, und die Ver¬
wundeten retten.
3. Herrichtung von Apparaten aus Rinnen und Schienen gegen
Knochenbrüche.
4. Die dringenden Operationen werden im engsten Sinne auf
Unterbindungen, Vereinfachung grosser Zerstörungen und complicirter
Brüche, endlich auf Verschliessung offener Höhlen beschränkt werden.
Die Aufsuchung fremder Körper kann beinahe immer verschoben
werden.
Allein alle diese Obsorgen sind nur provisorisch. Die Ver¬
wundeten müssen prompt entweder ausgeschifft oder in ein Schiff¬
spital übertragen werden.
Es ist an der Zeit, dass bei den civilisirten Nationen jeder
Kriegsflotte ein Spitalschiff, durch das Genfer Kreuz neutral, folge,
welches gleich nach der Schlacht die Verwundeten jedes Schiffes,
welcher Nation sie auch immer angehören mögen, sammle.
UI. B u rot: Ueber die Spitalschiffe bei colonialen
Expeditionen.
Ich habe als Medeein major des „Shamrock“ während der Ex¬
pedition zu Madagaskar 1895 die Spitalschiffe näher studirt und die
Bedingungen untersucht, unter welchen sie eine wahrhaft thätige Rolle
bei colonialen Expeditionen spielen können.
Folgendes waren die wichtigsten Beobachtungen:
1. Ein Schiff, welches während einer überseeischen Expedition
bestimmt ist, sich in einer Rhede aufzuhalten um Kranke aufzunehmen
und sie an Bord zu pflegen, muss in einer ganz besonderen Weise
eingerichtet sein. Unsere grossen Transportschiffe vom Typus „Mytho“
und „Shamrock“, sehr gut eingerichtet, um unsere Soldaten aus Indo-
China in die Heimat zu bringen, hätten gewisse Modificationen noting
gehabt, um als schwimmende Spitäler in Dahomey und Madagascar
ihren Dienst zu verrichten.
2. Unbestreitbar ist es — und die Erfahrung zu Majunga hat
es wohl bewiesen — dass es in den sumpfigen Gegenden der heissen
Zone besser ist, Kranke und Verwundete womöglich auf den Schiften
zu lioäpitalisiren, als dieselben auf blosser Erde unter Zelten, oder in
eiligst construirten Baraken auf den Boden zu lagern.
3. Damit ein Spitalschiff das Maximum der Leistung vollführe,
muss es eben ein Spital sein und nichts Anderes; es darf nicht zu¬
gegeben werden, dass ein zur Aufnahme einer grossen Krankenzahl
bestimmtes Schiff zu militärischem Dienste verwendet werde.
4. Wenn eine Expedition von längerer Dauer sein muss, ist es
gut, ein schwimmendes Spital, genügend räumlich zur Aufnahme sämmt-
licher Kranken der Expeditionscolonne, vorher zu bestimmen; gleich¬
zeitig würde eine Serie speciell eingerichteter Transportschiffe von
grosser Schnelligkeit den Dienst der Beförderung in die Heimat
besorgen.
5. Das schwimmeude Spital muss einen Fassungsraum für 500
Kranke und eine Länge von 130 m haben. Auf der Brücke würden
„Roofs“ die Verwundeten vor dem Wetter schützen. In der hohen
Batterie wären die schweren Verwundeten auf Liegestätten, welche
nur in einer Reihe aufgestellt sind, zu betten; ausserdem gäbe es
Cabinen für die Offieiere, eine Apotheke, einen Verbandraum und einem
Badesaal. Die niedere Batterie würde für leichtere Kranke in Liege¬
stätten, welche in zwei Reihen (übereinander) aufgestellt sind, ver¬
wendet werden.
Die Lüftung muss gut sein; ausser für natürlichen Lüftung
wird man für elektrische Ventilatoren Sorge tragen.
Nur destil lirtes ’Wasser wird gebraucht werden und die Apparate
werden eine constante Versorgung mit demselben sicherstellen; trotz¬
dem werden Filter von grosser Leistung vorhanden sein.
Die Frage der Eiserzeugung an Bord von Schiffen ist praktisch
noch nicht gelöst: die Kälteproduetion, gegründet auf dem Principe
des Druckes comprimirter Luft, scheint die besten Resultate zu geben.
Die Beleuchtung wird nothwendigor Weise olektrisch sein.
Die Rauchfänge werden in doppelte Scheidewände eingeschlossen
sein, welche durch freie Zwischenräume, Luftpolster bildend, ge¬
schieden sind.
Die Küchen werden mit allem Nothwendigen versehen sein, wie
es sich für ein grosses Spital gehört.
G. In einem Spitale dieser Gattung passt os sich, nur Europäer,
mit Ausschluss der Eingeborenen, welche am Lande untergebracht
wer d e n , au fzu n eh m en .
7. Der bedeutendste Mangel für ein Schiffspital besteht in der An¬
wesenheit contagiöser Kranker; in Wahrheit ist die Isoliiung derselben
schwieriger als am Lande zu erreichen. In Voraussicht dieses Ereig¬
nisses wäre es angezeigt, ein Schiff von geringem Tonnengehalt zur
Seite zu haben, woselbst in Isold zimmern eontagiöso Kranke aufge¬
nommen werden könnten.
8. Trockenapparate, Pulverisateurs und Wäscherinnen werden
die Reinlichkeit und Desinfection besorgen.
*
Abtheilung für Kinde rheilkun d e.
Referent Dr. Sp.
III. D’E s p i n e (Paris): Ueber das Co n tag i um und
die Prophylaxis der kindlichen Tuberculose.
Contagium.
1. Die kindliche Tuberculose ist eine durch Ansteckung erworbene
parasitäre Affection bei dem Kinde, wie bei dem Erwachsenen. In der
Praxis muss man von don ausnahmsweisen Fällen angeborener Tuber¬
culose absehen, welche durch hereditäre Uebertragung des K o c h’schen
Bacillus durch Einbruch in die Placenta bedingt sind.
2. Die Quelle der Ansteckung muss in der ungeheuren Mehr¬
heit der Fälle in den feuchten oder getrockneten Auswürfen erwachsener
Tuberculöser gesucht werden, indem die Kinder nur ausnahmsweise
ausspucken und vom Standpunkte der Verbreitung des Giftstoffes wenig
gefährlich angesehen werden können. Die kindliche Tuberculose wird
fast immer durch Einathmung erworben.
3. Eine zweite Quelle der tuberculösen Ansteckung ist die rohe
Milch der Kühe, viel seltener tuberculöser Ziegen, besonders jener,
welche von Tuberculose an den Brustdrüsen befallen sind. Diese In¬
fection durch Ingestion spielt bei den Kindern im niedrigen Alter eine
Nr. 36
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
821
wichtigere Rolle, als bei der zweiten Kindheit und noch mehr wie
beim Erwachsenen; nichtsdestoweniger hat man die Häufigkeit über¬
trieben, weil bei dem Kinde die Bronchialdrüsen zuerst er¬
griffen sind.
4. In der ersten Kindheit bis zu zwei Jahren scheinen die Küsse
tuberculöser Mütter oder Bonnen die Art der gewöhnlichen Uebertra-
gung zu sein. Diese directe Ansteckung kann sogar in gewissen Fällen
durch bronchische Aspiration des bacillenhaltigen Speichels ausgebreitete
zerstörende Läsionen der Lungen hervorrufen, was beweist, dass
die Seltenheit der Tuberculose im ersten Lebensjahre mehr durch die
Seltenheit des Contagiums, als durch Immunität des Kindes in diesem
Alter bedingt ist.
5. Beim kleinen Kinde von zwei bis fünf oder sechs Jahren nimmt
die Tuberculose sehr an Häufigkeit zn, und hat ihren gewöhnlichen Aus¬
gangspunkt in den Bronchialdrüsen, von wo sie die Lungen durch
Contiguität eigreifen kann (Tuberculose der Lungerpforte), oder den
übrigen Organismus im Wege der Embolie (besonders die Hirnhäute
und das Knochenmark). Die Infection kann auch in den Bronchial¬
drüsen localisirt bleiben und sich erst später, unter dem Einflüsse
tuberculisirender Krankheiten, wie Grippe, Masern oder Keuchhusten
entwickeln.
Die grosse Häufigkeit tuberculöser Infection von zwei bis fünf Jahren
ei klärt sich durch die Neigung der Kinder dieses Alters, Alles in den
Mund zu stecken und besonders ihre Finger, «'00116 mit bacillen¬
haltigen Staube verunreinigt sind. Sie leben am Boden und sind so
mehr wie in jedem anderen Alter dem Contagium ausgesetzt.
6. Von sechs Jahren angefangen bis zur Entwicklung vermindert
sich die Tuberculose an Frequenz, und ihr Erscheinen im letzteren Alter
greift häufig auf eine frühere Ansteckung zurück.
Die Gefahr der Ansteckung in der Schule ist sicher, aber
man hat dieselbe nach unserer Meinung übertrieben.
Nichtsdestoweniger besteht, wie gewisse Beispiele beweisen, diese
Gefahr dort, wo eine Ansammlung von Kindern in kleinen, ungenügend
gelüfteten Schulzimmern unter der Leitung von Lehrern, welche mit
offener Tuberculose behaftet sind, stattfindet.
7. Die Tuberculisirung durch die immer ausnahmsweise Ueber-
i mpfung auf die II aut ist geringer beim Kinde als beim Er¬
wachsenen, wie dies durch den gewöhnlichen Anfang des Lupus vor
15 Jahren bewisen ist.
Der Weg des Eindringens des K o c h’schen Bacillus ist bei der
chirurgischen Knochen- oder Driiseutuberculose noch nicht vollständig
aufgeklärt Ja in de: Mehrzahl der Fälle ist sie secundär in Folge
einer Tuberculose der Bronchialdrüsen und man kann nicht leugnen,
dass in anderen Fällen tuberculöser Adenitis sie nicht der Zeuge einer
bacillären Inoculation sei (wie die Drüsengruppe in der Syphilis),
welche sich über die Mund-Rachensehleimhaut (Mandeln, cariöse Zähne),
oder über die entblösste Haut u. s. w. (Ekzem, Wunden, u. s. w.) ver¬
breiten kann.
8. Die erbliche Veranlagung spielt eine unzweifelhafte Rolle
in der Entstehung der Tuberculose beim Kinde und begünstigt in
grossen Massstabe das familiäre Contagium. Man muss daher vor Allem
bei tuberculösen Kindern die prophylaktischen Massregeln anwenden.
Prophylaxis.
Diese muss zum Ziele haben 1. das Contagium zu verhindern;
2. die Empfänglichkeit des kindlichen Organismus durch Stärkung der
körperlichen Widerstandsfähigkeit zu vermindern.
A. Verhinderung des Contagiums.
1. Den Kindern nur gekochte Milch zu verabreichen oder rohe
Milch gesunder Kühe, welche als solche durch die Tuberculinprobe
erkannt sind.
2. Zu fordern, dass die Ammen und Bonnen, welche mit der
Aufziehung der Kinder betraut sind, von Tuberculose frei seien.
3. Wenn die Mutter phthisisch ist, muss man das Kind an der
Brust einer gesunden Amme ernähren und so viel wie möglich jede
gefährliche Berührung mit der Mutter vermeiden.
4. Im Kreise einer tuberculösen Familie müssen die allgemeinen
prophylaktischen Regeln, welche von der medicinischen Akademie
empfohlen sind, befolgt werden, und besonders die Verwendung eigener
Spucknäpfe für die Phthisiker, das absolute Verbot des Kehrens aller
Zimmer, welches durch eine Waschung mittels eines nassen in des-
inficirende Flüssigkeit getauchten Lappens ersetzt werden muss.
5. In der Schule muss durch die öffentlichen Behörden das
Verbot der Functionen eines Lehrers oder einer Lehrerin bei allen
Personen, welche mit Phthisis behaftet sind, erreicht werden, ferner die
Entfernung tuberculöser Kinder.
B. Verminderung der Empfänglichkeit des Kindes
für die Tuberculose.
1. Errichtung ländlicher Asyle für arme Stadtkinder krankhafter
Constitution oder Reconvalesconten acuter Krankheiten.
2. Förderung des Werkes von Feriencolonien für die Schüler.
3. Bekämpfung der Neigung zur Tuberculose oder der ersten
Zeichen derselben durch Absendung der Kinder in Gebirgssanatorien
(Höhencur) oder an die Meeresküste (Seecur).
IV. Hutine 1 (Paris): Ueber dieVererbung der Tuber¬
culose.
Alle Welt ist darüber einig, dass die Tuberculose einen be-
merkenswerthen hereditären Einfluss hat. Die tubeiculüse Heredität
kann in der Vermittlung des Keimes, in der Vermittlung einer Prä¬
disposition bestehen oder sich durch dystrophische Störungen kenn¬
zeichnen. Diese drei Arten der Vererbung häufen sich bald übereinander,
bald bestehen sie isolirt.
1. Vermittlung des Keimes. A. Die Vermittlung des
Keimes im Momente der Etnpfängniss würde im engsten Sinne des
Wortes die wahre Heredität darstellen. Diese Vermittlung durch die
Empfängniss ist nur eine Hypothese, deren Realität durch keine be¬
kannte 1 hatsache bewiesen ist und deren Wahrscheinlichkeit selbst
uns zweifelhaft erscheint; insbesondere ist die parasitäre Vermittlung
durch den Vater in keiner Wreise erwiesen.
B. Immerhin ist es möglich, dass ein Kind schon mit dem
tuberculösen Keime behaftet, geboren wird. In diesem Falle ist es in
utero durch seine Mutter angesteckt worden. Diese ist gewöhnlich in
sehr schwerer Art davon ergriffen ; sie kann aber auch nur wenig
verbreitete Läsionen besitzen. Die Uebertragung geschieht wahrschein¬
lich unter Mithilfe einer Läsion der Placenta, welche zuweilen sehr
begrenzt ist und leicht verkannt werden kann.
C. Die angeborene Tuberculose wurde nicht nur bei todfgeborenen
Kindern oder bei rasch sterbenden Säuglingen beobachtet, sie wurde
auch in gleicher Weise bei gut constituirten und ganz lebensfähigen
Kindern gesehen. Das Ileredocontagium der Tuberculose ist daher
unbestreitbar und kann in der Weiterverbreitung der Phthise eine Rolle
spielen.
D. Diese Rolle scheint sehr beschränkt zu sein. Um die ausser¬
ordentliche Seltenheit des Ileredo Contagiums zu beweisen, muss man
sich nicht blos auf die geringe Frequenz angeborener Tuberculösen,
noch auf die Schwierigkeit, durch Impfungen eine congenitale Bacillose
zu beweisen (eine begrenzte Infection, welche sehr leicht unbemerkt
vorüber gebt), sondern auf folgende Argumente stützen:
a) Seltenheit der Tuberculose bei den Jungen tuberculisirter oder
tuberculöser und am Leben erhaltener Weibchen.
h) Unmöglichkeit, eine besondere Widerstandsfähigkeit junger
Wesen gegenüber der Entwicklung des Bacillus zuzugeben; dies beweist:
a) die ausserordentliche Seltenheit wirklich latenter und momentan sich
still verhaltender Tuberculösen unter zwei Jahren; ß) die klinische
Entwicklung der Tuberculose des ersten Alters.
c) Das anatomische Studium der Anfangsformen der kindlichen
Tuberculose ist ganz zu Gunsten einer Infection durch Contagium nach
der Geburt.
2. Heteromorphe Heredität. Die Tuberculose der Vor¬
fall ren beeinflusst die Kinder in einer evidenten und vom Gesichts¬
punkte der physischen Entwicklung beinahe nothwendigen Weise: die
dystrophischen Mängel, die sich aus dieser heteromorphen Heredität
ergeben, dürfen mit Heredo-Prädisposition, von welchen sie unter¬
schieden sind und dennoch mit derselben zusammen treffen können,
nicht vermengt werden.
3. Heredo-Prädisposition. A. Die klinische Beobachtung
beweist die ungeheuere Häufigkeit der Tuberculose bei Kindern, welche
von tuberculösen Erzeugern entsprossen sind oder in deren Familien
gewisse Mitglieder an dieser Krankheit leiden.
Diese grosse Häufigkeit ist mehr oder weniger durch Heredo-
Prädisposition bedingt. Aber man muss dieselbe zu gutem Tlioile einer
pathogenischen Art zuschreiben, deren Einfluss man in der Mehrzahl
der Untersuchungen über die Aetiologie der Tuberculose vielfach ver¬
nachlässigt, wir meinen nämlich die Auto-Infection. Ein grosser Theil
der Tuberculösen erwachsenen Alters oder der Jugend sind die Folge
verborgener bis in das junge Alter zurückreichender Krankheitsherde,
welche beinahe immer aus dem Contagium hervortreten. Die Tuberculose
der Vorfahren hat oft bei der Erzeugung dieses Contagiums eine
essentielle Rolle gespielt.
B. Die Heredität aus Prädispositionen zeigt sich häufig in der
Schwere der Erkrankung: nicht nur ist das Kind der Tuberculose
mehr ausgesetzt, sondern widersteht derselben häufig viel schlechter.
C. Im Gegentheile kann sich die erbliche Tuberculose auch in
abgeschwächter Form präsentiren, so als wenn das Kind bis zu einem
gewissen Punkte immunisirt wäre. Man kann diese Formen als eine
822
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 36
Art gemischter Heredität erklären, indem die Vorfahren ihrem Nach¬
kommen zu gleicher Zeit eine Prädisposition zur Tuberculose wie eine
besondere Widerstandsfähigkeit überliefert hätten.
4. Prophylaxis. Von diesem Gesichtspunkte ist die Aufgabe
des Arztes bemerkenswerth. Drei Pflichten sind ihm auferlegt: 1. Der
Schutz der Kinder Tuberculöser gegen baeilläre Invasion und besonders
gegen die drohende Gefahr eines inficirten Familienkreises. Dieser
Schutz ist möglich, denn das Kind eines Phthisikers ist bei der Geburt
beinahe niemals angesteckt; derselbe ist durchführbar, denn wir wissen,
auf welche Weise man das baeilläre Contagium von der Umgebung
des Kranken fernhaiton kann; derselbe ist wichtig, weil die vorzeitige
Ansteckung des Kindes entweder eine unmittelbare Tuberculose mit
rapider Entwicklung oder eine für die Zukunft bedrohliche larvirte
Tuberculose zur Folge hat.
2. Bei den Kindern von Phtisikern, bei welchen eine der
ernstesten Gefahren in den latenten Herden besteht., welche die Quellen
weiterer Auto-Infection sind, muss man alle Mittel der Untersuchung
behufs Nach Weisung der Existenz derselben ins Werk setzen; eine
minutiöse und widerholte klinische Untersuchung wird häufig eine früh¬
zeitige Diagnose, welche der Ausgangspunkt einer erfolgreichen Be¬
handlung ist, ermöglichen.
3. Muss mau bei den Nachkommen von Phthisikern endlich das
Studium und die Behandlung aller Störungen der Entwicklung oder
der Ernährung, welche den Verdacht einer tuberculösen Ileredo-Prä-
disposition gestatten, verfolgen.
*
Abtheilung für Otologie.
Referent Dr. Sp.
I. Schiffers (Lüttich) : Vorschlag zur Einigung
über die Bezeichnungen der Gehörmessungen.
Die Geschichte dieser Frage beweist die seit mehreren Jahren
von verschiedenen Seiten gemachten Anstrengungen der Kliniker und
Physiologen, besonders der Ersteren, um die Wissenschaft mit einer
einheitlichen, zugleich einfachen und praktischen Methode akumetri-
scher Bezeichnung auszurüsten. Diese Versuche stehen mit den Fort¬
schritten im Einklänge, welche die Wissenschaft in der Diagnostik der
Krankheiten des Gehörorganes erreicht hat.
So berechtigt der Wunsch der Forscher ist, auch den Arzt in
die Lage zu versetzen, rasch und sicher, in allen Fällen das Gehör¬
vermögen irgend eines Menschen abzuschätzen, wie der Augenarzt die
Sehschärfe, so muss man erkennen, dass dieses Problem viel com-
plicirter und seine Lösung unbestreitbar schwierig ist. Abgesehen von
den Lücken in unseren gegenwärtigen Kenntnissen der Physiologie des
Gehörorganes, die Thatsache, dass die Schallwellen auf zwei ge¬
sonderten Wegen zum Perceptionsappavat gelangen, auf dem Wege
der Luft und auf jenem durch solide Theile, beseitigt die Idee, dies¬
bezüglich eine Analogie zwischen beiden Sinnesorganen hei'zustellen.
Noch mehr, das Ohr ist in Wirklichkeit bestimmt die articulirte
Sprache aufzufassen; unbestreitbar fügt sieh also zur speciellen Em¬
pfindung das Vermögen der Unterscheidung und der Analyse, die
Auffassung der complicirten Töne der verschiedenen Worte, welche im
gesprochenen Satze aufeinander folgen. Wie wäre es möglich, einfach
und sicher diese letzteren zu notiren? Die Klinik beweist täglich bei
Kindern, bei denen die Ohrenkrankheiten so häufig sind, die Noth-
wendigkeit, das Auffassungsvermögen der articulirten Sprache kennen
zu lernen. In der ersten Kindheit ist es überdies zweifellos, dass die
verschiedenen Functionen des Gehörnerven untereinander nicht in
constantem Rapport stehen. Wie kann man sich da eine exacte
Vorstellung einer gestörten Function durch eine einheitliche Methode
machen, die auf die Anwendung eines vollkommenen Akumeters ge¬
gründet wäre?
Das Studium der in Discussion stehenden Frage ist dadurch
complicirt worden, dass die verschiedenen in Gebrauch stehenden Me¬
thoden den Sitz der Läsion oder der functioneilen Störung zu erkennen
bestrebt waren. Diese Anschauung muss evident verlassen werden, sie
hat übrigens zu zahlreichen Irrthümern geführt. Sie allein verhindert
in vielen Fällen eine sichere Diagnose.
Wir resumiren, dass:
1. Die Uhr und alle Gattungen von Gehörmessern (Akumeter)
ohne Gradation für die Aufzeichnung, das heisst für eine fundamentale
Minimalaufzeichnung nicht dienen können. Alle Uhren haben nicht
denselben Klang; noch mehr indem man die Abstufung der Intensität
nach der Entfernung abschätzt, kann man sich dieser Methode zur
Gehörmessung bei Berührung nicht bedienen.
2. Die Stimmgabel ist das beste Mittel um das Gehör des zu
Untersuchenden abzumessen. Die optische Methode bildet einen sehr
reellen Fortschritt, der wahrscheinlich weiterer Verbesserungen fähig
ist. Dies ist unserer Meinung nach das einfachste und exacteste Mittel
um eine akumetrische Minimabezeiehnung zu machen und wird in
allen Fällen anwendbar sein.
3. Die Methode, um mittelst der Stimmgabel dio Dauer der
Pex-ception zu notiren, zählt überzeugte Verfechter. Man muss also die
verwendete Stimmgabel (und die, welche im Orte der Beobachtung
adoptirt ist), das heisst die Zahl der Vibrationen in der Minute an¬
geben. Das Resultat wird durch einen Bruch ausgedrückt, dessen
Nenner die Zeit der Perception des noiunalen Ohres und dessen Zähler
diejenige des zu prüfenden Ohres darstellt. 0. d. A. (oreille droite
Air) ut2 256 v. 9/2 4 ist eine Formel, welche bedeutet, dass das rechte
Ohr im Wege der Luft eine 256mal in der Minute vibrirende Stimm¬
gabel durch 9 Secunden hört, welche von dem normalen (linken)
Ohre durch 24 Secunden vernommen wird.
4. Die Webe r’sche Probe behält den vollen Werth, der ihr
bis jetzt zugesprochen wurde.
5. Wenn die Probe von Rinne gemacht wird, so wird diese
in der Art der Anwendung in dem Sinne modificirt werden, dass der
Fuss der Stimmgabel vor dem Tubus des Ohrspiegels gestellt werden
muss, damit der Vergleich zwischen der Perception durch die Luft
und der Perception durch solide Theile exict sei.
6. Die Prüfung mittelst der articulirten Sprache wird aus oben
erwähnten Gründen besonders bei Kindern unentbehrlich sein. Hiebei
müssen die Erfahrungen von Wolf in ernste Erwägung gezogen
werden. Es wird genügen, das Hören der Vocale und Consonanten
mittelst der Flüsterstimme unter Ausschliessung der Zischlaute abzu¬
schätzen und um so viel wie möglich eine gleichmässige Aussprache zu
erlangen, das Luftresiduum in der Brust durch einige tiefe Inspii'ationen
auszunützen. Man müsste nachforschen, ob es nicht ein Mittel gibt,
der Stimme einen gleichförmigen Tonfall zu geben, welches dem Ver¬
fahren eine bisher noch fehlende Präcision verleihen würde. Die Auf¬
zeichnung wird in der Weise gemacht, dass man die mit der Flüster¬
stimme verwendeten Buchstaben oder Worte und die Entfernung, in
welcher diese wiederholt wurden, anzeigt.
II. Hartmann (Berlin):
Die Gehörsprüfungen bezwecken :
1. Die Diagnose der Art der Krankheit des Gehörorganes zu
ermöglichen ;
2. den Grad des Gehörvermögens zu bestimmen, um das zur
Verfügung stehende und den Einfluss der Behandlung auf dasselbe zu
beurtheilen.
Für die Diagnose ist es essentiell, den Umfang der Wahr¬
nehmung durch die Luft und durch die Knochen festzustellen.
Wie alle Combinationen von Schallwellen aus einfachen Wellen
hervorgehen, so bilden diese die Grundlage, um in vollendeter Weise
das Gehör vom Gesichtspunkte der Diagnostik abzuschätzen.
Das einzige Instrument, welches wir bis jetzt besitzen, um die
einfachen Schallwellen dem Ohre im Wege der Luft und im Wege der
Knochen zukommen zu lassen, ist die Stimmgabel.
Auch die Prüfung des Gehörs vom Gesichtspunkte der Diagnostik
muss mit Stimmgabeln ausgeführt werden, und bei der Untersuchung
muss die Dauer der Wahrnehmung durch den Luftweg und durch den
Knochenweg bestimmt werden.
Es genügt zum allgemeinen Verständniss, die Anfangsbuchstaben
der in den verschiedenen Ländern üblichen Bezeichnung der Luft-
und Knochenleitung L. (Luft), A. (Air), K. (Knochen), 0. (Os),
B. (Bone) zu notiren.
Bei der Aufzeichnung des Resultates der Stimmgabelprüfung
wird man, iusolange nicht eine einheitliche Bezeichnung von den
Physikern und Musikern der verschiedenen Länder angenommen ist,
die Anzahl der Schwingungen der verwendeten Stimmgabel in der¬
selben Zeit wie die im Orte gebräuchliche Bezeichnung angeben
müssen. Ausserdem wird die Notirung der Wahrnehmungsdauer der
verwendeten Stimmgabel seitens des normalen Ohres der Aufzeichnung
hinzugefügt werden müssen.
Das einfachste Mittel, die Wahrnehmungsdauer des kranken
Ohres s. (sinister) oder d. (dexter) zu verzeichnen, wird in der Form
eines Bruches bestehen, dessen Nenner die Perception des normalen
Ohres, dessen Zähler jene des kranken Ohres angibt, zum Beispiel
s. c- 512 18/48 L. (A.), das heisst: die 512mal in der Minute vibi’ii’ende
Stimmgabel wird am gesunden Ohre 48 Secunden, am kranken linken
Ohre 18 Secuuden im Wege der Luft gehört.
Gleichzeitig mit der Stimmgabelprüfung muss, wie für das ge¬
bräuchliche Vermögen des Ohres, die Wahrnehmung des Wortes ausser¬
dem abgeschätzt werden.
Zu diesem Zwecke bedient man sich der Flüsterstimme. Bei der
Aufzeichnung müssen die gebrauchten Worte und die Maximal¬
entfernung, in welcher diese wiederholt wurden, angegeben sein.
(Fortsetzung folgt.)
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
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Die „Wiener klinische
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erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von minde¬
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M. Gruber, M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann’,
R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt, A. v. Vogl,’
J. v. Wagner, H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
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Herausgegeben von
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L. R. v. Sehrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigirt von Di*. Alexander Fraenkel.
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XIII. Jahrgang. Wien, 13. September 1900. BIr. 37.
I^THALT:
I. Originalartikel : 1. Ueber die Bedeutung des akustischen Spraclicentrums
als Hemmungsorgan des Sprachmeehaoismus. Von Prof. A. Pick
(Prag).
2. Der gegenwärtige Staud der Radiotherapie. Von Universitätsdoceut
Dr. E. Schiff und Dr. L. Freund in Wien,
d. Ueber allgemeine concentrische Franklinisation in der ärztlichen
Praxis. Von Prof. Dr. Breitung in Coburg.
II. Referate: I. Atlas klinisch wichtiger Röntgen-Photogramme. Von Prof.
Freiherr v. Eiseisberg und Dr. K. Ludloff. II. Atlas de Radio¬
graphie. Par P. Redard et F. Lar an. II i. Rö ntgeu-Atlas des
normalen menschlichen Körpers. Von Dr. M. Im me 1 mann. Ref.
(Alle Rechte vorbelialteu )
Kienböck. — I. Ueber Myelitis acuta. Von Dr. Wilhelm Mager.
II. Zur Kenntniss der Geistesstörungen des Greisenalters. Von
Dr. Heinrich Schloss. III. Die Frühdiagnose der progressiven
Paralyse. Von Prof. Dr. A. Hoche. IV. Som nambulismus und
Spiritismus. Von L. Löwenfeld. V. Wie sind Geisteskrankheiten
zu werthen? Von Rudolf Arndt. VI. Die Vision im Lichte der
Culturgeschichte und der Dämon des Sokrates. Von Dr. Knauer,
Ref. Elzholz.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressbericiile.
lieber die Bedeutung des akustischen Spracb-
centrums als Hemmungsorgan des Sprach-
mechanismus.
Referat, erstattet in der Section für Neurologie des internationalen medicini-
schen Congresses am 2. August 1900.
Von Prof. A. Pick (Prag).
Seitdem in der Mitte der Vierziger Jahre zuerst die
Brüder \V eher und kurz danach Budge den Hemmungs-
mechanismus im Gebiete der Herznerven kennen gelehrt, lag
es nahe, ähnliche Mechanismen im Centralnervensystem zu
suchen und zur Erklärung der verschiedensten auch cerebralen
’Vorgänge in Anwendung zu bringen; der Kampf darüber
schwankte bekanntlich lange hin und her und während Ein¬
zelne zu dem Resultate gekommen zu sein glaubten, dass im
Gehirne keine Hemmungscentren vorhanden seien, kam Goltz
schon 1869 zu dem entgegengesetzten Schlüsse.
Von dieser Basis aus fehlte es nicht an theoretischen
Vei suchen, auch das Dunkel, welches die höheren psychischen
Vorgänge umgab, auf diesem Wege zu liebten. Aber während
der auf solchen Hemmungsmechanismen basirte Gegensatz
zwischen Rückenmark und Gehirn durch exact nachgewiesene
positve 1 hatsachen gestützt erschien, kam man bezüglich der
Anwendung gleicher Gedankengänge auf intracerebrale Vor¬
gänge nicht über bestrittene Hypothesen hinaus; erst der
jüngsten Vergangenheit blieb es Vorbehalten (Sherrington
und Andere), Beweise exacter Art dafür zu erbringen.
Irotzdem hatte man, wie erwähnt, auch früher schon
nicht gezögert, die Lehre von der Hemmung auch auf die
höheien cerebralen Vorgänge, und zwar auf diejenigen anzu¬
wenden, die als Parallel- Vorgänge der psychischen Processe
anzusehen waren ; der Anreiz zu solchen Deutungen war ja
in den psychischen Erscheinungen selbst gegeben und so
lassen sich hierher gehörige Anschauungen schon in der
Psychologie der älteren Philosophie und seither immer wieder
in breiterer Anwendung, namentlich bei Herbart, nach-
weisen. Es wäre überflüssig, diese verschiedenen, mit vielem
Scharfsinne zu ganzen Systemen ausgearbeiteten Erörterungen
der neueren Zeit einzeln hier durebzunehmen; man kann die¬
selben, insoweit man die ältere Zeit namentlich ins Auge fasst,
nicht anders denn als analogisirende Nutzanwendung des auf
einem relativ beschränktem Gebiete nachgewiesenen Princips
aut weite und fern liegende Gebiete bezeichnen, für deren
Berechtigung in diesen Gebieten selbst ein irgendwie ge¬
nügender Beweis nicht erbracht war.
Noch neuestens hatBreese (On Inhibition; Monograph.
Supplement to Vol. VIII, of the »Psychological Review« May
1899) in ausführlicher Darstellung gezeigt, wie verschieden
und unklar die Anschauungen der Psychologen bezüglich der
Thatsache der Hemmungen im psychischen Leben sind und
wie schliesslich diese Bezeichnung für alle möglichen Formen
von psychischem Conflict, Schwanken und Stillstand gebraucht
wird; dabei gibt er der Ansicht Ausdruck, dass der Hemmungs¬
mechanismus im Gebiete der Psycho-Physiologie aufzu¬
weisen wäre.
Dass ein solcher Nachweis im Wesentlichen noch aus¬
steht, mag zum Theile in der Complicirtheit der gerade auf
diesem Gebiete in Betracht kommenden Erscheinungen ge¬
legen sein ; so macht zum Beispiel Lauder-ßru nton
(West-Riding Asylum Rep., IV, 1874, pag. 179) dessen Dar¬
stellung noch 1889 von Bro wn-Sequardals die beste auf
dem Gebiete der Lehre von der Hemmung bezeichnet wird,
wohl ausgiebigen Gebrauch von der Lehre über die Hemmungs¬
mechanismen, um psychische Vorgänge zu erklären, aber an irgend
welchem Nachweise für das Vorkommen inhibitoriseher Centren
in den dabei in Betracht kommenden Gebieten mangelt es gänzlich.
Eine Aussicht, mit Erfolg auf Grund exacter Thatsachen
jenes Dunkel zu lichten, eröffnete sich erst von dem Zeit¬
punkte ab, als man in das Studium der psycko-physiologischen
Erscheinungen des Sprachmechanismus und speciell seiner
824
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 37
psychischen Componenten eintrat und der Zweck meines
heutigen Referates ist auf den Hinweis gerichtet, dass wir auf
diesem Gebiete in der That einen solchen Ilemmungsmechanismus
schon kennen.
Die Versuche, auch auf diesem beschränkten Gebiete
Theorien, wie die zuvor besprochenen, zu verwerthen, gehen
auf die geistvollen und in der That grundlegenden Arbeiten
H. Jackson’s zurück, der bemüht war, im Rahmen der von
ihm ausgearbeiteten Lehre von der Evolution und Dissolution
auch die Lehre von den Aphasien zu subsumiren und diese
Störungen aus einem Systeme von flemmungsmechanismen
und deren Erkrankung zu erklären. Doch hat es auch nicht
an Versuchen Anderer gefehlt, Hemmungsvorgänge für ein¬
zelne Erscheinungen in der Lehre von der Aphasie verant¬
wortlich zu machen; zunächst wäre zu erwähnen, weil offenbar
direct mit der hier discutirten Erscheinung im Zusammenhänge
stehend, eine Aeusserung Baillar ge r’s, die II. Jackson
selbst schon im Jahre 1866 citirt, ohne deren Provenienz
genauer feststellen zu können1); auch ß rown-Sequard
soll nach einer Angabe von Bateman (On Aphasia. 1890.
2'1 ed., pag. 357) sich geäussert haben, dass auch bei der
Aphasie Hemmungen eine Rolle spielen.
Die Erörterungen, die ich im Folgenden zur Darstellung
bringe, knüpfen an die Arbeiten Wernicke’s und Broad-
b e n t’s, die den Nachweis erbrachten, dass die Function des
Sprachcentrums unter dem regulirenden Einflüsse des links¬
seitigen akustischen Sprachcentrums sich vollziehe, und dass
der Wegfall dieses Einflusses jenen Formen von Sprach¬
störung zu Grunde liege, welche wir seither als Paraphasie
bezeichnen. Auf eine Erörterung dieser hier nur gestreiften
Frage will ich nicht näher eingehen, sondern nur bemerken,
dass diese Ansicht nicht allgemein acceptirt ist, und dass
neuerlich Pitres in einer hervorragenden Arbeit dieselbe
scharf bekämpft.
Die Beobachtung einschlägiger Fälle zeigte jedoch sehr
bald, dass eine Läsion jener Gegend im Allgemeinen nicht
blos zu der erwähnten Störung führt, sondern daneben häufig
noch eine andere Erscheinung auftritt, die ihrer ganzen Artung
nach am Besten als die Wirkung des Fortfalles einer Hemmung
gedeutet werden kann. Bei genauerem Studium solcher Fälle
hat sich nämlich gezeigt, dass nach Läsion der Gegend des
linken akustischen Sprachcentrums der dabei meist paraphasisch
arbeitende motorische Sprachmechanismus, in manchen Fällen
unmittelbar vom Zeitpunkte der Läsion einsetzend, kaum
einer Hemmung zugänglich, einen Zustand von scheinbar
überreizter Function durch längere Zeit zeigt oder bei irgend
welchem, namentlich aber bei akustischem Anreiz immer
wieder in der gleichen Weise reagirt; es ist gewiss zum Thcile
auch dieser Erscheinung zuzuschreiben, dass man Kranke
dieser Art bis auf B a i 1 1 a r g e r als psychisch Kranke, als
verwirrt angesehen2) ; doch aber findet sich die Erscheinung
sehr prägnant in einzelnen Krankenbeobachtungen älterer und
neuerer Zeit schon als besonderes Krankheitssymptom be¬
schrieben.
So findet sich schon im vorigen Jahrhunderte die Er¬
scheinung in Krankheitsfällen, die, wie später nachzuweisen sein
wird, hieher gehören, sehr fein beobachtet ; in einer Beob¬
achtung von W. A. Browne aus dem Jahre 1872 (citirt
nach: Bateman, On Aphasia. 2'' ed. 1890, pag. 201) heisst
es, dass die aphasische Kranke »in vollständigem Jargon
stundenlang ununterbrochen fortschwatzte«.
Doch ist es eigentlich Wernicke, der in seiner be¬
kannten Schrift »Ueber den aphasischen Symptomcomplex«
') ^ted. I imes and Gazette. 1866, June 23: »L’analyse des phenomenes
conduit a reconnaitre, dans certains cas de ce genre, que l’iucitation ver¬
bale involontaire persists, mais que l’incitation volontaire est abolie. Quant
a la perversion de la facultd du langage caracte risee
par la prono nciation de mots incoherent« la lesion
consists encore dans la substitution de la parole auto-
matique a 1’ incitation verbale volontaire.«
-) Nur anmerkungsweise will ich liier Veranlassung nehmen, zu be¬
merken, dass die Lehre von der »encephalitischen Verwirrtheit« von diesem
Gesichtspunkte aus einer entschiedenen Kritik bedarf. Vgl.: Freud Zur
Auffassung der Aphasien. 1891, pag. 23 ff.
zuerst auf den darauf basirten Unterschied zwischen motorisch
und sensorisch Aphasischen hingewiesen und später auch eine
Deutung der Erscheinung zu geben versucht hat.
Seither ist die Erscheinung von den verschiedensten
Autoren beschrieben worden und in den classischen Beschrei¬
bungen der sensorischen Aphasie wird die Geschwätzigkeit
der Kranken, der auffällig grosse »virtuelle Wortschatz« der¬
selben hervorgehoben. Eine der besten ist die Schilderung
einer solchen Kranken von Pitres, noch aus der Zeit nach
Ablauf des zweiten Monates, die ich ihrer Prägnanz wegen
hierhersetze; »Si on la laisse eile n’en finit point. C’est un
moulin ä paroles intarissable, un dcoulement a jet continu de
propos desordonnes, de mots entiles, sans rime ni raison, les
uns a la suite des autres.« (Revue de m6d. 1899, pag. 445.
Separatabdruck.)
Wichtig erscheint mir, wenn auch nicht in allen Be¬
schreibungen hervorgehoben, dass man von dem Sprechen des
Kranken den Eindruck eines wie reflectorisch ausgelösten,
nicht gewollten, vielmehr automatisch sich abrollenden Vor¬
ganges bekommt und wenn auch die a p h a s i sc h e n Kranken
darüber keine Auskunft geben können, so werden wir den
Angaben der Kranken in einzelnen Fällen, wo die offenbar
durchaus gleiche Erscheinung nur transitorisch auftritt, ent¬
nehmen, dass es sich dabei thatsächlich um etwas nicht Ge¬
wolltes, ja gegen den Willen des Betroffenen sich Vollziehendes
handelt.
Häufiger noch als der nach Pitres eben geschilderte
Typus ist der zuvor auch schon berührte, dass von jeder von
aussen kommenden, namentlich akustischen Anregung, gle:ch-
falls wie reflectorisch, die typische Logorrhoe ausgelöst wird,
dass sich dieselbe aber nach kurzer Zeit erschöpft, um bei
jeder neuerlichen Erregung wieder in der gleichen Weise
hervorzutreten ; nach meinen bisherigen Beobachtungen und
den Thatsachen der Literatur möchte ich glauben, dass sich
dieser letztere Typus namentlich längere Zeit erhält als der
andere. ••
Mit der Erklärung der so eigenthümlichen Störung
haben sich verschiedene Forscher befasst, vor Allem Wer¬
nicke selbst, der in seinem Lehrbuche der Gehirnkrank¬
heiten, III (1883, pag. 551) von der bei Paralyse vorkommen¬
den von ihm so genannten maniacalischen Form der Aphasie
handelt, die er der Leitungsaphasie an die Seite stellt, »bei
der die einzelnen Worte entstellt werden«, und dieselbe als
Reizerscheinung deutet; ausführlich kommt er jetzt neuerlich
auf die Frage zu sprechen in seinem eben erschienenen
Grundriss der Psychiatrie, 1900, pag. 207, wo er die para-
phasische Logorrhoe der Paralytiker als auf einem lieiz-
zustande des Schläfelappens beruhend erklärt.
An ihn schliesst sich v. Monakow (Gehirnpathologie.
1897, pag. 561) in der modificirten Weise, dass er einen
Reizzustand der Broca’schen Windung als möglich hinstellt,
allerdings nicht ohne dem Ganzen ein Fragezeichen an die
Seite zu setzen.
Diesen stehen nun jene Autoren gegenüber, die die Er¬
scheinung als bedingt durch den Wegfall einer Hemmung er¬
klären zu können glauben.3)
Der Erste, bei dem sich etwas Diesbezügliches findet, ist
wohl Kussmaul (Störungen der Sprache. 1877, pag. 219),
der unter den von ihm als durch ein »geschwächtes Hemmungs¬
vermögen des Geistes« zu erklärenden Erscheinungen auch
den bekannten Fall von Paraphasie von Trousseau er¬
wähnt, wo die Frau den feierlich empfangenen Gast mit den
Worten »Cochon! animal!« begrüsst. Noch viel deutlicher tritt
der gleiche Gedanke bei Kussmaul "(1. c., pag. 152) in der
Besprechung eines Falles von Cor nil (Gaz. med. de Paris.
1864, pag. 534 ff.) hervor, dessen hiehergehörige Erscheinung
Kuss maul als aphatisches Stottern bezeichnete; als patho-
•*) Unter diesen wäre mehr historisch zu erwähnen R. B. Mitchell
(J. of m. sc., April 1884, Vol. XXX, pag. 84), der von einem Maniacus
eine von ihm als Aphasie aufgefasste Sprachstörung berichtet, als deren
Grundlage er den Functionsausfall hemmender Centren ansieht; doch tritt
der aphasische Charakter der Störung zu wenig deutlich hervor, auch
fehlen irgendwie deutliche Zeichen, die die Annahme einer umschriebenen
Läsion des cerebralen Sprachmechanismus sichern würden.
Nr. 37
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
825
logische Grundlage desselben fand sich nun ein Erweichungsherd
beiläufig in der Gegend des linken unteren Scheitelläppchens,
und Kussmaul will den Fall so deuten, »dass die entzünd¬
liche Reizung eines hinteren Rindentheiles störend und
hemmend auf die motorische Coordination der vorderen
Regionen zurückgewirkt habe« ; es ist gewiss nicht zu viel
gesagt, wenn wir in diesem Satze die Grundlagen unserer
jetzigen Auffassung, sowohl in pathogenetischer wie localisa-
torischer Richtung vorgebildet sehen.
Unter denjenigen, die sich in der gleichen Weise, aber
speciell über unser Symptom äussern, ist nun zu nennen
Collins (The genesis and dissolution of the faculty of
Speech. 1898, pag. 220), der ziemlich eingehend unsere Er¬
scheinung bespricht und nicht unzutreffend das Verhalten des
Sprachmechanismus dabei dem einer abschnurrenden Maschine
vergleicht, deren Dampfklappe durch einen Zufall geöffnet
wird und die nun bis zur Erschöpfung des Dampfes unauf¬
haltsam weiterarbeitet. Im Weiteren erklärt er die Erscheinung
folgendermassen (pag. 221) : »From the beginning of the person’s
ability to speak this centre has exercised the influence of a
director-general over the articulatory speech-centre, inhibitory
and excitatory. Now this influence is taken away and the
result is that all the inhibitory influence is destroyed by
one blow.«
Dieser Auffassung4) glaube ich mich nun im Wesent¬
lichen anschliessen zu müssen, indem auch ich der Ansicht
bin, dass die Erscheinung durch die Ausschaltung oder das
Versagen eines in der Norm wirksamen Hemmungsmechanis¬
mus zu Stande kommt, der im Schläfelappen seinen Sitz hat
und mit dem acustischen Sprachcentrum, vielleicht jedoch nur
theilweise, zusammenfällt. Die Hauptargumente, welche mir
gegen die Reiztheorie zu sprechen scheinen, sind folgende:
Zunächst ist bezüglich der Annahme eines die Broca’sche
Windung betreffenden Reizmomentes zu sagen, dass niemals
etwas Aehnliches zur Beobachtung gekommen in Fällen von aus¬
schliesslicher Läsion dieser Windung, auch nichtin Fällen, die, wie
Tumoren, vor Allen zu Reizsymptomen Veranlassung geben;
ja so weit ich die Literatur überblicke, genügt in solchen Fällen
nicht einmal die M i t betheiligung des Schläfelappens, um die
in Rede stehende Erscheinung hervorzurufen, vielmehr ist, wie
ja Wernicke zuerst hervorgehoben, in derselben, allgemein
gesprochen, ein Schläfelappensymptom zu sehen, das in der
That auch dann nicht zur Beobachtung kommt, wenn die
B r o c a’sche Stelle, wäre es auch nur theilweise, an dem
Krankheitsprocesse mitbetheiligt ist. Gegen die Theorie von
einer die Broca’sche Windung treffenden Reizwirkung
spricht aber weiter auch noch, dass bei ausschliesslicher Be¬
schränkung der Erkrankung auf den Schläfelappen es sich
niemals um Affectionen handelte, die etwa die Annahme einer
reizenden Fernwirkung auf die Broca’sche Stelle zuliessen ;
vielmehr kommt, wie alsbald noch des Näheren zu erörtern,
die Erscheinung dann am schönsten zur Beobachtung, wenn
es sich um Affectionen handelt, deren Fern Wirkungen
möglichst auf ein Minimum beschränkt bleiben, von denen
man annehmen kann, dass durch dieselben die Functionen des
Schläfelappens allein möglichst rein ausgeschaltet erscheinen.
Aber auch die von W e r n i c k e gemachte Annahme
einer auf den Schläfelappen beschränkten Reizwirkung halte
ich für ausgeschlossen; Alles, was man klinisch in Betreff der
Erscheinungen einer solchen weiss, geht in der Richtung von
Hallucinationen des Gehörs, Geruchs und Geschmacks und,
ohne in eine detaillirte Besprechung der einschlägigen Literatur
einzugehen, möchte ich auf einen eigenen Fall hinweisen, in
welchem im ersten, auch durch andere Reizerscheinungen
charakterisirten Stadium Gehörskallucinationen auftraten,
während später, nach dem Abklingen der Reizerscheinungen
und zu einer Zeit, wo Lähmung anzunehmen war, Erschei¬
nungen von Echolalie auftraten; diese ist aber, wie ich später
ausführen will, als eine modificirte Form des in Folge Aus¬
falles der Hemmungswirkung des Schläfelappens zu Stande
4) Auch Freud’s (Zur Auffassung der Aphasien. 1891, pag. 24)
Auflassung der Erscheinung »Wortverarmung bei reichlichen Sprach-
i m p u 1 s e n« scheint mehr nach dieser Richtung zu tendiren.
kommenden Sprachreflexes anzusehen ; gegen die Annahme
eines Reizzustandes spricht weiter, dass man die Erscheinung
niemals bei entsprechend localisirten Hirntumoren beobachtet
und, wenn gelegentlich etwas Entsprechendes, etwa Echolalie,
zur Beobachtung kam, sich nachweisen liess, dass dies dem
Stadium der Lähmung entspreche.
Für die von mir vertretene Anschauung, dass es sich
um den Ausfall einer vom Schläfelappen ausgehenden Hemmungs¬
wirkung bandelt ’), lassen sich verschiedene Momente anführen;
zunächst spricht dafür die Form, unter der die Erscheinungen
auftreten, die Pitres und Collins sehr gut geschildert;
weiter, dass die Erscheinung besonders bei Erweichungen ein-
tritt, in Fällen mit geringen Fernwirkungen, wo, offenbar
möglichst rein, neben anderen Herdsymptomen auch der
Hemmungsmechanismus zerstört, oder mehr oder weniger
geschädigt ist; und dem entspricht es, dass Blutungsherde mit
ihren intensiven Seitenwirkungen die Erscheinung häufig ver¬
missen lassen; dafür sprechen auch Fälle von auf die betref¬
fende Gegend beschränkten Schädeltraumen, in denen unmittel¬
bar nach Lüftung der comprimirenden Knochenfragmente die
Erscheinung plötzlich auftritt. Dass die paraphasische Logorrhoe
der Paralytiker endlich sich der hier vertretenen Deutung
gleichfalls anpassen lässt, unterliegt schon deshalb keinem
Zweifel, weil die den einzelnen Erscheinungen zu Grunde
liegenden tunctionellen Processe bei der geringen Einsicht, die
wir in die anatomischen Grundlagen derselben bei der Paralyse
gegenwärtig noch haben, auch als Ausfallserscheinungen ge¬
deutet werden können; ich halte diese Deutung für umso
plausibler, als auch für die Paralyse (ich erinnere an einen
von mir veröffentlichten Fall), als die typische Reaction des
akustischen Sprachcentrums auf Reizzustände, Hallucinationen
nachgewiesen sind. Natürlich wird sich trotz der hier gegebenen
Aufklärungen nicht immer sagen lassen, worin es begründet
ist, dass die Erscheinung manchmal auftritt, manchmal wieder
nicht; aber zur Ergänzung des bisher dazu Beigebrachten wäre
doch noch darauf hinzuweisen, dass auch die Art des Einsetzens
der Läsion eine Rolle spielt, dass es dazu eines raschen Ein¬
setzens bedarf, wie ja auch Hughlings Jackson schon
hervorgehoben, dass der zeitliche Verlauf der Aufhebung
eines Hemmungsmechanismus von enormer Bedeutung für die
Form der Störung ist.*5 *)
Dass die acute, z. B. die durch Embolie erfolgte Ver-
schliessung der Art. fossae Sylvii auch in der Richtung der
motorischen Reizerscheinungen ganz anders wirkt, als die
langsam erfolgende Thrombose derselben, ist seit Langem
bekannt.
Ueberblickt man das Gebiet analoger Erscheinungen, so
ergibt sich, dass von dem jetzt gewonnenen Standpunkte aus
auch diese unserem Verständnisse näher zu bringen sind. So
beobachtet man gelegentlich während des Petit mal kurz
dauernde Anfälle paraphasischer Logorrhoe; diese werden uns
verständlich, wenn wir mit Hughlings Jackson annehmen,
dass, neben der allgemeinen, eine local auf den Schläfelappen
beschränkte Dissolution auftreten kann, als deren Ausdruck
die reflectorisch sieh abwickelnde Logorrhoe hervortritt, oder,
um in der Sprache dieses Autors zu sprechen, an die Stelle
der willkürlichen die automatische Function tritt. 7) (Vgl,
5) Es fehlt nicht an physiologischen Analogien zu derselben; so
könnte man, in der Sprache der G o 1 1 z’schen Schule zu sprechen, sagen,
das Individuum ist wieder auf jene Stufe zurückgegangen, die dem Falle
entspricht, wo die Stimmenäusserungen des entgrosshirnten Thieres wohl
noch als Antwort auf bestimmte sensible Reize, aber nicht als Ausdrucks¬
bewegungen zu bezeichnen sind. (Vgl.: Schrader, Ueber die Stellung
des Grosshirns im Reflexmechanismus des Centralnervensystems der Wirbel-
thiere. Archiv für experimentelle Pathologie. Bd. XXIX, pag. 189.)
Brain (II, pag. 344) kommt zu dem Schlüsse: »The more rapid
the dissolution the more excitable are the nervous arrangements for those
process.« Nur anmerkungsweise will ich noch bemerken, dass vielleicht
auch der Umstand, ob der von der Störung Betroffene etwa in die Kategorie
der Auditifs gehört oder nicht, bei der Form, in der die Störung auftritt,
eine Rolle spielen könnte.
7) Wie ja H. Jackson (Journ. of mental science. April 1897,
Repr. pag. 21) die Bewegungserscheinungen nach Petit mal als bedingt
durch den Ausfall höherer hemmender Centren ansieht und interessanter
Weise direct mit der in Folge Durchschneidung des \agus gesteigerten
Pulsfrequenz analogisirt.
82 1;
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 37
dazu auch meine Beobachtungen über die Reevolution, speciell
im Gebiete des Schläfelappens nach epileptischen Anfällen.
Archiv für Psychiatrie.)
Eine zweite Erscheinung, die durch den hier festgehaltenen
Standpunkt unserem Verständnisse näher gebracht wird, ist
die der Echolalie. Ohne eingehend dieses, ein Referat für sich
beanspruchende, überdies noch recht dunkle Gebiet zu be¬
leuchten. will ich nur darauf hinweisen, dass die schwere Form
derselben sich ihrem ganzen Auftreten nach als ein Sprach-
reflex darstellt, der unter ähnlichen Bedingungen zu Stande
kommt, wie wir es für die paraphasische Logorrhoe erörtert
haben; also namentlich dann, wenn die Function des linken
akustischen Sprachcentrums oder dessen Umgebung ausge¬
schaltet ist, oder wenigstens in seiner Function darnieder¬
liegt. 8) Ich verweise zur Stütze dieser Anschauung namentlich
auf die schon citirte Arbeit über die Reevolution nach epilepti¬
schen Anfällen und meine in meinen »Beiträge zur Pathologie
und pathologischen Anatomie des Centralnervensystems« zu¬
sammengefassten Studien über die verschiedenen Grade des
gestörten Sprachverständnisses, wie sie den verschiedenen
Formen der Worttaubheit zukommen. An der früher citirten
Stelle spricht sich Collins dahin aus, dass die Echolalie eine
spätere Phase in der Dissolution der Function des Schläfe¬
lappens ist, die er mit der paraphasischen Logorrhoe beginnen
lässt; ich kann ihm darin nicht zustimmen, und zwar auf
Grund der klinischen Thatsache, dass es Fälle gibt, wo von
vorneherein die Echolalie die durch Läsion des Schläfelappens
zu Stande kommende formale Störung des Sprechvorganges
ist, und die Logorrhoe niemals zur Beobachtung kommt; worin
diese Differenzen begründet sind, darüber wird sich vorläufig
noch kein Aufschluss geben lassen.
Es ist hier vielleicht der Platz, auch der Frage zu ge¬
denken, ob, wie das im Titel des Referates sich ausprägt, die
Hemmungsfunction mit der eigentlichen Function des akusti¬
schen Sprachcentrums zusammenfällt; man wird vorläufig nicht
umhin können, dieser Annahme zuzustimmen, obzwar ver¬
schiedene im Referate hervorgetretene und nicht erst einge¬
hender zu discutirende Momente dafür zu sprechen scheinen,
dass es sich vielleicht doch nur um ein räumlich partielles
Zusammenfallen der beiden Functionen handeln mag; keiner
dieser beiden Möglichkeiten stehen anatomische oder physio¬
logische Bedenken entgegen.
Man wird allerdings der hier versuchten Deutung der
Echolalie als Afunction des Schläfelappens die Thatsache der
Echolalie und Echokinesie bei verschiedenen Chorea- und Tic¬
formen entgegenhalten; allein ganz abgesehen davon, dass ich
der Ansicht bin, dass die Chorea derzeit wenigstens noch ein
grosses Sammelbecken ist, in das alles Mögliche zusammen¬
geworfen wird, will ich nur daran erinnern, dass gewichtige
Stimmen der Ansicht huldigen, dass viele, ja vielleicht alle
Erscheinungen derjenigen Choreaformen, die mit Echolalie ver¬
bunden sind, nicht als Reiz-, sondern als durch Wegfall von
Hemmungen bedingte Erscheinungen zu deuten sind. 9)
Ich möchte weiter auf einzelne Beobachtungen von para-
phasischer Logorrhoe im Gefolge einer Hemicrania concomitata
hinweisen, die gleichfalls sich besser der hier gegebenen
Deutung unterwerfen lassen, und schliesslich auf eigenthüm-
liche seltene Störungen hinweisen, wo bei anscheinend leicht
getrübtem Bewusstsein in Zuständen schwerer Ueberarbeitung
es zu Anfällen kommt, bei denen die hier besprochene Er¬
scheinung im Vordergründe des ganzen Zustandsbildes steht.
s) I» typischen Fällen jener schweren Form, wo die echolalischen
Aeusserungen Schlag auf Schlag dem Gehörten folgen, drängt Alles zur
Annahme eines die h unction des motorischen Sprachcentrums auslösenden
Reflexes. (Vgl. : Wernicke, Grundriss der Psychiatrie. 1900, pag. 481.)
l>ie Ansicht Ziehen’s (Ebsteins Handbuch der praktischen Medicin.
W J,ag- 18), dass die Echolalie ein Reizsymptom sei, kann ich nicht
theileu. Bezüglich der Formen derselben darf ich auf meine früheren Arbeiten
verweisen.
9) Dazu ist es historisch interessant, dass, wie Bateman (1. c.
pag. 202) berichtet, ein anonymer, offenbar hervorragender Arzt in einer
Besprechung von B a t e m a n’s Buch im »Spectator« , 3. June 1871, pag. 667,
die Paraphasie mit der Chorea analogisirt und ausführt in beiden Fällen:
»The failure was solely in the proper nervous control over certain
muscles.«
Der prägnanteste ist der von Gairdner berichtete, den
dieser Autor selbst schon als bedingt durch Wegfall von
Hemmungen zu deuten geneigt ist, und den wir jetzt im
Lichte unserer Kenntniss von der sensorischen Aphasie nicht
anders denn als paraphasische Logorrhoe bezeichnen können;
Gairdner (citirt nach: B a t e m a n. On Aphasia. 2d cd., 1890,
pag. 203) berichtet von sich selbst, dass er einmal nach an¬
strengender Thätigkeit beim Durchschreiten seiner Abtheilung
die Herrschaft über seine Zunge verlor und beobachtete, wie
er Unsinn sprach; er wusste, dass es Unsinn war und war
doch ausser Stande, es zu hemmen, musste vielmehr den Unsinn
aussprechen; gleichzeitig damit fühlte er Schwindelgefühle,
aber nach kurzer Ruhe erlangte er wieder die Herrschaft über
sich und das Symptom trat nie wieder auf. (Gairdner
erwähnt auch den Fall eines schottischen Friedensrichters, der
anfallsweise fühlte, dass er absoluten Unsinn sprechen musste.)
Alle Umstände sprechen im Falle G ai r d n e r dafür, dass
es sich um Schwächeerscheinungon, nicht um solche der
Reizung gehandelt und demnach auch diese Fälle unserei
Deutung sich anpassen, wobei es erwähnenswerth ist, dass der
bei dieser Gelegenheit von Gairdner citirte Chey ne (Essays
on partial derangement of the mind. 1843) die Frage der Zu¬
gehörigkeit ähnlicher Erscheinungen zur Epilepsie erwähnt.
Die letztangeführten Beispiele, die sich noch nach
mancher Richtung hin vermehren Hessen, werden genügen, um
die Uebergänge aufzuweisen, die von der hier besprochenen
Erscheinung ins Gebiet der reinen Psychopathologie hinüber¬
führen; die Nutzanwendung auf diesem Gebiete selbst möge
noch Nachstehendes illustriren: Ein Paranoischer, jetzt mit aus¬
gesprochen persecutorischem Wahnsystem und andauernden
Gehörshallucinationen, berichtet selbst aus dem lebhafteren
Anfangsstadium, dass er eines Tages plötzlich, ohne Möglich¬
keit eines Widerstandes, durch etwa eine halbe Stunde lang-
gezwungen war, Alles, was sein Begleiter that, bis ins Detail
nachzuahmen und dass er einige Stunden später, gleichfalls
unter einem unwiderstehlichen Zwange, durch längere Zeit
Allerlei sprechen musste, das nicht etwa sinnlos war, oder
(wie das Examen zeigt) einer Verbigeration entsprach, sondern
Aeusserungen darstellte, die intime Lebensdetails betrafen und
die er normaler Weise niemals zu äussern Veranlassung
genommen hätte. Es ist leicht ersichtlich, dass es sich im
ersten Falle um einen Wegfall von allgemeinen Hemmungen
handelt, in Folge deren es zu Echokinesie kam, während im
zweiten Falle der Wegfall der Hemmungswirkung des akusti¬
schen Sprachcentrums zu dem zwangsartigen Sprechen führte ;
dass dieses, im Gegensätze zur gleichen Erscheinung bei der
Paraphasie, nicht den Charakter dieser hatte, liegt offenbar
daran, dass nur die Hemmungswirkung, nicht aber die die
Form des Sprechens regulirende Function des akustischen
Sprachcentrums weggefallen war; dass etwas Aehnliches auch
bei grober Herdaffection Vorkommen kann, zeigt der Fall von
Beck (Beiträge zur Chirurgie des Gehirns. Beiträge zur
Chirurgie. XII, Heft 1, pag. 19), wo von einem Falle von
Schläfeabscess berichtet wird: Der Kranke . . . zeigte einen
stumpfen, apathischen Gesichtsausdruck; beständig sprach er
nur mit monotoner Stimme von seiner Absicht, fortzugehen
und fortzuschaffen. Auf Fragen oder Anrufen reagirt er nicht
oder gibt nur zur Antwort: »Wir wollen hinausgehen und
äusserst schaffen.«
Ich erinnere weiter an das so häufige Auftreten von
Echolalie in der auf Erschöpfung basirten Amentia.
Ich komme damit zum Ausgangspunkt meines Referates
zurück. Nachdem zuerst PI. Jackson in vielfachen Darstel¬
lungen die Möglichkeit, auch die psychopathologischen Er¬
scheinungen aus einem Systeme von Hemmungserscheinungen
zu erklären, nicht blos theoretisch erörtert, sondern auch
praktische Winke nach dieser Richtung hin gegeben, fand
sein Beispiel mehrfach, namentlich in England, Nachahmung,
und so hat Wiggleworth (Journ. of med. sc., June 1884)
z. B. versucht, die Erscheinungen der Manie theoretisch in
dieser Weise zu erklären, während M e r c i e r in seinem Buche
»Sanity and Insanity«, das in breiterer Weise für das ganze
Gebiet durchzuführen versucht; aber allen diesen Versuchen
Nr. 37
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
827
fehlte doch der gesicherte, ich möchte sagen, der an einer ein¬
zelnen Erscheinung greifbare Nachweis vom Vorhandensein
eines solchen Hemmungsmechanismus auf psycho-physiologi-
schem Gebiete; in der hier von mir besprochenen Erscheinung
scheint mir nun ein solcher, respective seine Störung vorzu¬
liegen und darin glaube ich die principielle Bedeutung der¬
selben erblicken zu dürfen; das soll auch die Entschuldigung
dafür sein, dass ich mir erlaubt habe, einer so illustren Ver¬
sammlung ’ einen scheinbar so geringfügigen Ausschnitt aus
der grossen Lehre von den Aphasien zur Discussion vor¬
zulegen.
Der gegenwärtige Stand der Radiotherapie.
Von Universitätsdocent Dr. E. Schiff und Dr. L. Freund in Wien.
(Nach einem auf dem XIII. internationalen dermatologischen Congresse in
Paris gehaltenen Vortrage.)
Es ist wohlbekannt, dass das specifische Verhalten der
Haut gegenüber der Rö n t g e n -Bestrahlung zur Behandlung
einer Reihe von Dermatosen herangezogen wurde, und zwar
mit Erfolg, wie von einigen der competentesten Autoritäten
auf dem Gebiete der Dermatologie (Kaposi, Neumann,
Lassa r, Neisser, Jadassohn u. A.) zugegeben und an¬
erkannt wurde. Wir glauben uns keiner Unbescheidenheit
schuldig zu machen, wenn wir bei dieser Gelegenheit darauf
hinweisen, dass wir es waren, die zuerst diesbezügliche thera=
peutische Versuche angestellt und publicirt haben; wir fühlen
uns zu diesem Hinweise hauptsächlich aus dem Grunde be-
müssigt, weil wir zu unserem Bedauern wiederholt die Be¬
obachtung gemacht haben, dass sowohl Collegen, welche sich
mit diesem Gegenstände klinisch und experimentell beschäftigen
und daher gewiss auch die diesbezügliche Fachliteratur be¬
herrschen, als auch Jene, welche eine blos referirende Stellung
zu diesem Gegenstände einnehmen und daher verpflichtet sind,
diese Literatur zu kennen, zu unserem Nachtheil der histori¬
schen Wahrheit nicht die gebührende Ehre erweisen.1) Wir
erwarten von unseren Collegen dieselbe Gerechtigkeit, die wir
ihren Arbeiten zu Theil werden lassen und begnügen uns
vorläufig mit dieser kurzen Parenthese.
Um nun zu dem eigentlichen Gegenstände unseres Vor¬
trages überzugehen, wollen wir die gegenwärtig feststehenden
Thatsachen, die sich aus der mehrjährigen Anwendung der
Radiotherapie ergeben haben, in Folgendem zusammenfassen:
1. Die Hauptindicationen für die Anwendung der Radio¬
therapie sind Hautaffectionen und bei diesen insbesonders:
a) durch Parasiten hervorgebrachte Dermatosen, bei denen,
wie S chiff zuerst am Lupus vulg. gezeigt hat, die Bestrahlung
einen besonders günstigen Einfluss ausübt;
b) nach Freund Hautaffectionen, bei denen die Entfernung
von Haaren ein wesentliches Moment für die Heilung darstellt.
Als besondere Indication stellen wir jene zum Theil in
gewissen Ländern endemischen parasitären Affectionen der be¬
haarten Kopfhaut (Favus, Trichophyton, Ringworm, Teignes,
Pelades etc.), welche bisher gegen jeden therapeutischen Ein¬
griff sich ungemein hartnäckig verhielten und bei denen die
') So sagt beispielsweise Herr Docent Dr. Karl Ullmann in
einem compilirenden Vortrage über Lichtbehandlung, welchen er auf einem
Balneologen-Congresse gehalten und welcher den Anspruch erhebt, das
ärztliche Publicum über diesen Gegenstand erschöpfend zu informiren, unter
Anderem Folgendes: »Noch bevor irgend Jemand in Wien die Röntgen-
Therapie für diese Art von Affectionen (Sykosis und Favus) und, von diesen
Principien geleitet, angewendet hatte, bin ich öffentlich für die Zweck¬
mässigkeit derselben gerade auf diesem Gebiete eingetreten.« (Wiener
medicinische Presse. 1900, Nr. 21.) Diese Behauptung des Herrn Dr. U 1 1-
mann beruht offenbar auf einem Irrthum oder einer Verwechslung,
denn nicht nur gelegentlich von Demonstrationen in der Wiener dermato¬
logischen Gesellschaft, in der k. k. Gesellschaft der Aerzte, im Wiener
medicinisclien Doctoren-Collegium haben wir auf diese, nachdem die
Epilation doch festge3tellt war, eigentlich selbstverständliche Indication
hingewiesen, wir haben sie sogar in unseren Arbeiten (Wiener medicinische
Wochenschrift. 1897, Nr. 19; Internationaler medicinischer Congress. Moskau
1897; siehe: Zarubin, Monatshefte für praktische Dermatologie. 1899,
Nr. 10; Wiener medicinische Wochenschrift. 1898, Nr. 22 — 24) ausdrück¬
lich präcisirt. — Wir citiren das nur als kleines Beispiel aus der grossen
Reihe derartiger Berichte für unsere vorhin aufgestellte Behauptung.
Radiotherapie durch den ausserordentlich raschen und gründ¬
lichen Erfolg sich besonders bewährt hat.
2. Demzufolge stellen sich die Indicationen speciell für
folgende Krankheiten:
a) Lupus vulgaris, Mykosen der Haut etc.;
b) Hypertrichosis, Sykosis, Favus, Folliculitis, F urunculosis,
Akne etc.;
c) Lupus erythematodes.
3. Die an einem reichen klinischen Kranken materiale
gesammelten Erfahrungen lassen nunmehr eine erfolgreiche,
radicale Behandlung der genannten Affectionen als vollkommen
gesichert erscheinen. Die Therapie der Sykosis und des Favus
ist eine kurze und beansprucht höchstens einige Wochen, die
der Hypertrichosis erfordert zumindest 1 1/2 Jahre einer
systematischen, in Haupt- und Nachbehandlungen geschiedenen
Therapie. Die Dauer der Behandlung des Lupus ist von dessen
Ausdehnung abhängig.
4. Durch die von uns zuerst bestimmte und angegebene
entsprechende Dosirung lässt sich bei den genannten Affectionen
mit fast absoluter Sicherheit das gewünschte Resultat erzielen.
Die Methode, welche wir in Dr. Schiffs Institut für
Radiographie und Radiotherapie in Wien erprobten, und
welche sich uns an unserem Krankenmateriale bewährte,
besteht darin, dass wir, nachdem wir durch eine probe¬
weise Bestrahlung eine eventuell vorhandene Idiosynkrasie,
respective abnorme Reactionsfähigkeit der Haut aussehliessen
konnten, die betreffenden Kranken täglich in der Dauer
von fünf bis zwanzig Minuten steigend in einem Röhren¬
abstande von 5 cm exponiren und hiebei gesunde Partien durch
Bleimasken schützen. Der Primärstrom des Inductors hat
1 — 1»/,, Ampere 12 Volts und zeigt 16 Unterbrechungen pro
Secunde. Als geringfügige Nebenwirkungen einer lange fort¬
gesetzten Bestrahlung haben wir zuweilen kleine, weisse, punkt¬
förmige atrophische Depressionen in der den Follikelmündungen
entsprechenden Haut, dann Pigmentationen und Conjunctivitiden
beobachtet. Wir betonen jedoch ausdrücklich, dass wir durch
stricte Einhaltung der oben angeführten Anordnungen stets
in der Lage waren, jede auffällige entzündliche Reaction zu
vermeiden.
5. Nach den bisherigen Untersuchungen und Erfahrungen
lässt sich ein grosser Theil der unter dem Einflüsse der
Röntgen-Bestrahlung auftretenden Hautveränderungen wesent¬
lich auf den Einfluss der letzteren auf die Hautgefässe zurück¬
führen, wie dies zuerst von Kaposi auf Grund der klinischen
Thatsachen vorausgesetzt wurde.
6. Nach den neuesten im pathologisch - anatomischen
Institute des Herrn Hofrathes Prof. W e i c h s e 1 b a u m und
in Dr. E. Schiffs Institut für Radiographie und Radio¬
therapie in Wien von Freund angestellten Untersuchungen
unterliegt es keinem Zweifel, dass bei der Behandlung von
Hautaffectionen mit der Röntgen- Bestrahlung die stillen
Entladungen der an der R ö n t g e n - Röhre angesammelten
Spannungselektricität eine wichtige Rolle spielen.
Freund prüfte das physiologische Verhalten der directen
Funkenschläge, der stillen Entladungen und anderer unsicht¬
baren Strahlungen, und kam auf Grund eines umfänglichen
(in den Sitzungsberichten der kaiserlichen Akademie der
Wissenschaften publicirten) Versuchsmateriales zu folgenden
Ergebnissen:
1. Dir ecte Funken Schläge, gl e i ch g i 1 1 i g, wie
sie entstehen, ob als directe Polentladungen des
Funkeninductors, oder als Effluvien des d Arson-
val-Oudin’schen Apparates können beim T h i e r e
Haarausfall zu Wege bringen.
2. Directe Funkenschläge sind im Stande,
Aussaaten und bereits entwickelte Culturen
pathogener B a c t e r i e n in der weiteren Entwick¬
lung zu hemmen, respective abzutödten.
3. Diese Wirkung der directen Funken¬
schläge wird durch V er wen du n g einer Ei fl¬
ab lei tu ng vom exponirten Objecte, einer ver¬
längerten Exposition, eines geringeren Elek-
tr'ode nabstandes, einer schnelleren U n t e i -
828
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 37
brechung des den Secundärstrom inducirenden
Primär Stromes und durch Steigerung der In¬
tensität des letzteren erhöht.
4. Die besagte Wirkung äussert sich auch
durch dünne Schichten von Holz, Papier, Alu¬
minium, Stanniol und menschlicher Haut hin¬
durch.
5. Sie erstreckt sich auch auf Mikroorga¬
nismen, welche in Flüssigkeiten suspendirtsind.
6. Die physiologische Wirkung der nega¬
tiven Funkenentladungen ist intensiver, als
jene der positiven, hingegen erstreckt sie sich
auf ein kleineres räumliches Gebiet als die der
letzteren.
7. Da di recte Funken sch läge praktisch zu
Heilzwecken nicht anwendbar sind, const ruirte
Freund einen, wie es scheint, zweckmässigen
Apparat zur Dispersion derselben in stille Ent¬
ladungen, und fand auf diese Weise, dass die
dunklen Entladungen eine Erscheinungsform
der Funkenentladung darstellen, durch welche
letztere wohl Einiges von der Intensität ihrer
physiologischen Wirkung einbüssen, durch
welche jedoch manche unerwünschte Nachtheile
der d i r e c t e n Funkenschläge (z. B. Schmerz) ver¬
meidbar sind. Ihr Wirkungsgebiet ist ein
grösseres, als das der directen Funkenschläge,
ihre Wirkungsart qualitativ dieselbe, wie die
der letzteren.
8. Die Röntgen-Strahlen selbst haben nach
diesen Versuchen keine physiologische Be¬
deutung.
9. Becquerel- und Phosphor escenzstrahlen
äussern gleichfalls keinerlei physiologische
Wirkung.
10. Die durch directe Funkenentladungen in
der Haut hervor gerufenen pathologischen Ver¬
änderungen bestehen in Blutungen in dasCutis-
gewebe, in Entzündung und in einer durch
Vacuolenbildung sich charakterisir enden G e-
fässerkrankung.
Eine neue Therapie hat nur dann eine Existenz¬
berechtigung, wenn sie den Heilungsvorgang auf einen neuen
besseren Weg leitet, als es andere Methoden thaten, oder wenn
sie im Stande ist den gewöhnlichen Heilungsvorgang abzukürzen.
Denn nicht das Neue, Fremdartige oder die Variation dürfen
den Therapeuten veranlassen, unter dem Wüste der einander
gleichwerthigen Mittel und Methoden kritiklos zufällig bald die
eine, bald die andere zu wählen, sondern die verschiedene
Wirkungsart derselben wird ihn befähigen, sie verschiedenen
lndicationen anzupassen und zu individualisiren.
Wenn wir von diesem Gesichtspunkte aus die Röntgen-
Behandlung mit anderen bisher als zuverlässig geltenden
therapeutischen Methoden vergleichen, so kennen wir bei
Sykosis, Favus und anderen entzündlichen oder parasitären
Erkrankungen behaarter Hautpartien keine Therapie, welche
in so kurzer Zeit und so radical ohne jeden Verband und
medicamentöse Behandlung diese Affectionen ambulatorisch zu
beseitigen im Stande wäre, wie die Radiotherapie. Wir machen
auf diesem Congresse, wo wir Gelegenheit haben, vor be¬
rufenen Vertretern unseres Faches aus Gegenden, wo Favus.
Herpes tonsurans und andere parasitäre Erkrankungen des
Haarbodens endemisch herrschen, zu sprechen, dieselben nach-
drücklichst auf diese Therapie aufmerksam und glauben damit
auch ein Mittel angegeben zu haben, diesen Landplagen wirk¬
sam zu begegnen.
Bezüglich der Röntgen- Behandlung des Lupus haben
wir Folgendes zu sagen. Bei streng umschriebenen, zugäng¬
lichen, kleinen Herden halten wir die Exstirpation mit nach¬
folgender Transplantation für die idealste Methode. Es würde
uns nicht einfallen, ein isolirtes Lupusknötchen durch Monate
hindurch zu bestrahlen, um einen allerdings auch so zu er¬
wartenden Heilerfolg zu erreichen, den wir durch Exstirpation
mit nachfolgender Naht oder Transplantation in einigen Tagen
erzielen. Für die R ö n t gen - Therapie kommen nach unserem
Dafürhalten die grossen, ausgebreiteten, tief ulcerösen Processe
in Betracht, welche auf Schleimhäute und auf der Operation nicht
zugängliche Gebilde, Sklera, Cornea, den Gehörgang u. s. w.
übergreifen und als inoperabel gelten. In derartigen Fällen, bei
welchen von der Operation abgesehen werden musste, haben
wir, wie wir zu demonstriren Gelegenheit haben werden, ein
günstiges Resultat erzielt und können, selbst wenn wir nach
kurzer Behandlungsdauer die Kranken noch nicht als definitiv
geheilt ansprechen können, doch sagen, dass wir sie in eine
günstigere Lage gesetzt, bei ihnen die Functionen der be¬
treffenden Organe ermöglicht und eine kosmetisch wesentliche
Besserung erreicht haben.
Es kommen aber noch andere Momente in Betracht.
Viele Patienten scheuen die Operation und den Schmerz. Wir
dürfen nicht übersehen, dass die operative Behandlung meist
eine Narkose erfordert, und zwar eine sehr lang dauernde
Narkose. Abgesehen von der Gefahr, welche jede Narkose an
und für sich darbietet, ladet der Operateur durch eine so
lange durch Stunden protrahirte Narkose eine grosse Ver¬
antwortung auf sich. Es wird überdies von competenten Seiten
zugegeben, dass auch die Exstirpationsmethode keine absolute
Sicherheit bietet, indem mitunter Recidiven am Rande des
ursprünglichen Operationsten-ains, ja sogar innerhalb desselben
oder in anderen disparaten Körperstellen Vorkommen, welche
eine nochmalige Operation nothwendig machen. Auch der
kosmetische Effect ist nicht immer sehr günstig. Die nach der
T h i e r s c h’schen Epidermistransplantation meist auftretenden
Schrumpfungen und narbigen Verziehungen stellen diese Me¬
thode für manche Fälle gewiss nicht als idealste Methode dar.
Wenn es uns auch nicht beifällt, der durch E. L a n g, Urban,
Gersuny und Andere so exact und künstlerisch aus¬
gearbeiteten und wirklich hochbeachtenswerthen operativen
Methode den ihr gebührenden Werth abzusprechen, so müssen
wir doch vor einer allgemeinen schematisirenden, nicht die
Individualität des speciellen Falles berücksichtigenden An¬
wendung warnen. Im Vergleiche hiezu führen wir das un¬
blutige, schmerzlose, tadellose kosmetische Resultate erzielende
R ö nt g e n - Verfahren an, welches, wenn auch sicher nicht
mit der gleichen Präcision und Schnelligkeit arbeitend, doch
ungleich milder und schonender ist, vorhandene gesunde Ge¬
webe unberührt lässt, dabei jede Spitals- und medicamentöse
Behandlung entbehrlich macht, und dadurch auch in morali¬
scher Beziehung in manchen Fällen vorzuziehen sein wird.
Gegenüber der ausgezeichneten aber umständlichen,
langwierigen, ein grosses geübtes Personal und eine umfäng¬
liche maschinelle Einrichtung erfordernden Finsen’schen
Lichtbehandlundlung, ist, wie bereits an verschiedenen Orten
von verschiedenen Seiten angegeben wurde, die Einfachheit
desR ö n t g e n - Verfahrenshervorzuheben ; dann aber als ein nicht
zu übersehender Vorzug, dass man damit von vorneherein
gleich grosse Hautpartien in Angriff nehmen kann zum Unter¬
schiede von der Lichtbehandlung, welche nur im Stande ist,
kleine Bezirke zu beeinflussen.
Hinsichtlich der Behandlung der Hypertrichose käme
natürlich nur die Elektrolyse in Betracht, denn nur von dieser
sind gleichfalls definitive Resultate zu erwarten. Vergleichen wir
aber diese mit den durch die R ö n t ge n - Bestrahlung zu er¬
zielenden, so haben wir bei letzterer nicht die Verunstaltung
der Haut durch Narben und keloidartige Wucherungen zu
fürchten, wie bei jener. Allerdings kommt es bei der Rönt¬
gen-Behandlung, wie oben erwähnt, ebenfalls zur Ausbildung
kleiner atrophischer, auf die Follikelmündungen localisirter
Depressionen der Haut; doch sind diese nur dem scharf
zusehenden, erfahrenen Arzte kenntlich und durchaus nicht
auffällig. Neben diesem Vorzüge kommen aber andere weit
wichtigere in Betracht. Das R ö n tg e n - Verfahren ist schmerz¬
los, setzt keine Entzündungen der Haut und ist deshalb un¬
auffällig. Es befreit die mit einem noch so reichlichen Haar-
wuchse bewachsenen Hautstellen innerhalb weniger Wocher
vollständig von der unerwünschten Zier und bietet daher
schon im Anfänge der Behandlung ein Resultat, welches man
Nr. 37
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
829
bei der Elektrolyse erst nach jahrelanger Mühe erreicht. Die
weitere Behandlung ist eine intermittirende und nimmt den
Patienten nur in gewissen Zeiträumen für wenige Tage in
Anspruch; die elektrolytische Behandlung ist hingegen eine
ununterbrochene. Für kleine behaarte Warzen und Maler ziehen
wir demzufolge die Elektrolyse, für grosse, behaarte Körper¬
stellen aber unbedingt die R ö n t g e n * Behandlung vor.
Ueber allgemeine concentrische Franklinisation
in der ärztlichen Praxis.
Von Prof. Dr. Breitling in Coburg.
Wer sich mit der Anwendung hochgespannter Ströme
auf den Menschen eingehender beschäftigt und die Einwirkung
derselben besonders bei Schlaflosigkeit, Kopfdruck, leichter
Hystero-Epilepsie, Ohrensausen etc. kennen und schätzen gelernt
hat, wird sich der methodischen Anwendung der therapeu¬
tischen Elektrostatik nicht begeben wollen.
Es ist zu beklagen, dass die Verwendung der elektrischen
Influenz in der Therapie durch gänzlich kritiklose Lobhudeleien
und Schwindeleien discreditirt worden ist, dass die Influenz¬
maschine aus der Erinnerung des Arztes beinahe ebenso voll¬
kommen verschwunden ist, wie au3 dem ärztlichen Instru¬
mentarium.
In neuerer Zeit scheint sich ein Umschwung vorzu¬
bereiten, man scheint einzusehen, dass man in der bedingungs¬
losen Verurtheilung der Elekrotberapie das Kind mit dem Bade
ausgeschüttet hat.
Ich habe mir nicht die Aufgabe gestellt, als Vertheidiger
der verkannten Elektrotherapie aufzutreten, dazu fehlt mir die
Zeit und die Neigung, sondern ich möchte nur vom Stand¬
punkte des Praktikers aus die Aufmerksamkeit der Aerzte
auf eine Neuerung lenken, welche vielleicht dem Einen oder
Andern willkommen sein dürfte.
Ich habe immer bedauert, dass bei dem Betrieb einer
Influenzmaschine — ich benütze eine solche von Reiniger,
Gebbert & Schall mit zwei Hartgummischeiben von ganz
vortrefflicher Wirkung nach Winshurst, in entgegen¬
gesetzter Richtung laufend, selbsterregend — in wenig ökono¬
mischer Weise ein grosser Theil der elektrischen Kraft verloren
geht. Diessr Verlust machte sich mir umsomehr empfindlich
bemerkbar, als ich vorzugsweise den positiven elektrischen
Wind verwende, also eine Anwendungsform wähle, welche an
und für sich schon eine ungemein milde ist.
Es tauchte nun in der täglichen Praxis von selbst die
I rage auf, ob es nicht möglich sei, statt der für gewöhnlich
verwendeten Douche vermittelst der Kopfglocke eine Appli-
cationsform zu finden, durch welche der Körper von allen
Seiten influirt werden kann.
Die Firma Reiniger, Gebbert & Schall in Er¬
langen hatte die Güte, auf meine Ideen einzugehen und ein
Receptaculum anzufertigen. Dasselbe besteht aus einem Gestell
von Holzlatten, gross genug, um einen Menschen aufzunehmen
und in demselben stehen oder sitzen zu lassen.
Der Eintritt erfolgt durch eine Thüre, welche nach dem
Eintreten geschlossen wird. Auf den Holzlatten befinden sich
Ebonitstäbe, welche durch Porzellanisolatoren an den Holz¬
stäben befestigt sind. In den Ebonitstäben eingelassen laufen
Metallleisten, aus welchen, da sie mit der Influenzmaschine in
leitender Verbindung stehen, die Elektricität in Form von
Wind ausströmt.
Die Ausströmung erfolgt also concentrisch nach dem in
der Mitte des von mir »Pavillon« benannten Apparates befind¬
lichen Patienten. Man kann sich von dieser Emanation
sehr leicht überzeugen. Schon wenige Minuten nach Einleitung
der monopolaren allgemeinen Elektrisation ist der Patient so
geladen, dass man Funken aus ihm ziehen kann. Setzt man
auf die Nuthen in den Ebonitstäben in Zwischenabständen von
etwa 15 zu 15 cm kleine Spitzen auf, welche sehr leicht auf
die Ebon'tstäbe aufgeklemmt werden können, so erfolgt bei
intensivem Ozongeruch eine im Dunklen deutlich sichtbare
Entwicklung des Büschellichtes.
Um nun neben der allgemeinen concentrisclien Franklini¬
sation noch, was nicht selten wünschenswerth ist, eine be¬
sondere Wirkung auf den Kopf zu erzielen, z. B. bei Kopf¬
druck, Schlaflosigkeit, Angstzuständen, Ohrensausen etc., habe
ich noch eine an einem der Ebonitstäbe gleitende, verstellbare
»Krone« anbringen lassen, welche über dem Kopf eingestellt
wird und von der aus der elektrische Wind intensiver auf den
Scheitel und auf die Stirn einwirkt. Zur Isolirung dient eine
Gummiplatte, auf welcher der Patient in dem »Pavillon« steht
oder auf einem Schemel sitzt.
In der Regel lässt man die Patienten am besten erst
sitzen, da erfahrungsgemäss Nervenkranke das Stehen nicht
gut vertragen hönnen. Erst im Verlauf der Behandlung kann
man unter Constatirung eines Fortschrittes die allgemeine
Franklinisation im Stehen ausführen.
Irgendwelche Unzuträglichkeiten sind hei dem allgemeinen
elektrischen Luftbad nicht zu befürchten, was nicht besagen
soll, d ass nicht ab und zu eine Ohnmacht vorkäme. Wo kommt
eine solche nicht vor! Jedenfalls hat sie mit unserem Verfahren
nichts zu thun.
Bei der grossen Zunahme der nervösen Ermüdungs¬
erscheinungen und der, wenn wir die Neuronlehre Wal-
deyer’s adoptiren, Störungen in den Contacten des Nerven¬
systems möchte ich das allgemeine elektrostatische Luftbad
in dem »Pavillon« nicht nur den Specialisten und Kliniken,
sondern auch den Aerzten recht warm empfehlen. Ich gebe
gern zu, dass die Beschaffung de3 Instrumentariums einige
Anforderungen an die Börse stellt, aber — wer in seinem
Berufe das Beste leisten will, muss auch auf das beste Hand¬
werkzeug halten.
Obwohl ich weLs, dass meine Ansicht keine weit ver¬
breitete ist, nehme ich doch keinen Anstand, es offen auszu¬
sprechen, dass wir in der Therapie mit der Ver-
werthung der hochgespannten Ströme kaum am
Anfang stehen, geschweige denn an den Aus¬
läufern eines abgewirthschafteten naturwissen¬
schaftlichen Capitales.
Mit der Elektrostatik muss man sich praktisch beschäf¬
tigen, sonst lernt man sie nie kennen. Es gibt kaum ein
Gebiet, für welches als beinahe einziges Leitmotiv das Wort
gilt: Probiren geht über Studiren !
Ich habe bereits oben angedeutet, dass ich die Influenz¬
maschine auch verwerthe zur Bekämpfung des Ohrensausens.
Ich habe mir zu diesem Zwecke von Reiniger,
Gebbert & Schall eine Elektrode für den äusseren Gehör¬
gang anfertigen lassen, welche eine ziemlich genaue Regulirung
der Intensität gestattet und jedenfalls das Ueberspringen von
Funken verhindert. Die Elektrode besteht aus einem Metall¬
stift, welcher in einem isolirten Trichter gleitet und so gestellt
werden kann, dass die Spitze des Stiftes mehr oder weniger
innerhalb des Trichters bleibt. Je nach dem Abstand nimmt
die Stärke des elektrischen Windes zu oder ab und das Auf-
prallen des elektrischen mikroskopischen Funkenregens auf das
Trommelfell und die Wände des Gehörganges wird niemals
schmerzhaft empfunden, im Gegentheil, die auftretende Wärme¬
empfindung macht sich sehr angenehm bemerkbar.
Nicht selten macht sich bei Schwerhörigen unmittelbar
nach der Application des elektrischen Windes eine Ver¬
schlechterung der Hörfähigkeit neben der Abnahme des Ohren¬
sausens geltend, die ist indess fast immer nur von ganz kurzer
Dauer; es ist aber zweckmässig, die Kranken von vornherein
darauf aufmerksam zu machen. Diese Verschlechterung der
Hörfähigkeit tritt bekanntlich auch nicht selten nach der Ent¬
fernung alter Ceruminalpfröpfe ein.
Da nun unter den modernen Krankheiten das Ohren¬
sausen, respective subjective Gehörsempfindungen überhaupt
wohl mit in erster Reihe stehen, die Patienten aber vielfach
nicht in der Lage sind, den Arzt behufs einer elektrostatischen
Sitzung aufzusuchen, so habe ich von der oben genannten
Firma eine kleine zweischeibige Influenzmaschine anfertigen und
so einrichten lassen, dass sie eventuell im Koffer zusammengelegt
830
Nr. 37
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
mitgeführt werden kann. Die zwei kleinen Scheiben reichen für
die locale Anwendung des elektrischen Windes im Gehörgang aus.
Der therapeutische Eflect bezieht sich vorzugsweise auf
das nervöse Ohrensausen. Bei Erkrankungen des schallleitenden
Apparates leistet die hochfrequente Erschütterung des Trommel¬
felles und der Adnexa nach meinem Verfahren mehr.
In der Regel verwende ich für das elektrostatische Luft-
bad den positiven Pol, welcher, wie bei der Üontactelektricität,
beruhigend wirkt.
Die Ozonentwicklung verlangt den negativen Pol.
Will man beide Pole verwenden, so leitet man den
einen ( — ) in den Pavillon, den anderen (-[-) an das Stativ
der Kopfglocke und stellt dieselbe so hoch über den Patienten
ein. dass keinesfalls Funken überspringen können.
Die meisten Patienten befinden sich am wohlsten bei der
monopolar-positiven Franklinisation, indessen empfiehlt es
sich manchmal — die Erfahrung lehrt das — , einen Patienten
erst negativ zu laden, dann zu entladen und positiv zu laden.
Wir haben mi der Franklinisation fast ein Reagens für
die Beurtheilung der nervösen Erschöpfungszustände.
Die Neurastheniker sind mit — Elektricität überladen.
Nimmt man sie unter die Glocke und beeinflusst sie mit
Elektricität, so werden sie durch die nochmehrige Zufuhr
von Elektricität unruhig, klagen bald über Unruhe, Unbe¬
hagen, Ucbelkeit und verlangen stürmisch das Abbrechen der
Procedur.
Ganz im Gegentheil wirkt die Anwendung der Kopf¬
glocke mit Anschluss an den — j— Pol der Influenzmaschine be¬
ruhigend, angenehm, müde machend, weil der Ueberschuss der
— Elektricität entfernt wird.
Alle die empirischen Thatsachen harren noch einer
bündigen Erklärung.
Das notorische Uebelbefinden der Neurastheniker vor
einem Gewitter ist nach meiner Anschauung lediglich auf die
Präponderanz der — Elektricität zurückzuführen, nach dem Ge¬
witter tritt bei dominirender -\- Elektricität Wohlbefinden auf.
Wir würden auf dem Gebiete der Bewerthung der Fragen
der Luft- und Erdelektricität schon weiter sein, wenn die
exacten Untersuchungen nicht so unendlich schwierig und reich
an Fehlerquellen wären.
Sollte durch diese kurze Mittheilung eine Anregung
gegeben sein, der Elektrostatik in der Krankenbehandlung von
Neuem einige Aufmerksamkeit zu widmen, so würde der Zweck
erreicht sein, den ich verfolge.
Ganz besonders die praktischen Aerztc würden, dess bin
ich überzeugt, allen Grund haben, mit den Ergebnissen in ihrer
Praxis zufrieden zu sein.
Der Praktiker wird sich an dem Erfolg der Kranken¬
behandlung zunächst genügen lassen können, wenn er auch
über das »Wo?« und »Wie?« keine Antwort erhält.
Wo blieben wir mit unseren Leistungen in der ärztlichen
Kunst, wenn wir darauf warten wollten, alle Fragen erst von
der ärztlichen Wissenschaft beantwortet zu sehen. Das wäre
in der That ein merkwürdiger Arzt, der mit der Anwendung
des Chinins bei der Malaria so lange warten wollte, bis das
Räthsel des Wirkungsmechanismus enthüllt wäre!
REFERATE.
I Atlas klinisch wichtiger Röntgen-Photogramme.
Herausgegeben von Prof. Freiherr v. Eiseisberg und Dr. K. Ludloff
(Königsberg).
Berlin 1900, Aug. Hirscbwald.
II. Atlas de Radiographie.
Par P. Redard et F. Laran.
Paris 1900, Masson & Co.
III. Röntgen-Atlas des normalen menschlichen Körpers.
Von L>r. M. Iiumelniann.
Berlin 1900, II i r s c h w a 1 d.
I. Bei der immer zunehmenden Anwendung und steigenden
Bedeutung der R ö n t g e n - Untersuchung in der Medicin und
Chirurgie einerseits und bei der meist ungenügenden Erfahrung des
einzelnen Unlersuchers auf dom neuen Gebiete andererseits ist das
Erscheinen von Rö n tg e n - Atlanten ein dringendes Bedürfniss;
gute Abbildungen in einem solchen Werke ermöglichen durch Ver¬
gleich die richtige diagnostische Deutung einer schwer verständlichen
Platte auch für den weniger Geübten. Dies leistet der vorliegende Atlas.
Auf den 87 Lichldrucktafeln desselben sind über 70 Röntgen-
Bilder (Verkleinerungen von Röntgen- Platten, von G/10 cm bis zu
13/18 cm variirend) wiedergegeben, die im Laufe der letzten drei Jahre
in der Königsberger chirurgischen Universitätsklinik aufgenommen
wurden. Es sind durchwegs Roproductionen von negativen Bildern,
wie sie auf den photographischen Platten erscheinen. Dass nicht
die positiven Bilder verwendet wurden, erklärt sich daraus, dass
Chirurgen meist die negativen Originalplatten besichtigen. Dennoch
wären in einem Atlas Positive vorzuziehen, da sie mit dem bei
der Durchleuchtung des Patienten auf dem Rö n t g e n- Schirme
erscheinenden Bilde übereinstimmen. Jeder Tafel ist ein Blatt bei-
gegeben, welches als erläuternden Text kurz die Anamnese, den
klinischen Status und den Röntgen-Befund des Falles enthält.
Entsprechend dem Materiale der Klinik handelt es sich fast durch¬
wegs um chirurgische Fälle, während die inedicinische
R ö n t g e n - Diagnostik nicht berücksichtigt wird.
Vor Allem sind interessantere, seltenere Affectionen vertreten,
z. B. Fälle von Nierenecchinococcus, Ureterenstein, wo die klinische
Diagnose nicht gestellt werden konnte, ferner typische, für den
Unterricht besonders wichtige Bilder, z. B. Knochenentzündungen
und Tumoren, Luxationen und Fracturen. Besonders dankenswerth
ist es, dass viele Abbildungen von tuberculöserCaries,
von infectiöser Osteomyelitis und von deforrai-
render Arthritis aufgenommen wurden; denn Lei diesen
Affectionen handelt es sich um Bilder, welche dem auf unserem
Gebiete unerfahrenen Arzte meist schlecht und unbrauchbar er¬
scheinen, da sich die Knochen unscharf und unregelmässig con-
tourirt darstellen und sich von den Weichtheilen nur schwach ab¬
heben; gerade in diesen Eigenschaften des Bildes liegt aber unter
Anderem das Charakteristische der Affection, daher ist das Studium
solcher Bilder für radioskopisch Unerfahrene besonders wichtig.
Freilich muss man, um aus solchen Röntgen - Platten die Diagnose
machen zu können, von vornherein wissen, dass die Technik der
Anfertigung derselben eine tadellose gewesen sei. Und die Verfasser
beherrschen in der That die Technik.
Empfindliche Lücken, die im Stoffe bestehen, sollen, wie die
Verfasser in der Einleitung versprechen, in einer späteren Fort¬
setzung des Atlas ausgefüllt werden; doch ist das Werk auch in
seiner heutigen Form geeignet, zur Verbreitung und Vertiefung der
chirurgischen Röntgen - Diagnostik beizutragen. Deshalb wünschen
wir dem neuen Königsberger R ö n t g e n -Atlas neben anderen
Publicationen dieser Art eine weite Verbreitung. Der Preis (gebunden
M. 26. — oder 31 K 20 h) ist in Anbetracht der zahlreichen guten
Lichldrucktafeln und der sonstigen vorzüglichen Ausstattung kein
allzu hoher.
*
II. Dieser französische Atlas bildet einen Theil der Chirur¬
gie infantile et ortho p e di quo und zeigt den Werth der
neuen Untersuchungsmethode für Diagnose, Prognose und Therapie
bei Deviationen der Wirbelsäule (Rachitis und Pott’schem
Uebel), angeborenen und tuberculösen Hüftgelenksluxationen und
anderen Knochenerkrankungen im Kindesalter. Die Abbildungen
— circa 50 an Zahl — sind durchaus nicht schlecht, zeigen
aber oft nur wenige der Details, die im Texte auf Grund des
Studiums der Originale aufgezählt werden; dies liegt nicht etwa an
der Ausstattung des Buches — diese lässt nichts zu wünschen
übrig — und auch kaum an dem von L o n g u e t in Paris ange¬
wendeten Reproductionsverfahren (Photocollographie), sondern wohl
vorwiegend an der ungeeigneten Expositionstechnik der beiden
Chirurgen; denn die photographischen Platten dürften insgesammt
überexponirt und zu dunkel entwickelt worden sein, die Copien
enthalten fast nur Knochenbilder, keine Weichtheile; durch diese
Mängel ist uns der Rückschluss auf das Object sehr erschwert.
Trotz dieser Nachtheile wird aber das Werk den Orthopäden will¬
kommen sein.
*
III- Im Formate der grossen Atlanten stellt dieses Werk eine
gelungene und vollständige Sammlung der für die chirurgische Praxis
Nr. 37
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
831
wichtigen Normalbilder der Regionen des normalen Körpers von Kindern
(im mittleren Kindesalter) und von Erwachsenen dar. Es sind über 50
von Frisch in Berlin ausgeführte Lichtdrucke, und zwar — von
vier Bildern abgesehen — in der natürlichen Grösse des Originales.
Es ist denselben besonders nachzurühmen, dass sie wirklich Normal¬
aufnahmen sind, sowohl was das menschliche Object, als auch
was die Technik der Herstellung betrifft (Wahl der Lage des
Körpertheiles, Richtung der Strahlen, Entfernung der Röntgen-
Röhre, Qualität und Lichtstärke derselben, Plattensorte, Expositions¬
zeit, Art der Entwicklung und des Copirens). Dadurch setzt der
Atlas den Anfänger auf dem Gebiete der Radiologie in Stand, an
einem von ihm selbst oder einem Anderen hergestellten Röntgen-
Bilde durch Vergleich mit dem analogen Bilde des Atlas zu be-
urtheilen, ob seine Aufnahme alle erforderlichen Details zeige, also
ob sie überhaupt gelungen, und ob Stellen, die ihm etwa als
pathologisch imponiren, wirklich von der Norm abweichen.
Die Verbreitung des Werkes dürfte aber aus dem Grunde
eine beschränkte werden, weil die meisten Untersucher sich die
genannte Sammlung von Photographien selbst anlegen können, ja
sogar nothgedrungen selbst anlegen, da eine grosse Zahl der in
der Praxis auf Anomalien hin untersuchten Fälle keine pathologi¬
schen Veränderungen aufweist. Der Preis beträgt gebunden
Mark 32.—.
Merkwürdiger Weise hat Immelman n sein Werk v. Ber g-
mann gewidmet, der bekanntlich der vor einem Jahre sonderbaren
Vorstellungen über die Wirkung der Röntgen-Strahlen auf den
Organismus öffentlichen Ausdruck lieh.
Kien b ö c k.
I. Ueber Myelitis acuta.
Von Dr. Willi. Mager.
Separatabdruck aus dem siebenten Hefte der »Arbeiten aus dem Institute
für Anatomie und Physiologie des Centrainei vensystems an der Wiener
Universität Prof. Obersteiner«.
124 Seiten.
Leipzig und Wien 1900, Franz Deuti c k e.
II. Zur Kenntniss der Geistesstörungen des Greisen-
alters.
Von Dr. Heinrich Schloss, dirig. Primararzt der niederüsterreicbiscken
Landesirrenanstalt in Ybbs.
Wiener Klinik, 25. Jahrgang, Heft 9 und 10.
45 Seiten.
Wien und Berlin 1899, Urban & Schwarzenberg.
III. Die Frühdiagnose der progressiven Paralyse.
Von Prof. Dr. A. Hochc zu Strassburg i. Eis.
Zweite, erweiterte Auflage.
63 Seiten
Halle a. S. 1900, Karl Marhol d.
IV. Somnambulismus und Spiritismus.
Von L. Löwenfeld.
57 Seiten.
W i e sb a d e n 1900, J. F. Bergman n.
V. Wie sind Geisteskrankheiten zu werthen?
Von Rudolf Arndt.
62 Seiten.
Halle a. S. 1900, Karl Marhold.
VI. Die Vision im Lichte der Culturgeschichte und der
Dämon des Sokrates.
Eine cultur geschieh flieh - psychiatrische Studie.
Von Dr. Knauer.
188 Seiten.
Leipzig, Wilhelm Friedrich.
I. Unter Hinweis auf die Differenzen der klinischen und
pathologisch-anatomischen Auffassungen, die bezüglich der Myelitis
bei verschiedenen Autoren bestehen, und auf die Schwierigkeiten
bei der Umgrenzung ihres Begriffes werden sieben Fälle von
Myelitis mit ausführlichen Krankengeschichten und genauen histo¬
logischen Befunden unter specieller Verwertlmng der jüngeren Li¬
teratur einer Bearbeitung dieses wichtigen Capitels der Rücken¬
markskrankheilen zu Grunde gelegt.
In dem umfangreichsten, der pathologischen Anatomie ge¬
widmeten Theile der Arbeit ist der Autor bestrebt, Kriterien für
den im Bereiche des Nervensystems bekanntlich noch sehr schwan¬
kenden Begriff der Entzündung aufzustellen und eine Scheidung
zwischen den als Erweichung und den als Entzündung anzuspie-
chenden Befunden vorzunehmen.
Die histologischen Befunde in seinen eigenen und den Fällen
aus der Literatur werden als »Lückenfeld« und Nekrose unter¬
schieden. Unter Lückenfeld (blasiger Zustand Leyden's) versteht
der Autor erweiterte Gliamaschen. die von gequollenen, oder in
Zerfall begriffenen Fasern, oder Fettkörnchenzellen erfüllt, oder
auch leer sind. Als Nekrose wird der herdförmige Untergang des
gesammten Gewebes mit Einschluss der Glia bezeichnet. Heide diese
Formen von Gewebsveränderungen finden sich nebeneinander und
zeigen Uebergänge. ln der grauen Substanz findet sich nur Nekrose.
Die myelitischen Herde, ob Lückenfeld oder Nekrose darstellend, ver¬
breiten sich in den weissen Strängen keilförmig mit der Basis des
Keiles an der Peripherie oder haben, mehr central gelegen, eine
ovale oder rundliche Form, was den Versorgungsgebieten der in
das Rückenmark eindringenden Gefässe (nach Untersuchungen von
K a d y i) entspricht.
Diese Befunde sind der Erweichung und Entzündung
gemein. Als unterscheidendes Merkmal werden Veränderungen an den
Gefässen herangezogen, und zwar solche acut entzündlicher
Natur. Diese sind im Beginne: Hyperämie und leichte Verdickung
der Intima, weiterhin kleinzellige Infiltration der Adventitia, oder
der ganzen Gefässwand, der perivasculären Lymphräume, hoch¬
gradige Verdickungen der kleinen Gefässe, Degenerationen der
Gefässwände mit hyaliner Beschaffenheit; die Veränderungen
finden sich an den Gefässen des Rückenmarkes und der Pia; eine
entzündliche Infiltration der Pia selbst kann fehlen. Manchmal tritt
eine kleinzellige Infiltration des Rückenmarkgewebes hinzu.
Eine specielle Beziehung zur Lues haben diese Befunde
nicht, da sie auch hei nicht luetischen Fällen vorhanden waren;
für Lues wären nur Gummen an den Gefässen charakteristisch.
Lückenfeld und Nekrose sind Effecte rein degenerative:- Vor¬
gänge, wenn sich obige Veränderungen an den Gefässen nicht vor¬
finden, wobei leichte Verdickungen an den Gefässen als auch den
degenerativen Processen eigene Vorkommnisse nicht in Betracht
kommen.
Für die Qualificirung des Lückenfeldes und der Nekrose auch
ohne kleinzellige Infiltration des Rückenmarkes bei bestehenden
entzündlichen Veränderungen an den Gefässen und der Pia als
entzündlich ist dem Autor die Vorstellung massgebend, dass das
Entzündung erzeugende Agens sofort die Nekrose des minder
widerstandsfähigen Rückenmarkgewebes erzeugt, während es an den
widerstandsfähigeren Gefässen und eventuell an den Rückenmarks¬
häuten zur Infiltration, dem für die Entzündung charakteristischen
Vorgänge kommt.
Was die Ausbreitung der Herde betrifft, so ist das Auftreten
in multiplen Herden das Primäre. Durch Confiuenz derselben
kommt eine Myelitis ascendens und descendens, oder zusammen¬
hängende Läsionen des ganzen Querschnittes, eine Myelitis trans¬
versa zu Stande. Die Verbreitung der Herde über grosse Strecken
des Rückenmarkes bedingt den Befund einer Myelitis disseminata.
Der Ausgang der Myelitis ist dort, wo, wie beim Lückenfeld,
die Glia erhalten ist, durch nachträgliche Wucherungen derselben
die Sklerose. Aus den nekrotischen Herden, in denen Glia wie
nervöse Elemente untergegangen sind, entwickeln sich Höhlen; ein
seltener Ausgang ist die Abscessbildung.
In dem Gapitel »Aetiologie« werden die Infectionskrankheiten
als wichtigste Ursache der Myelitis erörtert. Die Infectionserreger
und deren Toxine geben das entzündunganfachende Agens ab.
Manchmal spielen Infectionskrankheiten nur eine disponirende Rolle,
indem sie im Rückenmarke einen locus minoris resistentiae
schaffen, der durch secundäre Infection mit Staphylococcen und
Streptococcen myelitisch erkrankt. Die gleiche prädisponirende
Rolle spielen Erkältungen, Trauma, und Tntoxicationen mit anor¬
ganischen und organischen Giften. Letztere allein erzeugen nur
degenerative Processe, die sich als solche durch den Mangel ent¬
zündlicher Veränderungen an den Gelassen charakterisiren. Bei
secundärer Ansiedlung von Entzündungserregern kann cs zur Myelitis
kommen.
Im Capitol »Klinik« werden Entwicklung, Symptome, \erlaul,
Ausgang und Differentialdiagnose der Myelitis erörtert.
Gegenüber Gold sch eider setzt sich der Autor lür die
trophische Entstehung des Decubitus ein. hehlen des Patel larrefl exes
832
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 37
bei Sitz der Läsion oberhalb des Reflexbogens fand sich in zwei
Fällen cervicaler Myelitis und einem Falle einer Querschnittsmyelitis
des Dorsalmarkes unter dem Materiale des Autors.
Im Uebrigen erfährt das genau gekannte klinische Bild der
Myelitis keine Erweiterung.
Ein ausführliches Literaturvereichniss beschliesst die fleissige
Arbeit, deren histologische und anatomische Details durch zwei gut
ausgeführte Tafeln und 1 ( Abbildungen im lexte in instructiver
Weise illustrirt sind.
*
II. An Hand von 32 Fällen geisteskranker Individuen jen-
seits der Sechziger-Jahre erörtert der Autor die Geistesstörungen des
Greisenalters. In 65'6% der Fälle dessen sich erbliche Belastung,
vorausgegangenes Trauma capitis, Trunksucht des Kranken, er¬
schöpfende Erkrankung, deprimirender Affect, apoplektischer Insult
als prädisponirende Momente erheben. In einigen Fällen bestand
eine Combination mehrerer prädisponirender Momente.
Die Krankheitsformen, in welche obige Fälle unterzubringen
sind, sind 1 . die senile Demenz, innerhalb welcher noch Unterschiede
zwischen Fällen mit allmälig zur Verblödung fortschreitender
psychischer Schwäche, Fällen mit Verwirrtheit, Fällen mit dem
nach K r a e p e 1 i n benannten Bilde des Delirium senile, ferner Fällen
von seniler Demenz mit melancholisch oder manisch gefärbten
Zügen und schliesslich solchen mit periodisch wiederkehrenden
manischen Aufregungszuständen zu betonen sind; 2. die agitirte
Melancholie; 3. acute hallucinatorische Verwirrtheit mit Ausgang
in Genesung; 4. circuläre Geistesstörung und 5. senile Paranoia.
Unter den Fällen letzterer Kategorie finden sich solche, die in
Folge der Demenz und stärkerer affectiven Störungen das Bild der
Paranoia in nicht ganz klarer Ausprägung bieten, dann aber auch
typische Fälle von Paranoia.
Die Details betreffs der klinischen Bilder der einzelnen
Formen, ihrer Entstehungs- und Verlaufsweise, des Antheiles der
einzelnen prädisponirenden Momente an der Aetiologie der ver¬
schiedenen Formen, der anatomischen Befunde sind im Originale
nachzusehen.
*
III. Das Heft, das jetzt nach drei Jahren in zweiter Auflage er¬
schienen ist, ist ein guter, ziemlich erschöpfender Wegweiser im
Sinne seines Titels. Es handelt sich hiebei um eine mit den Be¬
dürfnissen des in der Praxis stehenden Arztes rechnende, vor¬
aussetzungslose Darstellung mit übersichtlicher und auf die Dignität
der Symptome Rücksicht nehmender Anordnung des Stoffes. Dem
Psychiater vom Fache bringt die Abhandlung nichts Neues.
*
IV. Die obigen Titel tragende Abhandlung, das erste Heft
der vom Verfasser und H. Kurella redigirten und für Gebildete
aller Stände bestimmten »Grenzfragen des Nerven- und Seelen¬
lebens«, behandelt in einer auch Laien zugänglichen und zugleich
wissenschaftlichen Anforderungen gerecht werdenden Weise den
Somnambulismus in seinen verschiedenen Spielarten und wendet
sich in gebührend scharfer Kritik gegen den Spiritismus. Wir
lernen letzteren hier als eine absurde Irrlehre kennen, die viel¬
fach die natürlichen Erscheinungen des Somnambulismus als Be¬
weise für die Existenz eines mit allen erdenklichen wunderbaren
Fähigkeiten ausgestatteten Spirit heranzieht, eines unter gewöhn¬
lichen Verhältnissen sich nicht kundgebenden seelischen Theiles
des Menschen, der unsterblich ist, der nach dem leiblichen Tode
des Menschen aber noch eine Reihe sinnlich wahrnehmbarer Er¬
scheinungen hervorzurufen vermag und nur durch Vermittlung der
geeigneten Medien, hiezu ausgebildeter Somnambulen, mit den Le¬
benden in Verkehr tritt.
Nach Besprechung der klinischen Erscheinungsweise des
spon tanen Somnambulismus (Schlaf-, Nachtwandeln) bei Neu¬
rosen, dann des künstlichen, dem Gebiete der Hypnose ange¬
hörenden Somnambulismus werden als aussergewöhnliche Erschei¬
nungen des letzteren Phänomene erörtert, die den Spiritisten zur
Stütze ihrer Lehre dienen: Das Hell- und Fernsehen, Fernwirken,
Gedankenübertragung, Vorahnung, Weissagen, Transposition der
Sinne, das Reden in fremden, nicht erlernten Sprachen. Wiewohl
der Autor findet, dass die meisten Angaben über obige Leistungen
Somnambuler einer rationellen Kritik nicht Stand halten, lehnt er
nicht ohne Weiteres die Möglichkeit des Hellsehens, des räum¬
lichen Fernsehens und Fernwirkens, der Gedankenübertragung ab-
und dies unter Berufung auf Berichte von glaubwürdiger Seile,
von bekannten Aerzten und Naturforschern. Für die Erklärung des
Hellsehens, des Sehens verhüllter Gegenstände, zieht er die be¬
kannte Thatsache der Verschärfung der Sinne bei hypnotischen
Somnambulen und die physiologische Möglichkeit heran, dass die
Netzhaut unter gewissen Umständen die Fähigkeit erlangt, von
R ö n t g e n - Strahlen, dunklen Wärme-, oder ultravioletten Strahlen
erregt zu werden; für die Telepathie, die Gedankenübertragung
ohne Vermittlung der bekannten menschlichen Sinne, wäre an die
Möglichkeit der Einwirkung materieller Vorgänge, welche die Be¬
wusstseinsacte beim Agenten (dem Beeinflussenden) begleiten, auf
das Gehirn des Percipienten (des Beeinflussten) milleist eines bisher
unbekannten physischen Agens zu denken. Eine Analogie hiezu
nach der physikalischen Seite wäre die Marconi'sche drahtlose
Telegraphie.
Eine Prüfung der vorliegenden Daten lässt den Autor das
Bestehen von Vorahnungen, das Weissagen, die Möglichkeit einer
Wahrnehmung mit nichtadäquaten Sinnen oder Körperlheilen, die
angebliche Gabe mancher Medien, im sogenannten Trancezustande
in fremden Zungen zu reden, als jeder Grundlage entbehrend ver¬
werfen. Die gegen Schopenhauer und Rieh et, als Bekenner
der Gabe des Weissagens, ins Treffen geführten Reflexionen sind
wohl als stichhältig zu bezeichnen.
Es ist zugegeben, dass sich der Autor bei der Erörterung
seines für ernste medicinische Kreise ungewöhnlichen Themas einer
wissenschaftlichen Methode befleissigt. Es darf aber die Frage auf¬
geworfen werden, ob seine berechtigte, starke Skepsis gegenüber
zahlreichen, von ihm sogenannten aussergewöhnlichen Erscheinungen
des Somnambulismus nicht auch auf die von ihm theilweise accep-
tirten Erscheinungen des Hellsehens und räumlichen Fernsehens
auszudehnen wäre?
Bei der vom Autor selbst betonten geringen Anzahl der nach
dieser Richtung vorliegenden positiven Daten, für deren Positivität
er sich nur auf die Autorität anderer Autoren, darunter allerdings
auch solcher von gutem Klange (R i c h e t, Janet, L i e b a u 1 1)
berufen kann und bei dem Mangel vom Autor selbst gesammelter
Erfahrungen erscheint obige Frage wohl gerechtfertigt.
Immerhin darf die Abhandlung als Stellungnahme eines
literarisch vortheilhaft bekannten Arztes gegenüber dem in mysti¬
sches Dunkel sich hüllenden Spiritismus als interessante Lecture
empfohlen werden.
*
V. Nach Ansicht des Autors bedarf es der richtigen philoso¬
phischen Weltanschauung, um erfolgreich den Geisteskrankheiten
entgegentrelen zu können. Ungeeignet hiezu erscheint ihm der
Dualismus mit seiner Lehre von dem Gegensätze zwischen Stoff
und Kraft, zwischen Körper und Geist bei lebenden Wesen, ebenso
der Materialismus als Monismus mit seiner Auffassung der Psyche
als reine Kraftäjsserung der Materie. Sich über den Auspruch
Du Bois-Reymond’s hinsichtlich der Unergründlichkeit des Be¬
wusstseinsproblems hinwegsetzend findet der Autor des Räthsels
Lösung in der Anschauung, dass das Bewusstsein gleich den
anderen bekannten Naturkräften der Elektricität, Licht etc. nur
eine besondere Modification einer Urkraft sei. Der Stoff, die Materie
sei nur eine Ansammlung von Kräften und sei nur deshalb ver¬
schieden in sich, weil die ihn darstellenden Modificationen der Ur¬
kraft verschieden sind. Kraft und Stoff wären etwas Einheitliches,
der Stoff sei gehemmte aufgehaltene Kraft, und Kraft blos solche,
die sich stärker bethätigt. Das Weltall sei von einer sich selbst
bewussten Kraft erfüllt. Die hier in knappester Form wieder¬
gegebene Weltanschauung bezeichnet der Autor als wahren be¬
wussten Monismus. Dieser führt den Autor auf dem Wege wei¬
terer, nicht ganz klarer Argumentirung zu dem Lehren älterer
Psychiater zurück, wonach alle Formen von Geistesstörung sich
auf den einen Typus psychischen Krankseins zurückführen lassen,
auf die Vesania typica.
In der Auffassung und Darstellung derselben lehnt sich
Arndt vollständig an die Schöpfer dieser Lehre, an Neu m ann
und den Ausgestalter derselben, an Kahl bäum an, ohne dass
Neumann dabei entsprechend gewürdigt würde. Die von ihm
versuchte Einordnung der erst seit Snell. W e s t p h a 1 und
Nr. 37
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900,
833
Bander gekannten primären Verrücktheit (Paranoia) in das Schema
der Vesania typica ist eine gekünstelte, unnatürliche.
Was aber den eigentlichen Zweck der Schrift betrifft, für die
Kennzeichnung der vom Autor eingeräumten Verschiedenheiten der
bei jeder psychischen Störung in Betracht kommenden Vesania
typica auch besondere Bezeichnungen je nach den ätiologischen
Momenten zu empfehlen, was der Autor mit dem Ausdrucke, die
Psychosen richtig zu werthen, bezeichnet, so wäre dies ein gewiss
zu acceptirender Standpunkt bei der Eintheilung der Psychosen,
wenn die Aetiologie der Geistesstörungen, beziehungsweise die Zu¬
sammengehörigkeit bestimmter Formen geistiger Störung mit be¬
stimmten ursächlichen Factoren ein so genau gekanntes Gebiet
wäre, wie dies der Autor annimmt.
*
VI. Eine interessante, auf fleissiges Quellenstudium basirte
Studie über die Rolle, welche die Vision in der Geschichte der
Völker bis auf die Neuzeit, im Leben grosser geschichtlicher Per¬
sönlichkeiten gespielt hat, ferner über die Verwerthung derselben
für die Dichtkunst durch grosse Dichter verschiedener Zeitepochen
und schliesslich über das »Dämonion des Sokrates« unter energi¬
scher Stellungnahme gegen Nietzsche, der Sokrates für geistes¬
krank erklärte. E 1 z h o 1 z.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
328. Ein Firniss für die Hand des Chirurgen.
Von J. Levai (Budapest). Levai versuchte die bei Operationen
verwendeten Kautschukhandschuhe durch einen isolirenden asepti¬
schen Firniss zu ersetzen. Er mengt einen Theil Copallak mit zwei
Theilen venetianischen Terpentins. Ueber gelinder Wärme wird die
Mischung so lange umgerührt, bis sie zu einer gleichmässigen
glasigen Masse wird. Nach dem Erkalten wird diese in 100 Theilen
Schwefeläther gelöst und 100 Theiie Collodium zugesetzt. Die
etwas trübe Lösung wird durch Zusatz von 8 Theilen Aceton
geklärt. Diese auf die Hand mit sterilisirter Pincette aufgetragene
Masse bildet in wenigen Minuten einen geschmeidigen fest haftenden
Ueberzug, welcher die Bewegungen der Hand und deren Tastgefühl
nicht beeinträchtigt. Nach der Operation werden die Hände mit
einer in einen Theil Alkohol und zwei Theilen Aether getauchten
Compresse abgerieben. Der Firniss hat nur den Nachtheil, die Be¬
rührung mit heissem Wasser (über 50° C.) nicht zu vertragen.
Jedenfalls sollen die Hände vor Einreibung des Firnisses
desinficirt werden. — (La Semaine Med. 31. 25. Juli 1900.)
Sp.
*
329. Die Wanderleber und ihre klinische Be¬
deutung. Von Prof. Einhorn (New York). Mau versteht unter
ihr eine Leber, die nach unten gesunken ist und theilweise oder
ganz zurückgeschoben werden kann. Zu betonen ist, dass dieselbe
nicht gar so selten ist. Ihre Aetiologie ist noch nicht ganz auf¬
geklärt. Manche Fälle machen gar keine Symptome, in anderen
bestehen Dyspepsie, viele in der oberen Bauchgegend selbst mit
leichten asthmatischen Beschwerden verbunden, Schmerzen in der
Lebergegend, die oft nach dem Rücken und den Schulterblättern
ausstrahlen, Koliken, ähnlich denen bei Gallensteinen, jedoch ge¬
wöhnlich ohne Ikterus. Die Diagnose stützt sich auf die Percussion
und Palpation. Normal beginnt die Leberdämpfung im fünften
Intercostalraume, bei Wanderleber bedeutend tiefer und reicht bis
zum Nabel oder noch tiefer. Wichtig ist ein tympanitischer Schall
am Schwertfortsatze als Ausdruck dafür, dass Därme oberhalb des
linken Leberlappens liegen. Die Percussion ist im Liegen und
Stehen auszuführen. Zu beachten ist, dass auch ein intrathoracales
Exsudat die Leber abwärts drängen kann. Bei der Behandlung
spielt die Kräftigung des Organismus, also die Diät, eine Haupt¬
rolle. Symptomatisch nützt oft das Tragen einer geeigneten Leib¬
binde. — (Zeitschrift für diätetische und physikalische Therapie.
Bd. I, Heft 2.) Pi.
*
330. Heber die Anwendung strömenden Wasser¬
dampfes in der Chirurgie und Hygiene. Von Antoci.
Im Gegensätze zur Anwendung geschlossenen Dampfes zur Des-
infection ist die Verwerthung des strömenden Wasserdampfes, aus¬
genommen etwa durch die Laryngologen, noch zu wenig verbreitet.
Schon Sneguiroff (Moskau) rühmt dessen hämostalischo
Wirkung und neuerlich wurde dieselbe von italienischen Aerzten
bei Verwundungen der Leber experimentell geprüft. Der Wasser¬
dampf ist aseptisch, die Blutstillung unmittelbar und dauernd bei
einer Temperatur des Strahles von etwa 7J° C. Dasselbe wird bei
durchschnittenen kleinen Arterien beobachtet. Das geronnene Blut
überzieht die Wunden wie ein Firniss. Heilung per primam, ja
sogar Neubildung des Drüsengewebes in der verletzten Leber. Ver¬
minderter Gebrauch anderer hämostatischer Mittel, Entbehrlichkeit
der oft schädlichen antiseptischen Waschungen, während beim
Dampfgebrauche zwischen den Wundrändern ein dünnes aseptisches
Stratum einer albuminoiden Substanz gebildet wird, welches als
nutritives Element die Heilung beschleunigt. So muss also der
strömende Wasserdampf dort zur Verwendung kommen, wo die
Esmarch’ sehe Binde nicht angelegt werden kann, hauptsächlich
aber bei Operationen an Organen der Bauchhöhle, Leber, Milz etc. Von
acht Hunden mit Leberresection verloren Fiori und Giaucola
nur zwei, und diese aus anderen Ursachen. Der strömende Wasser¬
dampf befördert die Uteruscontractionen und kann auch zur Des-
infection der Vagina statt der Irrigationen mit heissem Wasser
verwendet werden. In der Hygiene ist dieses Mittel zur Desinfection
der Fussböden, Wände, Möbel, der Sputa und zur Tödtung von
Inseeten von Bedeutung. Dem strömenden Wasserdampfe kommt
eine diffusive Wirkung zu, die sich zum Beispiel in der Leber
vom kleinsten Lappen bis über das ganze Organ ausbreiten kann,
Coagulation, Veränderung der Consistenz u. s. w. hervorrufend.
Jedenfalls ist Vorsicht, Vermeidung zu hoher Temperatur, zu langer
Dauer der Einwirkung, allzugrosser Nähe des Apparates geboten.
Dem Berichte Antoci’s ist die Beschreibung und Abbildung des
von ihm erdachten Apparates beigefügt. — (Gaz. degli Osped. 93.
5. August 1900.) Sp.
*
331. Gefahren der Lumbalpunction; plötzliche
Todesfälle darnach. Von Prof. Gumpreeht (Jena). Es ist
bekannt, dass die Lumbalpunction, von hie und da auftretenden
Kopfschmerzen abgesehen, in der Regel ohne üble Folgen verläuft.
Zu den üblen Zufällen gehört das Abbrechen der Nadel, das wohl
in der Weise zu Stande kommt, dass bei passiven Lagever¬
änderungen die starke Rückenmusculatur die Nadel über dem
Wirbelbogen als Hypomochlion abknickt. Zu rascher Abfluss der
Flüssigkeit ist manchmal von besonders hochgradigen Kopfschmerzen
gefolgt; einmal hatte Gumpreeht am Tage nach der Punction
bei einem Paralytiker taumelnden Gang und heftige Rücken¬
schmerzen beobachtet. Eine ganz besondere Beachtung verdienen
die n a c h einer Lumbalpunction plötzlich eingelretenen Todesfälle,
deren bisher 15 beschrieben worden sind, und von welchen die
Hälfte als directe Folge der Punction angesehen werden müssen.
Verfasser berichtet über zwei weitere einschlägige Fälle. In fast
allen diesen Fällen war der Tod bei Kranken mit Hirntumoren,
besonders der hinteren Schädelgrube, und zwar manchmal schon
nach wenigen Minuten eingetreten. Charakteristisch ist, dass zumeist
die Atlnnung früher als die Herzthätigkeit aufhört. An der Leiche
pflegt man die Höhlen des Centralnervensystems in verschiedenem
Zustande zu treffen: Cerebralwärts vom Tumor sind die Ventrikel
mächtig erweitert, spinalwärts eng oder nur mässig weit. Die Stelle
des Abflusses zwischen Hirn- und Rückenmarkslymphe liegt ent¬
weder am Aquäduct oder in der Gegend des M age n d i e'schen
Loches; ersterer wird durch den directen Druck des Tumors,
letztere durch das zapfenartig in das Hinterhauptsloch hinein¬
gepresste Kleinhirn zusammengedrückt und verschlossen. So weit
die Erfahrungen reichen und bei diesen Fällen überhaupt eine
Anzeige- vorhanden ist, den doch sicheren Tod zu verzögern, wird
es nahegelegt, die Trepanation und Ventrikelpunction, erforderlichen
Falles unter künstlicher Atlnnung zu versuchen. — (Deutsche
medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 24.)
*
332. (Aus dem Institute für Infectionskrankheiten des Pro¬
fessors Koch in Berlin.) Ueber den Werth derCourm o n t-
sehen Serumreaction für die Frühdiagnose der
T u b e r c u 1 o s e. Von Prof. Beck und Dr. R a b in owi tsc h
Auf dem Tuberculosecongresss zu Paris 1898 hatten Arloing
und .Courmont darauf hingewiesen, dass das Blutserum an
834
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 37
Tuberculose erkrankter Personen im Stande sei, Culturen von
Tuberkelbacillen, welche die Bouillon gleichmässig trüben, zu
agglutiniren, und dass dieser Reaction derselbe diagnostische Werth
zukomme, wie der K o c h'schen Tuberculinreaction. Umfangreiche
Nachprüfungen ergaben, dass dieser von Courmont als »Clarifi¬
cation« bezeichnele Vorgang für Tuberculose nicht specifisch ist,
indem er bei sicher nicht tuberculösen Menschen und Tbieren
vorkommt, andererseits in vielen Fällen beginnender Tuberculose
ausbleibt. (Deutsche medicinische Wochenschrift. 1 900, Nr. 25.)
*
333. (Aus der chirurgischen Klinik des Prof. H i 1 d e br a n d
in Basel.) Untersuchungen über die angebliche
Contagiosität des Erysipels. Von Dr. Respinger.
Weder Schuppen noch Blaseninhalt sind nach Verfasser im Stande
ein Contagion zu vermitteln. Die Gefahr der Uebertragung darf
nicht hoch angeschlagen werden. Das Erysipel gehört in die
Kategorie der Wundinfectionskrankheiten (Phlegmone, Lymphangioitis,
Pyämie etc.), und Erysipelkranke demnach auf die septischen Ab¬
theilungen, aber es ist kein Grund vorhanden, sie ganz besonders
zu isoliren. Die Infectiosität einer Streptococccnphlegmone mit er-
öffnetem Abscess ist viel grösser als die eines Gesichtserysipels. Aus
dem Gesagten ergibt sich auch das Urtheil über die Nothwendigkeit
einer Anzeigepflicht des Erysipels; wird dieses angezeigt, dann
müsste mit gleichem Rechte jeder phlegmonöse Process angezeigt
werden. — (Beiträge zur klinischen Chirurgie. Bd. XXVI, Heft 2.)
*
334. Beitrag zur Racenimmunität. Von M. P r e 1 1-
ncr, Thierarzt in Prag. Vom Büffel ist bekannt, dass man bei
ihm die wenigsten pathologisch-anatomischen Befunde findet.
Unter 3912 geschlachteten Büffeln hat Verfasser bei 42G Echino¬
coccus, zweimal Aktinomykose, selten Distomum vorgefunden;
damit sind die Befunde erschöpft. Tuberculose ist niemals vor¬
gefunden worden. Um der Frage der Uebertragbarkeit der Tuber¬
culose auf Büffel näher zu treten, wurde ein sehr schlecht ge¬
nährtes Büffelkalb mit 5 g einer sehr virulenten Tuberkelbacillen-
cultur intravenös und mit 20 <7 intraperitoneal geimpft. Zur Con-
trole wurde ein gut genährtes polnisches Kalb, aber mit einer
kleineren Bacillenmenge in gleicher Weise behandelt. Letzteres war
der Infection schon nach drei Wochen erlegen, und die Section
des ganz abgemagerten Thieres ergab eine allgemeine Tuberculose.
Der Büffel wurde nach fünf Wochen getödtet und vollkommen
gesund befunden; nur an der peritonealen Injectionsstelle befand
sich im II nlerhau t z e 1 1 g e w e b e ein abgekapseller tuberculöser
Herd, der wahrscheinlich dadurch entstanden war, dass hei der
Impfung einige Tropfen der Cultur unter die Haut gelangt waren.
In ähnlicher Weise können auch bei dem gegen Rotz erwiesener-
massen immunen Rind local Eiterherde mit Rotzbacillen darin ent¬
stehen. Eine zweite Impfung an einem anderen Büffel führte zu
dem gleichen negativen Resultate. Ob es sich beim Büffel that-
sächlich um eine Immunität gegen Tuberculose oder um eine hoch¬
gradige Resistenz in Folge durch Generationen andauernder Tuber¬
eulosefreiheil handle, müssen erst weitere Beobachtungen ergeben.
(Centralblatt für Bacteriologie. 1900, Nr. 22, 23.)
*
335. (Aus dem hygienischen Institute in Königsberg.) lieber
die Desinfection mit Typhusbacillen inficirter
Badewässer. Von Dr. B a bucke. Der Desinfection von Bade¬
wässern, in denen Typhuskranke gebadet worden sind, wird viel¬
fach zu wenig Beachtung geschenkt. Nach den Versuchen des
Verfassers genügen 200 g von dem billigen, ungefährlichen, die
Wanne nicht schädigenden Chlorkalk, um ein Vollbad von 200/,
selbst wenn es mit festem Typhusstuhl verunreinigt ist, hei einer
halbstündigen Einwirkung vollständig zu desinficiren. — (Centralblalt
für Bacteriologie. 1900, Nr. 22, 23.)
*
336. Die chronische a tonische Obstipation.
Von Dr. W e s t p h a 1 e n (Petersburg). Bei dieser Art der Obstipation
hat man es hauptsächlich mit Einflüssen zu thun, welche die
Darmfunetion hemmen. Der Darminhalt übt einen zu geringen Reiz
aut die Darmschleimhaut aus (ungenügende oder unzweckmässUe
Nahrung); Schwäche der Darmmusculalur, und zwar dauernd bei
Hypoplasie, vorübergehend bei schwächenden Erkrankungen; oder
die Ursache liegt in der Nervenleitung, in einer venösen Stauung,
in einer vom Centralnervensystem ausgehenden Hemmung (Melan¬
cholie). Eine Form der chronischen Stuhlträgheit besteht noch
darin, dass der Darminhalt normal bis an den Mastdarm gelangt,
aber hier namentlich in Folge einer mangelhaften Function der
Bauch- und wahrscheinlich auch Beckenmuskeln hegen bleibt. Aus
diesen ätiologischen Momenten ergibt sich auch der Fingerzeig für
die Therapie. In vielen Fällen muss eine den Darm reizendere Kost
verordnet werden; der Fleischgenuss ist einzuschränken, reichliche
Kohlehydrate und Cellulose zuzuführen. Im Anfänge steigern sich
hiebei häufig die Beschwerden, die Flatulenz wird stärker, bis der
Stuhlgang sich geregelt hat. ln sehr hartnäckigen Fällen kann diese
Therapie durch Verabreichung von täglich drei bis vier Esslöffel
Milchzucker, in Milch oder Cacao, oder wenn dieser nicht ausreicht,
durch weitere Abführmittel unterstützt werden. Hin und wieder
verordnet Westphalen zu Beginn der Therapie Oelklysmen,
wenn der Stuhl schon durch mehrere Tage ausgeblieben und
Wassereinläufe vergeblich gewesen waren. Sie empfehlen sich mehr
für die spastische Obstipation. Den Gebrauch von Mineralwässern
hält Verfasser bei der anatomischen Obstipation für vollständig
contraindicirt. — (Archiv für Verdauungskrankheiten. Bd. VI,
Heft 2.)
*
337. Z w e i räthselhafte Fracturenbefunde. Von
Dr. Lauenstein (Hamburg). Der erste Fall betrifft einen 42j übri¬
gen Kaufmann, der wegen einer schon seit Wochen schweren
Phlegmone des linken Unterschenkels auf die chirurgische Ab-
theilung aufgenommen worden war. Der Kranke, welcher bis zu¬
letzt herumgegangen, war am Vortage der Operation in seiner
Wohnung gefallen. Das war das einzige Trauma, das vom Kranken
und seiner Umgebung batte eruirl werden können. Bei der Spaltung
der Phlegmone fand man eine vollständige Vereiterung sämmtlicher
Fusswurzelgelenke, eine bis zum Knie reichende intermusculäre
Phlegmone und zum grössten Erstaunen einen in etwa zehn Stücke
zertrümmerten Calcaneus. Zeichen einer frischen Blutung oder einer
äusseren Verletzung fehlten vollständig. Trotz angeschlossener trans-
kondylärer Oberschenkelamputation ging der Kranke zu Grunde.
Eine Erklärung für die Zertrümmerung des Calcaneus konnte nicht
gefunden werden, man müsste höchstens annehmen, dass der
Kranke, der Potator war, in einem Zustande beträchtlicher Trunken¬
heit ein entsprechendes Trauma erlitten lullte. - — Der zweite Fall
betrifft einen 25jährigen Mann, der angeblich nie an Gonorrhoe
gelitten hat und der mit einer eiterigen Entzündung des rechten
Ellbogengelenkes aufgenommen wurde, welche schon seit sechs
Wochen bestand und die mit einer Furunkel am Nacken einge¬
leitet worden war. Das Ellbogengelenk, durch eine lange Incision
eröffnet, fand sich mit dünnflüssigem Eiter gefüllt, das Olecranon
ausserdem in 10 Stücke zerfallen. Durch Nachforschungen stellte
es sich heraus, dass der Patient acht Tage vor seiner Erkrankung
sich mit einem Dreschflegel gegen den rechten Ellbogen geschlagen
habe. Räthselhaft bleibt es nun, dass der Kranke mit seinem Arm
weiter gearbeitet hat, erst gelegentlich des aufgelretenen Furunkels
im Ellbogengelenke einen Schmerz zu verspüren angefangen habe
und weiters dass die bacteriologische Untersuchung des Eiters den
Befund von Gonococcen in ihm ergeben hat. — (Deutsche Aerzte-
zeilung. 1900, Nr. 12.)
*
338. (Aus der medicinischen Poliklinik in Kopenhagen.)
Hebe r M o r b u s B a s e d 0 w i i und M y x ö d e m. Von Doctor
Ulrich. Nach M ö b i u s sieben B a s e d o w und Myxödem in einem
gewissen Gegensätze zu einander; dennoch ist bekannt, dass die eine
Krankheit in die andere übergehen kann, ja dass die Symptome beider
bei demselben Individuum bestehen können. Verfasser siebt keinen
Gegensatz zwischen beiden Krankheiten, vielmehr eine Verwandt¬
schaft, da die Symptome beider bei genauer Erwägung nur einen
graduellen Unterschied zeigen. Bei beiden Krankheiten wird die
Schilddrüse in verschiedener Weise verändert vorgefunden, bei
beiden Tachycardie und vermehrte Alhmungsfrequenz beobachtet
Exophthalmus kann bei Basedow fehlen, bei Myxödem
vorhanden sein; Tremor ist ein Cardinalsymptom beim Basedow,
Tremor palpebrarum ein solches des Myxödems. Muskeldegenerationen,
epileptiforme Zuslände und Contracturen können bei beiden vor-
Nr. 37
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
835
handen sein; Schweiss ist beim Basedow häufiger; auch die
übrigen Symptome: Ausfall der Haare, Oedeme, Hautblutungen,
Piffmenlirunff, Skleroderma können sich bei beiden Krunkheiten
vorfinden. Für die Verwandschaft des Morbus Basedowii und des
Myxödems spricht weiter auch deren oft gleiche Reaction gegen¬
über der Schilddrüsentherapie. — - (Therapeutische Monatshefte.
1900, Nr. 6.)
*
339. (Aus der chirurgischen Klinik in Zürich.) Klinisches
und Bacteriologisches über »Gangrene foudroyante«.
Von Dr. Hämig und Dr. Silberschmidt. Verfasser berichten
über drei Fälle von offenen Fracturen, an die sich eine ausser¬
ordentlich heftige Wundinfection anschloss. Im ersten Falle handelte
es sich um einen complicirten linksseitigen Vorderarmbruch. Trotz
sorgfältiger, am Tage nach dem Unfälle in Narkose ausgeführter
Desinfection zeigte sich am vierten Tage eine acute, progrediente
Gasphlegmone, der Patient ungeachtet der ausgeführten Exarticulatio
humeri am sechsten Tage erlag. Im anderen Falle war gleichfalls
nach einer Vorderarmfractur trotz Desinfection eine Gasphlegmone
am zweiten Tage schon aufgetreten, die eine Ablatio humeri noting
machte. Patient steht jetzt nach einem halben Jahre noch in Be¬
handlung. In beiden Fällen wurde der Bacillus des malignen Oedems,
im ersteren Falle noch combinirt mit dem Bact. coli, im letzteren
mit Strept. pyogenes aufgefunden. Im dritten Falle, der eine Zer¬
trümmerung des Fusses betraf, wurde die Exarticulation im Cho-
part ausgeführt. Am dritten Tage Zeichen der Infection, weshalb
Exarticulatio genu. Bacteriologischer Befund: Ein anaerob wachsender
Bacillus, Staphylococcus und Streptococcus pyogenes. Verfasser em¬
pfehlen Desinfection mit 1- und 3%igen Wasserstoffsuperoxyd¬
lösungen, eventuell Auffrischung der Wunde nach dem Vorschlag
von Friedrich. Derartige schwere Verletzungen müssen vom
Arzte stets genau verfolgt und beaufsichtigt werden. — (Correspon-
denzblatt für Schweizer Aerzte. 1900, Nr. 12.)
*
340. (Aus dem Louisen-Hospital in Aachen.) Z u r K e n n t-
niss der Osteomyelitis. Von Dr. Koch. Wenn auch die
Osteomyelitis ihre bekannten Lieblingsitze hat, so zeigt es sich
doch allmälig, dass die verschiedensten Knochen von ihr befallen
sein können. Dabei können kleine Herde in den Rippen als Em¬
pyeme der Pleurahöhle, Herde im Schläfenbein als intracranielle
Abscesse in Erscheinung treten. Von Ostitis der Wirbelsäule sind
bereits 47 Fälle bekannt geworden; zu den 7 Fällen von Ostitis
des Sternums fügt Verfasser einen neuen hinzu. Derselbe betraf
einen 30jährigen Mann, der plötzlich unter heftigen Magenschmerzen
und Fieber erkrankt war. Erst neun Tage später kam es zur Bil¬
dung eines erkennbaren Knochenabscesses. Bei der Operation fand
sich fast das ganze Corpus stern i infiltrirt und musste entfernt
werden. Bei der drohenden Gefahr einer eiterigen Mediastinitis ist
ein möglichst frühes Eingreifen für die Prognose ausschlaggebend.
— (Münchener medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 25.)
*
341. Idiopathische Osteopsathyrosis. Von Doctor
Lange (München). Der Name rührt von Lob stein und will
eine abnorme Knochenbrüchigkeit bezeichnen. Dieselbe ist eine
symptomatische und eine Folge allgemeiner Ernährungs¬
störungen (Rachitis, Osteomalacie, Scorbut), oder localer Ursachen
(Gumma, Carcinom, Sarkom, Echinococcus, überhaupt Cysten, Osteo¬
myelitis), oder bei gewissen Erkrankungen des Nervensystems (Polio¬
myelitis, Tabes, Paralyse, Neuritiden) auftretend; sie wird als idio¬
pathisch bezeichnet, wenn keine der genannten Ursachen die
Brüchigkeit des Skeletes erklärt. Lange berichtet über einen
sechsjährigen Knaben, der bis zum Alter von 22 Monaten völlig
gesund war, namentlich keine Rachitis gezeigt hatte, welcher seither
in Folge ganz unbedeutender Traumen 22 Knochenbrüche erlitten
hatte. Alle Fracturen heilten immer anstandslos aus. Nach
Schuch ardt soll dieser Brüchigkeit eine mangelhafte Knochen¬
bildung von Seite des Periostes zunächst zu Grunde liegen.
(Münchener medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 25.)
*
342. Ueber nervöse Com plicationen der chro¬
nischen Gastritis. Von Dr. Richter (Münster). Die mit
Gasentwicklung einhergehenden Gährungen bei der Gastritis können
auf die im Magen reichlich vorhandenen Nerven eine Irri¬
tation ausüben, wodurch das Entstehen nervöser Complicationcn
erklärlich wird. Zu diesen gehört der öfter beobachtete Cardiakrampf,
der freilich selten so heftig wird, dass dadurch Störungen der
Nahrungsaufnahme bedingt wurden. Eine weitere Erscheinung ist das
nervöse Autstossen und, wie Verfasser hervorheben möchte, auch
Ohrensausen. Fast alle an chronischem Magenkatarrh Leidenden
klagen mehr oder weniger über Kopfschmerzen, viele über Frösteln
und Hitze, manche über Schwere und Schwindelgefühl im Kopfe,
über Platzangst und alle diese Klagen werden zum Magenkatarrh
in Beziehung gebracht. Unter die Kategorie dieser Erscheinungen
rechnet Richter auch das Ohrensausen. — (Archiv für Ver¬
dauungskrankheiten. Bd. VI, Heft 2.)
*
343. (Aus der chirurgischen Abtheilung des Prof. Bayer
in Prag.) Ueber einen Fall von Intestinum acces-
s o r i u m. Von Dr. Wanitschek. Bei dem 16 Monate alten
Mädchen fand sich folgende Abnormität: Zwischen rechtem Labium
majus und minus der Vulva bestand eine mit Darmschleimhaut
überkleidete hühnereigrosse Vorwölbung, an deren Kuppe sich eine
Oeffnung befand, die in einen Canal führte, dessen Ende nicht
erreicht werden konnte. Wie die Operation und anatomische Unter¬
suchung ergab, handelte es sich hier um ein ausserhalb der Bauch¬
höhle befindliches, mit keinem sonstigen Darmtheile zusammen¬
hängendes, zu zwei Drittheilen mit Peritoneum überzogenes, etwa
14 cm langes Darmstück, das an der genannten Stelle nach aussen
mündete. — (Zeitschrift für Heilkunde. 1900, Heft 3.)
*
344. Ein Fall von erworbener Stenose der Pul¬
monalarterie. Von Dr. Kasern -Beck (Kasan). Bei dem
50jährigen Manne hatten ausser positivem Venenpuls an der Herz¬
spitze und im zweiten linken Intercostalraum ein systolisches
Fremissement cataire, ein starkes systolisches und ein schwaches
diastolisches Geräusch in den gleichen Gegenden bestanden. Der
zweite Pulmonalton war nicht accentuirt. Es wurde Mitralinsufficienz
mit relativer Tricuspidalisinsufficienz angenommen. Die Section ergab
eine Stenose der Pulmonalis in Folge von Gummata an der Inlima.
— (Central blatt für innere Medici n. 1900, Nr. 23.)
*
345. (Aus der chirurgischen Klinik des Prof. Moris an i in
Genua.) Ueber den Werth der Plastik mittelst quer¬
gestreiften Muskelgewebes. Von Dr. Capurro. Die
Untersuchungen ergaben, dass frei eingepflanzte Muskellappen
immer, und zwar durch Verkäsung oder fibröse Umwandlung zu
Grunde gehen. Gestielte Lappen haben eine Contractionsfähigkeit,
die grösser ist bei partiellen, weniger gespannten und gedrehten
Lappen, sowie bei solchen, die aus nahen, parallel laufenden
Muskeln genommen und in eine Aponeurosc eingepflanzt werden.
— (Archiv für klinische Chirurgie. Bd. LXf, Heft 1.)
*
346. Ueber Spondylitis typhosa. Von Dr. Schanz
(Dresden). Vier Wochen nach der Entfieberung nach einem über¬
standenen Typhus waren bei der 36jährigen Patientin die Zeichen
der Spondylitis aufgetreten: Subjectiv: Schmerzen in den Beinen,
dann Kreuzschmerzen und Unbeweglichkeit; objectiv: bedeutende
Druckempfindlichkeit der Lendenwirbel. Heilung im Gypsbett.
Wichtig für die Diagnose sind das Ueberstehen eines Typhus
und das Vorhandensein weiterer Infectionshcrde; im vorliegenden
Falle war noch das Schultergelenk ergriffen gewesen und der rechte
Bulbus vereitert. — (Archiv für klinische Chirurgie. Bd. LXf,
Heft 1.)
*
347. Ueber die Bedeckung von Laparotomie¬
wunden mit B r u n s’scher Airolpasto. Von Dr. Frankl
(Wien). Frankl beobachtete an der WinckePschen Klinik in
München bei Laparotomiewunden, die mit Airolpaste bedeckt
worden waren, nicht selten Stichcanaleiterungen. Untersuchungen,
welche klarstellen sollten, inwieweit die genannte Paste den Bac-
teri umwachsthum hindere, ergaben, dass Staphylococcus aureus in
ihr Colonien zu bilden im Stande sei. Verfasser empfiehlt daher,
von der Paste zur Bedeckung von Wunden abzusehen und dafür
lieber Airolgaze oder -pulver anzuwenden. — (Centralblatt für
Gynäkologie. 1900, Nr. 22.)
*
836
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 37
348. Ausgang von Gicht in acute Myositis. Von
Dr. Myrtle. Verfasser hat seit vier Jahren an Gicht gelitten.
Eines Morgens wurde er durch heftige, in seinem linken Beine
aufgetretene Schmerzen erweckt, die sich als ein Symptom einer
im Bereiche dieser Extremität aufgetretenen Myositis darslellten.
Myrtle bringt diese mangels jeder anderen Erklärung mit der
bestehenden Gicht in ätiologischen Zusammenhang. — (British med.
Journ. 1900, 9. Juni.)
*
349. Zur Desinfection der Hände in der H e b-
a m m e npraxis. \ on Dr. K o s s m a n n und Dr. Zander
(Berlin). Durch ihre bacteriologischen Untersuchungen glauben die
Verfasser, entgegen den Behauptungen von anderer Seite, ver¬
sichern zu können, dass eine -°/o(9ec C h i n o s o 1 lösung der für
die Hebammen vorgeschriebenen 3°/uigen Carhollösung an des-
inficirender Kraft überlegen ist. Erslere hat den Vorzug, ungiftig zu
sein und das Gefühl an den Fingern nicht abzuslumpfen.
(Centralblatt für Gynäkologie. 1900, Nr. 22.)
*
350. Die Brown-Sequa r d'sche Meerschweinche n-
epilepsie und ihre erbliche Uehertragung auf die
Nachkommen. Von Dr. Sommer. Durch Resection des
Ischiadicus kann man hei Meerschweinchen einen Zustand erzeugen,
welcher mit der menschlichen Epilepsie weitgehendste Aehnlichkeit
hat. Entgegen Anschauungen von anderer Seite ist die derartig er¬
zeugte Meerschweinchenepilepsie nach S o m m e r auf die Nach¬
kommenschaft nicht übertragbar, und unterscheidet sich auch
wesentlich von der menschlichen Epilepsie. — (Ziegler’s Beiträge
zur pathologischen Anatomie. Bd. XXVI 1, Heft 2.)
*
351. In der Gesellschaft der Charite-Aerzte in Berlin sprach
Dr. Oestreich über Thymusdämpfung. Die an
100 Kinderleichen ausgeführten Untersuchungen ergaben: Bei
Kindern bis zum fünften Lebensjahre findet sich regelmässig eine
dreieckige absolute Thymusdämpfung, welche von den Sterno-
claviculargelenken bis zur Höhe der zweiten Rippe reicht; eine
Vergrösserung derselben ist auf eine Vergrösserung der Thymus zu
beziehen. Nach dem sechsten Lebensjahre verschwindet gewöhnlich
diese Dämpfung, so dass eine solche jenseits der genannten Alters¬
grenze auf käsige Mediastinal- und Bronchialdrüsen hinweist.
Drüsen im Zustande frischer, markiger Schwellung gehen keine
Dämpfung. Pi.
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Die Primarärzte Dr. Rudolf Frank und Dr. Friedrich
Ko vacs in Wien wurden in gleicher Eigenschaft ins Allgemeine
Krankenhaus übersetzt.
*
Ernannt: Der Landesgerichtsarzt Dr. Moriz Hofmann
in München zum a. o. Professor für gerichtliche Medicin.
*
Verliehen: Dem Badearzt Dr. F r i e d r i c h 8 c h u m a n-
L e c 1 e r <j in Karlsbad das Ritterkreuz erster Classe des königlich
sächsischen Albrecht-Ordens. — Dem Privatdoccnten für Chirurgie in
Halle Dr. Haasler das PräJicat Universitätsprofessor.
*
II a b i 1 i t i r t: Dr. Schulz als Privatdocent für Physiologie
in Erlangen. In Rom: Dr. Bonomo für medicinische Pathologie
und Dr. Ponticaccia für Kinderheilkunde.
*
Nach dem 20. Jahresberichte des Karolinen- Kinder spitales in
V ien sind im Jahre 1899 daselbst 22.378 Kinder, davon 882 als
Spitalspfleglinge ärztlich behandelt wouhn. Von den Letzteren
konnten 548 geheilt entlassen werden, während 150 gestorben sind.
*
Nach den Mittheilungen englischer Journale ist möglicher Weise
das erster Opfer der Pest in Glasgow ein am 20. August unter
den Symptomen einer acuten Pneumonie erkranktes und innerhalb
18 Stunden verstorbenes Kind gewesen. Am nächsten Tage erkrankten
dessen beide Eltern, die -ins Spital geschafft wurden, wobei zum
ersten Male der Pestverdacht ausgesprochen wurde. Nach den
Meldungen der Tagesblätter sind bis 6. September 13 Personen an
Pest erkrankt, während 109 als pestverdächtig in Beobachtung stehen.
Die Verschleppung der Pest nach Glasgow soll andererseits mit dem
Schiffe Clan Mac Arthur aus Calcutta in Zusammenhang gebracht
werden, das, nachdem es einen Pesttodesfall an Bord gehabt hatte,
am 15. August an der Themsemündung desinficirt worden war und
zwischen dem 18. und 21. August von da nach Glasgow abgefahren
sein soll.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 32. Jahreswoche (vom 5. August
bis 1 1. August 1900). Lebend geboren: ehelich 566, unehelich 246, zusammen
812. Todt geboren: ehelich 48, unehelich 18, zusammen 66. Gesammtzahl
der Todesfälle 570 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
179 Todesfälle), darunter an Tuberculose 107, Blattern 0, Masern 7,
Scharlach 2, Diphtherie und Croup 2, Pertussis 2, Typhus abdominalis 3,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 2, Neu¬
bildungen 36. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
10 ( — 6), Masern 76 ( — 34), Scharlach 22 (-f- 3), Typhus abdominalis
9 ( — 12), Typhus exanthematicus 0 (=), Erysipel 22 (-{- 10), Croup und
Diphtherie 19 (-|- 2), Pertussis 15 ( — 11), Dysenterie 0 (=), Cholera 0 (=),
Puerperalfieber 2 ( — 1), Trachom 5 ( — 2), Influenza 0 ( — 1).
*
Aus demSauitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeinde gebiete. 33. Jahreswoche (vom 1 2. August
bis 18. August 1900). Lebend geboren: ehelich 613, unehelich 236, zusammen
879. Todt geboren: ehelich 33, unehelich 14, zusammen 47. Gesammtzahl
der Todesfälle 557 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
17 5 Todesfälle), darunter an Tuberculose 91, Blattern 0, Masern 3,
Scharlach 2, Diphtherie und Croup 3, Pertussis 3, Typhus abdominalis 1,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 1, Cholera 0, Puerperalfieber 1, Neu¬
bildungen 38. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (—), Varicellen
5 ( — 5), Masern 73 ^ — 3), Scharlach 19 ( — 3), Typhus abdominalis
6 ( — 3), Typbus exanthematicus 0 (=), Erysipel 14 ( — 8), Croup und
Diphtherie 29 ( — 10), Pertussis 28 (-[- 13), Dysenterie 1 (-f- 1), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 1 ( — 1), Trachom 7 (-[- 2), Influenza 0 (=)•
Bei der Redaction eingelangte Bücher.
(Mit Vorbehalt weiterer Besprechung.)
Ktlfemann, Rhino-pharyngologisehe Operationslehre mit Einschluss der
Elektrolyse. Marhold, Halle a. S. 112 S.
Klinisches Jahrbuch, Bd. VII, Heft 4. Fischer, Jena. Preis M. 5. — .
Stetter, Betrachtungen über die Grenzen der Otochirurgie bei der Be¬
handlung der eiterigen Mittelohr- und Warzenfortsatzentzündungen.
Ibidem. Preis M. 0.60.
Okatla, Diagnose und Chirurgie des otogenen Kleinhirnabscesses. Ibidem.
Preis M. 5. — .
Pieraccini, L’assistenza dei Pazzi. Hoepli, Milano 1901. Preis L. 2.50.
llirth, Die Mutterbrust, ihre Unersetzlichkeit und ihre Gewöhnung zur
früheren Kraft, llirtb, München 1900. 2. Auflage.
Schieffertleckcr, Das Radfahren und seiue Hygiene. Ulmer, Stuttgart.
Preis M. 8.—.
Hag eil, Die sexuelle Osphresiologie. Barsdorf, Charlottenburg 1901.
290 S.
Bernstein, Anleitung zur Verhütung geschlechtlicher Erkiankungen.
Fischer. Cassel. 48 S.
Spengler, Zur Diagnose geschlossener Lungentubei culose, der Secundär-
infection, tuberculöser und syphilitischer Phthise. Richter, Davos.
Preis M. 1.60.
Neumann, Ueber die Behandlung der Kinderkrankheiten. 2. Auflage.
Coblentz, Berlin. Preis M. 8. — .
Obst, Karl Ewald Hasse, der Nestor der deutschen Kliniker. Richter,
Hamburg. Preis M. 1.20.
Kitasato, Bericht über die Pestepidemie in Kobe und Osaka. Tokio.
Schenk, Aus meinen Universitätsleben. 2. Auflage. Marhold, Halle. Preis
M. 1.50.
Itedard, Traite pratique des deviations de la colonne vertebrale. Masson,
Paris. Preis Eres. 12. — .
Sommerfeld, Wie schütze ich mich gegen Tuberculose? Coblentz,
Berlin. Preis M. 0.60.
Heidenhain, Ueber den Nutzen des Schwitzens. Köslin, Hoffmann. 15 S.
FrentzeJ, Ernährung und Volksnahrungsmittel. Ttubner, Leipzig. Preis
M. 1.15.
Arbeiten aus dem kaiserlichen Gesundheitsamte. Bd. XVII, lieft 1.
Springer, Berlin. Preis M. 11. — .
Bunge, Der Vegetarianismus. 2. Auflage. Hirschwald, Berlin. 45 S.
Berthold, Die intranasale Vaporisation. Ibidem. 60 S.
Kuppel, Die Proteine. Marburg. Selbstverlag von Prof. B e h r i n g. Preis
M. 7.—.
Breitenstein. 21 Jahre in Indien. 2. Theil. Grieben, Leipzig. Preis
M. 8 50.
Der Curort Baden bei Wien. Herausgegeben von der Curcommissioo.
Deuticke, Wien. 149 S.
Kolisch, Lehrbuch der diätetischen Therapie. 2. Theil. Ibidem. Preis
K 12.-.
Nr. 37
WEENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
837
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
IISrü^LX:
13. Internationaler medicinischer Congress zu Paris. (2.-9. August 1900.) (Fortsetzung.)
13. Internationaler medicinischer Congress zu Paris.
(2. — 9. August 1900.)
(Fortsetzung.)
Abtheilung für Dermatologie und Syphiligraphie.
Prof. Riehl (Leipzig) theilt mit, dass er sich von der Richtig¬
keit der Tuberculiden-Theorie nicht überzeugen konnte. Die
Theorie fusst hauptsächlich aut den Erfahrungen, welche man bezüg¬
lich der Erscheinungen nach Tuberculininjectionen gemacht hat. Die zahl¬
reichen Exantheme, welche durch Tuberculin erzeugt worden sind,
zeigen zumeist die Charaktere toxischer Exantheme, wie sie auch nach
Einverleibung anderer toxisch wirkender Substanzen Vorkommen. Man
dürfe keineswegs diese Exanthemformen für den Toxinen der Tuberkel¬
bacillen eigenthümliche erklären, da sie nichts Charakteristisches an
sich haben. (Symmetrie etc.).
Ausserdem scheint es sehr gewagt, eine grosse Zahl von Haut-
affectionen in einer Gruppe als Tuberculide zu vereinigen, da über
die Production von Toxinen des Tuberkelbaeillus im menschlichen Körper
und über die Wirkungen dieser Toxine bisher fast nichts Thatsächliches
bekannt ist.
Als hauptsächliche klinische Begründung für die Tuberculiden-
theorie wird angeführt, dass die als Tuberculide bezeichnete Ilaut-
affection häufig bei Individuen mit Tuberculose innerer Organe (Lungen,
Drüsen etc.) Vorkommen.
Dem ist entgegenzuhalten, dass der Nachweis von Tuberculose
innerer Organe bei den Trägern der Hauttuberculide nur in einem
mehr minder grossen Procentsatz, aber durchaus nicht allgemein er¬
bracht werden konnte. Wie leicht man Täuschungen zum Opfer falle,
wenn man z. B. anamnestische Angaben zur Statistik verwerthet, sei
auch in der Geschichte der Dermatologie bekannt. Vor circa 30 Jahren
fanden fast alle französischen Autoren als Hauptgrund für Hautkrankheiten
speciell für Ekzeme eine Dyskrasie, den Arthritismus, dessen Existenz
fast jede Krankengeschichte nachzuweisen suchte.
Den immer citirten Zusammenstellungen von sehr häufiger Coin-
cidenz von Tuberculiden und Tuberculose innerer Organe, stehen auch
statistische Angaben anderer Autoren gegenüber, in welchen die Tuber¬
culose nicht häufiger erscheint als ihrer allgemeinen Verbreitung ent¬
spricht.
Als drastisches Beispiel dafür, dass das Nebeneinander der Haut-
affection und Tuberculose innerer Organe durchaus noch keinen Beweis
für den directen ätiologischen Zusammenhang bildet, führt Riehl
die bekannte Schimmelpilzkrankheit Pityriasis versicolor an, welche
bekanntlich bei Tuberculösen sehr häufig beobachtet wird. Mikrosporon
furfur dürfte durch Ernährungs- und Secretionsstörung etc. an der
Haut der Tuberculösen einen besseren Nährboden finden und daher
bei diesen häufiger Vorkommen, trotzdem werde aber kein Arzt diese
Pityriasis versicolor für ein Tuberculid erklären wollen.
Für zwei zu den Tuberculiden gezählte Hautkrankheiten, Lichen
scrophulosorum und Lupus erythematosus führt Riehl eine Reihe
von klinischen und anatomischen Gründen an, welche ihrer Einreihung
unter die Tuberculide widersprechen.
Für den Lichen scrophulosorum nimmt Riehl den Standpunkt
ein, dass die tuberculose Natur dieser Erkrankung noch keineswegs
bewiesen sei. Für diejenigen Autoren, welche Bacillen in den Knötchen
nachgewiesen zu haben glauben, müsse die Affection als Hauttuber¬
eulose und nicht als Tuberculid gelten. Als durch Tuberkeltoxine er-
zeugt, dürfe man diese Krankheit nicht betrachten, weil sie auch bei
nicht tuberculösen Individuen vorkommt. Riehl hält die von v. Hehr a
gewählte Bezeichnung Lichen scrophulosorum für vollkommen zutreffend
und den Stand unseres Wissens erschöpfend.
Unter 21 Fällen von Lupus erythematosus fand Riehl nur
bei zwei Fällen Tuberculose innerer Organe; fast die Hälfte der in Leipzig
beobachteten Fälle betreffe blühend aussehende und gesunde Landleute.
Es sei auch schwer begreiflich, wie toxische Einwirkungen die Ursache
für einen Lupus erythematosus in Form einer oder mehrerer Scheiben,
die manchmal 10 — 20 und mehr Jahre fast unverändert fortbestehen,
abgeben sollen.
Um eine verlässliche Grundlage für die Beurtheilung der Frage
zu gewinnen, hat Riehl mit Einwilligung des Vorstandes des patho¬
logisch-anatomischen Instituts in Wien, Herrn Prof. Dr. Weichsel¬
baum, die Obductionsprotokolle von den Jahren 1866 — 1900 auf
Lupus erythematosus-Fälle durchsehen lassen. Es fanden sich zehn
sichere Fälle.
Eingerechnet 3 von Kaposi, 1 von Kopp und 1 von P e-
trini di Gaiatz publieirte Obductionsbefunde von Kranken, welche
an Lupus erythematosus gelitten hatten, ergibt sich eine Reihe von
15 Fällen, von welchen 10 bei der Obduction keine Spuren
frischer oder abgelaufener Tuberculose gezeigt haben.
Dieses Ergebniss beweist mit Sicherheit, dass die Toxine des
Tuberkelbaillus nicht die ausschliessliche, und mit grösster Wahr¬
scheinlichkeit, dass sie überhaupt nicht die Ursache für die Entstehung
des Lupus erythematosus bilden.
Riehl möchte demnach davor warnen, die Tuberculideulehre
für mehr als eine geistreiche Hypothese zu halten und dieselbe
bereits als feststehend in Lehrbüchern zu verbreiten.
*
Abtheilung für innere Medici n.
III. Sitzung.
I. Referent M a s i u s (Lüttich) : Pathogenese des acuten
Lungenödems.
Oedem ist eine abnorme Anhäufung von Lympheu in den
Zellräumen. Das Lungenödem ist nur eine besondere Art, indem
es zwei ihm eigenthümliche Charaktere hat, die beide durch die
Vehemenz des Processes und die besondere Localisation bedingt
sind: 1. nämlich die Anhäufung von Flüssigkeit nicht nur in dem
Lymphgewebe, sondern auch, und besonders in den Alveolen, durch
Ruptur ihrer Wand und Transsudation durch dieselbe hindurch; 2. die
Schnelligkeit der Entwicklung, welche den klinischen Erscheinungen
das Gepräge gibt. Es gibt bisher drei Theorien der Pathogenese:
a ) die rein mechanische Theorie, welche das Oedem auf eine erhebliche
Steigerung des Seitendrucks in den Capillargefässen zurückführt; b) die
Theorie von Hamburger und Heidenhain, welche das Oedem
als den Ausdruck der gesteigerten secretorischen Function der Endo¬
thelzellen der Capillarwand ansieht, und c) die Theorie von Winter,
Starling u. A., welche das Oedem als die Folge der veränderten
osmotischen Beziehungen der Flüssigkeiten diesseits und jenseits der
Gefässwände und der vei änderten Durchlässigkeit des letzteren. Klinisch
lassen sich drei Formen unterscheiden: a ) das entzündliche Oedem,
wahrscheinlich als Folge eines vasodilatatorischen Reflexes. Circum-
script oder diffus entsteht es unter dem Einfluss irgend einer Gelegen¬
heitsursache und führt zu einer Läsion der Wände durch Mikroben¬
einwanderung mitten im normalen LuDgengewebe; b) das Stauungs¬
ödem, weitaus das häufigste, im Gefolge von Herzaffectionen, besonders
Klappenstenosen, Gefäss- und Nierenerkrankungen, auch Arterio¬
sklerose. Die zahlreichen experimentellen Untersuchungen haben
zu wiederholten Resultaten geführt, die auch zumeist auf die mensch¬
liche Pathologie keine Anwendung finden können. Am Besten gestützt
ist die Erzeugung von Lungenödem durch Steigerung des Drucks in
der Art. pulmon. Es gibt keine einheitliche Ursache der Pathogenese
des Lungenödems, vielmehr können sehr verschiedene Factoren bei
seiner Entstehung mitwirken. Eines nur ist ihnen gemeinsam, das
offenbar die Grundlage der Entwicklung jedes Lungenödems bildet:
die Alteration der Wand der Lungencapillaren. Die vermehrte Durch¬
lässigkeit derselben ist ein regelmässiger Befund ; c) das toxische
Oedem, das indess aber bisher nur experimentell sichergestellt (Mus¬
carin, Jod).
Correferent Teissier (London) zieht zur Erklärung der Patho¬
genese des acuten Lungenödems die Gesammtheit der drei Theorien
heran, welche bisher einzeln in diesem Sinne verwerthet worden sind:
mechanische Störungen (besonders in Deutschland viele Anhänger,
namentlich v. Basch und seine Schüler Grossmann und
Winkler, die experimentell die Frage sehr intensiv seit vielen Jahren
bearbeitet haben), nervöse Einflüsse (vasomotorische Störungen, beson-
838
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 37
ders II u chard) und drittens infectiös-toxisehe Ursachen (experimentell
erzeugt durch Muscarin, Amylnitrit, Blausäure, Methylsalicylat u. A.).
Beim Menschen bereiten vorangegangene Infectionskrankheiten oft den
Boden für die Entwicklung des Oedems: vor Allem acuter Gelenk¬
rheumatismus, dann Influenza, fener noch Typhus, Pneumonie und
Puerperalfieber. Dass die genannten drei Factoren zusammen wirken
müssen zur Auslösung eines acuten Anfalles von Lungenödem, hat
Redner durch eigene experimentelle Untersuchungen bestätigt gefunden,
welche folgende Ergebnisse hatten: Vorübergehende, selbst heftige
mechanische Störungen lösen keinen Anfall aus; so z. B. die Com¬
pression der Aorta, selbst wenn der Druck aufs Dreifache erhöht wird.
Ebensowenig eine Nervenläsion allein (Durchschneidung und Resection
des Vagus), wohl aber in Verbindung mit mechanischen Hindernissen,
wenn auch nur leicht und vorübergehend. Lässt man dazu noch eine
Blutvergiftung (Methylsalicylat) hinzutreten, dann erst erscheint der
volle Symptomencomplex. Das acute Lungenödem bietet eine ganz andere
Prognose, als das chronische und passive, rein mechanischen Ursprungs.
Es endet meist schnell tödtlich. Die Schwere eines Anfalles ist abhängig
von der Functionstüchtigkeit der Nieren. Die Therapie kann sich noch
nicht auf die erkannten ätiologischen Momente stützen. Von Nutzen
sind nach praktischen Erfahrungen der Aderlass und blutige Schröpf¬
köpfe, Amylnitrit und Carbolsäure, rectal injicirt. Vor Morphium ist zu
warnen. Atropin ist wirkungslos.
H u c h a r d (Paris) glaubt, dass man aus dem klinischen Bilde
allein schon vollkommen die Pathogenese ableiten könne, ohne dazu
des Experimentes zu bedürfen. Der Ausgangspunkt des Herzens ist
alle Mal die acute Insufficienz des Herzmuskels. In Folge dessen kommt
es auch zu einer Dehnung des Herzens, wenn die Kranken den Anfall
überstellen, oder die Anfälle sich wiederholen. Das Herz führt dann
auch schliesslich zum Tode. Therapeutisch steht der Aderlass in aller¬
erster Reihe. Jod und Morphium sind nicht zu empfehlen.
II. Merk len (Paris): Lungenödem und Urämie.
Vortragender berichtet über eine Beobachtung, welche gestattet,
den Antheil der Circulationsstörungen und der Niereninsuffieienz bei
der Entwicklung des acuten Lungenödems von einander zu unterscheiden.
Ein Kranker mit chronischer interstitieller Nephritis bekam gelegentlich
einer Influenza eine acute Exacerbation. In wenigen Tagen bekam er
stets plötzlich dreimal einen Anfall von Lungenödem, über den ihn
zweimal der Aderlass hinweghalf. Dem dritten Anfall erlag er. Nie¬
mals liess sich im Anfall eine Schwäche der Ilerzthätigkeit consta-
tiren. Bei der Section fauden sich die Nieren atrophisch, der linke
Ventrikel hypertrophisch, aber nicht dilatirt. Die Lungen waren öde-
matös, ebenso das Gehirn. Im Herzen fand sich mikroskopisch eine
schwere Myocarditis fibrosa mit körniger Degeneration und Fragmen¬
tation der Fibrillen, die sich klinisch durch kein einziges Zeichen ver-
rathen hatte. Sie kann also ätiologisch nicht in Betracht kommen. Viel¬
mehr sind Lungen- und Hirnödem offenbar durch die Niereninsuffieienz
zu Stande gekommen.
Dieulafoy (Paris): Das acute Lungenödem tritt zuweilen
auch bei acuter Nephritis auf, selbst bei der Scharlachnephritis,
schliesslich auch bei Leuten mit schleichendem Morbus Brightii, der
nie bemerkenswerthe Erscheinungen gemacht hat. Solche Fälle zu er¬
klären, sind wir gegenwärtig noch gar nicht im Stande. Schwere ana¬
tomische Läsionen an Herzen und Aorta können nicht vorhanden sein,
weil sich die Kranken oft noch von dem Anfalle erholen. Das beste
Mittel ist der Aderlass.
III. V i d a 1 (Hyeres) : Sur le role de l’h erpes grippal
dans la pneumonie et aut res maladies infectieuses.
Nach Erfahrungen bei der letzten grossen Influenzaepidemie
hält Vortragender den Herpes für die Eintrittspforte der patho¬
genen Bacterien, welche die Erreger fieberhafter infectiöser Erkran¬
kungen sind. Von den Herpesbläschen aus gelangen sie in die Blutbahn
und so in die inneren Organe. Besonders trifft dies für die Influenza-
pueumonie zu.
IV. Gilbert et Garnier (Paris) : Du foie dans les
a n e m i e s.
So verschieden wie die Anämien, so mannigfach sind auch die
Veränderungen der Leber dabei. Die Vortragenden haben histologisch
die Structurveränderungen der Leber bei Kaninchen und Hunden studirt,
die durch wiederholte Aderlässe anämisch gemacht worden waren. Es
fanden sich stets Veränderungen in der Leber, und zwar eine tume¬
faction transparente“ in den Zellen ganz diffus. Diese Schwellung war
zuweilen schon bis zur Nekrose vorgeschritten. Andererseits befanden
sich die Zellen theilweise noch in einem früheren Stadium der Zer¬
störung: das Protoplasma war von hellglänzenden Kügelchen durch¬
setzt. Diesen ersten Grad der transparenten Schwellung fanden die
Autoren auch in der Leber eines jungen Mädchens, das an Purpura
haemorrhagica zu Grunde gegangen war. Diese Zellveränderung brauche
die Functionen der Zellen nicht zu beeinträchtigen, wenn sie nicht zum
Tode derselben führen.
V. Karamitsas (Athen) : Sur la fievre hemoglo¬
bin u r i q u e palustre.
Man muss zwei Formen dieses „Schwarz Wasserfiebers“ unter¬
scheiden: mit oder ohne Ikterus. Die letztere ist häufiger. In grossen
Dosen kann Chinin Hämoglobinurie erzeugen, aber in Wirklichkeit
gibt es eine besondere Form des Sumpffiebers, die so auftritt. Redner
kann der Ansicht K o c h’s nicht beitreten, dass die Hämoglobinurie
nicht auf das Sumpffieber zurückzuführen ist, weil es sumpfige Länder
ohne Hämoglobinurie gäbe, das Blut von Parasiten wimmeln kann,
ohne dass Hämoglobinurie besteht und andererseits Hämoglobinurie
vorhanden sein kann bei Gegenwart weniger Parasiten im Blute. Diese
Argumente seien nicht stichhaltig. Bei dieser Krankheit findet man
eben regelmässig Parasiten im Blute.
VI. Boinet (Marseille): Deux cas de lymphadenie e
u n cas de leucemie myelogene.
Vortragender theilt ausführlich drei Krankengeschichten von
leukämischen Bluterkrankungen mit, die das gemeinsam haben, dass sie
auf einen infectiösen Ursprung hinweisen. In den beiden ersten Fällen
handelte es sich um eine fortlaufende Entstehung immer neuer Drüsen¬
sehwellungen (Hals, Achselhöhle, Mediastinum). Diese Generalisation
ist ähnlich der beim Carcinom. In einem der beiden Fälle fanden sich
Bacterien auf dem Drüsensaft. Die Eintrittspforte für die Bacterien war
nicht festzustellen. Im dritten Falle sprach das Vorangehen von Ver¬
dauungsstörung, besonders Diarrhöe, für einen intestinalen Ursprung
der Infection. Die Toxine führen meist zur Vergrösserung der Milz,
ganz wie beim Typhus.
VII. Fr. Pick (Prag) : Sur la fievre hepatique
intermittente.
Unter diesem Namen hat Charcot von dem den Gallenstein-
kolikaufall begleitenden Fieber (fievre hepatalgique) jenen Symptomen¬
complex, den man nicht selten bei Cholelithiasis, gelegentlich aber auch
bei Choledochusverlegung durch Tumoren, Echinococcusblasen findet,
bestehend in Schüttelfrösten, Fieber von mitunter so auffallender Regel¬
mässigkeit, dass Verwechslungen mit echtem Intermittens vorkamen;
Ikterus und Schmerzen können auch fehlen. Es handelt sich offenbar
um einen Infect der Gallenwege, auffallend ist aber, dass man oft trotz
mehrmonatlichen Bestehens starker Fieberanfälle keinerlei Eiterung in
den Gallenwegen, sondern nur Schleim und nirgends Eiterherde im
Körper findet. Pick hat die Verhältnisse der Leukocyten in einem
solchen sechs Monate lang beobachteten Falle untersucht, der während
dieser Zeit 56 starke Fieberanfälle (bis 41°) zeigte, bei welchem die
Section einen Gallenstein, im Begriffe aus dem Choledochus ins Duo¬
denum durchzubrechen, ergab. Es fand sich die Zahl der Leukocyten
zwischen den Anfällen stets normal, ebenso während der Anfälle im
Anfang der Beobachtung, später zeigten die Anfälle vorübergehende
Leukocytose. Das Fehlen der Leukocytose zwischen den Anfällen kann
zur Differentialdiagnose gegenüber eiterigen Entzündungen der Gallen¬
wege und Leberabscessen dienen, was in prognostischer und thera¬
peutischer Beziehung wichtig ist.
Ein weiterer Punkt, der bei dieser Erkrankungsform von Interesse
ist, ist die Harnstoffausscheidung im Harne. Regnard hat 1872 be¬
schrieben, dass an den Fiebertagen die Harnstoffausscheidung bedeutend
sinke. Diese vielfach citirte, aber seither trotz mehrfacher Unter¬
suchungen nicht wieder bestätigte Beobachtung Regnard’s hat
Charcot als Hauptstütze der Anschauung, wonach die Leber den
Harnstoff bilde, verwerthet. Pick demonstrirt Tabellen, welche zeigen,
dass in seinem Falle in der That die Harnstoffmenge an den Fieber¬
tagen sehr bedeutend (bis 5 g) sinkt, dasselbe gilt aber auch von dem
Gesammtstickstoff und Ammoniak. Da mm, wie Pick ausführt, Re¬
tention und Inanition als Ursachen dieses Phänomens auszuschliessen
sind, muss wohl eine verminderte HarnstofFbildung angenommen werden,
und zwar entweder durch Herabsetzung des gesammten Stickstoff¬
wechsels, was man dann aber auch bei anderen Infectformen zu er¬
warten hätte, oder durch Functionsstörung der Leber. Bei letzterer
hätte man nach der jetzt geltenden Schmiedeberg- Schröder-
Anschauung, wonach Ammoniaksalze die Vorstufe des Harnstoffes dar¬
stellen, eine Vermehrung des Ammoniaks zu fordern. Da diese fehlt,
erscheint es wahrscheinlich, dass die Schlacken des Eiweissstoff¬
wechsels der Leber nicht in Form der leicht in den Harn übergehen¬
den Ammoniaksalze, sondern in einer Form zugeführt werden, die das
Nierenfilter nicht passirt. Dies ist umso eher möglich, als ja die Mutter¬
substanzen, die Ei weisskörper, normaler Weise von den Nieren zurück-
gehalten werden. Für diese Anschauung sprechen aber auch Versuche
von Ammoniakdarreichung, die Pick an einem weiteren, günstig ver¬
laufenden Falle dieser Art anstellte, wobei prompt eine Harnstoffver¬
mehrung eintrat.
Nr. 37
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
VIII. Vincent (Val de Grace): R e c h e r c li e s sur la
bacteriologie et les lesions du laryngotyphus.
Nach Besprechungen der bisherigen Anschauungen über dio
pathologische Anatomie der im Anschluss an Abdominaltyphus auf¬
tretenden Kehlkopfgeschwüre berichtet Vortragender über histo¬
logische und bacteriologische Untersuchung, die er in einem tödtlich
verlaufenden Falle hat machen können. Mikroskopisch fand sich, was
die älteste Ansicht vou Rokitansky bestätigt, eine kleinzellige,
leukocytäre Infiltration aller Schichten der Mucosa und des Perichon-
driums, bacteriologisch ein Streptococcus, besonders zahlreich in den
Geschwüren der Schleimhaut. Auch in einem anderen Falle, der günstig
verlief, ergab die Abimpfung einen Streptococcus. Die Ivehlkopfaffec-
tionen sind also wohl keine directen Wirkungen des Typhusbacillus,
sondern zufällige Complicationen, die auf andere bacterielle lnfectionen
zurückzuführen sind.
*
IV. Sitzung.
I. V i 1 1 a r d (Marseille) : Du Traitement des Pneu-
monies et Bronehopneu monies grippales.
300 Beobachtungen in drei Jahren. Auf der flöhe der Erkran¬
kung, wo die Zeichen der Toxämie sich geltend machen, wendet Vor¬
tragender folgendes combinirtes Behandlungsverfahren an : 1 . Aderlass
von 200 — 300# Blut selbst bei älteren Personen, bei kräftigen Per¬
sonen sogar zwei- bis dreimal zu wiederholen. 2. Unmittelbar darnach
subcutane Injection von künstlich sterilisirtem Serum (nach Hayem),
täglich zwei- bis dreimal in Mengen von 100 — 150 #. Sie besorgen eine
gründliche Auswaschung des Blutes und des interstitiellen Gewebes
nach vorangegangener Entgiftung durch den Aderlass. 3. Kalte Ein¬
wicklungen der Brust, dreistündlich zu erneuern. Bei dieser Behandlung
hat Vortragender kaum mehr als 10% Mortalität gehabt.
II. Boinet (Paris): Des troubles nerveux d’origine
p a 1 u s t r e.
1. Sensible Störungen: Neuralgien im Trigeminus, Ischiadicus,
Intercostalnerven etc., sowie echte Neuritiden, besonders im Ischiadicus.
Sie sind oft die zuerst in die Erscheinung tretenden nervösen Affec-
tionen, die in Begleitung der Malariaerkrankungen auftreten. Subjective
Symptome sind Parästhesien, Hyper- und Anästhesien, lanciuirende
Schmerzen. 2. Motorische Störungen, meist den ersteren folgend:
Paresen der Extremitäten, die sich allmälig zu vollständigen Lähmungen
entwickeln, meist sich aber nur auf das Muskelgebiet des betroffenen
Nerven erstrecken. Die Reflexe sind herabgesetzt oder aufgehoben.
Selten sind Krämpfe, Zittern, Athetose u. dgl. Zuweilen sieht man im
Gefolge des Sumpffiebers auch Hysteroneurasthenie. 3. Psychische
Störungen : Delirien mit Hallucinationen, namentlich bei acuten Anfällen
des Fiebers. Schliesslich kommt, namentlich nach chronischen Fällen,
Demenz, Melancholie, Paranoia etc. vor.
III. de D o m i n i c i s (Neapel) : Infection experimentale
de 1 a rate.
Zum Studium der von der Milz ausgehenden lnfectionen hat
Vortragender die Milz von Hunden unter Erhaltung ihrer Gefäss Ver¬
bindung aus der Bauchhöhle transplantirt und Reinculturen von Bact.
coli, Typhusbacillen u. dgl. in die Milz injicirt. 8 — wirkten
tödtlich nach fünf bis acht Stunden; erst in etwas grösserer
Dosis vom Blute aus. Kleinere Mengen wirken immunisirend für
kürzere Zeit.
W i d a 1 (Paris) hat hei Meerschweinchen keine Wirkungen von
Injectionen virulenter Bacterien in die Milz gesehen.
IV. Beclere (Paris) : Pathogenie des pleurisies
p u 1 s a t i 1 e s.
Vortragender erörtert, auf welche Weise wohl die Entstehung
der sogenannten pulsirenden Pleuritis zu erklären ist, bei der die
Herzschläge durch die Exsudatflüssigkeit hindurch auf die Brustwand
übertragen werden. Das kommt nur bei linksseitiger Pleuritis vor, die
tuberculösen Ursprunges ist, stets zur Eiterbildung führt, oft mit
secundärer Perforation der Lunge und von Pneumothorax begleitet.
Sie entwickelt sich immer nur langsam (chronisches Empyem), compri-
mirt stark die linke Lunge und verdrängt das Herz sehr erheblich,
ohne doch das Leben zu gefährden. Die Entstehung der Pulsation ist
so zu erklären, dass bei der Ausbreitung der eiterigen Flüssigkeit der
Widerstand der rechten fibrös verdickten Wand des Mediastinums
grösser ist, als derjenige der linksseitigen Intercostalräume, so dass
das Herz bei jeder Contraction gegen sie angedrängt wird. Den Beweis
für diese Theorie erbringt Vortragender durch Versuche an der Leiche,
durch Röntgen- Aufnahme und durch eine zufällig günstige, klini¬
sche Beobachtung eines solchen Falles bei einer Kranken mit
Trichterbrust.
V. Da land (Philadelphia) demonstrirt einen neuen Apparat,
»H ä m a t o c i t“ genannt, welcher durch Ceutrifugirung eines in einer
graduirten Pipette aufgefangenen Bluttropfens die Zahl der rothen
Blutkörperchen in demselben abzuschätzen gestattet.
VI. Ren on (Paris): L’a s p e r g i 1 1 o s e, mal a die pri¬
mitive.
Im Gegensatz zu der älteren Auffassung Virchow’s u. A.
vertritt Vortragender mit anderen französischen Autoren, dass der
Aspergillus fumigatus (Kolbenschimmelpilz) nicht nur ein secundärer
Parasit ist, sondern oft auch ein primärer pathogener Krankheits¬
erreger von derselben Bedeutung wie der Aktinomycespilz und der
Tuberkelbacillus. Die primäre Aspergillose ist nach Ren on sogar eine
nicht seltene Erkrankung, die sich gut differenziren lässt und durchaus
specifisch ist. Sie kommt spontan bei Menschen wie bei Thieren (Säuge-
thieren und Vögeln) vor, entwickelt sich in der Haut, Hornhaut, be¬
sonders aber im Respirationstractus, sowohl den Bronchien, wie nament¬
lich den Lungen, wo sie eine Pseudotuberculose erzeugt, wie man
die Affection in Frankreich vielfach noch nennt. Sie kann heilen durch
Ausstossung des Pilzherdes, oder durch Höhlenbildung zum Tode
führen. In der Aetiologie spielt die Ansteckung durch Getreide eine
Hauptrolle, da Personen, welche damit zu thun haben, besonders häufig
davon betroffen werden. Man kann die Lungenaspergillose experimentell
bei Thieren mit ihren charakteristischen Nekrosen und Ulcerationen
erzeugen.
VII. Triboulet (Paris): De la Bacteriologie du
Rhumatisme articulaire a i g u.
Sowohl bei dem einfachen acuten Gelenksrheumatismus, wie bei
den mit Complicationen (Endo-, Pericarditis u. s. w.) einhergehenden
findet man sehr verschiedene Mikroben, bald diesen, bald jenen:
Staphylococcen, Streptococcen, Diplococcen (A c h a 1 m e, Triboulet
et Coyon). Kein Bacterium kann bisher als specifisch gelten, da die
Krankheit damit noch nicht experimentell erzeugt ist. Dennoch
scheinen die Fälle, in denen sich im Blut keine Mikroben finden, pro¬
gnostisch günstig, die anderen geben dagegen Anlass, den Eintritt von
Complicationen zu verwerthen. Beim acuten Gelenkrheumatismus
scheint das Blut ein ausserordentlich günstiger Nährboden für Bac¬
terien zu sein, sie verbreiten sich darin rapid und erzeugen sehr leicht
seeundäre lnfectionen, die ja den einzelnen Fällen das klinische Ge¬
präge aufdrücken.
Widal (Paris) hat in drei Fällen von acutem Gelenk¬
rheumatismus in dem serösen Exsudat polynucleäre Leukocyten ge¬
funden, welche bei traumatischen Arthritiden fehlten. Sie scheinen also
ein specifischeres Zeichen zu sein, als die Bacterien, zu deren Ver¬
nichtung sie bestimmt sind.
Papillon (Paris) macht darauf aufmerksam, dass eines
der sichersten Zeichen der Infectiosität des acuten Gelenksrheuma¬
tismus das immer erneute epidemische Auftreten desselben in einzelnen
Häusern sei.
VIII. L e n o b 1 e (Brest) : Semiologie du caillot et du
serum dans les purpuras.
Vortragender hat in mehreren Fällen von Purpura haemorrhagiea
drei Eigenthümlichkeiten des Blutes gefunden, welche er für charak¬
teristisch hält: a ) Aus dem Blute setzt sich kein Serum ab, indem
sich das Coagulum nicht zurückzieht; b ) die Zahl der Hämatoblasten
ist vermindert, entsprechend der Intensität der Affection; c) die
Gegenwart kernhaltiger rother Blutkörperchen. Bei leichter Peliosis
dagegen bildet sich Coagulum und Serum in der gewöhnlichen Weise
in kurzer Zeit.
Apert (Paris): Man findet die mitgetheilte Anomalie der Blut-
coagulation in der That öfters bei Purpurahämorrhagien, aber durch¬
aus nicht immer. Andererseits lässt sie sich auch bei Affectionen, z. B.
Typhus abdomin., gelegentlich beobachten, wenn man die Widal’sche
Serumreaction anzustellen versucht.
*
V. Sitzung.
I. LeGendre (Paris) : Pathogenese der Gicht.
Referent bespricht zunächst sehr eingehend all die zahl¬
reichen Theorien über das Wesen und die Entstehung der Gicht,
welche von den ältesten Zeiten bis in die letzten Jahre noch auf-
gestellt worden sind. Ihr Angelpunkt ist fast durchgängig die Harn¬
säure und ihre Salze in ihren chemischen und physikalischen Wirkungen.
Die Einen erklären nur den Gichtanfall, die Anderen die grundlegende,
jrermanente, ursächliche Zellstoffwechselstörung. Auch die Erblichkeit
spielt eine grosse Rolle. Die klinische Statistik hat es ausser Zweifel
gestellt, dass die Gicht ganz besonders bei solchen Personen auftritt,
in deren Familie sich irgend welche arthritische Allgemeinerkrankungen
oder Ernährungsstörungen, wie Diabetes und Fettleibigkeit, finden. Oft
840
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 37
ist sie sogar mit einer der letzteren coinbinirt. ie Bouchard für
den Diabetes zweifellos festgestellt habe, dass er bestehe auf einer
Verminderung der Fähigkeit der Gewebe, den Zucker zu verbrennen
und die Umbildung der Kohlehydrate bis zu Ende zu führen, so sei
für die Gicht wahrscheinlich anzunehmen, dass sie entstehe durch eine
mangelhafte Verarbeitung der Stickstoffsubstanz in den Zellen, durch
einen unvollkommenen Abbau des Eiweissmolecüls. In Folge dieser
unvollständigen Zerstörung der Abfallsproducte tritt eine Stockung im
Organismus ein, sowohl durch gewisse Säuren (Essig-, Oxal-, Milch¬
säure etc.), welche die Bedingungen der Löslichkeit der Harnsäure
vermindern, als auch durch gewisse organische Körper, deren Giftig¬
keit in dem chronischen Zustande die einzelnen Anfälle auslösen kann.
Eine gewisse Verwandtschaft hat die Gicht auch zur Nephritis, die
ihr oft den Boden bereitet oder die Anfälle auslöst, sei es dadurch,
dass sie das Hinderniss für die Ausscheidung der toxischen Abfalls¬
producte der mangelhaft ernährten Gewebe aufhebt, sei es durch eine
trophoneurotische Hemmung des intracellulären Stoffumsatzes. Die er¬
worbene Gicht ist als Folge falscher Lebens- und Ernährungsweise
(Uebermass stickstoffreicher Nahrung oder oxalsäurereicher Nahrung,
fermenthaltiger Getränke, ungenügende körperliche Bewegung und
Ueberanstrengung des Nervensystems) oder einer Vergiftung (Blei). Die
erbliche Gicht entsteht durch Uebertragung der Ernährungsstörung der
Zellen auf Ei und Spermatozoon.
Correferent Duckworth (London) betrachtet die Gicht gleich¬
falls als den Ausdruck einer Ernährungsstörung, welche in einem un¬
vollkommenen Stoffumsatz in gewissen Organen besteht, vielleicht in
den Nieren und wahrscheinlich in der Leber. Dabei tritt die Neigung
zur Bildung von Harnsäure im Ueberschuss hervor, die sich periodisch
im Blute anhäuft. Die Histologie vermag die Natur dieser Störung
nicht zu erklären, welche sich eben nicht auf eine Structurveränderung,
sondern auf eine wahrscheinlich trophoneurotische Beeinflussung der
Zell function bezieht. Die anatomischen Veränderungen können secundär
entstehen und sogar im Keim vererbt werden. Die Urikämie ist der
Gicht eigenthümlich, sie findet sich in gleicher Weise bei keiner
anderen Krankheit, aber sie ruft nicht selbst die Gichtanfälle hervor,
sondern sie entstehen unter besonderen trophoneurotischen Einflüssen.
Bei der Gicht, sowie jeder harnsauren Diathese ist eine centrale Neurose
vorhanden. Die Harnsäure kann sich in sehr grossen Depots an den
verschiedensten Stellen des Körpers ablagern, ohne Schmerzen oder
Anfälle auszulösen. Sie wird oft spontan etappenweise ausgeschieden,
hat aber doch stets Neigung, in den weniger gefässreichen Geweben
permanent liegen zu bleiben. Die Blutveränderungen einerseits, welche
die Folge eines abnormen Stoffwechsels in Zellen und Geweben sind,
die localen trophoneurotischen Störungen andererseits sind als die
wesentlichen pathogenetischen Factoren der Gicht zu betrachten, welche
sich demnach als eine „neuro humorale“ Affection darstellt.
Teissier (Lyon) : Man muss von der eigentlichen Gicht den
gichtischen Rheumatismus trennen, welcher mit ersterer zuweilen in
ein und derselben Familie alternirend auftritt und bei Leuten mit
Gicht in der Ascendenz. Aber der Mechanismus der Entstehung beider
Affectionen ist sehr verschieden. Bei der Gicht handelt es sich um Ab¬
lagerung überschüssiger Harnsäure in dem Gewebe, bei dem gichtischen
Rheumatismus fällt die G arr od’sche Fadenprobe negativ aus. Vielmehr
findet sich da Oxalsäure im Ueberschuss. Wie diese Umbildung zu
Stande kommt, ist unbekannt.
His (Leipzig): Das Vorkommen von Harnsäure im Blute ist
räthselhaft, weil sie leicht zerstörbar schon in Wasser löslich ist. Das
ist nur möglich, wenn die Harnsäure im Blute in einer Verbindung
vorhanden ist, die wir noch nicht kennen. Die abgelagerten Harnsäure-
krystalle werden wie andere Fremdkörper von Wanderzellen aufge¬
nommen und zerstört. Eine grosse Menge von Urat kann auf diese
Weise aus dem Körper verschwinden. Die Verabreichung von Mitteln,
welche mit der Harnsäure leicht lösliche Verbindung geben, ist werth¬
los. Die Harnsäure wird wohl gelöst, aber es wird meist ein anderes,
schwer lösliches Salz durch eine vorhandene Base gebildet.
II. V i d a 1 et R a v a u t (Paris) : Cystodiagnostic des
epanchements sero-fibrineux de la p le vre.
Die Untersuchung der in den pleuritischen Exsudatflüssigkeiten
enthaltenen Zellen kann wichtige Aufschlüsse für die Diagnostik,
Pathogenese und Aetiologie liefern. Einige Cubikcentimeter Flüssigkeit
werden durch Probepunctiou entnommen, defibrinirt und centrifugirt.
I ärbung mit Thiouin, Hämatoxylin -Eosin und Ehrlich’s Triacid.
Die Vortragenden verfügen über 6G Fälle und zeigen auf Tafeln die
Mannigfaltigkeit des Befundes. Bei der idiopathischen Pleuritis findet
man ausschliesslich kleine Lymphocyten, zusammenfliessend, mit spär¬
lichen rothen Blutkörperchen. Bei der tuberculösen Pleuritis in ihren
verschiedenen Formen sind Formelemente sehr selten; nur einige alte
und deformirte polynucleare Leukocyteu finden sich. Bei einer strepto¬
coccenhaltigen serofibrinösen Pleuritis waren neutrophile Polynucleare
vorhanden. Am bemerkenswerthesten ist der Befund bei der Pneumo-
coccenpleuritis: rothe Blutkörperchen und einige Lymphocyten, besonders
aber sehr zahlreiche polynucleare und eine grosse Menge mononuclearer
Zellen endothelialen Ursprunges, einige davon sehr gross, schliessen
noch Polynucleare in ihrem Protoplasma ein. Bei den traumatischen
und den aseptischen Pleuritiden der Herz- und Nierenkranken sind
grosse Endothelzellen von der Oberfläche der Serosa charakteristisch,
einzeln oder in Gruppen zu zwei, drei und vier.
III. B a y 1 a c (Toulouse) : Traitementde laP4ritonite
tuberculeuse par la Ponction suivie du lavage avec
de l’eau steril isee chaude.
Vortragender will, ohne die Kranken der Gefahr der Laparotomie
auszusetzen, ihnen den Nutzen einer Ausspülung der Bauchhöhle ver¬
schaffen, und zwar ohne Anwendung der stets bedenklichen antisepti¬
schen Flüssigkeiten. Er verwendet 45° warmes Wasser, das ebenso
wirksam erscheint, indem es doch hauptsächlich darauf ankommt, das
von seinem Exsudat befreite Peritoneum in den für eine Ausheilung
möglichst günstigen Zustand zu versetzen. Die mechanische Wirkung
ist das Wesentliche. Baylac hat nach dieser Methode acht Fälle von
tuberculöser Peritonitis mit Ascites behandelt und dadurch fünf voll¬
ständig geheilt, dreimal eine vorübergehende Besserung erzielt. Vor¬
tragender gibt zum Schlüsse noch den Versuch einer theoretischen Er¬
klärung des Zustandekommens der Heilung.
IV. Pettyjohn (Michigan): Diabetes and its consti¬
tutional treatment.
V. Hammond (Washington) : Arthritis deformans:
the causes, pathology and treatment.
VI. Marini (Palermo) : Modifications structu rales
des leucocytes polynucleaires dans les infections.
Beim Studium des Blutes von Pneumonikern hat Marin i
specifische Typen von Leukocyten gefunden, von denen diejenigen mit
polymorphem Kern folgende Eigenthümlichkeiten zeigten: Im Proto¬
plasma hat um den Kern herum eine Anhäufung von neutrophilen
Granulationen statt (bei der Färbung mit Ehrlich’s Triacid), und
dieser centrale Theil der Zelle färbt sich sehr intensiv. Dagegen bleibt
die Peripherie klar und wenig gefärbt. Diese Veränderungen verlieren
sich in dem Masse, als die Krankheit abläuft. Sie scheint also von der
Infection abhängig zu sein. Bei Hunden konnte Marini experimentell
solche Leukocyten im Blute hervorrufen, wenn er ihnen einen sehr
virulenten Mikroben einimpfte, der aus den Hautschuppen von masern¬
kranken Kindern gewonnen war.
VII. Fenoglio (Cagliari): Action pathogene des
Amoeba coli.
Vortragender leugnet die ätiologische Bedeutung der Amoeba
coli für die Dysenterie und andere Darmaffectionen. Sie habe keine
pathogene Wirkung. Denn sie findet sich auch im Darm gesunder
Menschen mit all ihren charakteristischen Eigenschaften. Auf Katzen
übertragen, die ja für Dysenterie empfänglich sind, ruft sie im Darm
derselben keinerlei specifische Läsion hervor. Wo man amöbenhaltigen
Darminhalt oder Eiter aus Leberabscessen anscheinend mit Erfolg
übertragen hat, ist man nicht sicher, ob nicht etwa irgend welche
toxische Substanzen oder andere, uns noch nicht bekannte Mikroben
wirksam gewesen sind.
*
Abtheilung für Chirurgie.
XIII. Jaques Joseph (Berlin): a) Riesenwuchs des
linken Ohres; operative Verkleinerung desselben
(mit Projectionsbildern). h) Ueber einige operative
Nasenverkleinerungen (mit Projectionsbildern).
Der Vortragende hat bereits am 21. October 1896 in der Ber¬
liner medicinischen Gesellschaft über den ersten Fall von operativer
Ohrenverkleinerung, die sogenannte Eselohrenoperation,
berichtet. Er hat seitdem eine Reihe von anderen Ohrenverkleinerungen
ausgeführt und hebt daraus folgenden, besonders interessanten Fall
hervor: Ein jetzt 38jähriger Schlosser hatte bis vor circa zwei Jahren
zweierlei Ohren, ein rechtes normales und ein linkes fast doppelt so
grosses. Dieses war bereits von Geburt an etwas grösser als das
rechte; doch fiel die Zeit seines grössten Wachsthums in die Zeit vom
20. — 26. Lebensjahre des Mannes. Joseph hat ihn, wegen des terato-
logischen Interesses, das der Fall darbot, am 26. Januar 1898 voi¬
der Operation in der Berliner medicinischen Gesellschaft vorgestellt.
Vor circa zwei Jahren hat Joseph dem Manne, der wegen seiner
Missbildung vielfach Bespöttelungen ausgesetzt war, auf seinen drin¬
genden Wunsch das linke Ohr so weit verkleinert, dass es nunmehr
ebenso gross ist, wie das rechte normale Ohr. Dabei bat das Ohr
ungeachtet der in diesem Falle ziemlich eingreifenden Operation, eine
durchaus natürliche Form erhalten. Die Operation wurde folgender-
Nr. 37
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
811
massen ausgeführt. Wie in seinen anderen Fällen von operativer
Ohrenverkleinerung machte Joseph zunächst einen in diesem Falle
freilich recht grossen keilförmigen Ausschnitt, mehr aus der oberen,
als aus der unteren Hälfte der Ohrmuschel, ebenso einen kleineren
keilförmigen Ausschnitt aus dem gleichfalls stark vergrösserten Läpp¬
chen. Damit das Ohr für die neugewonnene Höhe nicht zu breit würde,
schnitt Joseph aus der Ohrmuschel von den Wundräudern des
grossen Ausschnittes, nach oben wie nach unten, wiederum zwei keil¬
förmige Stücke aus. Darauf wurden die Wundränder durch Naht ver¬
einigt und dann das ganze Ohr durch Entfernung eines entsprechenden
Hautstückes aus der Furche zwischen Ohrmuschel und Kopfhaut, sowie
durch Vereinigung der dadurch geschaffenen Wund’änder an den Kopf
genau so angelegt, wie es das rechte Ohr war. Die Narben sind
durchaus unauffällig, zum Theil kaum sichtbar.
Sodann berichtet Joseph über acht Nasenverkleine¬
rungen, welche er in den letzten 2V2 Jahren ausgeführt hat, und
zwar nur über Verkleinerungen solcher Nasen, welche an sich ganz
gesund waren, aber ihren Trägern durch ihre Grösse und Gestalt
grossen Verdruss, zum Theil aber auch in ihrem Berufe erhebliche
Nachtheile bereitet hatten. Der erste bereits am 12. Mai 1898 in der
Berliner medicinischen Gesellschaft ausführlich mitgetheiPe Fall betraf
einen 28jährigen Gutsbesitzer, dessen Nase etwas zu lang war, vor
Allem aber zu stark aus dem Gesichte her vor trat und
ausserdem mit einem Höcker behaftet war. Die Nase ist
durch die an genannter Stelle ausführlich beschriebene Operation normal
lang, in normaler Weise aus dem Gesichte hervortretend und gerade
geworden. Auch sind die vorher recht grossen Nasenlöcher auf normale
Grösse reducirt worden.
Ein zweiter Patient hatte eine Nase, deren untere Hälfte eine
frappante Aehnlichkeit mit einem Enten Schnabel besass. Ein
dritter Fall betraf eine junge Dame, deren Nase zu lang und in ihrer
unteren Hälfte kolben artig verdickt war. Auch waren die
Nasenflügel mit Rücksicht auf die Profilbreite der Nase unverhältniss-
mässig klein. Der vierte Patient, ein junger Oekonom, hatte eine
kartoffelähnliche Vorbuchtung dicht oberhalb der Nasenspitze, eine
sogenannte Kai toffelnase. Der fünfte Patient besass eine zwar
gerade, aber zu stark hervortretende und zu spitze Nase. Der
sechste und siebente Fall betreffen eine Dame und einen Herrn, welche
eine zu lange und gleichzeitig mit einem Höcker behaftete
Nase hatten. Die Nasenspitze der Dame wies ausserdem noch eine
schaufelartige Verbreiterung auf. Die Nase des achten
Patienten zeichnete sieh durch auffallende Grösse, besonders aber durch
ihre überaus hässliche Form aus. Statt der gewöhnlichen abgerundeten
Spitze hatte sie eine ziemlich grosse, fast viereckige, schräge Platte,
welche der Nase eine gewisse Aehnlichkeit mit einer Schweins¬
nase verschaffte.
XIV. Amerigo Benevento da Rotello (Campobasso) :
Zwei Fälle von Congestionsabscess bei Spondylitis
vertebralis junger Individuen. Heilung.
*
Nachmittagssitzung.
Vorsitzender: Ceccherelii (Parma).
I. v. Bergmann (Berlin) : Ueber Fortschritte in der
Behandlung der Fracturen seit Einführung der
Untersuchung mit Röntgen-Strahlen.
In den letzten zehn Jahren hat die Lehre von den Knochen¬
brüchen zwei wichtige Fortschritte verzeichnet: die blutige Behandlung
gewisser einfacher Fracturen behufs besserer Zusammenfügung und
knöcherner Wiedervereinigung der Bruchenden und die genauere Er-
kenntniss der Bruchformen und Veränderungen an der Bruchstelle
durch die Radioskopie und Radiographie.
Es gibt unstreitig Verhältnisse an der Bruchstelle, welche eine
knöcherne Vereinigung der Bruchenden hindern. Die Einklemmung von
Muskeln zwischen die Bruchenden, welche uns am häufigsten am
gebrochenen Femur begegnet, ist ein solches Hinderniss. Leider können
wir es durch die Untersuchung mit den R ö n t g e n- Strahlen nicht
mit der Bestimmtheit nachweisen, welche ein Einschneiden auf die
Bruchstellen rechtfertigt. Wir können es nur vermuthen, wenn wir im
Bilde, das der fluorescirende Schirm gibt, einen Zwischenraum zwischen
den aneinander im Sinne einer Dislocatio ad longitudinem ver¬
schobenen Knochenflächen sehen und dieser helle Zwischenraum bei
den verschiedensten Stellungen, welche wir dem gebrochenen Gliede
geben, immer der gleiche bleibt. Aber andere locale Ursachen einer
ausbleibenden knöchernen Consolidation zeigen uns die Röntgen-
Strahlen auf das allerdeutlichste. Insbesondere lassen sie uns solche
an den Gelenkbrüchen und den Brüchen der kleinen Knochen ent¬
decken. Es genügt ein Beispiel, um das zu erläutern, und zwar das
Beispiel der Patellarfracturen. Schon Malgaigne beklagte sich
über das häufige Ausbleiben einer festen Vereinigung bei diesen
Brüchen und empfahl daher bei ihnen schon in der vorantisepti¬
schen Zeit einen blutigen Eingriff: die Application seiner scharfen
Klammern.
M a 1 g a i g n e’s Klammern sind ein viel gefährlicheres Mittel als
der Schnitt und die Vernähung der Bruchstücke mit Silber- oder
Bronze- Aluminiumdraht.
Die Untersuchung frischer Patellarfracturen mit den Röntgen-
Strahlen lässt drei Hindernisse der Heilung sofort erkennen.
1. Die auffallende Ungleichheit der beiden Fragmente bei den
meisten Querfracturen. Das obere Bruchfragment ist sehr gross, das
untere oft sehr klein. Jede Aneinanderfügung ausser der durch Nähte
muss in solchem Falle misslingen.
2. Die beiden Bruchstücke bei einer Querfractur sind oft noch
weiter getheilt, besonders an ihren Seitenrändern und kleine, von den
Bruchflächen abgesprengte Knochenstückchen oder Splitter haben sich
zwischen die Fragmente geschoben. Sie müssen herausgenommen oder
fortgeschoben werden, um die für eine knöcherne Consolidation noth-
wtnige Zusammenfügung zu bewerkstelligen.
3. Es dreht sich das eine Fragment, meist das untere, so um
seine Querachse, dass die Bruchflächen sich gar nicht mehr berühren;
sondern die Bruchfläche des einen Fragments auf die äussere Fläche des
anderen stossen würde, wenn man sie durch die ungetrennte Haut zu¬
sammenschöbe. Zur genauen Coaptation ist es nothwendig, die Bruch¬
stücke direct anzufassen und zurecht zu drehen.
Alle diese Veränderungen in der Form und Lage der Bruch¬
stücke kann man mittelst der R ö n t g e n-Strahlen erkennen. Ein Blick
auf ihre Darstellung im Röntgen-Bilde macht es ohne Weiteres
klar, dass hier nur die Operation helfen kann. Es muss die Bruch¬
stelle aufgesucht und blossgelegt werden, damit die eben aufgezählten
Hindernisse der Coaptation und Consolidation beseitigt werden und die
Bruchstücke durch Metallnähte vereinigt werden können, v. Ber g-
mann hat in seiner Klinik in dieser Weise 25 Fälle operirt und
fast immer eine knöcherne Consolidation erzielt. Die Operationen be¬
wiesen, dass die Vereinigung knöcherner und nicht fibröser Natur war
und dass die Metallnähte anstandslos und dauernd einheilen. Deswegen
ist die Operation die generelle Methode der Behandlung von Patellar¬
fracturen.
Anders liegt die Operationsfrage bei anderen Knochenbrücher,
z. B. denen am unteren Ende des Radius, mit deren Studium sich
ausführlich und gründlich Gallois beschäftigt hat. Sein Verdienst
ist es, durch radiographische und experimentelle Untersuchungen unsere
Kenntnisse von diesen Brüchen wesentlich gefördert zu haben. Während
die Behandlung der Patellarfracturen eine fast gleichförmige geworden
ist, ist die der Radiusfracturen eine durchaus verschiedenartige, je
nach ihrem Sitze, ihrer Form und ihren Verschiebungen.
In einer Serie von Photographien demonstrirt v. Bergmann
die verschiedenen Typen dieser Fracturen. Die Abbildungen stammen
alle von Patienten der Berliner chirurgischen Klinik. Die Fracturen
der Knochen des Tarsus und Metatarsus waren vor ihrer Untersuchung
mit den Röntgen- Strahlen so gut wie unbekannt. Man bezog die
Symptome, welche diese Brüche machen, auf eine entzündliche Schwel¬
lung oder Contusion des Fusses. Indem man sie bei dieser Diagnose
mit Massage behandelte, vermehrte man noch die Verschiebung der
Fragmente. Jetzt wird man, nach richtiger Erkenntniss der Brüche durch
die R ö n t g e n - Strahlen, die für ihre Heilung noth wendige Ruhe¬
stellung ihnen gönnen. Mehrere instructive Abbildungen führen auch
diese Fracturen vor.
Maunoury (Chartres): Die Radiographie hat in dem
Studium der Frakturen und Luxationen eine Umwälzung hervor¬
gerufen. Man hat vergeblich versucht, ihre Nützlichkeit zu bestreiten,
indem man anführte, dass das Bild je nach der Stellung des Gliedes,
dem Abstand der Röhre, dem Einfallswinkel der Strahlen Verschieden¬
heiten aufweise. Vortragender beleuchtet den Werth der Radiographie
in Bezug auf die einfachen und complicirten Fracturen und führt
ungefähr Folgendes aus:
Die Radiographie hat ihren beträchtlichen Werth in der Diagnose
sowohl, wie in der Therapie. Diagnostisch leistet sie uns unvergleich¬
liche Dienste, indem sie uns die Zahl der Fragmente, ihre Form, ihre
Stellung zu einander, ihre Verschiebung, die Lage der Knochensplitter,
die Verkürzung des Gliedes klar und deutlich zeigt.
Um eine genaue Kenntniss von der Disposition einer Fractur
zu erhalten, ist es nothwendig, unter zwei verschiedenen Winkeln zu
photographiren; aber aueh hier ist es manchmal (allerdings ausnahms¬
weise) möglich, eine Fractur zu übersehen. In den meisten Fällen von
Fracturen gibt uns die klinische Diagnose zwar vollkommenen Auf¬
schluss, aber die Radiographie vervollständigt und klärt diese sehr
glücklich, ja eie kann uns allein in den Fällen Gewissheit verschaffen,
wo die Complicirtheit der Verletzungen oder eine beträchtliche Schwel-
842
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 87
lang der Weichtheile die Diagnose unsicher machen. Und schliesslich
machte sie die Stellung der Diagnose weniger schmerzhaft, indem
sie die untersuchenden Manöver auf ein Minimum beschränkt. Be-
sondera werthvoll ist uns die Radiographie bei den Fracturen des
Tibio Tarsalgelenkes, bei den Fracturen des Astragalus, welche noch
vor einigen Jahren zu unrecht als sehr selten bezeichnet wurden;
schliesslich bei den Fracturen des Metatarsus, welche die Militärärzte
sehr gut kennen und über deren Pathologie mau seit langer Zeit dis-
cutirte, ohne ihre wahre Natur zu kennen.
Sehr interessant ist es, die Formation des Callus mit der Radio¬
graphie zu studiren. Die erste Periode entgeht einem natürlich; aber
nach zwölf Tagen ungefähr sieht man an den Enden der Fragmente
einen leichten Schatten auftreten, welcher mehr und mehr sich ver¬
dunkelt.
Vortragender geht dann des Näheren auf die Formation des
Callus bei gut coaptirten und bei mehr oder weniger verschobenen
Bruchenden ein. Die Dauer der Callusbildung ist verschieden. Sie er¬
scheint umso länger, je voluminöser die Knochen sind. In gewissen
Fällen, besonders bei den Schrägbrüchen der Tibia, kann der Callus
lange Zeit unsichtbar sein, selbst dann, wenn die Consolidation voll¬
kommen zu sein scheint. Die Radiographie lässt uns am Lebenden
alle Verschiedenheiten des Callus studiren und zeigt uns, wie gewisse
Callus eine vollkommene Coaptation der beiden Fragmente Vortäuschen
können, deren Reduction dennoch sehr schlecht ist. Sie lässt uns
beobachten, wie beim Kinde der Vorgang der knöchernen Consolidation,
anstatt sich auf die nächste Nachbarschaft der Fracturstelle zu be¬
schränken, sich weit über die Knochenfragmente hinweg ausdehnt. Schliess¬
lich erlaubt sie uns, die innere Architektur des Callus zu studiren.
Aber nicht nur in der Diagnose, sondern auch in der Behand¬
lung leistet uns die Radiographie Ausserordentliches. Mit ihrer Hilfe
kann die Reduction der Fragmente besser ausgeführt und beobachtet
werden, bis zu welchem Punkte diese Reduction möglich ist. Mit ihrer
Hilfe kann man die Stellung der Fragmente zu einander überwachen
und sie je nach Nothwendigkeit während der Consolidation rectificiren.
Sie gestattet uns ferner, die Wirksamkeit der verschiedenen Apparate
besser zu beurtheilen. Die Radiographie hat uns gezeigt, dass diese
sehr häufig, wenn ihre Wirkung auch eine recht kräftige ist, dennoch
weit entfernt sind, immer anatomisch vollkommene Resultate zu geben.
Sie gibt uns ferner Aufschluss darüber, in welchen Fällen es gut ist,
eine Knochennaht zu machen, die uns besonders in den Fracturen,
die mit einem Gelenk communiciren, von grossem Werthe sein kann.
Wenn es sich um eine alte Gelenkfractur handelt, ist die Rolle der
Radiographie noch eine viel wichtigere, denn sie allein kann uns die
Stellung der Knochen, ihre Deformationen präcisiren, anzeigen, welche
Operation gemacht werden, in welcher Richtung der Knochen durch¬
trennt werden muss etc.
Schliesslich gibt uns die Radiographie Aufschluss über schlechte
Callusbildung, solche mit anormalen Vorsprüngen, Deformationen und
Sequestern.
Bei den complicirten Fracturen vereinfacht die Radiographie den
blutigen Eingriff, der hier oft nöthig ist, ungemein. Sie macht das
Suchen nach Knochensplittern unnöthig, und liegt die Nothwendigkeit
einer Knochennaht vor, so zeigt sie uns, ob und wie die Fragmente
abgesägt werden müssen. Bei einer Gelenkfractur ist sie uns Richt¬
schnur, ob es vorzuziehen ist, zu conserviren oder zu reseciren. Schliess¬
lich ist sie bei den Schussfracturen ein unvergleichliches Hilfsmittel,
die Gegenwart eines Fremdkörpers zu constatiren.
Den Luxationen ist die Entdeckung Röntgen’s viel weniger
zu Gute gekommen, als den Fracturen. Nichtsdestoweniger sind eine
grosse Anzahl verkannter Luxationen erst durch die Radiographie fest¬
gestellt worden. Leider gibt sie uns keinen Aufschluss über die Ur¬
sachen der sehr häufig zurückbleibenden Starrheit und Steifheit in
den Weichtheilen. Bei den veralteten Luxationen lässt uus die Radio¬
graphie die Neubildungen erkennen, welche sich der Reduction entgegen¬
setzen. Schliesslich hat uns die Radiographie einen besseren Einblick
in das Studium und die Behandlung der congenitalen Hüftgelenks¬
luxationen gewährt.
I L T u f f i e r (Paris) : Ueber die Reduction der
Fracturen und die Radiographie. — Einfluss von
A p j) araten auf die Reduction.
Nach seinen Beobachtungen, die sich seit 18 Monaten über 200 Fälle
von Fracturen erstrecken, die er durch die Radiographie controlirt hat,
ist er zu der Erfahrung gelangt, dass unsere Apparate nur unvoll¬
kommen die Fracturen einrichten. Sie können nur die Richtung der
Fragmente beeinflussen, dagegen nicht eine exacte Adaption gewähr¬
leisten. Man braucht sich nur den Callus der betreffenden Fractur
anzusehen, und man wird überall da, wo ein beträchtlicher Callus
vorhanden ist, sagen müssen, dass die Coaptation eine unvollkommene
war, und doch ist sie zu einer guten Function des Gliedes unerläss¬
lich. Besonders die Fracturen des Oberschenkels sind weit entfernt
davon, gute Resultate zu liefern. Tuffier hat besondere Instrumente
herstellen lassen, die Fracturen in ihrer eingerichteten Stellung fest
zuhalten, nachdem er sie, was er für das Sicherste hält, durch eine
Naht vereinigt hat. Er glaubt, dass vor Allem für die Fracturen am
Ellbogen- und Kniegelenke die Naht in Zukunft die einzige Therapie
sein wird, denn hier wird es mit Apparaten auszukommen fast un¬
möglich sein, und zum Glück, denn die Weichtheile und die Haut
würden gangräneseiren, bevor eine Consolidation eingetreten ist.
III. D e s t o t (Lyon) : Die verkannten Fracturen und
die Radiographie.
Redner beleuchtet den Werth der Radiographie, insbesondere
in Bezug auf die Fracturen des Metatarsus und der Fusswurzelknochen,
die sehr häufig diagnosticirt werden, und macht die verschiedenen
Formen dieser Fracturen an R ö n t g e n - Bildern und Zeichnungen
klar. Er kommt dann auf die Extremitätenfracturen überhaupt und
auch auf die Beckenfracturen zu sprechen, und erwähnt einen speciellen
Fall, wo eine Fractur des oberen Femurendes bei einem jungen
Mädchen bald für eine Coxalgie, bald für eine Hüftgelenksluxation
angesprochen wurde. Es kommt dann auf die Fissuren zu sprechen,
die einzig durch die Radiographie erkannt werden können und vor
ihr nicht diagnosticirt wurden.
IV. L o i so n (Paris): Die Indicationen, die die Radio¬
graphie bei den articulären und juxta-ar ticul ären
Verletzungen liefert, macht L o i s o n an einer grossen Reihe
interessanter Röntgen - Bilder klar.
V. Lucas Champonniere (Paris) : Ueber die Frac¬
turen, welche ohne Apparat, ohne Immobilisation,
sondern mit methodischen Bewegungen und Massage
behandelt werden können und müssen.
Die frühzeitige Behandlung der Fracturen mit Massage und
Mobilisation will Champonniere streng getrennt wissen von der
secundären Massage, die die Starrheit und Steifheit der Glieder ver¬
schwinden macht, der, wie er sagt, banalen Massage, deren Heftig¬
keit nicht selten Schmerzen, ja sogar unangenehme Zufälle hervorruft.
Er möchte deshalb seine Methode mit der Bezeichnung Glyko-
kinesis charakterisiren. Sie besteht in der Anwendung methodischer
Bewegungen, die bald nach Eintritt der Fractur begonnen werden.
Die Bewegungen sind methodisch und dosirt. Sanfte Massage bis zur
Nachbarschaft der Fracturstelle, ohne jedoch auf diese selbst sieb aus-
zudelmen. Er glaubt, dass — und das hält er für ein neues Princip —
absolute Immobilisation für die Reparation der Knochen weniger
günstig ist, als ein gewisser Grad von Bewegung. Und diese Be¬
wegung ist, was dabei noch mehr ins Gewicht fällt, zugleich günstig
für die Reparation der Weichtheile. Er hat die Erfahrung gemacht,
dass, wenn Bewegung uud Massage von Anfang an eingeleitet werden,
die Knochenvereinigung eine schnellere und solidere ist. Auch der
Schmerz verschwindet sofort, und dass er verschwindet, ist ein Beweis
für eine gute. Massage uni geeignete Bewegung. Die Contractur ver¬
schwindet schnell, und das spielt eine Hauptrolle bei dem Ver¬
schwinden gewisser Deformitäten, wie z. B. beim Olecranon, der
Clavicula etc. Keine Behandlung ist im Stande, so wirksam gegen die
Contracturen anzukämpfen. Der Bluterguss verschwindet schneller, die
Vitalität der Haut ist besser gewährleistet, die Geschmeidigkeit der
Glieder wird erhalten. Einer der Hauptgründe, welche dazu führen
können, die Apparatbehandlung bei Seite zu lassen, ist die Thatsache,
dass die Apparate eine Deformation nicht verhindern, die Function
des Gliedes nicht aufheben. Gewisse Formen von Fracturen können
stets ohne jede Behandlung mit starren Apparaten oder Verbänden
durch Mobilisation und Massage behandelt werden. Das sind alle
Fracturen des Humerus an seinem oberen und unteren Ende; alle
Fracturen des Ellbogens, besonders die des Olecranons; alle Radius-
fracturen am Handgelenk; fast alle Clavieularfracturen ; alle Fracturen
des Wadenbeines in seiner unteren Partie; alle Malleolarfracturen, die
keine Tendenz zur seitlichen oder hinteren Abweichung zeigen; am
Knie die Fracturen des Femur, ohne Deviation; schliesslich alle
Fracturen des Schulterblattes. Ausnahmsweise will er auch noch so
behandelt wissen: die Biüiche des Humerus in seinem mittleren Ab¬
schnitt, wenn sie ohne Verschiebung einhergehen und unter denselben
Bedingungen auch die Brüche der Unterschenkel- und der Vorderarm-
knochen.
Bei gewissen Fällen kann die Mobilisation auch ohne Massage
angewendet werden, so z. B. bei jungen Kindern, welche Tendenz zu
einem luxuriösen Callus zeigen, und bei Greisen. Bei Kindern gibt die
einfache Mobilisation am Handgelenk, Schulter, Ellbogen die am
meisten zufriedenstellenden Resultate. Der Vortragende gibt dann eine
Statistik der zahlreichen Fracturen, die er nach dieser Methode be¬
handelt und geheilt hat. (Fortsetzung folgt.)
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
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Die „Wiener klinische
Wochenschrift“
I erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von minde¬
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Zuschriften für die Redac¬
tion sind zn richten an
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unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs,
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R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt, A. v. Vogl,
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Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
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Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel. Telephon Nr. 6034.
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Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/1, Wicken burggasse 13
XIII. Jahrgang. Wien, 20. September 1900. Mt. 38.
INHALT: (Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel : 1. Die Aetiologie der primären acuten Magen-Darm¬
erkrankungen der Säuglinge bacteriellen Ursprunges. Von
Theodor Escherich (Graz).
2. Aus der k. k. Universitätsklinik für Kehlkopf- und Nasenkrank¬
heiten (Prof. Chiari) und dem pathologisch-anatomischen Institute.
Untersuchungen über den Tonsillotomiebelag und seine etwaigen
Beziehungen zum Diphtheriebacillus. Von Dr. L. Harmer, Assi¬
stenten obiger Klinik.
3. Ein Beitrag zur Kenntniss des Scharlachs und der Masern. Von
Dr. Jaroslav Eigart in Brünn, Secundararzt am St. Annen-Spital.
II. Referate: Arbeiten aus dem Institut für Anatomie und Physiologie des
Centralnervensystems an der Wiener Universität. Von Prof. Dr.
H. Obersteiner. Ref. Dr. v. Czyhlarz.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften nnd Congressberichte.
Die Aetiologie der primären acuten Magen-Darm-
erkrankungen der Säuglinge bacteriellen Ur¬
sprunges.
Referat, erstattet in der pädiatrischen Section des XIII. internationalen
medicinischen Congresses.
Von Theodor Escherich (Graz).
Das geschäftsführende Comite hat mir die Ehre erwiesen,
in dem zur Verhandlung stehenden Referate mir die Bericht¬
erstattung über das Thema: Infections et intoxications
ectogenes zu übertragen. Es ist bei der Kürze der ver¬
fügbaren Zeit nicht möglich und wohl auch nicht beabsichtigt,
einen erschöpfenden Bericht über den Stand dieser noch so
wenig geklärten Frage zu geben. Der Reiz der internationalen
Oongresse und der Werth des Zusammentreffens so vieler weit
von einander entfernt wohnenderFacbgenossen liegt vielmehr darin,
dass dem Einen Gelegenheit geboten wird, seine Anschauungen
persönlich zu vertreten, den Anderen die Möglichkeit, sie in
authentischer Weise zu hören und sich durch ein Wort, eine
Zwischenfrage über unklare Punkte zu informiren. Ich habe
den Eindruck, dass auch das Comite von solchen Anschauungen
geleitet war, indem es zu Referenten Personen wählte, die
mitten im Kampfe der Lehrmeinungen stehen und deren
Namen an sich schon ein wissenschaftliches Programm dar¬
stellen.
So hoffe ich in seinem Sinne zu handeln, wenn ich unter
Verzicht auf die Vollständigkeit meines Berichtes mich bemühe,
ein möglichst getreues Bild der von mir und meinen Schülern
auf diesem Gebiete ausgeführten Arbeiten zu entwerfen. Die
Methode, mittelst welcher wir die Aetiologie der Magen-Darm¬
erkrankungen zu ergründen trachteten, die Erforschung
und Differenz irung der in den d i a r r h o i s c he n
Stühlen enthaltenen Bacterien war mir durch
meine früheren Untersuchungen über die normalen Darm-
bacterien des Säuglings vorgezeichnet. Sie stützt sich einer¬
seits auf die Et kenntniss von der Einfachheit und Gesetz¬
mässigkeit der Bacterien vegetation unter normalen Verhält¬
nissen, andererseits auf die Beobachtung, dass das normale
Bild mit dem Eintritte pathologischer Zustände und für
die Dauer derselben verwischt wird. So schwierig die Auf¬
gabe ist, in dem scheinbar ganz regellosen Gewirr von
Bacterien, das sich in den diarrhoischen Stühlen findet, be¬
stimmte Krankheitserreger herauszufinden, so hat doch die
glänzende Entdeckung des K o c h’schen Kommabaeillus gezeigt,
dass es sogar heim Erwachsenen gelingen kann; um wie viel
eher beim Säugling, der von vorneherein so viel einfachere
und einheitlichere Verhältnisse aufweist.
Freilich kann diese Methode nur dann Aufschluss über
die Aetiologie geben, wenn es sich um die Untersuchung acut
einsetzender Fälle im Beginne der Erkrankung handelt zu
einer Zeit, in welcher die einwirkende Schädlichkeit den Darm¬
canal noch nicht verlassen hat. Es scheint, dass diese Periode
gerade bei den Darmkatarrhen der Säuglinge ein sehr kurzer
und rasch vorübergehender ist im Vergleich zur langen Dauer
des krankhaften Zustandes und dass wir bei der über¬
wiegenden Zahl der zur klinischen Beobachtung kommenden
Fälle es bereits mit secundären und Folgezuständen zu thun
haben, die gerade bei Kindern besonders schwere und lang
andauernde Formen annebmen. Allein, wenn auch die Zahl
der für derartige Untersuchungen geeignete Fälle eine relativ
geringe ist, so ist doch da, wo es sich um die Erforschung
der Aetiologie oder richtiger des die Erkrankung auslösenden
Momentes handelt, eine scrupulöse Auswahl der Fälle absolut
nothwendig, und sicherlich hat die Vernachlässigung dieses
Umstandes vielfach zu Misserfolgen und Täuschungen Ver¬
anlassung gegeben.
In den am Schlüsse angefügten Thesen finden Sie die
Zusammenstellung der Resultate, zu denen wir bis jetzt gelangt
sind; ich werde vielleicht in der Discussion Gelegenheit haben,
die eine oder andere derselben eingehend zu begründen. An
dieser Stelle will ich nur die auf ätiologischen Gesichtspunkten
aufgebaute Eintheilung der bacteriellen Magen- Darmer¬
krankungen des Säuglingsalters, in welcher die Ergebnisse
derselben am schärfsten zum Ausdruck kommen, etwas näher
erläutern.
844
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 38
Die bis vor Kurzem wenigstens in der deutschen Literatur
herrschende Anschauung über die Pathogenese der Verdauungs¬
störungen der Säuglinge gründete sich im Wesentlichen auf
die zwei auch heute noch feststehenden Erfahrungsthatsachen:
die im Vergleich zu den Brustkindern grössere Morbidität
und Mortalität der künstlich genährten Säuglinge und die
Steigerung derselben in den Sommermonaten. Die Bieder t-
selie Lehre, welche die schwerere Verdaulichkeit des Kuhcaseins
als die häufigste Ursache der Erkrankung betrachtete, konnte
mir die grössere Morbidität der künstlich Genährten erklären.
Dagegen waren beide Thatsachen in guter Uebereinstimmung
mit der namentlich von Baginsky vertretenen Annahme,
dass es sich dabei um abnorme Gährungs und Fäulniss-
vorgänge in der Milch, respective dem Darminhalte handelt,
welche durch Resorption der gebildeten Stoffe zu einer Intoxi-
catiou des Organismus und secundär zu entzündlichen Ver¬
änderungen im untersten Theile des Verdauungstractes führen.
Entsprechend diesen Vorstellungen begann ich meine Unter¬
suchungen mit dem Studium der in der Milch und im Darm¬
canal vorkommenden Gährungserreger und gelangte dabei
zu der allgemein angenommenen Trennung der Verdauungs¬
störungen in solche ektogenen und in solche endogenen Ur¬
sprunges. Dieselbe scheint mir auch noch heute namentlich be¬
züglich der ektogenen Vorgänge, die sich ja im Wesentlichen
als eine Intoxication darstellen, gerechtfertigt. Die häufigste
und typischeste Form der letzteren stellt sich in der Form der
sogenannten Sommerdiarrhöen dar, welche nach Baginsky u. A.
durch die bei hoher Lufttemperatur ablaufenden Zersetzungen
hervorgerufen werden. Die Amerikaner haben diese Form
zuerst unter dem Namen der Cholera infantum beschrieben,
und ich glaube im Sinne dieser Autoren zu handeln, wenn
ich vorschlage, diese Bezeichnung auch thatsächlich für die
schweren, mit Collaps einhergehenden Fälle von Brechdurchfall
zu reserviren, welche durch die ektogen bei hoher Luft¬
temperatur ablaufenden Zersetzungen hervorgerufen sind.
Ueber die Bacteriologie und die toxischen Producte dieser
Gährungen wissen wir freilich noch sehr wenig. Am besten
gekannt sind die durch Flügge und seine Schüler studirten
Zersetzungen durch Proteolyten und Anaeroben. Ich will aber
bei dieser Gelegenheit hervorheben, dass meiner Erfahrung
nach derartige acute lntoxicationen alimentären Ursprunges
nur einen kleinen Theil der im Hochsommer sich einstellenden
Diarrhöen darstellen, und dass mir die Frage nach der Patho¬
genese dieser Fälle, die sich ja auch anlässlich der letzten
heissen Tagen in Paris so sehr gehäuft und zu besonderen
Erlässen seitens der städtischen Behörden Veranlassung gegeben
haben, noch keineswegs erschöpft scheint. Uebrigens mögen
gerade in diesem Punkte die Verhältnisse je nach der Oert-
1 ichkeit grosse Verschiedenheiten aufweisen.
Noch schwieriger und undankbarer gestaltet sich das
Studium der endogenen Gährungen, deren Darstellung in
das Referat meines verehrten Collegen Marfan fällt. Ich will
nur bemerken, dass seine Troubles digestives d’origine endo¬
gene sich nicht vollkommen mit meiner Definition decken.
Marfan versteht darunter diejenigen bacteriellen Vorgänge,
welche durch schon vorher im Darm angesiedelten Bac-
terien, respective durch eine Steigerung der Virulenz derselben
hervorgerufen werden. Ich glaube, dass man angesichts der
fortwährenden Infectionen, welchen der Darmcanal des Säug¬
lings ausgesetzt ist, nicht genöthigt ist, zu einer solchen Hypo¬
these zu greifen und dass es sich in den meisten Fällen um
frisch, meist mit der Nahrung eingeführte Gährungserreger
handelt. Allein auch in jenen Fällen, in welchen, wie beim
Brustkind, die Gährungserreger erst im Darmcanal zu der nicht
zersetzten Nahrung hinzutreten, in welchen es sich also that¬
sächlich um einen endogenen Gährungsvorgang handelt, ver¬
meide ich diese Bezeichnung, da die Bacterien ja doch in
letzter Linie von aussen, also ektogen eingeführt worden sind,
und gebrauche statt dessen das Wort der Chy musin fection.
V enn wirklich die im Darmcanal ablaufenden abnormen
Gährungen eine so grosse Rolle in der Pathogenese der Magen-
Darmerkrankungen spielten, so war zu erwarten, dass es ohne
besondere Schwierigkeit gelingen würde, die an saprophytische
Existenzbedingungen gewöhnten Gährungserreger zu isoliren,
experimentell zu studiren und mit den ausserhalb vorkommen¬
den zu vergleichen. Diese Erwartung hat sich jedoch bis jetzt
nicht erfüllt. Wir sind über gewisse allgemeine Sätze von der
saueren (saccharolytischen) Gährung in den oberen, der alka¬
lischen (proteolytischen) Zersetzung in den unteren Darm¬
partien nicht hinausgekommen. Nur in wenigen Fällen hat man
den Eindruck, dass es zur überwiegenden Entwicklung des einen
oder anderen wohl charakterisirten Gährungserregers kommt. Zu¬
meist findet man ähnlich wie bei der Milchgährung eine grosse
Zahl der verschiedensten Bacterien, von denen jedoch nur wenige
auf unseren Nährböden zur Entwicklung kommen. Ausser dem
Bacterium lactis und coli, dem Proteus, den Buttersäurebacillen
und Hefearten (Soor) ist es wieder Baginsky noch mir
gelungen, ausgesprochene Gährungs- und Fäulnisserreger aus
den Fäces zu isoliren. Ebensowenig sind die Versuche ge¬
glückt, die toxischen Substanzen, die im Stuhle enthalten sein
sollen, darzustellen. Entweder sind unsere Methoden der Unter¬
suchung noch ganz ungenügend oder die Chymusinfectionen
sind in Wirklichkeit nicht so häufig und nicht so schwer, als
dies bisher angenommen wurde.
In der That hat der unbefriedigende Ausfall dieser Unter¬
suchungen zusammen mit den Beobachtungen epidemisch sich
verbreitender Brechdurchfälle (Heubner) und den histolo¬
gischen Befunden Booker’s wesentlich dazu beigetragen, die
Aufmerksamkeit der deutschen Forscher auf die bisher
nur wenig beachtete Gruppe der infectiösen Darm¬
erkrankungen der Säuglinge hinzulenken. Freilich hatte
die Prager Schule, gestützt auf die eigenartigen Erfahrungen
an dem Material der Findelanstalt, stets an der infectösen
Natur der Darmkatarrhe festgehalten. Allein die speciell von
Epstein vertretene Ansicht, wonach die Gastroenteritis
nur die Theilerscheinung eines allgemeinen, septischen Pro¬
cesses ist, entfernt sich nach der anderen Seite von unserer
Auffassung einer primären infectiösen Darmerkrankung. Im
Uebrigen aber war — - wenigstens in der deutschen Literatur
— der Gedanke an die Existenz von Säuglingsdiarrhöen,
welche, analog der Cholera asiatica und dem Typhus abdomi¬
nalis, nicht den Darminhalt, sondern die Darmwand selbst
angreifen und zu einer Infection des Organismus führen können,
fast verloren gegangen. Man braucht dabei keineswegs aus¬
schliesslich an specifische Krankheitserreger zu denken, ob¬
gleich die Existenz epidemischer Brechdurchfälle beweist, dass
auch solche vorhanden sind. Alle Bacterien, welche mit für
den Menschen pathogenen Fähigkeiten ausgestattet sind, können
durch ihre Anwesenheit und Toxine Reizzustände hervorrufen,
und wir wissen zur Genüge, wie die Schleimhäute des Säug¬
lings gegenüber den gewöhnlichen in der Umgebung des
Menschen verbreiteten Krankheitserregern eine fast specifische
Empfänglichkeit und Reaction aufweisen. Ich erinnere nur an
die Respirationsschleimhaut, welche uns das reinste Beispiel
dessen darbietet, was ich als infectiösen Schleimhau t-
k a t a r r h bezeichne. Dabei kann die Infection auf die Schleim¬
hautoberfläche beschränkt bleiben ; in den höheren Graden je¬
doch kommt es zur Invasion in das Gewebe, zur Geschwürs¬
bildung etc. und in diesen Fällen kann es zu einer vom Darm
ausgehenden Allgemeininfection kommen. Jedoch ist dieses
Vorkommniss nicht so häufig, als es Czerny und Andere
angenommen haben.
Die infectiösen Darmerkrankungen sind selbstverständlich
bis zu einem gewissen Grade unabhängig von der Art der Er¬
nährung, sie können sich epidemisch verbreiten und in über¬
füllten Spitälern, schmutzigen Wohnungen endemisch auftreten.
Sie erklären somit gerade jene epidemiologischen Thatsachen,
bei denen die Gährungs- und Fäulnisstheorie versagt. Die An¬
nahme eines infectiösen Processes scheint mir auch mit dem
klinischen Bilde und dem Verlauf, sowie mit den bisherigen
Ergebnissen der Untersuchung besser zu harmoniren, als die
Theorie einer endogenen Intoxication. Sie ist bis zu einem
gewissen Grade erwiesen worden durch die positiven Befunde,
die wir auf dem Wege der systematischen Untersuchung der
Darmflora gewonnen haben. Bei Verwendung der von mir an¬
gegebenen Färbung gelingt es leicht, gewisse pathogene Bac-
Nr. 38
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
845
terien, die sich nicht nach Gram entfärben, gegenüber der
sonst im Stuhle vorhandenen Colivegetation sichtbar zu machen
und so unter Umständen die Diagnose eines solchen Processes
aus dem Stuldbilde zu stellen. Die bacteriologische Unter¬
suchung wird diese Annahme weiter stützen, vorausgesetzt,
dass auch das klinische Bild für eine primäre entzündliche
Darmerkrankung spricht. Die Mehrzahl dieser Erkrankungen
zeigt die Neigung zu en- oder epidemischer Verbreitung, wobei
das Krankheitsbild, sowie die in den Ausleerungen gefundenen
Bacterien in jedem einzelnen Falle sich wiederholen.
Die Cultur ergibt Staphylococcen, Streptococcen, Bacillus
pyocyaneus, gewisse Varietäten des Colibacillus, bei einer vor
Kurzem beobachteten Epidemie wurde eine verzweigte Bacterien-
art constant im Stuhle gefunden: zumeist Bacterien, deren
pathogene Eigenschaften für den Menschen anerkannt sind
und denen also auch die Fähigkeit zukommt, auf der Darm¬
schleimhaut entzündliche Veränderungen hervorzurufen. Weitere
Beweise in dieser Richtung liefert: die histologische Unter¬
suchung der Darmwand, welche die Bacterien im Inneren des
Gewebes ja bis in die subserösen Lymphgefässe vorgedrungen
zeigt, der Nachweis derselben im Harn, im Blut, in den
Organen, für gewisse Coliinfecte auch die Serumreaction. Die
Infection ist in diesen Fällen wohl stets eine ektogene, sie
rührt entweder von der Contactinfection mit den in der Um¬
gebung des Menschen verbreiteten Keimen oder von den mit
der Nahrung, insbesondere der Kuhmilch eingeführten Krank¬
heitserregern her. Auf die Einzelheiten des klinischen Bildes
einzugehen, verzichte ich hier und betone nur nochmals,
dass ich in der Aufstellung und Trennung dieser Gruppe
der infectiösen Darmerkrankuugen von den Chymusinfectionen
den wichtigsten Fortschritt erkenne, der in der letzten Zeit
in der Pathogenese der Magen-Darmerkrankungen des Säuglings
gemacht worden ist. Sie ist begründet in den biologischen
Eigenschaften der die Erkrankung hervorrufenden Bacterien,
der saprophy tischen Gährungs- und Fäulnisserreger auf der einen,
der für den Menschen pathogenen, pyogenen Bacterien auf der
anderen Seite, und es kommt ihr nicht nur ein theoretischer
oder heuristischer Werth, sondern auch heute schon eine hohe
praktische Bedeutung für die Diagnose und die Therapie zu.
Die Chymusinfection charakterisirt sich anamnestisch durch
eine nachweisbare alimentäre Schädlichkeit, klinisch durch mehr
oder weniger ausgesprochene toxische Erscheinungen und die
Anwesenheit von Schleim und den Producten abnormer Zer¬
setzungen im Stuhle; therapeutisch verlangt sie Entfernung
der schädlichen Nahrungsreste durch Spülung oder Abführ¬
mittel, Wasserdiät und dann vorsichtige Wiederaufnahme der
Ernährung. Die infectiöse Darmerkrankung dagegen geht oft
mit fieberhafter Temperatur und septischen Allgemeiner¬
scheinungen einher; im Stuhle linden sich neben den Producten
entzündlicher Reizung die pathogenen Bacterien; der Kranke muss
isolirt, der Darm desinficirt und eine tonisirende, symptomatische
Behandlung eingeleitet werden.
Betreffs der Nomenclatur bemerke ich, dass ich dem
Vorschläge, jede Art von Verdauungsstörung als Gastroenteritis
zu bezeichnen (Marfan), nicht zustimme, sondern mich der
sinngemässen Nomenclatur der Wiener Schule bediene, welche
die anatomische Localisation des Processes und die katarrhalische,
respective entzündliche Natur desselben in dem Namen erkennen
lässt. Die Nothwendigkeit der Trennung eines toxischen,
alimentären und eines infectiösen entzündlichen Katarrhs ist
auch schon vom rein klinischen Standpunkte (West) aus an¬
erkannt worden ; freilich stösst diese Unterscheidung derzeit
in praxi noch auf grosse Schwierigkeiten, die erst durch weitere
Untersuchungen beseitigt werden müssen.
Die Eintheilung bezieht sich, um dies nochmals zu wieder¬
holen, nur auf die primären acuten, durch Bacterienwirkung
hervorgerutenen Verdauungsstörungen. Fügen wir im Beginn
noch die functioneilen Störungen der alimentären Dyspepsie,
am Schlüsse die subacuten, die chronischen und die symptomatischen
\ erdauungsstörungen hinzu, so schliesst sich dieses vom
bacteriologischen Gesichtspunkte aus aufgestellte Schema recht
gut der bewährten klinischen Eintheilung an, welche Wider¬
hofer in dem Ge r ha r d t’schen Handbuche gegeben hat und
deren sich auch heute noch die Mehrzahl der Autoren bedient.
Die Eintheilung, welche sich auf Grund des ätiologischen
Principes für die bacteriellen Mageu-Darmerkrankunaen ergibt
ist folgende: ö ’
A. Ektogene Intoxication (Erkrankung durch
Genuss der ausserhalb des Körpers unter Bildung fiftDcr
Stoffe zersetzten Milch).
ci) Toxischer Katarrh des Magens, Dünndarms.
b) Cholera infantum s. st.
B. Chymusinfectionen (endogene Intoxication durch
abnorme Zersetzung des Darminhaltes, erst secundär Reizung
und Erkrankung der Darmwand).
a) Bacterielle Dyspepsie (Diarrhoea acida, Eichstaedt)
b) Dyspeptischer Katarrh (Diarrhoea catarrhalis, West).
C. Darminfectionen (entzündliche Reizung oder
Invasion der Darm wand durch pathogene Bacterien).
a) Entzündlicher Katarrh (Diarrhoea inflammatoria,
West).
b) Entzündung: Gastritis, Gastroenteritis, Enteritis,
Enterocolitis, Colitis.
Thesen:
1. Die Frage nach der Bedeutung der Bacterien in der
Aetiologie und Pathogenese der Magen-Darmkrankheiten des
Säuglingsalters muss von dem Studium der normalen Verhält¬
nisse ausgehen, wie es in meiner im Jahre 1886 erschienenen
Arbeit über die Darmbacterien angebahnt wurde. Weitere an
meiner Klinik ausgeführte Arbeiten haben noch folgende
Punkte festgestellt:
a) Bei Anwendung der W e i g e r t'schen Fibrinfärb¬
methode mit Fuchsin-Nachfärbung erhält man eine für die Be-
urtheilung des Stuhlbildes sehr werthvolle Doppelfärbung,
welche zeigt, dass die im Brustkindstuhle vorhandenen Stäbchen
abweichend von dem Verhalten des Bacterium coli durch die
Gram’sche Methode nicht entfärbt werden. Die Annahme,
dass dieses eigenthümliche Verhalten durch besondere, im
Säuglingsdarme vorhandene Vegetationsbedingungen (Anwesen¬
heit von Fett, Schmidt 1892) hervorgerufen sei, hat sich bei
Nachuntersuchungen nicht bestätigt.
b) Bei Züchtung auf den gewöhnlichen alkalischen Nähr¬
böden (Agar- und Gelatineplatten) gelingt es nur, einen gewissen
Bruchtheil, 5 — 10%> der im mikroskopischen Bilde sichtbaren
Bacterien zur Entwicklung zu bringen. (Eberle 1894.)
c) Bei Verwendung electiver, insbesondere saurer Nähr¬
böden (saure Bierwürze), zeigt sich, dass die Mannigfaltigkeit
der im normalen Säuglingsstuhle vorhandenen Keime eine
grössere ist, als bisher angenommen. Von besonderem Interesse
ist das constante und reichliche Vorkommen einer verzweigten,
gramisch färbbaren Bacterienart, welche in ihrem morphologi¬
schen Verhalten mit der Hauptmasse der im normalen Stuhle
vorhandenen Stäbchen übereinstimmt und mit denselben iden¬
tisch sein dürfte. (Moro, Januar 1900.)
d) Durch entsprechende Anwendung der Gruber-
W i dal’schen Reaction gelingt es, zu zeigen, dass die im Stuhle
eines Säuglings vorhandenen Coli-Bacillen selbst innerhalb
längerer Zeitabschnitte Abkömmlinge einer besonderen, den
Darmcanal dieses Individuums bewohnenden Coli-Race sind.
Durch eben diese Reaction unterscheiden sie sich von den
Coli-Bacillen anderer Individuen, sowie von den mit der Nahrung
eingeführten und halten diese Eigenschaft auch auf künstlichen
Nährböden durch längere Zeit fest.
2. Aus diesen Untersuchungen geht hervor, dass die
Bacterienentwicklung im Darme des Säuglings, obzwar sie
naturgemäss aus den zufälliger Weise in das keimfreie Me¬
conium eingewanderten Keimen hervorgeht, eine gesetzmässige
und autochthone ist. Die Gründe hiefiir liegen in der constanten
chemischen Zusammensetzung der Nahrung und des Darm
inhaltes, in den besonderen Vegetationsbedingungen, unter
denen die Bacterien leben, endlich in dem Einflüsse der vitalen
84ß
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 38
Functionen des Organismus. Die normale Darmflora ist der
Ausdruck und eine der Bedingungen einer normalen Function
des Darmes, der bestrebt ist, dieselbe zu erhalten und, wenn
sie verloren gegangen, wieder herzustellen.
3. Die Stuhlflora ist unter normalen Verhältnissen inner¬
halb weiter Grenzen von der Art und Zahl der mit der Nahrung
eingeführten Bacterien unabhängig. Jedoch genügen schon ge¬
ringfügige Aenderungen der chemischen Zusammensetzung des
Darminhaltes, der Secretions- und Resorptionsverhältnisse, des
Allgemeinbefindens und der Widerstandsfähigkeit des Orga¬
nismus, um die Vegetationsbedingungen im Darme zu ändern,
so dass sich die Bacterien in anderer Weise vertheilen oder
von aussen eingeführte Keime sich im Darme ansiedeln und
vermehren können. In Folge der ausserordentlichen Neigung
der Milch zu Zersetzungen, sowie der ungenügenden Schutz¬
vorrichtungen, über welche der Magen des Säuglings verfügt,
ist zur Entstehung solcher ektogener Infectionen stets reichlich
Gelegenheit geboten.
4. Eine Reihe von Gründen, welche theils der Epidemio¬
logie, theils der klinischen Beobachtung, theils pathologisch¬
anatomischen und experimentellen Untersuchungen entnommen
sind, machen es wahrscheinlich, dass das Auftreten einer von
der Norm abweichenden Bacterienvegetation im Darm, ins¬
besondere dann, wenn unter denselben sich gährungserregende
oder für den Menschen pathogene Bacterien befinden, seiner¬
seits zu Ivrankheitserscheinungen Veranlassung geben kann.
Je nach den biologischen Eigenschaften der in Frage kommen¬
den Bacterien wirken dieselben entweder rein toxisch, indem
sie aus den Nahrungsbestandtheilen oder dem Darminhalte
durch Zersetzung reizende oder giftige Stoffe abspalten
(Chymusinfection), oder infectiös, indem sie entzündliche Zu¬
stände der Darmschleimhaut hervorrufen und eventuell durch
Epithellücken in die Darmwand, ja in die Körpersäfte ein-
dringen (Darminfect). Auch ausserhalb des Körpers (ektogen)
gebildete bacterielle Gifststoffe geben nicht selten, insbesondere
in der heissen Jahreszeit, zu Verdauungsstörungen Veranlassung.
Der kindliche Organismus ist für diese, wie überhaupt für alle
bacteriellen Infectionen und Intoxicationen ganz besonders
empfänglich.
5. Es existirt noch kein befriedigendes Eintheilungs-
princip der Magen-Darmerkrankungen des Säuglingsalters. Für
die auf Bacterienwirkung beruhenden Erkrankungen muss die
Durchführung des ätiologischen Principes versucht werden.
Wir unterscheiden in diesem Sinne : Die durch ektogene Zer¬
setzung hervorgerufenen Intoxicationen, die Chymusinfectionen,
die infectiösen Darmerkrankungen. An dem Zustandekommen
der beiden ersten Gruppen können sich alle mit starkem
Spaltungsvermögen ausgestatteten Saprophyten der Milch und
des Darmcanales, Bacterium lactis, Proteolyten, Proteus bethei¬
ligen. Erreger der Darminfecte sind im Allgemeinen die für
den Menschen pathogenen Mikroorganismen. Speciell für das
Säuglingsalter liegen Beobachtungen vor über Infection durch
Staphylococcen, Streptococcen, Bacterium coli, Streptothrix (?),
Pyocyaneus (?).
6. Bei der Art der Infection, sowie dem Boden, auf dem
sie sich entwickelt, ist es selbstverständlich, dass es sich stets
um ein Gemenge von Mikroben handelt, so dass Misch- und
Secundärinfection häufig beobachtet werden. Diese spielen auch
in der Pathogenese der Complicationen und Nachkrankheiten
eine hervorragende Rolle.
7. Die auf statistischem Wege gewonnene Anschauung,
wonach mehr als die Hälfte sämmtlicher Todesfälle im Säug¬
lingsalter durch primäre Magen-Darmerkrankungen verursacht
sind, und die Häufigkeit derselben von der Geburt an stetig
abnimmt, steht mit den Resultaten, die wir an einem einheit¬
lichen und klinisch genau verfolgten Säuglingsmaterial ge¬
wonnen haben, im Widerspruch.
Aus der k. k. Universitätsklinik für Kehlkopf- und
Nasenkrankheiten (Prof. Chiari) und dem pathologisch¬
anatomischen Institute.
Untersuchungen überden Tonsillotomiebelag und
seine etwaigen Beziehungen zum Diphtherie¬
bacillus.
Von Dr. L. Harmer, Assistenten obiger Klinik.
Vor zwei Jahren wurde in der Gesellschaft der Aerzte
in Wien gelegentlich einer Discussion über den Werth der
Diphtherieserumtherapie *) von gegnerischer Seite unter Anderem
die Behauptung aufgestellt, dass in den Belägen, welche nach
Tonsillotomie auftreten, sich Diphtheriebacillen fänden; dieser
Befund sollte nebst Anderem gegen die ziemlich allgemein
anerkannte Thatsache, dass der L ö f f 1 er’sche Bacillus der Er¬
reger der Diphtherie ist, ins Feld geführt werden. In der
Literatur findet sich nun eine Arbeit (von Lichtwitz2) über
diesen Gegenstand, von welcher anzunehmen ist, dass sie die
Quelle sei, aus welcher diese Behauptung stammte. Licht¬
witz fand nun allerdings auf der Operationswunde nach
Tonsillotomie in einem ziemlich grossen Procentsatz der unter¬
suchten Fälle echte Diphtheriebacillen.
Obwohl die Richtigkeit dieser Angabe von vorneherein
zweifelhaft erscheinen musste, so konnte nichts dagegen an¬
geführt werden, weil ausser L i c h t w i t z allem Anschein nach
Niemand sich mit dieser Frage beschäftigt hat. Ueberhaupt
erschien es mir auffällig, dass in der sonst sehr umfangreichen
Literatur über die Tonsillotomie des so regelmässig auftreten¬
den Folgezustandes derselben, nämlich der Wundbeläge, ob¬
wohl dieselben sicherlich allgemein bekannt sind, fast gar
nicht gedacht ist. Zieht man in Betracht, dass viele Patienten
oder deren Angehörige selbst diese Erscheinung bemerken und
zuweilen nicht ganz ohne Besorgniss über deren Bedeutung
sind, so ist zu verwundern, dass in den meisten Lehrbüchern
nicht einmal darauf hingewiesen wird ; über das Wesen und
die Entstehung dieser Beläge ist, so weit ich die Literatur
durchsucht habe, überhaupt nichts erwähnt.
Diese Umstände haben mich veranlasst, einerseits eine
Reihe von Fällen bacteriologisch zu untersuchen, um zu er¬
fahren, ob und welche Mikroorganismen, insbesondere ob
Diphtheriebacillen in den Belägen Vorkommen, andererseits
möglichst viele Fälle klinisch zu beobachten, um über die Be¬
deutung und Entstehung der genannten Beläge ein Urtheil zu
gewinnen.
Bevor ich über das Resultat dieser Untersuchungen be¬
richte, möchte ich nur kurz die Literatur berücksichtigen.
In den Lehrbüchern ist, wie oben schon erwähnt, sehr
wenig über diesen Gegenstand zu finden. Meist ist von einem
Belage gar nicht die Rede: nur einzelne Autoren berichten
darüber in wenigen Worten. So schreibt Mackenzie3 4) in
dem Abschnitte seines Lehrbuches, welches von der Nach¬
behandlung nach Tonsillotomie handelt: »Selten nimmt die
Wundfläche ein ungesundes Aussehen an und bedeckt sich mit
einem aschfarbenen, aphthösen, manchmal membranösen Belag.
Gewöhnlich tritt dies ein, wenn die Blutung stärker und an¬
haltender als gewöhnlich war.« Mackenzie betrachtet also
das Auftreten eines Belages als abnormen Heilungsverlauf und
als seltenes Vorkommniss, doch scheinen ihm irgendwelche üble
Folgen desselben nicht bekannt zu sein.
Bloch1) erwähnt unter den »üblen Zufällen und Folgen«
der Tonsillotomie unter Anderem Folgendes: »Zuweilen bedeckt
sich die Schnittfläche mit einer weissgrauen Pseudomembran,
welche nach zwei bis drei Tagen sich abzustossen beginnt und
') Wiener klinische Wochenschrift. 1898, Juni.
-) Lichtwitz, Frequence et innoeuite du bacille de Löffler sur la
plaie Operateure aprbs l’amygdalotomie electrothermique. Societe de biologie.
S. d. 14. mars 1896 (Gaz. hebd. d. med. et d. chir. 1896, Nr. 23).
3) Mackenzie M., Krankheiten des Halses und der Nase.
Berlin 1880,
4) Bloch E., Krankheiten der Gaumenmandeln. Heymann’s Hand¬
buch der Laryngologie. II.
Nr. 38
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
847
durch andere als die Löffle r’schen Mikroben ver¬
anlasst ist.«
Also auch Bloch hat einen Belag nicht häufig beob¬
achtet; er weist gleichzeitig darauf hin, dass der Löffler’sche
Bacillus damit in keinem ursächlichen Zusammenhang steht,
ohne sich näher auszusprechen, ob darüber Untersuchungen
angestellt wurden oder nicht.
Caille* 5) hat nach einer Tonsillotomie die Wundfläche
mit Pseudomembranen bedeckt gesehen, welche durch Diphtherie¬
bacillen veranlasst waren; es entwickelte sich eine schwere
Diphtherie, welche die Tracheotomie nothwendig machte.
Die bedeutsamste Mittheilung, diejenige, welche mich in
erster Linie zu den nachstehenden Untersuchungen veranlasste,
hat Lichtwitz gemacht. Er fand auf der Operationswunde
nach Abtragung der Tonsille häufig den Bacillus; unter 27
daraufhin untersuchten Fällen hat er llinal — also in 40 7%
— den L ö f fl e r’schen Bacillus constatirt, 2mal allein, 9mal
mit anderen Bacterien (Staphylococcus, Streptococcus, Lepto-
thrix etc.) combinirt; er hebt insbesondere hervor, dass bei
keinem der Patienten, von denen die meisten im jugendlichen
Alter waren, irgendwelche Allgemeinerscheinungen auftraten
und dass alle ohne Anwendung von Heilserum genasen.
Ausserdem eben Besprochenen konnte ich in der Literatur,
so weit sie mir zur Verfügung stand, nichts Wesentliches über
diesen Gegenstand auffinden. Dass das Resultat meiner Unter¬
suchungen namentlich von dem des letztgenannten Autors
wesentlich abweicht, soll später gezeigt werden. Zunächst
möchte ich über das Auftreten und makroskopische Aussehen
der nach Tonsillotomie sich entwickelnden Beläge meine Be¬
obachtungen mittheilen. Die diesbezüglichen Untersuchungen
wurden in den letztverflossenen 17 Monaten angestellt. Nach
der letzten tabellarischen Zusammenstellung von Stoerk6)
wurden in den Jahren 1894 — 1896 an der laryngologischen
Klinik jährlich ungefähr 250 Tonsillotomien ausgeführt. Diese
Zahl gilt annähernd auch für die späteren Jahre; da ich mit
wenigen Ausnahmen fast alle in dem genannten Zeitraum aus¬
geführten Tonsillotomien in ihrem Verlauf untersucht habe, so
kann ich sagen, dass die Zahl der beobachteten Fälle ungefähr
300 beträgt. Auch war es üblich, die Patienten mehrere Male
an verschiedenen Tagen zu untersuchen.
Was die Häufigkeit des Auftretens anbelangt, so muss
ich erklären, dass ich eigentlich niemals einen Belag vermisst
habe. Wohl tritt derselbe zuweilen nur sehr rudimentär auf,
fehlt jedoch niemals ganz; es müsste nur in solchen äusserst
seltenen Fällen gewesen sein, in welchen die Patienten nicht
mehr gekommen sind.
Der Verlauf nach der Tonsillotomie ist ungefähr fol¬
gender: Sobald die Blutung, die bei Anwendung von schnei¬
denden Instrumenten in stärkerem oder geringerem Grade
immer eintritt, sistirt hat, erscheint die Wundfläche theilweise
oder ganz mit Gerinnseln bedeckt. Noch am selben Tage, im
Durchschnitt nach sechs bis acht Stunden, zeigen sich schon
Spuren eines Belages, häufig zuerst an den Rändern. Am
nächsten Tage sind die nur locker haftenden Blutgerinnsel zum
grössten Theile oder ganz verschwunden und der Belag ist in
der Regel vollständig entwickelt.
Er bietet fast immer das gleiche Aussehen. Die Farbe
ist schmutzig grauweiss, meist lichter mit einzelnen kleinen,
dunkleren Herden, selten im Ganzen dunkler und missfärbig.
Er bildet eine kaum 2 mm dicke Lage, zuweilen ist er partien¬
weise oder in toto etwas massiger.
Die Flächenausbreitung ist sehr variabel. Manchmal nur
in feinen linearen Streifen oder inselförmigen, kaum linsen¬
grossen Herden auftretend, bildet er in ausgesprochenen
Fällen wahre Pseudomembranen, welche entweder in einzelnen
von einander getrennten Partien oder als eine einzige zu¬
sammenhängende Auflagerung die Wundfläche bedecken. In
') Caille, Amygdalotomie suivi d’ang. diphth. Arch, of Med. Ref.:
Anuäl. d. mal. de l’or. etc. 1895, pag. 397.
6) Stoerk, Krankheiten des Kehlkopfes, der Nase und des Rachens.
Nothnagel’s Pathologie und Therapie. Wien 1897.
der Regel bleibt der Belag auf die Operationswunde beschränkt;
zeigt sich an einer anderen Stelle, beispielsweise an der seit¬
lichen Rachenwand, an der Uvula oder am weichen Gaumen
ein ähnlich beschaffener Belag, so lässt sich auch meist eine
von dem jeweiligen Instrumente herrührende Verletzung nach-
weisen, welche denselben verursacht hat; fast immer ist dann
nach Abstossen des Belages ein kleiner Substanzverlust an der
betreffenden Stelle zu sehen.
Eine Structur ist an dem Belage mit freiem Auge selten
zu erkennen; meist ist die Oberfläche vollständig homogen.
Nur ausnahmsweise ist ein fibrillärer Bau wahrzunehmen.
Häufiger zeigt der Belag an solchen Stellen, wo er eine
dickere Lage bildet, ein körniges oder bröckeliges Aussehen.
Der Belag hängt mit seiner Unterlage ziemlich fest zu¬
sammen, lässt sich jedoch mit einer Pincette in grösseren oder
kleineren Stückchen abziehen, worauf in der Regel geringe
Blutung eintritt.
Die Zeit, innerhalb welcher der Belag sichtbar bleibt,
ist sehr verschieden. Zumeist pflegt er schon am zweiten oder
dritten Tage sich wieder theilweise abzustossen und ist am
fünften oder sechsten Tage verschwunden; in seltenen Fällen,
wenn nur Spuren von Belag vorhanden waren, kann dies
schon am dritten oder vierten Tage geschehen, während
andererseits grössere membranöse Auflagerungen sich oft erst
am achten oder zehnten Tage vollständig verlieren.
Die Intensität des Belages wird allem Anscheine nach
nicht beeinflusst, ob antiseptische Gurgelwässer in der Nach¬
behandlung verwendet werden oder nicht, ob man dieses oder
jenes schneidende Instrument zur Operation wählt. Immer¬
hin scheint eine lacerirte Wundfläche die Entwicklung des
Belages mehr zu begünstigen, als eine glatte. (Selbstverständ¬
lich kann die Galvanokaustik nicht in den Kreis dieser Be¬
trachtungen gezogen werden, weil sie sogleich einen Schorf
setzt, wodurch die Entwicklung eines Belages sich der genaueren
Beobachtung entzieht.)
Die Schleimhaut der Umgebung ist in vielen Fällen
unverändert. Hat bei der Operation eine starke Quetschung
stattgefunden, so sind an den Arcaden und am weichen
Gaumen dunkelrothe, meist streifenförmige Blutaustritte in der
Schleimhaut wahrzunehmen. Zuweilen aber finden sich auch
entzündliche Erscheinungen, Röthung und Schwellung der
Schleimhaut, oder sogar Oedem. Einmal habe ich einen peri¬
tonsillären Abscess nach Tonsillotomie beobachtet, es muss
jedoch gesagt werden, dass in diesem Falle möglicher Weise
eine leicht zu übersehende beginnende Entzündung schon vor¬
handen war, und daher die Tonsillotomie nicht mit Sicherheit
als Ursache derselben anzusprechen ist.
Schmerzen an der Wundstelle bestehen in der Regel nur
am ersten und zweiten Tage und verschwinden auch wenn
der Belag noch längere Zeit sich erhält. Ein höherer Grad
von Schmerzhaftigkeit ist ebenso selten wie ein längeres An¬
dauern derselben, vorübergehende Temperatursteigerung ist,
namentlich bei Kindern, nicht gar so selten. Drüsenschwel¬
lungen am Halse werden nur ausnahmsweise beobachtet.
Zur histologischen Untersuchung wurden einerseits
möglichst grosse Stückchen des Belages mit der Pincette
entfernt, und in Alkohol gehärtet. Andererseits habe ich ge¬
trachtet, in einzelnen Fällen den Belag sammt dem Grunde,
auf dem er sass, zur Untersuchung zu bekommen. Dies geschah
in der Art, dass in solchen seltenen Fällen, in denen aus irgend
einem Grunde durch den ersten Eingriff nur ein Theil der
Tonsille entfernt worden war, der Rest nicht sofort, sondern
erst am zweiten oder dritten Tage, zu einer Zeit also, wo
sich bereits ein Belag entwickelt batte, exstirpirt wurde. Auf
diese Art gewann ich für die Untersuchung im Ganzen drei
Tonsillen, welche ebenfalls in Alkohol gehärtet und so wie die
erstgenannten Präparate in Celloidin geschnitten und nach
verschiedenen Methoden — nach Weigert, nach Löffler
und mit Hämatoxylin-Eosin — gefärbt würden.
Die mikroskopische Untersuchung der Schnitte von den
Belagstückchen zeigt ungefähr Folgendes:
848
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 88
In einer Reihe von Präparaten findet sich eine Grund¬
substanz vorherrschend, welche aus Fibrin oder anderen ge¬
ronnenen Eiweisskörpern besteht, und theils eine feinfaserige
Structur, seltener ein mehr körniges oder scholliges Aussehen
besitzt; die Fasern liegen nicht dicht beisammen und sind
häufig netzförmig angeordnet.
Die Grundsubstanz, und zwar der netzförmig angeordnete
Theil derselben, nimmt theilweise die Fibrinfärbung deutlich
an, im Uebrigen ist sie durch Lithioncarmin oder Eosin
schwach röthlich gefärbt. In diesem Stroma sind stellenweise in
spärlicher Zahl Leukocyten eingelagert, meist in den Maschen
des Netzwerkes. An anderen Stellen und in einer Reihe von
anderen Präparaten sind dagegen die Leukocyten in solcher
Zahl vorhanden, dass neben ihnen nur wenig von einer Grund¬
substanz zu sehen ist.
Unter den Leukocyten sind sowohl mononucleäre als auch
polynucleäre Elemente zu finden; meist kommen beide Arten
zusammen vor, an einzelnen Stellen aber sind die mono-
nucleären Formen in überwiegender Anzahl oder ausschliesslich
vorhanden.
In einigen Präparaten ist auch in kleineren, selten in
grösseren Herden Coagulationsnekrose zu constatiren, indem
man ein glänzendes, die Fibrinfärbung nicht annehmendes
Balkenwerk mit eingelagerten Leukocyten sieht; letztere zeigen
stellenweise auch Kernzerfall.
Bacterien finden sich in den Schnitten aus den Mem¬
branen in überaus zahlreicher Anzahl, und zwar sowohl in
den oberflächlichen wie auch in den tieferen Partien der¬
selben. Sie liegen meist in grösseren oder kleineren Haufen,
vielfach auch in einer fast strangartigen Anordnung, was in
den nach Weigert gefärbten Schnitten in sehr deutlicher
Weise zu Tage tritt. Diese Bacterienmassen bestehen aus
einem Gemenge von verschiedenen Bacillen und Coccen.
In weitaus grösserer Anzahl erscheinen die Coccen ver¬
treten, vorwiegend in kleineren Häufchen vom Typus der
Stapliylococcen, nicht selten aber auch in kürzeren oder
längeren Ketten vom Typus der Streptococcen. In den grösseren
Haufen dieser Bacterienmassen tritt eine bestimmte Anordnung
der Coccen weniger deutlich zu Tage. Zwischen den Coccen
sind ziemlich zahlreiche Bacillen verschiedener Form und
Grösse eingelagert. Vorherrschend erscheinen längere, schmale
Bacillen, theils gerade, theils leicht gekrümmt, meist an beiden
Enden spitz zulaufend. Dieselben liegen ohne bestimmte An¬
ordnung theils einzeln, theils in kleineren oder grösseren
Nestern.
Unter diesen Formen findet mau vereinzelt auch solche,
die an einem Ende eine leicht keulenförmige Verdickung
zeigen. Ziemlich zahlreich finden sich auch kürzere, gleichfalls
schmale Bacillen einzeln liegend oder auch in grösseren Nestern
angeordnet. Spärlicher sind Bacterienformen vom Typus der
Vibrionen zu sehen.
Iu den Schnitten, welche von den sammt dem Belage
exstirpirten Tonsillen angefertigt wurden, zeigt sich vor Allem,
dass die Auflagerungen nur theilweise erhalten geblieben sind,
wogegen sich ein Theil derselben vermuthlich während der
Härtung abgelöst hat. Auch hier ist zu sehen, dass der Belag
aus einer zumeist schwach (mit Lithioncarmin oder Eosin)
tiugirten, theils faserigen, theils körnigen Grundsubstanz be¬
steht, welche entweder spärlicher oder reichlich mit Leuko¬
cyten verschiedener Formen durchsetzt ist. Einzelne netzförmig
angeordnete Partien der Grundsubstanz treten (in den nach
Weigert gefärbten Präparaten) durch ihre lebhaft blaue
Färbung hervor, zeigen also typische Fibrinfärbung. Endlich
gibt es noch Partien, welche ein stark glänzendes, fein¬
maschiges, die Fibrinfärbung nicht annehmendes Balkenwerk
erkennen lassen (Coagulationsnekrose), dessen Lücken von
Leukocyten erfüllt sind.
Bacterien kann man in allen Schnitten, allerdings in
sehr wechselnder Menge finden. Sie fallen überall durch die
lebhafte Tinction auf und finden sich ebenso wohl an der
Oberfläche wie in der Mitte und in den tieferen Partien der
Membranen. Der Form nach sind wiederum die Coccen vor¬
herrschend, welche entweder in Haufen oder in kürzeren oder
längeren Ketten angeordnet Vorkommen. In geringerer Zahl,
auch nicht in allen Präparaten, sind Stäbchen zu finden, meist
von mittlerer Länge, schmal, gerade oder leicht gekrümmt
und etwas schwächer gefärbt wie die Coccen.
Allenthalben erscheinen die Beläge ziemlich deutlich gegen
die Unterlage abgegrenzt; nirgends sind im benachbarten
Tonsillargewebe ähnliche Bildungen nachzuweisen, nirgends
Bacterien ausserhalb des Belages zu finden. Dagegen zeigt
sich an vielen Stellen das adenoide Gewebe dicht unterhalb
des Belages mehr oder weniger von Rundzellen durchsetzt,
welche gegen die Tiefe zu rasch an Zahl abnehmen. Dass die¬
selben nicht mit den lymphoiden Zellen der Tonsille identisch
und als eingewanderte zu betrachten sind, ist an der stärkeren
Färbbarkeit und an der Vielgestaltigkeit der Kerne zu erkennen.
Die Auflagerungen fehlen ausnahmslos an solchen Stellen der
Tonsillen, wo sich tiefere, von Epithel ausgekleidete Einschnitte
(Lacunen) finden.
Die bacteriologische Untersuchung der Beläge wurde in
zwei Abtheilungen vorgenommen. Da es mir, wie eingangs
erwähnt, vor Allem um den Nachweis von Diphtheriebacillen
zu thun war, so wurde in beiden Abtheilungen in erster Linie
auf die Auffindung eventuell vorhandener L ö f f 1 e r’scher
Bacillen Rücksicht genommen. In der ersten Untersuchungs¬
reihe wurde dieser Zweck ausschliesslich verfolgt, während in
der zweiten nebstbei auch die anderen in den Belägen vor¬
kommenden Bacterienarten berücksichtigt wurden.
Zur Untersuchung gelangten im Ganzen 31 Fälle von
Tonsillotomie. Je nachdem die Patienten, welche zumeist am¬
bulatorisch behandelt wurden, früher oder später ausblieben,
wurde jeweilig ein oder mehrere Male, jedoch nicht öfter als
dreimal an verschiedenen Tagen untersucht. Auf diese Art
kamen im Ganzen 57 Untersuchungen zu Stande. Der Vor¬
gang liiebei war folgender : Die erste Abimpfung geschah
nicht vor 24 Stunden nach der Tonsillotomie, die letzte
spätestens am fünften Tage nach derselben. In der ersten
Untersuchungsreihe, welche 16 Fälle mit 30 Untersuchungen
umfasst, wurde zunächst mit einer ausgeglühten Oese von dem
Belage abgestreift und das Abgestreifte auf L ö f f 1 e r’sches
Blutserum in Eprouvetten und auf Agar (in Petri’schen
Schalen) aufgestrichen. Zur Controle wurde immer auch mit
dem Mundsecrete ein L ö ff 1 e r’scher Nährboden bestrichen.
Sodann Hess ich die Patienten möglichst lange und ausgiebig
mit destillirtem Wasser gurgeln und entnahm darauf neuerdings
mit der Oese Belagstückchen, welche auf Blutserum aufge¬
strichen wurden. Spätestens nach 24 Stunden wurden die bis
dahin zur Entwicklung gelangten Culturen untersucht, in der
Weise, dass von sämmtlichen Nährböden, und zwar von den
verschiedensten Stellen derselben Deckglaspräparate angefertigt
und genau durchsucht wurden. So oft sich nur halbwegs
diphtherieverdächtige Formen fanden, wurden von den be¬
treffenden Partien Reinculturen angelegt und diese in möglichst
grosser Menge auf Meerschweinchen überimpft.
In der zweiten Reihe, welche die restlichen 15 Fälle mit
27 Untersuchungen betrifft, ging ich in etwas anderer Weise
vor. Zunächst wurden blos zwei Röhrchen L ö f f 1 e r’schen
Serums mit Belagstückchen, und zwar nach der Reinigung
der Mundhöhle, bestrichen. Ueberdies wurde noch auf Agar¬
platten in mehreren Petri’schen Schalen sowohl vom Belage
(vor und nach der Reinigung), als auch vom Mundsecrete auf¬
gestrichen. Die L ö f fl e r’schen Nährböden kamen wieder
spätestens nach 24 Stunden zur Untersuchung. Die Agar¬
platten blieben grundsätzlich 48 Stunden im Brutschrank,
bevor sie untersucht wurden. Der Nachweis von Diphtherie¬
bacillen geschah auch hier in der oben angegebenen Art. Auf
die übrigen Bacterienarten, so weit sie nach 48 Stunden sich
entwickelt hatten, konnte ich nur insoferne Rücksicht nehmen,
als sie sich aus Deckglaspräparaten und aus ihrem Verhalten
auf Agarnährböden bestimmen Hessen.
Das Ergebniss dieser Untersuchungen ist aus den auf
Seite 849 und 850 stehenden Tabellen ersichtlich.
Nr. 38
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
849
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Geschlecht
Alter
Datum der
Tonsillotomie
Datum der
Unter¬
suchung
Resultat
Anmerkung
1
1
i
m., 3 J.
29. Dec. 189E
30. Dec. 1898
Weder Diphtherie noch diphtherieähnliehe Formen
2
—
—
31. Dec. 1898
Weder Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
3
—
—
1. Jan. 189Ü
Weder Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
_
2
4
m., 28 J.
2. Jan. 1899
3. Jan. 1899
Weder Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
5
4. Jan. 1899
Auf Löffler neben zahlreichen Coccen vereinzelte kurze Bacillen in
Parallelstellung. Bei dem Versuche ihrer Reinzüchtung auf Agar
konnten sie nicht mehr aufgefunden werden
Hier dürfte es sieh um
Pseudodiphtherie gehandelt
haben, sicher aber nicht um
6
—
—
5. Jan. 1899
Weder Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
echte Diphtherie.
3
7
m., 3 J.
3. Jan. 1899
4. Jan. 1899
Weder Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
_
4
8
w., 12 J.
4. Jan. 1899
6. Jan. 1899
Weder Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
9
—
—
7. Jan. 1899
Weder Diphtherie noch diphtheiieähnliche Formen
_
5
10
w., 4 J.
14. Jan. 1899
15. Jan. 1899
Weder Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
11
—
—
16. Jan. 1899
Weder Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
_
6
12
m., 14 J.
14. Jan. 1899
15. Jan. 1899
Weder Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
__ 1
13
—
—
16. Jan. 1899
Weder Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
—
7
14
m., 30 J.
17. Jan. 1899
18. Jan. 1899
Weder Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
_
8
15
m., 18 J.
17. Jan. 1899
18. Jan. 1899
Auf Löffler neben Coccen zahlreiche, in einigen Präparaten sogar
Das Versuchsthier blieb
16
19. Jan. 1899
ausschliesslich kurze dicke Stäbchen in Parallelstellung; einzelne
überkreuzt [und keulenförmig. Von den entsprechenden Colonien
werden Reinculturen auf Löffler angelegt. Dieselben sind wegen
ihrer Parallelstellung und des Mangels an mit echten Diphtherie¬
bacillen übereinstimmenden Formen für Pseudodiphtherie zu
halten; zur Vorsicht wird jedoch der Thierversuch gemacht (Meer¬
schweinchen)
gesund.
9
17
m., 20 J.
27. Jan. 1899
28. Jan. 1899
In einigen Deckglaspräparaten (vom Mund) vereinzelte Stäbchen.
Von den entsprechenden Stellen wird auf Löffler und Agarplatten
weiter gezüchtet; diese Stäbchen waren jedoch nicht mehr aufzu¬
finden
—
18
—
—
30. Jan. 1899
Weder Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
—
10
19
w., 25 J.
29. Jan. 1899
30. Jan. 1899
Auf Löffler (nebst zahlreichen, grossen, plumpen Stäbchen, welche
Das Versuchsthier blieb
20
1. Febr. 1899
iu einer Kapsel liegen) entweder vereinzelt, oder in Haufen seg¬
mentirte Stäbchen, in Parallelstellung, öfters jedoch gekreuzt,
darunter einzelne Keulenformen. Beim Weitercultiviren zeigen sioh
jedes Mal Colonien von diesen Stäbchen, daneben aber immer
auch grosse, schleimige Rasen von dem erwähuten Kapselbacillus.
Endlich geliugt es, von den diphtherieverdächtigen Formen eine
Reincultur zu gewinnen, mit welcher sodann der Thierversuch
gemacht wird
gesund.
11
21
ID., 18 J.
29. Jan. 1899
30. Jan. 1899
Weder Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
—
12
22
w., 14 J.
8. Febr. 1899
9. Febr. 1899
Weder Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
—
13
23
24
w , 7 J.
8. Febr. 1899
10. Febr. 1899
Weder Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
—
—
11. Febr. 1899
Weder Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
_ _
25
—
12. Febr. 1899
Weder Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
—
14
26
w., 17 J.
10. Febr. 1899
11. Febr. 1899
Weder Diphtherie noch diphtherieähnliche Fo men
_
27
—
—
12. Febr. 1899
Weder Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
—
15
28
m., 30 J.
23. Febr. 1899
24. Febr. 1899
Weder Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
—
16
29
w., 5 J.
27. Febr. 1899
28. Febr. 1899
Weder Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
_
30
1. März 1899
W eder Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
—
Das Resultat
dieser Untersuchungen
ist also, wie die ausschliesslich Formen vor, weh
die dem L ö f f 1 e r ’sehen
- — — — 7 — viiivvv/nMv; **-» «ui VtV-'JLJ »T LIO V VU
Diphtheriebacillen ein vollständig negatives, das heisst: in
sämmtlichen Fällen wurde nicht ein einziges Mal das Vor¬
kommen des Diphtheriebacillus in dem Belage nachgewiesen.
Dagegen wurden in einer Anzahl von Fällen, und zwar im
Ganzen achtmal, Bacterien in grösserer Menge nachgewiesen,
welche mehr oder weniger den Verdacht auf Diphtherie hin¬
lenkten.
In der Mehrzahl der acht Fälle wurden in den Deck¬
glaspräparaten fast durchwegs nur kurze, plumpe Stäbchen in
Parallelstellung zu finden, welche schon von vorneherein als
nicht zu den echten Diphtheriebacillen gehörige angesehen
werden konnten; nur ganz vereinzelt waren dazwischen
anders gestaltete, eventuell diphtherieverdächtige Bacillenformen
zu sehen. In den anderen Fällen aber fanden sich in den
Deckglaspräparaten entweder in der Ueberzahl oder auch fast
nämlich entweder
segmentirte
keulenförmiger Anschwellung
an
Bacillus sehr ähnlich waren,
Stäbchen oder solche mit
einem Ende, häufig auch in überkreuzter Stellung.
In allen diesen acht Fällen wurde daher der Thier¬
versuch gemacht. Da sowohl der echte Diphtheriebacillus als
auch der Pseudodiphtheriebacillus jeder für sich morphologisch
und cultured grosse Variationen zeigen, andererseits auch
untereinander viele Aehnlichkeiten aufweisen, so wurde mit
Rücksicht auf die von den meisten Autoren vertretene Ansicht,
dass der Thierversuch eigentlich als das sicherste Unter¬
scheidungsmerkmal zwischen den beiden Bacillenarten zu be¬
trachten ist, dieser Weg gewählt.
Der Thierversuch liel aber in sämmtlichen Fällen negativ
aus, das heisst: kein einziges Versuchsthier ist an den Folgen
der Impfung, wie sie einer Infection mit Diphtheriebacillen
entsprechen würden, zu Grunde gegangen.
850
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. ?8
Tabelle II.
C£
V
u **
o -
Datum
immer d
Falles
•O
u o 1
1) -
2 v.
— • u
-
3eschlecht
Alter
der Ton¬
sillotomie
1er Unter¬
suchung
Diphtherie und diphtherieähnliche Formen
Andere Bacterien
Anmerkung
a ;
1900
17
31
w., 20 J.
10. Jan.
11. Jan.
Auf Löffler diphtherieähnliche Stäbchen mit einzelnen
Ausschliesslich und
1. April Tod des Thieres. Section
32
—
—
12. Jan.
Keulenformen (weissliche, gleichmässige, kleine Colo-
reichlich Strepto-
Brgab: Impfstelle nicht mehr con-
33
13. Jan.
nien) ; dieselben werden rein gezüchtet und am
15. Januar wird der Thierversuch gemacht
coccus
statirbar; Milz klein, braun (hyper
imisch). ln d. Pleura kein Transsud
Nebennieren gelb.
18
34
m., 4 J.
18. Jan.
19. Jan.
Keine Diphtherie noch diphtberieähnliche Formen
Ausschliesslich Strep¬
tococcus
—
19
35
w., 20 J.
21. Jan.
22. Jan
Auf Löffler und Agar ganz vereinzelte Colonien der
Pseudodiphtheriegruppe. Beim Weitercultiviren nicht
mehr auffindbar
Vorwiegend Strepto¬
coccus
—
36
23. Jan
Auf Agar (vom Mundsecret) eine Colonie mit diph-
tliei ieverdächtigen Stäbchen. Von derselben wird
eine Reincultur angelegt und am 24. Januar der
Thierversuch gemacht
Vorwiegend Strepto¬
coccus
11. Februar Tod des Thieres. Section
ergab: Impfstelle und Umgebung
vollständig reactionslos. Am Halse
vor der Trachea und mit derselben
in fester Verbindung eine theilweise]
vereiterte (Drüsen-?) Geschwulst.
Blutungen i. d. Lungen Hyperämie
der Nebennieren. Thier hochgradig
marast. Aus dem Eiter (am Halse)
Hessen sich nur Coccen (positiv zu
Gram) züchten.
20
37
w., 1 8 J.
23. Jan
24. Jan.
Keine Diphtherie und diphtherieähnliche Formen
Vorwiegend Strepto¬
coccus, spärlich
Staphylococcus
38
25. Jan.
Auf Löffler einzelne Stäbchen. Dieselben werden rein
gezüchtet. 31. Januar Thier versuch
Reichlich Strepto¬
coccus und Staphylo¬
coccus aureus
31. März Tod des Thieres. Section
ergab: Impfstelle reactionslos.
Nebennieren normal. Innere Organe
atrophisch. Lungen hyperämiseh.
21
39
W., 20 J,
25. Jan.
26. Jan.
Keine Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
Vorwiegend Strepto¬
coccus, daneben
Staphylococcus albus
40
27. Jan.
Keine Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
Vorwiegend Strepto¬
coccus, daneben
Staphylococcus albus
22
41
W., 20 J.
30. Jan.
31. Jan.
Keine Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
Vorwiegend Strepto¬
coccus
—
42
—
1. Febr.
Keine Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
Vorwiegend Strepto¬
coccus
—
43
—
—
2. Febr.
Keine Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
Vorwiegend Strepto¬
coccus
—
23
44
w., 14 J.
6. Febr.
7. Febr.
Auf Löffler und auf Agar sind Stäbchen zu finden,
welche meist Parallelstellung, theilweise auch Ueber-
kreuzung zeigen. Es wird eine Reincultur angelegt
und mit derselben am 10. Februar der Thierversuch
gemacht
Vorwiegend Strepto¬
coccus
12. März Tod des Thieres. Section
ergab ausser Atrophie der Organe
keine Veränderung.
45
_
8. Febr.
Keine Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
Vorwiegend Strepto¬
coccus
_
24
46
w., 16 J.
14. Febr.
15. Febr.
Keine Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
Vorwiegend Strepto¬
coccus, daneben
Staphylococcus aureus
—
47
_
16. Febr.
Keine Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
Vorwiegend Strepto¬
coccus, daneben
Staphylococcus aureus
~
25
48
w., 10 J.
17. Febr.
18. Febr.
Keine Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
Vorwiegend Strepto¬
coccus, daneben
Staphylococcus albus
26
49
19. Febr.
Keine Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
Vorwiegend Strepto¬
coccus, daneben
Staphylococcus albus
50
51
m., 20 J.
23. Febr.
24. Febr.
25. Febr.
Keine Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
Vorwiegend Strepto¬
coccus, daneben grosse
trockene Colonien (im
Deckglas Coccen),
welche sich als dünnes
Häutchen abziehen
lassen u. sehr schwer
zu zerkleinern sind
Dieselben bilden auf Kartoffel
kleine, zarte, weisse Colonien. Die
Bouillon bleibt ziemlich klar (mit
etwas Bodensatz), an der Ober¬
fläche ein zartes, gefaltetes Häut¬
chen.
27
52
w., 5 J .
18. März
19. März
Auf Agar mehrere kleine weisse Colonien, welche
aus parallel gestellten Stäbchen bestehen. Mit einer
Reincultur derselben wird der Thierversuch gemacht
Vorwiegend Strepto¬
coccus, spärlich auch
Staphylococcus
Das Thier blieb gesund.
-o
o3
20. Mäiz
Keine Diphtherie, ganz vereinzelte, plumpe, gerade
Stäbchen auf Löffler
Vorwiegend Strepto¬
coccus; auf Agar
(vom Belag) auch
spärl. Staphylococcen
Nr. 38
WIENEK KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
851
03
V
u bß
V 0
Datum
- - 1 - — -
immer c
Falles
, ja
L* Q
® 3
3 <»
a 2
Geschlecht
Alter
der Ton¬
sillotomie
'der Unter¬
suchung
Diphtherie und diphtherh ähnliche Formen
Andere Bacterien
Anmerkung
55
P fl
»Ö
1900
28
54
w., 3 J.
19. März
20. März
Keine Diphtherie, ganz vereinzelte plumpe Stäbchen
auf Löffler
Voiwiegeud Strepto¬
coccus, daneben auch
Staphylococcus albus
~
29
55
w., 19 J.
‘
20. März
21. März
Auf Löffler Säbcher, theil weise mit Ueberkreuzung,
ziemlich viele Keulenformen. Mit einer Reincultur der¬
selben wird am 18. März der Thierversuch gemacht.
9. April Tod des Thieres. Section: Die Impfstelle mit
fibrinös-eiterigen Exsudat belegt. Hypeiämie der
Nebennieren. Kein Transsudat der Pleura. Deckglas¬
präparate vom Exsudat an der Bauchhaut zeigen
meistenteils plumpe Stäbchen, aber auch Coccen.
Daher wird am 10. April neuerlich der Thierversuch
mit einer Reincultur gemacht
Voi wiegend Strepto¬
coccus und Staphylo¬
coccus
1 3. April Tod des zweiten Versuchs¬
tieres. Section negativ.
30
56
in., 3 J.
25. März
26. März
Keine Diphtherie noch diphtherieähnliche Formen
Vorwiegend Strepto¬
coccus und Staphylo¬
coccus
—
31
57
m., 20 J.
31. März
1. April
Keine Diphtherie noch diphtherieähnliche Foimen
Vorwiegend Staphylo¬
coccus aur., daneben
Streptococc. und
Staphylococcus albus
Wolil aber muss ich bemerket), dass von den Thieren
der zweiten Versuchsreihe keines am Leben geblieben ist;
doch erfolgte der Tod der Thiere fast ausschliesslich nach
Wochen oder Monaten nach der Impfung. Dies hat vermuthlich
darin seinen Grund, dass diese Untersuchungen zu einer Zeit
ausgeführt wurden, zu welcher wegen schlechter Fütterungs¬
und Stallverhältnisse im Institute ein grosser Theil der Thiere
— auch der nicht geimpften — allem Anscheine nach an
Inanition verendete; wenigstens ergab die Section fast
immer das gleiche Bild: Hochgradige Atrophie der inneren
Organe.
Die in diesen acht Fällen gefundenen Bacterienformen
müssen demnach als zur Pseudodiphtheriebacillengruppe gehörig
betrachtet werden. Das relativ häutige Vorkommen derselben
in dem Belage darf deswegen nicht Wunder nehmen, weil,
wie schon von verschiedenen Autoren wiederholt nachgewiesen
wurde, in der Mund- und Rachenhöhle (v. Hofmann-
Welle n h o f '), L ö f f 1 e r s), E s c h e r i c h 9), P r o c h a s k a 1 °)
u. A.) sowie im Nasensecrete (Gerber und P o d a c k n) u. A.),
derartige Bacterien Vorkommen.
Dass der von L i c h t w i t z so häutig gefundene Bacillus
wirklich der L ö t f 1 e r’sche Diphtheriebacillus gewesen sei,
muss demnach als unwahrscheinlich hingestellt werden, und
es liegt nahe, anzunehmen, dass er den so nahe verwandten
Pseudodiphtheriebacillus für den L ö ff 1 e Eschen angesprochen
hat. Dies wäre umso weniger auffällig, als die Schwierigkeit
der Ditferentialdiagnose zwischen Diphtherie- und Pseudo¬
diphtheriebacillus noch immer sehr gross ist, ja einige Autoren
(Roux und Yersin12) u. A.) sogar die Pseudodiphtherie¬
bacillen' nur für a virulent gewordene Diphtheriebacillen an-
sehen.
Es könnte gegen meine Untersuchungen und das Re¬
sultat derselben eingewendet werden, dass die Tonsillotomien
mit schneidenden Instrumenten ausgeführt wurden, während
L i c h t w i t z diese Operation mit dem Galvanokauter vor-
0 v- Hofmann-W olle n li o f, Untersuchungen über den Klebs-
L ö f f 1 e r’schen Bacillus. Wiener medicinische Wochenschrift. 1888.
8) Löffler, Ergebnisse weiterer Untersuchungen über den Diph¬
theriebacillus. Centralblatt für Bacteriologie. 1887, Bd. II, nag. 173, Nr. 3
und 4, Referat.
J) Escherich, Der Diphtheriebacillus. Wien 1894.
1U) Prochaska, Die Pseudodiphtheriebacillen des Rachens. Zeit¬
schrift für Hygiene. Bd. XXIV, pag. 373.
1 ’) Gerbe r und P o d a c k, Ueber die Beziehungen der sogenannten
Rhinitis fibrinosa und des sogenannten Pseudobacillus zum Kleb s-
L ö t f 1 e r’schen Diphtheriebacillus. Deutsche Wochenschrift für klinische
Medicin. Bd. LIV, pag. 262.
*') Roux et Y e r s i n, Contribution ä l’etude de la diphtherie
(3C memoire). Annales de ’«’Institut Pasteur. 1890, Nr. 7.
genommen hat. Dem wäie zu entgegnen, dass für mich von
vorneherein kein Grund zur Annahme vorhanden war, dass
diese oder jene Operationsmethode irgend welchen Einfluss
auf die Ansiedelung von Bacterien, insbesonders von Diph¬
theriebacillen nehmen sollte, und dass ich deswegen bei der
seit jeher an der Klinik üblichen Methode mit schneidenden
Instrumenten geblieben bin.
Gesetzt den Fall, dass wirklich, wie Licht witz ge¬
funden hat, echte Diphtheriebacillen auf dem Belage in grösserer
Menge Vorkommen, so wäre nicht einzusehen, dass dieselben
jedes Mal für die Operirten ganz unschädlich geblieben sein
sollten, wie Licht witz von seinen Fällen behauptet. Jeden¬
falls müssten solche Personen, an welchen die Tonsillotomie
vorgenommen wurde, vorausgesetzt, dass sie wirklich mit der
von L i c h t w i tz angegebenen Häufigkeit virulente Diphtherie¬
bacillen in dem Belage beherbergen, sogar als eine Gefahr
für ihre Umgebung betrachtet werden und es wäre geboten,
nicht nur für sie selbst, sondern auch für ihre Mitbewohner,
namentlich Kinder, Vorsichtsmassregeln zu treffen.
Es ist zwar nicht undenkbar, dass zu Zeiten einer
Diphtherieepidemie, während welcher von verschiedenen Beob¬
achtern auch bei völlig gesunden Individuen Diphtheriebacillen
gefunden wurden, sich dieselben zufällig auch bei solchen
Personen finden könnten, an denen eine Tonsillotomie vor¬
genommen wurde. Dann müsste es aber Wunder nehmen,
wenn nicht in dem einen oder anderen Falle eine Diphtherie
sich entwickeln würde, da doch von einer Wunde aus ungleich
leichter eine Infection zu Stande kommen könnte, als von
vollständig intacten Tonsillen aus. Ich glaube sogar, dass an
solchen Orten, wo Diphtherie herrscht, wegen der Infections-
möglichkeit eine Tonsillotomie nicht, oder doch nur unter
besonderen Vorsichtsmassregeln vorgenommen werden sollte.
Diese Anschauung steht nun allerdings in scheinbarem Wider¬
spruche mit den Ansichten Anderer. So sagt beispielsweise
v. W i d e r h o f e r 13), dass es zweckmässig sei, bei Kindern
hypertrophische Tonsillen rechtzeitig zu entfernen an Orten,
wo Diphtherie herrscht; ebenso meint Lau cry14), dass Ton-
sillarhypertrophie bei Kindern zu Angina diphtheritica prä-
disponire, und dass man daher grosse Mandeln bei Kindern
entfernen müsse, in deren Familie Diphtherie vorkomme.
Es soll nun keineswegs gesagt sein, dass die von den
genannten Autoren aufgestellte Forderung nicht durchführbar
wäre, wenn gewisse Vorsichtsmassregeln in Anwendung
,3) v. Widerhofer, Allgemeine Wiener medicinische Zeitung.
1887, Nr. 24.
I4) Lancry, De l’amygdalotomie comme traitement preventiv de la
diphtherie. Journal des sciences med. de Lille. 1892.
852
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 38
kommen. Andererseits ist diese Forderung, wie ich glaube, auch
nicht in dem Sinne zu deuten, dass man bei einem Kinde,
welches in der Nähe von Diphtheriekranken sich authält,
ohne Weiteres die Tonsillen entfernen soll.
Nun hat L i c h t w i t z von einer Diphtherieepidemie keine
Erwähnung gemacht, und es muss unter dieser Voraussetzung
als sehr unwahrscheinlich hingestellt werden, dass die von ihm
gefundenen Bacillen echte Diphtheriebacillen gewesen sind,
und als ebenso unwahrscheinlich, dass das Vorkommen von
Löf fl e r’schen Bacillen in den Belägen nach Tonsillotomie
jedesmal ohne Folgen bleiben sollte.
Bezüglich der anderen Bacterienarten, welche in den
fünfzehn Fällen der zweiten Untersuchungsreihe gefunden
wurden, ist wenig zu sagen. Es wurden drei Formen nach¬
gewiesen, und zwar in allen Fällen der Streptococcus pyogenes
(aber blos nach den morphologischen und culturellen Merk¬
malen) entweder allein oder zusammen mit Staphylococcus
albus und aureus. Welche Rollen den genannten Coccen-
formen bei der Entwicklung des Belages zukommt, lässt
sich aus meinen Untersuchungen nicht mit voller Sicherheit
entscheiden.
Es wäre nun von grossem Werthe, aus diesen Unter¬
suchungen Anhaltspunkte über die Entstehung der Beläge
und über die Ursachen derselben zu gewinnen.
Bezüglich der Enstehung lässt sich auf Grund der mikro¬
skopischen Untersuchung und der klinischen Beobachtung un¬
gefähr Folgendes annehmen:
An der durch die Tonsillotomie gesetzten Wundfläche
kommt es zu einer deutlichen Entzündung (und stellenweise
selbst zu Nekrose), indem nicht blos Lymphe austritt, sondern
auch eine Auswanderung von Leukocyten und Exsudation von
Fibrin stattfindet, und andererseits einzelne Partien der Wund¬
fläche der Coagulationsnekrose verfallen. Auf diese Weise
entsteht der membranartige Belag. Schon vom Anbeginne an
gelangen mit dem Mund- und Rachensecrete Bacterien auf
die Wundfiäche, wo sie einen günstigen Nährboden finden und
sich dem entsprechend schneller vermehren können. Auf diese
Art entwickeln sich in und auf den Belägen ganze Bacterien-
rasen, welche dann schliesslich einen wesentlichen Bestandteil
der Membran bilden. Sobald die Exsudation beendet ist, hört
das Wachtshum der Beläge auf, die Bacterien jedoch können
sich ungehindert weiter vermehren und schliesslich, wie in
einzelnen Fällen beobachtet, den grössten Theil der Membran
einnehmen. In solchen Fällen, in denen sich namentlich an
der Oberfläche ganze Bacterienrasen gebildet haben, zeigt der
Belag eine lichtere, fast milchweisse Farbe. Die dunkler ge¬
färbten oder missfärbigen Membranen sind in der Regel ärmer
an Bacterien.
Es wäre nun zu erörtern, welche Momente als Ursache
für die Tonsillotomiebeläge in Betracht kommen können. Das
Nächstliegende ist, an den mechanischen Insult zu denken, der
bei der Tonsillotomie stattfindet, und es fragt sich: Kann durch
denselben dieser abnorme Wundverlauf — die Entstehung von
mombranösen Auflagerungen — erklärt werden? Es ist wohl
auffällig, dass eine Beziehung zwischen Intensität des Belages
und der Art der Schnittfläche allem Anscheine nach besteht,
indem an unregelmässigen, stark gequetschten Wundflächen
sich meist dickere Auflagerungen bilden, als an glatten. Anderer¬
seits ist aber wieder auffällig, dass zuweilen doch Abweichungen
hievon zu beobachten sind, und dass in keinem Falle der Belag
gänzlich ansbleibt, auch nicht bei vollkommen glatter Wund¬
fläche, nicht bei thunlichster Vermeidung jeder mechanischen
Irritation; auch lässt sich, wenn man die Wundheilung an der
Tonsillotomiewunde mit der an anderen Orten vergleicht, schon
von vorneherein annehmen, dass der mechanische Insult allein
die Entstehung der Membranen nicht erklärt, zum Mindesten
nicht als Hauptursache derselben angesehen werden kann.
Es bleibt nur ein Moment übrig, welcher zur Erklärung
herangezogen werden kann. Nach dem Ergebnisse vorstehender
Lntersuchungen kann man, wie ich glaube, wenn auch nicht
mit voller Sicherheit, aber doch mit grosser Wahrscheinlichkeit
annehmen, dass der Belag das Product bestimmter Bacterien
ist, und zwar des Streptococcus und des Staphylococcus
pyogenes.
Für diese Annahme lassen sich folgende Gründe an¬
führen :
Erstens konnten die genannten Bacterien constant in
dem Belage, und zwar in überwiegender Menge nachgewiesen
werden.
Zweitens ist die Membran, wie die histologische Unter¬
suchung zeigt, als Product einer intensiveren Entzündung an¬
zusehen, indem sie aus Leukocyten, Fibrin und nekrotischen
Partien der Wundfläche besteht, nämlich einer Entzündung,
welche einen höheren Grad zeigt als jene, welche man bei
einfacher Wundheilung zu beobachten pflegt; einer Art von
Entzündung, welche erfahrungsgemäss durch die genannten
Bacterien verursacht werden kann. Die oben genannten
Bacterien kommen zwar bekanntermassen schon normaliter
sehr häufig in der Mundhöhle vor, ohne aber eine Entzündung
daselbst hervorzurufen, da sie unter diesen Verhältnissen die
schützende Epitheldecke nicht durchdringen können. Ist aber
eine Wundfläche in der Mundhöhle gesetzt worden, i’ann ver¬
mögen sie sich auf derselben anzusiedeln, sich stärker zu
vermehren und auf diese Weise stärkere Entzündungser¬
scheinungen zu bewirken.
Zum Schlüsse dieser Ausführungen möchte ich noch kurz
das Resultat zusammenfaesen, zu welchem ich auf Grund der
vorstehenden Untersuchungen gekommen bin:
Nach jeder Tonsillotomie entwickelt sich längstens in
24 Stunden an der Wundstelle ein Belag, manchmal nur
rudimentär, in ausgesprochenen Fällen in Form von Mem¬
branen.
Der Belag besteht der Hauptsache nach aus Fibrin,
Leukocyten und aus nekrotischen Partien der Wundfläche.
In dem Belage finden sich aber auch in ziemlich grosser
Menge Bacterien verschiedenster Form, vorherrschend Coccen.
Es ist wahrscheinlich, dass die Bacterien in ursächlicher
Beziehung zu dem Belage stehen.
Es muss als Regel angenommen werden, dass der Diph¬
theriebacillus auch als zufälliger Befund in dem Belage nicht
nachweisbar ist, als Ursache des Belages kann er jedenfalls
nicht angesehen werden.
Doch ist relativ häufig in dem Belage ein Bacillus nach¬
zuweisen, welcher zur Gruppe der Pseudodiphtheriebacillen
gerechnet werden muss.
Irgend eine Gefahr ist mit dem Tonsillotomiebelage in
der Regel nicht verbunden, doch erscheint es zweckmässig,
die Kranken auf das Erscheinen derselben aufmerksam zu
machen und gleichzeitig über die Unschädlichkeit desselben
aufzuklären.
Zu Zeiten einer grösseren Diphtherieepidemie erscheint
es namentlich bei Kindern nicht rathsam, eine Tonsillotomie
vorzunehmen, ohne wenigstens entsprechende Vorsichtsmass-
regeln zu ergreifen.
Es sei mir noch gestattet, Herrn Prof. Chiari für die
Ueberlassung des Materials und Herrn Prof. Weichsel-
baum für die thatkräftige Unterstützung dieser Arbeit
wärmsten s zu danken.
Ein Beitrag zur Kenntniss des Scharlachs und
der Masern.
Von Dr. Jaroslav Eigart in Brünn, Secundararzt am St. Annen-Spital.
Im Studium des Scharlachs und der Masern trat in der
letzteren Zeit ein Stillstand ein; die neueren Arbeiten beschränken
sich häufig auf übersichtliche Schilderungen des Krankheits¬
bildes, und tragen wenig Neues bei. Die Ursache dieser Er¬
scheinung dürfte darin liegen, dass man bisher nicht das in-
fectiöse Agens der Krankheiten kennt, dass weiter auch die
causale Folge ihrer Symptome nicht erwiesen ist, und deshalb
auch die Therapie und die hygienischen Massregeln einen ganz
allgemeinen Charakter tragen, so wie bei anderen Infections-
krankheiten.
Nr. 38
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Ueber das Infectionsagens sind zwar einige Ar¬
beiten veröffentlicht worden. Keating (1882) bat im mor-
billüsen Blute intra vitam et post mortem freie oder in den
Leukocyten eingeschlossene Mikrococcen beobachtet und glaubt
deswegen, dass Morbilli eine Art septischer Erkrankung seien
und dass demnach auch die 4 herapie sich auf die Anwendung
von Alcoholicis und Chinin beschränke. C a n o u und P i e 1 i c k e
(1892) fanden bei 14 Fällen während der ganzen Krankheitsdauer
Diplococcen im Masernblute. C z a j k o w s k i cultivirte aus dem
Nasenschleime sowie aus dem Blute kurze Bacillen mit abge-
l undeten Enden, welche am besten im Bouillon gediehen, und
mittelst G r a m’scher Methode sich gut färben Hessen. Die Be¬
obachtung von C a n o u und Pielicke wurde jedoch nur von
Josias bestätigt, während die Controlversuche von Jonas.
Hlava, Laveran negativ ausgefallen sind. Die übrigen
Angaben fand ich in der Literatur nicht controlirt.
Bei Scharlach fand Pohl (1883) unter den Schuppen
Mikrococcen, Löffler cultivirte wieder aus den anginösen
Pseudomembranen Streptococcen, deren Injection ganz ähnliche
suppurative Arthritiden beim Kaninchen zur Folge hatte, wie
es bei dem beobachteten Kinde der Fall war. Das Vorhanden¬
sein von Streptococcen bei Scharlach wurde von zahlreichen
Beobachtern bestätigt, besonders von Haubner, Fraenkel
und I reudenberg diese zwei Letzteren erklärten aber zu¬
gleich, dass manes mit einer secundären Infection zu
tliun habe. Somit blieb die Aetiologie wieder unklar. Ich
möchte noch aus der Reihe von bacteriologischen Befunden den
von Jamieson und Eddington anführen, welche in den
ersten drei Krankheitstagen im Blute, später (in der dritten
Woche) in den Schuppen constant Diplococcen fanden. Auch
der Streptococcus Fehl eis en’s kam im Falle von Lenhartz
voi • Man sieht also, dass die Ursache von Scarlatina noch
unaufgeklärt ist.
Eine ähnliche Unsicherheit herrscht bisher über die P a-
thologie, besonders aber über die Art, auf welchem Wege
die Infection zustande kommt. Ein Theil von Forschern
(hauptsächlich aus früherer Zeit, wo das Hauptgewicht auf
das Exanthem gelegt wurde) glaubt, die Invasion finde durch
die Haut statt, ein zweiter Theil, deren Zahl immer grösser
wild, neigt sich der Ansicht zu, dass das Infectionsvirus durch
den Respirationstractus, besonders durch seine erste Hälfte,
die der Infection am meisten ausgesetzt ist, in den Körper
eindringe. (Nur in Bezug auf den sogenannten chirurgischen
Scharlach war man seit jeher einig, dass die Infection durch
die Wunde geschehe.)
Am ärgsten steht es mit der Therapie. Zuerst prüfte
man vielerlei Medicamente intern; manche davon wurden als
Specifica gepriesen, später wurde die Aufmerksamkeit der Ein-
l ei bung von Salben und Oelen in die Haut zugewendet, es
w ui den auch Impfungen analog der Variolisation vorgenommen
- bis bei der allgemeinen Erfolglosigkeit (es war manchmal
mit der vorgenommenen Therapie nur der Autor zufrieden),
die Ansicht Platz fand, dass die symptomatische Therapie die
beste sei, durch welche freilich nicht den Complicationen vor¬
gebeugt wird.
In der letzten Zeit erst gewinnen einige activere Methoden
mit Aetzungen der Tonsillen oder parenchymatösen Injectionen
m dieselben die Oberhand. Die letzte Phase in dieser
Hinsicht ist die Angabe Marmorek’s (1895), welcher nach
subcutanen Injectionen seines Antistreptococcenserums gesehen
hat, dass die Pseudomembranen im Halse sich rasch abstiessen,
e iiien und lieber rapid abnahmen, Eiweiss im Urin schwand,
und weniger Complicationen Vorkommen. Diese Angabe wurde
von Josias und Baginsky controlirt; das Resultat war
aber negativ.
Die heutige Apathie angesichts von Morbillen und Schar¬
lach ist wohl begreiflich. Leider werden auch die prophylaktisch-
ygienischen Massregeln nicht in der Weise mehr ausgeführt, wie
es wünschens werth wäre — besonders in grösseren Städten, wo
Morbillen und Scharlach endemisch geworden sind. In Brünn
z. B. wird der Arzt wegen Morbillen sehr oft nicht gerufen,
ebenfalls nicht zur Scarlatina. Diese verheimlichten Fälle sind
dann gewiss die Ursache des Weitergreifens der Krankheit, das
man nicht leicht verfolgen kann, und welches wohl der Haupt¬
grund der Endemien ist. Ich bin überzeugt, dass ein Theil der
Schuld auch auf uns fällt — denn, wenn das Publicum unsere
Machtlosigkeit sieht, so ruft es im zweiten Falle den Arzt
nicht mehr — ausgenommen, es geht sehr schlecht. Unsere
I assivität ist ein grosser Fehler.
Am ärgsten fühlt man diese Unkenntniss während der
Hausepidemieen in den Spitälern (oder auch bei der Prophylaxis
m eigener Familie, wo man selbst die Infection leicht ein¬
schleppen kann). WTnn Platzmangel im Spital besteht und
die überzähligen Fälle nicht in ein anderes Zimmer ge¬
geben werden können, so zieht sich eine solche Epidemie
manchmal lange Zeit hin. Gewöhnlich beschränken sich dann
alle hygienischen Anordnungen nur darauf, dass man den
Erkiankten wegschafft, die Bettwäsche vom letzten Infections-
fall wechselt, das Bett waschen lässt (gesetzt den Fall, dass
man das betreffende Zimmer behufs Desinfection ’nicht
räumen kann).
Die Intensität der Hausepidemien ist verschieden, manch¬
mal werden nur einige Fälle, das andere Mal eine grosse An¬
zahl ergriffen. Als Beispiel mögen einige in den letzten Jahren
in der Brünner Allgemeinen Krankenanstalt zu St. Anna und
un Kinderspitale beobachtete Fälle angeführt werden. Das Kinder¬
spital war bis zum Neujahr 1899 im gewöhnlichen Miethhause
provisorisch untergebracht und besass nur 35 Betten. Eine
gründliche Hygiene konnte dort nicht Platz haben, und die
Vei waltung beschränkte sich auf zeitweise Desinfection mit
Formalin (Schering) oder seltener auf neues Ausmalen der
Zimmer. Wegen Platzmangel war es aber nothwendig, einen
1 heil dei Kinder, besonders alle Augen- und Ohrenkranken, im
Allgemeinen Krankenhause zu unterbringen, wo dieselben zuerst
promiscue mit den Erwachsenen lagen (auf Zimmer Nr. 26
und 27), später aber wurde ihnen die Gartenbarake zu¬
gewiesen. (Das Spital selbst war nämlich, obzwar es 810 Betten
besitzt, überfüllt.)
Masernepidemie auf Nr. 26 und 27 im Jahre 1894.
I. S. Kutil, 16. December 1893. Ulcus corneae. 1. Januar
Morb. exanthem. 27. Februar sanata demissa.
Bradacek, 15. Januar. Conjunctivitis. 15. Januar
Morb. exanthem. 28. Februar sanata demissa.
3. R. Bradacek, lo. Januar. Conjunctivitis. 5. Februar
Morb. exanthem. 8. Februar non sanata demissa.
4. M. Hajek, 27. Januar. Keratoconj. phlyct. 1. Februar
Morb. exanthem. 10. Februar sanata demissa.
5. J. Vinzor, 31. März. Keratitis fascic. 15. April Morb.
exanthem. f^Pneumonia.
6. K. Sebesta, 24. März. Ulcus corneae. 30. März. Morb.
exanthem. Sanata demissa.
7. J. Waisocher, 2. April. Keratoconj. phlyct. 27. April
Morb. exanthem. 8. Mai sanata demissa.
8. Y. Vavra, 14. April. Keratoconj. phlyct. 28. April
Morb. exanthem. 7. Mai sanata demissa.
9. F. yrska, 15. April. Conjunctivitis. 28. April Morb.
exanthem. 30. April mit croupöser Laryngitis transferirt auf
die diphtheritische Abtheilung.
10. F. Kokolija, 18. April. Keratoconj. phlyct. 4. Mai
Exanthem. 15. Mai sanata demissa.
II. F. Voborny, 8. März. Conjunctivitis. 9. Mai Exan¬
them. 21. Mai sanata demissa.
12. J. Kral, 25. April. Keratoconj. phlyct. 12. Mai Exan¬
them. 21. Mai sanata demissa.
13. K. Sarg, 12. Mai. Conjunctivitis. 12. Mai Exanthem.
25. Mai sanata demissa.
14. E. Cernohorsky, 7. Mai. Keratoconj. phlyct. 17. Mai
Exanthem. 2o. Mai mit croupöser Laryngitis transferirt.
15. S. Jurny, 6. Mai. Keratoconj. phlyct. 24. Mai Exan¬
them. 6. Juni f Pneumonia.
16. Ignotus, 21. Mai. Conjunctivitis, Somnolenz. 24. Mai
Exanthem. 9. Juni sanata demissa.
17. T. Kfap, ? 15. Mai Exanthem. 9. Juni sanata demissa.
854
Nr. 38
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
In Anbetracht dessen, dass strenge Beobachtungen die
Dauer des Incubations- und Prodromalstadiums auf 13 — 14 Tage
angeben, sehen wir aus dieser Uebersieht, dass die Mehrzahl
der Fälle gewiss erst während des Spitalsaufenthaltes sich in-
fieirt hat, der geringere Tkeil aber irrthümlich mit initialer
Conjunctivitis (morbillosa) auf die Augenabtheilung aufgenommen
wurde. In den letzteren Fällen war demnach der Aufenthalt
kürzer, bevor sie in die Epidemieabtheilung transferirt wurden,
was erst in dem Augenblicke immer geschehen konnte, wenn
Exanthem constutirt wurde. Aehnliche lrrthümer, wohl unver¬
meidlich, kommen sicher auch in anderen Spitälern vor.
Masern im Kinderspitale im Jahre 1897.
Diese Epidemie erwähne ich deshalb, weil zugleich dort-
sdbst mit grösserer Intensität auch Scarlatina (siehe weiter)
auftrat, und beide nebeneinander lange Z et bestanden.
1. F. Smejkal, 5. März. Diarrhoea. G. März Morbilli.
2. F. Hromek, 19. Juni. Rachitis. 3. Julii Morbilli.
IS. August sanata demissa.
3. A. Malina, 10. Juni. Keratoconj. phlyct. 1. September
Morbilli. 2. September an Croup y.
4. S. Pänek, 21. Jub. Enteritis. 5. August Morbilli.
8. September sanata demissa.
5 M. Vasin, 7. Juli. Rachitis. 12. August. Morbilli.
20. August f Pneumonia.
6. J. Lepka, 23. August. Lupus. 17. September Morbilli.
Sanata demissa.
7. E. Marsal, 1. April. Rachitis. 21 September sanata.
demissa.
8. J. Adam, 2. September. Keratoconj. phlyct. 28. Sep¬
tember Morbilli. 21. October f. Meningitis ex otitide suppu¬
rativa.
9. A. Winkler, 13. September. Rachitis. 6. 0;tober
Morbilli. 7. October Enteritis iollicularis und Pneumonia.
10. R. Pohl, 2G. September. Otitis suppur. 19. October
Morbilli. 21. November sanata demissa.
11. A. Grambai, 10. October. 31 October Morbilli. Sa¬
nata demissa.
12. A. Jerabek, 13. März. Caries ped, 25. October Mor¬
billi. 18. December f. Enteritis follicularis, Periproktitis.
Mit Ausnahme vom ersten und fünften Fall also ins-
gesammt Hausinfectionen, im Ganzen eine schwere Epidemie
(12:5 f). wogegen bei der erstangeführten von der Augenab¬
theilung die Mortalität 17:2 beträgt.
Scharlach im Kinderspitale in den Jahren 1 895
bis 1898.')
1895. 1. R. Schmid, 1. October. Angina. 2. October.
2. J. Ledvina, 17. Decemb ;r. Angina. 18. December.
1896. 3. A. Trmaö, 10. Januar. 14. Januar.
4. J. Vodka, 15. Jänner. Bronchitis. 21. Januar. (Exan¬
them. miliare.)
5. F. Kubin, 7. April. 17. April Collaps. j 19. April.
G. R. Gretz, 13. April. Scrophulosis. 20. April Enteritis,
f 30. April.
7. J. Prokop, 23. April. l.Mai Bronchitis, Croup,
f 10. Mai.
8. M. Buf*ek, 29. April. 5. Mai Otitis.
9. P. Otjisal, 15. Mai. 23. Mai.
10. O. Simbersky, 8. Juni. IG. Juni.
11. J. Schedlik, 27. August. 1. September.
12. C. Barra, 3. Juli. 7. September Somnolenz, Collaps, f.
13. A. Chlubny, 21. September. 28. September Enteritis,
f 31. October.
14. K. Hlavina, 23. August. 2. October.
15. A. Kfemlicka, 20. September Pertussis. 6. October
Otitis.
) Die Grundkrankli eiten werden nur in Fällen angeführt, wo sie
einen Cau-alnexus haben oder den Ausgang erklären. Das erste Datum
zeigt die Aufnahme, das zweite den Tag der Transferirung, wo eben das
Exanthem contndirt wurde.
16. K. Pollach, 12. Juli. 10. September Nephritis.
1897. 17. A. Smetana, 17. December. 4. Januar Ery¬
sipelas fac.
18. M. Jedliöka, 8. Januar. 14. Januar Otitis, Broncho¬
pneumonia. f G. Februar.
19. A. Masafik, 19. Januar. 3. Februar.
20. A Jerabek, 24. Februar. 1. März.
21. J. Pallas, 16. März. 22. März Otitis, Enteritis.
22. J. Tomanec, 25. März. Caries mult. 30 März. Som-
nolonz, Collaps. j* 1. April.
23. J. Reichstetter, 28. Mai. Desquamatio et Nephritis
(postscarlatinosa. 29. Mai transferirt; Hydrops, Endocarditis
v. mitr.), Uraemia, Hemiplegia. Sanatus.
24. E. Kozel, 29. Mai 10. Juni.
25. M. Kresa, 16. Mai. 16. Juli.
23. F. Dobrovolny, 27. Juni. Rachitis. 1. Juli. Keine
Angina, Exanthem, Otitis.
27. M. Konecny, 20. September. Keratitis. 1. October
Ex. miliare, Enteritis follic. f 16. October.
28. J. Modlitba, 14. September. Caries mult. 1. October.
Otitis, Collaps. y 3. October.
29. O. Skotak, 9. August. Genu valg. 9. October. Otitis,
Enteritis, Sepsis, f 28. October.
30. A. Hovorka, 2. October, 12. October.
31. R. Beindhch, 23. October. 14. November.
32. V. Kolaf, 20. November. Absc. colli, Desquamatio.
21. Januar 1898 transferirt. Otitis.
33. M Sedläk, 21. November. Ker. phlyct. 26. November
Erysipelas frontis e furunculo. y 15 December.
34. F. Vorlicky, 28. November. Angina. 30. November.
35. J. Bedrich, 7. November. 17. December Otitis, Sepsis, f.
36. J. Dedek, 10. December. Coxitis. 17. December.
Enteritis, Uraemia, f 3. Januar.
37. A. Basta, 30. November. Bronchitis. 2 1. December.
Enteritis, Pneumonia, f 16. Januar.
38. J. Anti, 30. November. 30. December Nephritis,
Icterus catarh. Sanata demissa.
1898. 39. F. Cäslava, 19. December. Coxitis. 5. Januar
Collaps. y 9. Januar.
40 R. Marek, 15. Januar. 22. Januar Otitis.
41. J. Merta, 11. April. 14. April Nephritis.
42. T. Hochmann, 13. April. 22. April.
43. E. Dolutcek, 3. April. Spondylitis. 30. April Ente¬
ritis, Nephritis.
44. J. Kogabek, 12. April. Tumor abdom. 19. April
Enteritis, Pneumonia, y 30. April.
45. F. Adam, 1. Mai. 7. (Mai.
46. M. Vladik, 21. Mai. 29. Mai Pertussis.
47. A. Slama, 24. Juni. Tbc pulm. 1. Juli Enteritis,
Otitis. 27. Juli Sepsis, hämorhagisches Exanthem, blutige
Stühle, f 1. August.
48. A. Stummvoll. 10. Juli. 11. Juli Pertussis.
49. V. Olsa, 17. Juli. 29. Juli.
50. A. Schlüge!, 9. Juli. Tbc. pulm. 16. October.
(Wo nichts angegeben ist, war der Verlauf complicationsfrei.)
Hier endete diese Endemie, indem das alte, provisorische
Kinderspital eine Zeit lang geschlossen wurde, und vom Neu¬
jahr an die Kinder in das neue Kaiser Franz Josef-Kinder¬
spital aufgenommen wurden. (Dasselbe ist musterhaft ein¬
gerichtet, Pavillonsystem, 120 Betten, 2 Primarärzte, 2 Secundar-
ärzte.) Im Ganzen wurden also 50 Fälle infieirt, von denen
17 gestorben sind. Nur eine kleine Anzahl bilden die ein¬
geschleppten Fälle, was man aber nicht genau unterscheiden
kann, da bei Scarlatina die Angaben über die Incubations-
dauer nicht übereinstimmen, oder vielleicht überhaupt dieselbe
eine individuell wechselnde Grösse bildet.
Zugleich möge an dieser Stelle bemerkt werden, dass in
der Stadt und Umgebung während dieser Periode mehr Fälle von
exanthematischen K-ankheiten beobachtet wurden, als früher.
Man muss diesen Umstand betonen, denn es scheint, dass in
gewissen Jahren, oder Witterungs Verhältnissen dieselben nicht
ohne Einfluss sind. Johanessen hat das für nordische
Nr. 38
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
855
Länder festgestellt. Es wurde in das Epidemiespital, welches
ausserhalb erbaut ist, aufgenommen:
Jahr
Scarlatina
Morbilli
1892
20 ( 4 f )
—
1893
9 ( 1 f)
16 (0)
1894
20 ( 2 f)
53 (3 f)
1895
61 ( 9 f )
—
1896
165 (32 f)
30 (5 f )
1897
127 (44 f)
65 (5 f)
1898
111 (25 f)
27 (1 f)
Städtische Statistik (das Epidemie- und Kinderspital
mitgerechnet):
Jahr
Scharlach
Masern
1892
356 : 80 f
610:12 f
1893
161: 23
972:33
1894
202: 25
956 : 43
1895
411: 43
15: 0
1896
758 : 103
1413:62
1897
629:147
932 : 45
1898
369: 75
1065:36
In den Jahren 1892 — 1895 wurden beiderlei Exantheme
einige Male noch auch im Kinderspitale behandelt, wo sie im
Hoftracte isolirt waren. Deswegen sind die Zahlen der eigent¬
lichen Epidemieabtheilung kleiner. Erst nach der Erbauung
des neuen Epidemiespitales wurden sämmtliche Fälle dorthin
dirigirt. Durch diesen Umstand erklären sich wohl auch die
schlechten hygienischen Zustände im alten Kinderspitale.
Diese üblen Erfahrungen, wo ein Kind, das nur an einer
ii relevanten Krankheit leidet, sich im Spital inficirte, eventuell
starb, nur deswegen, weil die hygienischen Zustände zur Zeit
nicht gebessert werden konnten, sind ein Grund gewesen, dass
ich im Jahre 1897 eine andere Art von Prophylaxe
gegen diese beiden Krankheiten zu versuchen anfing. Ich will
jedoch zuerst dieselbe motiviren.
Das unbekannte Scharlachcontagium klebt und hängt
gewöhnlich an der nächsten Umgebung des Kranken fest, in
erster Leihe an Zimmer und Bett. Dasselbe gilt in etwas
kleinerem Masse für Masern. Es ist aber zur Infection eine
directe Berührung des Kranken nicht nothwendig, obzwar es
in vielen Fällen geschieht; denn es genügt manchmal ein Ver¬
weilen in der Atmosphäre des Kranken, um eine Infection
zu et leiden. Diese Erfahrung, sowie die Verwerthung der
klinischen Symptome führten mehr und mehr zur Ueber-
zeugung, dass die Pforte der Invasion nicht in der Haut ge¬
sucht werden soll, sondern im Respiration stractus, besonders
aber in seiner ersten Hälfte: der Nase, dem Rachen, der Trachea.
Wenn eine Hautverunreinigung zur Masern- und Scharlach-
infection führen möchte — abstrahirt freilich vom chirurgischen
Schai lach dann müsste man die Möglichkeit zulassen, dass
dutch eine gründliche Hautdesinfection die Eruption verhütet
werden könnte, so wie der chirurgische Scharlach jetzt auf
ein Minimum herabgedrückt wurde, und wie die Puerperal¬
oder Wundinfectionen überhaupt verschwunden sind (bei
strenger Anti-, respective Asepsis). Man findet zwar in der
Liteiatui keine Versuche, dass man durch Bäder oder sonstige
Hautdesinfection die exanthematischen Krankheiten verhüten
wollte, man kann aber wohl behaupten, dass sie keinen Er¬
folg haben würden.
Es sind eben die Masern und Scharlach keine Haut¬
krankheiten, sondern allgemeine, bei denen die Hautaffection
nui ein Symptom vorstellt, und zvvar nicht das wichtigste.
Denn es sind zahlreiche Fälle bekannt, wo eine sichere
Scharlachdiagnose gemacht wurde, ohne dass sich Exanthem
zeigte Scarlatina sine exanthemate, ähnlich wie Morbilli
sine Morbillis weil eben das Exanthem nicht die Haupt¬
sache der Krankheit ist, und weil man sich nicht mehr so viel
mit seiner Form beschäftigt, wie früher.
Wenn man also die Haut nicht für die Invasionspforte
hält, dann muss man die Aufmerksamkeit dem Respirations-
tracte (ich abstrahire wiederum vom seltenen chirurgischen
o
Scharlach) zuwenden. Mit Nachdruck betont Hlava, dass
Angina und Rhinoconjunctivitis das Symptom sind, dass an
dieser Stelle die Invasion stattfand, etwa so, wie Thomayer
nach Trousseau angibt, dass Angina häufig die Ursache
von Polyarthritis rheumatica sei. Und Thore sen, ein vorzüg¬
licher norwegischer Scharlachforscher, sagt direct: Angina ist
die Ursache des Scharlachs, von ihr aus werden die
Halsdrüsen ergriffen, ähnlich wie ein Ulcus die Ursache
von Bubonen ist. Indem ferner das Infectionsagens im
Blute circulirt, entstehen die weiteren Symptome und
Complicationen : Das Exanthem, die Nephritis, Arthritiden,
u. A. So schrieb er bereits im Jahre 1867. Auf dieselbe Weise
ferner, wie Hlava den Gelenksrheumatismus für eine Art
Sepsis erklärt (Sepsis mitigata), so wären analog mit dieser
Anschauung auch der Scharlach, beziehungsweise auch die
Morbillen ein ähnlicher Process.
Wenn T h o r e s e n’s Angaben richtig sind (die Beob¬
achtungen aus den nördlichen Gegenden sind in puncto scar-
latinae et morbillorum gewöhnlich präciser, als die unserigen,
weil in der Zeit des Hochschnees die Kinder das Haus nicht
leicht verlassen können, somit der Ursprung und Verbreitung
einer Epidemie Schritt für Schritt controlirt werden kann. Ein
ähnlicher Umstand erleichterte Pan um auch auf den Färöern
seine Studien), dann müsste unbedingt die Angina einem
Schat lachexanthem vorausgehen, man kann auch hinzufügen
dass dasselbe von der Rhinoconjunctivitis bei Masern gilt!
Zweitens dürften diese Sehleimhautaffectionen nie fehlen, weii
sie nach der oben geschilderten Ansicht dieselben keine Com¬
plication, sondern wohl das Wesen, die Basis der Krankheit
bilden. Es müsste endlich die Sache so sein, dass es zwar eine
Scarlatina sine exanthemate, Morbilli sine Morbillis gäbe, nie
aber einen Scharlach ohne Angina (ausgenommen den chirur¬
gischen), nie Masern ohne eine Rhinoconjunctivitis.
Bei Masern sind die Angaben ziemlich übereinstimmend,
man findet nur äusserst seltene Ausnahmen in Fällen bei
rachitischen, atrophischen Kindern. Diese Katarrhe werden
ferner in das Prodromalstadium oder (wie Thomas es be¬
zeichnet, um den näheren Connex derselben mit der Krankheit
anzudeuten) in das Initialstadium eingereiht. Bei Scharlach
aber gehen die Angaben auseinander, wenigstens findet man
hier keine Einhelligkeit, obzwar doch die Meisten eine Angina
oder Halsschmerzen in der Anamnese in initio angeben, voi¬
der Eruption.
Ich will hier nur einige einschlagende Beobachtungen
flüchtig auführen (aus Virchow’s Jahresberichten und Original¬
arbeiten).
B ö m i n g, 1870. Angina fehlt bei Scharlach nie.
Monti, 1873. (Ueber die Sehleimhautaffectionen bei
Scarlatina):
Die Pharyngealorgane sind zwar nicht so parallel dem
Exanthem ergriffen, dass die Intensität der Pharyngealinfeetion
der des Exanthems entsprechen müsste, wie es bei Masern
der Fall ist; bei Scharlach verhält sich die Sache verschieden
in verschiedenen Epidemien. Es fehlt aber nie eine Angina,
nicht einmal bei Rachitischen und Atrophischen, und dieselbe
ist gewöhnlich das erste Symptom. Er unterscheidet vier Formen
der Angina: simplex, simplex maligna, diphtherica und diph-
therica-septica. Die erste kann eventuell noch vor der Eruption
des Exanthems oder bald darnach wieder verschwinden (ana¬
logisch wie bei Morbillen), die zweite, livide und mit Tonsillen-
schweilung verbundene, führt bald zum letalen Ausgang. Die
zwei diphtherischen unterscheidet er genau von der wahren
Diphtherie.
Thomas, 1874. Gleich wichtig für Scharlach wie das
Exanthem, aber viel constanter sind die Pharynxveränderungen.
Nur selten sind sie so unbedeutend, dass man über ihre
Existenz streiten kann.
Wertheimber, 1879. Erbrechen, Fieber und Angina
genügen zur Scharlachdiagnose vor der Exanthemeruption.
Heubner, 1879. Eine Angina geht dem Exanthem
immer voran.
Clark, 1879. Die Angina ist ein integrirender Theil
des Scharlachs.
856
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 38
Moelmann, 1884. Angina ist eine für Scarlatina con-
stantere Erscheinung, wie das Exanthem.
Neureutter, 1879. Für den praktischen Arzt ist es
wichtig, dass Angina, Phlegmonen, Diphtherien ungemein
häufig eine Zeit lang beobachtet werden, bevor es zu einer
Scharlachepidemie kommt. Während der Dauer derselben sieht
man ferner sehr oft wieder Angina besonders bei Erwachsenen,
sehr oft Diphtherie und Puerperalfieber. Nach dem Erlöschen
der Epidemie zeichnet sich keine von diesen Krankheiten durch
ihre Häufigkeit aus.
Ferner sagt derselbe: Das erste Symptom der Scarlatina
ist entweder das Fieber oder Erbrechen, zugleich aber merkt
man deutliche Veränderungen der Mund- und Pharyngeal¬
schleimhaut. Tonsillen und Pharynx sind geschwollen und
geröthet, am weichen Gaumen und den Arcaden sieht man
kleine livide Pünktchen. Die Erwachsenen geben Schling¬
beschwerden an, bei Kindern sieht man es ohnedem direct
beim Trinken oder Essen. Erst dann kommt das Stadium
eruptionis.
Filatow. Die diagnostische Bedeutung der Pharynx¬
erkrankung ist gross, weil dieses Symptom sehr constant ist
und man somit nicht deshalb, dass das Exanthem der Scar¬
latina nicht ähnlich ist, wie eher daraus, dass die Angina
fehlt, in Zweifel sein kann, dass eine Scarlatina vorliegt.
Soerensen rechnet mit der Möglichkeit, dass die
Angina den primären Krankheitsfocus bildet, die krankhaft
veränderte Stelle der Infection.
Jürgen sen, 1895. Als Begleiter der Allgemein¬
symptome des Initialstadiums findet man Klagen über Trocken¬
heit, Brennen und wirkliche Halsschmerzen, welche beim
Schlucken grösser werden. Die Rachenschleimhaut ist geröthet
und geschwollen, Tonsillen und Drüsen unter dem Kiefer bald
vergrössert.
Mit wachsendem Fieber und gesteigerten Hirnsymptomen
beginnt dann die Eruption des Exanthems. Das Scharlachgift
hängt eng mit den Rachenaffectionen zusammmen, es ruft hier
eine für sich specitische Erkrankung hervor. Dieser Satz möge
als streng erwiesen gelten. Dass es Ausnahmen gibt, ist eine
ähnliche Erscheinung, wie wenn das Exanthem fehlt. Nicht
erwiesen freilich ist, ob das Scharlachgift selbst oder in Ver¬
einigung mit einer anderen Infection, die Ursache, der Er¬
krankung bildet.
Whittla, 1885, bespricht die Angaben über Bacterien
bei Scarlatina und meint, dass die Infection am Respirations¬
wege stattfindet, vielleicht nach Verletzung mit Speisen im
Rachen. Als Beweis führt er seine Beobachtung an, dass in
der epidemischen Abtheilung, welche über einem Waschhause
errichtet war, von 133 Fällen nur einer gestorben ist, weil
die Luft mit Seifendämpfen gesättigt, desinficirt war.
Jamieson, 1887. Bei streng beobachteten Fällen ging
Angina der Eruption immer voran.
Flemming, 1898. Scharlach entsteht aus der Angina,
wobei die im Blut kreisenden Toxine später durch das Exanthem
eliminirt werden. Nur während der Dauer einer Angina soll
der Fall infectiös sein.
Fischer nennt die ScharlachdrüsenafDction »den Hals -
bubo«, dessen Ursache die Angina ist. Scharlach selbst be¬
trachtet er als eine secundäre Erscheinung, von der Angina
ausgehend, und zwar für eine Blutstreptomykose, weil sämmt-
liche Complicationen einen suppurativen Charakter tragen und
die Schlusseventualität eine Septicopyämie ist.
In den Krankengeschichten des Brünner Spitales fand
ich in dieser Hinsicht folgende Facten: Im Ganzen wurden
in den Jahren 1892 — 1898 (inclusive) unter einer Scharlach¬
diagnose 524 Kranken geführt. Von diesen muss man aber
14 Fälle abrechnen, wo entweder eine Rubeola vorlag, oder
der Kranke aus einem inficirten Hause stammend, zwar eine
Angina hatte, wo aber sich kein Exanthem noch Nephritis
zeigte (obzwar von diesen einige gewiss auf Scharlachinfection
zurückgeführt werden mussten, eine Scarlatina sine exanthe-
mate). Es bleiben somit zur Verwerthung 510 Fälle, in welchen
bei der Aufnahme constatirt wurde:
202 Angina erythematosa et lacunaris,
223 Angina pseudomembranacea (diphtheroides),
41 Angina gangraenosa,
8 sine Angina.
Bei 36 Fällen war im Parere bemerkt, dass ein Exanthem
schon abgelaufen sei, und dieselben in descpiamatione wegen
einer Nephritis postscarlatinosa der Spitalspflege übergeben
wurden.
Im Ganzen also 510 Fälle (respective 474), in welchen
achtmal die Angina fehlte; diese Zahl ist aber wohl noch
geringer gewesen, da bei zwei von diesen in der Kranken¬
geschichte auf Angina gar nicht requirirt wurde, bei den
übrigen die Aufnahme erst am vierten bis sechsten Krankheits¬
tage stattfand und die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist,
dass eine solche auch bei ihnen vorausging und noch vor der
Eruption oder bald nachher wieder schwand, weil sie nur eine
erythematöse war (cfr. Monti, Ueber Angina simplex). Aber
auch ohne diese Möglichkeit bildet die Zahl 1'5% einen so
kleinen Theil, dass dadurch gewiss nicht die Regel gestört
wird, dass Angina ein wesentlicher Theil des
Scharlachbildes ist.
Was die zweite Frage anbelangt, ob nämlich Angina
vor der Eruption immer erscheint, so kann man nach unseren
Daten keinen Beweis oder eine Kritik führen. Das Epidemiespital
ist ausserhalb der Stadt erbaut, die Aufnahme aber findet im
Hauptgebäude statt, hier verlassen auch die Eltern das Kind.
Eine Anamnese fehlt demnach bei kleinen Kindern, so dass
nur in zwei Fünfteln anginöse Beschwerden verzeichnet sind.
Trotzdem bin ich auch der Ansicht, dass dieselben das erste
Symptom bilden. Zu dieser Meinung bin ich dadurch gekommen,
dass kleine Kinder sehr selten über Halsschmerzen im Anfang
einer Angina klagen, vielmehr belästigen sie die Kopfschmerzen,
und erst da pflegen die Eltern aufmerksam zu werden, dass
auch Fieber vorhanden ist. Ein weiteres Moment bildet der
Umstand, dass man, wenn man Angina -(-Exanthem findet, eher
glauben muss, dass die Halsaffection älteren Datums ist, weil
besonders die schwereren Formen gewiss eine längere Zeit zu
ihrer Entwickelung brauchen als das Exanthem, welches sehr
flüchtig ist. Auch der heutige Standpunkt der Bacteriologie
stimmt dagegen, dass die Invasion durch die Haut geschehen
könnte. Denn obzwar man das Infectionsagens des Scharlachs
nicht kennt, so setzt man bei einer Allgemeininfection immer
eine locale Haut- oder andere Läsion voraus, von wo aus der
Process beginnt, und es dauert eine Zeit lang bevor die Ge¬
neralisation vor sich geht, weil die Phagocytose, locale Re¬
action lange die betreffende Stelle schützt, bis endlich die In-
fectionskeime Oberhand gewinnen, wenn sie sich stark genug
entwickeln. Ob endlich das Exanthem einen angiospastischen
oder mykotisch-embolischen Charakter besitzt, das ist bisher
nicht erklärt worden.
Und ist es denn überhaupt möglich, dass von den ent¬
zündeten Tonsillen oder der Schleimhaut der Nase (bei Mor-
billen) aus das Infectionsagens in den Kreislauf gelangen
könnte ?
St öhr gibt in seiner Abhandlung über die Beziehungen
der Angina zu Polyarthritis rheumatica an, dass er auf den
Tonsillen und der Rachenschleimhaut gewisse Stomata constatirt
hat, durch welche die Leukocyten auf die Oberfläche unaus¬
gesetzt auswandern, und mit Recht glaubt er, dass auf dem¬
selben Wege retrograd auch Bacterien. eindringen können in
den Lymphstrom. Normaliter geschieht es freilich nicht, aber
wie Gull and ähnliche Vorkommnisse bestätigt, bei einem
abgeschwächten Organismus existirt keine solche Strömung
nach aussen, und in solchen Umständen ist dann eine Mi¬
krobeninvasion möglich, zuerst in die Lymphbahnen, später
auch in den Blutkreislauf.
(Bei einem chirurgischen Scharlach wäre manchmal auch
ein directes Eindringen in das Blut begreiflich.)
Aus dieser Analogie sieht man, dass eine Möglichkeit
der Invasion von den Tonsillen aus gegeben ist, dasselbe gilt
wohl auch für die lymphatischen Elemente der Nasenschleim¬
haut (bei Masern) oder Bindehaut, eine Möglichkeit, die gewiss
viel wahrscheinlicher ist, als die supponirte Hautinvasion.
Nr. 38
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Im Ganzen genommen gewinnt heute die Ansicht festen
Boden, dass Scharlach entweder eine Sepsis, Hämatomykosis
sui generis ist, oder höchst wahrscheinlich eine Streptomykose,
ohne dass man voraussetzen müsste, dass in vielen Fällen eine
secundäre Infection stattfand, welche uns den suppurativen Cha¬
rakter der Symptome und die Complicationen erklären könnte,
sowie das Endproduct — die Septicopyämie. Ich glaube, dass
eine ähnliche Möglichkeit auch für Masern gilt, wo freilich
die Aetiologie und Invasionspforte eine andere wäre.
Diese Anschauungen waren für mich eine Directive, als
ich mich in oben erwähnter Gartenbarake im Jahre 1897
angesichts einer drohenden Epidemie befand, wo Kinder mit
Angen- und Ohrenkrankheiten untergebracht waren und wo
ich den Dienst am 1. October 1897 übernommen habe. Die
vorausgegangene Jahreszeit wies folgende Bilanz aus: es be¬
fanden sich dortselbst gewöhnlich 15 — 25 Kinder, die auf
18 Betten, oft also zu zweien, schliefen, weil, wie schon
erwähnt, das Spital überfüllt war, und speciell auf der Augen-
abtheilung ein hoher Belag war, bis 150 maximal. Für die,
grösstentheils lymphatischen, scrophulösen Kinder war die
»luftige« Barake wirklich geeignet, da sie tagsüber fort¬
während im Garten spielen konnten. Unangenehm aber bei
der kindlichen Lichtscheu ist der Umstand, dass die Kinder
mit gesenktem Kopfe am liebsten im Staub und Sand zu
spielen pflegen, und dann mit schmutzigen Händen oft die
Augen reiben, sowie die Finger in Mund und Nase stecken.
Durch dieses Moment dürften wohl die auf den Augenabthei¬
lungen auftretenden Epidemien erklärt werden, weil meiner
Ansicht nach die Infectionsstoffe gewiss bald von der Luft in
den Staub sich senken. Eine schlechte Eigenschaft hatte ferner
die Barake, dass nämlich ihre Papiermachewände nicht gut
gereinigt werden konnten, wenn je solche Nothwendigkeit ein¬
trat. Da nun bis December 1896 die Barake für interne
Kranke bestimmt war, zwischen denen oft sehr »unreine«
Fälle (Erysipele etc.) sich befanden, so fällt dieser Umstand
auch auf die Wagschale. Diese Bemerkungen schienen mir
nothwendig zu sein, um das Bestehen von zwei Epidemien,
die dortselbst ausgebrochen, begreiflich zu machen.
Scarlatina 1897. 2)
1. S. Navrätil, 10. December 1896. 30. Januar 1897.
2. F. Jedlicka, 28. Januar. 31. Januar.
3. F. Tiguovsky, 19. Januar. 1. Februar.
4. A. Vecera, 5. Januar. 1. Februar.
5. J. Krumal, 12. Februar. 18. Februar.
6. A. Poitar, 24. Februar. 2. März.
7. T. Rybnicek, 15. April. 22. April.
8. A. Pazdera, 15. Juni. 21. Juni.
Der letzte Fall blieb unklar: entweder war es eine Scar¬
latina levis oder ein schwererer Fall von Rubeola — das
Exanthem wird nicht genau beschrieben. Man kann nicht ent¬
scheiden, ob diese Epidemie durch den zweitangeführten Fall
eingeschleppt wurde, oder ob sie (gemäss der Streptococcen¬
theorie) eine autochthone war. Zwischen den internen Fällen
der Vorperiode waren nämlich zwei Erysipele dort behandelt
und die Barake konnte man später, wie gesagt, nicht gut
reinigen. Von allen acht Fällen starben zwei (Tishovsky und
Vecera, diese an Scharlachsepsis, jene an Urämie).
Morbilli im Jahre 1897.
1. A. Vyhnalek, 30. December 1896. 1. Januar 1897,
ein irrthümlich eingeschleppter Fall — Conjunctivitis — wurde,
wie gewöhnlich, aufgenommen, und hier zeigte sich, dass die¬
selbe eine morbillöse war, da sich das Exanthem nachher ent¬
wickelte. Eine weitere Infection durch diesen Fall kam nicht
vor, dagegen florirte eben, wie oben ersichtlich, die Scarlatina.
2. R. Valousek, 18. Juni. 21. Juni, ebenfalls irrthüm-
liche Einschleppung.
3. M. Kahaj, 9. Juni. 6. Juli.
4. J. Neeas, 22. September. 26. September, eingeschleppt.
') Das erste Datum bedeutet den Tag- der Aufnahme, das zweite den,
wo Exanthem sich zeigte und das Kind deswegen sofort transferirt wurde.
5. A. Dlask, 5. Juli. 7. October.
6. T. Schon, 25. September. 16. October.
Zwischen beiden Epidemien befindet sich ein zeitliches
Intervall, das dadurch erklärt wird, dass Ende April die Barake
so gut, wie nur möglich war, gewaschen und desinficirt wurde.
Die zwei letzten Fälle ereigneten sich schon vor meinen Augen
und zeigten mir die Gefahr, denn sie wurden sicher im Spital
erst inficirt.
Ich entschloss mich also, einen anderen Weg anzutreten;
ich wollte mich nicht um die Umgebung der Patienten kümmern,
sondern um sie selbst, und wollte erproben, ob es nicht möglich
ist, den Respirationstract, hauptsächlich seinen
Anfangstheil, zu desinficiren, damit die invadirenden
Mikroben keinen geeigneten Entwicklungsboden rinden können.
Ich wollte also mit anderen Worten die Angina, respec¬
tive Rhinoconjunctivitis, wenn nicht vermeiden, so wenigstens
lindern, wenn sie je auftreten sollten (ich meine die specifischen
Katarrhe).
Ich war der Meinung, dass das unbekannte Contagium
mit dem Staube, der in der Krankenatmosphäre fliegt, aspirirt
wird und gewöhnlich in den Anfangstheilen der Athmungs-
organe sitzen bleibt, dagegen wenig in die Lungen selbst
gelangt. Und diesen Anfangstheil zu desinficiren hielt ich für
möglich.
Folgende Momente waren ferner von Wichtigkeit: das
grösste Contingent der Kranken recrutirt sich aus dem
Kindesalter, und man musste also eine für Kinder passende
Art von Desinfection wählen. Das Gurgeln zum Beispiel ist
eine Kunst, die manchmal auch die Erwachsenen nicht gut
treffen, das Kind am allerwenigsten. Dazu werden dadurch
nicht einmal alle Recessus pharyngeales (der Anatom möge
mir diesen Terminus verzeihen) abgespült, und man müsste
noch eine Nasendouche anschliessen.
Der einzig praktische Weg sind die Inhalation oder der
Spray mit antiseptischen Lösungen, minder tauglich sind schon die
Pulverinsufflationen. Bei der Inhalation werden die Flüssig¬
keitspartikelchen durch die Athmung in einen Wirbel gebracht,
der Strom zersplittert sich nach allen Richtungen und kann
somit alle Winkel erreichen, ja sogar, wie experimentell nach¬
gewiesen wurde, bis in die Lungenalveolen in beträchtlichem
Masse eindringen. Es ist doch von selbst begreiflich: wenn
verschiedene Mikroben oder Koniosen in die Lunge gelangen
können, so kann wohl auch die fein verstaubte Flüssigkeit
dasselbe thun.
M 1 a d e j o v s k y stellte eine Reihe von Versuchen so an,
dass er in einen Kasten, wo Kaninchen eingesperrt waren, einen
10%igen Tannigenspray eine Stunde lang strömen liess. Dann
wurden die Thiere getödtet und die Lungen auf 24 Stunden
in eine Lösung von Eisenchlorid gelegt. Man fand sodann
beträchtliche Färbung des Lungengewebes selbst (intensiver
als in den Bronchien), mikroskopisch schwarze Körner zwischen
den Epithelialzellen. Die Alveolarzellen hatten jedoch zerfallene
schwarze Kerne, die sich mit Anilinfarben nicht färben Hessen.
Aus diesen Versuchen ist ersichtlich, dass inhalirte Stoffe,
Flüssigkeiten in die Lunge gelangen können.
Ein weiterer Punkt war die Wahl der Desinfections-
lösung, da man für das Kindesalter nicht toxische und wenig
reizende Stoffe wählen musste, damit auch die Schleimhaut
durch Aetzung nicht in einen Reizzustand gesetzt werde, wo
sie dann im Gegen theil noch mehr zur Infection disponirt
wäre. Um diesen Conträreffect zu vermeiden, wählte ich:
1. Aqua calcis (mit destillirtem Wasser aa.), welche
hier in Brünn bei Diphtherie zur Inhalation gebraucht wird
und gewiss einen guten Antheil neben dem Serum an der
Heilung hat. Empfiehlt doch Behring selbst in der letzten
Zeit, man solle das Serum auf die Tonsillen oder ihre Nähe
appliciren, gewiss aus einem Desinfectionsgrund wegen localer
Wirkung.
2. Acid, boric um in 3%iger Lösung, welches zwar
indifferent für die Schleimhaut, aber auch nicht besonders
stark desinficirend wirkt.
3. Jo di trichlorati solutionem 005%, unschäd¬
liches Dcsinfectionsmittel.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 38
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4. Natrii chlorati sol. 3%, schwach desinficirend,
eher aber die physiologische Schleimhautwirkung unter¬
stützend.
Die Wirkung solcher Inhalationen musste eine mechanische
Abspülung erzeugen, weiter die Secretion unterstützen (den
Strom der Leukocyten durch die Stomata), ferner durch die
Reizhyperämie eine locale Phagocytose erzeugen, endlich eine
chemische Desinfectionswirkung bilden.
Es gibt wohl noch mehrere passende Stoffe, ich will
jetzt nur z. B. des Natr. sozojodolicum gedenken, doch ich
wollte lieber multum als multa prüfen.
Mit Erlaubniss des Primarius P 1 e n k gebrauchte ich nun
zu diesen Zwecken alle die erwähnten Lösungen abwechselnd,
um meisten die zwei ersten, besonders anfangs.
Ich arrangirte die Sache so, dass zweimal täglich inhalirt
wurde, jedes Kind blieb fünf Minuten lang vor dem Apparat
stehen, so dass binnen einer Stunde alle fertig waren. Eine
Renitenz kam selten vor, und wenn auch das Kind schrie, so
wars eigentlich besser. Die Temperatur wurde regelmässig ge¬
messen, es wurden sehr oft Untersuchungen der Nase und des
Halses vorgenommen, und wenn einmal die Temperatur sich
höher erwies, musste das betreffende Kind viel länger in-
haliren. Erst in den letzten drei Versuchsmonaten wurden nur
einmal täglich die Inhalationen vorgenommen.
Von den Kindern, deren Zahl am 16. October 1897, dem
Anfangstage der Inhalationen, 18 betrug, gab ein Theil in der
Anamnese an, früher schon »irgend welches Exanthem« gehabt
zu haben, bei kleineren konnte man es nur während eines
Elternbesuches eruiren. Aber sämmtliche Angaben waren un¬
verlässlich, so dass ich sie nicht einmal anführe. Ich lasse
lieber dem Einwand die Thüre offen, dass von ihnen Manche,
die ein Exanthem schon durchgemacht haben, theilweise gegen
eine zweite Infection immun waren, vielleicht Alle. Nur muss
ich den Umstand erheben, dass die Meisten nur ein einziges
Exanthem mitmachten, gegen das zweite dagegen sicher em¬
pfänglich geblieben sind, so dass ein solcher Einwand an
Werth verliert.
Der Erfolg der Inhalationen war nun der.
dass kein einziger Fall von Morbilllen, noch
Scharlach vorgekommen ist. Der Erfolg ist umso
auffallender, da er von der Endemie im Kinderspitale frappant
absticht (siehe oben). Um 'Weihnachten 1897 wurden dann die
Kinder von der Barake in neue Localitäten Nr. 29 übersiedelt,
wo früher unreine, eiterige chirurgische Fälle lagen. Auch
hier bestand die Gefahr einer Infection, da gewiss eine Menge
von Coccen nach Phlegmonen zurückblieb und es wurden
deshalb die Inhalationen weiter fortgesetzt.
Die Krankenbewegung weist folgende Zahlen aus: in der
Barake lagen vom 10. December 1896 bis 16. October 1897
im Ganzen 169 Kinder. In dieser Zeit spielten sich die zwei
oben erwähnten Epidemien ab. Vom 16. October, wo mit den
Inhalationen angefangen wurde, kamen bis zum 1. April 1898
neue 79 Zuwachse. Wenn man also die verbliebenen 18 Kinder
der Vorinhalationsperiode einrechnet, so wurde im Ganzen an
97 Kindern die Wirkung der Inhalation geprüft.
Bei diesen fand ich 28mal in der Anamnese eine exan-
thematische Krankheit, bei vielen war es wieder unmöglich,
dies zu eruiren.
Ich wiederhole aber, dass man diese nicht ganz aus-
scheiden kann, aus Gründen, die oben erklärt wurden.
Ich muss nun neben dem negativen Resultat, dass
nämlich keine Exantheme beobachtet wurden, einige interes¬
sante Daten hervorheben. Es wurde bei den 97 Fällen nämlich
neunmal eine Temperaturerhöhung beobachtet, deren Ursache
folgende war:
1. A. Kovafik, 15. Januar 1898 aufgenommen (Z.-Nr. 29),
bekam 20. Januar eine acute »blennorrhoische« Conjunctivitis
unter heftigen Fiebererscheinungen und mit acuter Bronchitis
verbunden. Sanata 26. Januar.
2. A. Naglitz, 17. Januar aufgenommen, zeigte am
20. Januar hohes Fieber, dessen Ursache zuerst eine Bronchitis
war, die jedoch nach zwei Tagen in eine Bronchopneumonie
sich verwandelte (hinten rechts unten Dämpfung). Am
24. Januar Entfieberung. Diese Patientin wurde wegen einer
Conjunctivitis aufgenommen und ich hege Verdacht, dass hier
a priori ein eingeschleppter Fall von Morbillis sine exanthemate
vorlag. Waren vielleicht die Infectionskatarrhe durch In¬
halationen gelindert und localisirt, so dass es zu einer Eruption
nicht kam??
3. A. VRek, 3. Januar aufgenommen, bekam am
29. Januar Bronchitis unter hohem Fieber. Nach vier Tagen
verschwunden.
4. A. Voskeruska, 29. Januar. 1. Februar aufge¬
tretene Bronchitis acuta bei einer Keratoconjunct. phlyctaen.
Diese vier Fälle erweckten damals Verdacht, dass es zur
Exanthemeruption kommen wird, dies geschah aber nicht. Dass
jedoch hier infectiöse Katarrhe Vorlagen, sieht man an dem
Umstande, dass sie in ganz kurzen Intervallen und bei Kindern
desselben Zimmers auftraten (Z.-Nr. 29 war nämlich früher
eine Privat wohnung, aus fünf Räumen bestehend, die wegen
Platzmangels später zu Spitalszwecken adaptirt wurde). Im
Ganzen war der Verlauf der Erkrankungen ein leichter,
vielleicht eben durch die Wirkung der Inhalationen, durch
welche die Secretion angeregt wurde, und die während des
Fiebers ausgiebiger angewandt wurden. Die übrigen fünf Fieber¬
fälle hatten : Erysipelas faciei, Panaritium, Enteritis, Angina
catarrhalis und Typhus abdominalis, welcher mit Conjunctivitis
irrthümlich hieher aufgenommen wurde und wo nach fünf
Tagen die Vi da Ische Reaction sich positiv erwies.
Anfangs April musste ich auf drei Monate von der Augen-
abtheilung Weggehen zur Substitution eines Chirurgen. Damit
nun die bisher in mir erweckte Ueberzeugung von der Schutz¬
impfung der Inhalationen eine negative Stütze bekommen
könnte, so habe ich dieselben eingestellt und dem Nachfolger
davon nichts mitgetheilt. Der Verlauf der Dinge war nun
folgender :
A. Am 23. April wurde J. Matej mit Otitis suppurativa
in stadio desquamationis scarlatinosae Abends aufgenommen.
In der Früh wurde es bemerkt und der Kranke deshalb sofort
in die Epidemieabtheilung transferirt.
B. Am 27. April bemerkte man bei dem am 29. März
aufgenommenen J. Hrabälek eine exanthematische Er¬
krankung, die sich jedoch im Epidemiespitale als eine Vari¬
cella erwies.
C. Am 11. Mai erkrankte J. Mrazek (aufgenommen
am 4. Mai) an Scarlatina und wurde sofort transferirt. Drei
Tage lang zuvor fieberte er und hatte Angina, die im Epidemie¬
spitale in eine membranöse Form überging, mit Drüsenschwel¬
lung am Halse. Nebstdem war Otitis suppur. und katarrhale
Nephritis complicirt. Sanata demissa.
Den Fall C kann man mit grosser Wahrscheinlichkeit als
eine Spitalsinfection bezeichnen, die vom A ausging. Im
Ganzen wurden in der Zeit vom 1. April bis 11. Mai zu¬
sammen 44 Fälle behandelt, am 11. Mai blieben schliesslich
19 zurück. Da die Gefahr einer Weiterverbreitung imminent
war, theilte ich die ganze Sache dem Director Dr. N e d o p i 1
mit, dass nämlich früher Inhalationen vorgenommen wurden,
die jetzt seit sechs Wochen sistirt waren. Nach seinem Wunsch
wurden die Versuche nun wieder aufgenommen, und der
Erfolg dessen war, dass kein einziger Fall von
exanthematischer Erkrankung auf dem betref¬
fenden Zimmer vor kam. Die Inhalationen wurden
wieder regelmässig vorgenommen bis zu den Weihnachten. In
dieser Zeit waren 98 Fälle zugewachsen, mit den verbliebenen 19
somit 117 Fälle, an denen in der zweiten Periode die Wirkung
der Reinigung des Respirationstractes versucht wurde. Im
Ganzen also wurden 97 -{-117 = 214 Kinder der systemati¬
schen Inhalation unterworfen. Ich betone wiederum, dass im
Kinderspitale während dieser ganzen Zeit die Scharlach¬
epidemie fortbestand, wie man aus der obigen Tabelle er¬
sehen kann.
Am Neujahr 1899 wurde das neue Kaiser Franz Josef-
Kinderspital eröffnet, das im Pavillonsystem erbaut und mit
möglichstem Comfort versehen ist. Sämmtliche Kinder vom
Z.-Nr. 29 wurden nur dorthin übersiedelt und somit waren
die Versuche beendet. Denn das neue Gebäude bot sichere
Nr. 38
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
859
Garantie, dass dortselbst die Exantheme nicht endemisch
werden.
Wenn man jetzt das Resultat dieser Versuche resumirt,
so muss man doch gestehen, dass dieselben keine Sicherheit
geben, dass die präventive Inhalation und Desinfection des
Respirationstractes (ich zähle auch aus pathognostischen Gründen
die Tonsillen her, weil ihre Erkrankungen eher durch Staub¬
und Bacterieneinathnmng verursacht werden, als durch In¬
fection mit Speisen) im Stande wäre, die Entwicklung von
Scharlach und Masern immer zu verhindern. Denn gegen eine
ähnliche Behauptung könnte man einwenden, dass die kurzen
Hausepidemien keine Intensität gehabt haben, um mehr Fälle
anzugreifen, und dass dieselben vielleicht in demselben Augen¬
blicke, wo eben mit den Inhalationen begonnen wurde, spontan
erloschen. Diesem Einwand kann ich nicht entgegentreten, und
deswegen modificire ich das Ergebniss aller oben beschriebenen
Erfahrungen in dem Sinne, dass es höchst wahrschein¬
lich möglich ist, durch Inhalation von desinfi-
cir enden Flüssigkeiten die Entwicklung von
Scharlach und Masernendemien zu verhindern,
wenn die Intensität des eingeschleppten Falles
oder der Typus der Epidemie in der Umgebung
ein milderer ist.
Eine Entscheidung in der Sache kann erst dann ein»
treten, wenn zum selben Resultat Versuche gelangen möchten,
die in analogen Verhältnissen angestellt würden, so wie es in
unserem Spital der Fall war.
Man kann wohl nicht leugnen, dass viel sicherer, gewiss
auch viel bequemer, derselbe Zweck erreicht werden kann
durch die alterprobte Isolation und Vertheilung der Kranken
in neuen Localitäten.
Besser aber wäre noch, beides zu vereinigen. Bei dem
angegebenen Arrangement sind die Inhalationen kein theures
Mittel, billiger vielleicht, als die periodischen Reinigungen der
Zimmer uni Desinfection mittelst Formalin, Glykoformal.
Jedenfalls sollte man die Inhalation nachprüfen, wenn es un¬
möglich ist, andere hygienische Schutzvorrichtungen zu treffen.
Erst dann kann das Urtheil fallen.
Freilich hängt an der ganzen Sache ein gewisses Odium
vom Theoretisiren. Denn die Versuche gingen von der Prä¬
misse aus, dass die Infection bei Scharlach und Masern am
Respirationswege geschieht, nicht durch die Haut. Sie wurden
ferner auf der Basis aufgebaut, dass Angina, respective Rhino-
conjunctivits keine Complication, sondern das Wesen der
Krankheit bilden, von denen erst sich die Hämatomykose und
alle übrigen Complicationen bilden können (auch das Exanthem),
die man eben verhindern will durch Behandlung der localen
Halsaffection. Das Ganze aber sind nun Theorien, Hypothesen,
die bisher nicht erwiesen sind.
Man darf aber nicht nicht vergessen, dass ein Beweis
auch a contrario geführt werden kann und, wenn (voraus¬
gesetzt, dass dies durch Controle bestätigt wird) es gelingt
die Eruption durch die angeführten Mittel zu verhindern, dann
gewinnt auch die Hypothese von der Invasion des Contagiums
im Respirationswege so viel an Wahrscheinlichkeit, dass sie an
Sicherheit grenzt.
Man lasse also das Urtheil in suspenso, so lange keine
Controlversuche in analogen Verhältnissen vorliegen.
Wenn dieselben im positiven Sinne ausfallen sollten,
dann bin ich überzeugt, dass dies auch auf die Therapie der
bereits entwickelten Krankheit einen Einfluss üben müsste.
Man müsste auch dann das Hauptgewicht auf die Therapie
der Katarrhe und Halsaflfectionen legen. Diese Therapie wäre
ein Analogon der chirurgischen: auch in der Chirurgie ver¬
hindert man einen chirurgischen Scharlach oder Sepsis über¬
haupt eher dadurch, wenn man nur dem Localaffect seine
Aufmerksamkeit widmet (z. B. bei Panaritium, kleiner
Phlegmone einen guten Abfluss den septischen Stoffen ver¬
schafft, Antisepsis anwendet), als wenn man die Allgemein-
infection vielleicht durch Chinin, Alkohol (intern) vermeiden
wollte.
Und für die Fälle, welche pestähnlich (wie es
Heubner bezeichnet) verlaufen, wo die Angina gering sein
kann, und trotzdem in zwei bis fünf Tagen ein letaler Aus¬
gang eintritt unter Symptomen von allgemeiner bacterieller
Intoxication, wird es wohl besser sein, in der Zukunft irgend
welches neue oder das Marmore k’s c li e (wenn man beide
Processe für Strepto- und Staphylococcen invasion hält) Serum
anzuwenden.
Zum Schlüsse dieser Arbeit spreche ich dem Herrn
Director Dr. Nedopil für die gütige Ueberlassung des
Spitalmateriales meinen Dank aus.
REFERATE.
Arbeiten aus dem Institut für Anatomie und Physiologie
des Centralnervensystems an der Wiener Universität.
Htfi-ausgegeben von Prot'. Dr. H. Obersteiner.
Heft 6.
Wien und Leipzig 1899, F. Deuticke.
I. A. Spitzer, Ein Fall von Tumor am Boden der
Rautengrube.
Ein 34jähriger Tuberculöser bietet anfangs eine Deviation
des Kopfes und der Augen nach rechts mit starkem Schwindel bei
jeder Bewegung. Später war die Deviation des Kopfes, der gesenkt
gehalten wurde, nach links, die der Augen nach rechts. Schwindel
und Nausea bei jeder Bewegung. Linker Abducens gelähmt, rechter
Rectus internus und linker Facialis paretisch. Rigor der Kau¬
muskeln.
Diesen klinischen Symptomen ensprach als anatomischer Befund
ein haselnussgrosser Solitärtuberkel der Rautengrube, der, abgesehen
von den eben erwähnten Nerven, Läsionen im Gebiete des drei¬
eckigen Acusticuskernes, eines Theiles des linken Deiter’schen
Kernes, sowie mehrerer ab- und aufsteigender Längsbahnen setzte,
die an einer Serie von M a r c h i - Präparaten aufs Genaueste be¬
schrieben werden.
Die absteigenden haben ihren Ursprung im Zwischen-, respec¬
tive Mittelhirn und ziehen auf dem Wege der Substantia reticularis
alba ins Vorderseitenstranggrundbündel, um in den Vorderhorn¬
zellen des Halsmarkes zu enden. Mit ihm in Zusammenhang stehen
degenerirte Fibrae arcuatae internae, die eine Verbindung einerseits
des B u r d a c h’schen, andererseits des D e i t e r’schen Kernes mit
dem Halsmark vermitteln.
Die von den sensiblen Halsnerven, vom Opticus vom Nervus
vestibuli zum Centrum geleiteten Erregungen, die uns über Lage,
Haltung und Bewegung des Kopfes unterrichten, werden reflectorisch
Impulse auslösen, die auf der eben beschriebenen Längsbahn zum
Halsmark verlaufen und die Bewegung des Kopfes reguliren. Da nun
aber »die richtige Auffassung der Lage und Bewegung unseres
Kopfes ein wesentliches Hilfsmittel für unsere Orientirung im Raume
ist«, so muss eine Läsion sowohl des sensiblen als motorischen
Schenkels eine Desorientirung im Raume zur Folge haben.
Seine Bedeutung als motorischer Schenkel eines dem Raum¬
sinn dienenden Reflexbogens erhält der Fasciculus longitud. posterior
— die oben erwähnte Längsbahn — noch mehr durch seine Ver¬
bindung mit den Augenmuskelkernen. Das optische Centrum —
beim Menschen das Zwischenhirn — steht einerseits mit dem Ab-
ducenskern durch das hintere Längsbündel im Zusammenhang.
Andererseits verläuft in demselben hinteren Längsbündel die Bahn
des anderseitigen Rectus internus, indem ja functionell zusammen¬
gehörige Bahnen auch anatomisch eine gewisse Gleichlagerung
zeigen. Es ist demnach das optische Centrum der anderen Seite
vielleicht durch die Commissura posterior mit dem Oculomotorius-
kern derselben Seite auf dem Wege des hinteren Längsbündels ver¬
bunden. Damit ist das System geschlossen.
Es finden sich in ihm Verbindungen des D e c k e r’schen, der
Hinterstrangskerne, des optischen Centrums zu den Augenmuskel¬
kernen und all dieser zu den Kernen des Halsmarkes ; es ist dem¬
nach begreiflich, dass eine Läsion derselben zu heftigem Schwindel
führen muss, der ja stets dann auftritt, »wenn unsere räumliche
Orientirung Noth leidet«. Es ist die »motorische Vorstellungsbahn«,
wenn wir unsere Bewegungen in solche scheiden, die der Vorstellung
dienen, und solche, die vom Willen abhängig sind; diese letzteren
repräsentirt die Pyramidenbahn.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 38
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Neben der aufsteigenden Degeneration im hinteren Längs¬
bündel finden sich noch zwei Fasersysteme, die als laterales und
ventrales Ilaubenbündel bezeichnet werden, deren erstes vielleicht
der anterolateralen Thalamushahn S ö 1 d e r’s entspricht, während
das zweite mit dem Trigeminus im Zusammenhang gebracht wird.
*
II. Dr. Julius Zappert, Ueber Wurzel- und Zellver¬
änderungen im Gentrainervensystem des Kindes.
Zappert hat mittelst der Methoden von M a r c h i and
Ni s s 1 das Rückenmark von an ganz verschiedenen Krankheiten
innerhalb den ersten zwei Lebensjahren verstorbenen Kindern unter¬
sucht. Er kommt zu folgenden Resultaten:
1. Im Rückenmark von Kindern in den ersten zwei Jahren
sind Degenerationen der intraspinalen Antheile der vorderen Wurzeln
ein recht häufiger Refund.
2. Diese Degenerationen besitzen in einer Anzahl von Fällen
fast sicher die Bedeutung pathologischer Befunde, in anderen
Fällen scheinen dieselben physiologischen Verhältnissen zu ent¬
sprechen.
3. Ebenso wie die vorderen Rückenmarkswurzeln sind die
motorischen Hirnnervenwurzeln, namentlich der Accessorius, Abducens,
motorische Trigeminus und Oculomotorius häufig von ähnlichen
Veränderungen betroffen.
4. Die von den Clark e’schen Säulen ausgehenden, zur
Kleinhirnseitenstrangbahn ziehenden Fasern sind gleichfalls häufig
degenerirt.
5. Degenerationen der hinteren Wurzeln treten an Häufigkeit
und meist auch an Intensität hinter den Vorderwurzeln zurück.
G. Die motorischen Ganglienzellen in den Vorderhörnern des
Rückenmarkes zeigen sich in seltenen Fällen gleichfalls verändert.
7. Es muss dahingestellt bleiben, ob der Angriffspunkt der
Erkrankung in den Vorderwurzeln oder in den Ganglienzellen zu
suchen ist. Möglicher Weise besteht eine zeitliche Differenz zwischen
der mit N i s s 1-Färbung erkennbaren Zellläsion und den durch die
March i-Methode sichtbaren Wurzeldegenerationen.
*
III. Dr. R. Neurath, Beiträge zur postinfectiösen
Hemiplegie im Kindesalter und zur pathologischen
Anatomie des kindlichen Centralnervensystems
(Neurogliosis ganglio-cellularis diffusa).
Neurath beschreibt einen histologisch, wenn auch nicht
mit allen in Betracht kommenden Methoden untersuchten Fall von
postscarlalinöser Hemiplegie, in welchem er in der entsprechenden
Hirnhemisphäre eine degenerative Neuritis zu finden glaubt, die er
als durch den Scharlachvirus bedingt ansieht. Allerdings wird dieser
Befund wesentlich unklarer durch eine daneben sich findende
Neurogliosis ganglio-cellul. diff., die sich hauptsächlich auf die gleiche
Hemisphäre beschränkt.
*
IV. Prof. Dr. Kure S ch u z o in Tokio, Die normale und
pathologische Structur der Zellen an der cerebra¬
len Wurzel des Nervus trigeminus, die Kreuzungs¬
frage der letzteren und der motorischen Trige¬
minus w u r z e 1.
In dieser interessanten histologischen Arbeit kommt Kure
zu folgenden Schlüssen:
1. Die Zellen an der cerebralen Wurzel des Trigeminus
haben einen typischen Charakter und ähneln den Zellen im
Ganglion Gasseri und in den Spinalganglien (N i s s 1-Methode).
2. Gewisse Zellen im Locus coeruleus sind ihrer Beschaffen¬
heit nach von den obigen Zellen nicht auseinanderzuhalten.
3. Die anderen Zellen des Locus coeruleus, welche beim
Menschen dunkles Pigment enthalten und bei Thieren nach gewöhn¬
lichen Färbungsmethoden von den Zellen sub 2 sonst wenig diffe-
riren, zeigen, nach Nissl behandelt, auffallend abweichende Formen
und Grössen.
4. Den sub 1 und 2 genannten Zellen ist mit Rücksicht auf
ihre differente Structur eine ganz andere Function zuzuschreiben,
als jenen im motorischen Kern.
5. Charakteristisch ist die Degenerationsweise dieser Zellen
(N i ss 1-Färbung).
G. Die Degeneration beschränkt sich nur auf die operirten
Seiten.
7. Für die Zellen im motorischen Kern gilt das Gleiche.
8. Die sub 2 erwähnten Zellen im Locus coeruleus gehören
mit Rücksicht auf die Gleichartigkeit der Structur, nach ihrer Ver-
theilung und dem Verlaufe der aus ihnen entspringenden Fasern
zusammen.
9. Die cerebralen Wurzelfasern und die aus dem Locus
coeruleus in die Portio minor ziehenden Fasern kreuzen sich nicht
(M arch i-Methode).
10. Ebenso kreuzen sich auch die motorischen Wurzel¬
fasern nicht.
*
V. Dr. Friedrich Pineies, Zur Lehre von den Func¬
tionen des Kleinhirns.
Schon in der älteren casuistischen Literatur der Kleinhirn¬
erkrankungen finden sich Fälle verzeichnet, welche eine der Ivlein-
hirnaffection gleichseitige Hemiplegie, beziehungsweise Hemiparese
zeigten.
Dieser Befund wurde von den Autoren meist in der Weise
gedeutet, dass sie sagten, die Affection der gleichnamigen Seite sei
dadurch bedingt, dass durch den Kleinhirnherd die bereits gekreuzte
Pyramidenbahn comprimirt werde.
P i n e 1 e s hat nun zwei Fälle von Kleinhirnaffectionen beob¬
achtet, in welchen sich eine gleichseitige Halbseitenaffection fand.
Nach eingehender Widerlegung der eben gestreiften Ansicht der
früheren Autoren entwickelt P i n e 1 e s die seine.
Er stützt sich hiebei auf die in den letzten Jahren von
Lucia ni, Ferrier und Russel ausgeführten Experimente, die
ergaben, dass bei Hunden und Affen die Abtragung einer Klein¬
hirnhemisphäre zu einer Parese der gleichseitigen Extremitäten
führe, dass also jede Kleinhirnhemisphäre die Bewegungen der
gleichseitigen Extremitäten beeinflusse.
In Analogie dazu nimmt nun P i n e 1 e s an, dass die beim
Menschen erhobenen Befunde sich in gleicher Weise erklären
lassen; er nimmt also an, dass auch beim Menschen dem Kleinhirn
die Function zukomme, zur Innervation der gleichseitigen Extre-
mitäten beizutragen, wobei natürlich dieser Antheil des Kleinhirns
entsprechend dem Vorwiegen der Grosshirnthätigkeit beim Menschen
relativ geringer sein müsse, als beim Thiere.
Im Anschluss an diese und in Consequenz dieser Ansichten
vertritt P i n e 1 e s auch eine von der gebräuchlichen abweichende
Auffassung der choreatischen und athetotischen Bewegungen. In
Anlehnung an die Auseinandersetzungen Bonhoeffe r’s, welcher
für eine Beziehung der Athetose zum Kleinhirn plaidirt, schliesst
Pineies: »Wir glauben im Allgemeinen annehmen zu können,
dass die choreatischen Bewegungen als eine Ausfallserscheinung an¬
zusehen seien. Der wichtigste Grund für unsere Annahme hegt in
den Fällen von posthemiplegischer Chorea, wo nicht sogleich mit
dem Auftreten der ersten Krankheitserscheinungen, sondern erst zu
einer Zeit, wo die Ausfallserscheinungen über die Reizerscheinungen
prävaliren, die choreatischen oder athetotischen Bewegungsstörungen
einzutreten pflegen. Ferner halten wir es für sehr unwahrschein¬
lich, dass vollkommen ausgeheilte Processe, die gar keine Nach¬
schübe aufweisen und häufig mit Hinterlassung einer Narbe oder
Schwarte enden, viele Jahrzehnte hindurch fast continuirlich durch
Reizung gewisser Faserzüge Chorea erzeugen sollen.« Gerade gegen¬
über diesem letzten Punkt kann sich Referent nicht versagen, darauf
hinzuweisen, dass wir ja bei vielen Fällen von Jackson-Epilepsie
ein Beispiel dafür haben, dass scheinbar abgelaufene, z. B. in
Narbenbildung ausgeheilte Processe noch lange Zeit nachher einen
Reiz zu erzeugen vermögen. Wie dem auch sei, Interesse wird
man dieser originellen Arbeit Pineles’ nicht versagen können.
*
VI. Dr. Julius Zappert und Dr. Fritz II i t s c h m a n n,
Ueber eine ungewöhnliche Form des angeborenen
Hydrocephalus.
Zappert und II it sch mann beschreiben einen höchst
seltenen Fall von Hydroceph. congen., der dadurch charakterisirt
Nr. 88
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
861
erscheint, dass die Krankheit so früh einsetzte, dass es weder zu
einer Vergrösserung des Schädeldaches, noch zu einer Entwicklung
der Stammganglien kam.
Z a p p e r t und Hitschmann schlagen für ihren Fall,
dessen genaue histologische Untersuchung ihn besonders werthvoll
macht, den Namen Hydromikrocephalus in Anlehnung an die von
K 1 e b s eingeführte Nomenclatur vor. Dr. v. C z y h 1 a r z.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
352. Zur Wirkung des nahen Blitzschlages.
Von Strebei. In nächster Nähe eines 18 Monate allen Fohlens
hatte ein Blitz eingeschlagen; sofort stellten sich auffällige Verän¬
derungen im Gange ein. Bei der Section des Thieres fand man
zerstreut in der Rinde der Grosshirnhemisphäre hirsekorn- bis
erbsengrosse hämorrhagische Herde. — (Schweizer Archiv für Thier¬
heilkunde. Bd. XLII, Heft 3.) Pi.
*
353. Blutungen bei Influenza. Petrucci bespricht
in der medicinisch-chirurgischen Gesellschaft zu Parma die ver¬
schiedenen Formen derselben, erwähnt elf Fälle von Nasen-, Bronchial-
und Uterusblutung und hält sich berechtigt, eine hämorrhagische
Form der Influenza, möglich Folge einer Mischinfection, anzunehmen.
— (Gazz. degli Ospedali. 1900, Nr. 99.) Sp.
*
354. Zur Behandlung der chronischen Gicht.
\ on Dr. W. Bain. Es kommt zur Bildung der Harnsäure ent¬
weder im Wege der Leber, der Niere oder durch Decomposition
von Nuclein. Durch die classischen Untersuchungen Hor-
baczewski’s ist es sehr wahrscheinlich geworden, dass die
Harnsäure vom Nuclein herzuleiten sei. Aus dieser Erwägung leitet
sich auch die Therapie ab, deren Aufgabe es sein wird, den über¬
mässigen Zerfall des Nucleins, sowie die Aufspeicherung dieser
Zerfallsproducte im Körper hintanzuhalten, beziehungsweise deren
Elimination zu befördern. Nach Verfasser ist ein Nutzen von der
üblichen medicamentösen Therapie erst in zweiter Linie zu er¬
warten, das Hauptmittel liegt in der Regelung der Diät. — (Brit.
med. Journ. 9. Juni 1900.) ' pj
*
355. Erweichungsherde im Gehirne in Folge
Vergiftung mit Kohlenoxydgas. Von Dr. Folli. Folli
fand bei einem Selbstmörder in Folge von Kohlenoxyd-Asphyxie
zur Seite der inneren Kapsel und des Linsenkernes einen rothen
Erweichungsherd, wahrscheinlich durch Thrombusbilduug. Diese
Beobachtung ist deshalb von Werth, weil die nervösen Erscheinungen
bei Kohlenoxydgas gewöhnlich erst später vortreten. ([R i v a] Diese
Mittheilung von Folli bestätigt noch einmal die Möglichkeit von
Thrombusbildung ausschliesslich durch Alteration des Blutes.) —
(Gazz. degli Ospedali. 19. August 1900, Nr. 99.) Sp.
*
356. Heber endoglobuläre Körperchen in den
Erythrocyten der Katze. Von Dr. Schmauch. Verfasser
macht aut die in den rothen Blutkörperchen der Katze, und zwar
auch im ungefärbten Präparate vorkommenden Einschlüsse auf¬
merksam, die er für Reste der ursprünglichen Kerne ansieht; im
totalen Blute kommen sie nicht oder nur sehr selten vor. _
(Virchow’s Archiv. Bd. GLVI, Heft 2.) pp
*
357 . lieber den diagnostischen Werth dos
Herpes labialis. Von Minerbi. Acht Jahre altes Kind aus
tuberculöser Familie erkrankte an heftigen Fiebererscheinungen mit
Milzvergrösserung; am sechsten Tage geringer Herpes labialis, welcher
samml dem Fieber am Ende der fünften Woche verschwand. Ein¬
einhalb Monate später eine kleine hypophonetische Zone in der rechten
oberen Parasternalgegend mit Verringerung des tactilen Stimmfremitus
und Verschwinden des vesiculären Alhmens. Da sonstige Erschei¬
nungen fehlten, und auch schon vorher verschiedene Krankheiten,
wie Malaria, Influenza, Pseudoleukämie, acute Miliartuberculose aus¬
geschlossen waren, so vermuthete Minerbi eine tuberculöse Adeno-
palhie des Mediastinums. Zwei Monate später starb das Kind an
acuter basilarer Meningitis. Minerbi betont den Werth des Herpes
labialis, um die Diagnose »Ilootyphus« in solchen Fällen auszuschliessen,
was bei der wochenlangen Dauer des Fiebers bezüglich der dar-
zureichenden Nahrung von Wichtigkeit ist. — (La Riforma Medica’
1900, Nr. 190.) S|) *
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Dei Minister für Gultus und Unterricht hat im Einvernehmen
mit dem Ministerium des Innern für die im Studienjahre 1900/1901
nach Massgabe der medicinischen Bigorosenordnung vom
15. April 1872 abzuhaltenden Rigorosen nachbenannte Functionäre
ernannt, und zwar:
1. An der Universität in Wien: Zu Regierungs¬
commissären den Sanitäts-Referenten Dr. v. Kusy den
Ministerialrath Dr. Josef Daimer, den Sectionsrath Dr. filing
und den Landes-Sanitäts-Referenten Dr. August Netolitzky;
zu Goexaminatoren beim zweiten Rigorosum die o. Professoren
Hofrath Freiherrn v. Widerhofer und Wagner v. Jauregg
und zu deten Stellvertreter Ilofrath Max Gruber, beziehungsweise
den a. o. Prof. Emil Stoffelia d’Alta Rupe; zu Coexami-
natoren beim dritten Rigorosum die Hofrätlie Neumann und
Kaposi und zu deren Stellvertretern den titul. o. Prof. Dr. Adam
Politzer und den a. o. Prof. Dr. Victor Urb antschitsch.
2. An der deutschen Universität in Prag: Zum
Regi erungscomm issär den Landes-Sanitäts-Inspector Doctor
Vincenz v. B rech ler und zu dessen Stellvertreter den Ober¬
bezirksarzt Dr. F r i e d r i c h Wenisch; zum Coexaminator
beim zweiten Rigorosum den a. o. Prof. Friedrich G a n g-
h ofner und zu dessen Stellvertreter den o. Prof. Ferdinand
II u e p p c, zum Coexaminator beim dritten Rigorosum den
o. Piof. 1 hilipp Josef Pick und zu dessen Stellvertreter den
titul. o. Prof. Emanuel Zaufal.
3. An der böhmischen Universität in Prag: Zum
Regie rungscommissä r den Landes Sanitäts-Referenten, Hofrath
Dr. Ignaz Pelc und zu dessen Stellvertreter den Landes-Sanitäts-
I inspector Di. Vincenz Slavik und im Falle seiner dienstlichen
Verhinderung den Landes-Sanitäts-Inspector Dr. Franz Plzük; zum
Coexaminator beim zweiten Rigorosum Prof. Gustav
Kabrhel und zu dessen Stellvertreter Prof. Karl Ivuffner;
zum Coexaminator beim dritten medicinischen Rigorosum den
Prof. Victor Janovsky und zu dessen Stellvertreter den a. o.
Prof. Karl Schwing. ^
4. An der Universität in Graz: Zum R egie rungs¬
commissä r den Landes-Sanitäts-Referenten Dr. August Sehne-
d i t z und zu dessen Stellvertreter den Landes-Sanitäts-Inspector
Dr. Ludwig P o s s e k, beziehungsweise den Bezirksarzt Dr. Adolf
v. K u t s c h e r a ; zu Goexaminatoren beim zweiten Rigorosum
die Professoren Theodor Esche rieh und Gabriel Anton;
zu Goexaminatoren beim dritten Rigorosum Prof. Wilhelm
P r a u s n i t z, sowie die titul. o. Professoren Adolf J a r i s c b und
Johann H a b e r m a n n.
5 . An der Universität in Innsbruck: Zum Re¬
gie rungscommissä r den Landes-Sanitäts-Referenten Dr. F e r-
d i n a n d Sauter und zu dessen Stellvertreter den Sanitätsconcipisten
Dr. Friedrich Sander; zu Coexaminator en beim zweiten
Rigorosum die a. o. Professoren K a r 1 M ayer und Joha n n
Loos; zu Goexaminatoren beim dritten Rigorosum die
a. o. Professoren Georg Jufinger, Johann Rille und
Alois Lode.
6 . A n der Universität in Krakau: Zum Regierungs-
commissär den Oberbezirksarzt Dr. Gustav B i e 1 a n s k i und
zu dessen Stellvertreter den Director des St. Lazarus-Spitales und
titul. a. o. Prof. Dr. Stanislaus Poni kl o; zum Coexaminator
beim zweiten Rigorosum den Privatdocenten Dr. L u d o m i 1
Korczynski und zu dessen Stellvertreter den Privatdocenten
Dr. Johann Raczyfiski; zum Coexaminator beim dritten
medicinischen Rigorosum den a. o. Prof. Ladislaus Reiss und
zu dessen Stellvertreter den Privatdocenten Alexander Bos-
sowski.
7. An der Universität in Lemberg: Zum R e-
g i e r u n g s e o m m i s s ä r den Landes-Sanitäts-Referenten Dr. Josef
Mer unowicz und zu dessen Stellvertreter den Landes-Sanitäts-
Inspector Dr. Josef Barzycki; zum Coexaminator beim
zweiten Rigorosum den a. o. Prof. Stanislaus B a d z i ri s k i
und zu dessen Stellvertreter den Director des St. Sophien-Kinder-
spitales Emil Merczynski; zum Coexaminator beim
dritten medicinischen Rigorosum den a. o. Prof. Wladimir
Lukasiewicz und zu dessen Stellvertreter den Privatdocenten
Victor Wehr.
862
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 38
Verliehen: Dem Oberstabsarzte Dr. Johann Müller in
Olmütz der Generalstabsarztes-Cbarakter ad honores mit Bekanntgabe
der Allerhöchsten Zufriedenheit. — Dem Oberstabsarzte Dr. August
Hruby in Zara der Generalstabsarztes-C'harakter ad honores und
der Orden der Eisernen Krone dritter Classe.
*
TIabilitirt: Dr. Hermann Schlöffe r für Chirurgie an
der deutschen medicinischen Facultät in Prag.
*
Gestorben: In Krapina Linienschiffsarzt Dr. Alexander
K u k i c. — Dr. H a n a u, ehemaliger Privatdocent für pathologische
Anatomie in Zürich. — Der ehemalige Professor der gerichtlichen
Medicin in Glasgow, Dr. P. Simpson.
*
Von dem „Handbuche der praktischen Chirurgi e“,
herausgegeben bei Enke in Stuttgart von Bergmann, Bruns
und Mikulicz, sind die Lieferungen 16 und 17 mit der Fort¬
setzung der chirurgischen Krankheiten der unteren Extremitäten,
ferner den Erkrankungen und Verletzungen der Schulter und des
Oberarmes von Dr. A. Schreiber, Augsburg, erschienen. — Das im
gleichen Verlage erscheinende „Handbuch der praktischen
Medicin“, redigirt von Ebstein und Schwalbe, ist mit der
vorliegenden Lieferung 23 und 24 bis zum Abschlüsse des dritten
Bandes gediehen. Dieselben bringen Arbeiten über die Krankheiten
der männlichen Genitalorgane (Jadassohn, Fürbringer, Leser)
und zum Schlüsse jene über die venerischen Krankeiten (J a d a s-
s o h n).
*
Für die in den einzelnen Curorten weilenden Kranken, oder den
daselbst zur Erholung befindlichen Gesunden ist es von Interesse, die
örtlichen und geschichtlichen Verhältnisse ihres temporären Wohnortes,
dessen sanitären Einrichtungen, Curmittel u. s. w. kennen zu lernen,
zu welchem Zwecke auch die folgenden zwei Brochuren dienen: Das
von der Curcommission bei D e u t i c k e in Wien herausgegebene
„Der Curort Baden bei Wien in Wort und Bild“ und
Dr. Marc: „W i 1 d u n g e n und seine Mineralquelle n“,
Verlag Pusch in Wildungen.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 34. Jahreswoche (vom 19. August
bis 25. August 1900). Lebend geboren: ehelich 602, unehelich 297, zusammen
899. Todt geboren: ehelich 46, unehelich 22, zusammen 68. Gesammtzahl
der Todesfälle 630 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
19-8 Todesfälle), darunter an Tuberculose 93, Blattern 0, Masern 8,
Scharlach 1, Diphtherie und Croup 3, Pertussis 4, Typhus abdominalis 7,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 1, Cholera 0, Puerperalfieber 0, Neu¬
bildungen 52. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
6 (-|- 1), Masern 66 ( — 7), Scharlach 24 (-(- 5), Typhus abdominalis
24 (-)- 18), Typhus exanthematicus 0 (=), Erysipel 27 (-f- 13), Croup und
Diphtherie 27 (—2), Pertussis 14 (— 4), Dysenterie 3 (-|- 2), Cholera 0 (=),
Puerperalfieber 1 (=), Trachom 5 ( — 2), Influenza 0 (=).
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeinde gebiete. 35. Jahreswoche (vom 26. August
bis 1. September 1900). Lebend geboren: ehelich 582, unehelich 244, zusammen
826. Todt geboren: ehelich 45, unehelich 16, zusammen 61. Gesammtzahl
der Todeställe 584 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
18'3 Todesfälle), darunter an Tuberculose 106, Blattern 0, Masern 2,
Scharlach 3, Diphtherie und Croup 5, Pertussis 4, Typhus abdominalis 3,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 1, Neu¬
bildungen 31. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
9_(+ 3), Masern 57 (— 9), Scharlach 19 ( — 5), Typhus abdominalis
15 (— 9), Typbus exanthematicus 0 (=), Erysipel 26 (— 1), Croup und
Diphtherie 12 (— 15), Pertussis 26 (-j- 2), Dysenterie 0 (— 3), Cholera 0
(=). Puerperalfieber 1 (=), Trachom 2 (=), Influenza 0 (=).
Freie stellen.
Gemeindearztesstelle im Markte Schmiedeberg, Böhmen,
(politischer Bezirk Kaaden) mit 15. October d. J. zu besetzen. Jahresgehalt
1BH) K für Armenbehandlung und Todtenbeschau. Hausapotheke.0 Die
Marktgemeinde Schmiedeberg zählt über 40C0 Einwohner, hat Eisenbahn¬
station, mehrere Fabriks- und Genossenschafts-Krankencassen, welche zu¬
sammen ein bedeutendes Einkommen sichern und eröffnet sich Aussicht auf
lohnende Praxis, weil in einigen Nachbarorten sich kein Arzt befindet. Be¬
werber müssen katholischer Confession, deutscher Nationalität sein und
erhalten Doctoren der gesammten Heilkunde den Vorzug. Gesuche bis
1. October d. J. an das Bürgermeisteramt in Schmiedeberg.
Gemeindearztesstelle für den Sanitätssprengel Kostina,
Bukowina, mit dem Wohnsitze in der Gemeinde Kostina. Jahresdotation
1200 K, zahlbar beim k. k. Hauptsteueramte in Suczawa in monatlichen
anticipativen Raten, ausserdem für Dienstreisen die mit der Kund¬
machung der Bukowinaer k. k. Landesregierung vom 27. April 1895,
Z. 6788, L. G. u. V. Bl., Jahrgang 1895, Stück XII, lit. B. normirten Ge¬
bühren. Bewerber um diesen Posten haben nach § 5 des Landes-Sanitäts-
gesetzes nachzuweisen : die Berechtigung zur Ausübung der Heilkunde in den
im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern, die öster¬
reichische Staatsbürgerschaft und die Kenntniss der deutschen und
rumänischen Sprache. Die dementsprechend instruirten Gesuche sind im
vorschriftsmässigen Wege binnen vier Wochen an die Bezirkshauptmann¬
schaft in Suczawa zu senden.
Gemeindearztesstelle in der 4000 Einwohner zählenden, aus
drei Ortschaften Puöisöe, Praznice und IIumac-Gornji bestehenden Gemeinde
Puöi§ce auf der Insel Brazza, politischer Bezirk Spalato, Dalmatien.
Fixum jährlicher 1680 K für Armenbehandlung und Verseilung des Dienstes
im Sinne des Gesetzes vom 27. Februar 1874 (L. G. und V. Bl. Nr. 10);
ferner lür jeden Krankenbesuch bei nicht Gemeindearmen 1 K ; Wagen-
gebühr von 8 K nach Graznisc und von 10 K nach Humac Gornji nebst dem
Transportmittel, ausserdem für Vieh- und Fleischbeschau im Gemeinde-
schlachthause 1 K von jedem Rinde und 10 h von jedem Stück Kleinvieh.
Bedingungen: 1. Doctorat der gesammten Heilkunde, 2. inländische Heimats¬
zuständigkeit, 3. Kenntniss der kroatischen Sprache, 4. Verpflichtung zur
Haltung einer Hausapotheke, 5. physische Eignung.
Gemeindearztesstelle in Vallegrande auf der Insel Curzola,
Dalmatien. 3400 K Jahresgehalt in Monatsraten aus der Geraeindecasse
zahlbar, für die unentgeltliche Behandlung aller Kranken im Domicilorte.
Die Dauer der Anstellung wird durch Contract auf Grund der bestehenden
Vorschriften festgesetzt. Haltung einer Hausapotheke. Bewerber um diese
Stelle haben die Gesuche bis 22. September d. J. beim Gemeindeamte ein-
zubrirgen und mit folgenden Documenten zu belegen: a) Geburtsschein;
h) Diplom über die Erlangung des Doctorgrades der gesammten Heilkunde;
c) die österreichische Staatsbürgerschaft, d) Nachweis über die Kenntniss der
kroatischen Sprache.
G emeindearztesstel le in Kirchheim, politischer Bezirk
Tolmein, Küstenland. Jahresgehalt 1100 K (in anticipativen
Monatsraten aus der Gemeindecassa zahlbar) für die unentgeltliche Be
handlung der Ortsarmen und die Versehung des Gemeindesanitätsdienstes.
Hausapotheke. Die mit den Nachweisen der österreichischen Staatsbürger¬
schaft, der Berechtigung zur Ausübung der ärztlichen Praxis, der eventu¬
ellen bisherigen Dienstleistung, des Alters, der Kenntnis der slovenischen,
eventuell einer südslavischen Sprache belegten Gesuche sind bis Ende
September 1. J. an die Gemeindevorstehung in Kirchheim, welche auf
Verlangen auch nähere Auskünfte ertheilt, einzusenden.
Districtsarztesstelle in Budischau, Mähren. Der District
zählt 6563 Seelen und hat einen Flächenraum von circa 133 03 lcm. Ge
sammtbezüge: 1753 K 52 h, und zwar 1064 K Gehalt und 689 K 52 h
Fahrpauschale; ausserdem bat der Districtsarzt das Recht zur Führung
einer Hausapotheke und die Aussicht auf eine einträgliche Landpraxis. Be¬
werber haben ihre Gesuche bis längstens 20. September 1900 beim
Obmanne der Sanitätsdelegirtenversammlung, Wenzel Machat in Budischau,
einzubringen und mit Dachfolgenden Belegen zu versehen: Heimatschein,
Nachweis der Berechtigung zur Ausübung der ärztlichen Praxis, Nachweis
der körperlichen Eignung, der Wohlverhaltenheit und der Kenntniss beider
Landessprachen, insbesondere der böhmischen.
Gemeindearztesstelle in Münichreith am Ostrang (politischer
Bezirk Pöggstall), Niederösterreich. Die festen Bezüge für die Ver¬
seilung des gemeindeärztlichen Dienstes in der aus den Gemeinden Münich¬
reith a. O., Fritzelsdorf, Kehrbach, Kollnitz, Nussendorf, Rappolten¬
reith, Arndorf und Bruck a. O. mit zusammen 2038 Einwohnern bestehenden
Gruppe betragen 1444 K, und zwar: Landessubvention 1200 K , Gemeinde¬
beiträge 244 K. Ausserdem erhält der Gemeindearzt noch fixe Bezüge
seitens des Bezirksarmenrathes Persenbeug und seitens der Krankencassen.
Die mit Tauf-, beziehungsweise Geburtsscheine, Diplom, Moralitätszeugniss,
Gesundheitszeugnis (von einem in Staatsdiensten stehenden Arzte aus¬
gestellt) und eventuellen Verwendungszeugnissen belegten Gesuche sind bis
längstens 25. September 1900 bei der k. k. Bezirkshauptmannschaft
Pöggstall einzureichen. Eventuell noch weiters gewünschte Auskünfte
ertheilt die k. k. Bezirkshauptmannschaft Pöggstall, sowie der Gemeinde¬
vorsteher von Münichreith (Post Marbach a. d. Donau).
Gemeindearztesstelle in der Sanitätsgemeindengruppe Eurats-
feld, politischer Bezirk Amstetten, Niederösterreich. Mit dieser im
November 1900 zu besetzenden Stelle ist ein Fixum von 430 K seitens der
Gemeinden verbunden. Hausapotheke. Bewerber um diese Stelle haben ihre
ordnungsmässig instruirten Gesuche bei der Gemeindevorstehung Euratsfeld
bis Ende October 1900 einzubringen.
Gemeindearztesstelle in Rietz, politischer Bezirk Imst, Tirol.
Die Gemeinde zählt circa 1000 Einwohner. Jährliches Wartgeld 1000 K,
nebst freier Wohnung und 24 m3 Brennholz. Ganggeld und Todtenbeschau-
gebiihreu nach Uebereinkommen. Der Arzt ist verpflichtet, eine Hausapotheko
zu halten und den Sanitätsdienst in der Gemeinde im Sinne der Dienstes¬
instruction für Gemeindeärzte in Tirol vom 24. Februar 1885 (L. G. und
V. Bl. Nr. 8) zu versehen. Anfragen sind an die Gemeindevorstehung Rietz,
politischer Bezirk Imst, zu richten.
Bei den kärntnerischen Landes Wohlthätigkeits-Anstalten kommt mit
1. November 1. J. eine Secundararztesstelle zur Besetzung. Be¬
werber um diesen Dienstesposten, mit welchem eine jährliche Remuneration
von 1200 A”, sowie der Bezug der freien, beheizten und beleuchteten
Wohnung verbunden ist, haben ihre gehörig belegten Gesuche, welche auch
den Nachweis der vollstreckten activen Militärdienstleistung zu enthalten
haben, bis 30. September 1900 bei der gefertigten Direction einzubringen.
Für den Director. Prof. Dr. Franz Torggler.
Nr. 38
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
863
Verhandlungen ärztlicher (xesellschaften und Congressberichte.
13. Internationaler medicinischer Congress zu Paris. (2.-9. August 1900.) (Fortsetzung.)
13. Internationaler medicinischer Congress zu Paris.
(2.-9. August 1900.)
(Fortsetzung).
A b t li e i 1 u n g für innere M e d i c i n.
VI. Sitzung.
1. Referent : A c h a r d (Paris) : Niereninsufficienz.
Die bisher bekannten Zeichen einer anatomischen Nierenläsion
bleiben in erster Reihe Hilfsmittel zur Diagnose einer Niereninsufficienz.
Aber die functioneilen Störungen gehen den anatomischen Ver¬
änderungen nicht immer parallel, sie gehen ihnen oft voraus und
können selbst bei scheinbarer Gesundheit bestehen. Zu ihrer Er¬
kennung gibt es verschiedene Mittel, zunächst die quantitative Be¬
stimmung einzelner normaler Harnbestandtheile, wie Harnstoff, Phos¬
phate, Kalisalze (die namentlich bei einseitiger Nierenaffection zuweilen
auffällig vermindert sind) und die Bestimmung der Harngiftigkeit (bei
intravenöser Einspritzung auf Kaninchen nach Bouchard).
Leistungsfähiger aber als diese Methoden hält Vortragender die
vergleichsweise physikalich-chemische Untersuchung der osmotischen
Spannkraft von Harn und Blut, das heisst die Bestimmung des Ver¬
hältnisses der molecularen Concentration dieser Flüssigkeiten nach
v. Kor any i mittelst der Methode der Gefrierpunktsprüfung
(Kryoskopie). Indes hält Vortragender auch dieses Verfahren für den
täglichen Gebrauch in der Klinik zu eomplicirt. Zur Erkennung einer
functionellen Niereninsufficienz erscheint ihm am geeignetsten die Be¬
obachtung der Ausscheidung des Methylenblau nach subcutaner
Injection von (F05 g. Es erscheint im Flame sowohl als blauer Farb¬
stoff wie als farblose sogenannte Leukobase (Ehrlich), die Vor¬
tragender Chromogen nennt, weil sie durch Oxydation (mit Essigsäure
in der Wärme) den blauen Farbstoff wieder annimmt. Das Methylen¬
blau erscheint im Harne nach einer Viertel- bis einer halben Stunde
beim gesunden Menschen. Unter pathologischen Verhältnissen kann
die Ausscheidung um ein oder mehrere Stunden verzögert sein.
Wichtiger ist ihre Dauer. Normaler Weise beträgt sie 35 — 60 Stunden.
Sie ist verkürzt bei abnormer Durchgängigkeit der Nieren (in Folge
von Desquamativkatarrh der Epithelien) oder im Gegentheile bei sehr
hochgradiger Insuffieienz, die überhaupt nur wenig Substanz durch¬
treten lässt. Häufiger ist die Verlängerung der Ausscheidung bis zum
dritten und vierten Tage, je nach der Stärke der Insuffieienz. Die
Menge beträgt normal in den ersten 24 Stunden etwa die Hälfte der
injicirten Dosis. Bei chronischer Nephritis ist sie vermindert.
Schliesslich kann der normale Rhythmus der Ausscheidung (allmäliges
Ansteigen bis zum Maximum, dann ebenso regelmässiges Absinken)
unter pathologischen Verhältnissen verändert sein, er kann selbst
discontinuirlich werden.
Correferent L a a c h e (Christiania) hebt hervor, dass man jetzt
auch an eine functionelle Diagnostik der Nieren denkt, wie man sie
zuerst beim Herzen, dann beim Magen kennen gelernt hat. Das ist um
so nothwendiger, als man die verschiedenen Formen der Nierenkrank¬
heiten anatomisch nur theilweise von einander trennen kann. Auch in
der Symptomatologie verwischen sich oft die einzelnen Formen
der Nephritis unter einander. Gewisse Erscheinungen sind überhaupt
einet anatomischen Deutung noch nicht fähig. Vortragender erwähnt
als Beispiel die sogenannte cyklische Albuminurie, die auf einen ge¬
wissen Grad von Niereninsufficienz zurückzuführen ist. Das ärztliche
Bestreben muss aber dahin gehen, die Diagnose der Insuffieienz vor
dem Ausbruche manifester Erscheinungen zu stellen.' Dazu liegen
gegenwärtig einige Hilfsmittel vor, die durch die Methoden von
A c h a r d und Castaigne und Casper und Richter gegeben
sind. Weiterhin bespricht Vortragender die Therapie. Sie muss in
erster Reihe eine prophylaktische sein und in Hinsicht auf die grosse
ätiologische Bedeutung der Arteriosklerose in erster Reihe auf den
Alkoholmissbrauch gerichtet sein. Die Therapie selbst hat zwei Prin-
cipien zu befolgen: Schonung des geschwächten Organes und im Falle
der Verstopfung der Nierencanälchen Fortschaffung deUpathologischen
Producte aus denselben durch Auswaschung des Körpers (reichliches
Wassertrinken und Einspritzung physiologischer Kochsalzlösung). Bei
acuter Entstehung der Insuffieienz (Urämie) ist der Aderlass mit oder
ohne Hypodermatoklyse in Anwendung zu ziehen.
Discussion: P. F. Richter (Berlin) weist zunächst auf
die Bedeutung der Korany i’schen Methode, der Gefrierpunkts¬
bestimmung im Blute, für die Diagnose der Niereninsufficienz hin.
Namentlich aber für die Praxis, für die Aussichten eines eventuellen
chirurgischen Eingriffes, ist eine andere Frage wichtig, nämlich die,
wie sich die beiden Nieren in die gemeinsame Arbeit theilen. In
Gemeinschaft mit Casper hat Redner diese Frage durch Combination
der A c h a r d’schen Phloridzinmethode mit dem Ureterenkatheterismus
zu lösen versucht. Es hat sich gezeigt, dass unter normalen Um¬
ständen jede der beiden Nieren nach Phloridzin die gleichen Mengen
Zucker producirt. Das ändert sich bei einseitiger Nierenerkrankung 5
die kranke Niere producirt weniger, die hochgradig erkrankte über¬
haupt keinen Zucker mehr. Die Menge des ausgeschiedenen Zuckers
nimmt im Allgemeinen gradatim mit der Schwere der Erkrankung ab.
Zusammen mit der Bestimmung der Harnstoffausscheidung jeder Niere
und der kryoskopischen Bestimmung des von jeder Niere aus¬
geschiedenen Harnes ist auf diesem Wege ein sehr genauer Einblick
in die Grösse der Nierenarbeit zu gewinnen.
De Dom in icis (Neapel) zweifelt an dem renalen Ursprünge
der Phloridzinglykosurie. Nach Injection von Phloridzin fand er bei
einem Hunde im Blute 25 cg Glykose. Einige Tage später doppel¬
seitige Nephrektomie, wieder Injection von Pboridzin, jetzt im Blute
steigende Mengen von Zucker bis zu 80 e#. Die Nierenexstirpation
allein vermehrt nicht die Glykämie. Danach können die Nieren nicht
den Zucker bilden.
Widal (Paris) berichtet über Untersuchungen, die er gemein¬
sam mit mehreren Mitarbeitern angestellt hat über die Durchgängigkeit
der kranken Nieren für eingeführte Substanzen (Salicylsäure,
Methylenblau) und Bestimmung der molecularen Concentration des
Blutes mittelst der Methode der Gefrierpunktsbestimmung in Fällen
von parenchymatöser Nejihritis bei Menschen und Thieren (experimentell
erzeugt). So fand sich zum Beispiel bei einem Kranken mit paren¬
chymatöser Nephritis ohne Urämie eine Verlängerung der Ausscheidung
des Methylenblau und sehr erhebliche Steigerung des Gefrierpunktes
des Blutes. Bei sieben Kaninchen wurde durch Chromsäureinjectionen
eine Nephritis erzeugt, die Nieren zeigten sich für Salicylsäure so
durchgängig wie normal, bei Methylenblau trat eine verlängerte Aus¬
scheidung unter der Form des Chromogens ein. Das Serum dieser
Thiere war bei intercerebraler Injection auf Meerschweinchen giftig
in Dosen von 0-l cm3, auf Kaninchen 0\5 cm3. Nach Zustandekommen
der Nierenläsion blieb die Injection des Serums in selbst grösseren
Dosen wirkungslos.
Bard (Lyon) erwähnt seine bereits publicirten Untersuchungen,
wonach die Durchlässigkeit der Nieren, am Methylenblau gemessen,
vermindert ist bei interstitieller Nephritis, vermehrt dagegen bei paren¬
chymatöser Nephritis. Wahrscheinlich verhält es sich so auch bei der
Urämie.
B e r 11 a d (Paris) bemerkt, dass man wohl nicht berechtigt ist,
aus dem Verhältnisse des experimentell eingeführten Methylenblaus
allgemeine Schlussfolgerungen auf die Durchgängigkeit der Nieren ab¬
zuleiten, die ja für einzelne Substanzen verschieden sein kann. Er¬
gibt der Kryoskopie (Gefrierpunktsbestimmung) den Vorzug, weil
diese Methode gleichzeitig auf Harn und Blut anwendbar ist und
dadurch ein werthvoller Vergleich geboten ist. Es hat sich ergeben,
dass die Durchlässigkeit der Nieren, deren Wesen man besser als
„secretorische Nierenfunction“ bezeichnen würde, bei den verschiedenen
Formen der Nierenkrankheiten verschieden ist; sie ist aber unab¬
hängig von der Existenz anatomischer Läsionen. Bei der Urämie er¬
weisen sich die Nieren in diesem Sinne sogar functionsfähig, sie darf
also nicht ausschliesslich auf eine Undurchlässigkeit der Nieren
zurückgeführt werden. Undurchlässigkeit ist noch von Insuffieienz zu
trennen.
II. Moor (New York) berichtet, dass er im Harne eine neue
organische Substanz entdeckt hat, die er Urein nennt. Sie soll
dadurch gekennzeichnet sein, dass sie mit Ferrocyankalium eine Blau¬
färbung gibt. Kein anderer bekannter Körper des normalen mensch-
864
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 38
liehen Harnes gebe diese Reaction. M o o r betrachtet das Urein als den
wesentlichsten Bestandteil des Harnes und als die Ursache der
ammoniakalischen Zersetzung des Harnes, sowie der urämischen
Intoxication Nierenkranker.
HI. Tarrulla (Barcelona) hat bei der Behandlung von
Nierenkrankheiten organische Nierenextracte zur Anwendung gebracht,
aber keine ermuthigenden Erfolge gesehen.
IV. Sergent et Bernard (Paris) : La maladie
d’A ddison et le syndrome de l’i n Süffisance cap¬
sul a i r e.
Die Vortragenden meinen, dass man von der A d d i s o n’schen
Krankheit, deren untrennbares Characteristicum die Bronzefärbung
der Haut ist, einen Symptomencomplex zu unterscheiden habe, der
sich als Ausdruck der Insufficienz der Nebennieren darstellt. Letztere
setzt immer destructive Veränderungen an diesen Organen voraus und
entspicht dem, was man gegenwärtig vielfach als „forme fruste“ des
Morbus Addisonii bezeichnet. Bei der Bronzekrankheit können Er¬
scheinungen hinzutreten, welche auf die Nebenniereninsufficienz
zurückzuführen sind. Diese Scheidung der beiden Krankheitszustände
ist dadurch gerechtfertigt, dass sich der Addison öfters bei anatomisch
intacten Nebennieren entwickelt. Die Insufficienz der Nebennieren
kann sich plötzlich oder allmälig entwickeln, unter ' dem Bilde einer
Infection oder auf Grund von Gelegenheitsursachen, wie Trauma
u. dgl. m.
V. B o i n e t (Marseille) : Reche rches experimentales
sur les fonctions des capsules s u r renales.
Bei der Ratte liegen die Nebennieren so frei und beweglich,
dass sie vom Rücken aus leicht exstirpirt werden können. Viele
lebten danach länger als ein Jahr. Von mehreren Hundert Versuchs-
thieren wurde bei einigen 20 danach die Entwicklung des Morbus
Addisonii beobachtet. Es fand sich schwarzes und braunes Pigment
im Blute, in den Zellen und Organen (Leber, Milz, Drüsen).
VI. Sansoni et Serono (Turin): Reche rches sur la
degenerescence graisseux du foie dans l’empois-
sonnement par 1 e p h o s p h o r e.
Bei der acuten Phosphorvergiftung ist das Leberfett erheblich
vermehrt, hervorgegangen aus den höheren Fettsäuren. Ein Theil des
Fettes stammt von der fettigen Entartung der Leber selbst, wahr¬
scheinlich in Folge der Zerstörung der fettbildendon Substanzen
(Lecithin, Eiweiss). Der grösste Theil aber stammt aus den Fett¬
säuren, welche aus eben diesen Muttersubstanzen in allen Geweben
des Körpers gebildet worden sind. Dagegen rührt es nicht vom
Unterhautfettgewebe her, weil es nicht aus Neutralfett besteht.
VII. Blum (Frankfurt a. M.): Neue experimentell ge¬
fundene Wege zur Erkenntniss und Behandlung
von Krankheiten, die durch Autointoxicationen
bedingt sind.
Innerhalb des Organismus entstehen beständig bestimmte Gifte,
die unter normalen Verhältnissen von der Schilddrüse unschädlich
gemacht werden. Diese Gifte entstammen dem Intestinalcanal
(Enterotoxine), und zwar höchst wahrscheinlich der Eiweissfäulniss, so
dass sie in ihrer Beschaffenheit und Menge einerseits von der Natur
der faulenden Eiweisssubstanz und den übrigen den Nährboden
bildenden Stoffen und andererseits von den die Fäulniss verursachenden
Mikroben abhängig sind. Fällt die Thätigkeit der Schilddrüse aus und
gelangen die Enterotoxine ungehindert zur Einwirkung auf den Or¬
ganismus, dann verursachen sie schwere Störungen, mit denen gleich¬
zeitig sich ausnahmslos anatomisch nachweisbare Veränderungen an
bestimmten Organen entwickeln. Bei stürmischem Krankheitsverlauf
erweist sich nur das Centralnervensystem verändert; haben die Entero¬
toxine etwas längere Zeit schädigend eingewirkt, dann zeigen regel¬
mässig auch die Nieren Veränderungen, und zwar neben Degenerationen
am Parenchym hauptsächlich interstitielle Wucherung und Infiltration
in der Umgebung der Glomeruli (Nephritis autointoxicatoria). De¬
monstration von Präparaten. Diejenigen Thiere, die, sei es spontan,
sei es nach geeigneter Behandlung trotz Ausschaltung der Schild¬
drüsen gesund geblieben oder nach Krankheit gesund geworden sind,
besitzen in ihrem Blute Schutzstoffe gegen jene Enterotoxine. Die bei
ihrem Durchgänge durch die gesunde Schilddrüse aufgegriffenen
Enterotoxine werden dort als hochmoleculare Verbindungen Thyreo-
toxalbumine) abgelagert und allmälig entgiftet. Die ehedem als
specifische Jodsubstanz der Schilddrüse bezeichuete Verbindung ist
nur ein intermediäres Product in diesem Umwandlungsprocess und
stellt ein mehr oder weniger unvollständig mit Jod gesättigtes
Thyreotoxalbumin dar. Auch gegen dieses Thyreotoxalbumin, das bei
intaetem Sehilddrüsenstoffwechsel niemals in den Kreislauf Übertritt,
gibt es sowohl eine natürliche (präexistirende), als auch eine erworbene
Immunität. Immunität gegen Enterotoxin bedingt keine solche gegen
Thyreotoxalbumin und andererseits hat auch die Immunität gegen
Thyreotoxalbumin noch nicht eine Unempfindlichkeit gegen das freie
Enterotoxin zur Folge. Die Ergebnisse der mitgetbeilten Thier¬
experimente machen es in hohem Masse wahrscheinlich, dass auch
beim Menschen mehr Arten von Erkrankungen als man bisher an¬
nehmen durfte, mit Darmvorgängen und Insufficienz der Schilddrüse
in Zusammenhang stehen; sie modificircu aber auch die bisherigen
Auffassungen von dem Wesen einiger Schilddrüsenerkrankungen.
Auch therapeutische Massnahmen Hessen sich aus den Versuchen
ableiten.
*
VII. Sitzung.
I. Launois et Loeper: Le pouls veineux des
saphenes dans l’insuffisance tricuspidienne.
Eine 41jährige Frau, welche nach acutem Gelenksrheumatismus
eine Mitralstenose erworben hatte, bekam in Folge einer Ueber-
anstrengung eines Tages die Erscheinungen einer Tricuspidalinsuffieienz:
Dilatation des rechten Herzens, Jugularpuls, Leberpuls und systolischen
Puls an der V. saphena und den übrigen Venen der unteren Ex¬
tremität. Der systolische Charakter des Pulses an der Saphena unter¬
scheidet ihn von allen anderen Venenpulsen, wie die Vortragenden an
ihren Curven zeigen. Seine Entstehung ist nicht auf Verminderung
des intravenösen Druckes zurückzuführen, sondern ausschliesslich auf
das Fehlen von Klappen im Stromgebiete der Vena cava inf., deren
Pulsation ein ganz constantes Zeichen der Tricuspidalinsuffieienz ist
(F r i e d r e i c h). Dagegen fehlen bei ihr die Geräusche und das
Fremissement an der Cruralis und Saphena, welche man bei Chloroti-
schen wahrnimmt, obwohl man durch die Palpation die rückströmende
Welle beobachten kann. Diese periphere Manifestation der Kreislauf-
insufficienz ist günstiger als die viscerale, weil sie wenigstens eine
Zeit lang die Unterleibsorgane und insbesondere die Nieren vor
Stauungen schont.
P o t a i n sieht das Bemerkenswerthe der mitgetheilten Beobach¬
tung in dem Fehlen von Oedemen und erklärt dies dadurch, dass kein
Hinderniss für den venösen Abfluss bestanden habe.
II. Bernheim (Paris) : Tu berculose et syphilis.
Bei 43 Kranken hat Vortragender die Combination beider Krank¬
heiten beobachtet. Bei der Häufigkeit beider kann das Zusammen¬
treffen kein Wunder nehmen. Die Syphilis bereitet der Tuberculose
den Boden, hauptsächlich weil sie Eingangspforten für den Tuberkel¬
bacillus schafft. Die Syphilis übt einen deletären Einfluss nur auf die
Phthisiker in vorgerückteren Stadien der Krankheit. Tritt umgekehrt
Tuberculose zu Syphilis, so ist die Prognose sehr ernst im ersten
und zweiten Stadium der Lues, dagegen gutartig im dritten, weil
sich da das syphilitische Gift erschöpft hat. Die Hg-Cur wird schlecht
vertragen von tuberculösen Syphilitikern im ersten und zweiten Stadium
der Lues. Solche Kranke müssen deshalb erst unter die günstigsten
hygienischen und diätetischen Verhältnisse gebracht werden, ehe sie
mit kleinen Dosen Hg behandelt werden, die in grösseren Zwischen¬
räumen wiederholt anzuwenden sind.
III. B a r i e : De l’endocardite maligne dans 1 e
r h e u m a t i s m e articulaire a i g u.
Das Hinzutreten einer malignen Endocarditis beim acuten
Gelenksrheumatismus ist nur ein seltenes Vorkommniss. Vortragender
berichtet zwei schnell tödtlich verlaufende Fälle. Im ersten fand sich
bei der Autopsie eine frische verrucöse Endocarditis an der Mitralis,
acute Ilerzdilatation und Myocarditis. Im zweiten Falle fanden sich
indess keine ausreichenden anatomischen Veränderungen, so dass man
an eine Toxämie durch die Mikroben des Gelenksrheumatismus und
ihre Toxine denken muss oder an eine secundäre Infection, die sich
auf die initiale Endocarditis aufgepfropft hat. Schliesslich lehren die
mitgetheilten Beobachtungen, dass auch die social-hygienischen Ver¬
hältnisse des Kranken, schlechter Ernährungszustand und Alkoholismus
die Disposition zu dieser schweren Form der Endocarditis setzen.
IV. E i d (Kairo) : Lesions valv ulair es du c oe u r
d’o r i g i n e t a b a g i q u e.
Vortragender theilt drei Beobachtungen von schweren Klappen¬
fehlern mit, die tödtlich endeten, wo sich gar keine andere Ur¬
sache für deren Entstehung finden Hess als langjähriges starkes
Pfeifen- und Cigarettenrauchen, das ja in Aegypten sehr ver¬
breitet ist.
Rend u (Paris) hat auf Corsica, wo man ebenso viel und
stark raucht, auffallend häufig Angina pectoris beobachtet, oft com-
binirt mit Klapjmnfehlern, für die eine andere Ursache nicht er¬
sichtlich war.
V. Paulesco (Paris)’: Traitement des anevrismes
de l’aorte par 1 a gelatine e n injections sous-
coutanes.
Vortragender spricht über die von Lanceraux und i h m
inaugurirte Behandlungsmethode der Aortenaneurysmen mittelst sub-
eutancr Gelatineinjectionen, berichtet über mehrere günstig verlaufene
Nr. 38
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
865
Fälle und zeigt zur Demonstration der Wirkungsweise des Verfahrens
ein danach behandeltes Aortenaneurysma, dessen Riesensack fast voll¬
ständig von Fibringerinnsel ausgefüllt ist.
VI. Del Piano (Italien): Aortite chronique et
anevrysme; processus pleuro-pulmonaires con-
s e c u t i f s.
VII. Fornario (Kairo) : La dilatation aigue du coeur
dans les fievres malariques.
In 13 von 55 Fällen von Malaria, die durch Blutuntersuchung
identificirt waren, hat Vortragender acute Herzdehnung sich ent¬
wickeln sehen, die durch Durchleuchtung und R ö n t g e n - Photo¬
graphien sichergestellt ist. Als klinisches Zeichen machte sich Herz¬
schwäche geltend, sie entwickelt sich gleichzeitig mit der Ausbildung
des Milztumors und der Leberschwellung, ist rückbildungsfähig und
stellt sich auch bei neuen Attaquen wieder ein, wenngleich nicht
immer in derselben Stärke. Vom Fieber ist sie völlig unabhängig, weil
sie zuweilen ohne solches auftritt. Eine bestimmte Ursache lässt sieh
noch nicht erkennen. Vielleicht handelt es sich um eine toxische
Wirkung der Malariaparasiten.
VIII. R u m n o (Palermo) : Sur 1 a cardioptose. (Durch
den Seeretär verlesen.)
R u m n o beschreibt die Cardioptose als eine neue, selbstständige
Krankheit: Ein Herabsinken des Herzens aus seiner Lage über dem
Diaphragma in Folge einer primären Lockerung seiner Aufhänge¬
bänder. Sie hat keine Beziehung zu der viel häufigeren Visceralptose.
Die eine findet sich ohne die andere und umgekehrt. Sie hat nichts
mit der Arteriosklerose zu thun; sie kommt schon im jugendlichen
Alter vor. Disponirt sind Personen mit gracilem Knochenbau, langem
Thorax, schwachen Muskeln, geringem Fettpolster. Das Wesen der
Cardioptose besteht in einer Störung der Statik des Herzens. Es kann
zur partiellen oder totalen Ptosis kommen, wo das Herz vollkommen
auf dem Zwerchfell aufliegt. Das Herz sinkt dabei nach der linken
Seite herüber. Durch das Tiefertreten des Herzens erweitert sich die
Aorta und besonders der Arcus, man muss die grossen Ostien im
dritten oder vierten Intercostalraum auscultiren, der halbmondförmige
Raum Traub e’s verkleinert sich, zuweilen rückt sogar der linke
Leberlappen etwas herab, auch die Lungenränder treten tiefer wie
beim Emphysem. Subjective Symptome: Gefühl von Beklemmung auf
der Brust, Präcordialangst, Athemnoth, Herzklopfen, Angina pectoris,
Tachy- oder Biadycardie und zahlreiche inconstante neurasthenische
Erscheinungen. Die Affection ist familiär, erblich, angeboren. Ursache
ist die Entspannung des elastischen Gewebes der Gefässe, besonders
der grossen Aorta.
IX. Huchard (Paris) : La forme ary thmique et
tachyarythmique de la cardiosclerose.
Vortragender will zwei Formen der Herzarythmie in Folge von
Arteriosklerose unterschieden wissen: a ) Anfälle von Arythmie, ganz
plötzlich auftretend, mit sich überstürzenden ungleichmässigen Herz¬
schlägen, nach Pausen regelmässiger Herzthätigkeit, von Zeit zu Zeit
immer wiederkehrend; l) schleichende, unbemerkte Entwicklung der
Arythmie, die Jahre lang besteht, ohne die geringste functioneile
Störung zu machen, bis plötzlich eine Influenza, eine Aufregung, ein
Diätfehler u. dgl. das Gleichgewicht stört und Anfälle von Athemnoth
und Herzklopfen hervorruft. Gerade diese Form kann einen sehr
ernsten Charakter annehmen. Sie reagirt nicht auf Digitalis, wird
dadurch sogar meist verschlechtert. Vortragender hat schon nach
geringen Dosen den Tod eintreten sehen.
Discussion: Potain, Merklen, Barie, Huchard.
*
VIII. Sitzung.
I. Fürste r : La via n de crue etle traitement de
1 a tuberculose.
Vortragender macht über die Technik dieser neuesten Behand¬
lungsmethode der Lungenschwindsucht, über die bereits vielver¬
sprechende Nachrichten in die Tagespresse gelangt sind, folgende
Mittheilung: Man präparirt das rohe Fleisch, indem man mit einem
breiten Messer ein Stück Ochsen- oder Hammelfleisch abschabt, um
nur das weiche Fleisch zu erhalten, welches man noch durchsiebt.
Man theilt die Masse in kleine Kügelchen von Erdbeer- oder Hasel¬
nussgrösse und bringt sie je nach dem Geschmack des Kranken in
Aprikosengelee, Zuckerpillen u. dgl. Sie werden verschluckt, ohne
gekaut zu werden, und der Kranke kann auf diese Weise 100 — 300
rohen Fleisches, unbeschadet seiner gewöhnlichen Nahrung, zu sich
nehmen. Unerlässlich ist der gleichzeitige Gebrauch alkoholischer Ge¬
tränke, die man esslöffelweise alle Stunden geben lässt. Die Erfolge
dieser Behandlungsmethode, die durch R i c h e t und Chantemesse
in Thierversuchen bewährt gefunden ist, beruhe keineswegs, wie
Bouchard behauptet habe, auf einer Ueberernährung. Der Vater
des Vortragenden hat in Montpellier seit 35 Jahren günstige praktische
Erfahrungen darüber gesammelt.
II. Aufrecht (Magdeburg) : Ursache und örtlicher
Beginn der Lungentube rculose.
Die isolirten tuberculösen Herde, welche man zuweilen in den
Lungenspitzen von Individuen findet, die zufällig anderen Erkrankungen
erlegen sind, haben durchaus den Charakter von Infarcten. Dieser In¬
farct ist verurscht durch eine Thrombose der Blutgefässe, deren Aeste
das Gebiet, in dem der Herd liegt, versorgen. Die Thrombose ist her¬
vorgerufen durch eine Entzündung der Gefässwände. Man findet in der
Nachbarschaft tuberculöser Herde stets Gefässe, deren Wandungen ver¬
dickt sind durch Zellenwucherungen, ohne dass das Lumen schon durch
Thromben verstopft ist. In der Umgebung der beschriebenen Herde,
welche das erste Stadium der Lungentuberculose darstellen, sind fast
stets miliare Knoten und kleine, acinöse Herde vorhanden. Erstere hat
man bisher als sogenannte Miliartuberkeln betrachtet, letztere als Pro-
ducte einer Bronchopneumonie. Aber mit Unrecht. Die Miliartuberkeln
sind nur Theile kleiner Blutgefässe, deren Wände durch Zellen¬
anhäufung enorm verdickt sind. Die acinösen Herde sind durch die
Thrombose kleiner Arterien hervorgerufen. Sie setzen sich zusammen
aus einem hämorrhagischen und necrotischen centralen Theil und
einem hauptsächlich aus einem dichten Zellenlager gebildeten äusseren
Theil. Vortragender erläutert seine Befunde durch Demonstration
illustrativer Abbildungen mikroskopischer Präparate. Die Lungen¬
tuberculose beginnt also mit einer Entzündung der Wände der mittleren
Aeste der Lungenarterie, die von einer Thrombose oder Obliteration
ihres Lumens begleitet ist. Die Lungentheile, in denen die afficirte
Arterie sich verzweigt, werden nekrotisch. Diese Veränderung der Ge¬
fässe, welche sich bei der menschlichen Lungentuberculose, wie bei
der experimentellen Miliartuberculose findet, wird durch die Einwande¬
rung der Tuberkelbacillen, die sich im Blute befinden, hervorgerufen.
Man kann auf gefärbten Präparaten die Bacterien in den Wänden
der Gefässe erkennen. Bei diesen nachweisbaren Beziehungen der
Tuberkelbacillen zu den Gelassen ist die bisherige Annahme einer In¬
vasion durch die Luftwege ausgeschlossen. Wie sollte ein unbeweg¬
licher Bacillus mitten durch das Lungengewebe bis in die Gefässe
eindringen können, ohne eine sichtbare Läsion des durchdrungenen
Lungengewebes zu hinterlassen!? In der Lunge selbst müssen also die
Ursachen liegen, welche sie zum Prädilectionsort für die Ansiedlung
der Tubelbacillen machen. Die Blutbeschaffenheit und die ungünstigen
Bedingungen der Circulation erklären die Häufigkeit der Lungen¬
tuberculose. Die kleinen Aeste der Lungenarterie sind umso weniger
fähig, der zerstörenden Arbeit der Bacillen Widerstand zu leisten, als
sie aus dem rechten Herzen ihr Blut bekommen, das reich an Kohlen¬
säure und anderen schädlichen Producten des Stoffwechsels ist. Die
Prädisposition der Lungenspitzen für die Tuberculose resultirt einer¬
seits aus der Verlangsamung der Circulation, oft unterstützt durch
eine sitzende Lebensweise, andererseits aus den Zerrungen des Lungen¬
gewebes durch forcirte Ausathmungen, wie z. B. bei schweren, körper¬
lichen Arbeiten, Husten u. dgl.
III. P a p i 1 1 o n (Paris) : Pretube reu lose et her edit e.
Loi de L’heredo-reaction.
Vortragender legt grosses Gewicht auf den Krankheitszustand,
welcher dem eigentlichen Ausbruch der Tuberculose vorausgeht. Wie
diese selbst, ist auch der vom Vortragenden als „Pretuberculose“
bezeichnete Zustand in hohem Masse durch die Erblichkeit bedingt.
Von der Art dieses Zustandes ist auch abhängig, in welcher Weise
die Tuberculose in die Erscheinung tritt. Die Descendenten neuro-
pathischer Individuen erkranken unter dem Bilde der Neurasthenie;
bei den Nachkommen von Leuten, die an Verdauungsstörungen zu
leiden hatten, setzt die Tuberculose mit dyspeptischen Symptomenein;
ein Gleiches gilt von der erblichen Uebertragung zu Gicht, Herz-
affectionen und Arteriosklerose. Daraus leitet Vortragender die Wichtig¬
keit der Kenntniss der hereditären, nicht tuberculösen Antecedentien
der Ascendenz der Tuberculösen ab, welche die Bedeutung eines
Gesetzes hat, das höheren diagnostischen Werth habe, als die Tuber-
culininjection.
IV. Baumholtz (St. Petersburg) : Die Resistenz der
rothen Blutkörperchen bei Phthisis pulmonum.
Die Resistenz der Erythrocyten, bestimmt durch die Zahl der in
schwachen Kochsalzlösungen unlöslichen, ist bei Lungentuberculose er¬
höht, und zwar entsprechend der Schwere des Krankheitsfalles. Das
ist so constant, dass man sogar prognostische Schlussfolgerungen dar¬
aus ableiten kann. Die Ursache der Resistenz ist in der Menge und
Zusammensetzung der festen Bestandtheile des Blutes zu suchen. Mit
der Verbesserung des Ernährungszustandes wird die Resistenz ver¬
kleinert und umgekehrt. Nach der Grösse der Resistenz kann man
Rückschlüsse auf den allgemeinen Ernährungszustand machen.
866
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 68
V. Re non (Paris): Du role etiologique de la t u ber¬
eu 1 o s e dans quelques cas d’asphyxie et do gangrene
symetriques des ext remit es (Syndrome de Raynau d).
Vortragender bringt einen neuen Beitrag zu der von See,
Byers u. A. bereits mitgetheilten auffällig häufigen Coincidenz
von Tuberculose mit der R a y n a u d ’sehen Krankheit (symmetrischen
Gangrän der Extremitätenenden) und spricht die Tuberculose als eine
directe Ursache dieser Affection an. Damit wäre ein sicheres, ätio¬
logisches Moment für diese Krankheit gegeben, die bisher als selbst¬
ständige Krankheitseinbeit noch nicht allgemein anerkannt sei. Die
Beziehung zwischen Tuberculose und Raynau d’scher Krankheit habe
man sich allerdings anders zu denken, als z. B. bei dem Einfluss
einer Wirbeltuberculo3e auf das Nervensystem (durch Compression des
Rückenmarkes). Wie die Tuberculose aber wirkt, lässt sich zur Zeit
noch gar nicht sagen: ob eine directe Wirkung auf die Gefässe oder
eine „Imprägnation“ des centralen oder peripheren Neryensystemes,
wie sie Schmitt getroffen hat bei der Akroparästhesie. Renon's
eigene Beobachtung betraf einen Mann, der, an einer Lymphdrüsen-
und Lungentuberculose leidend, in zehn Tagen fast alle Phalangen
seiner Ilände und einen Theil seiner Ohren verlor. In der Folge bekam
er bei jeder neuen Congestion einen Anfall von Cyanose und Schmerzen
in den Fingerstümpfen.
Widal (Paris): Die Aetiologie der Raynau d’schen Krank¬
heit ist keine einheitliche, wie die sehr variirenden Sectionsbefunde
beweisen.
Po tain (Paris): Auch die Lepra gehört zu den disponirenden
Ursachen dieser Krankheit.
Apert (Paris): Nicht nur Infeetionen, sondern auch Stoff¬
wechselanomalien können den Boden bereiten, wie z. B. Diabetes,
wobei eine Verwechslung mit diabetischer Gangrän wohl zu ver¬
meiden ist.
Rendu (Paris) hat die Raynau d'sche Krankheit in Be¬
gleitung von Diabetes und Sklerodermie bei einem Kranken gesehen.
VI. Bel Iota Taylor (Sautander): La porte d’e n t r e e
du bacille de la tuberculose.
Vortragender hält den Tuberkelbacillus wohl für den Erreger
der Tuberculose, aber er bestreitet, dass die Verbreitung dieser Krank¬
heit auf den bisher angenommenen Infeetionswegen (Haut-, Respiratious-
und Intestinaltractus) möglich ist. Die Entwicklung der Tuberculose,
namentlich auf den beiden letzteren Wegen, sei weder experimentell
bei Thieren, noch klinisch beim Menschen einwandfrei erwiesen. Die
einzige Möglichkeit der Erklärung der ungeheuren Ausbreitung dieser
Krankheit sei die Annahme einer erblichen Uebertragung der Bacillen
bei der Zeugung, die dann Jahre und Jahrzehnte, bei Manchen während
des ganzen Lebens latent bleiben können. Bei dieser Sachlage er¬
scheine jede Prophylaxe zwecklos, welche auf der Idee der Contagionsität
basire. Praktische Resultate könne nur eine solche Prophylaxe liefern,
welche eine physische Stärkung des Einzelindividuums und eine
Besserung der hygienischen und socialen Verhältnisse der Gesammt-
heit anstrebe.
Rendu und Widal (Paris) halten dem Vortragenden gegen¬
über entschieden an der contagiösen Natur der Tuberculose fest, für
die nicht nur die experimentelle, sondern auch die menschliche Patho¬
logie genug Beweise liefere.
D i e u 1 a f o y (Paris) macht auf die Hals- und Rachenmandeln
bei Kindern als Eingangspforte für die Tuberculose aufmerksam, von
wo sie sich, wenn nicht zeitig durch locale Exstirpation geheilt, auf
die Submaxillardrüsen und nach Jahr und Tag auf die Mediastinal-
und Brouchialdriisen weiter fortpflanzt, von wo aus die Lungen
afficirt werden.
VII. Middendorp (Groningen) : Etiologie de la tuber¬
culose.
Vortragender wiederholt seine bereits auf dem Berliner Tuber-
culosencongress (1899) ausgesprochene Ansicht, dass der Tuberkel¬
bacillus nicht die Ursache der Tuberculose ist.
VIII. Sired ey: Diagnostic du mal de Pott eher
l’a d u 1 1 e.
Beim Erwachsenen hat die Entwicklung des Malum Pottii meist
einen schleichenden Charakter und täuscht oft andere Affectionen vor,
ehe es nach Jahren manifest wird, so vor Allem heftige Neuralgien
im Bereich des Brustkorbes oder auch des Abdomens (Magen, Nieren);
ausstrahlende Schmerzen in die Beine lassen zuweilen den falschen
Verdacht einer Ischias oder Tabes entstehen. Vor Irrthümern kann
nur die genaueste Untersuchung der Wirbelsäule schützen: dauernde
Druckempfiudlichkeit eines bestimmten circumscripten Punktes, das
Vorspringen eines Dornfortsatzes und vor Allem die Unbeweglichkeit
einiger Wirbelgelenke bei Beugung oder Streckung oder Seitwärts¬
bewegung. Zur Ausbildung eines Gibbus kommt es oft nicht, weil
sich mehr kleine Abscesse zwischen den Wirbeln und ihren Bändern
entwickeln, die sich dem Nachweise entziehen. Von hier nimmt dann
oft die allgemeine Tuberculose des Körpers ihren Ausgang.
*
Abtheilung für Chirurgie.
II. Sitzungstag. Nachmittagssitzung.
(Fortsetzung.)
VI. T h i e r y (Paris) : Ueber die Knochennaht bei
der Behandlung der Fracture n, insbesondere des
Unterschenkels.
Redner ist der Meinung, dass eine vollkommene Restitutio ad
integrum nur durch eine Knochennaht gewährleistet werden könne.
Wie man sie schon längst bei den Brüchen des Unterkiefers, des
Olecranon, und bei den complicirten Fracturen maebt, so soll man
sie auch auf die Brüche der langen Röhrenknochen ausdehnen, wenn
diese eine einigermassen beträchtliche Dislocation zeigen. Den dazu
nothwendigen Einschnitt auf die Bruchstelle könne man nicht als eine
Complication der Behandlung betrachten.
VII. Ollier (Lyon): Demonstration der chirurgi¬
schen Knocheuneubildung durch die Radiographie.
Neues zur Structur der Nearth rosen und zur repa-
rirenden Organisation der Knochenenden nach Ge¬
lenks resection.
An zahlreichen R ö n t g e n -Bildern, besonders vom Ellbogen,
von Schulter und Handgelenk, zeigt Vortragender die Organisation der
knöchernen Resectiousfläche und der Knochenenden in sehr instruc*
tiver Art.
VIII. M e n d i z a b e 1 (Mexiko) zeigt einen neuen Apparat
zur Immobilisation der Clavicular fr actur.
*
III. Sitzuugstag. Vormittagssitzung.
Vorsitzender: Tillaux (Paris).
I. Gluck (Berlin) demonstrirt seinen künstlichen Kehl¬
kopf an einigen Patienten.
II. Mignon und S i e u r (Paris): Ueber die varicose
Epididymitis.
Die Affection sitzt an dem Ursprung der hinteren Venengruppe
des Samenstranges und präsentirt sich unter dem Bilde eines rundlichen
oder spindelförmigen Tumors, welcher das Vas deferens umgibt und
mehr oder weniger auf die Epididymis übergreift, ohne jedoch den Kopf
derselben zu erreichen. Der Tumor ist elastisch, ja sogar manchmal
weich, kann jedoch eine sehr grosse Härte erlangen. Unter dem Ein¬
flüsse von Congestionsschüben wechselt er nicht selten sein Volumen,
so nach grossen Märschen, sexuellen Excitationen etc. Oft hat es den
Anschein, als ob ein zweiter Testikel vorhanden wäre. Dieser selbst
wird im Uebrigen von den Vorgängen auch etwas beeinflusst, sein
Volumen wird schwächer, und seine Consistenz nimmt ebenfalls ab.
Dennoch bleiben bei jungen Individuen die geschlechtlichen Func¬
tionen intact. Mikroskopisch stellt sich der Tumor als ein Angioma
cavernosum dar aus dilatirten Venen, welche unter sich durch kleine
Tractus verbunden sind. Diese letzteren sind um so zahlreicher, je
älter die Affection ist. Die Affection kann mit Leichtigkeit auf ilnem
Höhepunkte mit einer tuberculösen Epididymitis verwechselt wördeu.
Doch seine Localisation, die Integrität des Samenstranges und der
Prostata, die Abwesenheit aller persönlichen oder hereditären
Antecedenzien, schliesslich die nur diesem Tumor eigene Variabilität
werden in den meisten Fällen eine genaue Diagnose gestatten. Die
Behandlung besteht in Ruhe, Suspensorium, Vermeidung von geschlecht¬
lichen Erregungen. Bei eintretenden Entzündungserscheinungen Bäder
und feuchte Eimvickelungen.
III. Mauel aire (Paris): Ueber die weiteren Re¬
sultate der Hoden-Nebenhodentube rculose durch
die Resection des Samenstranges.
Aus 18 Beobachtungen hat er folgende Schlüsse gezogen : Die
Resultate sind gute, zufriedenstellende und schlechte. Gute Resultate,
das heisst eine einfache und reine Atrophie der ganzen inficirten
„Genitalmasse“ erreicht man dann, wenn die Tuberculose weder fistulös
noch eiterig ist. In drei Fällen dieser Art haben sowohl der kranke
Hoden wüe der Nebenhoden an Volumen abgenommen, wuirden hart
und unempfindlich, und Mauel aire glaubt, dass gerade dieses
letztere Symptom den kranken Hoden vom gesunden untei’scheidet.
In zw^ei Fällen sind die Erkrankungen der Prostata zurück¬
gegangen.
Für zufriedenstellende Resultate hält er die, in welchen die
Atrophie sehr langsam erfolgt, sich eine Fistel bildet und schliesslich
nach circa vier Monaten vollkommene Heilung eintritt. Ein Drittel aller
Nr. 38
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Fälle ergibt nicht zufriedenstellende Resultate, weil die breite Ver¬
eiterung des Hodens und Nebenhodens eine Infection der Tunica
vaginalis hervorruft. Langdauernde Fisteln nöthigen hier oft zu
secundären Eingriffen. Die Operationstechnik ist sehr einfach; man
soll einen möglichst kleinen Einschnitt in den Hodensack machen, um
Hämatome zu vermeiden.
IV. C a r 1 i e r (Lille) : U e b e r die Resultate der Re¬
section des Samenstranges.
Redner hebt hervor, dass die Atrophie des Testikels bei
Individuen über 50 Jahren nach Durchtrennung aller Elemente des
Samenstranges manchmal recht langsam eintritt, so dass sie oft nach
zwei Jahren noch recht unbedeutend ist. Dagegen sieht man häufig
bei jungen Männern, bei denen man bei der Operation einer Hernie
oder Varicocele unfreiwillig die Arteria spermatica unterbunden oder
durchschnitten hat, eine sehr rapide Atrophie des Hodens eintreten.
Carl i er glaubt hiefür, analog wie beim Hunde, die Abwesenheit
oder Unzulänglichkeit eines eollateralen Kreislaufes in jungen Jahren
oder die Nothwendigkeit anschuldigen zu müssen, dass der junge
Testikel eine reichere arterielle Zufuhr haben muss als es im vor¬
gerückteren Alter erforderlich ist.
V. Nanu (Bukarest) : Ueber die Torsion des Samen¬
stranges.
Den sehr seltenen Beobachtungen fügt Vortragender einen Fall
hinzu, den er mit Castration behandelt und Gelegenheit hatte, die
Diagnose zu verificiren. Die Schwierigkeit in seinem Falle bestand in
der Diagnosestellung, in der Abwesenheit aller Anomalien des Hodens,
der in den bisher veröffentlichten Fällen stets ektopisch im Leisten¬
canal sass. Trotzdem glaubt er auch hier wie in allen anderen Fällen
als Ursache der Torsion eine Anomalie im Descensus testiculi annehmen
zu müssen.
VI. Frank (Chicago): Ueber dieAnastomosis vesico-
r e c t a 1 i s.
Im Jahre 1899 machte Frank eine Reihe von Experimenten,
indem er theils einen, theils beide Ureteren in den Darm einpflanzte,
um die bacteriologischen und histologischen Veränderungen an den
Nieren zu studiren. In allen Fällen hat er eine aufsteigende Infection
der Nieren constatirt. Er kam daher auf die Idee, die Blase direct
mit dem Rectum zu verbinden, um zu versuchen, auf diese Weise eine
Infection der Niere zu vermeiden. Es ist ihm auch nach mehreren
Operationen an Hunden gelungen, dies zu erreichen. Für die
Anastomose wandte er seinen Knopf aus decalcinirten Knochen an.
Er hält die Anastomosis rectovesicalis für nützlich nicht allein in
den Fällen von Ectopia vesicae, sondern auch in den Fällen, wo
eine perineale oder suprapubische Fistel der Blase sonst erforderlich
sein würde.
VII. Delageniere (Le Mans) : Ein Fall von Blase n-
ektopie, geheilt nach der Methode von Trendelen
bürg.
Redner wendet sich dagegen, dass die Trendelenbur g’sche
Methode bei der Operation der Blasenektopie stets unzufriedenstellende
Resultate ergibt. Auch er hatte zuerst nur Misserfolge bei dieser
Operationsmethode aufzuweisen, ist aber jetzt im Stande ein Kind zu
präsentiren, welches in den ersten Lebensjahren mehrfache vergebliche
Operationen durchgemacht hatte und das er nach dieser Methode —
allerdings mit sieben Nachoperationen — mit vollkommener Continenz
des Sphinkter — geheilt hat.
VIII. Gerard (Bern) : Ueber die Radicalope ration
de.r Inguinalhernie.
Während für die meisten Hernien kleinen oder mittleren Um¬
fanges die üblichen Operationsmethoden zufriedenstellende Resultate
ergeben, ist es doch in Fällen, wo es sich um grosse Hernien
handelt, wo der Inguinalcanal nichts Anderes als eine weite Oeffnung
darstellt, sowie in den meisten nur ein wenig umfangreicheren directen
Hernien recht schwierig, einen resistenten Verschluss zu erzielen, der
eine Garantie gegen ein Recidiv gibt. Gerard hat daher die
B a s s i n i’sche Methode folgendermassen verändert: 1. Incision der
Aponeurose des Obliquus abdominis mit Eröffnung des ganzen
Leistencanales, soweit er noch existirt; 2. Exstirpation und Verschluss
des Bruchsackes, Versenkung des Stumpfes; 3. Naht der Ränder des
M. obliquus abdominis internus und transversus nach Bassini;
4. dachziegelförmige Uebereinanderlagerung der beiden Lappen der
Aponeurosis und des Obliquus externus auf eiue Breite von ungefähr
4 cm Der obere Rand wird am Arcus Fallopiae, der untere an der
Basis des oberen festgenäht. Nach diesem Vorgehen hat er von
543 Operationen, die zum Theile sehr grosse Hernien betrafen, nur
acht Recidive gehabt, von denen vier auf eine Eiterung der Wunde
zurückzuführen waren.
IX. Schwartz (Paris) : Ueber die Resultate der
Radicaloperation der Leisten- und Schenkelhernien
mit Myoplastik.
Redner beschreibt seine bereits im Jahre 1893 veröffentlichte
Methode, die darin besteht, dass er nach Resection und möglichst
hoher Ligatur des Bruchsackes durch Incision der vorderen Rectus-
scheide einen Muskellappen mit unterer Basis bildet, den er in den
Leistencanal einschiebt, oben am Obliquus internus und unten am Arcus
cruralis festnäht und so eine vordere Wand des Leistencanales bildet.
Bei der Cruralhernie eröffnet er nach der Resection und Ligatur die
Scheide des Aductor medius, bildet einen Muskellappen mit oberer
Basis, den er am Arcus cruralis und an dem Gewebe median von
der Vena cruralis festnäht. 63 Inguinal- und Cruralhernien hat er
seit 1893 mit Myoplastik operirt. Von den 50, die er wiedergesehen
hat, sind alle geheilt geblieben bis auf einen, der ein Recidiv bekam
nach einem Sturz von der Treppe. Keiner trug eine Bandage oder
hatte irgend welche Beschwerden. Die Heilungsdauer war in 1 Fall
7 Jahre, in 2 Fällen 5 Jahre, dann 4, 21/2j — 2 Jahre. Von den ope-
rirten Cruralhernien hat er nur 3 wiedeigesehen, von denen 2 seit
5 und 4 Jahren geheilt waren. So scheint ihm die Radicaloperation
mit Myoplastik ausgezeichnet dauerhafte Resultate zu geben und
verdient vor Allem in den Fällen von Hernie de faiblesse vorzugs¬
weise angewendet zu werden.
X. Thomas Noriega (Mexiko) : Die Behandlung der
Hernien mit sklerosir enden Injectionen.
Nach Behandlung von 23 Fällen mit Injectionen und Druck-
pelotten kommt Noriega zu folgenden Schlüssen: 1. Die Injectionen
von Extractum fluidum hydrast. canad. geben zufriedenstellende Re¬
sultate. 2. Sie können die Hernien radical heilen. 3. Sie sind nur bei
einseitigen Inguinalheruien von kleiner oder mittlerer Dimension indicirt.
4. Bei grösseren Hernien können sie mit dem Zweck gemacht werden,
dieselben zurückhaltbar zu gestalten.
XI. Morestin (Paris) : Behandlung der durch Ein¬
schlüpfen des S roman um entstandenen Inguinal¬
hernien.
Weil in diesen Hernien der Bruchsack nicht vollkommen den
Darm einhüllt und die von Serosa unbekleidete Partie in directem
Contacte mit dem Zellgewebe steht, hat Morestin eine besondere
Technik ersonnen, die er in den folgenden Punkten charakterisirt:
1. Freilegung des Orificium inguinalis, Erweiterung desselben in der
Richtung der Fasern des M. obliquus externus. Eröffnung des Peri¬
toneums in der Höhe des Leistencanales. Man erspart sich dadurch
das Suchen nach dem Bruchsacke und schont den Darm. 2. Loslösung
des Darmes. 3. Incision am äusseren Rande des rechten M. rectus
abdominis oder in der Gegend der Crista iliaca. 4. Wiederherstellung
des Mesocolon und Aneinanderheftung seiner beiden Blätter mit zahl¬
reichen Seidennähten, Fixation der Basis desselben an der Aponeurosis
iliaca, soweit als möglich in der Fossa iliaca. 5. Naht der Bauchwuude.
6. Wiederherstellung des Leistencanales. Die Operation ist so etwas
complicirter als die gewöhnlichen Methoden, doch gibt sie unbedingt
bessere Resultate. Dadurch, dass man den Bauchschnitt so legt, wie
er für die Amputation des Appendix vorgeschrieben ist, schützt man
sich vor jeder grösseren Eventration. Von nicht zu unterschätzender
Bedeutung sind auch die Vorbereitungen zur Operation: Die alten
Chirurgen haben uns, um die Reposition grosser Hernien zu erreichen,
einige weise Rathschläge gegeben, von denen wir heute noch Nutzen
ziehen können: Die Lage im Bett ohne Kopfkissen, mit etwas erhöhtem
Becken vermindert die Spannung der Hernie und erleichtert das
Zurücktreten des Darmes. Wiederholt gegebene Abführmittel entleeren
den Darm und reduciren das Volumen der herniösen Schlinge. Redner
berichtet dann einige Krankengeschichten von Hernien, die er nach
seiner Angabe operirt hat.
XII. B i o n d i (Siena) : Eine neue Methode der Fixation
der Wanderniere.
Nachdem Bioudi mit einigen Worten auf die Unzuträglich¬
keiten der bisher üblichen Methoden der Nephrorhaphie eingegangen
ist, schildert er sein Vorgehen folgendermassen: Nach Freilegung der
Niere reponirt er dieselbe und fixiit sie in ihrer normalen Lage mit
einem langen Gazestreifen, den er vor dieselbe legt und den er zahl¬
reiche Züge von aussen nach innen und umgekehrt machen lässt. Das
Ende des Streifens lässt er im unteren Wundwinkel heraustreten. Nach
sieben bis acht Tagen ist die Niere ganz solide fixirt und der Streifen
wird entfernt. So vermeidet er die Unannehmlichkeiten, die mit dem
Aufhängen an einer Rippe mit der Resection einer Rippe mit dem An¬
nähen verbunden sind. Ausserdem ist die Operation schnell ausgeführt
und vollkommene Heilung in 20 Tagen erreicht. Er hat 13mal so
operirt mit 13 Erfolgen. Ins Gewicht fällt noch, dass bei seinem Vor¬
gehen keine Alteration des Nierengewebes stattfindet.
XIII. J o n e s c u (Bukarest): Demonstration eines selbst-
thätigen Apparates zum Auseinander halten der
Bauchwunde.
XIV. Lang (Wien) stellt neun Patienten vor, denen er nach
Exstirpation eines Lupus den Defect plastisch ge¬
deckt hat.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Discussion: Meyer (Berlin) berichtet über einige Fälle
von Lupus, die durch flüssige Luft geheilt worden. Theoretisch kann
man sich über die Wirksamkeit der flüssigen Luft noch keine Vor¬
stellung machen, man muss jedoch seiner Ansicht nach zweierlei
streng unterscheiden, einmal die Wirkung auf Bacterienculturen,
andererseits die Wirkung auf Bacterien enthaltende, entzündete Ge¬
webe. Wenn es auf der einen Seite nach den Untersuchungen von
W h i t e, welche er nachgeprüft hat, feststeht, dass flüssige Luft
weder Bacterienculturen abtödtet, noch deren Virulenz herabsetzt, so
ist es andererseits sehr wahrscheinlich, dass flüssige Luft auf ent¬
zündliche Gewebe und die in denselben enthaltenen Bacterien eine
Veränderung im Sinne der Heilung hervorruft.
Die Versuche, welche er nach dieser Richtung hin an Haut
(Kaninchen-Ohr) und Schleimhaut (Uterus und Vagina von Hündinnen)
ausgeführt hat, sind noch von zu kurzer Dauer, um ein definitives
Urtheil abgeben zu können.
*
IV. Sitzungstag. Vormittagssitzung.
Vorsitzender: TiUaux (Paris).
I. Le Comte (Philadelphia) berichtet über die von ihm
angewandte Technik der Amputatio interscapulo-tho-
r a c i c a.
II. Menciere (Reims): Osteotom ia subt roch an¬
te rica wegen Ankylose des Hüftgelenkes bei einem
Manne von 34 Jahren.
Die Verkürzung betrug 43 cm, der Oberschenkel stand im
rechten Winkel zum Abdomen. Es bestand eine enorme Lordose.
Nach der Operation (Demonstration der Photographie) betrug die Ver¬
kürzung nur mehr 5 cm. In der schrägen Osteotomia subtrochanterica,
welche allerdings schwieriger auszuführen ist, als die einfache trans¬
versale Osteotomie, haben wir eine sehr breite Fläche zur knöchernen
Vereinigung, die ausserordentlich günstig für einen soliden Callus
ist. Dadurch ist zwar auch die Markhöhle breit eröffnet, doch schützt
die sorgfältige Anwendung aller aseptischen Cautelen vor Unzuträg¬
lichkeiten.
III. Z i e m b i c k i (Lemberg) : Ueber das Resultat der
Operation eines doppelseitigen Pes equino-varus
bei einem Manne von 34 Jahren.
^ ortragender zeigt die Gypsabgiisse vor und nach der Operation,
die ein gutes Operationsresultat beweisen, und präcisirt seinen Stand¬
punkt dahin, dass er kein Freund einer einfachen Operation sei, die
entweder in der Abtragung des Talus, oder in einer keilförmigen
I arsektomie oder sonst worin besteht. Er hält sie alle für unzu¬
reichend. Man soll erst Alles versuchen, bis eine Reduction möglich ist,
und zwar nicht in einer, sondern in vielen Sitzungen. Nach der Ope¬
ration soll man die \\ unde nicht vollkommen schliessen, da man durch
eine Eiterung das ganze Resultat in Frage stellen kann, sondern sie
tamponiren.
IV. Bloch (Paris) : Tarsoptose und Tarsalgie.
Die schmerzhaften Aftectionen des Fusses müssen in zwei grosse
Gruppen eingetheilt werden: die schmerzenden Tarsoptosen und die
1 arsalgien. Die ersteren wird man an der Schmerzhaftigkeit des Os
cuboideum, an der Abflachung des Tarsus, an dem Auftreten der
Schmerzen nach kurzem Gehen erkennen. Bei den Tarsalgien mangelt
gewöhnlich der Schmerz des Würfelbeines, sie sind an den trophischen
Störungen und an den Schmerzen zu erkenuen, die sofort auftreten,
wenn der Patient den Fuss zum Gehen ansetzt und die Ferse hebt.
Sie erfordern eine besondere Sohle, die die Flexion des vorderen Fuss-
abschnittes gegen den hinteren verhindert, und in welcher ein runder
Ausschnitt ist, der dem Sitze des Schmerzes entspricht.
V. Keen (Philadelphia): Ein Fall von Ligatur der
Aorta abdominalis.
Keen machte bei einem Manne von 52 Jahren mit einem
Aneurysma direct unterhalb des Zwerchfelles die Ligatur der Aorta
abdominalis mit vier sehr starken Seidenfäden. Ob er sie über- oder
unterhalb des Abganges des Truncus coeliacus gemacht hat, weiss er
nicht sicher, so viel ist aber gewiss, dass er sie über dem Abgang der
Aa. renales angelegt hat. Trotzdem muss sich die Circulation der
Femoral- und Nierenarterien wieder hergestellt haben, wenigstens boten
die Nieren bei der Autopsie normale Verhältnisse dar. Der Kranke
schien geheilt und konnte aufstehen. Am 40. Tage traten die Erschei¬
nungen einer inneren Blutung auf und er starb. Die Section zeigte,
dass die Ligatur die Gefässwände vollkommen durchschnitten hatte
und der Tod also an secundärer Blutung erfolgt ist. Von den 13 Fällen
von Aortenaneurysma, die bis jetzt publicirt sind, lebten nach der
Operation 10 noch zwei Tage, 1 zehn Tage (Monteiro), 1 39 Tage
(T i 1 1 a u x) und schliesslich sein Fall 48 Tage.
*
Vorsitzender: Keen (Philadelphia).
VI. Nanu (Bukarest) : Die inter-ileo-abdominale
Operation.
Wegen eines Myxosarkoms machte Nanu die Operation bei
einem 50jährigen Manne. Nach Anlegung einer E s m a r c h’schen
Blutleere unterband er die Beckengefässe und exarticulirte die untere
Extremität mit Resection des Os coxae, ohne das Peritoneum oder die
Becken- und Bauchorgane in Mitleidenschaft zu ziehen. Die Operation
ist bisher achtmal mit fünf Todesfällen gemacht worden.
VII. V u 1 p i u s (Heidelberg) : Die Sehneuüberpflan¬
zung und ihre Erfolge in der Behandlung von
Lähmungen.
Die Sehnenüberpflanzung ist erst in den letzten Jahren eine in
weiteren Kreisen bekannte und gewürdigte Operation geworden, obwohl
ihre Idee — der Ersatz gelähmter Muskeln durch gesunde Nach¬
barn — naheliegend und einleuchtend, ihre Technik bei einiger Uebung
gut zu beherrschen, die Gefahr des Eingriffes verschwindend klein,
der Erfolg überzeugend, die Gelegenheit zu ihrer Ausführung häufig
gegeben ist. V ulpius hat 160 solcher Operationen gemacht. Er
opfert keinen Muskel völlig, sondern näht den peripheren Sehnen¬
stumpf des kraftspendenden Muskels an Nachbarmuskeln. Dadurch
lässt sich ein Gewinn für den gelähmten Muskel erzielen, ohne einen
ebenso grossen Schaden der gesunden Musculatur zuzufügen. Die
wichtigsten Indicationen sind: Traumatische Verluste
von Muskeln, Sehnen und Nerven, die spinalen Lähmungen,
besonders die Kinderlähmun g. Bei theilweiser Lähmung ist hier
die Ueberpflanzung unbedingt angezeigt, bei völliger Lähmung kann
man zwischen der Sehnenverkürzung und der Arthrodese wählen. In¬
dessen hat er gefunden, dass völlige Lähmung nicht häufig vorkommt
und nicht überall da vorhanden ist, wo jede active Bewegung fehlt.
Zu erwähnen sind weiter die cerebrale Kinderlähmung, die apoplektische
Hemiplegie und die paraplegisehe Starre, die L i 1 1 1 e’sche Krankheit.
Der Erfolg muss ein momentaner sein, insofern sofort am Ende der
Operation die normale Mittelstellung des betreffenden Gelenkes erzielt
sein muss. Seine 160 Operationen, von denen 100 mehr als ein Jahr
zurückliegen, haben bewiesen, dass die Stellungsverbesserung eine
dauernde ist, und dass sich zu ihr die Wiederkehr mehr weniger nor¬
maler activer Beweglichkeit gesellt. Der Erfolg steigert sich unter dem
Einflüsse der Nachbehandlung oft in überraschender Weise. Je enger
umschrieben das Lähmungsgebiet ist, je nachbarlicher functionsver¬
wandte Muskeln liegen, je besser diese erhalten sind, desto schöner
natürlich der Erfolg. Bei den spastischen Lähmungen kommt es
nicht nur zu einer Stellungsverbesserung, es schwinden auch die
Krämpfe. Endlich hängen die Erfolge auch ab von der Gegend
der Lähmung: die Verhältnisse liegen für die Operation sehr günstig
am Unterschenkel, also bei paralytischen Fussdeformitäten, weniger
gut am Oberschenkel. Schwieriger ist die Sache am Arm bei Lähmung
der Hand, doch wurden auch hier erfreuliche Resultate erzielt.
Völlige Misserfolge sind sehr selten, wenn der richtige Operationsplan
mit richtiger Technik verwirklicht worden ist. Recidive sind mit zu¬
nehmender Erfahrung viel seltener geworden, sie lassen sich durch
eine Nachoperation beseitigen. Von höchstem physiologischem Inter¬
esse ist das Anpassungsvermögen überpflanzter Muskeln an ihre neue
Function.
VIII. C h i p a u 1 t (Paris): Die Elon gation der Nerven
bei der Behandlung trophischer Störungen: Mal per-
forant, Ulcus varicosum etc.
Seine im Jahre 1893 zum ersten Male publicirte Methode der
Nervendehnung bei den trophischen Störungen basirt heute auf einer
Erfahrung von mehr als 100 Fällen. Die Technik umfasst zwei gesonderte
Operationen. Einmal die Dehnung der Nerven, die zu dem dystrophi¬
schen Gebiet hinziehen, in der Nähe desselben; zweitens die locale
Säuberung, z. B. die Curettage der UlcerationeD, die Abtragung der
Ränder und, wenn möglich, ihre Naht.
Discussion: Peraire (Paris) bestätigt den Erfolg der
C h i p a u 1 t’schen Methode. Er hat zw eimal hei Mal perforant den N.
plantaris gedehnt. In dem ersten Falle, der eine Frau von 40 Jahren
betraf, dehnte er den Plantaris internus und externus; in dem zweiten
Falle, bei einem Mann von 50 Jahren, genügte die Auslöffelung des
Ulcus und die Dehnung des N. plantaris internus. Beide Fälle sind seit
drei Jahren geheilt.
IX. M o r e s t i n (Paris) : Die benignen Formen der
Psoitis.
Vortragender führt ungefähr Folgendes aus: Wenn auch die
classischen Autoren die benignen Formen der Psoitis theoretisch an¬
erkennen, so ist die Erwähnung derselben doch mit so vieler Reserve
geschehen, dass man in praxi kaum erwarten dürfte, einer solchen zu
begegnen. Und in der That wird die Prognose der Psoitis im Allge-
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meinen als sehr zweifelhafte, ja fast immer ungünstige hingestellt. Das
Ende sei die Eiterung und ihr folge früher oder später der Tod. Die
geheilten Fälle sind so wenige, dass viele Autoren in diesen Fällen
die Diagnose in Zweifel ziehen und behaupten, eine Psoitis, die heile,
sei keine gewesen. Man muss doch aber erstaunen, dass eine einfache
Muskelentzündung so schwere Consequenzen haben und das Leben
fast regelmässig in Gefahr bringen soll. Die Eiterungen in der Leber,
der Milz, den Nieren, Lungen, Gehirn etc. heilen und ein Abscess in
einem Muskel zweiter Ordnung sollte allen therapeutischen Massnahmen
trotzen? Die trübe Prognose, die man der Psoitis gestellt hat, ist wohl
zum Theil darauf zurückzuführen, dass Ekrankungen der benachbarten
Organe des Beckens mit ihr verwechselt worden sind, wie es mit den
Abscessen appendiculären Ursprunges geschehen ist. Es ist ja klar,
dass, wenn man eine Psoitis mit Apparaten behandeln würde und
warten wollte, bis Fluctuation eingetreten, um dann zu incidiren, oder
wenn man sich mit der Punction begnügen wollte, dass dann ein un¬
glücklicher Ausgang die Regel sein würde. Andererseits sind die
Infectionen, wie wir sie z. B. im Puerperium sehen, zweifellos weniger
schwer, weil sie durch unser anti-, respective aseptisches Vorgehen
abgeschwächt sind. Immerhin darf man die Psoitis in vielen Fällen
nur als eine Localisation, als einen Beweis der Allgemeininfection
ansehen.
In diesen Fällen von schwerer Allgemeininfection mit Alteration
des Psoas wird allerdings der Eingriff an der schlechten Prognose
nichts ändern können, doch gibt es andererseits Fälle, in denen die
operative Behandlung nur darum nichts bat ausrichten können, weil
sie zu spät erfolgt ist, oder nicht alle Indicationen erfüllt hat. Diese
Fälle, in denen die Allgemeininfection mässig, wo die Entzündung des
Muskels im Grossen und Ganzen die Hauptaffection ist, können viel
von ihrer Bösartigkeit einbüssen, wenn man rechtzeitig eingreift. Er
hat zwei solcher Fälle zu operiren Gelegenheit gehabt. Der erste Fall
betraf einen Mann. Die Eiterung, die sich nach einer grossen An¬
strengung einstellte, sass links und nahm fast die ganze Länge des
Psoas ein. Die Heilung trat schnell nach einer breiten Incision ein.
Die zweite Kranke war ein junges Mädchen, bei der die Psoitis nach
"Typhus auftrat. Hier machte er eine inguinale und eine ileo-lumbale
Incision. Von den von vornherein gutartigen Fällen aber hat er auch
zwei Beobachtungen aufzuweisen. In einem Falle hat sich acht Tage
nach einer Geburt langsam ein Psoasabscess ausgebildet, ohne jede
Störung des Allgemeinbefindens. Eine einfache Incision auf die flue-
tuirende Stelle unterhalb des P o u p a r t’schen Bandes hat hier
die Heilung herbeigeführt, obgleich dieselbe erst sehr spät gemacht
worden war.
Was die Frage anlangt, ob die Myositis eine primäre oder nur
von einem Nachbarorgan fortgeleitet ist, so wird diese mit Sicherheit
nicht beantwortet werden können. In der puerperalen Psoitis wird die
Entzündung häufig secundär sein. Ein Präparat, welches er bei einer
Section gewann, gab eine recht einleuchtende und verführerische Er¬
klärung für eine gewisse Anzahl von puerperalen Psoiten, deren Ur¬
sachen alle klinischen Untersuchungen nicht hätten auffinden können.
Es handelte sich um eine Adenophlegmone der Ganglia iliaca interna,
die auf dem I soas lagen in der Nachbarschaft der Bifurcation der
A. iliaca communis.
Die Psoitis kann aber auch durch Resolution heilen, auch wenn
die Affection doppelseitig ist. M o r e s t i n berichtet die Kranken¬
geschichte einer Frau, die zehn Tage nach einer Geburt von einer
rechtsseitigen Psoitis befallen wurde, die ohne Eiterung im Extensions¬
bett ausheilte. Man darf also das Vorkommen einer benignen Psoitis
nicht ableugnen, die sich an eine benachbarte Adenitis anschliesst oder
auch primär entsteht. Auch der Sternocleidomastoideus contrabirt sich
ja bei Entzündung der benachbarten Drüsen. Hier genügen oft die
einfachsten Mittel, um eine Heilung herbeizuführen.
X. Keen (Philadelphia) demonstrirt ein Compressions-
instr ument zur Behandlung des Aneurysmas der
Aorta abdominalis.
Es soll permanent das Lumen der Aorta verengen und die Kraft
des Blutstromes vermindern. Das Instrument wird der Aorta direct
applicirt. Die Versuche, die er an Hunden angestellt hat, scheinen ihm
ausgezeichnet zu sein.
XI. De Fabbro (Conegliano) berichtet über einen Fall von
Aneurysma der Carotis interna, den er durch Ligatur
geheilt hat.
*
IV. Sitzungstag. Nachmittagssitzung.
Vorsitzender: Tillaux (Paris).
Auf der Tagesordnung ist die Behandlung der infi-
c i r t e n Wunden.
Als erster Berichterstatter präcisirt
I. Bloch (Kopenhagen) seinen Standpunkt dahin : Die anti¬
septische Methode Liste r’s, die Behandlung mit Carbolsäure, gründete
sich auf die Behandlung der inficirten Wunden und die eomplicirten
Fracturen. Obgleich alle Chirurgen einstimmig die Superiorität dieser
Methode anerkannten, suchte man doch immer weiter nach neuen Heil¬
mitteln, die wirksamer als die Carbolsäure sein könnten. Es folgte
dann der grosse und doch einfache Umschwung von der Antisepsis
zur Asepsis, und das Resultat der vielen Forschungen und Arbeiten,
die die Behandlung der verschiedenen Wunden zum Gegenstand hatten'
ist schliesslich darauf hinausgekommen, dass vom praktischen Stand¬
punkte aus jede Wunde ohne Ausnahme als eine infi-
c i r t e betrachtet werden, und dass die Infection und ihre Compli-
cationen der Retention von mikrobenhaltigem Secret zur Last gelegt
weiden muss. Daraus folgt, dass man, um eine Wunde wirksam
behandeln zu können, zwei Ziele im Auge haben muss: Die Mikroben
oder ihre schädlichen Producte unschädlich zu machen und die Re¬
tention von Secret zu vermeiden, mit anderen Worten, Antisepsis
und Drainage zu vereinigen. Um aber die Reinfection einer
so behandelten Wunde zu vermeiden, muss man sie sorgfältig und
lationell verbinden. Redner zeigt dann, wie sehr die Meinungen der
verschiedenen Autoren von einander abweichen und wie verschieden¬
artig ihie Resultate sind. Indem er sich auf seine Eifahrungen stützt,
muss er erklären, dass jede Wunde antiseptisch" behan¬
delt werden muss und dass die Carbolsäure das beste Anti-
septicum ist; dass man die Wunden drainiren muss und dass man,
um sie rationell zu verbinden, einen absolut sterilen Verband anlegen
muss, der wenigstens im Moment der Application antiseptisch zu
gestalten ist. Der Verband muss ferner aufsaugend sein, um die Wunde
auszutrocknen, die Secretion zu hemmen, damit sie nicht durch diese
in direeten Contact mit der mikrobenhaltigen Luft kommt. Die Luft
selbst soll durch den Verband filtrirt und so, bevor sie in Berührung
mit der Wunde gelangt, von ihren Mikroben befreit werden. Zum
Schlüsse setzt er auseinander, was er über die „internen antiseptischen
Heilmittel“ und die antifebrilen Medicamente denkt, denen er mit sehr
wenigen Ausnahmen nicht traut. Er kritisirt dann die Wirksamkeit
dei Sei umtherapie, besonders die des Antistreptococcenserums, und
glaubt, dass man gut thut, erst abzuwarten, bis die Erfahrungen hier¬
über sich auf einer solideren Basis stützen können und auf einer
sicheren Abschätzung der Tragweite ihrer Wirkungen, bevor man sie
als Heilmittel anwendet.
Als zweiter Berichterstatter spricht
II. Lejars (Paris): Die Frage sei durchaus eine praktische.
Die experimentellen und bacteriologischen Forschungen haben zwar
lecht schätzenswerthe, doch oft unerwartete, nicht selten sich wider¬
sprechende Resultate geliefert. Ihnen fehlt allen an sich die Controle,
die Beobachtung am Menschen. Die Lösung der Frage, so complicirt
sie ist, ist demnach einfach oder wird es wenigstens werden, und um
sie mit Nutzen zu studiren, ist es vortheilhaft, verschiedene Kategorien
aufzustellen :
1. Frisch inficirte Wunden, noch ohne locale oder allgemeine
Reaction, man würde vielleicht besser sagen, Wunden, von denen man
vermuthet oder voraussetzt, dass sie inficirt sind. Diese Voraussetzung
muss sich auf jede accidentelle Wunde ausdehnen. Wir wissen ja,
dass sogar die operativen Wunden weit entfernt sind, mikrobenfrei zu
sein. Andererseits haben wir kein Hilfsmittel, bei einer frischen Wunde
zu erkennen, mit welchen Mikroben sie inficirt, wie deren Virulenz
und was ihre letzte Wirkung sein wird. Das äussere Aussehen der
Wunde gibt uns keinen Aufschluss. Jede accidentelle Wunde muss
also wie eine inficirte behandelt werden. Da es nun erwiesen ist, dass
die Resorption des Virus eine fast unmittelbare ist, daher muss die
Reinigung der Wunde möglichst schnell geschehen, um wirksam zu
sein, aber wenn sie auch vorgenommen wird, immer wird sie nützlich
sein. Wir sind zwar nicht im Stande, alle Keime in der Wunde zu
zerstören, aber die natürliche Abwehr des lebendigen Gewebes hilft
uns, indem es kräftig theilnimmt an dem Kampfe gegen die
Infection.
Unsere Therapie wird also mit einer mechanischen, minutiösen
Reinigung der Wunde, Entfernung der etwa vorhandenen Trümmer
und wenn es nothwendig ist, Excision der zerquetschten Theile be¬
stehen, indem wir jedoch die Integrität der lebenden Zelle respectiren
und sie in ihrer Reaction gegen die Infection unterstützen. Hier er¬
füllen steriles Wasser, sterilisirte, gekochte Compressen ihren Zweck.
Nicht die Natur der angewendeten Flüssigkeit, die Art ihrer Anwendung
ist massgebend für das Resultat. Auch die antise{)tischen Lösungen,
vorausgesetzt in der Concentration, dass sie das lebende Gewebe nicht
schädigen, haben hier keinen anderen Effect, als den der mechanischen
Reinigung. Der Verband muss aseptisch, aufsaugend, schützend sein und
immobilisirend.
870
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2. Inficirte Wunden, bei denen die Infection sich schon in localen
oder allgemeinen Reactionen offenbart, mit oder ohne Eiterung der
Wunde. Hier wird die specifische Serumtherapie angezeigt sein. Sie
ist die wissenschaftlich begründete, die natürliche, die Methode der
Zukunft. Leider hat sie bisher noch enge Grenzen. Wir haben nur
das Tetanus- und das Antistreptococcenserum. Gegen die anderen
Infectionen der Wunden haben wir noch kein wirksames Serum,
und bei den Mischinfectionen sind wir vollkommen entwaffnet. Hier
können wir nun, wenn eine solche Wunde in voller Eiterung ist, sie
nach Möglichkeit öffnen, säubern, drainiren und für einen nach den
angeführten Principien hergestellten Verband sorgen. Hei gewissen
Formen von Eiterung und Gangrän, besonders bei Höhlenwunden,
scheint das Sauerstoffwasser auf die Anaeroben mächtig einzuwirken.
Verschiedentlich ist schon der Beweis seiner Wirksamkeit erbracht
worden.
3. Inficirte Wunden mit schwerer Allgemeininfection. Traumati¬
sche Septikämie.
Auch hier sollte mau von der Serumtherapie Erfolge erwarten,
obgleich ihre Wirkung viel unsicherer sein wird, als in den ersten
Stadien der Infection. Die Serumtherapie ist bei den traumatischen
Septikämien noch nicht oft angewendet worden, und doch verdient sie
besonders in grossen Dosen häufig versucht zu werden. Natürlich darf
man dabei die locale Behandlung nicht vernachlässigen, die auch hier
umso wirksamer ist, je früher und je vollkommener sie geschieht. Die
Serumtherapie aber unterstützt den Organismus in seinen natürlichen
Abwehrmassregeln, erhöht die vitale Energie, den Blutdruck, die
Diurese und ist somit die wirksamste Methode.
Zur Discussion spricht Maylard (Glasgow7).
III. Jacobs (Antwerpen) : Beitrag zur chirurgischen
Behandlung der spastischen Verengerungen des
Oesophagus und im Besonderen der Cardia.
Da die Suggestion, die Hydrotherapie in diesen Fällen oft
erfolglos angew'endet werden, der methodische und progressive
Katheterismus nicht in allen Fällen gute Resultate gibt, ist Vor¬
tragender auf die Idee gekommen, die spastischen Verengerungen des
Oesophagus zu behandeln wie die Contractionen des Sphincter ani,
mit forcirter Dilatation. Er hat sich ein Instrument construiren lassen,
dessen unteres, in den Oesophagus eingeführtes Ende sich wie ein
Regenschirm öffnet und so die verengte Partie gewaltsam dehnt. Er
hat sich durch Leichenversuche vorher überzeugt, dass eine Zerreissung
des Oesophagus unmöglich war.
IV. Fort (Paris) : Die Behandlung der Verengerun¬
gen des Oesophagus.
Vortragender wendet eine sogenannte lineare Elektrolyse an.
Bei acht Verengerungen in Folge von Verbrennungen hat er
acht Heilungen erzielt. Bei organischen Verengerungen macht er die
Dilatation.
V. Voinitsch-Sianojentzky (St. Petersburg) : P e r i-
cardotomie mit einer Längsincision durch die
Insertion des M. rectus abdominis.
Die Operation ist sehr einfach. Die Incision entspricht genau
der anatomischen Achse des Mediastinum anticum und ermöglicht es
so, das Pericard zu eröffnen, ohne die Pleura in Mitleidenschaft zu
ziehen, wie gross auch der Erguss in den Herzbeutel sei. Doch soll
diese Operatiousmethode am besten nur für die kleinen pericarditischen
Ergüsse Vorbehalten bleiben oder für die Fälle, bei denen eine
Diagnose der Grösse des Ergusses nicht möglich ist. Diese Incision
ermöglicht die beste Drainage des Pericards. Dort, wo die linke
sechste Rippe mit dem Sternum articulirt, ist das Pericard am besten
zu punctiren.
VI. Nanu (Bukarest) berichtet über einen Fall von
Herznaht.
Es handelte sich, wie in dem R e h n’schen Falle, um eine
Stichverletzung im dritten Intercostalraume mit Durchbohrung der
Pleura. Der Kranke ging am sechsten Tage zu Grunde. In der Pleura
landen sich 2 l einer fötiden Flüssigkeit. Seine Beobachtungen haben
einiges Interessante: Einmal konnte man bei der Autopsie constatiren,
dass die Naht des Herzens vollkommen war, dann konnte man
während der Operation beobachten, dass die vielfachen Manipulationen
am Herzen und in der Pericardialhöhle keinerlei Störungen im Gefolge
hatten, und dass der vorher fadenförmige und irreguläre Puls gleich
nach der Naht der Herz- und Pericardw'unde fast einen normalen
Rhythmus erlangte.
VII. Nanu (Bukarest): Ueber die Holstead’sche Ope¬
ration beim Carcinoma mammae.
Redner berichtet, dass er in einem Falle die gesunde Mamma-
nach der Mitte hin transplantirt hat. Er glaubt nicht, dass die Ab¬
tragung beider Mm. pectorales so schwere Schädigungen im Gebrauch
der Extremität mit sich führt, wie man ihnen zuschreibt.
VIII. Bonomo (Florenz): Die Therapie der Hernia
c r u r a 1 i s.
Das operative Verfahren des Vortragenden enthält keine be¬
sonderen Neuheiten.
Zur Discussion bemerkt Cliamponniere (Paris), dass er von
seinen 58 Cruralhernien, die er operirt hat, sehr selten ein Recidiv
gesehen hat. Er legt auf zwei Punkte besonderen Werth: 1. Aus¬
gedehnte Oeffoung des Bruchsackes, Spaltung der Fascia cribriformis,
damit auch das Infundibulum des Sackes erreicht werden kann. Nie
soll man sich mit der Entfernung des äusseren Theiles des Bruch¬
sackes begnügen. 2. Genauester Verschluss des Schenkelringes von
unten nach oben.
IX. Roques de Fursac (Paris) berichtet über einen
Fall von Pseudarthrose des Humerus mit Radialis-
lähmung, den er durch die Naht des Humerus und Implantation
des N. radialis auf den Medianus geheilt hat.
*
V. Sitzungstag. Vormittagssitzung.
I. Maylard (Glasgow): Ueber den Werth der früh¬
zeitigen explorato rischen Operationen des Magens
bei schweren und anhaltenden gastrischen Sym¬
ptomen.
Der Zweck seiner Mittheilungen, führt Vortragender aus, sei ein
dreifacher : 1. Die Bedingungen klar zu legen, welche für eine früh¬
zeitige Operation von besonderem Werthe sind, 2. klar zu machen,
dass die Operation einfach und ungefährlich ist, 3. die beste Methode
der Operation anzugeben.
Die Ausführungen enthalten nichts Neues. Kurz vor der Operation
will er ein Nährklystier und eine Injection von Liquor Strychni ge¬
geben wissen. Nach der Eröffnung der Bauchhöhle w'ird der Magen
nicht nur äusserlicli besichtigt und palpirt, sondern auch nach Er¬
öffnung von innen besehen, und zwar mit blossem Auseinanderhalten
der Oeffnung oder auch vermittelst besonderer von ihm angegebener
Specula. Der inneren Inspection folgt die Palpation, die eventuell
bimanuell ist.
Als Beweis für die Nothwendigkeit dieser frühen Explorativ-
operation führt Maylard die Krankengeschichte einer Dame an, die
jahrelang an Dyspepsie litt. Die Diagnose lautete auf ein altes Ulcus
und die Laparotomie entdeckte einen — chronischen gastrischen Katarrh.
Maylard betonte, dass die Patientin durch die Operation nicht die
leichtesten Misserfolge erlitt, die Wirkung auf das Gemüth der
Patientin soll aber eine ausserordentlich günstige gewesen sein und
nun wurde sie durch den Gebrauch geeigneter Arzneien und Nahrung
vollständig geheilt.
II. Rydygier (Lemberg) berichtet über die Magen¬
operationen, die er seit 1881 bis zum Tage gemacht hat.
III. v. Eiseisberg (Königsberg) ebenfalls über 150
Magenoperationen, die er in den letzten vier Jahren in
Königsberg ausgeführt hat.
IV. und V. Ueber Magenchirurgie spricht noch Hart¬
mann (Paris) und Segall (Genua), der speciell die Erfolge der
Pyloroplastik bei Stenosen betont.
VI. Sorel (Le Havre): Ueber die Behandlung der
Appendicitis.
Nach den ausführlichen Berichten einer Reihe von Kranken¬
geschichten zieht der Redner die Schlüsse aus seinen Beobachtungen,
die darin gipfeln: Es gibt Anfälle von Appendicitis, die durch
Resolution ausheilen. Dieser glückliche Ausgang tritt am häufigsten
beim ersten Anfalle auf. Doch gibt es im Beginne eines Anfalles kein
Zeichen, auf Grund dessen man die gutartigen Fälle von denen unter¬
scheiden könnte, bei welchen es zur Abscessbildung oder zur Perforation
mit anschliessender Peritonitis kommt. Daher glaubt er, dass man bei
den ersten Anzeichen einer Appendicitis unverzüglich operiren soll,
denn die frühzeitige Operation sichert die Heilung und gestattet
zu gleicher Zeit, die Radicaloperation in einfachster Weise anzu-
schliessen. (Fortsetzung folgt.)
Verant wörtlicher Redacieur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
Die „Wiener klinische
Wochenschrift“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von minde¬
stens zwei Bogen Gross-
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tion sind zn richten an
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gen und Geldsendungen an
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Bidiiuiger iuuwiruung der Herren Professoren Drs.
E. Albert, G. Braun, O. Chiari, Rudolf Chrobak V R v EWr q tp™
M. Gruber M. Kaposi, A. Kolisko, E. Freih. v M.CT'Nei
R. Paltauf, Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, G. Toldt, A. v VoM
J. v, Wagner, H. Freih, v, Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gussenbaner, Ernst Ludwig, Edmund Nensser,
L. R. v, Schröttcr und Anton Weichsolbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft derÄerzte in Wien.
Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel.
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-4>
Wickenburggasse 13
XIII. Jahrgang.
Wien, 27. September 1900.
Nr. 39.
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Origmalartikel: 1. Aus dem staatlichen serotherapeutischen Institute in
Wien (Vorstaud Prof. R. Paltauf). Zur »intravitalen« Neutral-
rothfarbung der Leukocyten. Von Dr. Hugo Marcus
Z. Aus der IH. medicinischen Abtheilung des k. k. Allgemeinen
Krankenhauses in Wien. Ueber »Acetopyrin«, ein neues Anti-
pyreticum. Von Dr Josef Winterberg, Assistenten obiger Ab-
Abtbeüungnd Cand’ med' K°b®rt Braun> Hospitanten derselben
3. Aus der fflinik Chrobak in Wien. Ein Fall von Elevatio uteri mit
^rrUD^de3 £°.rpUS, V0Q der Port!o vaginalis unter Debiscenz
,ei\jx on Privatdocent Dr. H, Ludwig, Assistent.
1? dem Civüsp.tale von Triest. Hyperglobulie und Splenomegalie.
Hyperglobuue und Splenektomie. Von Dr. V. Cominotti.
II. Referate: Verhandlungen der Deutschen pathologischen Gesellschaft.
Von E. Ponfick. Ref. Schlagenhaufer. — Fliegenlarven als
gelegentliche Parasiten des Menschen. Von Erich Peiper Ref
Schlagenhaufer.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
Erwiderung^ zum Aufsatze in Nr. 37 dieser Wochenschrift: E. Schiff
ll II. III. IV. V. * */d R Preund, »Der gegenwärtige Stand der Radiotherapie«
Von Pnvatdocenten Dr. Karl Ullmann.
Ant^°1öt ,a-Uf vors,eheride Erwiderung. Von Universitätsdocent Dr.
E. Schiff und Dr. L. Freund.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
Aus dem staatlichen serotherapeutischen Institute i
Wien (Vorstand Prof. R. Paltauf).
Zur „intravitalenu Neutralrothfärbung der
Leukocyten.
Vorläufige Mittheilung.
Von Dr, Hugo Marcus.
Durch die in Nr. 36 der Münchener medic
niscien Wochenschrift, 1900, erschienenen Arbe
J. Platos: »Ueber die Beurteilung des Lebens
zustandes und der Leistungen d er Phagocy ten«
hm ich veranlasst, einzelne Ergebnisse meiner Untersuchunge
über leukocytenschädigende Substanzen, soweit hiebei di
-Neuti alrothfarburg zur Anwendung kam, zum Gegenstand
der folgenden vorläufigen Mittheilung zu machen
In der genannten Arbeit gelangt Plato u. A. zu folgen
den Ergebnissen: b
1. In lebenden Leukocyten färben sich vorwiegend solch
pubstanzen eiweissartiger Natur, die durch Phagocytos<
in die Zellen aufgenommen worden sind.
2 Diese Färbung erweist sich in ihrem Auftreten, ihre
z«StändadernZelkn!er Weaen“iCh ab,,ängig V°" dem LebenS
Wpd die ZeIle z- B- einei* langsam ansteigenden schädi
g den 1 emperatur ausgesetzt, so entfärben sich ihre Ein
Schlüsse.
d ir3 * 5 * * 8 9 w' 'EntfärW der Einschlüsse wird durch Reductior
des 1 arbstoffes von Seiten der g e s c h ä d i g t e n Zelle erklärt
4. Las zeitliche Auftreten dieser Entfärbung ist ah
iiterium des Lebenszustandes der Zelle und zun
JNacnweis graduell verschiedener zellschädigender Einwirkunger
in der mannigfaltigsten Weise zu verwerthen, wobei stets
in Betracht gezogen werden muss, dass hier nicht, wie bisher
vorwiegend, morphologische Merkmale, wie das Auftreten
der Kugelgestalt, das Aufquellen oder der Zerfall der Zellen,
sondern ein ganz bestimmter, durch das Phänomen der Ent¬
färbung charakterisirter Umschwung in dem physiologi¬
schen Ablauf der Functionen des Zelllebens den Eintritt
der Schädigung anzeigt.
»Im Allgemeinen tritt bei langsamem Ab¬
sterben d er Phagocy ten einmal der Zeitpunkt
ein, in dem sie den in ihren Einschlüssen ent¬
haltenen Farbstoff reduciren, also entfärben.«
5. Mischt der Verfasser Exsudat vom gesunden Meer¬
schweinchen mit Neutralroth, so färben sieh nur sehr verein-
zelte Zellen; bringt er jedoch zu diesem Exsudate eine durch
Wärme abgetödtete Bouilloncultur von Vibrio berolinensis,
, centrifugirt, schüttelt auf und lässt stehen, so findet er nach
einiger Zeit die Zellen voller rot her Kugeln und
Stäbchen, »den mehr oder minder veränderten, durch
Phagocy tose aufgenommenen und mit Neutralroth vital
gefärbten Vibrio berolinensis.«
- ^ Bei Zimmertemperatur hält sich die Färbung 24 bis
48 Stunden, bei 37° tritt meist innerhalb weniger Stunden
Entfärbung ein.
<. Exsudat von kranken Meerschweinchen, z. B. durch
Chinin geschädigten, nimmt schwächere Färbung an oder ver¬
liert, einmal gefärbt, die Färbung sehr rasch.
8. Weniger als 0 6%ige Kochsalzlösungen beeinträchtigen
die härbung unter allen Umständen, stärkere Lösungen aber
bewirken zuweilen eine vorübergebende Steigerung der Färbungs*
intensität, der sich dann erst eine Entfärbung anscbliesst.
9. Wie im Allgemeinen zum Nachweis der zellschädi¬
genden Wirkungen fremdartiger Sera, so eignet sich diese
872
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 39
Methode ganz besonders zur Prüfung des antileukocytären
Serums.
Blutserum von Kaninchen in einer Verdünnung von 1
zu 9 Kochsalzlösung entfärbt Meerschweinchen - Leukocyten
erst nach mehreren (mindestens fünf) Stunden.
Das Blutserum eines Kaninchens aber, das am 8. und
10. Juni d. J. je eine halbe Meerschweinchenmilz intraperito¬
neal injicirt erhalten hatte, entfärbte in derselben Verdünnung
und unter denselben Bedingungen am 14. Juni Meerschwein-
ehenleukocyten schon innerhalb V/2 Stunden, am 18. Juni
innerhalb 35 Minuten.
10. Bei der Anordnung der Versuche muss darauf geachtet
werden, dass jedes Präparat unter den gleichen Um¬
ständen angefertigt und beobachtet wird.
11. In geronnenen Exsudaten bleiben die Färbungen
länger erhalten.
12. Die Verschiedenheit des Farbentones
der gefärbten intracellularen Mikroorganismen gibt ein diffe¬
rentialdiagnostisch vielleicht nicht unwichtiges Merkmal an
die Hand.
So färben sich Gonococcen im Allgemeinen fuchsinroth,
Staphylococcen z. B. gelbroth; doch hängt der Farbenton auch
von dem Lebenszustande der Zelle und dem Quellungszu¬
stande des Mikroorganismus ab. Die an den Zelleinschlüssen
zu beobachtenden verschiedenen Farbentöne lassen sich in
vitro am Farbstoff selbst leicht durch Zusatz minimaler Spuren
von Alkalien, respective Säuren, in einander überführen
(Ehrlich).
So weit die Ergebnisse Plato’s.
Diesen will ich nun im Folgenden Ergebnisse meiner
Untersuchungen anreihen, ohne mich auf eine ausführliche
Wiedergabe meiner Versuche einzulassen, was gelegentlich er¬
folgen soll.
1. Setzt man zu Kaninchen- oder Meerschweinchenex¬
sudat, das man am leichtesten durch Injection von Aleuronat-
brei oder abgetödteten Staphylococcen in die Bauch- oder Brust¬
höhle erhält, eine Spur wässeriger Neutralrothlösung, so tritt
allmälig eine Färbung der Zellgranula ein.
Der Farbenton, den die Granula dabei annehmen, ist zu¬
nächst am häufigsten gelbröthlich, um später zuweilen car-
moisinroth zu werden; später tritt dann wieder mehr die gelb¬
liche Färbung der Granulationen in den Vordergrund, um
dann einer Entfärbung der Granula Platz zu machen.
Doch findet man, namentlich in Präparaten, die schon
einige Zeit gestanden sind, zuweilen neben Zellen mit car-
moisinrothen Granulationen auch solche mit gelblichen Granu¬
lationen. Alkalitätsverhältnisse scheinen auf die Farbennuance
von grossem Einflüsse zu sein.
2. Derartige Präparate lassen sick einfach in der Weise
beliebig lang gut conserviren, dass man ein Tröpfchen des
gefärbten Exsudats auf ein Deckgläschen bringt, es bei Körper¬
wärme antrocknet und in Balsam einschliesst.
3. In geronnenem Exsudate tritt die Färbung der
Granula bedeutend später auf; in diesem Falle finden sich
zuweilen blos einzelne Zellen gefärbt. Ist jedoch eine solche
Flocke in toto gefärbt, so erhält sich bei Einwirkung leuko-
cytenschädigender Substanzen die Färbung weitaus am längsten
im Centrum. Andererseits lässt sich zeigen, dass durch Schütteln
des mit Bouillon oder physiologischer Kochsalzlösung versetzten,
geronnenen Exsudates der Raschheit und Vollständigkeit der
Färbung Vorschub geleistet wird.
Unter dem Mikroskope sieht man, z. B. an einem
durch Gerinnung formirten Leukocytenhaufen, dass die vor¬
handenen, ungefärbten Granula ganz allmälig Farbe an¬
nehmen.
Macht man das Exsudat durch Zusatz von gleichen
Theilen einer l%igen oxalsauren Natronlösung ungerinn-
b a r, so tritt verhältnissmässig rasch ein tiefroth gefärbtes Sedi¬
ment auf, das beinahe nur aus gefärbten Leukocyten besteht.
Durch Zusatz von Methylenblau zu Kaninchenexsudat
tritt keine derartige »intravitale« Granulafärbung wie bei
Neutral rothzusatz auf.
4. Was Form und Grösse der Granula anlangt, so finden
sich neben staubförmig kleinen Formen, die meist hell gefärbt
sind, auch grössere Formen, die coccen-, komma-, selbst
stäbchenförmig aussehen und meist tiefroth gefärbt sind.
In wieferne diese Formen sich von intracellulär gelagerten
Mikroorganismen morphologisch oder färberisch unterscheiden
lassen und inwieweit eine Verwechslung mit diesen stattfinden
kann, darüber sind meine Untersuchungen noch nicht abge¬
schlossen.
5. Lässt man mit Kochsalzlösung verdünntes, gefärbtes
Exsudat eine Reihe von Stunden im Brutkasten stehen, so
sieht man, dass, während aus einem Theile der Zellen die ge¬
färbten Granulationen einfach verschwinden und nur mehr
grobe, stark lichtbrechende, ungefärbte Granula, die der Zelle
in toto ein glänzendes Aussehen verleihen, in geringerer
Anzahl vorhanden sind, im Gegensätze zur frischen Zelle, die
in toto erscheint mehr matt, die allergrösste Mehrheit eine
Veränderung erfahren hat, die successive in Entfärbung, Auf¬
hellung des Protoplasmas an der ganzen Peripherie oder an
einer circumscripten Stelle, die dann zuweilen kugelförmig
vorgestülpt wird, besteht; sodann kommt es bis zum Ver¬
schwinden fast sämmtlieher färbbarer Granulationen und die
Zelle stellt nunmehr eine grosse, homogene Vacuole dar.
Am längsten erhalten sich dabei die perinucleären Granu¬
lationen, die zuweilen mit dem Kern gleichsam aus der leeren
Zelle herausgedrängt erscheinen.
6. Centrifugirt man gefärbtes Exsudat, wäscht die sedi-
mentirte Leukocytenmasse mit physiologischer Kochsalzlösung
und überträgt sie sodann in diese Flüssigkeit, so verschwinden
die gefärbten Granulationen nach einiger Zeit, während die
Flüssigkeit Farbe annimmt.
7. Verwendet man zu diesem Versuche Exsudat, das aus
der Brusthöhle eines nach intrapleuraler Infection mit Staphy¬
lococcen eingegangenen Kaninchens stammt, wo sich zum
grossen Theile kydropisch veränderte Leukocyten finden, so
erhält man keine oder nur sehr vereinzelte Neutralrothfärbung
der Zellen.
Bei Anstellung des Versuches in vitro ist der Boden¬
satz' häufig viel schwächer gefärbt als beim Aleuronat-
exsudat.
8. Versuche mit einer Reihe von bacteriellen Substanzen
— an mit Kochsalzlösung versetztem Exsudate ausgeführt —
haben gezeigt, dass bei manchen derselben die Entfärbung
und das Auftreten der Vacuolisation viel rascher als bei
anderen oder im Controlpräparate auftritt.
Inwieferne daraus jedoch gewisse Specifitäten abgeleitet
werden können, oder welchen Einfluss auf diese Erscheinungen
die verschiedenen Alkalitätsgrade der zugesetzten Substanzen
haben, dass müssen noch weitere Versuche, insbesondere Thier¬
versuche, zeigen. So sieht man auch bei Pyocyaneusexsudat
schon im Thierkörper nach meinen Erfahrungen die be¬
schriebenen Zell Veränderungen.
9. Setzt man zu normalem Exsudate etwas leukocidin-
haltige Flüssigkeit, so tritt die Entfärbung rascher als im
Controlpräparate ein.
Da mir derzeit noch kein kräftiges Leukocidin zur Ver¬
fügung steht, so bedarf es auch hier noch weitererer Studien,
um eine specifische Wirkung desselben festzustellen.
10. Was die Genese der Entfärbung anlangt, so gewinnt
man zuweilen den Eindruck, als ob gewisse färbbare Granula
hiebei aus der Zelle ausgestossen würden.
11. Bei Einwirkung von hypotonischen Kochsalzlösungen
und von schwachen Alkalien sieht man rasch die beschriebenen
veränderten, nicht färbbaren Formen entstehen, während bei
Zusatz von hypertonischen Kochsalzlösungen oder schwachen
Säuren die Leukocyten schrumpfen, ihre Granulationen
gröber, stärker gefärbt und vielfach näher aneinander
gerückt sind.
Nach einiger Zeit treten jedoch auch hier entfärbte und
vaeuolisirte Formen auf.
12. Bei Zusatz von Meerschweinchenserum zu Kaninchen-
leukocyten, insbesonders solchen, die in Kochsalzlösung auf-
Nr. 39
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
873
geschwemmt sind, kommt es nach einigen Stunden zum Verlust
der Färbung und Auftreten der Vacuolisirung.
13. Der Zeitpunkt des Eintretens der Entfärbung und
des Auftretens der Vacuolisirung schwankt innerhalb ziemlich
weiter Grenzen und hängt wahrscheinlich von einer ganzen
Reihe von Factoren ab.
14. Die beschriebenen Leukocytenformen finden sich
auch in menschlichem Eiter, der einige Zeit stand.
15. Auch die Vorderhorn- und Spinalzellen des Rücken¬
markes beim Kaninchen lassen sich intravital färben ; es resul-
tiren dabei N i s s fische Structuren; die einzelnen chromatischen
Blöcke setzen sich aus kleinen intensiv roth gefärbten Körnchen
zusammen. Auch solche (Zupf-)Präparate lassen sich einfach
durch Auftrockneu conserviren.
Als Resultat meiner bisherigen Untersuchungen ergibt
sich, dass sich durch die Neutralrothmethode der morphologisch
intacte Leukocyt färbt, der geschädigte nicht.
Mit dem Verschwinden der Färbung geht das Auftreten
der Vacuolen Hand in Hand.
Aus der III. medicinischen Abtheilung des k. k. Allge¬
meinen Krankenhauses in Wien.
Ueber »Acetopyrin«, ein neues Antipyreticum.
Von Dr. Josef Winterberg, Assistenten obiger Abtheilung, und Cancl. med.
Robert Braun, Hospitanten derselben Abtheilung.
Als im Jahre 1874 Kolbe die Salicylsäure und bald
darauf das Natriumsalz derselben als antiseptische Substanz
bekannt gemaeht hatte und kurze Zeit später diese beiden
Präparate Eingang in die Therapie gefunden hatten, wurden
bald aus allen ärztlichen Kreisen zahlreiche Publicationen ver¬
öffentlicht über die glänzenden Heilerfolge, die man mit den
Salicylpräparaten bei rheumatischen Affectionen erzielt hatte.
Während man bis zu dieser Zeit dem Rheumatismus fast
ebenso machtlos und rathlos gegenüberstand, wie vielen anderen
Affectionen des Organismus, hatte man nun in der Salicyl¬
säure geradezu ein specifisches Heilmittel für diese Krankheit
gefunden, die, nach alter Methode behandelt, sich oft zur
Qual des Arztes durch Wochen und Monate hinzog. Man
konnte der Schmerzen und der Gelenksschwellungen absolut
nicht Herr werden, Umschläge und alle möglichen Einreibungen
wurden angewendet, doch ohne jeden Erfolg.
Unter diesen Verhältnissen konnte es nicht Wunder
nehmen, wenn mit Rücksicht auf diese grossen Vortheile, die
uns das neugefundene Mittel darbot, anfänglich ganz und gar
die Nachtheile übersehen wurden, die sich häufig bei der An¬
wendung desselben, namentlich bei etwas längerem Gebrauche
einzustellen pflegten. Bald wurden Klagen laut über alle mög¬
lichen Nebenerscheinungen, die den Werth der Salicylsäure
und ihres Natriumsalzes in einzelnen Fällen entweder sehr
herabdrückten oder sogar vollständig illusorisch machten. Es
traten schwere Störungen von Seite des Verdauungsapparates
auf; - heftiges Magendrücken, Brechreiz und wirkliches Er¬
brechen waren nichts Seltenes, und zu den regelmässigen
Folgeerscheinungen fast in allen Fällen gehörte die schon
nach Gebrauch weniger Pulver auftretende Appetitlosigkeit.
Daneben stellte sich oft heftiges Ohrensausen bis zur voll¬
ständigen Vertaubung ein. In einzelnen Fällen Hessen sich
diese Erscheinungen durch Herabgehen in der dargereichten
Dosis coupiren, doch in vielen anderen musste das Mittel voll¬
ständig ausgesetzt werden, und wir standen nun diesen Fällen
ebenso hif los gegenüber, wie es früher jeder rheumatischen
Erkrankung gegenüber ganz allgemein war. Es entsprang
daraus der Wunsch, nach neueren Mitteln zu' suchen, die dem
Rheumatismus gegenüber sich ebenso günstig verhielten wie
das salicylsäure Natrium, sich aber von diesem durch das
Fehlen aller Nebenerscheinungen unterscheiden sollten.
Wenn wir die diesbezügliche Literatur durchgehen, so
finden wir Veröffentlichungen über die auf diese Art ent¬
standenen Salicylpräparate: Salipyrin, Salophen, Salol, Sali¬
genin, Malakin und auch noch über eine Reihe von anderen
derartigen Präparaten. Von diesen hat sich wohl am meisten
das Erstgenannte, das Salipyrin, eingebürgert. Es waren bei
allen diesen Präparaten die Nebenerscheinungen wohl etwas
geringer, doch immerhin in einzelnen Fällen in der Art auf¬
getreten, dass der Fortschritt nach dieser Richtung kein allzu¬
bedeutender war.
Die Ursache dieser unangenehmen Nebenwirkungen, be¬
sonders die Störungen im Verdauungsacte sind mit grosser
Wahrscheinlichkeit darauf zurückzuführen, dass die Salicyl¬
säure in allen bisher bekannten Salicylpräparaten sich im
Magensafte gut löst und in diesem Zustande die Verdauungs-
thätigkeit des Magens hemmt, wodurch es gleichsam zu einer
toxischen Gastritis mit ihren Folgeerscheinungen kommt. Durch
diese Erkenntniss war der Weg ziemlich deutlich vorgeschrieben,
wie man zu einem Salicylpräparate gelangen könnte, das. mit
den glänzenden Vorzügen der Salicylsäure ausgestattet, keine) lei
unangenehme Nebenerscheinungen mit sich brächte. Es musste
die Salicylsäure in eine Form gebracht werden, in welcher sie
im Magensaft unlöslich, erst im Darme, im alkalischen Saft
desselben, zur Lösung gebracht wurde, um auf diese Weise
die ungünstige Einwirkung auf den Magen auszuschalten.
Das erste dieser Präparate war das Aspirin. Dasselbe
ist reine Acetylsalicylsäure. Ein weiterer Fortschritt in dieser
Beziehung ist das von uns auf obiger Abtheilung in aus¬
gedehntem Masse versuchte Acetopyrin, welches seiner che¬
mischen Zusammensetzung nach aus Acetylsalicylsäure und
Antipyrin besteht.
Als uns dieses Präparat von der chemischen Fabrik
Hell & Co. in Troppau zur Prüfung übergeben wurde,
gingen wir mit dem wohlberechtigten Misstrauen, das von
allen ärztlichen Kreisen jedem neuen Mittel entgegengebracht
wird, blos daran, das Mittel in einzelnen Fällen zu verwenden
und dasselbe nicht weiter zu beachten. Als wir aber gelegentlich
der Behandlung der ersten Fälle von Rheumatismus die Beob¬
achtung machten, dass die erzielten Resultate ausgezeichnete
waren und dabei Nebenerscheinungen vollständig ausblieben,
beschlossen w7ir, das Mittel in grösserem Massstabe in Ver¬
wendung zu ziehen, um durch eine möglichst umfangreiche
Statistik uns über den Werth des neuen Antipyreticums ein
genaueres Urtheil bilden zu können und dasselbe, falls die
Untersuchungen im günstigen Sinne ausfallen sollten, in die
ärztliche Paxis einzuführen.
Unsere Statistik umfasst beinahe 100 Fälle, unter denen
sich kein einziger Fall befindet, bei dem irgend welche Ver¬
dauungsbeschwerden oder sonstige Nebenerscheinungen hätten
beobachtet werden können ; wir hatten das Mittel absichtlich
in chronischen Fällen, in denen wir uns wohl keinen Einfluss
auf den rheumatischen Process versprachen, durch mehrere
Wochen hindurch in Dosen von 3 — 5 g pro die gegeben,
um uns auf diese Weise zu überzeugen, ob das Präparat nach¬
theilig auf Magen oder Darm einwirken würde« Der Appetit
blieb gleichmässig gut, keinerlei üble oder schmerzhafte Sen¬
sationen im Magen stellten sich ein, und auch sonst waren die
Kranken von Nebenerscheinungen frei.
Das Präparat stellt ein weissliches, schwach nach Essigsäure
riechendes, krystallinisches Pulver dar, das einen constanten
Schmelzpunkt von 64 — 65° zeigt, in kaltem Wasser sehr
schwer, in warmem Wasser leichter löslich ist; es löst sich
ferner leicht in Alkohol, Chloroform und in warmem Toluol,
schwer in Aether und Petroläther. Das Pulver zeigt die Re¬
action des Antipyrins; es liefert mit Eisenchlorid eine blut-
rothe Lösung, welche auf Zusajz von zehn Tropfen con-
centrirter Schwefelsäure in Hellgelb übergeht. Die wässerige
Lösung, mit etwas verdünnter Schwefelsäure gekocht, lässt
starken Geruch nach Essigsäure auftreten; es scheiden sich
dabei Krystalle ab, die sich durch Extraction mit Aether iso-
liren lassen. Dieselben ergeben mit Eisenchlorid die typische
Salicylsäurereaction.
Es wurden von Dr. V o 1 1 m an n in Berlin Verdauungsversuche
mit dem Präparat gemacht. Es wurde künstlicher Magensaft und zwar
100 <7 desselben mit lg des zu prüfenden Präparates bei 37° G.
in den Brutschrank gestellt und jede Stunde durchgeschüttelt, nach
vier Stunden herausgenommen und untersucht. Die Hauptmenge der
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 39
Krystalle befand sich ungelöst am Boden, es zeigte sich also, dass
die Substanz in sauren Flüssigkeiten schwer löslich ist. Mit dem
klaren, wasserhellen Filtrat erhielt man die Reaction des Antipyrin,
jedoch keine Salicylsäurereaction. Um ein doch etwa stattfindendes
Ahspalten von Salicylsäure nachzuweisen, wurde die wässerige
Lösung mit Aether ausgeschüttelt und abgedunstet, worauf eine
geringe Menge einer Substanz hinterblieb, welche wiederum mit
Eisenchlorid eine tiefrothe Färbung ergab, dagegen keinerlei Salicyl¬
säurereaction. Es wurde nun ein Theil der wässerigen Flüssigkeit
genau neutralisirt und derselben durch Schütteln mit Chloroform
das Antipyrin entzogen. Die rückständige neutrale Flüssigkeit wurde
angesäuert und mit Aether ausgeschüttelt. Der Aetherauszug hinter-
liess beim Abdunsten eine geringe Menge einer Substanz, welche, in
Wasser gelöst, mit Eisenchlorid eine hellgelbe Färbung gab, in Eis¬
mischung zu einer festen Masse wurde, die einen Schmelzpunkt
von 134 — 135° zeigte, mithin als Acetylsalicylsäure anzusprechen
war. Die Chloroformumschüttelung hinterliess beim Abdunsten Kry-
stalle, die hei 115° schmolzen und alle Reactionen des Antipyrins
zeigten.
Es hatte sich also unter dem Einflüsse des Magensaftes ein
kleiner Theil des Präparates, und zwar der wasserlösliche, in Acetyl¬
salicylsäure und Antipyrin gespalten; der unlösliche Rückstand da¬
gegen zeigte den unveränderten Schmelzpunkt von 65°, erwies sich
also als die unveränderte ursprüngliche Substanz.
Es wurde nun künstlicher Darmsaft hergestellt und wiederum
10(1 <j desselben mit 1 g der Substanz in den Brutschrank gestellt,
nach einer Stunde herausgenommen und umgeschüttelt; dabei löste
sich das Präparat unter Entwicklung von Kohlensäuregasbläschen
ohne jeden Rückstand. Nachdem diese Lösung zwölf Stunden im
Brutschrank gestanden, wurde sie genau untersucht. Dieselbe reagirte
noch schwach sauer. Nach dem Erkalten wurde die Flüssigkeit mit
einigen Tropfen verdünnter Schwefelsäure stark angesäuert und mit
Aether ausgeschüttelt, beim Abdunsten hinterblieb ein Rückstand,
der in kaltem Wasser schwer, in warmem leichter löslich war und
mit Eisenchlorid sofort eine intensiv violette Salicylsäurereaction
ergab; es war also durch den Darmsaft eine Spaltung des Präparates
unter Bildung von freier Salicylsäure eingetreten.
Wir stellten diesbezügliche Nachuntersuchungen an, die im
Wesentlichen zu gleichen Resultaten führten, wie die eben angeführten
Versuche.
Durch diese Versuche ging mit deutlicher Klarheit hervor,
weshalb das Präparat absolut keine Störungen in der Magenthätig-
keit verursachte.
Wir können unser Versuchsmaterial in mehrere Gruppen
bringen, von welchen die grösste über 40 Fälle von acutem
Gelenksrheumatismus umfasst.
Es ist das jene Erkrankung, bei welcher aller Voraussicht
nach das neue Mittel am besten wirken musste. Wir wurden
auch hinsichtlich des Erfolges keinesfalls enttäuscht. Wir ver¬
theilten die einzelnen Gaben meist in gleichen Zwischen¬
räumen während des Tages, so dass man gewöhnlich mit sechs
Pulvern a 0*5 ausreichte. Häufig stellte sich das Bedürfniss
ein, namentlich hei schwereren Fällen, mit der Einzeldosis zu
steigen oder die einzelnen Dosen näher aneinander zu rücken.
Besonders musste dies bei der zweiten Gruppe behandelter
Fälle geschehen, jenen Fällen nämlich, bei denen das neue
Antipyreticum als schmerzstillendes Mittel wirken sollte. Es
lassen sich in diese Gruppe 25 Fälle unserer Beobachtung
eintheilen.
Weiterhin verwendeten wir das neue Mittel in vier
Fällen von Typhus abdominalis, einem Fall von epidemischer
Cerebrospinalmeningitis, in zwei Influenzafällen, zwei Bronchi¬
tiden, hei zwei Erkrankungen an chronischem Gelenksrheuma¬
tismus und bei acht meist rheumatischen Affectionen der
Pleura, theils exsudativer, theils trockener Natur. Schliesslich
könnten wir noch eine Gruppe von Fällen anführen, in denen
wir das Mittel, von der Voraussetzung ausgehend, dass die
Salicylsäure sich erst im Darme abspaltet, hei Gastoenteritis
in Verwendung zogen, um auf diese Weise eine antiseptische
Wirkung im Darme zu entfalten und den Process zum Still¬
stand zu bringen. Die beiden diesbezüglichen Kranken¬
geschichten, die wir weiter unten veröffentlichen wollen, zeigen
die günstige Wirkung des neuen Mittels hei derartigen Zu¬
ständen ganz vortrefflich. Bei neun Fällen von Tuberculosis
pulmonum, bei welchen wir, um uns von der antipyretischen
Wirkung des Mittels zu überzeugen, mehrere Male grössere
Dosen zur Zeit des höchsten Fiebers darreichten, ging die
Temperatur wohl sehr stark herab, doch traten hei allen diesen
Kranken mit dem Temperaturabfall so unangenehme Neben¬
erscheinungen auf, wie starker Schweissausbruch, sehr grosse
Mattigkeit jedoch ohne die Erscheinungen eines wirklichen
Collapses, dass wir uns entschlossen, von diesen Versuchen
abzustehen. Dabei möchten wir uns aber die Bemerkung er¬
lauben, dass auch bei diesen Erkrankungen keinerlei Störun¬
gen von Seite des Magens aufgetreten waren.
Die Fälle von acutem Gelenkrheumatismus waren theils
solche, die mit frischen acuten Gelenksschwellungen ohne jede
vorhergegangene Behandlung in die Anstalt kamen, theils
waren es Kranke, die zu Hause bereits 14 Tage bis drei Wochen
mit Salicylpräparaten in Behandlung gewesen waren. Gerade
unter den letzteren befinden sich solche Fälle, die für unsere
Arbeit von besonderem Werthe und für die Behandlung mit
dem neuen Mittel ganz besonders geeignet erschienen. Einige
dieser Kranken hatten bereits grössere Dosen von salicyl-
saurem Natron und Salipyrin genommen; es war hei ihnen
im Anfang dieser Behandlung der erwartete Erfolg eingetreten,
doch musste bald das Salicylpräparat ausgesetzt werden, da
sich schwerere Erscheinungen, wie heftiges Magendrücken und
Erbrechen, vollständige Appetitlosigkeit und Ohrensausen ein¬
gestellt hatten. Solche Fälle waren es, die uns den sicheren
Beweis für die gute Wirkung des neuen Mittels bieten konn¬
ten. Sofort nach der Darreichung desselben traten die günstigen
Wirkungen aller Salicylpräparate ein, Gelenksschmerzen und
-Schwellungen gingen meist innerhalb weniger Stunden grössten-
theils zurück, ohne dass sich dabei nur die leisesten Be¬
schwerden von Seite irgend eines anderen Organes eingestellt
hätten. Der eclatan teste Fall in dieser Richtung wird uns
durch die folgende Krankengeschichte illustrirt.
G. Th., 40 Jahre alt, aufgenommen am 21. Mai 1900, seit
drei Wochen krank; Erkrankung unter Schüttelfrost, starkeh Nacht-
schweissen; dazu trat vor 14 Tagen eine rechtsseitige Rippenfell¬
entzündung, Herzklopfen und starke Schwellungen in fast allen
Gelenken der oberen und unteren Extremitäten und auch der
Wirbelsäule. Patientin hatte Natr. salicyl. bekommen, doch da sich
auf diese Medication Magendrücken, Erbrechen, Ohrensausen mit
Kopfschmerzen und schliesslich beiderseitige Taubheit eingestellt
hatten, musste dieses Mittel aufgegeben werden, und die Kranke
wurde nun mit Umschlägen symptomatisch behandelt. Bei der Auf¬
nahme zeigt sich folgender Status:
Leicht ikterisch’e Farbe der Gesichts- und Körperhaut. Zunge
trocken, belegt. Rechts lässt sich vom Angulus scapulae nach
abwärts Dämpfung und abgeschwächtes Athmen wahrnehmen. Die
Herzdämpfung nach links etwas verbreitert, nach rechts bis an den
rechten Sternalrand reichend. An der Herzspitze zwei Geräusche,
der zweite Pulmonalton accentuirt, über dem Sternum neben den
beiden ganz kurzen Geräuschen ein deutliches, sehr rauhes,
schabendes Geräusch, das in die Pause zwischen Systole und
Diastole fällt.
Das linke Schultergelenk etwas geschwellt und schmerzhaft,
ebenso das linke Ellbogengelenk; starke Schwellung und Schmerz¬
haftigkeit des rechten Handgelenkes und der Kleinfingergelenke
dieser Hand; die Bewegungsfähigkeit derselben vollständig auf¬
gehoben. Ebenso sind die Bewegungen im linken Ellbogen- und
Schultergelenk fast vollständig unmöglich, starkes Oedem beider
Unterextremitäten, deutliches Bailottement der rechten Patella, ferner
auch das linke Kniegelenk angeschwollen und schmerzhaft und
endlich noch beide Sprunggelenke und die obere Wirbelsäule. In
den Hüftgelenken waren wohl Schmerzen bei Bewegungen und bei
Druck vorhanden, doch Hess sich keine Schwellung in denselben
nachweisen. Im Harne Spuren von Nucleoalbumin. Die Temperatur
war bei der Ankunft (12 Uhr Mittags) 38’8, Puls 108, Respira¬
tion 30.
Die Kranke erhielt nun fünf Pulver ä 0'5 des neuen Anti-
pyreticums in einstündlichen Zwischenräumen. Die Temperatur ging
darauf auf 38° herunter, der Puls auf 102, die Respiration auf
18. Die Kranke fühlte sich leichter, nur hatte sie auf die Pulver
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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stark geschwitzt. Von Nebenerscheinungen keine Spur. Die
Schwellung in den Sprunggelenken war bereits grösstentheils zurück¬
gegangen, die Patientin konnte nun in diesen Gelenken bereits
Bewegungen ausführen, und ebenso hatte sich der Zustand im
rechten Handgelenk derart gebessert, dass uns die Kranke voll
Freude die gute Beweglichkeit der kleinen Hand- und Fingergelenke
demonstrirte.
22. Mai. Die Kranke erhielt zehn Pulver ä 05. Die Tem¬
peratur war 37'2°, Pulszahl 90, 24 Respirationen. Die Schwellung
im linken Ellbogen zurückgegangen, Hand- und Fingergelenke voll¬
ständig frei, ebenso das Ballottement im rechten Kniegelenk voll¬
ständig verschwunden. Auf beiden Armen und auf der Brust zeigt
sich um */07 Uhr Morgens ein akneartiges Erythem, das nach un¬
gefähr 25 Minuten vollständig verblasst ist. Die Kranke hat heute
seit drei Wochen zum ersten Mal etwas Appetit, keinerlei Be¬
schwerden von Seite des Gehörorganes, auch kein Herzklopfen und
Nasenbluten.
23. Mai. Heute bestehen nur Schmerzen in beiden Knie¬
gelenken bei Bewegungen. Die Pleuritis rechts vollständig zurück¬
gegangen, ebenso ist die Dämpfung des Herzens in normale Grenzen
gerückt, das pericardiale Geräusch nicht mehr hörbar, wohl aber
die endocarditischen Geräusche noch vorhanden. Die Temperatur
blieb andauernd normal, ebenso die Puls- und Respirationszahl.
1. Juni. Die Kranke befindet sich bereits vollständig wohl,
keine Gelenksschwellungen mehr vorhanden, die Patientin kann
bereits das Bett und das Zimmer verlassen. Der Appetit hatte sich
bedeutend gehoben, Patientin konnte jede ihr dargereichte Nahrung
ohne Störung nehmen und befand sich bereits in voller Recon-
valescenz, doch stand sie immerhin noch unter der Einwirkung
des neuen Antipyreticums.
Um diese Zeit hatten wir bereits unseren Vorrath an Pulvern
vollständig verbraucht und waren leider noch nicht im Besitze
neuer Versuchsmengen. Wir mussten daher das Mittel aussetzen,
und gleich am folgenden Rage begann Patientin wieder über
Schmerzen und Schwerbeweglichkeit im rechten Ellbogengelenk zu
klagen; es war auch thatsächlich dieses Gelenk stark angeschwollen
und druckschmerzhaft. Als wir der Kranken nun sechs Dosen von
Salipyrin ä 05 gaben, erbrach sie dieselben und es traten derartige
Beschwerden von Seite des Magens und so heftige Kopfschmerzen
auf, dass wir das Präparat wieder aussetzen mussten. Erst als wir
wieder in den Besitz des neuen antipyretischen Mittels gekommen
waren, besserte sich rasch das subjective und objective Befinden
der Patientin; innerhalb weniger Stunden war Entfieberung ein¬
getreten, auch die Verdauungsstörungen schwanden, und Patientin
konnte nunmehr am 18. Juni geheilt entlassen werden.
Ein zweiter, ebenfalls sehr instructiver Fall ist der
folgende :
R. M., 21 Jahre alt. Vor drei Jahren Rheumatismus in beiden
Sprunggelenken. Im vorigen Jahre Wiederholung dieser Affection.
Vor acht Tagen bekam Patientin Schmerzen in den Zehengelenken,
dann in beiden Sprung- und Kniegelenken. Hierauf wurden die
Phalangeal- und Metacarpophalangeal- und endlich beide Ellbogen¬
gelenke ergriffen. Patientin leidet unter starken Schweissen, an sehr
schlechtem Appetit und grosser Mattigkeit.
23. Juni. Bei der Aufnahme zeigen sich alle oben erwähnten
Gelenke stark geschwellt und geröthet, sehr schmerzhaft und in der
Bewegungsfähigkeit stark eingeschränkt. An der Herzspitze ein
weiches, systolisches Geräusch, sonst die inneren Organe normal.
Die Temperatur 39'2°, 126 Pulse, 26 Respirationen. Patientin erhält
nun g des Acetopyrin, fühlt sich gleich nach dem ersten Pulver
ein wenig leichter; starker Schweissausbruch. Patientin nimmt bis
Abends V210 Uhr vier Pulver ä 0'5, worauf die Temperatur auf
37‘5° sinkt, dabei 120 Pulse, 24 Respirationen, vollständiges Wohl¬
befinden und Abnahme der Schmerzen.
24. Juni. Heute erhält die Patientin acht Pulver. Temperatur um
72 10 Uhr ist 38'2°, um 11 Uhr bereits nur mehr 37'6°; auf dieser
Höhe erhält sich dieselbe mit geringen Schwankungen während des
ganzen Tages. Rechtes Elibogengelenk nicht mehr schmerzhaft,
die Melacarpophalangealgelenke etwas empfindlicher als gestern. Die
Röthung in den meisten Gelenken zurückgegangen. Keine Kopf¬
schmerzen. Es beginnt sich Appetit einzustellen.
25. Juni. Die höchste Temperatur des heutigen Tages ist
37'9° Fast alle Gelenke abgeschwollen, die Bewegungsfähigkeit hat
sich wieder eingestellt, Appetit sehr gut. Kein Schweissausbruch
mehr. Kein Ohrensausen.
29. Juni. Patientin wird geheilt entlassen.
Einen dritten in diese Gruppe gehörigen Fall stellt der fol¬
gende dar:
K. A., 26jähriges Dienstmädchen, seit fünf Wochen krank.
Beginn der Erkrankung mit Schwellung im rechten Fuss- und
linken Sprunggelenke, sodann in beiden Kniegelenken, Fieber und
starken Schweissen. Sehr wenig Appetit.
9. Juni. Bei der Aufnahme des Status praesens lassen sich
Schmerzen im linken Kniegelenke auf Druck constatiren, beide
Schultergelenke, die oberen Halswirbelgelenke schmerzhaft. Tempe¬
ratur um 7 Uhr abends 393°, 108 Pulse, 30 Respirationen. Nach
einer Stunde ist auf Einnahme von einem Pulver ä 0 5 die Tem¬
peratur auf 38-5° heruntergegangen ohne Alteration von Puls- und
Respirationsfrequenz. Patientin erhält um 72^ Uhr ein zweites
Pulver, worauf die Temperatur noch weiter sinkt und um 72 11 Uhr
Nachts nur mehr 37‘5° beträgt.
Die Kranke erhält nun in den folgenden Tagen je sechs
Pulver ä 0‘5, zeigt nur am 10. Juni Nachmittags 38'3°, entfiebert
sich aber rasch, ist am 12. d. M. vollständig schmerzfrei und wird
bald darauf vollständig geheilt entlassen. Während des ganzen Ver¬
laufes hatten sich, trotzdem die Kranke fast durch 14 Tage hin¬
durch je sechs Pulver bekommen hatte, nicht die geringsten Stö¬
rungen in der Magen-Darmthätigkeit gezeigt. Patientin war bei
gutem Appetit und verdaute vortrefflich.
In ähnlicher Weise wie die drei vorher angeführten
Krankengeschichten könnte uns noch eine grosse Reihe ähn¬
licher Fälle aus unserem Material die günstige Wirkung des
neuen Antipyreticums illustriren und uns zeigen, das wir in
demselben ein Mitei in der Hand haben, das als wirksames
Princip die Salicylsäure enthält, ohne die schädlichen Wir¬
kungen, welche dieselbe sonst bei längerer Anwendung im
Gefolge hat, mit in den Kauf nehmen zu müssen.
Wenn wir die Wirkung des neuen Mittels auf die ein¬
zelnen Symptome des acuten Gelenksrheumatismus näher ins
Auge fassen, so finden wir, dass zunächst das Fieber innerhalb
kurzer Zeit um ein Beträchtliches, selbst oft um 2° herab-
sinkt, ohne dass dabei schwerere Folgeerscheinungen auftreten.
Noch deutlicher wird uns diese Eigenschaft in einzelnen
der später anzuführenden Krankengeschichten entgegen treten.
Niemals hatten wir Gelegenheit, selbst wenn die Temperatur
sehr stark herabging, einen collapsartigen Zustand zu beob¬
achten; gewöhnlich ging gleichzeitig auch die Puls- und Re¬
spirationsfrequenz herunter, die Kranken befanden sich ganz
wohl, waren ganz frisch und munter.
Die Gelenksschwellungen gingen ebenfalls sehr rasch
zurück. Wie wir aus diesen drei Krankengeschichten sehen,
genügten bereits wenige Pulver und zwei bis drei Stunden,
um eine beträchtliche Abnahme der vorhin hartnäckigen
Schwellungen und Schmerzen zu bewirken.
Was den Schweissausbruch betrifft, so müssen wir zu¬
nächst bemerken, dass zwar der Schweissausbruch nach An¬
wendung dieses Präparates sich häufig ebenso prompt ein¬
stellte wie bei fast allen Salicylpräparaten, dass aber dieser
Schweissausbruch nach einigen Tagen der Anwendung an
Intensität bereits viel verloren hatte — ein Verhalten, das
gewiss auch mit dem Grundprocess an und für sich und der
Ausheilung desselben in gewissem Zusammenhänge zu stehen
scheint.
Als schmerzstillendes Mittel hatten wir das neue Prä¬
parat in ungefähr 25 Fällen versucht, und zwar waren es
hauptsächlich vorübergehende neuralgiforme Kopfschmerzen,
Anfälle von Migräne, ein Fall von Ischias, einige Fälle von
Polyneuritis. Was die Wirkung in dieser Beziehung anbelangt,
so konnte es uns nicht Wunder nehmen, wenn das Mittel auf
diese Processe von günstigem Einflüsse war, weil sich doch
in demselben neben der Salicylsäure auch Antipyrin befand,
das ja in den eben angeführten Krankheitsprocessen sich vor¬
züglich bewährt hat. In den Fällen von Kopfschmerzen waren
die letzteren innerhalb ganz kurzer Zeit entweder vollständig
verschwunden, oder sie hatten an Intensität bedeutend abge¬
nommen. In dem Falle von Ischias, der allerdings durch eine acute
876
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 69
Nephritis complicirt war, konnten wir wohl durch grosse Dosen
und zahlreiche Pulver im Tage die vorher äusserst heftigen und
qualvollen Schmerzen um ein bedeutendes Mass herabdrücken,
so dass der Kranke wenigstens in der Ruhe fast vollständig
schmerzfrei war, aber wir waren nicht im Stande, auf längere Zeit
den Kranken von den Schmerzen zu befreien. Wir hatten in diesem
Falle oft bis zu 14 Pulvern im Tage gereicht, und, trotzdem
der Patient diese verhältnissmässig grossen Gaben wochenlang
bekommen hatte, konnte derselbe niemals über Verdauungs¬
störungen oder Appetitmangel Klage führen, er hatt stets gute
Esslust, und befand sich auch sonst bis auf seine Beschwerden
von Seite der Ischias ganz wohl.
Sehr interessant gestaltete sich die Wirkung in einem
Fall von epidemischer Cerebrospinalmeningitis.
Sch. K., 42jährige Köchin, aufgenommen am 23. April 1900.
Bisher angeblich stets gesund gewesen. Vor vier Tagen er¬
krankte Patientin plötzlich unter Fieber, starkem Schweissausbruch
und Schmerzen in beiden Kniegelenken und in den Muskeln der
Unterschenkel. Am nächsten Tage waren diese Schmerzen etwas
geringer, doch stellten sich jetzt starke Schüttelfröste ein und Tags
darauf traten heftige Schmerzen in der Musculatur der Arme und
Beine auf. Quälende Kopf- und Kreuzschmerzen, die an Intensität
immer mehr Zunahmen, gesellten sich dazu, so dass die Kranke
das Bett aufsuchen musste. Am Tage der Aufnahme Erbrechen
einer grossen Menge grünlicher, bitterlicher Flüssigkeit. Seit dem
Tage der Erkrankung vollkommene Appetit- und Schlaflosigkeit.
Status praesens: Sensorium frei. Kopf auf Beklopfen
und spontan schmerzfrei. Rechts leichte Ptosis. Nacken auf Druck
und bei Bewegungen ziemlich stark empfindlich.
Die rechte Pupille enger als die linke. Reaction erhalten.
Zunge stark belegt, trocken. Lungenbefund normal.
Die Herzdämpfung überragt um ein Geringes die Mamillar-
linie, der zweite Aortenton stark klingend, sonst reine Töne. Das
rechte Ellbogengelenk auf Druck und bei Bewegungen stark
schmerzhaft. Deutliche Hyperästhesie.
Grosse Hinfälligkeit und starke Kreuzschmerzen. Temperatur
38'9°, 108 Pulse, 24 Respirationen. Patientin erhielt um Q48 Uhr
Abends ein Pulver zu 0'5. Nach einer halben Stunde war die
Temperatur auf 37’6°, und nachdem die Kranke noch ein weiteres,
ebenso starkes Pulver bekommen hatte, war die Temperatur um
3/49 Uhr Abends auf 36'5° herabgesunken, bei gleichem Verhalten
von Puls und Respiration ohne jede Spur von Collaps.
24. April. Heute fühlt sich Patientin viel wohler, die Gelenks¬
schmerzen haben nachgelassen. Es beginnt sich Appetit einzustellen,
die Ptosis völlig geschwunden, ebenso hat das am gestrigen Tage
bestandene Ohrensauses gänzlich nachgelassen. Die Kranke hatte
heute sechs Pulver bekommen.
Temperatur 37-2°, Puls 96, Respiration 24.
26. April. Nach unruhig verbrachter Nacht, während welcher
die Patientin sehr viel lärmt und schreit, ohne jedoch irgend
welche verständliche Worte hervorzubringen, tritt schwere Be¬
nommenheit fast bis zur vollkommenen Bewusslosigkeit ein. Kopf
auf Beklopfen stark schmerzhaft, deutliche Nackensteifigkeit, rechts
deutliche Ptosis und Facialisdifferenz. Strabismus divergens. Pu¬
pillen gleich. Die rechte Pupille reagirt auf Licht träge, die linke
fast gar nicht. Auch der rechte Stirnfacialis paretisch.
Ausgesprochene Hauthyperästhesie. Die Patellarreflexe beider¬
seits vorhanden, der Fusssohlenreflex rechts schwächer als links,
und es scheint, als ob die Abwehrbewegungen links viel lebhafter
als rechts erfolgen.
Der Puls verlangsamt, 60 Schläge. Die Temperatur 39°.
30 Respirationen. Patientin erhält heute sechs Pulver, ebenso am
folgenden 1 age, ohne dass jedoch eine deutliche Besserung zu
constatiren ist. Deutlicher Herpes der Unterlippe und an der Haut
neben dem rechten äusseren Augenwinkel. Leichtes Oedem und
Schmerzen im rechten Arm. Reflexe stark gesteigert. Pupillen
ungleich.
Temperatur 38 7 °, Puls 60, Respiration 24.
Patientin erhält abermals sechs Pulver, worauf innerhalb
kurzer Zeit die Temperatur auf 37° absinkt, gleichzeitig damit die
Benommenheit deutlich nachlässt, sowie auch die Kopf- und Kreuz¬
schmerzen und die Nackensteifigkeit sehr bald in bedeutendem
Masse nacblassen.
Nachdem die Patientin noch in den folgenden Tagen constant
sechs Pulver täglich erhalten, schwinden alle übrigen Ausfalls¬
erscheinungen. Auch die Gelenksschwellungen verschwanden voll¬
ständig. Die Patientin konnte geheilt am 10. Mai d. J. entlassen
werden.
In diesem Falle zeigt sich ganz deutlich, dass die Temperatur
zweimal durch dieses neue Präparat von ziemlich bedeutender Höhe
innerhalb kurzer Zeit fast auf das normale Niveau herabgedrückt
wurde. Als wir nämlich am dritten Tage, nachdem die Patientin
aufgenommen worden war, das Mittel ausgesetzt hatten, stieg die
Temperatur wieder rasch an, und gleichzeitig damit traten die
schweren Störungen wieder auf. Es war ganz überraschend, wie
schnell diese Erscheinungen, nachdem wir das Miltel wieder gegeben
hatten, schwächer wurden und schliesslich ganz verschwanden.
Wenn man auch nicht annehmen kann, dass das neue Anti-
pyreticum auf den Grundprocess selbst eine besondere Wirkung
ausgeübt hat, so dürfte uns doch die Bemerkung gestattet sein,
dass speciell in diesem Falle von Meningitis der günstige Verlauf
durch die Anwendung dieses Mittels beschleunigt wurde, da wir
zweimal durch Verabreichung des Acetopyrins die Erkrankung in
günstiger Weise beeinflussen konnten.
Viermal haben wir das neue Antipyreticum bei Typhus abdo¬
minalis verwendet.
Der erste Fall betrifft eine 19jährige Gärtnerin, H. J., die
am 2. März d. J. mit Schüttelfrost, Husten und Schmerzen auf der
rechten Brustseite erkrankt war. Am 13. März wurde Patientin
aufgenommen.
Patientin zeigt normalen Lungen- und Herzbefund, eine stark
vergrösserte, deutlich palpable Milz, dikroten Puls, flüssigen, jedocb
nicht charakteristischen Stuhl, keine Roseolen. Im Harn kein Al¬
bumen. Positive Diazoreaction.
Klage über starken Kopfschmerz, schlechten Appetit, Schwindel¬
gefühl. Starke Schweisse.
13. März. Wir gaben der Patientin, die eine Temperatur von
38° aufwies, ein Pulver zu 0*5 ; sie verbrachte die Nacht in gutem
Schlaf und schwitzte auch viel weniger als sonst.
14. März. Status im Allgemeinen unverändert. Temperatur
Morgens 37‘6°, Nachmittags um 4 Uhr 39-3°, Respiration 36,
Puls 108. Patientin erhält ein Pulver, die Temperatur geht auf
38'3° herunter. Abermals wird ihr 0'5 Acetopyrin dargereicht,
worauf um 7 Uhr, also eine Stunde nach dem letzten Pulver, die
Temperatur auf 37'6° heruntergeht. Respiration 30, Puls 54. Voll¬
kommenes Wohlbefinden. Keine Spur von Collaps. Geringere Kopf¬
schmerzen, geringerer Schweiss. Die Temperatur hält sich auf dieser
geringen Höhe noch durch mehrere Stunden.
15. März. Abermals starker Schweissausbruch. Temperatur
38‘5°, Respiration 26, Puls 90. Nach Darreichung eines Pulvers
geht innerhalb kurzer Zeit die Temperatur ohne weitere Beeinträch¬
tigung des übrigen Befindens der Kranken auf 365° herab. Nach¬
mittags um 3 Uhr beträgt dieselbe 38'2° und um 5 Uhr 39'2°.
Patientin nimmt um 5 Uhr ein Pulver, worauf um 7 Uhr bereits
nur mehr 37*4° gemessen wird. Der Puls ist dabei kräftig, nicht
beschleunigt, das Schwitzen hat dabei fast vollständig sistirt.
Widal’sche Reaction fällt sofort stark positiv aus (1 : 50).
16. März. Morgentemperatur 39'3°. Patientin erhält heute
vier Pulver in kurzen Zwischenräumen, worauf die Körperwärme
auf 36'6° und der Puls von 120 auf 90 fällt.
17. März. Patientin erreicht noch einmal die Temperatur von
38‘5°, worauf nach Einnahme eines einzigen Pulvers die Temperatur
normal wird, welche in den folgenden Tagen nie mehr überstiegen
wird.
24. März. Patientin wird vollständig geheilt entlassen.
Zweiter Fall: D. A., 22 Jahre alt, erkrankte vor zehn Tagen
mit Fieber, Kopfschmerzen, Kältegefühl, Appetitlosigkeit, grossen
Durst. Seit zwei Tagen erbsenpureeartige Stühle.
Status praesens: 4. Mai. Lungen-, Herzbefund normal. Milz
vergrössert, palpabel; Leukopenie. Keine Roseolen. Ileocöcalgurren.
Erbsenfarbene Stühle; starke Prostration, Temperatur 39‘8°, Puls 120,
Respiration 24. Um 3/47 Uhr Abends erhält die Kranke das erste
Pulver. Um 7 Uhr beträgt die Temperatur 39'2°, Puls 102,
Respiration 24. Um 8 Uhr Temperatur 38°, Puls 78, Respiration
24. Um 10 Uhr Temperatur 37 9°, Puls und Respiration unver¬
ändert.
Nr. 39
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
877
5. Mai, 8 Uhr Früh. Patientin hatte des Nachts stark
geschwitzt, hat keinen Kopfschmerz mehr, bekommt Appetit. Tem¬
peratur 38‘2°, Puls 102, Respiration 24. Wir gaben der Patientin
vier Pulver, während des Tages vertheilt. Um 10 Uhr Vormittags
war die Temperatur auf 37° herabgegangen, um Nachmittags '/23 Uhr
auf 39’3° zu steigen. Puls 110. Um */A6 Uhr Abends war aber,
nachdem die Kranke zwei Stunden vorher 0'5 genommen hatte,
nunmehr nur mehr 37'6°, Puls 90, Respiration 24. Patientin fühlte
sich den ganzen Tag über sehr wohl, hatte bereits Appetit.
Widal positiv. Roseolen deutlich vorhanden. Milz noch ver-
grössert.
Da sich am nächsten Tage nur mehr eine Temperatur von
37-4° zeigte, gaben wir der Patientin nur mehr ein Pulver. Patientin
blieb entfiebert und trat in volle Reconvalescenz ein. Der dritte
und vierte Fall zeigen in ähnlicher Weise das Abfallen der Tem¬
peratur mit gleichzeitigem Absinken des Pulses.
Wir sehen in allen vier mit dem neuen Mittel behandelten
Fällen von Typhus abdominalis, die bis auf einen Fall ver-
hältnissmässig leichterer Natur zu sein scheinen, dass durch
die Darreichung des neuen Antipyreticums die Temperatur
innerhalb kurzer Zeit bedeutend herabgedrückt wurde und dass,
was von besonderer Wichtigkeit ist, mit diesem Herabgehen
der Körperwärme kein weiterer schädlicher Einfluss auf den
Organismus ausgeübt wurde. Sämmtliche vier Kranke befanden
sich ausnahmslos, nachdem sie das Pulver genommen hatten,
sehr wohl. Die Abgeschlagenheit und Kopfschmerzen, welche
sie vorher geplagt hatten, waren gewöhnlich grösstentheils ver¬
schwunden. Es schien auch, als ob durch die Anwendung des
Acetopyrins der Verlauf dieser Fälle abgekürzt wurde, viel¬
leicht wirkt das Mittel auch in diesen Fällen ähnlich wie bei
der Gastoenteritis, die wir mit diesen Pulvern behandelt hatten,
zum Theil desinficirend auf die bacteritischen Vorgänge im
Darme; wir müssen noch einmal erwähnen, dass doch die
Salicylsäure in dem neuen Präparat erst im Darm abgespalten
wird, sich daselbst auflöst und daher ihre Wirkung durch die
Magenverdauung vollständig ungeschwächt ist.
Da wir in diesen Fällen also absolut keine schädlichen
Nebenwirkungen constatiren konnten und bei uns der Ein¬
druck hinterblieb, dass wir auf den Typhus abdominalis günstig
eingewirkt hatten, so wäre es gewiss nicht ohne Vortheil, wenn
das Mittel in grösserem Massstabe bei dieser Erkrankung ver¬
sucht würde.
Bei Influenza hatten wir das neue Antipyreticum an¬
schliessend an den Gebrauch des Salipyrins bei dieser Er¬
krankung in zwei Fällen verwendet. Der Erfolg war beide
Male ein ganz guter. Die Temperatur und ebenso des Puls
erreichten bald ihre normale Höhe, blieben auf derselben fortan
stehen, und auch die übrigen Beschwerden verschwanden mit
dem Absinken der Körperwärme fast vollständig.
D. W, 28 Jahre alt, Agent, erkrankte am 13. März 1900
mit Fieber, Appetitlosigkeit und Kopfschmerzen in der Stirngegend.
Es stellte sich hochgradige Mattigkeit in beiden unteren Extremitäten
und Husten ohne Auswurf ein.
17. März. Patient wird aufgenommen, fühlt sich sehr matt
und niedergeschlagen; über den Lungen der Refund einer mässigen
Bronchitis, die Milz percutorisch stark vergrössert, deutlich palpabel.
Puls accelerirt, 120. Temperatur 38’4°.
Y28 Uhr Abends nimmt Patient ein Pulver und eine halbe
Stunde später ein zweites. Patient beginnt zu schwitzen. Um 11 Uhr
ist die Temperatur auf 376° heruntergegangen. Puls 96.
18. März beträgt die Morgentemperatur 37T°. Patient fühlt
sich ganz wohl, hat gut geschlafen, keine Kopfschmerzen. Am
anderen Tage stellt sich bereits Appetit ein.
In ähnlicher Weise war die Wirkung in dem von uns be¬
handelten zweiten Falle von Influenza.
Zwei Erkrankungen an Sepsis, die wir mit dem Acetopyrin
behandelten, zeigen uns, dass zwar das Fieber und der Puls durch
das neue Mittel in günstigem Sinne beeinflusst wurden, dass aber
der Grundprocess seihst als solcher in keinerlei Weise eine Ver¬
änderung aufwies.
Aeusserst günstig war die Wirkung des Mittels, wie bereits
oben erwähnt, in zwei Fällen von toxischer Gastroenteritis. Es
handelte sich in beiden Fällen um Kranke, die nach dem Genüsse
von schlechtem Fleische, der eine überdies noch durch alkoholische
Getränke ziemlich plötzlich mit Symptomen von Seite des Magen-
Darmcanales erkrankt waren. Wir gaben in beiden Fällen das
Mittel in gewöhnlich grossen Dosen, meist zu sechs Pulvern ä 0 5
pro die und hatten in beiden Fällen eine ausgezeichnete Wirkung
zu verzeichnen. Während die sonstigen Salicylpräparate gerade in
solchen Fällen contraindicirt erscheinen, zeigte es sich bei diesen
beiden Kranken, dass nach dem Gebrauch einiger Pulver die bis
dahin bestandenen Magen-Darmsymptome ziemlich rasch zurück¬
gingen, sich Appetit einstelite, der Stuhl sich regelte und auch das
Fieber zur Norm zurückkehrte.
P. J., 41 Jahre alt, Friseur, war nach dem Genuss von einem
Gemisch von Wein und Kräutern sowie einer schlechten Fleisch¬
speise, das er in ziemlich grosser Menge zu sich genommen hatte,
nach zwei Stunden unter heftigen Kolikschmerzen und Uebelkeiten
erkrankt. Bald stellten sich Magendrücken und Kopfschmerz, heftiges
Erbrechen und Diarrhöe sowie Husten ein.
11. Mai. Bei der Aufnahme zeigte sich folgender Status:
Linke Lungenspitze stark gedämpft. Ueber beiden Lungen bronchi-
tische Geräusche; leises systolisches Geräusch an der Herzspitze.
Leber stark vergrössert, druckempfindlich. Milz nicht vergrössert.
Temperatur um 4 Uhr 38’8°. Patient fühlt sich sehr unwohl. Er
bricht wiederholt. Häufige diarrhoische Entleerungen. Klage über
äusserst heftige, kolikartige Bauchschmerzen. Patient erhält drei
Pulver, worauf um Y27 Uhr, nachdem eine Stunde vorher die
Temperatur auf 39’7° gestiegen war und der Puls 120 beträgt,
die Körperwärme auf 37’5° und der Puls auf 108 abfällt.
12. Mai. Temperatur beträgt 38T°, Patient fühlt sich etwas
besser. Die Schmerzen im Bauche haben nachgelassen, doch er¬
bricht Patient heute noch oft und ist vollständig appetitlos. Nach
Gebrauch von weiteren sechs Pulvern bessert sich der Zustand
noch um ein Bedeutendes. Am Abend nur mehr 37'!0.
13. Mai. Kein Kopfschmerz, keine Schmerzen im Bauch.
Auch der Husten bedeutend besser. Temperatur 36‘4°, noch
immer kein Appetit. Patient erhält wiederum sechs Pulver, worauf
am anderen Tage nach weiterer Medication von sechs halben
Grammen sich bereits Appetit einstellt und auch alle sonstigen
Beschwerden völlig verschwinden.
Am siebenten Tage nach der Aufnahme wird der Kranke, der
einen sehr schweren Eindruck hervorgerufen, geheilt entlassen.
Ganz anolog verlief auch der zweite Fall von toxischer
Gastroenteritis. Hier handelte es sich um eine Fleischvergiftung,
durch welche der Kranke gezwungen wurde, das Spital aufzusuchen,
da er sich sehr unwohl fühlte, sehr starke Kopf- und Kreuz¬
schmerzen, Druckgefühl im Epigastrium hatte, häufig erbrach und
vollständig appetitlos wurde. Patient erhielt sechs Pulver, worauf
sich auffallend rasch eine deutliche Besserung aller Beschwerden
einstellte. Der Kranke hatte bereits am nächsten Tage guten Appetit,
fühlte sich wohl noch etwas matt, konnte aber bereits nach fünf
Tagen geheilt die Anstalt verlassen.
o o
Weniger gut waren, wie es ja auch voraussichtlich war,
die Erfolge bei den chronisch verlaufenden Fällen von Gelenks¬
rheumatismus. Wir verwendeten das Acetopyrin in mehreren
derartigen Erkrankungen. Es wurden zwar dadurch die
Schmerzen etwas geringer, sie sistirten mitunter auch auf
einige Zeit, doch Hessen sich bleibende Erfolge mit dem Mittel
nicht erzielen. Wir konnten speciell aus diesen Fällen, wie
schon mehrere Male erwähnt, deutlich ersehen, dass das Aceto¬
pyrin keinerlei schädlichen Einfluss auf die Verdauung aus¬
übte, ja es schien uns sogar, dass sich der Appetit bei vielen
Kranken hob, eine Erscheinung, die uns nicht allein in diesen
chronischen Fällen entgegentrat, sondern die wir sehr häufig,
ja in der grösseren Anzahl auch der acuten Fälle zu beob¬
achten Gelegenheit hatten.
Endlich möchten wir uns noch die Bemerkung erlauben,
dass wir das neue Antipyreticum auch bei einzelnen rheuma¬
tischen Affectionen der Pleura und des Pericards in Verwen¬
dung brachten, und dass die Erfolge, die wir mit dieser
Medication erzielen konnten, ebenso günstige waren wie beim
acuten Gelenksrheumatismus; das Exsudat ging meist innerhalb
kurzer Zeit zurück. Die Wirkung war also die gleiche, wie
bei allen anderen Salicylpräparaten.
878
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
tr. 39
Wenn wir nun zum Schlüsse die im Vorhergehenden
erwähnten Fälle noch einmal durchgehen und das Resultat
der Anwendungsweise des Acetopyrins erwägen, so werden
wir zum Ausspruche gedrängt, dass es sich hier um ein
Mittel handelt, das geeignet wäre, das salicylsaure Natron und
die übrigen Abkömmlinge der Salicylsäure zu verdrängen,
denn als antirheumatisches Mittel leistet es zumindest ebenso¬
viel und hat d.en grossen Vortheil, dass es vollständig frei
von allen Nebenerscheinungen wirkt. W as die Einwirkung
auf die Temperatur betrifft, so können wTir aus dem im Ver¬
laufe der Arbeit beigefügten Fiebercurven ersehen, dass das
Acetopyrin die Temperatur stark zu beeinträchtigen im Stande
ist; gewöhnlich tritt im Verlaufe der ersten halben Stunde,
nach der Darreichung des ersten Pulvers eine kleine Erhöhung
der Körperwärme ein, worauf in der nächsten halben Stunde
dieselbe bereits stark abzusinken beginnt, um im Verlaufe
von zwei bis drei Stunden entweder nahe der normalen oder
bis auf diese herabzugehen. Es erfolgt also das Absinken nur
allmälig und langsam, wobei sich die Kranken ganz wohl
und ohne jede Beschwerde fühlen. Es bleibt gewöhnlich die
Temperatur durch mehrere Stunden auf normaler Höhe, geht
erst dann wieder allmälig in die Höhe, um bei Darreichung
einer neuen Quantität von Pulvern wiederum ohne Schädigung
des übrigen Organismus herabzusinken.
Dass bei dieser Wirkung auf die Körperwärme die
lierzarbeit, wie dies ja bei den meisten anderen Antipyreticis
häufig der Fall ist, nicht geschädigt wird, geht mit Deutlich¬
keit aus der Beschaffenheit und der Frequenz des Radial¬
pulses hervor. In keinem Falle unserer Beobachtung konnten
wir mit dem Absinken der Temperatur ein Ansteigen der
Pulsfrequenz oder eine Veränderung des Pulses ad peius be¬
merken. Wir sehen im Gegentheil, dass gleichzeitig mit der
Körperwärme auch die Pulszahl herabgeht und sich beide in
einem ziemlich äquivalenten Verhältnisse auch weiterhin be¬
finden.
Wir Hessen fast in allen Fällen den Harn der Kranken
genau chemisch untersuchen. Es fand sich dabei, dass das
neue Präparat im Harne grösstentheils als Salicylsäure
ausgeschieden wurde, dass sich sehr häufig auch Antipyrin
in demselben auffinden Hess, dass sich letzteres aber in vielen
Fällen nicht vorfand ; auch reine Salicylsäure konnte man in
einzelnen Fällen nachweisen. Albumen oder Zucker fand
sich niemals im Harne, auch bei wochenlanger Darreichung
konnte man keine Schädigung des Nierenparenchyms auf
diese Weise erkennen. In dem oben erwähnten Falle von
Ischias, der mit Nephritis complicirt war und in einem zweiten
Falle von infectiöser Angina, bei welcher sich ebenfalls im
Harne sehr viel Albumen, granulirte und Epithelcylinder auf¬
finden Hessen, gaben wir dessenungeachtet das Acetopyrin
und konnten bereits nach einigen Tagen die Beobachtung
machen, dass trotz der Darreichung dieses Salicylpräparates
sowohl das Albumen, das anfänglich in grosser Menge vor¬
handen war, als auch die Formelemente gänzlich ver¬
schwunden waren. Daraus sehen wir, dass das neue Mittel
auf die Niere keinen schädlichen Einfluss besitzt. Was die
Schnelligkeit der Ausscheidung im Harn anbelangt, so ergaben
unsere diesbezüglichen Versuche, dass sich bereits nach einer
halben Stunde im Harne die Salicylreaction positiv erwies.
Was die Darreichung anbelangt, möchten wir noch hervor¬
heben, dass im Allgemeinen sechs Pulver zu 0 5 über den
Tag vertheilt bei den leichteren Fällen genügen, dass aber bei
den schwereren Erkrankungen die Wirkung eine bessere war,
wenn wir erstens grössere Dosen zu 10 und diese in den
späteren Nachmittagsstunden, das ist zur Zeit der gewöhnlich
stärkeren Fieberexacerbation gaben.
Es gelang uns auf diese Weise häufig, bei Kranken,
welche auf die gewöhnliche Menge der Pulver wenig reagirten,
sofort prompte Wirkung zu entfalten. Wir gaben die Pulver
gewöhnlich in Oblaten, doch würde es sich auch empfehlen, das
Acetopyrin in etwas Zuckerwasser suspendirt nehmen zu lassen,
da es in dieser Mischung in Folge seines Gehaltes an Essig¬
säure einen ganz angenehmen säuerlichen Geschmack besitzt.
Mit Recht möchten wir also das Acetopyrin zu weiteren
Versuchen wärmstens empfehlen, da es ganz vorzügliche Eigen¬
schaften besitzt. Schliesslich erlauben wir uns, unserem hoch¬
verehrten Chef, Herrn Primarius Dr. Leo Redtenbacher,
für die gütige Ueberlassung des grossen Krankenmateriales
unseren wärmsten Dank auszusprechen.
Aus der Klinik Chrobak in Wien.
Ein Fall von Elevatio uteri mit Lostrennung des
Corpus von der Portio vaginalis unter Dehiscenz
der Cervix.
Von Privatdocent Dr. H. Ludwig, Assistent.
Demonstrirt in der Wiener geburtshiflieh-gynäkologischen Gesellschaft am
23. Januar 1900.
Unter den pathologischen Lageveränderungen des Uterus
ist jene nach aufwärts, die Elevatio, der Ascensus
uteri, die seltenste. Die Elevation kann aus der Verwachsung
des puerperalen Uterus mit höher Hegenden Organen, Netz,
Darm, Serosa parietalis, resultiren, wie das kürzlich in unserer
Klinik nach Sectio caesarea mit querem Fundalschnitte be¬
obachtet wurde, oder artificiell hauptsächlich durch Ventrifixur
erzeugt sein ; der Uterus kann auch durch Tumoren, welche
sich unter ihm im kleinen Becken entwickeln — z. B. Plämato-
kolpos, Hämatocele, Collummyome — in die Bauchhöhle em¬
porgehoben, oder endlich durch Zug seitens höher gelegener
Geschwülste hinaufgezerrt werden.
Bei dieser Lageveränderung kann die Gebärmutter in
verschiedenem Grade Veränderungen ihrer Gestalt
erfahren.
Am geringfügigsten und seltensten ist die Gestaltsver¬
änderung, wenn der Uterus, auf Tumoren der Nachbarorgane
lagernd, aus dem kleinen Becken emporgehoben wird. Eine
Zunahme des Längendurchmessers kann eintreten nach Ventri¬
fixur oder Verwachsung in puerperio in eben erwähntem Sinne.
Unter diesen letzteren Umständen sind es theils das
Eigengewicht des Organes, theils die Zerrung in der Längs¬
richtung — unten von der Vagina, oben von der abnormen
Befestigung — , beim puerperalen Uterus wohl auch Störungen
der Involution, welche eine Vergrösserung im Längendureh-
messer zur Folge haben.
Bedeutendere Gestaltveränderungen aber können
eintreten, wenn der Uterus durch Geschwülste hinaufg( zerrt
wird, welche, nach oben sich entwickelnd, oder von Beginn
an hoch sitzend und mit höher gelegenen Organen verwachsen,
durch kurze und feste Stiele mit dem Fundus oder den Uterus¬
hörnern verbunden sind. Es sind das vorwiegend Fundusmyome
und kurzgestielte Ovarientumoren.
Die durch Zug seitens solcher Tumoren hervorgerufenen
bedeutenderen Gestaltsveränderungen des Uterus können be¬
stehen :
1. In einer hochgradigen Auszerrung im
Längendurchmesser — in einem von Fritsch1) be¬
obachteten Falle betrug die Totallänge des Uterus 30 cm —
wobei vorzugsweise das Collum uteri ausgedehnt und ver¬
dünnt wird.
2. In einer durch dieDehnung verursachten
Ausziehung des Cervix zu einem bandartigen,
fibrösen Strang mit Obliteration des Cervical-
canales. Solche Fälle beschreiben R. Paulli2 3), Len-
’) H. Fritsch, Die Krankheiten der Frauen. 1897, pag. 271.
2) R. Pauli i, Et Tilfaelde af haematometra. Gynaek. og obstetr.
Meddelel. Bd. X, Heft 1 — 2, pag. 32 — 42. Referiit in: Frommel’s Jahres¬
bericht. 1893, pag. 52, und: Centralblatt für Gynäkologie. 1893, pag. 823.
Bei einer 23jährigen, nie menstruirt gewesenen Kranken fand Paulli eine
kugelige Geschwulst, die sich aus dem kleinen Becken emporhob (Hämato-
metra), die rechts oben eine zweite kindskopfgrosse Geschwulst trug, ein
Dermoid, das mit dem grossen Netze durch zahlreiche Adhäsionen ver¬
bunden und mit dem rechten Uterushorn durch einen kaum kleinfinger¬
dicken Stiel verbunden war. Die von Blut ausgefüllte Corpushöhle war nach
unten zu verschlossen und mit der nagelgliedgrossen Portio durch einen
3 cm langen, schmalen Strang verbunden.
Nr. 89
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
879
nan der* * 3) und sein Schüler Hedren4). Dass bei der durch
die Elevation bedingten Verlängerung und Verdünnung des
Collum uteri ganz besonders die , Prädisposition zur Achsen¬
drehung der Gebärmutter durch Geschwülste gegeben ist,
wurde schon von 1VI icholitsch 5 *) und Rein p_r echt’] hei-
vorgehoben.
Wenn dann beide Momente einwirken, die Elevation und
die Torsion, so kann die letztere die Ausziehung der Cervix
noch vermehren, und es kommt dann auf diesem Wege eben¬
falls zu hochgradiger Verdünnung und schliesslich auch zur
Obliteration des Cervicalcanales, wie das von R o k i t a n sk i 7),
Virchow8), Times 9), Timmers 10), Homans11), J o-
hannovsky 12), Smith 13) beobachtet wurde. In allen diesen
Fällen handelte es sich um Myome.
Es muss daran festgehalten werden, dass in keinem der
hieher gehörigen Fälle der verbindende Strang zwischen Corpus
und Vaginalportion fehlte, wenn auch der Uteruscanal unter¬
brochen war.
3. In der völligen Abtrennung des Corpus
uteri von der Vaginalportion, indem der Cervix zu¬
nächst aufs Aeusserste gedehnt und verdünnt wird, sodann
auseinanderweicht und das vom Tumor emporgehobene Corpus
mit dem Beckenboden nur mehr durch eine leere Peritoneal-
duplicatur in Verbindung steht.
In der älteren Literatur wird dieses Vorkommniss er¬
wähnt von Ki wisch14), Rokitansky15), Klob16),
Schröder17), ohne dass sich aber einer der Autoren auf |
eine bestimmte Beobachtung bezöge. j
Schultze18) und Fritsch19) verweisen in ihren be¬
kannten Monographien über die Lageveränderungen des Uterus
auf die älteren Beobachter, und in neuester Zeit hat 0 1 s-
3) Lennander, Myom des Uteruskörpers mit Trennung der Cervix
vom Körper. Centralblatt für Gynäkologie. 1895, pag. 159.
■*) Hedren, refeiirtin: Centralblatt für Gynäkologie. 1895, pag. 997.
Breitgestieltes, von der ob ren vorderen Uteruswand ausgehendes, subserö-es
Myom, das durch Dehnung eine Obliteration des Cervicalcanales in der
Gegend des Orif. int. erzeugt hatte. Der untere, 5 cm lange Antheil des
Cervicalcanales endete nach oben blind. Die ausgedehnte Stelle des Cervix
war 2 4 cm lang und 0 3 — 0'5 cm dick.
5) M i c h o 1 i t s c h, Ein Fall von Achsendrehung des Uterus durch
ein gestieltes subseröses Myom. Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäko¬
logie. 1899, Bd. XL, pag 276.
6) Beinprecht, Zur Torsion des graviden Uterus durch Tumoren.
Wiener klinische Wochenschrift. 1899, Nr. 30.
7) Rokitansky. Handbuch der pathologischen Anatomie. 1842,
Bd. HI, pag. 147.
8) Virchow, Die krankhaften Geschwülste. 1863, Bd. III,
pag. 161, 162.
°) T i in e s, Transact, of the London Obst. Soc. 1861, Vol. II,
pag. 34.
10) Timmers, Torsie van den Uterus door Fibromyomen. Inaugural-
Dissertation. Leiden 1891.
") Homans, An extraordinary case of Twisting of the uterus as
the Pedicle of a large Fibroidtumor of many years Existence. American
Journ. of Obst. 1892, Vol. XXV, pag. 3,9.
8) 9) io) it) citirt nach Schultze, Ueber Achsendrehung des
Uterus durch Geschwülste. Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie.
1898, Bd. XXXVIII, pag, 157.
1!) Johan no vsky, Casuistischer Beitrag zur Achsendrehung des
Uterus durch Geschwülste. Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie.
1898, Bl. VIII, Heft 4.
13) Smith, Dublin Journ. of med. science. April 1898. Referirt in:
Centralblatt, für Gynäkologie. 1899, pag. 95.
n) K i w i s c h, Klinische Vorträge. Prag 1854. Citirt nach : B e i g e 1,
Die Krankheiten des weiblichen Geschlechtes. 1875. »Ist die Zerrung nach
aufwärts sehr beträchtlich und lange anhaltend, so kann der Cervicaltheil
so atrophiren, dass er sich mehr oder weniger vollständig vom Vaginal¬
theile lostrennt.«
15) Rokitansky, Lehrbuch der pathologischen Anatomie. Wien
1861, Bd. HI, pag. 481, 482, 454.
,6) K 1 o b, Pathologische Anatomie der weiblichen Genitalorgane.
Wien 1861, pag. 82: »Auch die Verdünnung des gezerrten Uterus ist in
der Gegend des Orific. int. immer am bedeutendsten und es kann bei nam¬
hafter Zerrung selbst zum Auseinanderweichen der Uterusmasse kommen,
so dass Körper und Grund der Gebärmutter vom Cervix derselben oft eine
Strecke weit abstehen und nur durch eine leere Peritonealduplicatur noch
mit einander verbunden sind.«
17 ) Schröder, Handbuch der Krankheiten der weiblichen Geschlechts¬
organe. 1877, pag. 203.
18) B. S. Schultz e, Die Pathologie und Therapie der Lagever-
ändeiungen der Gebärmutter. 1881, pag. 7 o.
I0) F ritsch, Die Lageveränderungen und die Entzündungen der
Gebärmutter. 1885, pag. 279.
hausen20) anlässlich einer Kranken Vorstellung in der Gesell'
schaft für Geburtshilfe und Gynäkologie zu Berlin dieser Fälle
wieder mit folgenden Worten erwähnt: » . dass (in dem
vorgestellten Falle) eine Trennung des Corpus und der Cervix
stattgefunden hatte, wie sie in ganz vereinzelten pathologischen
Fällen, ja ohne jeden operativen Eingriff spontan Vorkommen
soll. Ich habe einen solchen Fall nie gesehen, aber es werden
solche Fälle beschrieben, wo Corpus und Cervix sich von
einander getrennt hatten«.
Nur v. Win ekel21) verweist auf einen genauer be¬
schriebenen, vonlversen22) publicirten Fall. Dieser ist zu¬
gleich auch der einzige, den ich in der Literatur auffinden
konnte. Leider ist er mir im schwedischen Original nicht zu¬
gänglich, so dass ich mich auf die von L. Meyer in From¬
me fs Jahresbericht23) und im Centralblatt für
Gynäkologie24 *) gelieferten Referate berufen muss.
Es handelte sich in I v e r s e n’s Falle um ein 3 '/.Jähriges
Mädchen, bei dem eine Dermoidcyste von 1200 cm3 Inhalt exstir-
pirt wurde. An der Vorderseite des Tumors fand sich ein 2'5 cm
hoher und breiter Körper von der Form eines infantilen Corpus
uteri. Auf dem Durchschnitt zeigt derselbe eine kleine Höhle, von
einer Schleimhaut mit Epithel und Spuren von Drüsen ausgekleidet,
die Hauptmasse bildet organische Muskelsubstanz. Das Corpus endet
nach unten ohne Fortsetzung, nicht einmal ein festerer Strang von
Bindegewebe deutet eine solche Fortsetzung an; der Stiel der
Geschwulst ist nur von den (leeren) Bauchfellduplicaturen gebildet
worden. Die beiden Eileiter gehen vom Corpus aus, der rechte Ei¬
leiter und Eierstock zeigen nichts Bemerkenswerthes, nur ist der
letztere fibrös degenerirt. Die linke Tube bedeutend verlängert, der
Geschwulstwand eng anliegend. Das linke Ovar von der Geschwulst,
die eine Dermoidcyste ist, repräsentirt.
Der Fall, den ich beobachtete war folgender:
Am 11. Januar 1900 wurde ein zwölfjähriges Kind in die
Klinik aufgenommen, dessen Eltern vor 25 Monaten die Wahr¬
nehmung gemacht hatten, dass der Bauch des Kindes an Grösse
langsam zunahm.
Es bestanden damals gar keine Beschwerden, doch traten
solche ein Jahr später auf, zu welcher Zeit das Kind über
Schmerzen im Abdomen zu klagen begann. Ein Arzt machte darauf¬
hin eine Punction, bei welcher sich 1 1 einer eiterähnlichen Flüs¬
sigkeit entleert haben soll. Vor sieben Monaten wurde wegen neuer¬
licher Zunahme des Abdomens abermals punctirt und wieder wurde
eine grössere Menge gelblicher Flüssigkeit entleert. Da sich unter
Schmerzen der frühere Bauchumfang wieder herstellte, wurde das
Mädchen in die Klinik gebracht. Es fand sich bei dem gut ent¬
wickelten Kinde das Abdomen nahezu symmetrisch vorgewölbt
durch einen mannskopfgrossen, prall gespannten, dünnwandigen
Tumor, welcher bei horizontaler Rückenlage bis auf vier Querfinger
oberhalb der Symphyse herabreichte, ein wenig verschieblich war
und sich nach oben bis unter beide Rippenbogen erstreckte, die
unteren Thoraxpartien, namentlich links, etwas ausweitend. Ueber
dem ganzen Tumor leerer Schall, in beiden Flanken tympanitischer
Percussionsschall. In der rechten Flanke das Colon ascendens als
stark geblähte Schlinge der Oberfläche des Tumors anliegend, deut¬
lich tastbar.
Die in Narkose vorgenommene Untersuchung per vaginam
ergibt das Vorhandensein einer kurzen, kleinen Portio mit grübchen¬
förmigem Muttermund. Ein Corpus uteri ist bei bimanueller Unter¬
suchung nicht zu tasten, ebensowenig ist der untere Pol des Tumors
von der Vagina aus erreichbar.
Am 15. Januar 1900 Laparotomie. Der kopfgrosse,
cystische Tumor, der mit seinem unteren Pol bis nahe der Becken¬
eingangsebene, nach oben bis an den Leberrand reichte, war von
adhärentem Netz überlagert, an seiner rechten Seite das Colon as¬
cendens adhärent.
Im kleinen Becken fand sich nur ein Ovarium und eine
dünne, sehr lange Tube, welche gegen den grossen J unior hin
20) Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. Bd. XLIT, Heit 1,
\r]V
21) v. Winckel, Lehrbuch der Frauenkrankheiten. 1900, pag. 328.
*2) Axel I v e r s e n, Abdomiualchimrgio. H o w i t z, Gynaek. og
Obstet. Medd^l. Bd. VII, pag. 1 190.
23) 1888, pag. 539.
24) 1888, pag. 691.
880
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1000.
Nr. 39
nach rechts und aufwärts zu verfolgen war; dort ging sie, etwa
12 on vom Grunde des Beckens entfernt, in das dem Tumor an¬
liegende Corpus uteri über. Zwischen diesem und dem Scheiden¬
gewölbe erstreckte sich eine dünne, durchscheinende Ligamentplatte,
in der weder ein grösseres Gefäss, noch ein als Cervix zu deutender
Strang sichtbar war. Die rechte Tube zog an der Vorderfläche des
cystischen Tumors nach rechts und unten, der Tumor selbst ent¬
spricht dem rechten Ovarium. Nach Entleerung der Flüssigkeit
durch Function wurde der Cystenbalg aus seinen Adhäsionen
gelöst und sammt dem Uterus abgetragen, nachdem über dem
Beckenboden quer vom linken Lig. infundibulo-pelvicum durch die
breite Ligamentplatte hindurch bis zum rechten Lig. infundibulo-
pelvicum ligirt worden war. Die Heilung erfolgte reactionslos.
Das der Oberfläche des vorderen unteren Tumorqua¬
dranten auflagernde, mittelst des 2 cm langen Ligamentum
ovaricum dextrum mit dem Tumor innig verbundene infantile
Corpus uteri zeigt eine Fundusbreite von 4 cm, Höblenlänge
von 2V2 cm, Wanddicke von 7 mm und eine wohlentwickelte,
gröbere Muskelfaserzüge in der Längsrichtung eine kurze
Strecke in die Peritonealduplicatur hinein verlaufend.
Das linke Ovarium ist normal, das rechte ist repräsentirt
durch den Tumor. Dieser erweist sich nach der Beschaffenheit
seines Inhaltes (gelblichweisse, dickliche Flüssigkeit, vermengt
mit Talg, breiigem Fett, Haaren und Cholestearinkry stallen),
wie nach der seiner Kapsel, die an der Innenfläche zwei
Zähne und zahlreiche Haare trägt, als cystisches Embryom.
Es ist wohl klar, dass zu dem Zustandekommen einer
derartigen Zusammenhangstrennung im Cervix eine bedeutende
Elevation des Uterus und ein besonders gewaltsamer Zug nach
oben erforderlich ist, dem andererseits die feste Insertion der
Scheide am Collum und eine geringe Dislocationsfähigkeit der
Scheide in Folge besonders straffer Befestigung ihrer Seiten¬
wände an der Beekenfascie grossen Widerstand entgegen¬
setzen. Es wäre naheliegend, bei dem Umstande, dass beide
Fälle Patientinnen kindlichen Alters betrafen, auch eine geringere
Festigkeit des Cervix im Kindesalter anzunehmen, in Analogie
L.
r.
C.E.
— cystisches Embryom. C.u. — Corpus uteri. L.r. = Ligamenta rot. O.s. = Ovarium sin. T. = Tuben.
auf dem Durchschnitt makroskopisch deutlich bemerkbare
Schleimhaut. Die rechte lube ist 12c/tt, die linke 11 cm lang,
dabei nicht auffallend verdünnt. Die zur rechten Tube gehörige
Mesosalpinx ist auf S'/2cm frei abhebbar und trägt an ihrer
vorderen Ligamentplatte mehrere 3 — 4 mm lange und einen
grösseren Anhang, welcher medial und unter dem Fimbrien¬
ende entspringend, sich henkelförmig über den ampullären
Theil der Tube hinüberschlägt und an der hinteren Ligament¬
fläche fest inserirt. Die kleine Corpushöhle ist leer, läuft nach
unten zu in eine Spitze aus und endigt dort blind.
An Stelle des Cervix zieht vom unteren, kolbig abge¬
rundeten Corpusende eine leere Peritonealduplicatur nach ab¬
wärts, die, gegen das Licht durchscheinend, keinen als Cervix¬
rest zu deutenden Strang erkennen lässt. Die mikroskopische
Untersuchung ergibt ein spärliche Drüsen enthaltendes Endo¬
metrium und ein normales Myometrium. Durch die am Prä¬
parat 6 — 7 cm lange Peritonealduplicatur wurden zahlreiche
Schnitte gelegt, doch ist auch mikroskopisch nichts, was mit
Sicherheit als Cervixrest gedeutet werden könnte, zu finden;
Schnitte durch das untere Ende des Corpus zeigen einige
zu jener hochgradigen Verdünnung und Zerrung, ja selbst
Zerreissung des senil atrophischen Uterushalses, wie sie nach
Fritsch20) bei Prolaps und gleichzeitiger Fixation des Uterus
nach oben hin Vorkommen; zwei Fälle können aber noch
keinen sicheren Beweis abgeben, und es ist, wie Fried¬
länder26) gezeigt hat, zwar das Längenwachsthum des
Collum in der Kindheit einer gewissen Gesetzmässigkeit unter¬
worfen, dagegen schwanken die übrigen Dimensionen des
Cervix individuell bedeutend.
Die Lage des cystischen Embryoms über der Becken¬
eingangsebene und das Wachsthum desselben hoch hinauf bis
zum unteren Leberrande finden ihre Erklärung in der Ent¬
stehung im kindlichen Alter.
Nach Waldeyer27) ist die hohe Lage des Ovariums
bei Kindern, bei denen das Becken noch eng ist, die Regel.
25) 1. c., pag. 194.
2B) v. F r i e d 1 ä n d e r, Archiv für Gynäkologie. 1899, Bd. LVI,
Heft 3.
■') Siehe: Martin, Die Krankheiten der Eierslöcke. 1899,
I, pag. 9.
Nr. 39
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
881
Nehmen wir nun an, dass ausserdem die Grösse des Tumors
und frühzeitige Verwachsungen mit den Organen der Bauch¬
höhle ein Herabsinken der Geschwulst ins kleine Becken ver¬
hinderten, so war die Disposition zur Entwicklung des Tumors
nach oben gegeben. So situirte cystische Embryome sind, wenn
sie einen Stiel besitzen, immer langgestielt (Sänger25).
In Iver sen’s und meinem Falle hatten die Tumoren ihre
lange Stielung in der ausgezogenen Peritonealduplicatur,
während ihr eigentlicher Stiel — in meinem Falle das Ligam.
ovarii proprium — bei der Zerrung nach oben nicht nach¬
gegeben hatte.
Aus dem Civilspitale von Triest.
Hyperglobulie und Splenomegalie. Hyperglobulie
und Splenektomie.
Von Dr. V. Cominotti.
Im December 1896 hatte ich Gelegenheit, das Blut einer
splenomegalischen Patienten, die später der Splenektomie unter¬
zogen wurde, zu untersuchen, wobei der Befund, eine be¬
deutende Hyperglobulie, mich sehr überraschte, weil
er im Gegensatz stand zu allen jenen, die bei allen ähnlichen
Fällen bis dort veröffentlicht worden waren. Seit jener Zeit erhob
ich mit besonderer Aufmerksamkeit die Blutbefunde bei Kranken
mit Milzvergrösserung, traf jedoch bei diesen Patienten auf
keinen gleichen Befund. Da brachte es der Zufall mit sich,
dass ich im December des folgenden Jahres aufgefordert wurde,
das Blut einer Frau zu untersuchen, die vor sieben Jahren
mit glücklichem Erfolge splenektomirt worden war: auch hier
fand ich, wenn auch in geringerem Grade, Zunahme der rothen
Blutkörperchen.
Die Wichtigkeit des ersten Falles, der positive Befund im
zweiten, bewogen mich, beide mitzutheilen.
Bis heute sind Fälle selten, bei welchen eine Zunahme
der rothen Blutkörperchen consiatirt wurde, und nicht immer
wurde eine genügende Erklärung hiefür geliefert.
Rothe Hyperglobulie findet man bei angeborenen Herz¬
krankheiten (Blausucht) und unter gewissen Bedingungen bei
chronischen Lungenkrankheiten, bei welchen die Zahl der
rothen Blutkörperchen auf über 9,000.000 im Cubikmillimeter
ansteigen kann. Es ist das nichts Neues und bildet sogar ein
wichtiges Symptom der Blausucht (Toenissen, Vaquez,
Petit, K r e h 1, A. T e i s t i, Carnichael u. A.). Die Deutung
dieser Thatsache ist jedoch sehr verschieden. Ich werde die
Auffassung Arcangeli’s als die derzeit vorherrschende an¬
führen. Er behauptet, dass die Zunahme der rothen Blut¬
körperchen einen wichtigen Compensationsfactor darstellt. Nach
seiner Auffassung erfolgt in der sogenannten Cyanodermie der
angeborenen Herzkranken und in anderen Affectionen (Lungen¬
emphysem, Kyphoskoliose, Tuberculose), welche mit Cyanose,
aber nicht mit Insufficientia cordis einhergehen, eine abnorme
Blutvertheilung und zwar eine cutane Polyhaemia rubra, der
eine Ischämie der Centralorgane entspricht; diese Polyhaemie ist
die Folge der geringen circulirenden Sauerstoffmenge. Dieser
Sauerstoffmangel regt einerseits die Hämatopoese an und ruft
somit einen Ueberschuss der Blutmenge und der rothen Blut¬
körperchen hervor, andererseits ruft sie eine Erweiterung mit
consecutiver Ausdehnung der peripheren Gefässe hervor mit
nachfolgender Verengerung der tiefliegenden Gefässe. Diese
Veränderungen nützen den Kranken und sind als Compen-
sationsversuch zu betrachten.
Analog verhält sich die Hyperglobulie, welche bei Leuten
zur Beobachtung kommt, die sich von der Ebene in das Hoch¬
gebirge begeben. Diese physiologisch, pathologisch und thera¬
peutisch wichtige Erfahrung geht speciell aus den Arbeiten
von V i a u 1 1 hervor, die er in den Cordilleren ausführte, weiter
aus jenen von Mercier, Egger, Wolf, Koeppe, v. J a-
runtowski, Schröder u. A. Diese F orscher beobachteten,
2S) S. Sänger, Klinische Verhältnisse der Ovarialembryome. Ebenda,
pag. 682.
dass die Zahl der rothen Blutkörperchen, die im Mittel als
5,000 000 im Cubikmillimeter angenommen wird, im Verlaufe
von 10 — 14 Tagen allmälig zunimmt und zwar umsomehr,
je grösser die Niveaudifferenz zwischen dem ersten und zweiten
Aufenthaltsorte ist, so dass sogar 7,000.000 und darüber
erreicht worden sind. Auch die Bewohner von Gebirgshöhen
weisen höhere physiologische Mittelwerthe der rothen Blut¬
körperchen im Vergleiche zu den Bewohnern von Niederungen
auf. Diese wichtigen Studien waren der Ausgangspunkt der
verschiedensten und disparatesten Theorien: während die Einen
diese Hyperglobulie blos als eine locale Hyperplasie der
formativen Elemente auffassen, erklären sie Andere als eine
absolute allgemeine. Nach Koeppe-E Erlich finden zwei
Vorgänge statt, die zu einander in Abhängigkeit stehen, zu¬
nächst eine Zunahme durch Theilung, Mitose, der schon vor¬
handenen Blutkörperchen, dann erst, weil hiezu eine gewisse
Zeit erforderlich ist, eine thatsächliche Mehrproduction normaler
Erythrocyten. Der gesammte Vorgang findet als physiologische
Anpassung zum verminderten Luftdrucke statt, dessen Folge
eine erschwerte Sauerstoffaufnahme wäre.
J. Neumann berichtet über einen Addison-Kranken, der
in Folge regenerativer Hyperplasie der rothen Blutkörperchen
geheilt ist. Patient, 48 Jahre alt, erkrankte plötzlich unter den
Erscheinungen einer tiefen Anämie, grosser Abgeschlagenheit,
Bronzeverfärbung der Haut und ardesiasischen Flecken der
Schleimhäute. Der als Morbus Addisoni erkannte Zustand er¬
reichte in 14 Tagen seinen Höhepunkt, worauf eine stete
langsame Besserung eintrat, so dass nach zwei Jahren, nach¬
dem sowohl die Bronzehaut als auch die übrigen Symptome
völlig geschwunden waren, der Patient als geheilt betrachtet
werden konnte. Hier bieten die Blutbetunde ein bedeutendes
Interesse: April 1885 belief sich die Zahl der Erythrocyten auf
1,100.000 und stieg allmälig bis zum Jänner 1886 bis zu dem
bedeutenden und abnormen Werthe von 7,700.000, um dann
im Juli desselben Jahres wieder auf den fast constanter Höhe
von 5,500.000 zu verbleiben. Der Autor hält diese Polycythaemia
rubra für eine wirkliche Regeneration des Blutgewebes und
schliesst jede andere Ursache aus, wie z. B. die Hyperglobulie
nach Aufhören von periodischen Blutungen (Menstruation,
Hämorrhoiden Epistaxis, periodische Aderlässe etc.), oder in
Krankheiten, die mit bedeutenden und erschöpfenden Flüssig¬
keitsverlusten einhergehen (Cholera u. A.).
Donke und Ewald constatirten Polycythämie nach
langem Gebrauch von Levico-Wasser.
Jak sch citirt zwei Fälle von acuter Phosphorvergiftung,
bei welchen eine bedeutende Zunahme der rothen Blutkörperchen
zur Beobachtung kam. In dem einen Falle, den er mit
Taussig beobachtete, fand man gleich zu Anfang, und zwar
bevor noch jegliche Vergiftungserscheinung aufgetreten war,
4,300.000 rother Blutkörperchen. Am dritten Tage, nachdem
bereits Vergiftungssymptome deutlich ausgesprochen waren,
stieg die Zahl auf 7,700 000 ; am vierten Tage 8,250.000. Der
Eiweissgehalt des Blutes war normal geblieben. Die Alkalescenz
hatte abgenommen. Jaksch sieht von einer Erklärung dieser
Polycythämie vorläufig ab.
Eine leicht zu erklärende Hyperglobulie treffen wir in
gelähmten Gliedern an oder in Fällen von künstlicher Stauung
durch Compression, Verbände etc.
Nachdem ich diese allgemeinen Phänomene vorausgeschickt,
theile ich meine zwei Fälle mit und behalte mir vor, nach
denselben einige Citate und Betrachtungen anzureihen, welche
die rothe Hyperglobulie in Fällen von Milzerkrankungen be¬
treffen.
Anamnesis: Maria B., 33 Jahre alt, ledig, Private aus
Pirano, wurde am 1. December 1896 auf der IV. chirurgischen
Abtheilung des hiesigen Spitales aufgenommen. Vater starb, 49 Jahre
alt, an chronischer Wirbelcaries, Mutter lebt und ist gesund, ebenso
zwei erwachsene Brüder und eine Schwester; fünf Brüder sind im
Alter von zwei bis drei Jahren an Kinderkrankheiten gestorben.
Patientin überstand im Alter von drei Jahren eine schwere Er¬
krankung, die sie nicht näher zu bezeichnen weiss. Sie erinnert
sich an keine andere Krankheit in ihrer Jugend, sie war nur immer
schwächlich und blass. Die Menstruation trat zuerst in ihrem
882
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 39
22. Lebensjahre auf; seither regelmässig und schmerzlos, allmonatlich
in der Dauer von sechs bis sieben Tagen. Als sie das 25. Lebensjahr
erreicht hatte, hörte die Regel ein Jahr lang auf und es stellte
sich heftiger stechender Schmerz in der Milzgegend auf, der sie
sogar einen Monat lang an das Bett fesselte. Nach einem Jahre
trat die Menstruation zwar wieder auf, jedoch unregelmässig, um
erst anderthalb Jahre vor der Spitalsaufnahme gänzlich zu ver¬
schwinden. Der stechende Schmerz in der Milzgegend, der sie
ursprünglich wegen seiner Heftigkeit nöthigte, das Bett zu hüten,
hörte nach zweimonatlicher Behandlung fast ganz auf, meldete sich
jedoch wieder bei jeweiligen Stuhlentleerungen und nach langem
Gehen oder Treppensteigen, ln letzterer Zeit jedoch treten diese
Schmerzen mit erneuter Intensität in Zwischenräumen von drei bis
vier Tagen für einige Stunden auf. Leichtes Nasenbluten tritt fast
allmonatlich vom 15. Lebensjahre an auf. Seit langer Zeit wird sie
von Schwindel, Kopfschmerzen, Congestionen heimgesucht. Patientin
will nie gefiebert, nie Nachtschweisse gehabt haben. Seinerzeit litt
sie an Polyphagie und Polydipsie; gegenwärtig ist Appetit und
Durstgefühl normal. Die Stuhlentleerungen sind häufig diarrhoisch.
Der Urin wird in einer Menge von ungefähr 1 J/2 ^ täglich gelassen.
Status praesens: Eher kleine Frau von schwachem
Körperbau, mit deutlicher Skoliose der Brustwirbelsäule und ent¬
sprechender Compensation der übrigen Segmente. Der Thorax weist
Spuren von Rachitis auf. Musculatur und Panniculus wenig ent¬
wickelt. Hautfarbe blassbraun. Das Auge ist lebhaft und intelligent.
Die Pupillen sind normal und reagiren gut. Sichtbare Schleimhäute
blassschmutzig verfärbt. Jochbeingegend cyanotisch. In beiden Kiefern
fehlen manche Zähne, die vorhandenen sind defect und cariös. Hals
eher kurz. In der Submamillargegend finden sich beiderseits kleine
Drüsen von etwa Bohnen- bis Haselnussgrösse. Deutliche Undulation
der etwas geschwellten Jugularvenen. Thorax kurz, in den unteren
Partien etwas ausgedehnt. Percussion des Thorax gibt keinen
abnormen Befund. Die Leberdämpfung beginnt am unteren Rande
der fünften Rippe. Die Auscultation ergibt überall rein vesiculäres
Athmen. Die absolute Herzdämpfung beginnt oben an der dritten
Rippe, überschreitet kaum nach rechts den linken Sternalrand. Der
Herzstoss ist im fünften Intercostalraum sichtbar, kräftig und wenig
verbreitert. An der Herzspitze besteht neben dem ersten Ton ein
systolisches blasendes Geräusch, ebenso an der Auscultationsstelle
der Pulmonalis. Der zweite Pulmonalton nicht accentuirt. Die Herz¬
action gut, regelmässig.
Das Abdomen etwas aufgetrieben, über den Nabel leicht
vertieft. Die Symphyse steht von dem Schwertfortsatze 34 cm ab;
Umfang über dem Nabel gemessen 94 cm. Die Percussion des
Abdomens ergibt über der linken Hälfte eine absolute Dämpfung,
die bis zum Hypogastrium reicht. Keine freie Flüssigkeit nach¬
weisbar. Durch die Palpation constatirt man eine enorme Milz,
welche die linke Bauchhälfte ausfüllt, bis in die Leiste reicht,
äusserst harte Consistenz und glatte Oberfläche besitzt; sie ist etwas
sehmerzlmft und kaum beweglich. Die Leber erscheint vergrössert,
überschreitet den Rippenbogen um ungefähr zwei Querfinger, der
Rand ist scharf, die Oberfläche glatt. Das Nervensystem weist keine
Anomalie auf. Die Patellarreflexe sind erhalten. Sensorium stets
Irei. Intelligenz gut. Temperatur 36'8 — 36'7. Puls gut, regelmässig.
Frequenz 70.
Harn: Tägliche Menge 1500— 1700 cm3, klar, hellgelb.
Specifisches Gewicht 1010. Schwach sauer.
Albumen 0, Zucker 0, Pepton 0, Aceton 0, Diazoreaction 0,
Gesannntphosphate vermehrt, Indican vermehrt.
Blutuntersuchung: Aus dem Ohrläppchen dichtes hell-
rothes Blut. Natives Präparat: Spärliche Fibrinnetze; wenig
ausgesprochene Geldrollenbildung der Erythrocyten. Rothe Blut¬
körperchen blass, von etwas verschiedenem Durchmesser, die einen
kleiner, die anderen grösser. Scheinbare Abnahme der Leukocyten.
Zunahme der Hämoloblasten. Eosinophyle Zellen vorhanden. Ein¬
zelne Uebergangsformen. Keine Spur von Pigment. Kein Parasit.
Gefärbtes Präparat (Ehrlich’s Triacidlösung und Eosin-
Hämatosxlin): Geringe Färbbarkeit der rothen Blutkörperchen. Ein¬
zelne Makrocvten. Keine kernhaltigen Erythrocyten. In jedem Ge¬
sichtsfelde ein bis zwei Leukocyten. (Zeiss’ Immersion) Eosino¬
phyle Zellen vorhanden, nicht vermehrt.
Den 15. December 1896 ist die erste Zählung
der Blutkörperchen vorgenommen (Thoma-Zeiss). Rothe Blut¬
körperchen 7.200.000, 6,990.000 pro Gubikmillimeter; weisse Blut¬
körperchen 6000 pro Gubikmillimeter. Hämoglobinbestimmung sec.
Gower 80%.
Den 2. Januar 1897 zweite Zählung: Rothe Blut¬
körperchen 7,500.000, weisse Blutkörperchen 6300 pro Cubik-
millimeter. Hämoglobin 75%.
25. Januar 1897 dritte Zählung: Rothe Blutkörperchen
7,000.000, weisse Blutkörperchen 6000 pro Gubikmillimeter.
Hämoglobin 80%.
2. Februar 1897, drei Tage nach der Operation, vierte
Zählung: Rothe Blutkörperchen 6,500.000, weisse Blutkörperchen
7200 pro Gubikmillimeter. Hämoglobin 70%.
10. März 1897, zwei Tage vor dem Tode der Patientin,
fünfte und letzte Zählung: Rothe Blutkörperchen 5,300.000 per
Gubikmillimeter; die weissen Blutkörperchen sind nicht gezählt
worden, aber ein frisch gefertigtes Präparat lässt eine ziemlich
starke Vermehrung der Leukocyten nachweisen (Praeagonales
Symptom ?).
Patientin wurde mit Erfolg den 28. Januar 1897 operirt.
Die ektomirte Milz bestand aus einem Tumor von 33 cm Länge und
40 cm Umfang; Gewicht 4 '/4 /er/. Die Kapsel' war ziemlich verdickt
und wies einzelne, besonders dichtere Flecken auf. Die Schnittfläche
war blassroth und von dichten, fibrösen Dissepimenten durchzogen,
welche das Organ in fast entsprechend viel Lappen * theilten.
Die mikroskopische Untersuchung wurde leider durch ein Versehen
versäumt. Die Kranke ertrug die Operation gut; nach 52 Tagen
jedoch erlag sie einer hinzugekommenen Sepsis.
Die Section, von Dr. P e r t o t ausgeführt, ergibt Folgendes:
Die Laparatomiewunde noch nicht geheilt, rein; zwischen Magen,
Zwerchfell, Dickdarm und Abdominalwand besteht eine unregelmässige
Höhle mit nicht gut begrenzten Wänden, welche eine trübschwärz¬
liche, nicht stinkende Flüssigkeit enthält. Im Grunde fühlt man den
von infiltrirtem Gewebe umgebenden Pankreas. Die Milzvene ist
ungemein erweitert und enthält Fibrin und Eiter. Die Pfortader
enthält viel trübe, eiterige Flüssigkeit. In der Leber findet sich
abgesehen von einigen kleinen Herden, welche an hyperplastisches
Leberparenchym erinnern, nichts Auffälliges; die erwähnten Partien
sind gut abgegrenzt. Das ganze Peritoneum ist normal. Magen und
Darm bieten keine Veränderung. Ziemlich ausgesprochene Caries
der Brustwirbeln mit Ansammlung von flüssigem Eiter, von welchem
die Knochen umgebenden Gewebe infiltrirt sind. Lungen und Herz
bieten normalen Befund. Herabgekommenes Individuum, mit be¬
deutender Skoliose der Brustwirbelsäule und entsprechender Com¬
pensation.
Diagnose: Splenektomie, Sepsis.
Nun der zweite Fall. Anna C, aus Altura bei Pola,
34 Jahre alt, Häuslerin, wurde mit 16 Jahren zuerst menstruirt;
hatte stets unregelmässige spärliche Menstruation, die zeitweilig
Monate lang aussetzte. 18 Jahre alt, erkrankte sie an Scorbut.
1883 heiratete sie und hatte 1884 und 1889 je eine normale
Geburt. Am 22. September 1891 wurde sie wegen malarischem
Milztumor1) splenektomirt (siehe: M a s s o p u s t, La Clinica Chirurgica
Anno I, 1893). Nach 22 Tagen verliess sie das Krankenhaus, trat
jedoch nach weiteren 90 Tagen wieder ein und zwar wegen
Febris intermittens, die bald auf Chininbehandlung wich.
Seitdem will sie gesund gewesen sein, obgleich sie zwei Jahre lang
amenorrhoisch war; später traten die Menses schmerzlos, regelmässig
und in der Dauer von zwei bis drei Tagen wieder auf. Vor sechs
Monaten begann sie an Kopfschmerzen und Magenbeschwerden zu
leiden; Brechen, Obstipation bestanden nicht. Die Schmerzen waren
nicht continuirlich, setzten vielmehr stundenlang aus. Abnahme des
Appetites. Es besteht Schwangerschaft im sechsten Monate, und
darauf führt Patientin die erwähnten Beschwerden, wie auch einen
seit einem Monate entstandenen stechenden Schmerz im linken
Hypochondrium zurück. Ferner klagt Patientin über einzelne Husten-
stösse mit katarrhalischem Auswurf; seit 20 Tagen besteht Heiserkeit.
Status praesens: Lunge: Ueber der rechten Spitze etwas
abgekürzter Schall, rauhes vesiculäres Athmen mit einzelnen
katarrhalischen Rasselgeräuschen; seltene katarrhalische Rassel¬
geräusche am unteren Lappen der linken Lunge. Reine Herztöne.
’) Milztumor derb, von gleichmässig elastischer Consistenz, in allen
Richtungen beweglich, von dem Verticaldurchmesser — 20 cm, der Traus-
versaldurchmesser = 30 cm.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Puls weist normale und reguläre Frequenz auf. Arterie voll. Leber
normal. Magen scheinbar alterirt. Keine Vergrösserung der Schild¬
drüse. Keine Drüsenschwellungen (Dr. F 1 o r i o). Leichte Stimm¬
bandparese. Verschleierte Stimme (Dr. Germonig). Gesicht: Ocul.
utr. 6/6. Augenhintergrund normal (Dr. Brettaue r).
Blutbefund: Im frischen Präparate erscheinen die Ery-
throcyten hämoglobinarm und von geringer Geldrollenbildung; meist von
gewöhnlichem Durchmesser bis auf einzelne grössere weniger runde.
Unter den Leukocyten wiegen an Zahl die kleine mononucleären vor.
Vermehrung der eosinophylsn Zellen. Bedeutende Zunahme der
Fibrinnetze und Hämatoblasten.
Trockenpräparat (E h r 1 i c h’s Triacidlösung und Eosin-
Hämatoxylin): Geringe Färbbarkeit der rothen Blutkörperchen; ein¬
zelne Makrocyten; einzelne kernhaltige Erythrocyten.
Leukocyten: Polynucleäre circa 40%, grosse Mono-
nucleäre circa 1%, kleine Mononucleäre circa 47%, Uebergangs-
formen circa 2%, eosinophyle Zellen 10%.
Hämoglobin (Gower) 60%. Zahl der rothen Blut¬
körperchen nach Thoma-Zeiss über 5,500.000 pro Cubik-
millimeter. Zahl der w e i s s e n Blutkörperchen 7 500 pro
Cubikmillimeter.
Diese meine zwei Fälle tragen gewiss nicht bei, die
richtige Function und physiologische Bedeutung der Milz zu
erklären, sie tragen eher dazu bei, das Halbdunkel unserer
Kenntnisse auf diesem Gebiete zu vermehren. Was weiss man
von der Milz? Dass man sie ausschneiden kann, ohne dass
dadurch der Organismus Schaden erleidet, ohne dass Ausfalls¬
erscheinungen auftreten, dass man zuweilen nach Splenek-
tomie eine Volumszunahme der Lymphdrüsen wahrgenommen
hat und noch häufiger eine grössere Thätigkeit des Knochen¬
markes; einzel weise wurde auch die gewiss interessante
Beobachtung von neoplastischen Neubildungen in dem Drüsen¬
system gemacht. Ueberdies wird von einzelnen Forschern
eine gewisse Bedeutung bezüglich der Blutbereitung der Mdz
zugeschrieben, indem man derselben zwei scheinbar ent¬
gegengesetzte Aufgaben zumuthet : sie sei die vorwaltende
Bildungsstätte und Quelle der Leukocyten einerseits, andererseits
soll sie wieder der Ort sein, in dem die Erythrocyten zerstört
werden. Haben wir genügende Beweise, um der Milz diese
Thätigkeit zuzuschreiben ? Können wir das mit Sicherheit be¬
haupten ? Wird eine Volumszunahme der Milz, sei es durch
acute oder chronische Schwellung, immer von einer Hyperplasie
der Leukocyten und Abnahme der Erythrocyten begleitet?
Beim Abdominaltyphus, einer Krankheit, in der gerade der
Milztumor sich fast constant und ausgesprochener als in irgend
einer anderen acuten Krankheit vorfindet, gilt vielleicht die
Hypoleukocytose nicht als ein hervorragendes diagnostisches
Hilfsmittel ? Findet sich bei chronischen Malariamilzschwellungen
immer Zunahme der Leukocyten? Hat die Milz, wie Ehrlich
behauptet, nur eine untergeordnete Bedeutung für die Bildung
der weissen Blutkörperchen und ist die bei den meisten acuten
fieberhaften Erkrankungen vorkommende Hyperleukocytose
blos vom Knochenmark abzuleiten?
Uebersehen wir die vorhandene hämatologische Literatur
der Milz, so begegnen wir einem Chaos, aus dem nicht leicht
ein Ausweg zu finden ist. Bei der Splenektomie finden wir
fast immer angeführt: a) eine bedeutende Zunahme der weissen
Blutkörperchen und speciell nach einigen Autoren (Ehrlich,
K u r 1 o f f, Hartman, V a q u e z, Jonnescu u. A.) eine
Hypoleukocytose der kleinen Mononucleären, später tritt
Eosinophylie auf. b) Fast immer Abnahme der Zählwerthe des
Hämoglobingehaltes der rothen Blutkörperchen. Nur nebenbei
wollen wir auf die Beobachtung Crede’s hinweisen, der vier
Monate nach der Operation nebst dem oben angeführten Blut¬
befunde, ein Bild beobachtet haben will, das an Myxödem
erinnerte, mit sklerosirenden Vorgängen in der Haut und Zu¬
nahme der Schilddrüse.
Wie verhält sich nun die Hyperglobulie sowohl in der
Splenomegalie als auch in der Splenektomie ? Schon 1892 hatte
Vaquez Gelegenheit, einen Fall mit drei Cardinalsymptomen
zu beobachten, nämlich: Megalosplenie, Hyperglobulie und
Cyanodennie. Er war damals der Ansicht, dass die Cyanodermie
von einem angeborenen Herzfehler abhinge, während später die
Autopsie (Semaine medicale. 1895) blos eine bedeutende Hyper¬
trophie der Milz und der Leber erwies. Das Herz war gesund.
M. F. Vidal konnte im Vereine mit M. Rendu (Se¬
maine medicale. 1899) mehrere Jahre hindurch einen Fall einer
eigenartigen tuberculösen Splenomegalie verfolgen mit Cyanose
des Gesichtes und der Extremitäten und Hyperglobulie
(8,200.000 rother Blutkörperchen zwei Jahre vor dem Tode
und 5,250.000 sub finem vitae). Der Kranke war weder
Syphilitiker noch Potator und konnte sechs Jahre hindurch
seiner Arbeit nachgehen, trotz einer enormen Milz, die die
linke Bauchhälfte ausfüllte und bis in die Leiste reichte. Er
war acht Jahre nach Beginn der Erscheinungen nicht kachektisch.
Die Autopsie und das Mikroskop wiesen eine primäre Milz-
tuberculose nach, welche so viele Jahre localisirt geblieben war.
Ein ähnlicher Fall wurde 1899, jedoch ohne Cyanose,
von Montard-Mart.in, und ein weiterer von Ac hard
(L’independance med. 7. Juni 1899) nachgewiesen.
Mein Fall (anno 1896) kann dieser Reihe angeschlossen
werden, und zeichnet sich durch Elephantiasis der Milz und
Hyperglobulie aus; wie im Falle Montard- Martin fehlt
auch hier die Cyanodermie. Ich habe schon oben hervorgehoben,
dass die riesig vergrösserte Milz eine bedeutende Vermehrung
des Bindegewebes zeigte. Tuberculöse und andere Herde wurden
nicht angetroffen. Bedauerlicher Weise entging mir die histo¬
logische Untersuchung. Die in der Leber beschriebenen, hyper¬
plastischen Parenchympartien ähnlichen Stellen wurden ebenfalls
nicht mikroskopisch untersucht.
Es wäre meiner Ansicht nach eine Kühnheit, oder besser
gesagt: es ist geradezu noch unmöglich, das Phänomen der
Hyperglobulie bei Splenomegalie und Asplenie zu erklären. Denn
wollte man auf die vier bisher mitgetheilten Fälle sich stützend,
der Milz eine Leukocyten zeugende, für Erythrocyten aber
eine zerstörende Thätigkeit zuschreiben, dann könnte man noch
für obige Erscheinungen bei sklerotischen oder sonst die Function
aufhebenden Processen eine Deutung finden; wie aber lässt
sich damit die von vielen Autoren mitgetheilte Hyperleuko¬
cytose und Hypoglobulie nach Splenektomie vereinen? Vielleicht
mag dafür, dass eine Hyperplasie der rothen Blutkörperchen
nicht häufiger gefunden wird, der Umstand zur Verantwortung
herangezogen werden, dass die Blutuntersuchungen nach
Splenektomien zu bald unterbrochen werden?
Der von mir angeführte Fall von Anna C. bietet sieben
Jahren nach der Operation eine massige Hyperglobulie.
Hervorg« hoben sei noch, dass das Blut der Patientin unmittelbar
vor der Operation keine Zunahme der weissen Blutkörperchen
aufwies; über die rothen Blutkörperchen finden sich keine
Angaben; Zählung wurde nicht vorgenommen. Nach drei
Monaten wurde der Blutbefund erhoben und soll angeblich das
Verhältniss Roth zu Weiss normal gewesen sein. Ueber diesen
Fall behalte ich mir vor, Eingehendes zu berichten, nachdem
ich weitere Untersuchungen vorgenommen haben werde.
Ich schliesse, indem ich den Herren Primarärzten
Dr. Escher und Dr. Massopust für die freundliche Ueber-
lassung der Fälle an dieser Stelle meinen verbindlichsten Dank
ausspreche.
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884
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr 89
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Clinica Chirurgica. 1893, T. I.
REFERATE.
Verhandlungen der Deutschen pathologischen Gesell¬
schaft.
Im Aufträge des Vorstandes herausgegeben von dem derzeitigen Schrift¬
führer E. Ponfick in Breslau.
Zweite Tagung, gehalten in München vom 18. bis 22. September 1899.
Berlin 1900, Georg Reimer.
Der 494 Seiten starke, mit zahlreichen Tafeln ausgestattete
zweite Band der Verhandlungen der Deutschen pathologischen Ge¬
sellschaft ist wohl, wie der derzeitige Herausgeber Ponfick in
der Vorrede richtig bemerkt, ein Beweis, dass das bei deren
Gründung gesteckte Ziel wissenschaftlicher Zusammenarbeit in
immer weiteren Kreisen Anklang und Förderung gefunden hat. Das
die sechs wissenschaftlichen Sitzungen ausfüllende Material ist in
4G theils grösseren, theils kleineren casuistischen Mittheilungen
niedergelegt und bietet mit der sich fast an jedem Vortrage an¬
schliessenden Discussion ein lebhaftes Bild wissenschaftlicher
Thätigkeit.
An der Spitze stehen die in der gemeinschaftlichen Sitzung
mit der ganzen medicinischen Hauptgruppe gehaltenen Vorträge
von Rabl: »Homologie und Eigenart«, und Marc hand: »Die
Beziehungen der pathologischen Anatomie zur Entwicklungsgeschichte,
besonders der Keimblätterlehre«, deren bedeutsamer, wohl bereits
Gemeingut gewordener Inhalt einerseits in dem Satze gipfelt: »Die
Eigenart eines Organismus beherrscht die Eigenart aller seiner
Theile«, andererseits: »dass die Gewebe des Körpers bei der Re¬
generation innerhalb derjenigen histologischen Grenzen bleiben,
welche sie durch die Entwicklung, also von ihrem ersten Auftreten
als gesonderte Theile der Anlage erhalten haben. Dem Wesen der
Gesehwulstbildungen werden wir nur auf dem Wege der Histogenese
näher kommen. Die klinische Bedeutung, Malignität oder Nicht¬
malignität, ist als Eintheilungsprincip zu vermeiden.
C h i ar i spricht über die Genese der Zwerchfurchen der
Leber, deren Entstehung er einer stärkeren, entweder continuir-
lichen oder vielfach wiederholten Anpressung der Leber gegen das
Zwerchfell zugeschrieben wissen will; und über basale Schädel¬
hyperostose und ihre Beziehungen zur Idiotie, wobei das allen
Fällen Gemeinsame nur wäre, dass die Hyperostose als Ausdruck
einer Wachsthumsstörung des Schädels anzusehen ist. Doch hebt
Chiari die eventuelle forensische Wichtigkeit einer gefundenen
basalen Hyperostose hervor, die uns mit grösster Wahrscheinlichkeit
den Schluss zu ziehen berechtigt, dass das betreffende Individuum
idiotisch war.
Ueber unpaarigen Ursprung der Intercostal- und Lumbal¬
arterien aus der Aorta und über Verbreitung eines Enchondroms
durch die Blutbahn berichtet Paul Ernst.
v. Kahl den's Vortrag über die Entstehung einfacher
Ovarialcyslen gipfelt in dem Punkte, dass der sogenannte Hydrops
folliculi nicht aus Follikeln, sondern aus einem adenomatösen Vor¬
stadium hervorgeht.
In der dritten Sitzung berichtet Rischpier über Gewebs¬
veränderungen durch Kälte; Borst über Experimente zur Fremd¬
körpereinheilung; Ribbert über die Entwicklung der bleibenden
Niere und über die Entstehung der Cystenniere, wobei er glaubt
festhalten zu dürfen, dass alle Cystennieren, auch die im höheren
Lebensalter zur Beobachtung kommenden, gemeinsamen Ursprunges
sind und sich auf eine embryonale Entstehung beziehen lassen, und
zwar, dass in der mangelnden Vereinigung der beiden Canal-
bestandtheile die Grundlage der Cystenbildung zu suchen sei.
G. Kaiserling spricht über Conservirung und Aufstellung
pathologisch-anatomischer Präparate für Schau- und Lehrsamm¬
lungen und Herstellung von Gyps- und Wachsabgüssen.
Ziegler referirt über ausgedehnte Untersuchungen, die von
Melnikow-Raswendenkow über den Gehalt verschiedener
normaler und pathologisch veränderter Organe an elastischen Fasern
mit Hilfe der W e i g e r fischen Methode ausgeführt wurden; sowie
über von Sata gemachte Untersuchungen über den Fettgehalt der
äusseren Haut, der Thränendrüsen, der Parotis, der Submaxillaris
und des Pankreas und demonstrirt einen von E. Sälen beschrie¬
benen Ilermaphrodilismus verus unilateralis beim Menschen.
Baum garten liefert neuerdings Beiträge zur Lehre von
der natürlichen Immunität (Assimilationstheorie im Gegensatz zu
der Gift- und Phagocytentheorie), deren zufolge die natürliche
Immunität einzelner Species, Racen, Individuen gegenüber bestimmten
Infectionskeimen wesentlich davon abhängt, dass die betreffenden
Keime in der lebenden Körpersubstanz der betreffenden Species etc.
nicht den geeigneten Nährboden, d. h. nicht die für ihr Leben
und ihre Entwicklung nothwendige chemische Zusammensetzung
finden. Dabei spielen Störungen der Assimilationsvorgänge und
Störungen der Osmose die Hauptrolle. Eine bacterienfeindliche
Wirkung des Blutserums in dem Sinne, dass im Serum bacterien-
tödtende Substanzen vorhanden seien, könne nach seinen Versuchs¬
ergebnissen nicht angenommen werden. Die Plasmolyse, verbunden
mit Assimilationsstörungen, ist die wesentliche Ursache des
Keimtodes.
Henke demonstrirt einen multiplen, cystischen, lymph¬
angiomähnlichen Tumor der Bauchhöhle.
Graser berichtet über Untersuchungen über die Entstehung
multipler Darmdivertikel in der Flexura sigmoidea und vermuthet
in dem Vorhandensein abnorm grosser Gefässlücken eine Prädispo¬
sition zur Entwicklung von Schleimhauthernien.
S c h m o r 1 gibt eine Methode zur Darstellung der Knochen¬
körperchen und ihrer Ausläufer an entkalkten Schnitten (Färbung
mit Thionin und Differenzirung in Picrinsäure) und eine Methode
der Färbung der Grenzscheiden mittelst Thionin und Phosphor¬
wolframsäure.
In einem zweiten Artikel schildert Schmorl die Störungen
des Knochenwachsthums bei der Barlo w’schen Krankheit. Die
Knochenveränderungen sind dadurch charakterisirt, dass einerseits
die Knochensubstanz eine Verminderung gegen die Norm erfährt,
dass andererseits das Knochenmark in den peripheren Enden der
langen Röhrenknochen und in den Epiphysenkernen seinen lymphoiden
Charakter verliert, und dass endlich periostale und endostale
Blutungen eintreten. Die subperiostalen Blutungen an den langen
Röhrenknochen sind nach Ansicht des Vortragenden vorwiegend auf
Fracturen zurückzuführen und kann der Morbus Barlow unab¬
hängig von Rachitis zur Entwicklung kommen. Dagegen meint
Nauwerck, der zur selben Sache spricht, dass zur Zeit der
Beweis nicht erbracht ist, dass eine eigene, von Rachitis unabhängige
M ö 1 1 e r - B a r 1 o w’sche Krankheit besteht; nach ihm ist sie nur
eine Episode im Verlauf der Rachitis.
Babes liefert eine interessante, mit zwei Tafeln ausge¬
stattete, grössere Arbeit über hämorrhagische Infection des Menschen
sowie im Vereine mit V. Sion ausgeführte Untersuchungen über
Veränderungen im Nervensystem bei Pellagra, wobei sowohl in den
Nr. 39
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
885
peripheren Nerven, sowie im Rückenmark und im Gehirn positive
pathologische Befunde erhoben werden konnten.
Kockel berichtet über eine neue Fibrinfärbemethode ;
K. Winkler über einen bemerkenswerthen Fall von Hydrops
chylosus.
E. P on fick spricht neuerdings über Beziehungen zwischen
Myxödem und Akromegalie, und C. B e n d a macht eine casuistische
Mittheilung über Endangitis tuberculosa mit Demonstration.
Arnold Heller tritt an der Hand eines genau unter¬
suchten Falles entschieden für das Vorkommen einer syphiliti¬
schen Aortitis und ihre Bedeutung für die Entstehung von Aneu¬
rysmen ein.
Straub fasst die von ihm gefundenen Veränderungen der
Aortenwand bei progressiver Paralyse nicht als eine schwere prä¬
mature Atheromatose auf, sondern als eine luetische, chronische,
proliferirende Aortitis, die sich auf Brusttheil und den obersten
Abschnitt der Bauchaorta beschränkt, die untere Hälfte der letzteren
aber stets frei lässt. Tn der sich anschliessenden Discussion nimmt
der grösste Theil der Redner einen ablehnenden Standpunkt ein.
March an d’s Vortrag behandelt das Schicksal transplantirter
und replantirter Knochen, wobei unter Anderem die Substitution
des todten Knochengewebes durch neu sich bildendes Knochen¬
gewebe ohne vorausgehende Knochenresorption durch Osteoklasten
constatirt werden konnte. Endlich demonstrirte M a r c h a n d mikro¬
skopische Präparate mit Abbildungen, welche die Heilungsvorgänge
der Hornhautwunde und der Hornhauttransplantation ersichtlich
machen.
In der sechsten wissenschaftlichen Sitzung hält R. Heinz
einen Vortrag über die Herkunft des Fibrins und die Entstehung
von Verwachsungen bei acuter adhäsiver Entzündung seröser Häute
und zweitens über Blutschädigungen und deren Folgen.
Hanse mann liefert einen casuistischen Beitrag zur Ver¬
kalkung der Gehirngefässe, wobei das Ungewöhnliche in der ganz
reinen Beschränkung auf die weisse Substanz bestand, so dass die
verkalkten Capillaren an der Grenze zur grauen Substanz ganz
scharf in normale übergehen, und dass diese Verkalkung ganz
selbstständig auftrat und allein das Krankheitsbild beherrschte.
B e n e k e demonstrirt ein Osteoidchondrosarkom der Harn¬
blase und ein Chorionangiom.
L. Aschoff zeigt Präparate einer Endarteriitis tuberculosa
aortica und berichtet über das Resultat histologischer Untersuchungen
über Harnsäureablagerungen, nach welchen er einerseits die Ver-
muthung von Ebstein und N i c o 1 a i e r, dass auch beim mensch¬
lichen Harnsäureinfarct der Zerfall von Nierenepithelien eine Rolle
spiele, als zu wenig gestützt erklärt, andererseits die Nekrose in
den Geweben nicht als Ursache der Krystallisation, sondern um¬
gekehrt die Krystallisation als Ursache der Nekrose deutet.
In einem dritten Artikel: »Ueber die Lage des Paroophoron«
erklärt der Vortragende, dass das Paroophoron nicht medialwärts
vom Eierstock, sondern unterhalb desselben und lateral davon zu
suchen sei.
W. Rosenthal gibt seine Resultate und die genaue An¬
wendung des Verfahrens nach Daddi, Fett durch Färbung mit
Sudan III, einem Bisazofarbstoffe, zu färben, an.
Scheib demonstrirt einen Fall von chronischer Tuberculose
der Parotis, H. v. Schrötter ein Carcinoma pendulum plicae
aryepipl. sinist.
H. Schmaus zeigt Präparate über seine im Vereine mit
E. Albrecht angestellten Untersuchungen über die Structur der
Leberzellen (tropfige Entmischung) und der Letztere liefert
interessante Beiträge zur physiologischen und pathologischen Morpho¬
logie der Nierenzellen, wobei er unter Anderem neuerdings die
Flüssigkeitsnatur des Protoplasmas und vieler seiner Producte zu
beweisen sucht.
Orth demonstrirt histologische Präparate von Lebercaver-
nomen, von Ochronose und Pseudoochronose, sowie Diapositive
pathologischer, histologischer und mikroskopischer Präparate.
Zum Schlüsse folgt ein Artikel J. E berth’s: »Zur Histo¬
logie der verminösen Pneumonie der Säuger«, worin er besonders
auf eine ungewöhnliche Hypertrophie der Bronchialmusculatur, eine
Bronchitis hypertrophicans, aufmerksam macht.
Diesem reichen wissenschaftlichen Materiale reiht sich noch
der Bericht der Geschäftssitzung der Deutschen pathologischen Ge¬
sellschaft, sowie ein Mitgliederverzeichniss (145) derselben an.
Sch lagen häufe r.
*
Fliegenlarven als gelegentliche Parasiten des
Menschen.
Von Erich Peiper, a. o. Professor an der Universität Greifswalde.
Mit 41 Abbildungen.
Berlin 1900, Louis Marcus.
Wiewohl Fliegenlarven als gelegentliche Parasiten des
Menschen nicht' so selten sind, ist doch die Kenntniss dieser Ge¬
bilde unter den Aerzten noch nicht hinreichend bekannt, zumal
Abbildungen von Fliegenlarven, durch welche es auch dem prak¬
tischen Arzte möglich wird, diese Schmarotzer zu erkennen, wenn
er auch wegen der erheblichen Schwierigkeiten nicht immer im
Stande sein wird, eine Artbestimmung vorzunehmen, in der Literatur
nur selten und nur zerstreut zu finden sind.
Diesem Mangel nun steuert die Abhandlung E. P e i p e r’s,
durch die wir einerseits an der Hand von 41 instructiven Ab¬
bildungen alles zoologisch Wissenswerthe über diese Larven er¬
fahren, andererseits durch Anführung zahlreicher fremder und
eigener klinischer Beobachtungen auch die durch dieselben er¬
zeugten Krankheitsbilder, sowie deren prognostische Beurtheilung
und therapeutische Bekämpfung kennen lernen.
Schlagenhaufe r.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
358. Aus dem Laboratorium der L a n d e s - Irren¬
anstalt in Wien. Experimentelle Untersuchungen
über die Schleifenendigung, die Haubenbahnen,
das dorsale Längsbündel und die hintere Com¬
mis s u r. V o n D r. M. Probst. Die Ansichten über das obere
Ende der medialen Schleife sind derzeit noch getheilt: einzelne
Autoren lassen die Schleife ganz oder theilweise im ventralen Kern
des Thalamus opticus enden, andere anerkennen auch Schleifenfasern,
welche den Thalamus opticus einfach durchsetzen und direct zur
Hirnrinde ziehen. Es drehen sich mithin die beiden Ansichten um
die Frage, ob zwischen Hintersträngkernen und Hirnrinde ununter¬
brochene Bahnen bestehen oder nicht. Probst hat, um die Schleifen¬
schichte in ihrem ganzen Umfange zur Degeneration zu bringen,
dieselbe in verschiedenen Höhen sammt ihrer Umgebung bei Hunden
und Katzen durchschnitten. Alle Versuche ergeben dasselbe Resultat,
dass nämlich alle Fasern der medialen Schleife im Sehhügel endigen.
Die weiteren Versuche betreffen den Verlauf und die Endigung
einiger Haubenbündel (Haubenstrahlung), die Fasern des dorsalen
Längsbündels und die hintere Gommissur. — (Archiv für Psychiatrie.
Bd. XXXIII, Heft 1.) S.
*
359. G. Klemperer berichtete in der Sitzung der Berliner
medicinischen Gesellschaft vom 23. Mai d. J. über die Behand¬
lung der Basedo w’s c h e n Krankheit. Er hält dieselbe
nicht für ins chirurgische Gebiet gehörig, zumal viele Fälle einer
internen Therapie sehr wohl zugänglich sind. Seine Behandlung
bestand in Ruhe, Mastcur, Faradisation des Sympathicus und Hydro¬
therapie, ein anderes Mal in Verabreichung von Jodnatrium,
Thyreoidin durch drei Vierteljahre. Ein sehr grosser Werth komme
der psychischen Behandlung zu. Ewald und Oppenheim ent-
gegneten, dass sie vom Thyreoidin nur einen schlechten Erfolg
gesehen hätten. In einem Falle hat Ewald Oophorin mit Erfolg
gegeben. Senator betont gleich Klemperer, dass dem
psychischen Moment eine grosse Rolle bei der Auslösung des
Morb. Basedowii zukomme; er habe eine Dame gekannt, die über Nacht
an Basedow erkrankt war, als sie die Nachricht von der Ver¬
haftung ihres Mannes erhielt. Als inneres Mittel habe sich ihm
Arsenik bewährt. Ol.
*
360. Ueber die menstruelle Function und die
Rolle des Arseniks im thierischen Haushalte. Von
V. G a u t i e r. Während das normale Menschen- und I hierblut kein
Arsen enthätt, verhält sich dies anders während der Menstruation.
886
Nr. 39
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Gautier constatirte nach einem Berichte der Academie de medecine
in Paris im Menstrual blute im Mittel 0'28 vig Arsenik. Letzteres
bildet einen wesentlichen Bestandteil einiger specifischer Prote'in-
körper, welche durch die Schilddrüse erzeugt werden. Durch die
letzteren werden die Haut, Haare, Federn, Nägel u. s. w. ernährt
und der Ueberschuss mit dem Menstrualblute ausgeschieden. Beim
Manne setzt sich das Hervorbrechen der Nägel, Haare, Bartes und
die Abschuppung der Oberhaut fort, vom Standpunkte der Absorption
und Elimination der arsenikalen Nucle'ine dem Menslrualverluste beim
Weibe entsprechend. Bei den Männchen der verschiedenen Thier-
gattung beobachtet man ebenfalls zur Brunstzeit, dass die Federn,
Hörner, Nägel u. s. w. ihre stärkste Entwicklung bekommen. Der
Haarausfall bei schwangeren Frauen ist ebenfalls ein Zeichen der
vitalen Abschwächung der Haut, deren Nucle'ine gegen die Placenta
abgelenkt sind. Gewisse Ekzeme verschlimmern sich zur Zeit der
Regel und in der Menopause. Alle diese Thatsachen beweisen, dass
diese Nucleoprotei’ne das Leben und die Umbildung der Gewebe be¬
fördern. Die von der Schilddrüse werden zumeist vom Gehirne und
der Haut angezogen. Arsenik und Jod, von der Schilddrüse ab-
stammend, scheiden sich aus und erzeugen beim Männchen die er¬
wähnten Veränderungen in der Haut und ihren Anhängen, während
beim Weibchen der Ueberschuss der phosphorreichen Nucle'ine von
den Geschlechtsorganen zur Entwicklung des Fötus verwendet oder
mit dem Menstrualblute ausgeschieden wird. Demnach besteht ein
gewisser Zusammenhang zwischen den Geschlechtsorganen, der
Function der Schilddrüse und der Abstossung der Haare u. s. w.
Bezüglich des Jodgehaltes findet man eine viermal so grosse
Quantität im Menstrual- im Vergleiche zum Normalblute. Gau tier
fand, dass zum Beispiel bei den frommen Schwestern, welche sich die
Haare abschneiden, menstruale Störungen eintraten, besonders wenn
die Haare zur Zeit der Periode geschnitten wurden. Fournier
bemerkt, dass die von Gau tier bezüglich der Haut gezogenen
Schlüsse den Erfahrungen der Dermatologen widersprechen. So hat
zum Beispiel Arsenik gar keine Wirkung gegen Prurigo gestationis.
Auch hat Fournier niemals von irgend einem Medicamenle eine
Wirkung bei Ichthyosis gesehen. Demgegenüber bemerkt Gau tier,
dass es sich bei den von F ournier citirten Fällen um m i n e-
ralisches Arsenik handelt, während in seinen Fällen von
organischem Arsenik die Rede ist. — (La Semaine Medicale.
15. August 1900, Nr. 84.) Sp.
*
30 1 . Neue Untersuchungen über den Bacillus
pyocyaneus und die Gesetze der Farbstoffbildung.
Von Dr. Noesske (Leipzig). Es wird der Nachweis geliefert, dass
bei der Farbstoffbildung durch den genannten Bacillus Magnesium
und Schwefel die Hauptrolle spielen, für welche Stoffe dem Ba¬
cillus pyocyaneus und auch dem prodigiosus der Charakter eines
sehr empfindlichen Reagens zukommt. Pyocyaneus soll zweierlei
Farbstoffe bilden, einen grün fluorescirenden und einen blauen, das
Pyocyanin, welches aus einer Leukobase durch Oxydation ent¬
stehen soll. — (Archiv für klinische Chirurgie. Bd. LXI, Heft 1.)
Pi.
*
302. Mechanik der Bewegungen im Schulter¬
gelenk beim Gesunden und bei einem Manne mit
doppelseitiger Serratus- und einseitiger Deltoi-
deuslähmung in Folge typhöser Neuritis. Von Ober¬
arzt Dr. Th öle. Bei einem mit Abdominaltyphus im Garnisons-
lazarelh zu N. behandelten Musketier traten ziehende Schmerzen in
der Mitte des rechten Oberarmes entsprechend dem Ansätze des
Deltamuskels bei Bewegungen des Armes und rechter Seitenlage
auf, welche in der Ruhe verschwanden. Es entwickelten sich
Störungen in der Gebrauchsfähigkeit des rechten Armes, dessen
Musculatur — besonders der Deltoideus — atrophirte. Th öle be¬
schreibt in ausführlicher Weise den Befund an beiden Schulter-
gelenken bei Ruhestellung, bei Seitwärtsheben der Arme in frontaler
Ebene und beim Erheben der Arme nach vorne in sagittalen Ebenen.
Aus der Beschreibung des Falles ergibt sich, dass gelähmte wichtige
Muskeln durch Uebung allmälig bis zu einem gewissen Masse durch
andere ersetzt werden. In dem vorliegenden Falle machte das Fehlen
des linken Serratus nur geringe Störung; jedoch auch rechts, wo
Serratus und Deltoideus gelähmt waren, konnte der Arm bis über
die Horizontale erhoben werden. — (Archiv für Psychiatrie.
Bd. XXXIII, Heft 1.) S.
*
303. Ueber Producte des Organismus der
Pellagrakranken. Von Babes und Manicatide. Es ist
erwiesen, dass die Pellagra durch die Wirkung von Giftstoffen im
alterirten Mais erzeugt wird. Wenn man nun Meerschweinchen
wässerige oder alkoholische Extracte von erkranktem Mais, der aus
Gegenden stammt, wo die Pellagra endemisch ist, einsprilzt, so
bieten diese Thiere ähnliche Symptome wie die menschliche Pellagra
(Diarrhöen, Darmblutungen, Paralysen, tetaniforme Krämpfe). Babes
und Manicatide untersuchten weiter, ob das Blut geheilter
Pellagrakranker nicht antitoxische Eigenschaften gegen das Pellagra¬
gift besitze. Zu diesem Zwecke haben diese Forscher Mäusen und
Hasen theils reines Extract von erkranktem Mais, theils solches ge¬
mischt mit normalem menschlichem Blutserum, endlich reines Extract
von alterirtein Mais mit Serum geheilter Pellagröser gemischt, ein¬
gespritzt. Die Thiere der zwei ersten Serien sind in kurzer Zeit ge¬
storben oder rasch kachektisch geworden, die der dritten Serie ge¬
sund geblieben. — (La Semaine Medicale. 15. August 1900, Nr. 34.)
Sp.
*
304. Drei Fälle von tödtlicher parenchyma¬
töser Magenblutung. Von Dr. R e i c h a r d (Berlin). Im ersten
Falle war die Bltung sechs Tage nach einer Gallenblasenoperation
aufgetreten, in den beiden anderen Fällen waren die Blutungen bei
der 20, beziehungsweise 34jährigen Frau die Ursache zur Ueber-
führung ins Spital geworden. In keinem dieser Fälle konnte die
Section eine Ursache für die Blutungen aufdecken. — (Deutsche
medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 20.) Pi.
Erwiderung zum Aufsätze in Nr. 37 dieser
Wochenschrift: E. Schiff und L. Freund, »Der
gegenwärtige Stand der Radiotherapie«.
In der letzt erschienenen Nummer (37) der „Wiener klinischen
Wochenschrift“ findet sich in dem Artikel: „Der gegenwärtige Stand
der Radiotherapie“ von dem Herren Docenten Dr. E. Schiff und
Dr. L. Freund in Wien ein auf meinen am 5. April 1. J. auf dem
II. Congresse der Balnoologen Oesterreichs in Uidze (Sarajevo) gehal¬
tenen Vortrag über „Einfluss des Lichtes auf die gesunde und kranke
Haut“ bezugnehmende Aeusserurig, welche durch ihre Unrichtigkeit
und die in ihr enthaltene Unterstellung, dass ich mir eine Priorität,
welche den beiden Herren gebühre, mit Unrecht anmasse, eine Ent¬
gegnung herausfordert.
In der Einleitung zu diesem Artikel wird nämlich von den
beiden Autoren darüber Klage geführt, dass „verschiedene Collegen
der historischen Wahrheit zum Nachtheile S c h i f f’s und Preun d’s
nicht die gebührende Ehre erwiesen hätten. Wir erwarten von unseren
Collegen“, so heisst es dort weiter, „dieselbe Gerechtigkeit, die wir
ihren Arbeiten zu Theil werden lassen.“ Und als einziges, demnach
gewiss crassestes Beispiel für diese Behauptung werde ich, respective
folgender Passus meines oben citirten Vortrages angeführt: „Noch
bevor irgend Jemand in Wien die R ö n t g e n - Therapie für diese Art
von Affectionen (Sykosis, Favus) und von diesen Principien geleitet,
angewendet hatte, bin ich öffentlich für die Zweckmässigkeit
derselben gerade auf diesem Gebiete eingetreten“ (Wiener medicinische
Presse. 1900, Nr. 21). „Diese Behauptung des Herrn Dr. U 1 1 m a n n“,
heisst es dann weiter, „beruht auf einem Irrthum oder einer Ver¬
wechslung, denn nicht nur gelegentlich von Demonstrationen
in der Wiener dermatologischen Gesellschaft, in der k. k. Gesellschaft
der Aerzte, im Wiener medicinischen Doctorencollegium haben wir auf
diese, nachdem die Epilation doch festgestellt war, eigentlich selbst¬
verständliche Indication hingewiesen, wir haben sie sogar in unseren
Arbeiten (Wiener medicinische Presse. 1897, Nr. 19 ; Internationaler
medicinücher Congress. Moskau 1897; siehe: Zarubin etc. etc.) aus¬
drücklich präcisirt.“
Die beiden Herren haben es aber, obwohl sie angeben, ihren
Collegen stets Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, dabei merkwürdiger
Weise dennoch unterlassen, jenes hier einzig und allein massgebende
und ihnen doch wohl bekannte Datum anzugeben, an welchem ich
zum ersten Male und in ausführlicher Weise über diese Art für
die Röntgen- Therapie öffentlich gesprochen habe. Es geschah dies
nämlich in der wissenschaftlichen Sitzung am 8. Februar 1899 des
Wiener medicinischen Doctor eneollegiums (Vorsitzender Dr. Hermann
T e 1 e k y) und zwar gelegentlich einer Discussion im Anschlüsse an
Nr. 39
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
887
den Vortrag des kaiserlichen Käthes Dr. S. Ivohn: „Ueber Fort¬
schritte in der Dermatotherapie“.
Damals ergriff ich die Gelegenheit, um meine Stellung zur
Röntgen- Therapie genauer zu präcisiren, über die ich bereits damals
zwei Jahre lang reichliche praktische Erfahrungen gesammelt hatte.
Ich bemerkte dabei ausdrücklich, dass ich das Gebiet der Indication
der R ö n t g e n -Therapie wohl für lupöse Affectionen zur Zeit für
zu weit gehend halte, insoferne diese in Bezug auf die radicals Heilung
gegenüber guten Operationsmethoden mir nicht verlässlich genug
erscheine, dass hingegen das Ilauptgebiet der Indication dieser
damals noch neuen Art von Therapie in der Epilation, und
zwar hier auch wieder nur bei solchen Affectionen zu suchen sei,
wo ein mit unseren bisherigen Mitteln und Methoden schwer oder
gänzlich unheilbarer Process vorliege, wie dies z. B. ganz speciell
bei Favus oder Sycosis vulgaris der Fall sei. Ich hatte
dabei bereits Fälle von Favus im Sinne, die ich meinem ehemaligen
Schüler, Herrn Dr. M. Neumann, der sich ausschliesslich mit
Röntgen- Therapie befasst, zur Behandlung übergeben hatte.
Bei dieser Sitzung war nun aber auch Herr Dr. L Freund
selbst persönlich anwesend, der unmittelbar nach mir das Wort ergriff
und, der Richtigkeit dieser Anschauung beipflichtend, allerdings sofort
darauf hinwies, dass er selbst bereits im Jahre 1897 die Möglichkeit
der Verwerthung der R ö n t g e n • Strahlen für Erkrankungen dieser
Art ins Auge gefasst und in seiner Arbeit (Wiener medicinische
Wochenschrift. 1897, Nr. 19) auch erwähnt habe.
Jedoch erst am 10., respective am 12. Mai 1899, d. i. ungefähr
drei Monate nach dieser öffentlichen Discussion, demonstrate
L. F r eun d, respective Schiff und Freund in der Sitzung der
Wiener dermatologischen Gesellschaft und der Gesellschaft der Aerzte
(siehe: Wiener klinische Wochenschrift. 1899, pag. 551 und 642), bei
der ich selbst nicht anwesend war, die ersten von ihnen in dieser
Art behandelten Fälle. Alle übrigen öffentlichen Demonstrationen, auf
die Schiff und Freund summarisch hinweisen (vgl. oben) und
die sich auch zugleich auf Kranke solcher Art beziehen, fanden
später statt, wohl ein Beweis dafür, dass sie vor dieser Zeit der¬
artige Erkrankungen noch nicht in Behandlung genommen hatten, was
übrigens hier nebensächlich ist und nicht in Frage kommt.
Es ist demnach klar, dass die Anwendung und praktische Aus¬
führung dieser Methode von Freund drei Monate später
öffentlich documentirt wurde, als ich ihr öffent¬
lich das eindringlichste Wort geredet hatte, und
dass ich dementsprechend zu dem obigen Ausspruche volle Berech¬
tigung hatte.
Die Erwähnung dieser notorisch festgestellten Thatsache in
meinem obcitirten Vortrage wird nun von den Herren Schiff und
Freund durch die oben erwähnte Einleitung ihres Aufsatzes als ein
Versuch meinerseits dargestellt, mir auch die Priorität des Gedankens,
der Idee zu dieser Therapie widerrechtlichtlich aneignen zu wollen,
eine Absicht, die mir vollkommen ferne lag und für die auch kein
Substrat vorhanden ist.
Durch die Unterlassung eines Citates jener, wohl beiden Herren,
jedenfalls aber dem Herrn Dr. Freund bekannt und in Erinnerung
gebliebenen Discussion vom 8. Februar 1899 erfährt die Sache natür¬
lich einen völlig anderen Charakter, insoferne mein Ausspruch am
5. April ohne Beziehung auf die um 1 x/4 Jahre vorausgegangene öffent¬
liche Discussion eine förmlich beabsichtigte Unwahrheit involvirt hätte,
was die Herren allerdings vorsichtig als Unrichtigkeit oder Verwechs¬
lung bezeichnen.
Eine ähnliche Art von Gerechtigkeit, wie sie die Autoren durch
Ignorirung, respective Weglassung des einzig hier massgebenden Citates
bekunden, beweisen dieselben auch in der wenig freundlichen, aller¬
dings etwas subjectiven Erwähnung meines Vortrages, welchen sie
einen compilirten nennen,, ohne davon Kenntniss zu nehmen, dass der¬
selbe von zahlreichen Demonstrationen von Photographien von vor
und nach der Behandlung aufgenommenen (mit Lupus vulgaris,
Impetigines, Ekzem, Acne vulgaris, Favus, Sycosis vulgaris und
Sycosis parasitaria behafteten Kranken gefolgt war, die ich im
Vereine mit einigen Collegen und sozusagen unter mehrfacher Controle
des Erfolges behandelt habe, eine Thatsache die ich in dem Vortrage
ganz speciell hervorgehoben habe.
Es scheint demnach, dass die beiden Herren derartige nicht mit
eigenen Apparaten sondern im Vereine mit anderen Collegen durch¬
geführte Beobachtungen nicht für ausreichend und wissenschaftlich
genug halten, um dadurch zu selbstständigen Deductionen zu gelangen,
sondern dass sie dies blos für Fälle aus eigenen Lichtinstituten an¬
nehmen.
Ausserdem imputiren die beiden Autoren meinem Vortrage,
ganz im Gegensätze zu seiner Intention und ohne dafür einen Grund
zu haben, dass derselbe auch noch den Anspruch erhebe, das ärzt¬
liche Publicum über diesen Gegenstand „erschöpfend“ zu informiren.
Ob wohl unter solcher Art unmotivirt herbeigezogener Polemik
die eigenen Verdienste höher erscheinen, die Sache selbst gefördert
wird, muss wohl bezweifelt werden.
Wien, am 17. September 1900.
Privatdocent Dr. Karl Uli mann.
Antwort auf vorstehende Erwiderung.
Die Discussion in der wissenschaftlichen Versammlung des
Wiener medicinischen Doctorencollegiums vom 6. Februar 1899, dem
„einzig und allein hier massgebenden Datu m“, wie
Herr Docent Dr. U 1 1 m a n n behauptet, nahm nach den beiden vor¬
liegenden Referaten folgenden Verlauf:
„Herr C. Ullmann meint, dass bei der Röntgen-Epilation
die Haarfollikel nicht zerstört werden, da oft die Haare wieder nach¬
wachsen. Bisher wird die Röntgen-Therapie hauptsächlich nur bei
Lupus und Hypertrichosis angewendet.
Hinsichtlich des ersteren ist zu bemerken, dass die Erfolge
gerade in solchen Fällen hinter der Erwartung Zurückbleiben, welche
chirurgisch nicht behandelt werden können, wie z. B. beim Ueber-
greifen des Lupus auf die Schleimhäute. Bezüglich der Wirkung der
Röntgen- Strahlen bei der Epilation ist zur Zeit noch kein ab¬
schliessendes Urtheil möglich.“
„L. Freund .. . empfiehlt nochmals nachdrücklichst die Radio¬
therapie zur Behandlung des Favus und der Sykosis, wo neben der temporären
Epilation die bactericide Wirkung der X-Strahlen gewiss gute Dienste
leisten werde“ (Klinisch-therapeutische Wochenschrift. 1899, pag. 215).
In demselben Sinne lautet das Referat in den Wiener medicini¬
schen Blättern. 1899, Nr. 6, pag. 134.
Aus dieser Discussion war durchaus nicht zu ersehen, dass Herr
Ullmann schon zu jener Zeit an eine therapeutische Verwendung
der Röntgen- Bestrahlung bei Sykosis und Favus dachte, noch
weniger, dass er diesbezügliche Erfolge bereits sowohl seinerseits als
auch seitens seines Schülers Herrn Dr. Neumann constatirt habe.
Vielmehr Hessen ihn seine damaligen Aeusserungen als entschiedenen
Gegner der Radiotherapie erscheinen.
Mit Vergnügen nehmen wir daher zur Kenntniss, dass Herr
Ullmann schon zu jener Zeit im Stillen so verdienstvoll für den
Ausbau der neuen Methode wirkte, und dies umsomehr, als er in der
vorstehenden Erwiderung nunmehr auch selbst erklärt, dass der Ge¬
danke, die Idee zu dieser Therapie nicht von ihm herrühre, wie
jener oben citirte Passus uns glauben machte, sondern von Freund
und dann von Freund und Schiff schon früher geäussert wurde.
Bedauerlich ist es nur, dass Herr Ullmann bisher weder in irgend
einer Originalarbeit, noch in irgend einer der zahlreichen Discussionen,
welche über diesen Gegenstand stattfanden, die Gelegenheit wahrnahm,
seine einschlägigen Erfahrungen öffentlich mitzutheilen, sondern erst
in seinem Vortrage vom 5. April 1900, das ist um elf Monate
später, nachdem wir die geheilten Sykosisfälle in
der Wiener dermatologischen Gesellschaft vor¬
gestellt hatten.
Eine „Unterstellung“ (welchen Ausdruck wir entschieden zurück-
weisen) hat also nicht stattgefunden, vielmehr waren wir zu der, wie
Herr Ullmann selbst constatirt, „vorsichtigen“ Behauptung, „es
liege ein Irrthum oder eine Verwechslung vor“, vollauf berechtigt..
Auch die weiteren Bemerkungen des Herrn Docenten Dr. Ull¬
mann nochmals einzugehen, halten wir für überflüssig.
Wien, 20. September 1900.
E. Schiff. L. Freund.
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Verliehen: Dem praktischen Arzte Dr. Karl Hochsiuger
in Wien das Ritterkreuz des Franz Josef Ordens.
Habilitirt: Dr. I n g i a n n i für chirurgische Pathologie in
Genua, Dr. Guido ne für Chirurgie in Neapel, Dr. Lodato für
Augenheilkunde in Palermo, Dr. Pitzorno für Anatomie in Parma.
-*
Die in der vergangenen Woche, in Aachen abgehaltene
Aerzte- und Natur for scher Versammlung war von über
800 Mitgliedern besucht. Nach den üblichen Begrüssungen war die
erste allgemeine Sitzung ausschliesslich historischen Rückblicken ge¬
widmet, die schon in der einleitenden Rede v. L e u b e’s zum Aus¬
druck kamen. Die Vorträge von van t’ II o f f, H e r t w i g, N a u n y n
und Chiari behan leiten die Entwicklung der von ihnen vertretenen
Fächer im XIX. Jahrhundert. Die nächste Versammlung findet in
Hamburg statt. (Bericht siehe pag. 889.)
*
888
Nr. 39
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Verordnung des Ministers für Cultus und
Unterricht im Einvernehmen mit dem Ministerium
des Innern vom 3. September 1900, betreffend die Zu¬
lassung von Frauen zu den medicinisehen Studien
und zum Doctorate der gesammten Heilkunde. Auf
Grund Allerhöchster Ermächtigung vom 31. August 1900 wird im
Einvernehmen mit dem Ministerium des Innern in Betreff der Zulassung
von Frauen zu den medicinisehen Studien und zum Doctorate der
gesammten Heilkunde an den inländischen Universitäten Nach¬
stehendes angeordnet: §1. Den Decanen der medicinisehen Facultäten
der Universitäten wird es vorbehaltlich der Zustimmung des Professoren-
Collegiums gestattet, Frauen, welche die im Nachstehenden bezeichneten
Bedingungen erfüllen, über ihr schriftliches und ordnungsmässig
belegtes Ansuchen zur Immatriculation als ordentliche Hörerinnen
der medicinisehen Facultät zuzulassen. Im Falle der Nichtzulassung
steht der Aufnahmswerberin der Recurs an den Minister für Cultus
und Unterricht offen. § 2. Als Bedingungen zur Aufnahme haben zu
gelten: 1. die österreichische Staatsbürgerschaft, 2. die erfolgreiche
Ablegung der in der hierortigen Ministerialverordnung vom 9. März
1896, M. V. Bl. Nr. 18, näher bezeichneten Prüfung (Reifeprüfung)
an einem öffentlichen inländischen oder vom Minister für Cultus und
Unterricht für gleich werthig erkannten ausländischen Gymnasium;
auch im letzteren Falle muss die Reifeprüfung frühestens im Laufe des
18. Lebensjahres abgelegt worden sein. § 3. Die hinsichtlich der
Immatriculation, sowie der Inscription ordentlicher Hörer geltenden
Vorschriften haben auch auf die Hörerinnen Anwendung zu finden.
§ 4. Soferne diese immatriculirten Frauen auf Grund ihrer Studien
die Erwerbung des Doctorgrades der gesammten Heilkunde an¬
streben, haben sie behufs Erlangung des Absolutoriums den vor¬
geschriebenen Studiengang einzuhalten. Ausnahmsweise können hiebei
in derselben Weise, wie bei Studirenden einzelne Vorlesungen oder
Semester, welche Frauen an in- oder ausländischen Facultäten
besucht haben, vom Minister für Cultus und Unterricht nach An¬
hörung des Professoren Collegiums angerechnet werden. § 5. Behufs
Erwerbung dos Doctordiploms und der damit verbundenen Berechtigung
zur Ausübung sämmtlicher Zweige der ärztlichen Praxis nach Mass-
gabe der diesfalls erlassenen besonderen Bestimmungen haben sich die
Candidatinnen unter Beibringung der vorgeschriebenen Belege den
strengen Prüfungen nach der geltenden medicinisehen Rigorosenordnung
zu unterziehen. § 6. Die hierortige Ministerialverordnung vom 19. März
1896, Nr. 45 R. G. BL, betreffend die Nostrification der von
Frauen im Auslande erworbenen medicinisehen Doctordiplome, wird
durch diese Verordnung nicht berührt. § 7. Diese Verordnung tritt
mit dem Studienjahr 1900/1901 in Kraft. H artel m. p.
*
VerordnungdesMinisterpräsidentenalsLeiters
des Ministeriums des Innern, sowie des Ministers
für Cultus und Unterricht vom 3. September 1 900, be¬
treffend die Zulassung von Frauen zum pharmaceutischen
Berufe. Auf Grund Allerhöchster Ermächtigung vom 31. August
1900 wird von den Ministerien des Innern und für Cultus und Unter¬
richt in Betreff der Zulassung von Frauen zum pharmaceutischen
Berufe Nachstehendes angeordnet: § 1. Frauen können unter den im
Nachstehenden aufgestellten Bedingungen zur Ausübung des pharma¬
ceutischen Berufes zugelassen werden. § 2. Als allgemeine Voraus¬
setzungen für den Eintiitt von Frauen in diesen Beruf haben zu
gelten : 1. die österreichische Staatsbürgerschaft, 2. der Nachweis,
dass die Aufnahmswerberin zur Zeit ihres Eintrittes in den pharma¬
ceutischen Beruf mindestens das 16. Lebensjahr vollendet hat, und
3. dass sie laut eines beizubringenden, vom Amtsärzte der politischen
Behörde des Wohnortes ausgestellten oder eines von diesem bestätigten
ärztlichen Zeugnisses die entsprechende physische Eignung besitzt.
$ 3. Rücksichtlich der Vorbildung ist für die Aufnahme von Frauen
in den phai maceutisclien Beruf erforderlich: a ) der Nachweis, dass
die Aufnahmswerberin die ersten sechs Classen eines öffentlichen in¬
ländischen Gymnasiums oder einer solchen Realschule als Privatistin
mit Erfolg absolvirt hat; fallweise können die an einer solchen Anstalt
des Auslandes zurückgelegten Studien vom Minister für Cultus und
Unterricht im Einvernehmen mit dem Ministerium des Innern als giltig
anerkannt werden; oder b) die erfolgreiche Ablegung einer Prüfung
im Ausmasse der Forderungen der ersten sechs Classen eines Gym¬
nasiums oder einer Realschule, und zwar an einem öffentlichen in¬
ländischen oder vom Minister für Cultus und Unterricht im Ein¬
vernehmen mit dem Ministerium des Innern für gleiehw’erthig erkannten
ausländischen Gymnasium, beziehungsweise einer Realschule. Wenn
in diesen beiden Fällen Realschulzeugnisse beigebracht werden, so ist
auch eine an einem öffentlichen Gymnasium mit Erfolg abgelegte
Prüfung aus der lateinischen Sprache im Umfange der Anforderungen
für die ersten sechs Gymnasialclassen auszuweisen. Die Einrichtung
dieser besonderen Prüfungen wird durch eine besondere Verordnung
bestimmt werden. § 4. Auf Grund der in den §§ 2 und 3 angeführten
Belege kann die Aufnahmswerberin mit Zustimmung des betreffenden
Apotheken-Filial- und Hauptgremiums, beziehungsweise in Tirol, Vorarl¬
berg und Dalmatien mit Zustimmung der politischen Landesbehörde in
die Apothekerlehre eintreten. § 5. Vorbehaltlich der für die Ausübung
des Apothekendienstes durch Pharmaceutinnen erlassenen besonderen
Bestimmungen finden auf dieselben alle, die Apothekerlehre und die
Tirocinalprüfung, das pharmaceutische Universitätsstudium und die
Prüfungen zum Magisterdiplom geltenden allgemeinen Vorschriften
gleichmässige Anwendung. § 6. Das nach Absolvirung des pharma¬
ceutischen Universitätsstudiums und nach Ablegung der vor¬
geschriebenen Prüfungen erworbene Magisterdiplom berechtigt die
Inhaberin, sich im Apothekendienste als diplomirter pharmaceutischer
Assistent zu verwenden. Zur Erlangung der Berechtigung zur
selbstständigen Leitung einer öffentlichen Apotheke ist ausser der
Zurücklegung des vorgeschriebenen Quinquenniums die besondere
Bewilligung des Ministeriums des Innern erforderlich. § 7. Diese
Verordnung tritt mit dem 1. October 1900 in Kraft, wonach die
Aufnahme von Assistentinnen in die pharmaceutischen Universitäts¬
studien frühestens mit dem Studienjahre 1903/1904 stattzufinden hat.
Koerber m. p. — Hartei m. p.
*
Auf dem am 13., 14. und 15. September abgehaltenen diesjährigen
Ophthalmologen-Congress wurde der ,, Welz-Preis“ für die beste in den
letzten drei Jahren in „v. Gräfes Archiv für Ophthalmologie“ erschie¬
nene Arbeit einstimmig Bernheimer (Innsbruck) und Hess (Würz¬
burg) zuerkannt, Ersterem für seine Arbeit über die Ursprungsfasern
der Augenmuskelnerven, Letzterem für eine Reihe von Arbeiten über
Accommodation. Den Sitzungen präsidirten Fuchs (Wien), Schmid-
R i m p 1 e r (Göttingen), S w a n z y (Dublin), Bernheimer (Inns¬
bruck). Von österreichischen Ophthalmologen hielten Vorträge: Bern¬
heimer (Ueber die Lage des Sphinkterencentrums), E 1 s c h n i g
(Ueber Conus nach unten und Kolobom am Sehnerveneintritt), Fuchs
(Ueber Aderhautablösung und Demonstrationen vom ersten Stadium
eines Aderhautsarkoms), Hanke (Ueber das rudimentäre Auge der
europäischen Blindmaus), v. R e u s s (Ueber Ermüdungs-Gesichtsfelder),
Winter steiner (Ueber Iriscysten).
*
Die in N o t h n a g e l’s Handbuch erschienene Bearbeitung der
Krankheiten der Prostata von Prof. v. Frisch ist, von B i d 1 o t und
Renard-Dethy übersetzt, in französischer Sprache (mit Vorwort von
Verhoogen) in Lüttich erschienen.
*
Med. Dr. Leopold Freund wohnt: VII., Kirchen¬
gasse 19.
*
Aus dem Sanitätsberichte der St. a dt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 36. Jahreswoche (vom 2. September
bis 8. September 1900). Lebend geboren: ehelich 647, unehelich 261, zusammen
908. Todt geboren: ehelich 40, unehelich 20, zusammen 60. Gesammtzahl
der Todesfälle 531 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
16'7 Todesfälle), darunter an Tubereulose 81, Blattern 0, Masern 3,
Scharlach 5, Diphtherie und Croup 4, Pertussis 1, Typhus abdominalis 3,
Typhus exantbematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 2, Neu¬
bildungen 33. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
9 (=), Masern 57 (=), Scharlach 30 (-)- 11), Typhus abdominalis
7 ( — 8), Typbus exantbematicus 0 (=), Erysipel 18 (— 8), Croup und
Diphtherie 37 (-|- 25), Pertussis 23 ( — 3), Dysenterie 1 (-f- 1), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 3 (-f- 2), Trachom 3 (-f- 1), Influenza 0 (=).
Freie Stellen.
Hausarztesstelle in der Männer-Strafaustalt zu Mürau,
Mähren, mit dem Range und den Bezügen der IX. Rangsclasse, Genuss einer
Naturalwohnung und eines Deputatsrelutums von 240 K. Bewerber haben das
Doctorat der Medicin und Chirurgie, ihre allfälligen sonstigen Befähigungen,
die Kenntnis beider Landessprachen sowie ihre bisherige praktische Ver¬
wendung nachzuweisen und ihre gehörig belegten Gesuche bis 30. Sep¬
tember d. J. bei der k. k. mährisch-schlesischen Oberstaatsanwaltschaft in
Brünn einzureichen. Die Gesuche jener Bewerber, welche bereits im
öffentlichen Dienste stehen, sind im Wege der betreffenden Vorgesetzten
Behörde einzubringen.
Districtsarztesstelle in Karlsberg im politischen Bezirke Stern¬
berg, Mähren. Der District umfasst die Gemeinden Karlsberg, Neurode,
Rautenberg, Tillendoif, Kriegsdorf und Mähriscb-Kotzendorf mit circa
4000 Einwohnern durchwegs deutscher Nationalität. Im Districte befindet
sich die Maschinenfabrik Messendorf, und das Kupferhammer- und
Walzwerk in Neurode. Fixe Jahresbezüge: vom Districte 832 K, dann
320 K Fabrpauschale, von den zwei Betriebskrankencassen 668 K. Aussicht
auf lohnende Privatpraxis in der ärztearmen Umgebung. Hausapotheke.
Bewerber haben ihre mit dem Nachweise des Alters, der österreichischen
Staatsbürgerschaft, der sittlichen Unbescholtenheit, der bisherigen Ver¬
wendung und der von einem Staatsarzte bestätigten physischen Eignung
belegten Gesuche bis 20. October d. J. an den Obmann der Sanitäts
Delegirtenversammlung, Johann Hauptfleisch in Karlsberg, einzusenden,
welcher auch weiter gewünschte Auskünfte ertheilt.
Nr. 539
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
889
IISrilALjT :
79 Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Aachen 1900. 18. Internationaler medicinischer Congress zu Paris. (2.-9. August
‘ Sitzung am 17. September. I 19OO0 (Fortsetzung.)
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72. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte.
Aachen 1900.
Abtheilung für innere M e d i c i n und Pharmako¬
logie.
Referent: Dr. Comely (Aachen).
I. Sitzung am 17. September, Nachmittags 4 Uhr.
Nachdem der Einführende, Prof. Wesener, die Erschienenen
begrüsst hatte, übernahm Geheimrath Naunyn (Strassburg) den
Vorsitz.
Den ersten Vortrag hielt Brauer (Heidelberg): Ueber
pathologische Veränderungen der Galle.
Schon früher hatte man aus der Galle von Leichen Rückschlüsse
gemacht auf pathologische Veränderungen der Leber; doch waren
diese Untersuchungen ohne Werth. Erst seit man durch chirurgische
' Eingriffe (Anlegen von Gallenfisteln u. s. w.) an lebenden Objecten
Galle erhielt, kam man in die Lage, in die Function der Leber Ein¬
blick zu gewinnen. So fand man, dass nach Zuckerstich die Galle
dünnflüssiger und zuckerhaltig wurde. Bei Phosphorvergiftung ergab
sich als Zeichen der eingetretenen Leberreizung eine vermehrte Gallen¬
absonderung ; dasselbe zeigt sich bei Darreichen von Gallensäuren.
Dem Redner gelang es nicht, Zucker in der normalen Galle nachzu¬
weisen; auch fand sich kein Zucker in der Galle bei alimentäier
Glykosurie mit bis zu 4% Zucker im Harne. Dagegen war Zucker in
der Galle nachzuweisen nach Zuckerstich (N au ny n) und bei
Diabetes mellitus, bei Pankreas-Erkrankungen und -Exstirpationen.
Auch ist es gelungen, bei bestimmten Parenchymänderungen der
Leber in der Galle Bestandtheile dieses Parenchyms (Zellen) nachzu¬
weisen. So wirkt bei Alkoholintoxication der Alkohol direct schädigend
auf das Leberparenchym und in der Galle lassen sich Epithelzellen
der Gallengänge nachweisen.
II. J. F. Hey mans (Gent): Ueber Entgiftung.
Unter Entgiftung hat man zu verstehen nicht nur Hemmung
der Wirkung eines Giftes im Körper, sondern auch das Rückgängig¬
machen der schon eingetretenen Vergiftungssymptome. Wie wirken
nun Gegengifte auf das Gift? Eisenoxydhydrat (im Antidotum arsenici
der Apotheken) hat auf das schon vom Körper resorbirte Arsenik
selbst keinen Einfluss, dagegen neutralisirt es das im Magen-Darm¬
canal sich noch befindende Gift. Ein Antitoxin hat auf die im Blute
kreisenden Toxine selbst keine Wirkung, sondern schützt die Zellen
nur vor einer weiteren schädlichen Wirkung der Toxine, hat also nur
eine präventive Wirkung. Eclatanter ist die entgiftende Wirkung des
Natriumhyposulfites bei Vergiftungen mit Cyanverbindungen. V enn
man einem mit Natriumhyposulfit gesättigten Organismus eine tödtliche
Dosis Cyankalium beibringt, so erkrankt derselbe nicht, weil wie
Lang zuerst bewiesen hat, das Cyan in Schwefelcyan (CNS) um¬
gewandelt wird. Da das Natriumhyposulfit im Blute kreist (es
scheidet sich als solches theilweise im Harne aus), so muss man. an¬
nehmen, dass freies, noch nicht wirkendes CN durch das Natrium¬
hyposulfid im Blute, vielleicht auch in den Zellsäften — wie bei den
Versuchen in vitro — zu CNS gebunden wird. Dieses ist aber beim
Kaninchen lOOmal weniger giftig wie CN. Aehnlich wirken die
Mercaptane und die Schwermetallverbindungen den Cyanverbindungen
gegenüber, wie auch die Alkaliverbindungen den methämoglobin-
bildenden Giften (Anilin, Antifebrin, Nitrite, Kalium chloricum)
gegenüber.
III. Dreser (Elberfeld) : Ueber die Bilanz zwischen
Athemleistung und Athembedürfniss.
Redner weist zunächst rechnerisch nach, dass das pro Minute
exspirirte Luftvolum, die „Athemgrösse“, kein exacter Ausdruck fiu
die Güte der Lungenventilation ist wegen der zum Gaswechsel un¬
fähigen, also „schädlichen“ Nasen-, Rachen , Tracheal- und Bronchial¬
räume. Nöthig ist die eingehende Kenntniss des einzelnen Athem-
zuges im Gegensätze zur Athemgrösse. Dieser bewies dann duich
Rechnung und durch Angabe der Analyse der in einzelnen 1 ortionen
von circa 200 cm3 zerlegten Athemzüge den sehr ungleichen Werth
verschieden tiefer Athemzüge. Die Trachealluft enthielt bei nicht
merkbar vermindertem O-Gehalt nur 0*2°/0 C02. Die weiteien 1 oi-
vorhergehenden, und zwar nimmt der O-Gehalt rascher ab, als die
C02 zunimmt. Die Analyse der „Reserveluft“ zeigt, dass in den tieferen
Theilen der Lungenalveolen eine Luft enthalten ist, deren 0 Gehalt
nur Luft von halbem Atmosphärendruck entspricht. Daraus geht hervor,
dass eine tiefe Exspiration für die Lufterneuerung mehr leistet, als
eine tiefe Inspiration. Daher müssen bei pathologischen Zuständen mit
drohender Verschlechterung der Lungenluft (z. B. Bronchitis capillaiis)
öftere kräftige Exspirationen von grossem Nutzen sein. Die kräftigen
Hustenstösse sind also nicht nur durch Beseitigung mechanischer
Hindernisse vortheilhaft, sondern wirken auch erneuernd und bessernd
auf den Luftgehalt der Lungen. Die uauseosen Expectoiantien
wirken wie die Niesmittel der älteren Medicin nicht nur secretent-
fernend, sondern besonders erneuernd auf den Luftgehalt der Lungen
durch die unfreiwillig starken Exspirationen, welche mit den rudimen¬
tären Würgbewegungen verbunden sind. Eine wesentliche Abnahme
des Athembedürfnisses und der Athemleistung bewirken die sedi-
renden Arzneimittel, wie Morphin und Heroin, durch die grössere
Muskel ruhe. (Fortsetzung folgt.)
13. Internationaler medicinischer Congress zu Paris.
(2._9. August 1900.)
(Fortsetzung).
* Abtheilung für innere Medicin.
IX. Sitzung.
I. Liebreich (Berlin) : A e r z 1 1 i c h e P r i n c i p i e n b ei der
Beurtheilung der Schädlichkeit conservirter
Nahrungsmittel.
Vortragender wendet sich an den Uebereifer, der sich in neuerer
Zeit in der Bekämpfung conservirter Nahrungsmittel geltend macht
und dabei die chemischen Fortschritte, die auf diesen Gebiete gemacht
worden sind, vollkommen verkennt. Ohne conservirte Nahrungsmittel
lässt sich eine Bevölkerung nicht ausreichend ernähren, sie repräsentiren
für dieselbe einen grossen ökonomischen Werth. Die Kritik, die an
den Conservirungsmethoden geübt wird, ist eine rein theoretische und
würde, wenn sie gesetzgeberische Kraft erlangt, all diese werthvollen
Nahrungsmittel vernichten. Eine Conservirungsmelhode darf erst dann
verboten werden, wenn ihre Gesundheitsschädlichkeit nacbgewiesen ist.
Wenn ein Nahrungsmittel, wie Fleisch, Milch u. s. w. durch C hemi-
kalien vor Zersetzung geschützt ist, oder wenn aus den Nahrungs¬
mitteln Präparate hergestellt werden, welche als Ersatz der Mutter¬
substanz dienen können, so wird die chemische Untersuchung zunächst
zu constatiren haben, ob und wie weit der Nahrungswerth erhalten
ist. An die medicinische Prüfung richtet sich die Anforderung, zu be¬
stimmen, inwieweit die theilweise oder ganz conservirte Substanz plus
den angewandten Mitteln zur Ernährung oder Schädigung der Gesund¬
heit in Betracht kommen kann. Die Prüfung darf nicht einseitig ge¬
schehen. Pharmakologen, Hygieniker und Aerzte müssen sich dazu
vereinen. Man hat Substanzen von grossem Werthe ohne zureichenden
Grund discreditirt, wenn sich z. B. im Thierversuche geringe abnorme
Wirkungen auf Blutdruck oder Circulation zeigten oder ein Kranker,
ein Kind, eine geschwächte Person sie zufällig nicht gut vertragen
hat. Aus solchen einzelnen Beobachtungen werden unberechtigte all¬
gemeine Schlussfolgerungen für Gesunde abgeleitet, denen die Sub¬
stanzen als Nahrung dienen sollen. Da kann man dahin kommen,
fast alle Nahrungsmittel zu verbieten, da z. B. Senf, 1 rüffeln, Käse,
rohes Obst u. dgl. oft gelegentliche Gesundheitsschädigungen hervor-
rufen. Die Prüfung der Toleranz an Kranken kann nicht als allgemein
gütiger Massstab gelten. Das Kochsalz kann selbst solch theoretischen
Irrlehren nicht Stand halten. Ein österreichisches Gutachten ist neuei-
dings so weit gegangen, an sich unschädliche Conservirungsmethoden
zu verwerfen, weil sie dazu führen könnten, die für die Eihaltung
von Nahrungsmitteln nothwendige Sorgfalt zu vernachlässigen! "\oi-
tragender erwähnt zum Schlüsse die Borsäure-Conservirungsmethode,
welche nach seinen eigenen Untersuchungen auch den strengsten An
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 89
890
forderungen zu genügen vermag und allen Versuchen, ihr schädliche
Nebenwirkungen zuzuschreiben, erfolgreich widerstanden hat. Auch
andere Conservirungsverfahren sollten nach den gleichen geschilderten
Principien einer Revision unterzogen werden, damit gerechte legis¬
latorische Massnahmen sich treffen lassen.
II. Liebreich (Berlin): Vorstellung eines geheilten
Lupusfalles.
Der Knabe hatte viele Jahre an Lupus vulgaris der Wange
und des Glutäus gelitten und ist durch die vom Vortragenden an¬
gegebene Kantharidincur vollkommen geheilt worden und seit drei
Jahren ohne Recidiv. Der Vortragende macht darauf aufmerksam,
dass die Stelle auf dem Glutäus ohne Narbe geheilt ist, eine That-
sache, die bei der Heilung des Lupus vulgaris bisher nicht bekannt
war und die Vortragender auch bei anderen nach seiner Methode be¬
handelten Fällen const atiren konnte; in einem zur Autopsie ge¬
kommenen Falle konnte das Fehlen der Narbe und der Ersatz der
früher erkrankten Stelle durch normale Haut mikroskopisch nach¬
gewiesen werden. Zum Schlüsse weist Vortragender darauf hin, dass
für die Diagnose der Lupus ebenso wie für die Beurtheilung der
Heilung des Leidens die Anwendung der von ihm angegebenen optischen
Untersuchuugsmethoden (Phaneroskopie und Glasdruck) unumgänglich
nothwendig sei.
III. Arloing et C o u r m o n t (Paris): Du diagnosticde
1 a tuberculose par la s6ro - agglutination.
Das der Widal’schen Reaction beim Typhus analoge Unter¬
suchungsverfahren ist in Deutschland bereits bekannt. Die Verfasser
berichten jetzt über die Resultate von 355 Untersuchungen, davon
191 an Tuberculösen, 130 an Nichttuberculösen und 34 an Gesunden.
Auf Grund dieser Erfahrungen gelangen sie zu folgenden Ergebnissen.
Die Verwendung der Glycerinbouilionculturen des Tuberkelbacillus ge¬
stattet die agglutiuirende Kraft der Säfte und besonders des Blut¬
serums der Tuberculösen zu erkennen und diagnostisch zu verwerthen.
Bei wenig vorgeschrittener Tuberculose ist die Reaction fast constant
vorhanden, aber in verschiedenen Graden, nämlich bei Verdünnungen
des Blutserums von 1 : 5 bis zu 1:20 und noch mehr. Bei schwerem
acuten Miliartuberculosen fehlt die Reaction odei ist sehr schwach.
Sie steht also im umgekehrten Verhältnisse zur Schwere der Infection,
und ihr grosser diagnostischer Werth liegt darin gerade, dass sie
sich nur bei initialer Tuberculose findet. Sie fehlt bei vorgeschritteneren
Fällen, die ja aber durch klingende Zeichen sicher genug zu erkennen
sind. Mit Hilfe dieses Verfahrens kann man auch latente Tuberculose
in diagnostisch zweifelhaften Fällen und auch bei scheinbar gesunden
Personen erkennen. Gerade bei verdächtigen Fällen hat der positive
Ausfall der Probe grosse Bedeutung, während das negative Ergebniss
die Tuberculose nicht absolut ausschliesst. In vorgeschritteneren
Fällen gibt das negative Resultat eine schlechte Prognose, in
leichten Fällen dagegen die Sicherheit, dass keine Tuberculose
vorliegt.
M o s n y (Paris) hat in einem Falle, wo die Diagnose zwischen
Tuberculose und Typhus schwankte, durch die agglutinirende Wirkung
des Blutserums des Kranken die Entscheidung liefern können, die
durch die Autopsie bestätigt wurde.
Blumenthal (Berlin) hat auf der L o y d e n’schen Klinik auch
gute Resultate gesehen. Die Reaction ist nicht nur bei Lungentuber-
culose von Werth, sondern auch bei suspecten Ex- und Transsudaten
der Brust- und Bauchhöhle.
IV. Savoire: Considerations sur la traitement
de la tuberculose par la creosote ä doses e I e v 6 e s.
Nichts Neues.
V. Labadie (New York): Contribution ii l’etude du
traitement de la tuberculose par une nouvolle
methode: la transfusion di recte des medicaments et
antiseptiques dans le siege du mal au moyen de
l’e 1 e c t r i c i t e e 1 e c t r i q u e.
Vortragender hat die Methode von Crotte nachgeprüft, welche
darin besteht, dass Formaldehyd mittelst statischer Elektricität
unmittelbar an den Locus affectionis, die Lungen, gebracht wird.
Zunächst haben Thierversuche ihm den Beweis gebracht, dass
chemische Substanzen (ausser Formaldehyd wurden auch Jod und
Quecksilber geprüft) in der That auf diesem Wege in die inneren
Organe gelangen können. Die Erfolge bei Phthisikern waren folgende:
Rapide Verminderung sämmtlicher Symptome, wie Husten, Nacht-
schweisse, Fieber, Bacillenauswurf und in Folge- schuelle Kräftigung.
Technik der Methode: 1. Der Kranke sitzt auf den Isolirstuhl, auf
Brust und Rücken werden die Holzpole aufgesetzt, welche in
1 — 10°/0iger Formaldehydlösung (je nach dem Grade der Erkrankung)
getaucht sind, und nun lässt man durch die Elektrisirmaschinen bald
Ströme, bald Funken, bald beides ausstrahlen. Man kann die Kranken
auch währenddess mit ebensolchen Schwämmen frottiren ! 2. Inhala¬
tionen von Formaldehyd aus solchen Schwämmen bei durchgehendem
Strome.
VI. Bertheau (Paris) :Traitementde la tuberculose
par l’a 1 d e h y d e formique.
Empfiehlt dieselbe Behandlungsmethode wie der Vorredner.
*
Abtheilung für Chirurgie.
V. Sitzungstag. Vormittagssitzung.
(Fortsetzung.)
VII. Thier y (Paris): Die Sicherheitsmethoden bei
der operativen Behandlung der Appendicitis.
Redner bringt ein Resectionsverfahren des Processus vermiformis
zur Kenntniss, welches er die Resection „ä froid“ betitelt, und das er
mit 30 Beobachtungen und 29 Heilungen empfehlend unterstützt. Bei
der eiterigen Appendicitis und Localisation des Herdes begnügt er sich,
den Abscess zu incidiren und zu drainiren und sucht nicht lange nach
dem Processus. Nur wenn er sich ihm gleich darbietet, resecirt er ihn.
Was nun seine Resection ä froid anlangt, so hat er diese -Technik aus¬
gebildet, weil er der Meinung ist, dass die so häufige Complication mit
eonsecutiver acuter Peritonitis nur in einer mangelhaften Technik der
Versorgung des Stumpfes des Appendix zu suchen ist; denn allen den
verschiedenen Methoden haftet der Fehler an, dass eine Intestinalnaht
aufgehen kann. Seine Technik ist folgende: Nach der Eröffnung des
Abdomens ergreift er den Processus und zieht ihn nach Durchtrennung
seines Mesenteriums nach aussen. Nun befestigt er ihn mit vier Fäden
an die Peritonealränder, dann wird der Rest der Peritonealwunde mit
Catgut geschlossen. Die Befestigungsfäden gehen durch die Muscularis
des Appendix, aber nicht durch die Mucosa. Jetzt ist keine Commu¬
nication mit der Bauchhöhle mehr zu fürchten und der Appendix wird
nach Unterbindung seiner Basis resecirt mit oder ohne Sero-Serosanaht
des Stumpfes. Es folgt noch die Drainage der Wunde und der Schluss
durch die Naht. Die Heilung erfolgt entweder vollkommen aseptisch
oder mit einer geringen sehleimig-stercorösen Secretion. Selbst eine hin
und wieder eintretende Eiterung wird durch die Drainage absolut
gefahrlos. Keiner seiner Kranken hat jemals Schmerzen gehabt, die
etwa auf Verwachsungen schliessen Hessen, Keiner' hat eine Fistel
zurückbehalten.
VIII. W e i r (New York): Einige Beobachtungen über
die Behandlung der acuten Appendicitis.
IX. Reyn i er (Paris) spricht über die Bestimmung des Zeit¬
punktes der Operation im anfallsfreien Stadium.
X. Reynes (Marseille) berichtet über einen Fall von
Blasencom plication bei der Appendicitis.
Er beobachtete eine reflectorische Urinretention, die zwei Tage
andauerte. Die Blasencomplicationen bei Appendicitis, die wenig
bekannt sind, sind entweder reflectorischer oder entzündlicher Natur.
Die ersteren sind gutartig, vorübergehend und bestehen in Retention,
Urinverminderung, Incontinenz — die anderen, schwerer Natur durch
Verbreitung der Entzündung auf die Blase bestehen in Pericystitis,
Bacteriurie, Cystitis, peri- oder intravesicalem Abscess, Hämorrhagien,
secundären Steinbildungen, Fisteln, die entweder mit dem appendiculären
Herde oder mit einem Abscess appendieulärer Herkunft communiciren,
auch zu einem benachbarten Organ können sie hinführen.
XI. Schwartz (Paris): Ueber einen Fall von hyper¬
trophischer Ileotyphlitis, der einen Tumor in der
Ileocöcalgegend vor täuschte.
Es handelte sich um eine junge Frau von 27 Jahren, die einen
Tumor in der rechten Fossa iliaca hatte. Zwei Jahre vorher war sie
wegen einer linksseitigen Ovarialcyste operirt wurden, wobei ihr auch
gleich das rechte Ovarium mitentfernt worden war. Seit 18 Monaten
bemerkte sie den Tumor. Sie hatte Koliken, keine hartnäckige Ver¬
stopfung. Die Schmerzkrisen kamen erst alle Monate, dann alle
Wochen, dann viel häufiger. ' Die Untersuchung ergab einen
auf Druck schmerzhaften, faustgrossen, etwas gebuckelten Tumor
in der Gegend des Cöcums. Die Darmfunctionen waren nur
wenig gestört, der Appetit gut. In der Erwartung, eine Neubildung
oder eine Tuberculose des Cöcums zu finden, wurde die Laparotomie
gemacht aber es stellte sich heraus, dass es sich um einen Ileocöcal-
tumor handelte, der sehr fest in der Fossa iliaca verwachsen war.
Die ganze Ansa ileocoecalis wurde resecirt, der Dünndarm seitlich in
das Colon ascendens eingepflanzt. Der Kranke genas. Die Unter¬
suchung des Tumors ergab, dass es sich um eine alte Ileotyphlitis
handelte mit beträchtlicher Hypertrophie der Muscularis, die an ein¬
zelnen Stellen 2 '4 cm dick war. Nirgends waren Riesenzellen noch.
Bacillen zu finden gewesen. Auch keine Ulcerationen, keine Ganglien
im Mesenterium. Der Tumor war also rein entzündlicher Natur.
Vortragender hält es der Mühe'werth, über die Typhlitis hypertrophiea,
die Neoplasmen Vortäuschen, ein besonderes Capitel zu schreiben.
Nr , 39
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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XII Mareehal (Chätillon-sur-Seine) berichtet über einen Fall
von Perityphlitis, aus welchem er den Schluss zieht, dass bei
den ersten Anzeichen von Appendicitis sofort operirt werden soll.
XIII. P s a 1 1 o f f (Smyrna) berichtet über 40 F ä 1 1 e v o n
Peritonitis tuberculosa, die er durch Laparotomie
geheilthat. . _ , .,, ,
Unter den 40 Fällen waren 27 Frauen, und Re iner will daraus
eine Bestätigung der Meinung B o u i 1 1 y’s herleiten, dass diese Krank¬
heit, bisher mit dem Namen des essentiellen Ascites junger Mädchen
bezeichnet, fast immer als Ursprung Tuberculose der Ovaiien, der
Tuben und des Peritoneums des kleinen Beckens bat. Seine Kranken
waren meist 5—25 Jahre alt, 5 waren mehr als 40 Jahre. Die häufigste
Form der Peritonitis war der Ascites. Die Flüssigkeit war fast immer
citronengelb und durchscheinend. Die Operationsresultate waren meist
ermuthigend. Von 24 Fällen sind 12, die er jetzt 2—4 Jahre nach
der Operation wiedergesehen hat, gesund. Nur einmal hat er ein Re-
eidiv bei einem Kind von 8 Jahren beobachtet, 2 ‘/2 Monate nach der
Laparotomie. 5 Monate nach der zweiten Operation war der Zustand
vollkommen gut. Bei 15 anderen Fällen, die meist die Form käsiger
Ulceration darboten, und bei dreien mit fibro-adhäsiver Form waren
die Resultate nicht so gute. Hier waren auch die Operationsverhältnisse
schwieriger. Einmal hat er die Blase verletzt, die bis zum Nabel
hinaufreichte. Bei den erwähnten 15 Fällen war anscheinend gleich
nach der Operation eine Besserung eingetreten, doch hat er nur
2 Patienten 2V2 Jahre nachher wiedergesehen, die sich wohl befanden.
Die erwähnten 3 Fälle sind gestorben an Collaps, Sepsis, secundäier
Darmfistel 18 Tage nach der Operation. Vortragender gibt dann die
Krankengeschichte eines jungen Mädchens von 17 Jahren mit pleuro¬
peritonealer Tuberculose von fibro-adhäsiver Form, wo die gewaltigen
Schmerzen den Eingriff nothwendig machten. Sie ging an Septikämie
zu Grunde. Die fibro adhäsive Form hält er für die schwerste, den
Eingriff für unnütz, nur berechtigt durch grosse Schmerzen oder Heus-
Symptome. Gleichzeitige Lungenaffection hält er nicht für eine
Contraindication. So sind also von seinen 40 Operirten 7 gestorben,
das sind 1 7 1/2°/o-
XIV. N an n (Bukarest) berichtet über einen Fall von
primärer eiteriger Peritonitis.
XV. Ullmann (Wien) : Ueber Eingeweide - Trans¬
plantationen.
Bei den sehr interessanten Experimenten handelte es sich um
Verpflanzung von Eingeweiden, die Vortragender an Schweinen aus¬
geführt hat, weil deren Intestina die grösste Aelinliclikeit mit den
menschlichen haben. Er hat den Magen in das Jejunum, das Ileum
in den Magen, diesen in das Colon, das Cöcum in den Magen, das
Jejunum in den Dünndarm und das Colon in das Ileum transplantirt.
Die Thiere ertrugen die Operation gut, nur zwei gingen zu Grunde,
eines an einer acuten Peritonitis, ein zweites an einer postoperativen
eingeklemmten Hernie. Die anderen boten in ihrer Verdauungsthätig-
oit nichts Aussergewöhnliches. Nach 14 Tagen bis vier Monaten wurden
sie getödtet, und er konnte constatiren, dass sowohl wandständige wie
endständige Anastomose gleich gute Narben gab. Die Vernarbung und
Einheilung der Theile ohne Stiel bot ebensowenig Schwierigkeiten, wie
die der gestielten, d. h. die Anheilung und Vernarbung war eine glatte
und vollkommene, auch wenn die transplantirten Theile vollkommen aus
ihrer Verbindung getrennt waren und noch dazu eine Stunde lang in
eine warme Compresse gewickelt auf einem Tische gelegen hatten.
In den Fällen, wo der Dünndarm in den Magen oder umgekehrt der
Magen in den Dünndarm eingepflanzt wurde, bildeten sich und be¬
standen drei Monate lang an der Grenze der Magen- und Darmschleim¬
haut Geschwüre. Er nähte — das Verfahren ist schon im Central¬
blatt für Chirurgie 1896 beschrieben — in zwei Etagen, einmal durch
Muscularis und Serosa, ohne die Mucosa zu durchstechen, dann eine
Sero-Serosanaht. Vortragender geht noch des Näheren auf die physio¬
logischen Beobachtungen, auf die Veränderungen der Mucosa und be¬
tont, dass von einer Assimilation der Schleimhaut an die Umgebung
nicht wie bei einer auf die äussere Haut transplantirten Mucosa oder
wie bei auf Schleimhaut übertragener Epidermis die Rede ist, dass
sich zwar hie und da in den auf das Ileum oder Jejunum übertragenen
Magentheilen die Zellen modificiren im Sinne einer Aehnlichwerdung,
dass aber die Verschiedenheit derselben deutlich zu erkennen war.
Redner behielt sich vor, über die Transplantationsversuche von einem
Thier auf das andere und auf verschiedenartige Thiere an anderer
Stelle ausführlich zu berichten.
XVI. Hartmann (Paris) spricht zur Technik des Anus praeter
naturalis.
V. Sitzungstag. Nachmittagssitzung.
Zur Berichterstattung über : Intestinale und gastro¬
intestinale Anastomosen nimmt das W ort :
I. Roux (Lausanne): Das Experiment am Hunde, so führt el
aus, gibt uns kein getreues Bild von dem, was man am Menschen be¬
obachtet, dessen Verdauungstractus leichter zu handhaben und nicht
so unzuverlässig ist. Der Zweck der Anastomose ist, den Nahruugsstiom
abzuleiten, entweder wegen irgendwelcher Gefahren oder wegen Unzu¬
träglichkeiten, die beim Verweilen oder bei der Passage durch gewisse
Punkte des Gastrointestinaltractus entstehen oder auch wegen irgend
welcher Hindernisse, deren Beseitigung unmöglich, gefährlich oder nicht
rathsam wäre. Die Anastomose ist eigentlich nur eine Palliativopera¬
tion, aber sie hat sehr häufig auch heilend gewirkt. Ihr Risico, ihie
Technik und ihre Resultate geben ihr eine Mittelstellung zwischen den
Fisteln (Fistula jejunalis, Enterostomie, Anus praeternaturalis) und der
Radicaloperation (Pylorektomie, Exstirpation der Tumoren oder der er¬
krankten Darmpartien). Die seitliche Apposition ist die praktischste
Vereinigung der Därme, denn sie erfordert keine so grosse Exactheit,
erlaubt eine sehr breite Verbindung ohne Gefahr eines Diaphragmas,
einer Klappe oder späterer Narbenretraction, und sie ist unabhängig
von dem Caliber der zu vereinigenden Därme. Was nun die Ent er o-
Anastomose anlangt, so ist diese bei acuten Affectionen indicirt :
1. Wenn, wo es sich nur um Wiederherstellung der Passage handelt,
eine Radicaloperation zu lang oder zu gefahrvoll ist; ferner nach einer
Desinvagination oder Detorsion, wenn man für die Peristaltik tüi eiltet.
Dagegen ist sie contraindicirt: 1. Wenn der Zustand des Kranken
höchstens eine Enterostomie erlaubt; 2. wenn die Beschaffenheit der
Därme zur Erhaltung des Lebens die unmittelbare Entfernung eines
oder mehrerer Darmstücke erfordert. Allenfalls kann sie in einigen
Fällen mit der Extraperitoneal-Lagerung dieser Darmabschnitte, wie
es zum Beispiel bei der eingeklemmten Hernie möglich ist, combimrt
werden; 3. wenn der Zustand des Kranken, des Darmes und die
Geschicklichkeit des Operateurs eine bessere, vorteilhaftere Operation
gestatten. Bei den chronischen Affectionen wird man die Anastomose
in den Fällen von zahlreichen Verwachsungen, wo sie am meisten
Chancen bietet, vorziehen. Sie wird eine definitive Operation sein:
1. In den Fällen von inoperablen Tumoren, 2. bei gewissen com-
plicirten entzündlichen und untraitablen, das heisst unzugänglichen
Herden, wie sie die Tuberculose oder Aktinomykose bietet. Eine prä¬
liminare Operation: 1. Bei operablen Tumoren, aber sehr geschwächten
Patienten, 2. bei den entzündlichen Fällen mit äusseren oder genitalen
Eiter- oder Kothfisteln, die oft schon dadurch allein heilen, wenn man
die Anastomose mit Ausschaltung verbindet. Man kann ganz gut am
Leben bleiben mit 1 !/2 m Jejunum und mit nur der Hälfte des Colon.
Der ganze übrige Darm kann ausgeschaltet werden. Daher braucht
man nicht zu fürchten, dass man sich zu weit vom Krankheitsherde
entfernt, um am gesunden Darm zu operiren.
Die Gastroenterostomie, weniger gefährlich, als die
Enteroanastomose, geht der Pylorektomie als einleitende Operation
voraus, wenn der Zustand des Patienten dies wünschenswertlr er¬
scheinen lässt. Sie ersetzt sie, wenn der Tumor inoperabel ist. . Sie
sollte sie eigentlich stets vervollständigen, damit der Patient zu gleicher
Zeit die Wohlthat der Radical- und Palliativoperation hat; er hat
dann für den Fall eines Recidives einen neuen Pylorus, der soweit als
möglich von dem alten entfernt ist. Bei den nicht bösartigen Aftec-
tionen des Pylorus und des Magens, bei denen eine leichtere Ent¬
leerung des Mageninhaltes wtiuschenswerth ist, zieht man die Gastro¬
enterostomie der Pyloroektomie oder Pyloroplastik vor, weil sie
leichter auszuführen und und dabei von demselben Nutzen ist. Endlich
hat die Anastomosis gastro- intestinalis ihre Berechtigung bei den
Affectionen des Duodenums, ersetzt die Gastroplastik bei Sanduhr¬
magen, hat denselben Werth wie die Excision bei einfachem Magen¬
geschwür und ist schliesslich der Gastroplicatio und der Gastiopiexie
vorzuziehen. Sie ist ideal, wenn sie Y-Form hat. Wenn der Operateur
gleich geschickt ist im Anlegen der Naht wie der mehr oder wenigei
automatischen Verbindungsapparate, so wird er die Naht wählen, weil
sie allein eine Vereinigung der Mucosa prima intentione gewährleistet,
und weil sie eine „ungeuirtere“ Nachbehandlung erlaubt. Dei
Murphy -Knopf soll für die Fälle aufgespart bleiben, in denen man
mit Minuten rechnet. Erstaunlich ist bei allen diesen Operationen
noch die Zahl der Todesfälle an Pneumonie, die durch die Narkose
allein nicht genügend erklärt werden.
II. Souligoux (Paris) betrachtet erst die verschiedenen
chirurgischen Erkrankungen des Darmtractus vom Standpunkte dei
Nützlichkeit der intestinalen Anastomose. Bei acutem oder auch
chronischem Darmverschluss muss die Anastomose dem Anus
praeternaturalis weichen. In den Fällen von Stuhlverhaltung ohne \o
kommenen Verschluss, wo man einen beweglichen, leicht zu ent¬
fernenden Tumor findet, muss natürlich die Resection gemacht weiden,
doch soll man die Operation mit einer entweder latero-lateralen oder
termino-lateralen Anastomose beenden. Diese beiden Methoden dei
Darmvereinigung sind einfacher, sicherer und schneller austülnbai als
die circuläre Naht. In Bezug auf die gastro-intestinale Anastomose
kommt er zu folgenden Schlüssen: Der Magen ist ein duichaus
892
Nt. 39
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
chirurgisches Organ geworden ; allein die nervösen Dyspepsien ent¬
gehen der chirurgischen Intervention. In den Fällen von narbiger
Stenose des Pylorus oder des Anfangstheiles vom Duodenum ist die
Gastroenteroanastomie die Operation der Wahl, ja sogar die einzig
erlaubte; denn sie ist fast gefahrlos, sie begegnet wirksam allen Zu¬
fällen und die Patienten erlangen eine blühende Gesundheit wieder.
Ausserdem ist sie weniger eingreifend und sicherer als die Pylorektomie
oder Pyloroplastik. In den Fällen von krebsiger Stenose wird sie
jedenfalls die am häufigsten angewendete Operation sein. Die Pylor¬
ektomie darf ihr nur in den Anfangsstadien des Carcinoms, die noch
keine Verwachsungen tnit Leber, Pankreas oder Colon haben, bei
denen noch kein Fortschreiten auf die Ganglien oder irgend eine Ver¬
allgemeinerung nachweisbar ist, vorgezogen werden. Die Gastroentero-
anastomose wird ferner eine noth wendige Vervollständigung der Pylor¬
ektomie sein, wenn man ausgedehnte Resectionen des Magens oder
Duodenums gemacht hat. In den fortschreitenden Fällen von Ulcus
ventriculi wird sie sehr nützlich sein, nicht um die Blutungen zu ver¬
hindern, sondern um das Organ zu entlasten, es ruhiger zu stellen und
eine Vernarbung zu begünstigen. Bei dem durch Narbencontraction
hervorgerufenen Sanduhrmagen wird sie der Plastik vorzuziehen sein.
Bei den Dyspepsien, wenn der Patient durch medicamenföse Behand¬
lung nicht gebessert wird, und wenn Symptome von Retention mit
heftigen Schmerzen, Contracturen des Pylorus da sind, wird die Gastro¬
enterostomie häufig nothwendig sein und Heilung bringen. Was nun
die Operationsmethode anlangt, so ist die Hacke r’sche bei Weitem
vorzuziehen. Nur wenn diese nicht möglich ist, soll man zur vorderen
Anastomose seine Zuflucht nehmen. Physiologisch die vollkommenste
Operation ist die von Roux angegebene. In den Fällen, wo sie durch
Verengerung der Anastomosenöffnung Stenosenerscheinungen darbieten,
darf man nicht zögern, eine secundäre jejuno-jejunale Anastomose hin¬
zuzufügen.
Zur Discussion bemerkt Doyen (Paris): Die Nahtmethode
ist entschieden am besten, doch hat er sich eine Anastomosenklemme
construiren lassen (Demonstration), die sehr gut functionirt und die
nur in den absteigenden Darmtheil hinunterfallen kann. Er empfiehlt
ausserdem seine Methode der Resection durch Zerquetschung der
Mucosa und Muscularis mit nachfolgender Massenligatur und Tabaks¬
beutelnaht.
III. Petersen (Heidelberg) : Anatomisches und Chirur¬
gisches zur Gastroenterostomie.
Die überaus zahlreichen Methoden der Gastroenterostomie, welche
zur Verbesserung des ältesten Verfahrens (Gastroenterostomie anterior
antecolica nach Wölfl er) angegeben wurden, verfolgen im Wesent¬
lichen zwei Hauptziele: 1. Sicherung und Abkürzung des Naht¬
verfahrens; 2. Sicherung des richtigen Magenabflusses, Vermeidung
von Regurgitation. Ad 1. Ein idealer Ersatz des Nahtverfahrens
ist noch nicht gefunden. Am meisten Beachtung verdient noch immer
der M u r p h y - Knopf. In der Heidelberger Klinik wurde er 168mal
bei der Gastroenterostomie angewendet und hat stets eine sichere Ver¬
bindung zwischen Magen und Darm hergestellt. Ad 2. Die Regurgitation
wird am einfachsten und sichersten vermieden durch die Gastro-
enterostomia posterior rotrocolica nach v. Hacker. Die zahlreichen
Misserfolge vieler Operateure beruhen hauptsächlich auf einer Ver¬
kennung der topographisch-anatomischen Verhältnisse. Der höchste
Punkt des Duodenum ascendens liegt stets etwas höher als der
Anfangstheil des Jejunums (Plica duodeno-jejunalis). Die Plica ihrer¬
seits liegt schon beim normalen Magen etwas höher, als der tiefste
Punkt der grossen Curvatur. Bei der Gastroenterostomie haben wir¬
es aber fast stets zu thun mit dilatirtem Magen ; je stärker aber die
Dilatation, desto grösser wird die Distanz zwischen Plica und tiefstem
Magenpunkt. Nimmt man daher bei der Gastroenterostomie posterior
den zuführenden Darmsehenkel möglichst kurz, d. h. nicht länger, als
die Entfernung von Plica bis Fistel beträgt, so verläuft die anastomo-
sirte Darroschlinge ziemlich gerade von oben nach unten, entlang der
hinteren Magenwand; es gibt keinen rechten und keinen linken
Schenkel, sondern einen oberen und einen unteren.
Die Abflussbedingungen sind also die denkbar günstigsten, und
zweitens kommt der zuführende Schenkel von oben, der abführende
geht nach unten. (Demonstration von Zeichnungen, angefertigt nach
vorheriger Fixation des Magens durch Formalin oder Paraffin in der
Leiche.)
Diese anatomischen Ueberlegungen werden bestätigt durch die
klinischen Erfahrungen der Heidelberger chirurgischen Klinik.
Die Gastroenterostomia anterior wurde 19mal ausgeführt; dabei
3mal Regurgitation (lmal Exitus, 2mal Rettung durch Entero-
anastomose). Die Gastroenterostomie posterior wurde 197mal aus¬
geführt ; niemals ernstliche Regurgitation: in circa
28 Fällsn Erbrechen, das aber nur circa Ginal Magenspülung er¬
forderte.
Ueber die allmäligen Fortschritte in den Erfolgen der Gastro¬
enterostomie geben folgende Zahlen der Heidelberger Klinik Auskunft:
Todesfälle
1. Gesammtzahl der Gastroenterostomien
(1881 bis 1. Juli 1900; daneben 14 Gastro¬
enterostomien, verbunden mit Resectio
pylori) ....
216 —
47 = 22%
2.
Gastroenterostomia
anterior .
19 —
9 = 50%
3.
n
posterior .
197 —
38 = 19%
4.
J7
77
mit Naht .
45 —
14 = 31%
5.
33
77
„ M urph y-
Knopf
152 —
24 = 16%
G.
77
77
(M urphy)
189G— 1898 .
G0 —
12 = 20%
7.
77
77
(M u r p h y)
12 = 13%
1898—1900 .
92 —
8.
77
77
(M urph y) bei
Carcinom .
8G —
21 = 24%
9.
77
77
(M urph y) bei
gutartiger Sten.
64 —
4 = 6%
(davon die letzten 34
ohne
Todesfall).
Ad 7. Die 12 Todesfälle der letzten Serie seit 1898 vertheilen
sich wie folgt: Collaps, Herzschwäche 5, Pneumonie 5, Darm¬
verschlingung 1, Peritonitis (ausgehend von einer vereiterten Carcinom-
drüse) 1.
IV. M o n p r o f i t (Angers): Ueber die G astroenterostomie
(bringt nichts Neues).
V. L a p 1 a c (Philadelphia) : Ueber die Anwendung der
Darmklemme.
VI. G i o r d a n o (Venedig) empfiehlt bei Carcinom des Cöcums,
bei Colonektasie und bei ulcerüser Colitis die Ausschaltung des
Colon durch die Ileo-Sigmoideostomie.
Zur Discussion bemerkt v. Eiseisberg (Königsberg),
dass wir in der totalen Darmausschaltung ein brauchbares Hilfsmittel
für inoperable Kothfisteln und für andere, der Resection unzugängliche
inoperable Stenosen des Darmcanales besitzen, dass aber auch eine
partielle Darmausschaltung in den Fällen von Colonektasie oder
ulceröser Colitis Heilung herbeiführen kann.
VII. Murphy (Chicago): Ueber Ileus.
In dem sehr ausführlichen Referat berichtet Vortragender über
1G00 Fälle von Ileus, die er hat zusammenstellen können und gibt
seine Eintheilung in adynamischen, dynamischen uud mechanischen Ileus.
Der adynamische Ileus wird stets durch partielle Darmlähmung
verursacht: 1. Lähmung durch ausgedehnte Operationen am Mesen¬
terium, die zu Circulationsstörungen Anlass geben. 2. Lähmung einer
eingeklemmt gewesenen Darmschlinge, besonders häufig bei Schenkel-
hernieu. 3. Paralyse in Folge einer Verletzung des Rückenmarkes
durch Wirbelfracturen oder Geschosse. 4. Lähmung in Folge Ver¬
letzung des zutretenden Nerven. 5. Lähmung durch Reflex, hervor¬
gerufen durch das Passiren von Gallensteinen, Nierensteinen, durch
Einklemmung des Netzes oder Druck auf das Ovarium. 6. Septische
Lähmung in Folge von Peritonitis, Cholecystitis, Salpingitis oder
Embolie der Mesenterialarterie, Thrombophlebitis. 7. Urämisshe Läh¬
mung. Der dynamische Ileus entsteht in Folge toxischer Contraction
der circulären Darmmusculatur, die tagelang andauern kann.
Bleivergiftung, Tyrotoxie etc.
Der mechanische Ileus entsteht: 1. Durch Strangulation des
Darmes innerhalb oder ausserhalb der Bauchhöhle (Hernien), 2. durch
Invagination, 3. durch Verschluss des Darmes innerhalb der Bauch¬
höhle (Volvulus, Neubildung) oder ausserhalb (eingeklemmte Hernie).
Er warnt vor der Darreichung von Opiaten, weil sie die
Peristaltik lähmen und das Krankheitsbild verdunkeln. Frühzeitige
Laparotomie ist dringend nothwendig.
*
VI. Sitzungstag.
I. Blumberg und K r ö n i g (Leipzig) : Untersuchungen
über Händedesinfeetion.
Die Experimente und Untersuchungen sind schon ausführlich
bei Gelegenheit des letzten Congresses der deutschen Gesellschaft für
Chirurgie besprochen worden.
Zur Discussion spricht Z a n t i n o (Bergamo) .
II. P o z z i (Paris) berichtet über einen Fall von Gallen¬
stein, den er durch transduodenale Choledochotomie
aus der Ampulla Vateri entfernt hat, und über einen enorm grossen
Ureterstein, den er durch Laparotomie gewonnen. (Demonstration
der Präparate.)
III. Sever anu (Bukarest): Allgemeine Anästhesie
mit Aethylchlorid.
Er empfiehlt sie für kurz dauernde Operationen.
Nt 39
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
893
IV. Buffet (Elbent): Ein Fall von Fistel der linken
Hinterbacke in Folge eines ischio-rectalen Abscesses, die allen
Heilimfrs versuchen durch Injectionen und Kauterisationen trotzte,
schliesslich nach einem Jahre vergeblicher Versuche durch eme ein-
fache Incision einer transversalen Leiste der hinteren Rectalwand in
weniger als drei Wochen ausheilte. _ _
V Jonnesco (Bukarest): Die Resection des Rectums
und des Colon pelvicum auf abdomino-perinealem
\V 0 ff 0,
Viermal hat Vortragender auf diesem Wege 30— 40 cm Darm
entfernt. Zwei Heilungen und zwei Todesfälle, einen an Peritonitis,
einen an Collaps. Er hält die combinirte Operationsmethode für die
sicherste in Bezug auf die Dauer des Operationsresultates. Wenn ein
Recidiv nicht zu vermeiden ist, schiebt sie es ^wenigstens hinaus.
Ausserdem hat das Operationsverfahren folgende Vortheile:
1. Die Möglichkeit präliminarer Blutstillung durch Unterbindung
der A. hypogastrica und haemorrhoidalis superior. 2. Die Zulässigkeit
der Exstirpation des Darmrohres in vollkommen geschlossenem Zu¬
stande, ohne Gefahr, das Operationsfeld mit Darminhalt zu be¬
schmutzen. 3. Die geringfügige operative Verletzung, weil jede
Knochenresection vermieden wird, die niemals nützlich, immer schäd¬
lich ist. Die Dauerhaftigkeit des Resultates wird auf Möglichkeit
gewährleistet, weil es bei diesem Operationsverfahren möglich ist, das
ganze Beckenzellgewebe und die prälumbare Gegend nach etwa er¬
krankten Drüsen abzutasten. Schliesslich wird jede secundäre Infection
des Operationsfeldes durch Bildung eines Anus iliacus vermieden, dei
sehr hoch und möglichst w*it von ihm angelegt werden kann, etwa
bei der Spina iliaca anterior superior. Von allen Anus praeter naturam
ist der Anus iliacus der beste. Contraindication der Exstirpation des
Rectalcarcinoms sind: Grosse Kachexie, ausgedehnte Drüsenmetastasen,
Metastasen in den Eingeweiden, Niereninsufficienz.
Discussion: Turetta (Trapani).
VI. Vercesco (Crajova) : Eine neue Methode der Ex¬
stirpation der Hämorrhoidalknoten.
Das Verfahren hesteht in Folgendem: In Steissrückenlage wild
in den Mastdarm ein mehrblätteriges Speculum eingeführt, dieses stark
erweitert und in dasselbe ein Korkstöpsel in cylindrischer Form ein¬
geschoben. Das Speculum wird dann entfernt. Nun wird mit Kails-
bader Nadeln die Analhaut dort, wo sie in die äussere Haut tibei-
geht, rings um den Kork festgestochen und hinter diesem Naflelkranz
eingeschnitten. Dann wird das Rectum durch leichte Jractionen an
dem Kork und Durchtrennung des Bindegewebes vorgezogen, bis man
die ganze erkrankte Partie draussen hat. Man kann nur die Knoten
entweder einzeln exstirpiren oder, wenn sie einen geschlossenen King
bilden, hinter ihnen eine zweite Reihe von Nadeln rings in dem Kork
befestigen und zwischen diesen beiden durchtrennen. Dann wird das
Rectum zurückgebracht und eine circuläre Naht angelegt, darauf der
Kork entfernt. Das neue Verfahren ist also eine Resection des Rectums
zur Heilung der Hämorrhoiden.
VII. Reverdin (Genua) demonstrirt einen neuen Ope¬
rationstisch;
VIII. Barnax (Paris) ein orthopädisches Bett für
die Coxalgie und die Brüche der Wirbelsäule und der uuteien Ex¬
tremitäten ;
IX. Martin (Lyon) zeigt einen Apparat zum Redresse¬
ment der Schiefnase;
X. Schmidt (Paris) verschiedene chirurgische In¬
strumente;
XI. Stapler (Wien) einen Operationstisch und D e s-
infe ctiousapparate;
XII. Storojcako (Moskau) einen neuen Sterilisations¬
apparat.
*
Abtheilung der Colonien.
(Referent Dr. S p.)
I . S i m o n d und Yersin: Ueber die Pestepidemien
im äussersten Orient.
Die Pest erscheint nicht von selbst in einer Gegend, ja sie ei-
scheint sogar nicht wieder daselbst, ohne neuerdings eingeschleppt zu
werden, wenn sie daselbst seit 20 Jahren versehwunden ist. Dieses
ist eine Thatsache, welche für die Epidemien von Constantinopel,
Venedig, Genua und Messina im Jahre 1347, wo die Geissei von
Jaffa kam, für jene von Marseille 1720, wo sie aus Syrien abstammte,
für jene von Cutch Mandwi 1812, wo sie von Mekka importirt wurde,
genügend bestätigt worden ist.
Das Studium der jüngsten Epidemien führt zu denselben
Schlüssen. Als Princip kann man annehmen :
1. Dass die Verbreitung der Pest um ein Centrum durch ki eis¬
förmige Ausdehnung geschieht.
2. Dass der Transport eines primitiven Herdes zu einem ent¬
fernten Centrum rasch vor sich gehen kann, wenn zwischen diesen
beiden Punkten directe und schnelle Communicationen bestehen.
3. Dass die Ansteckung entfernter Centren, wenn dieselben mit
dem Krankheitsherde durch Eisenbahnen oder Schifffahrtslinien nicht
verbunden sind, nur ausnahmsweise geschieht.
Im äussersten Orient ist die Pest aus endemischen Heiden
hervorgegangen, wo sie eingeschlossen war und sich auf demselben
Wege wie der Waarenverkehr weiter ergoss. Ihr Marsch, im Beginne
sehr langsam, stieg in dem Masse, als sie Punkte erreichte, wo der
Wechselverkehr ein rascherer war. Im Gegensätze blieben benachbarte
Regionen, die von den Herden durch natürliche Grenzwälle geschieden
waren, geschützt. Der Garwhaal im Himalaya hat Indien nicht an¬
gesteckt. Der Yunnan in China hat I onking nicht inlicirt.
Yunnan ist es, von wo die Keime entsprossen sind, welche sich
in der ganzen Welt verbreitet haben. Sie haben 30 Jahre gebraucht,
von 1850 — 1880, um Long-Tcheou und Pakoi, den Flüssen und
Verkehrswegen folgend, zu erreichen. 1893 erreichte die englische
Diplomatie die Eröffnung des Handels an der Riviera von Canton; die
Pest zog aus von Long-Tcheou, erreichte Canton und Hongkong, von wo
sie sich innerhalb vier Jahren über fünf 1 heile der Erde ausbieitete.
Es ist überflüssig, auf die Ursprünge der Pest von Bombay
zurückzukommen, aber es ist wichtiger, zu erkennen, von wo die
Geissei aus Indien hervorgegangen ist. Der Hafen von Cutch Mandwi
scheint dieser Ausgangspunkt zu sein. Die Sanitätspolizei in Bombay
und Kurachu ist wunderbar organisirt, hingegen ist die Ein- und Aus¬
fahrt von Cutch-Mandwi, woselbst keine Europäer leben, an keine
Formalität gebunden. Trotzdem ist dieser Hafen von Eingeborenen das
Centrum eines sehr lebhaften Handels und durch Segelschiffe in be
ständiger Verbindung mit Madagaskar, Zanzibar, Maurice, Djeddah
und dem persischen Meerbusen.
Während die von Long-Tcheou entstandene Infection sich so
weit verbreitete, verunreinigte Pakoi die benachbarten kleinen Handels¬
häfen auf der Insel Hainan, an der Mündung des Vinhflusses in Ton¬
king, in der Bucht von Quang-tcheou-van und in Nha-trang.
Es ist das erste Mal seit Menschengedenken, seit die Pest in
Indo-China wüthet, dass sie die benachbarten Ortschaften des Vinh¬
flusses erreicht. Trotz der Abwesenheit von Vorsichtsmassregeln blieb
sie auf zwei oder drei Ortschaften loealisirt und erlosch, ohne viel
Opfer gefordert zu haben.
Sie wurde durch französische Kriegsschiffe in Quang-tcheou-van,
wo sich dieselben in Station befanden, 1899 constatirt. Gewisse Ort¬
schaften, wo die Pest unter den Menschen und besonders unter den
Ratten wiithete, wurden evacuirt; die Bevölkerung flüchtete und
campirte auf den Feldern. Nach den Professoren Mare dial und
F er and zeigte sich die Krankheit 1891 in Chek-Chen, einer Stadt,
östlich der Bucht gelegen, und blieb seit jener Zeit daselbst ein en¬
demischer Herd. > . .
Einen Augenblick besorgte man, dass die Epidemie von Nha-
trang aus dem Institute Pasteur, woselbst Pestculturen auf bewahrt
waren, hervorgegangen sei. Allein eine genaue Untersuchung zeigte,
dass auch diese Epidemie in Pakoi entstanden ist. Drei Monate früher
wurde in der Ortschaft Culas, gegenüber von Nha-trang, auf der
anderen Seite der Flussmündung, eine ungewöhnliche, durch die Pest
verursachte Sterblichkeit constatirt. Die zuerst ergriffene Person hatte
früher ihren Aufenthalt auf der Insel Bai-meou, deren Hafen in fort¬
währenden Beziehungen zu Pakoi steht. Die Geschichte dieser Epidemie
hat die Unwirksamkeit antiseptischer Desinfectionen und die Wirk¬
samkeit der Verbrennung verunreinigter Wohnstätten gezeigt, aussei -
dem noch die Vortheile der Serumbehandlung als eines heilenden und
vorbauenden Mittels.
Yersin und Carre haben in Nha trang die Impfung mit
abgeschwächten Giften versucht. Sie conetatirten, dass man zufolge
des Alters der Culturen Pestbaeillenracen erlangen könne, mit allen
Abstufungen der Giftigkeit; von Bacillen, welche Ratten in 48 Stunden
tödten, bis zu Mikroben, welche gar nicht tödten. Man schreitet durch
Culturen, welche von geimpften Thieren 80, 50, 20, 10 von 100
zwischen 4 und 14 Tagen zu Grunde lichten.
Nach langen Versuchen haben Yersin und Carre einen
Pestbacillus erlangt, welcher nur 20 von 100 geimpften Ratten tödtete
und welchen sie als Bacillus C bezeiclineten. . _
Die der Virulenz beraubten Keime vacciniren nicht. Ibiere,
welche schwach virulenten Pestbacillen widerstanden haben, sind ge¬
impft. Die Immunität scheint nach 14 Tagen vollständig erreicht zu
sein. Ist dieselbe von Dauer? Eine dreimonatliche Erfahrung ist nicht
ausreichend, um sich darüber auszusprechen.
Das Gift, welches 40 oder 50 von 100 Ratten todtet, wurde
Affen eingeimpft, die jedoch nur ein vorübergehendes Unwohlsein
zeigten und schliesslich dem virulenten Bacillus widerstanden.
Yersin hat sich selbst mit dem Bacillus C geirnp , °^e
anderen Zufall, als ein wenig Zerschlagenheit und Fieber- Die
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. ö9
894
Impfungen werden mit der gewöhnlichen Lancette, wie bei der
Jenner’schen Impfung, gemacht, und dies ist der Vortheil der
Methode, welche auf diese Art eher angenommen wird, als die Vac¬
cination mit einer Spritze.
II. Calmette (Lille) : Die Prophylaxis des Starr¬
krampfes.
Der Tetanus ist in den meisten unserer Colonien der heissen
Zone sehr häufig, besonders an der Westküste von Afrika, iu Guyana
und auf den Antillen. Er befällt hauptsächlich kleine Kinder. Iu Indo-
China unterliegen viele Neugeborene dieser Krankheit.
Die schwarze Race scheint die empfindlichste zu sein; die weisse
kommt in zweiter Reihe und die gelbe Race in dritter.
Während der colonialen Kriege in der zweiten Hälfte des
XIX. Jahrhunderts betrug die Sterblichkeit in Folge von Tetanus
unter den Verwundeten im Mittel drei bis fünf von 100. Diese Ziffer
ist nicht gross, aber die Kenntnisse, welche wir über die Prophylaxis
dieser Krankheit seit der Entdeckung ihres specifischen Mikroben durch
Nicolai' er erworben haben, verpflichten uns, unsere Truppen davor
zu bewahren und die Existenz von Tausenden eingeborener Kinder,
welche jährlich durch die Krankheit decimirt werden, zu behüten.
Die Aetiologie des Tetanus in den heissen Ländern stammt bei¬
nahe immer von der Verunreinigung der Wunden durch Erdbestand-
theile oder durch thierische Abfälle. Der Tetanus der Neugeborenen
resultirt aus der Infection der Nabelwunde durch Wäschestücke oder
unreine Verbände.
Die Massregeln, um dieser Sterblichkeitsursache zu begegnen,
bestehen:
1. In den Colonien, Spitälern, Ambulanzen und Marschcolonnen
ist das antitetanische Serum allgemein anzuwenden, um dem Tetanus
bei den Verwundeten, deren Wunden mit Erde verunreinigt oder mit
Kleiderfetzen bedeckt sind, wirksam zu begegnen.
Alle durch Feuerwaffen Verwundeten sollten nach dem ersten
Verbände in der Ambulanz eine l’räventivinjection von 10 cm3 anti-
tetanischen Serums bekommen.
2. In allen Tx-open colonien wTäre der Unterrricht alter ein¬
geborener Frauen oder Hebammen durchzuführen und die Ausübung
der Geburtshilfe nur Jenen zu gestatten, welche hinreichende Kennt¬
nisse bewiesen haben, um wenigstens die elementaren Besorgungen
der Antisepsis bei Frauen und neugeborenen Kindern sicherzustellen.
Zu diesem Zwecke müsste man in jedem Ilauptorte der Colonie, wo
sich Aerzte befinden, elementaren Unterricht mit praktischen Uebungen
in den Spitälern der Eingeborenen organisiren. Bei diesem Unterrichte
wäre besonderer Werth auf die Verbände des Nabelstranges zu legen,
von deren Reinlichkeit gänzlich die Prophylaxis des Starrkrampfes
abhängt.
Dank dieser einfachen und wenig kostspieligen Massregel würde
man jedes Jahr eine grosse Zahl kostbarer Existenzen für die öko¬
nomische Zukunft der betreffenden Länder erhalten.
III. F i r k e t (Lüttich): Patliogenie und Prophylaxis
„de la fievre bi lie use h e m o g 1 o b i n u r i q u ew der
heissen Länder.
Der Ausbruch eines Anfalles von biliösem Fieber mit Hämo¬
globinurie erkennt nicht eine parasitäre, exogene, dem Anfalle un¬
mittelbar vorhergehende Infection als genügende Ursache; das Fieber
ist vielmehr durch chronische Alteration des Organismus vorbereitet
und durch Zusammenwirken vielfacher Factoren hervorgerufen, welche
nicht genügen würden, dasselbe in einem gesunden Organismus zu
erzeugen.
Die vorbereitenden Störungen betreffen die verschiedenartigen
Gewebe und besonders die blutbildenden Organe, welche einer ab¬
normen Brüchigkeit der Blutzellen verfallen; die Ilauptursache liegt
in einer vorausgogangenen Sumpfinfection, xvelche sich durch wieder¬
holte Fieberanfälle angekündigt hat oder auch von langsamem Ver¬
laufe mit geringster Fieberreaction gewesen ist. Diesem Einflüsse der
Sumpfinfection reihen sich ungünstige hygienische Verhältnisse an
(meteorisches Klima, Mangel an Comfort, Demoralisation, Alkoholismus).
Die Wirkungen all dieser ätiologischen Factoren steigern sich,
je länger das Individuum in dem ungünstigen Milieu sich aufhält; sie
enden mit der Entstehung einer drohenden Krankheit.
Ausserdem können auch zufällige Ursachen einwirken, wfie
Kälte, Anstrengungen aller Art, heftige Erregungen, Alles, was das
niehtstabilo Gleichgewicht der Gewebe erschüttern kann. Dies kann
auch ein neuer Wechselfieberanfall sein, welcher die Blutstörung
plötzlich steigert.
Endlich kann dies eine Vergiftung sein, möglich auch eine
Selbstvergiftung gastro intestinalen Ursprunges oder auch eine Chinin¬
vergiftung. Letztere konnte in gewissen Fällen mit Recht beschuldigt
werden, darf aber nicht als ausschliessliche Ursache betrachtet werden,
und selbst wo dies der Fall ist, tritt sie blos unter dem begünstigenden
Einflüsse einer Prädisposition auf.
t - - - - -
Unter diesen Bedingungen vermischt sich die Prophylaxis des
biliösen Fiebers mit Hämoglobinurie in den heissen Ländern grössten-
theils mit jener des Paludismus: einerseits der Infection aus weichen,
hauptsächlich durch methodischen, präventiven Gebrauch von Chinin,
andererseits die Folgen der erworbenen Infection durch eine rationelle
Behandlung und durch alle nothwendigen Bedingungen des Comforts
bekämpfen; weiters die normale vorgesehene Dauer des Aufenthaltes
in den gefährlichen Klimaten zu verkürzen; endlich den zufälligen
Ursachen möglichst ausweichen und die Indicationen und Dosen beim
Chiningebrauche exact präcisiren.
Clarae (Correferent) : Das biliöse Fieber mit Hämoglobinurie
ist noch nie bei einem vom Sumpffieber absolut freien Menschen con-
statirt worden; die dasselbe kennzeichnenden schweren Zufälle sind
die Folgen einer tiefen Intoxication, deren Wirkung sich hauptsächlich
auf die rothen Blutkörperchen übertragen hat.
Die durch den Sumpfeinfluss thatsächlich bedingte Natur dieses
Leidens wurde bis in die letzten Jahre von allen Aerzten in den
tropischen Ländern anerkannt. Zur Stütze ihrer Meinung führten sie
die geographische Verbreitung des biliösen Fiebers mit Hämoglobinurie
an, welches nur in jenen Theilen des Erdballes, wo der Paludismus
mit Intensität wüthet, constatirt worden ist. In der Strafanstalt von
Saint Jean de Maroni (Guyana) hat man in Folge grosser Arbeiten
behufs Urbarmachung und Entholzung des Landes, welche einen wahr¬
haften Ausbruch von Sumpferscheinungen hervorgerufen haben, inner¬
halb zweier Jahre 20 Fälle, darunter 16 mit tödtlichem Ausgange
beobachtet.
Das biliöse Fieber mit Hämoglobinurie stammt klinisch vom
Sumpffieber; seinem Erscheinen sind stets ein oder mehrere, mehr oder
minder intensive Fieberanfälle vorhergegangen; an und für sich stellt
er nur einen mehr schweren Anfall dar, zu welchem ein neues Symptom,
die Hämoglobinurie, hinzugetreten ist. Diese Episode, die man als
pernieiöse bezeichnen könnte, ist zumeist von neuen intermittirenden
Anfällen gefolgt.
Die pathologische Anatomie plaidirt noch zu Gunsten der
Identität, des Ursprunges dieser beiden Affectionen.
In beiden Fällen beobachtet man Hypertrophie der Bauch¬
eingeweide, ferner eine quantitative und wahrscheinlich qualitative
Störung der rothen Blutkörperchen.
Wenn man nicht immer Hämatozoen von Laver an bei den
biliösen Kranken gefunden hat, so muss man bedenken, dass diese
Chinin genommen haben, dessen erste Wirkung das Verschwinden des
Parasiten ist.
Nebst der Malariavergiftung treten andere Ursachen hinzu,
welche die Energie des Giftes steigern oder mit demselben zusammen¬
treffend das Terrain zur Entwicklung des biliösen Fiobers mit Hämo¬
globinurie vorbereiten. Hieher gehören der Einfluss der Kälte, der
Race, der Constitution und vorhergehender pathologischer Zustände.
Man wollte der Chininvergiftung bei der Aetiologie dieses
Fiebers eine hervorragende Rolle zuschreiben. Thatsächlich ist in
gowissen Fällen die Hämoglobinurie der Verabreichung des Chinins
nachgefolgt; aber da sich jene bei im Sumpfe lebenden Individuen
vorfand, ist es logischer, die Ursache der Blutung dem letzteren Gifte
zuzuschreiben. Andererseits hat man in Europa sehr ausgesprochene
Fälle biliösen Fiebers mit Hämoglobinurie bei Individuen gefunden,
welche früher in tropischen Ländern dem Sumpfeinflusse ausgesetzt
waren, jedoch seit langer Zeit kein Chinin genommen hatten. Dieses
Medicament -wird in den Colonien täglich gebraucht und wirkt iu der
grossen Majorität der Fälle sehr lebhaft auf die Malariaerscheinungen,
ohne Hämoglobinurie zu erzeugen.
In allerjüngster Zeit, wollte man das in Rede stehende Fieber
als eine specielle Mikrobenkrankheit, als eine Art Typhus hinstellen,
■welche mit dem Paludismus nichts gemein hat. Y e r s i n hat im
Urine von zwei Kranken einen kleinen Bacillus gefunden, welchen
Breaudat als Colibacillus demonstrate. Vincent hat in den
Urinen keinen pathogenen Bacillus vorgefunden, stellt jedoch nichts¬
destoweniger die infectiöse und parasitäre Natur des biliösen Fiebers
als sehr wahrscheinlich hin.
Es gibt also keinen speciellen Bacillus oder man hat einen
solchen noch nicht entdeckt.
Die Prophylaxis ist für das biliöse Fieber mit Hämoglobinurie
dieselbe, wie für den Paludismus. Die Anfälle sind umso schwerer,
i je häufiger sie auftreten; daher sollen die Reconvalescenten nach
Europa zurückkehren, um neuen Anfällen, deren Ausgang oft fatal
ist, zu entgehen.
Diejenigen, welche gezwungen sind, in den verseuchten Centren
zu leben, müssen ihre Sorge der Bekämpfung der Anfälle verdoppeln
und einen vernünftigen Gebrauch von Chininsalzen machen. Alle Ur¬
sachen der Erkältung sind sorgfältig zu vermeiden.
(Fortsetzung folgt.)
Veraut wörtlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, O. Chiari, Rudolf Clirobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, M. Gruber,
M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann, R. Paltauf,
Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt, A. v. Vogl, J. v. Wagner,
H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
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L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigiit von I)r. Alexander Fraenkel.
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Verlagshandlung :
Telephon Nr. 60Ü4.
XIII. Jahrgang. Wien, 4. October 1900.
Nr. 40.
I HST IEEE X-i T :
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel : 1. Eduard Albert, gestorben am 25. September 1900.
Nekrolog von Adolf Lorenz.
2. Aus dem Kaiser Franz Josef-Ambulatorium in Wien. Die Be-
wegungspliänomene in der Mund- und Rachenböhle bei Insufficienz
der Aortenklappen. Von Docent Dr. Hermann Schlesinger.
3. Von der Abtheilung 1 B (interne Krankheiten) des St, Lazar-
Landesspitales in Krakau. Zur Behandlung der Lungentuberculose
mit intravenösen Iletolinjectionen nach Länderer. Von Primarius
Dr. Anton Krokiewicz.
II. Referate: Die pathologischen Beekenformen. Von Prof. Dr. Karl
Breus und Prof. Dr. Alexander Kolisko. Kef. Alfons
Ros thorn.
III. Ans verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften nnd Congressberichte.
Eduard Albert,
gestorben am 25. September 1900.
Wie die knorrige Eiche, vom Blitze getroffen, lang hingestreckt den Boden deckt, dem sie entsprossen,
so hat ein jäher Tod den Mann gefällt und in geliebter Heimatscholle zur ewigen Ruhe gebettet, dessen
unverwüstliche Schaffenslust und Lebensfreudigkeit uns das beglückende Gefühl erhielt, dass wir ihn noch lange
Jahre besitzen würden.
Und dennoch war es kein Blitz aus heiterem Himmel, der uns den theueren Freund und Lehrer
entrissen.
Die Unheil drohenden Wolken standen seit Langem am Horizonte, aber wir sahen sie nicht oder wollten
sie vielmehr nicht sehen; ihm aber blieben sie nicht verborgen und er liebte es, mit dem Finger auf den
dräuenden Wetterwinkel hinzuweisen.
Inmitten heiterer Gesellschaften, welche durch Albert’s übersprudelnde Laune zu wahren Festen
gestaltet wurden, blieb ihm Sterben und Tod ein gerne gewählter und stets geistreich behandelter Gesprächs¬
stoff. Der Abschiedsgruss für das nächste »Morgen« war stereotyp: »Wenn Gott Leben und Gesundheit schenkt.«
Wie er sich anschaulich und drastisch auszudrücken pflegte, konnte sein müdes Herz in den letzten
Jahren bessere Purzelbäume schlagen, wie er es als Knabe vermocht hatte; das arme Herz bäumte sieh leider
nicht mehr aus Lebenslust, sondern aus Todesverzweiflung; das Wälzen und Pfauchen desselben blieb ihm ein
ständiges »Memento mori!« ; aber All’ das vermochte ihn in seiner philosophischen Ruhe nicht zu stören. Als ich
dem in Gott Verewigten auf einem seiner einsamen Spaziergänge begegnete und ihn fragte: »Warum so allein?«
so gab er zur Antwort: »Ich bin niemals allein, denn ich gehe Arm in Arm mit meinen Gespenstern.« Fr litt,
aber er klagte nicht, sondern tröstete die Besorgniss Anderer mit einem geistreichen Scherze. In kleinlichen
Dingen eher empfindlich, sah er der unerbittlichen Unabwendbarkeit menschlichen Schicksals mit stoischer Ruhe
entgegen. »Das Glück im Leben mag man sich gestalten«, pflegte er zu sagen, »aber das Glück im Tode
muss man haben.« Dem Liebling der Götter, an dessen Wiege die Musen standen, ist dieses »Glück im Tode«
im reichsten Masse zu Theil geworden. Schmerzhaftes Siechthum ist ihm erspart geblieben. »Ich lühle eine süsse
Müdigkeit und denke einen tiefen Schlaf zu thun.« Das waren seine bedeutungsvollen Abschiedsworte an einen
bewährten Freund (Minister Dr. Rezek), der bei ihm zu Gaste weilte, am Abend jenes Tages, der ihm keinen
Mutter, seine Geschwister und die treue Schaar wahrer Freunde an dem jählings gähnenden Grabe empfinden, und in
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 40
einer ohnmächtigen Anwandlung von Auflehnung gegen den unab¬
änderlichen Rathschluss Gottes möchten wir aus gequälter Brust
ausrufen: »Considera, Domine, quem virum vindemniaveris ital«
(Erwäge, o Herr, welch einen Mann Du in Deinem Weinberg
geerntet!)
Sein Tod war ein kampfloses Erliegen, sein Leben ein
stetiger Kampf, und im heissesten Kampfe war’s ihm am
wohlsten.
Im Uebermasse meines Schmerzes und im Bewusstsein
der Unzulänglichkeit meiner Kräfte fühle ich mich der Grösse
der Aufgabe nicht entfernt gewachsen, diese mächtige In¬
dividualität, dieses an Arbeit und Erfolgen überreiche Leben
auch nur einigennassen erschöpfend zu schildern.
Ich kann es nur versuchen, einigen Spuren dieses
universellen Geistes nachzugehen, und erflehe von den Manen
des geliebten Todten jene Nachsicht und Güte, die mir von
dem Lebenden so oft in überreichem Masse zu Theil ge¬
worden ist.
Eduard Albert wurde am 20. Januar 1841 als Sohn
eines armen Uhrmachers und Ackerbürgers zu Senftenberg in
Böhmen geboren, hat also das sechste Decennium nicht er¬
reicht.
Seine Jugend war arm, aber nicht freudlos, denn sie war
frei und ungebunden. An der Seite des knorrigen Grossvaters,
der herrschaftlicher Förster war, durchschweifte der muntere
Junge Wald und Flur. Die Liebe zur Natur und zur Natur¬
beobachtung, die eiserne Gesundheit, die ihm eine Lebens¬
dauer bis zu den äussersten Grenzen menschlichen Daseins zu
sichern schien, verdankte Albert seiner gesunden und ab¬
härtungsreichen Jugendzeit. Die spätere Impulsivität seines
Handelns, die Raschheit seiner Entschliessungen, der kühne
Blick, schienen zu verrathen, dass etwas vom Jägersmann in
ihm stecke. Sein Aeusseres erweckte, namentlich während der
besten Mannesjahre, die Erinnerung an den beruflichen Nimrod.
Mit seinem unvergleichlichen Charakterkopfe auf stämmigem
Rumpfe, dem scharfen Profll, welches sich in einen martiali¬
schen Knebelbart verlängerte, hätte er ohne weitere Maske
als Kaspar in der Wolfsschlucht verzauberte Kugeln giessen
können.
Albert konnte nicht müde werden, immer und immer
wieder von seiner Jugend zu erzählen und in ihren Erinne¬
rungen zu schwärmen. Mit bewunderungswürdiger Schärfe des
Gedächtnisses reproducirte er köstliche Einzelheiten und
schilderte mit plastischer Deutlichkeit die Volkstypen aus
dieser längst verklungenen Zeit. Die symbolischen Ceremonien
des katholischen Gottesdienstes übten auf den Ministranten
Albert tiefen Eindruck; er blieb zeitlebens von stiller Gottes¬
furcht erfüllt.
Aus diesem Cultus seiner Jugenderinnerungen erfloss eine
seltene, starke Liebe für die heimatliche Scholle, auf welcher
er sich in späteren Jahren ein freundliches Tusculum erbaute;
der schöne Park desselben umschloss das väterliche Anwesen
und erstreckte sich auf die zur rauschenden Adler abfallenden
Hänge, auf denen Albert als Knabe die Kühe gehütet, seine
nackten Füsschen am Hirtenfeuer gewärmt und Kartoffeln an
demselben gebraten hatte.
Seine Studien begann der aufgeweckte Knabe auf dem
Gymnasium des benachbarten Reichenau als sogenanntes
» fauschkind« und setzte dieselben in Königgrätz fort. In die
höheren Classen vorgerückt, wurde er Hauslehrer in der an¬
gesehenen Familie Flanderka, welche ihm auch für die
schwierige spätere Zeit seiner Studien ein werthvoller Stütz¬
punkt blieb. 1861 bezog er die Universität Wien, um sich
der Medicin zu widmen.
Albert erzählt selbst: > Ich kam gehobenen Gemüthes
nach der Universität. Aber wie einsam fühlte ich mich, als
ich allein, ohne jeden Freund, ein armer Scholare, die Strassen
der Weltstadt durchwanderte!« In der That begann für ihn
die Zeit des ernsten Kampfes. Allein Jugendmuth und
stählerner Wille Hessen keine Entmutliigung in ihm aufkommen.
Seine Lebensansprüche waren nicht hoch und fanden zunächst
genügende Befriedigung in den Schätzen eines Greislerladens,
hinter welchem er Elementarunterricht ertheilte. Wie launig
hat er oft von dieser schweren Zeit erzählt, die ihm stets von
einer Gloriole der Erinnerung umstrahlt blieb. Baargeld war
rar; Schuster und Schneider mussten oft langen Credit geben.
Es ist ein bezeichnender Zug für Albert, dass er später,
als ordentlicher Professor der Chirurgie in Wien kaum install i rt,
eine sehr sorgfältige Nachfrage nach allen jenen Menschen
hielt, die ihm in jener schwierigen Zeit kleine Dienste er¬
wiesen hatten. Er war glücklich, ihrer noch Manche zu Anden
und das Sprichwort zu bewahrheiten, dass Wohlthun Zinsen trägt.
In H y r t l’s Hörsaal gewann Albert den ersten festen
Punkt und gleichzeitig den ersten Ausblick auf die hohen
Ziele der Heilkunde, die ihn von nun an ganz erfüllten. In
dem Glanze dieses Gestirnes sonnte sich der junge Scholare,
und vergass der Noth des Lebens. An den Lippen des grossen
Polyhistors hing der wissensdurstige Schüler und nahm mit
den ersten Fundamenten medicinischen Wissens das begeisternde
Beispiel eines glänzenden Lehrers in sich auf.
Albert ahnte damals nicht, dass ihm beschieden sein
sollte, fast drei Decennien später den wie einen Halbgott an-
gebeteten Meister in dem Arcadenhofe der Wiener Universität
zu feiern, als die dankbare Mitwelt dem Lebenden ein Denk¬
mal setzte. Das Zusammenklingen verwandter Geister fand
damals spontanen Ausdruck in dem Bruderkusse, den die
beiden Gelehrten vor dem bewegten Auditorium tauschten.
Albert konnte damals auch nicht ahnen, dass er in der
Geschichte unserer Facultät als ein der Chirurgie neu er¬
standener, als ein zweiter Hyrtl dereinst würde bezeichnet
werden.
Seine jugendlich empfängliche Seele öffnete sich unter
dem Beispiele des Meisters dem Verständnisse für die Schön¬
heit der von classischem Geiste durchwehten Sprache, die ihm
später so zu eigen wurde, dass er mit Recht ein Classiker
der Prosa genannt werden kann.
Noch grösseren Eindruck als H y r t l’s genialer Schwung
in Auffassung und Darstellung übte auf den jungen Albert
Skoda’s Einfachheit, Klarheit und Nüchternheit, von welcher
er classische Beispiele in dem Schatze seines Gedächtnisses
bewahrte. In Oppolzer hinwider lernte er den Kliniker
schätzen, welcher aus festgestellten Thatsachen mit genialer
Intuition seine diagnostischen Schlüsse zog.
Von entscheidender Bedeutung für Albert’s Lebens¬
gang war seine Annäherung an den grossen Rokitansky,
welcher in dem jungen Landsmanne das schlummernde Talent
entdeckte. Welche hohe Schule für den jungen Adepten, dem
Rokitansky seine classischen Sectionsprotokolle in die Feder
dictirteü Hier fand Albert nicht nur die seltene und neidens-
werthe Gelegenheit, sich gründlich in der pathologischen Ana¬
tomie auszubilden, sondern erlernte es auch von dem Meister,
den zu beschreibenden Gegenstand mit der Plastik des Wortes
zu decken und anschaulich zu machen. Hier lernte er den
Kriticismus, welcher die Speculation der S c h e 1 1 i n g’schen
Naturphilosophie zu stürzen bestimmt war, hier fühlte sich
der Jünger zum ersten Male von einem mächtigen Geiste an¬
geweht, der in philosophischen Speculationen über das Wesen
des Wissens und die Solidarität des Thierlebens sich erging
und in der Weisheit der alten Inder schwelgte.
Albe r t hat seinem Lehrer und Förderer Rokitansky
stets das dankbarste Andenken bewahrt und seiner Werk¬
tätigen Initiative verdankt der wichtigste Repräsentant der
Wiener Schule den gebührenden Ehrenplatz in der Ruhmes¬
halle unserer Universität.
Den Doctorhut erwarb Albert im Jahre 1867 und
hatte damit die schwierigste Periode seines Werdeganges hinter
sich. Noch in demselben Jahre wurde er in den Verband der
chirurgischen Klinik v. Dumreiche r’s aufgenommen und be¬
trat damit die Stätte, an welcher er, mit einer relativ kurzen
Unterbrechung, bis an sein Lebensende wirken sollte. Der
scharfsichtige v. Dum re ich er machte ihn bald zu seinem
klinischen Assistenten. Nach fünfjähriger arbeitsvoller Lehrzeit,
welche ihm reichliche Gelegenheit geboten hatte, sich praktisch
auszubilden und die literarischen Sporen zu verdienen, er¬
reichte er mit der Docentur 1872 die unterste Sprosse der
steilen akademischen Leiter, welche er im Fluge erklomm.
Nr. 40
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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denn schon im folgenden Jahre (1873) wurde er über Roki¬
tansky’s Betreiben als ordentlicher Professor der klinischen
Chirurgie nach Innsbruck berufen, nachdem er übrigens vor¬
her einen Ruf nach Lüttich abgelehnt hatte.
Bei seinem Scheiden von Wien bereitete Albert seinem
Chef v. Dum re ich er eine heitere Ueberraschung, indem er
ihm seine junge Frau und seine kleine Familie vorstellte.
Der angestrengte Dienst hatte Albert nämlich nicht
verhindert den strengen akademischen Gesetzen, welche den
klinischen’ Assistenten bei Strafe der Entlassung das Cölibat
vorschreiben, ein Schnippchen zu schlagen und sich in der
Schwester seines Collegen Dr. Pietsch, der flochter eines
Arztes, die treue Lebensgefährtin zu suchen, die ihm nach mehr
als 25jährigem Zusammenleben voll Harmonie und Glück vor
wenigen Tagen die Augen geschlossen hat. Das Geheimniss war
bis dahin von Albert strenge gehütet worden und mit
Humor erzählte er später die heitere und doch wieder rühiende
Episode, wie er in einem Leichenzuge an Seite D um¬
reich er’s zwischen dem Spalier bildenden Publicum einher¬
schritt, und wie seine junge Frau, den Aeltesten am Arme, in
der vordersten Reihe stand, und wie der kleine Junge seinen
Papa, den er erkannt hatte, überlaut und freudig begrüsste,
und wie der Gruss der Ehegatten nur in einem flüchtigen
Wechsel der Blicke bestehen durfte.
Acht Jahre wirkte Albert in Innsbruck. Waren die
Wiener Lehrjahre mit ihren sich überstürzenden Eindrücken,
ihrer jagenden Hast und ihrer Fülle von Arbeit zur Sammlung
wenig geeignet gewesen, so hatte Albert in seiner neuen
Stellung nunmehr die Müsse zur Sichtung des erworbenen Be¬
sitzes und zu selbstständiger Entwicklung. Die stille Stadt,
umgeben von einer grossartigen Natur, war so recht der Ort
zur ruhigen Arbeit, die in edlem Naturgenuss neue Anregung
suchte und fand.
Auf der Terrasse des Schlosses Ambras begann er sein
weltbekanntes vierbändiges Lehrbuch der Chirurgie, welches
den spröden Stoff in so viel Formenschönheit kleidete, dass
der Leser hingerissen wird, wie von einem spannenden Romane.
Man kann sagen, dass in der medicinischen Literatur
kein schöner geschriebenes Buch existirt, als Albert’s Lehr¬
buch, welches höchstens noch von seiner Diagnostik chirur¬
gischer Krankheiten überboten wird. Beide Werke haben zahl¬
reiche Auflagen erlebt und sind von Albert bis in die aller¬
jüngste Zeit stets auf der Höhe des Fortschrittes gehalten
worden. Die medicinischen Autoren, deren merkwürdiges Ge¬
schick, die deutsche Sprache zu verunstalten, in schriftstelle¬
rischen Kreisen viel bemerkt und mit Recht bespöttelt wird,
können von Albert lernen, wie durch Schönheit der Form
die Klarheit der Darstellung durchaus nicht zu leiden braucht,
sondern sich eher erhöht.
Neben der Herausgabe seines grossen Werkes fand
Albert noch die Zeit, die Schätze der Innsbrucker Uni¬
versitätsbibliothek an alten medicinischen Werken, die aus
Klosterbüchereien stammten, zu durchsichten und diese hi¬
storischen Studien, welche in den Beiträgen zur Geschichte der
Medicin niedergelegt sind, sicherten ihm schon in jungen Jahren
den Titel des »gelehrtesten« aller Chirurgen. Untersuchungen
über 'das Fieber, die er 1873 gemeinsam mit Salomon
Stricker ausgeführt hatte, Beiträge zur operativen Chirurgie,
Studien über Neurektomie und Nerventransplantation vermochten
seinem Schaffensdrang nicht Genüge zu thun. Er fand noch
Zeit, sich selber wieder auf die Schulbank zu setzen und Vor¬
lesungen über Philosophie, darstellende Geometrie und Mathe¬
matik zu hören.
Die neu erworbenen Kenntnisse verwerthete er in seinen
Studien über Gelenksmechanik, die zu seinen Lieblingsthemen
gehörte und ihn später nothwendig auf die Orthopädie hin¬
leitete. Seine Arbeiten über Mechanik des Hüftgelenkes und
dessen Excursionskegel, über die Mechanik des Kniegelenkes
und Sprunggelenkes führten eine ganz neue Betrachtungsweise
anatomisch-chirurgischer Fragen ein und deckten wichtige
Details auf. Sein Lieblingsobject blieb immer das Hüftgelenk
und er konnte durch die Torsion und Detorsion der Kapsel¬
faserung desselben in das hellste Entzücken gerathen.
Es war in Innsbruck, wo Albert als Erster in
Oesterreich die Antisepsis auf ihren Werth sofort erkannte,
an seiner Klinik einführte und für die Verbreitung des
segensreichen Verfahrens in Oesterreich genau dieselbe Mission
erfüllte, welche dem berühmten Zeitgenossen v. Volkmann
in Deutschland als eine seiner bedeutungsvollsten Leistungen
zuerkannt wurde. Die vielen Kropfoperationen, die Albert
unter dem Schutze der Antisepsis erfolgreich ausführte, wirkten
überzeugender, als die glänzendsten Plaidoyers in seinem Lehr¬
buche, welches eine neue Epoche der Chirurgie gerade deshalb
einleitete, weil es als das erste, nicht nur in Deutschland,
sondern überhaupt, die Chirurgie auf der gänzlich neuen Basis
der Antiseptik ausüben lehrte.
Es war ein Kampf, den Albert seinerzeit führte, denn
man brachte, zumal in Wien, dem damals in ceremonielle
Sonderlichkeiten eingekleideten neuen Verfahren wenig Ver¬
trauen entgegen. Nichts ist dafür bezeichnender als die Aeusse-
rung v. Dumreicher’s, welcher die unfreiwillige Adoptirung
einer halben Antiseptik »eine Concession an das grosse Publi¬
cum« nannte.
Als v. Dum reich er das Ende seines Lebens nahen
fühlte, war es sein einziger Wunsch, dass seinem Lieblings¬
schüler Albert die Nachfolge in der Leitung der I. chirur¬
gischen Klinik gesichert werde. Nichtsdestoweniger bedurfte
es für die Ernennung Albert’s nach Wien eines Separat¬
votums, das seinen mittlerweile nach Wien berufenen Universi-
tätscollegen Eduard v. Hoffmann zum Urheber hatte
und von Meynert und Stricker unterstützt wurde.
Am 2. Mai 1881 nahm Albert als neuer Chef officiellen
Besitz von jener Stätte, an welcher er unter v. Dum reicher
als Schüler seine chirurgische Laufbahn begonnen hatte und
hielt seinem verstorbenen Lehrer einen Nachruf, der als Meister¬
werk akademischer Redekunst sich den rauschenden Beifall
eines glänzenden Auditoriums erzwang. Albert’s erstes Auf¬
treten in Wien war ein Sieg auf der ganzen Linie.
Sein einfaches und klares Programm, »der hauptsäch¬
lichste Theil seiner Lehrtätigkeit werde darin bestehen,
seinen Schülern dasjenige beizubringen, was die weitaus
grösste Mehrzahl derselben, die sich der Landpraxis zuwendet,
in den Verhältnissen einer solchen Praxis leisten soll und auch
leisten kann«, fand in der Studentenwelt den ungeteilten Bei¬
fall und die unübertreffliche Art und Weise, in welcher
Albert dieses Programm verwirklichte, lockte die wissbegie¬
rige Jugend in hellen Schaaren herbei, so dass der alte Hör¬
saal die Zahl der Zuhörer ebenso wenig zu lassen vermochte,
wie der vergrösserte neue Saal.
Albert hatte erkannt, dass er neben dem gewaltigen
Billroth nur durch die Entfaltung seines unübertroffenen
Lehrtalentes persönliche Geltung gewinnen konnte, und dass
sich seine klinische Thätigkeit als Lehrer zu jener Billrot hs
ebenso ergänzend verhalten müsse, wie sich seinerzeit
S c h u h und Dumreicher auf dem chirurgischen, S k o d a
und Oppolzer auf dem intern klinischen Lehrgebiete in
harmonischem Zusammenwirken ergänzt hatten.
Wie Albert lehrte, bedarf keiner näheren Schilderung;
er war darin ein ebenso anerkannter als unübertioffenei
Meister, der sein Auditorium, das zum Theile in fürchterlich
bedrängter Enge schmachtete, stundenlang in seinem geistigen
Banne zu halten verstand. Der unscheinbarste und alltäglichste
Fall wurde interessant, wenn Albert ihn beleuchtete. Mit
seinem Auditorium stand er im regsten Wechselverkehr, das
zu Zwiegesprächen führte, welche tür den Gefragten. < ei
nicht zu sehen und zu combiniren wusste, höchst ungemüth il i
werden konnten.
Als Albert sein neues Amt übernommen hatte, begann
er unterstützt durch seinen von Innsbruck berufenen a-
maligen Assistenten Karl May dl, das Reformwerk an seiner
Klinik, welche mittlerweile währenddes von Nicoladon i ge ü n
ten Interregnums auf den Boden der Antiseptik gestellt w oi t en \\ ai
Albert vollendete das begonnene Werk und führte mi L e jer-
eifer eine sozusagen übertriebene Antiseptik ein, wie es c . len
dem Geiste der Zeit entsprach. Er kehrte damals den jah
zufahrenden, barschen Chef mehr hervor, als uns jungen
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Leuten an der Klinik angenehm sein konnte, denn das Interim
hatte jede Disciplin gelockert. Mit kräftiger Wurfschaufel
sonderte er die Spreu vom Weizen, und nun kiess es, an die
harte, weil ungewohnte Arbeit. Wer nicht wollte oder nicht
konnte, schlich sich still davon, denn sein Schicksal war von
vorneherein besiegelt.
Während der ersten drei Lustren seiner klinischen
Thätigkeit in Wien war Albert geradezu ein Fanatiker der
Arbeit. Schon der frühe Morgen und noch die späte Nacht
fanden ihn am Schreibtische. Der Tag war eine ununter¬
brochene Hetzjagd, in der oft genug für das Mittagessen keine
Zeit blieb. Wenn die Arbeitslast, die auf seinen Schultern lag,
schier unerträglich schien, dann legte er sich zu unserer
Ueberraschung noch eine freiwillige Aufgabe zu und las ein
interessantes Collegium publicum »Ueber Gelenksmechanik«
oder »Ueber die Einführung in die Chirurgie«.
Es war ihm eine Freude und Genugthuung selbst ein
scheinbares Uebermass von Arbeit leicht bewältigen zu können.
Eine lange Reihe von Arbeiten aus dieser Zeit entstammt
seiner Feder oder entstand unter seiner Anregung. Neben
rein chirurgischen beschäftigten ihn auch experimentell-patho
logische Studien über Wärmeverhältnisse beim Fieber und
über Hirndruck. In der Therapie der Knochen- und Gelenks-
tuberculose bei Kindern verfocht er zur Zeit der Resections-
orgien in Deutschland stets das conservative Princip der
Wiener Schule und hatte noch die Genugthuung, die Anderen
reumüthig auf jenen Standpunkt zurückkehren zu sehen, den
er selbst niemals verlassen hatte. Eine praktische Frucht dieser
Bestrebungen war die Gründung des Seehospitzes St. Pellagio
bei Ilovigno in Istrien. Albert warein besonderer Förderer
des hohen Steinschnittes und der conservativen Magen-
Darmoperationen. Auch in Gynaecologies hat er sich mit
Glück versucht und selbst in seiner gedrängtesten Zeit
der Lösung ihn besonders ansprechender theoretischer Probleme
aus der orthopädischen Chirurgie sein Talent zugewendet.
Sein einziger Ausflug auf das praktische Gebiet dieser Special-
disciplin schenkte uns die Arthrodese zur Versteifung un¬
brauchbarer Sehlottergelenke.
Zu dieser Arbeitsfülle brachte ihm seine im Professoren¬
collegium bald erreichte Führerrolle neue Aufgaben in Gestalt
von Referaten und Gutachten, welche seinen Riesenschreibtiseh
oft bergeshoch vergruben. Seine 1886 erfolgte Berufung in
den Obersten Sanitätsrath vermehrte im selben Sinne seine
Arbeitslast, und steigerte gleichzeitig seine Arbeitsfreude. Hof¬
rath Albert’s Gutachten und Referate füllen Bände; es
sind durchgehends Meisterwerke formvollendeter klarer Diction,
mit welcher er stets den Nagel auf den Kopf zu treffen wusste.
Ein schlagfertiger Debatter ersten Ranges improvisirte
er Reden, die wie ein sprudelnder Quell druckfertig von
seinem Munde flössen; seine Genialität entkleidete die be¬
handelte Frage mit einem Blicke des verhüllenden Beiwerkes,
legte in lapidaren und immer classisch schönen Sätzen ihren
innersten Kern bloss und führte die verfahrenste Debatte treff¬
sicher zu dem gewollten Abschluss.
Ein Gewaltiger in Wort und Schrift war und blieb
Albert ein treibender Factor im Leben der Universität.
Seine intime Freundschaft mit Taaffe, die von Innsbruck
her datirte, steigerte seinen Einfluss, welchem es trotz manchem
Kampfe im Schosse des Collegiums gelang, die bauliche
Ausgestaltung der medicinischen Facultät mit dem Neubau
des anatomischen Institutes wenigstens zu inauguriren.
Für die Fragen des Unterrichtes hatte Albert ein
stets wachsames Interesse und vereitelte den geplanten Gewalt¬
streich des Numerus clausus an der medicinischen Facultät.
In der Frage des Frauenstudiums nahm er eine prononcirte
Sonderstellung ein, die ihm viele Anfeindungen eintrug.
Albert, der glühende Verehrer der Frauen, sprach
diesen die physische Eignung zu einem erschöpfenden medi¬
cinischen Studium ab, trat aber ebenso entschieden dafür ein,
dass ihnen Gelegenheit zur gründlichen Ausbildung als Heil¬
gehilfen geboten werde. Er war in dieser, vorläufig gegen ihn
entschiedenen Frage, ein Gegner der Frauen, — aus Liebe
zu ihnen, aus Mitleid für sie.
Als Festredner war Albert unübertrefflich. Die Uni¬
versalität seiner Bildung stellte ihm einen reichen Gedanken¬
schatz zur Verfügung, den er durch meisterhafte Handhabung
der Sprache in feinster Nuancirung zur vollendet schönen Dar¬
stellung zu bringen wusste. Seine Gedenkrede auf Theodor
Billroth, »der unter uns der Erste war«, steht noch in
Aller Erinnerung. Seine gelegentlich der Eröffnungsfeier der
böhmischen Akademie -der Wissenschaften (deren hervor¬
ragendstes Mitglied er war) gehaltene Rede »Zwei Welten«
vereinigt classische Schönheit mit bewunderungswürdiger Ge¬
dankentiefe.
Als Gelegenheitsredner überraschte Albert durch die
Schnelligkeit der Improvisation, durch die scheinbare Irre¬
führung der Zuhörer, welche irgend einem verblüffend genialen
Schlusswitze als Folie zu dienen hatte. Als glänzender Causeur
war Albert von einer Liebenswürdigkeit, die ihn zum Mittel¬
punkte jeder Geselligkeit und zum erklärten Liebling der
Frauen machte.
Der Arzt Albert war von unendlicher Güte gegen
den Patienten, ganz besonders gegen den armen; er vermied
es, riskante Operationen vorzuschlagen, deren Vortheile nicht
auf der Hand lagen. Albert war ein streng conservative!’
Chirurg.
Als Diagnostiker verblüffte er durch seine kaum jemals
irrende Treffsickerkeit, welche aus einem unscheinbaren, leicht
zu übersehenden Symptome das ganze Krankheitsbild ergänzte.
Der Operateur Albert verfügte nicht über jene glänzende
Technik, welche den Zuschauer die Schwierigkeiten der je¬
weiligen Operationsphase nicht ahnen lässt. Im Gegentheile,
er plagte sieh und liess jene kalte Ruhe vermissen, welche
Viele erheucheln und nur Wenige besitzen. Ob diese Wenigen
auch die Besseren sind ?
Albert führte indess die schwierigsten Aufgaben in
verhältnissmässig kurzer Zeit zu Ende. Bewunderungswürdig
war seine Kenntniss lebender pathologischer oder normaler
Gewebe; er Avar niemals darüber im ZAveifel, in welcher Schichte
die Schneide seines Messers vordrang. Bei anatomischen und
typischen Operationen erinnerte seine schwunghafte und ge-
waltige Messerführung an seinen ersten Lehrer Franz
S c hu h.
Mit zunehmenden Jahren und steigender Weitsichtig¬
keit schien Albert das Messer Aveniger zu lieben, als die
Feder. Er freute sich an der Arbeit seiner Schüler, deren
Meisterschaft durch die tausendfach gebotene Gelegenheit der
Bethätigung rascher zur Reife gebracht wurde und hielt mit oft
überschwenglichem Lobe nicht zurück.
Als Prüfer war Albert streng, aber gerecht. Wie sein
Lehramt, so betrachtete er auch sein Prüferamt als Gewissens¬
sache. Da er Alles gab, glaubte er auch Einiges fordern
zu müssen.
Ein Freund seiner Schüler, blieb er auch ein warmer
Freund der Aerzte und die augenblicklichen Bedrängnisse des
ärztlichen Standes erfüllten ihn mit grosser Betrübniss.
Als überragende und scharf geprägte Individualität' hat
es ihm niemals an Bewunderern und ebensowenig an Feinden
gefehlt und auch er vermochte kräftig zu hassen.
Seine 1895 erfolgte Berufung in das österreichische
Herrenhaus führte Albert auf die Höhe seiner äusseren Er¬
folge und in die breije Oeffentlichkeit.
Durchtränkt von deutscher Cultur und Wissenschaft,
auf der Höhe der internationalen Weltcultur der Gegenwart
stehend, wusste Albert die Bedingungen ihrer FortentAvieklung
und die Werth- und Maehtverhältnisse der grossen und kleinen
Volkszahl in dem Ringen der Gegenwart mit der Nüchtern¬
heit des Mathematikers und der Vorurteilslosigkeit des über
allen Parteiungen stehenden Philosophen abzuwägen; es ge¬
reicht ihm zum Ruhmestitel, dass er im Herzen ein treuer
Sohn seines Volkes geblieben ist. Dem politischen Streite ab¬
hold. suchte er nach seiner Art die erregten Gemiither durch
die Blumengaben seiner Poesie aus Böhmen zu besänftigen.
Ferne A7on jedem Fanatismus, war Albert ein erleuchtete!1
Patriot, dessen Wirken von unserem allergnädigsten Herrn
und Kaiser wiederholt als ein echt patriotisches bezeichnet wurde.
Nr. 40
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
899
Den Aufregungen und übermenschlichen Anstrengungen
dieser Kampfperiode seines Lebens vermochte selbst die Riesen¬
natur Alberts auf die Dauer nicht Stand zu halten.
Wir sahen ihn plötzlich, und wie es anfänglich schien,
fast hoffnungslos zusammenbrechen. Das müde Herz fing an
zu revoltiren und warf den starken Mann unter den äusseren
Erscheinungen einer schweren Neurasthenie zu Boden.
Die erzwungene Ruhe, die unermüdliche und hingehende
Pflege seiner Gattin, die seltene Selbstbeherrschung des Ki unken
und^vielleicht auch der ihn erhebende Anblick der Schaaren
theilnehmender und hilfsbeflissener Freunde förderten seine
Genesung.
Wir sahen den Freund zu unserer unendlichen Freude
wieder erstehen.
Die Prüfung der Krankheit hatte ihn geläutert. Alle
Ecken und Härten seiner ragenden Individualität waren har¬
monisch geglättet zu einer echt- sokratischen Erscheinung. Ei
übte stille Wohlthaten, oft weit über seine Kräfte; Schätze hat
er nicht gesammelt.
Noch einmal nahm er seine Arbeit, den Kampf nicht
wieder auf. Aus den Schätzen, welche sein im Tode voraus-
gegangener Freund Hans K u n d r at gesammelt hatte, gab
er uns Perlen unvergänglichen Werthes. Seine grundlegenden
Studien über Pathologie und Mechanik der Skoliose und über
die innere Structur der Knochen auf vergleichend-anatomischer
Basis sind die Früchte dieser vom Tageslärm abgewendeten
GelehrteDarbeit. Seine Erholung suchte und fand er nach wie
vor in seinem Hörsaale. »Der h leiss und die Aufmerksamkeit
meines Auditoriums ist heute noch der u m f a s s e n d s t e Er¬
folg meines Wirkens«, sagteer, als wir sein von Horowitz
Meisterhand geschaffenes Bild der Ahnengalerie der Klinik
mit wehmiithigen Gefühlen einverleibten.
Was ihm an Müsse blieb, schenkte er seiner geliebten
Poesie aus Böhmen oder er flüchtete in die ewigen Wunder
des Himmels.
Seinen engeren Schülern, welchen er bisher hreund ge¬
wesen war, wurde er zum Vater. Ihre Erfolge waren die
seinen. Seine Güte schien nur durch seine gleichmässige philo¬
sophische Heiterkeit übertroffen. Scherzhaft nannte er sich den
abgeklärten Greis, welcher — leider — alle Schlacken mensch¬
licher Leidenschaft abgestreift hätte.
Sein ungeschwächtes Interesse für die Studentenschaft
bekundete er zum letzten Male in einer glänzenden Rede über
die Reform der medicinischen Studien, da er es für seine
heilige Pflicht erachtete, seine jungen Freunde gegen die Härten
der neuen Prüfungsordnung in Schutz zu nehmen.
Im verflossenen Sommer wurde ihm als einzigen
Chirurgen in Oesterreich die Ehre der Mitgliedschaft des
»Royal college of surgeons« zu Theil. Er nahm diese Aus¬
zeichnung in London persönlich in Empfang und erzählte mir,
wie er sich gefreut habe, den von ihm hochgeschätzten Pro¬
fessor Kocher in Bern als »Fellow of the college« zu be-
grüssen.
Am XIII. internationalen medicinischen Congress in
Paris war Albert mit der ehrenvollen Aufgabe betraut
worden, die österreichische Regierung zu vertreten, und be-
zeichnete in seiner bejubelten Ansprache die Aerzte im Kampfe
gegen die Krankheiten als Soldaten, welche bis zum letzten
Herzschlage auf ihrem Posten verharren müssten!
Die Manen des Verstorbenen würden verunglimpft sein,
wollte man Albert nur als Fachmann beurtheilen. Allzu be¬
scheiden, nannte er sich selbst nicht einen Schöpfer, nur einen
Apostel. Jedenfalls war er ein Kritiker von seltener Intuition.
So warnte er sofort vor den übertriebenen Hoffnungen der
Tuberculinära. Thatsächlich hat Albert, wenn auch nicht in
den grössten Errungenschaften der modernen Chirurgie, so
doch in wichtigen Details entweder selbst schöpferisch gewirkt
oder doch befruchtende Anregungen hiezu gegeben.
In Anbetracht der kurzen Spanne Zeit, die ihm das
Schicksal beschied, hat Albert Schule gemacht. Mit Stolz
nennen sich May dl, Höchen egg, Schnitzler, Rudolf
Frank, Ullmann, Ewald, v. Friedländer, H a b b a r t,
Zinsmeister, Lorenz u. v. A. seine engeren Schüler,
in deren Herzen Albert fortleben wird, so lange diese selber
schlagen. Ich selbst verlor durch seinen Heimgang den
Schmuck und die Zierde meines Lebens. Die Gemeinde seiner
weiteren Schüler zählt nach Tausenden. Albert bildete als
erster in Oesterreich viele Kriegschirurgen aus und hinterlässt
in Habbart deren Führer.
Aber die Bedeutung Albert’s reicht weit über sein
Fach hinaus.
Er war ein universeller Geist vom Schlage der grossen
Humanisten der Renaissance, welche in unserem verflachenden
Zeitalter um so höher geschätzt werden müssen, je seltener
sie auftreten. Kein Gebiet des menschlichen Wissens war ihm
fremd, in vielen war er völlig heimisch. Er war ein Weiser.
Als Lebenskünstler reichte Albert an Billroth hinan; im
Glück des Todes durfte er ihn übertreffen. Eine in sich ge¬
schlossene Kette von Arbeit und Genuss, liegt sein Leben vor
uns. Die Höhe seiner Bahn bedeutete auch ihr Ende. Nicht
wie ein flackerndes Lämpchen, sondern wie ein leuchtendes
Meteor ist er plötzlich erloschen und ohne Trennungsschmerz
zog seine Seele ins Hehre, dem Licht entgegen, nach dem sie
stets gestrebt. Adolf Lorenz.
*
Publicationen des f Hofrath Prof. Eduard Albert.
A. Grössere, namentlich selbstständige Publicationen.
Lehrbuch der Chirurgie und Operationslehre. Wien. 1.— 5. Auflage,
1877 — 1899. (Die fünfte Auflage führt dtn Titel: Lehrbuch der speciellen
Chirurgie.) — Diagnostik der chirurgischen Krankheiten. Wien. 1. — 8. Auf¬
lage, 1876—1900. — Der Excursionskegel des Femur bei Luxation des
Hüftgelenkes. Separatabdruck. Innsbruck 1877. — Beiträge zur Geschichte
der Chirurg i*. Heft 1. Wien 1877. Heft 2. Wien 1878. — Beiträge zur
operativen Chirurgie. Heft 1. Wien 1878. Heft 2. Wien 1880 (umfassend
die Serie von I — XXII der sub B angeführten Beiträge). — Der Verein zur
Errichtung und Förderung von Seehospizen und. Asylen für arme scrophulöse
und rachitische Kinder Wiens und der Vororte. Wien 1886. — Arbeiten
und Jahresbericht der k. k. ersten chirurgischen Universitätsklinik zu Wien.
Schuljahr 1888. Wien 1889. — Beiträge zur Theorie der Skoliose. Wien
1890. Sammlung medicinischer Schriften. Holder. — Die Erfolge des
Messers. Antwort auf die Brochure: »Unter der Herrschaft, des Messers«.
Wien 1892. — Zur Lehre der sogenannten Coxa vara und Coxa valga.
Wien 1899. — Die seitlichen Kniegelenksverkrümmungen und die compen-
satorischen Fussformen. Wien 1899. — Der Mechanismus der skoliotii-cben
Wirbelsäule. Wien 1899. — Beiträge zur Kenntniss der Osteomyelitis.
Wien 1896. (Im Vereine mit K o 1 i s k o.) — Die Frauen und das Studium
der Medioin. Wien 1895.
Lyrische Publicationen.
Nebst gelegentlichen Veröffentlichungen in der »Blauen Donau« etc.
die Sammlungen von Ueberset.zuiigen aus dem Böhmischen: Poesie aus
Böhmen. Wien 1892. — Neuere Poesie aus Böhmen. Wien 1893. — Neueste
Poesie aus Böhmen. Wien 1895. Zwei Bände. — Der Blumenstrauss des
Karl Johann Erben. Wien 1900. — Lyrisches und Verwandtes aus
der böhmischen Literatur. Wien 1900.
B. Publicationen mul Artikel in Zeitschriften etc.
Wiener medicinische Jahrbücher.
Untersuchungen über das Wundfieber; im Vereine mit Stricker.
1871, pag 39. — Ueber Hernia inflammata. 1871, pag. 239. — Unter¬
suchungen über die Wärmeökonomie des Herzens und der Lunge. Im
Vereine mit Stricker. 1873, pag. 30. — Studien zur chirurgischen
Pathologie der Bewegungsorgane. 1873, pag. 304. — Zur Mechanik des
Hüftgelenkes. 1876, pag. 105. — Zur Mechanik des Schultergürtels des
Menschen. 1877, pag. 190. — Zur Mechanik des Hüftgelenkes. Antwort
auf die offene Erwiderung des Herrn Prof. Aeby in Bern. 1877, pag. 291.
— Zur Mechanik des Hüftgelenkes. 1878, pag. 495. — Ueber einige 1 er-
hältnisse der Wärme am fiebernden Thiere. 1882, pag. 367. — Zur Me¬
chanik des unteren Sprunggelenkes des Menschen. 1882, pag. 493. -
Einige kymographische Messungen am Menschen. 1883, pag. 249.
Berichte des naturwissenschaftlich - medicinischen
Vereines in Innsbruck.
Mittheilung über den Zusammenhang zwischen Temperatur und
Athmung an curarisirten Hunden. 14. Sitzung, 5. November 1873. Sitzungs¬
berichte. IV. Jahrgang, pag. 49. — Untersuchungen über das Fieber. Be¬
richte. IV. Jahrgang, Heft 1. — Beiträge zur Geschichte der Chirurgie.
1. Die Blutstillungsmethoden im Mittelalter. Berichte. VII. Jahrgang, Heft 1.
2. Die ältere Chirurgie der Kopfverletzungen. Berichte. 5 II. Jahrgang,
Heft 1. — Die Herniologie der Alten. Berichte. Vll. Jahrgang, Heft. 2.
Peter Franco über die Hernien und die Blasensteine. Berichte.
IX. . Jahrgang, pag. 1. — Zur Mechanik des Kniegelenkes. Berichte.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 40
900
IX. Jahrgang, pag. 41. — Zur Mechanik der menschlichen Sprunggelenke.
Berichte. X. Jahrgang, pag. 102.
Wiener medicinische Presse.
Herniologische Beobachtungen. 1873, Nr. 20. — Zur trage der
Distractionsbehandlung entzündeter Gelenke. 1875, Nr. 43 — 46. — Ueber
das Genu recurvatum. 1875, Nr. 17, 19, 22. — Fälle von Concrementen
und fremden Körpern in den Harnwegen. 1876, Nr. 4 und 6. — Ueber
Arthrotomie. 1876. Nr. 20, 21, 23-28, 30, 31, 33-35, 37. — Beiträge
zur operativen Chirurgie: I. Ueber die ausgedehntere Nahtanwendung bei
Operationen unter der L i s t e r’schen Wundbehandlung. 1877, Nr. 1.
II. Amputation der Zunge wegen eines grossen Tuberkelknoteus, der für ein
Carcinom gehalten wurde. 1877, Nr. 2. III. Transplantation der Fibula in
die Fossa intercondyloidea femoris bei angeborenem Defecte der ganzen
Fibula. 1877, Nr. 4. IV. Keilexcision aus der Tibia und Osteoklase der
Fibula wegen winkelig geheilter Unterschenkelfractur. 1877, Nr. 6.
V. Arthrotomie des Knies zur Entfernung von Gelenkmäusen; gleichzeitige
Entfernung eines intraarticulären Knochenauswuchses. 1877, Nr. 7. VI. Ex¬
stirpation einer Struma mit Anwendung eines Lappenschnittes; Heilung
in vier Wochen. 1877, Nr. 8. VII. Sarkom des weichen Gaumens; Exstirpation
unter Anwendung einer Nothschlinge an der Carotis. 1877, Nr. 8. VIII. Re¬
section des C h o p a r t’schen Gelenkes wegen Caries desselben; Recidive
der Caries; Amputation des Unterschenkels. 1877, Nr. 10. IX. Einige Fälle
von Neurektomie. 1877, Nr. 17, 19. X. Einige Serotaloperationen. 1877,
Nr. 25, 26. XI. Zur G r i 1 1 i’schen Amputation. 1877, Nr. 31. XII. Eine
Kniegelenksresection mit vollständiger Naht und primärer Vereinigung.
1877. Nr. 35. XIII. Keilexcision der Tibia mit vollständigem Nahtverschluss
der Wunde und subcutanem Heilungsverlaufe. 1877, Nr. 37. — Einige
Fälle von interessanteren Krankheiten der Sehnenscheiden und Schleim¬
beutel. 1871, Nr. 27, 28. — Ein sehr seltener Fall von Ellbogenluxation.
1871, Nr. 1. — Einige Fälle von interessanteren Fracturen. 1871, Nr. 22.
— Ein Fall von Enchondrom, das eine Caries des Fersenbeines vortäuschte.
1871, Nr. 37. — Kleinere Mittheilungen (vier Fälle). 1871, Nr. 47. —
Fälle von Makrodaktylie. 1872, Nr. 1 und 3 (Nachtrag). — Fälle von
interessanten Luxationen. 1872, Nr. 29, 47 und 51. — Herniologische
Beobachtungen. 1873, Nr. 2, 3. — Operative Casuistik (aus der Klinik
Prof. Dumreicher’s). 1873, Nr. 20. — Jahresbericht der chirurgischen
Klinik an der k. k. Universität in Innsbruck. 1874, Nr. 32, 33, 35 — 39
(Mittheilung 19 interessanter Fälle). — Ueber den Unterricht in der
Chirurgie. 1874, Nr. 47 und 48. — Die Behandlung der Caries der Ge¬
lenke 1874, Nr. 41 — 45. — Die Ovariotomie in Tirol. 1875, Nr. 34
und 35. — Beiträge zur operativen Chirurgie: XIV. Einige Operationen am
Pharynx. 1878, Nr. 33. XV. Radicaloperationen von Hernien. 1878, Nr. 36.
XVI. Einige Aithrotomien. 1878, Nr. 42. XVII. Einige Laparotomien.
1878, Nr. 47, und 1879, Nr. 2. XVIII. Zwei Cystotomien mit Nabt. 1879,
Nr. 8. XIX. Exstirpation einer Struma maligna mit Heilung per primam
intentionem. 1879, Nr. 21. XX. Zur Resection des Kniegelenkes. 1879,
Nr. 22, 23 und 24. — Zur Geschichte der Medicin. Excursioni d’un medico
nel Decamerone. 1879, Nr. 21 und 22. — Beiträge zur operativen Chirurgie :
XXI. Versuch zur Herstellung einer Ankylose des Schulter- und Ellbogen¬
gelenkes bei spinaler Lähmung der oberen Gliedmasse. 1879, Nr. 52.
XXII. Ein Fall von Resection der Patella. 1879, Nr. 52. — Ueber den
Charakter und die Bedeutung der fungösen Gelenksentzündungen. Von
Prof. R. V o 1 k m a n n. Besprochen von Prof. E. Albe r t. 1880, Nr. 1. —
Zur Geschichte der Medicin. Ein österreichischer Elektrotherapeut aus dem
vorigen Jahrhundert. 1880, Nr. 12. — Beiträge zur operativen Chirurgie:
XXIII. Enterorhaphie zur Heilung von Kothfisteln. 1880, Nr. 14.
XXIV. Weitere Totalexstirpationen der Schilddrüse. 1880, Nr. 24
XXV. Weitere Neurektomien. 1880, Nr. 44 und 46. — Ligatur der Sub¬
clavia. 1881, Nr. 36, 37 und 51. — Zur Casuistik der Dünndarmresectionen.
1881, Nr. 17 und 19. — Einige Fälle von künstlicher Ankylosenbildung
an paralytischen Gliedmassen. 1882, Nr. 23. — Zur Casuistik der Kropf¬
exstirpationen. 1882, Nr. 3 und 6. — Zur Erinnerung an Josef Skoda.
1883, Nr. 24. — Die neueren Untersuchungen über den Plattfuss. 1884,
Nr. 1, 3, 5 und 49. — Ueber die Drehungen der Haud. Von Dr. J. Hei¬
berg. Besprochen von Prof. E. Albert. 1884, Nr. 19. — Ueber Lungen¬
chirurgie. 1884, Nr. 27 und 28. — Einige Operationen an Nerven. 1885,
Nr. 39 und 41: I. Neurektomien, II. Nerventransplantationen. — Ueber die
Heilbarkeit des Krebses durch operative Behandlung. 1885, Nr. 51. —
Ueber einige seltene Erkrankungen der Zunge. 1885, Nr. 1 — 6. — Eine
eigenthümliche Art von Totalskoliose. 1886, Nr. 1 und 3. — Chirurgische
Bemerkungen. 1887, Nr. 1 und 13: I. Ueber die Leistenhernie. II. Zur
Diagnose der angeborenen Luxation des Hüftgelenkes. — Die secundäre
infectiöse Osteomyelitis und Periostitis. 1887, Nr. 52. — Laparotomien
wegen Uterusmyomen. 1888, Nr. 13, 16 und 17. — Weitere Laparotomien
wegen Uterusmyomen. 1889, Nr. 2. — Naturwissenschaften und Geistes-
wissenschaften — zwei Welten. 1891, Nr. 25. — Weitere Laparotomien
wegen l terusmyomen nebst einer neuen Methode der Slumpfversorgung
1892, Nr. 41 und 42. — Zwei operative Vorschläge. 1892, Nr. 29: I. Eine
neue Modification der Stumpfversorgung bei Abtragung des myomatösen
1 terns. II. Bildung eines gegliederten Stumpfes bei Vorderarmamputation.
— Achillodynie. 1893, Nr. 2. — Die Blasennaht und die Sectio alta. 1894,
Ni. 1 und 2. — Zur Geschichte der Theorie der cerebralen Localisation.
1895, Nr. 40. — Die Architektur des menschlichen Fersenbeines
1900, Nr. 1.
Wiener medicinische Wochenschrift.
Zur Klinik der Krankheiten der Sehnenscheiden und Schleimbeutel.
1870, Nr. 52 — 54. — Fälle von Neurektomie. 1872, Nr. 4, 7, 12, 13, 14
und 20. — Verrenkung des Unterkiefers nach hinten (?). 1892, Nr. 22. —
Eine neue Methode der Jejunostomie. 1894, Nr. 2. — Ein bemerkens-
werther Fall von Gastroenteroanastomie. 1893, Nr. 1. — Einige Fälle von
palliativer Trepanation bei Hirntumoren. 1895, Nr. 1, 3 und 5. — Keil¬
wirbel und Schrägwirbel. 1896, Nr. 22. — Experimentelle Untersuchungen
über das Fieber. Bilaterales Mammacarcinom. 1899, Nr. 2. — Die Archi¬
tektur der Tibia. 1900, Nr. 4, 5, 6.
Therapie der Gegenwart.
Gegen die Castration bei Tuberculose des Hodens. 1900, Nr. 1.
Wiener medicinische Blätter.
Eine geschichtliche Bemerkung über die Operation der freien Hernie.
1878, Nr. 7, 8. — Klinik der Gelenkskrankheiten mit Einschluss der Ortho
pädie. Von C. H u e t e r. 2. Auflage. Besprochen von Prof. E. Albert.
1878, Nr. 14 — 19. — Ein Fall von Periostitis albuminosa (Ollier). 1878,
Nr. 38. — Ueber die Luxatio humeri supracoracoidea. 1879, Nr. 18 — 24.
— Zwei seltene Fälle von angeborenen Missbildungen an Gliedmassen.
1890, Nr. 13, 26. — Theorie und Praxis im Universitätsstudium. 1880,
Nr. 22, 23, 25, 27, 29. — Sectio alta. 1881, Nr. 31, 32. — Eine Be¬
merkung, betreffend das Fehlen der Hirnpulsation bei blossliegender Dura
mater. 1881, Nr. 15. — Ueber einige im Altertliume gepflegte Operationen
an den Blutgefässen. 1882, Nr. 1, 3, 4, 5. — Eine neue Anzeige zur
Castration. 1882, Nr. 27. — Zur Symptomatologie des Genu valgum. 1882,
Nr. 6, 7. — Ueber prälaerymale Oelkysten. 1882, Nr. 51. — Gegen die
Castration bei Hernien. 188'^, Nr. 3.
Internationale klinische Rundschau.
Arthrodese bei einer habituellen Luxation des Schultergelenkes.
1888, Nr. 9. — Spontane Ruptur von Bruchsäcken. 1892, Nr. 1. — Ein
Fall von paralytischer Luxation im Hüftgelenke. 1892, Nr. 20. — Zum
Capitel der Gelenksneurosen. 1893, Nr. 1. — Einige Versuche über Hirn¬
druck. Im Vereine mit J. Schnitzler. 1894, Nr. 1 — 3.
Wiener klinische Rundschau.
Einige Bemerkungen über die pulsirenden Knochensarkome. 1895,
Nr. 1. — Zur Anatomie der Skoliose. 1895, Nr. 33 — 35. — Weitere Bei¬
träge zur Anatomie der Skoliose. 1895, Nr. 48 und 51; 1896, Nr. 16. —
Die Architektur des menschlichen Talus. 1900, Nr. 10.
Wiener klinische Wochenschrift.
Zur Lehre von der Gehirnerschütterung. 1888, Nr. 39. — Zucker¬
kand 1, Atlas der topographischen Anatomie. Besprochen von Professor
E. Albert. 1900, Nr. 4.
Wiener Klinik.
Pathologie und Therapie der Coxitis. 1876, Nr. 8, 9. — Ueber
Gelenksresectionen bei Caries. 1883, Nr. 4.
Klinische Zeit- und Streitfragen.
Die Lehre vom Hirndruck. 1889, Nr. 3, pag. 73.
O es terr eic h i sehe Zeitschrift für praktische Heilkunde.
Einige Fälle von schwierigen Hasenschartenoperationen. 1872,
Nr. 40.
Wiener allgemeine medicinische Zeitung.
Ein Fall von angeborenem theilweisen Mangel der Tibia. 1881,
Nr. 27. — Zwei Fälle von myelogenem Sarkom des oberen Endes der
Tibia. 1882, Nr. 4. — Ueber Osteomyelitis. 1882, Nr. 22. — Beiträge zur
Lehre von der spontanen Ostitis (Osteomyelitis und Periostitis). 1883,
Nr. 31 — 34, 36 — 38, 40 — 42, 44, 45, 47, 50 — 52. — Diabetes mellitus und
Gangraena senilis. 1885, Nr. 1,2, 4, 5, 8, 9. — Die Therapie der Knochen-
und Gelenkstuberculose. 1886, Nr.. 1, 3, 5. — Ein eigenthiimlicher Fall
von Zerreissung des Bruchsackes bei der Taxis. 1888, Nr. 5. — Ueber die
Diagnose der Struma maligna. 1889, Nr. 6. — Die chronische Entzündung
der Hernien. 1894, Nr. 1. — Drei Fälle von Ecchinococcusoperationen.
1893, Nr. 1. — Jean Dominique Larrey. 1895, und Separatab¬
druck. — Ein Fall von hysterischer Skoliose. 1899, Nr. 4.
Abhandlungen der königlich böhmischen Akademie der
Wissenschaften.*)
Beiträge zur Amputationstechnik. 1892.
Ans der chirurgischen Section der 54. Versammlung deutscher
Naturforscher und A e r z t e in Salzburg 1881.
Chirurgische Mittheiluug betreffend Lungenchirurgie, Arthrodese,
Gastrostomie und Ovariotomie.
Sitzungsberichte der k. k. Akademie der Wissenschaften in
Wien.
Zur Histologie der Synovialhäute. Wien 1871, Bd. LXIV,
2. Abtheilnng.
In »Strieker’s Handbuch der Lehre von den Geweben«,
Nachtrag I.
Ueber die Structur der Synovialhäute.
C. Reden, Vorträge, Mittheilnngen etc.
Ueber neue Befunde an den Sehnenscheiden. Vortrag, gehalten in
der Sitzung vom 21. Mai 1869 der k. k. Gesellschaft der Aer/.te (Oesterreichi-
sche Zeitschrift für praktische Heilkunde. 1869, Nr. 28). — Zur Geschichte
der Chirurgie. Vortrag, gehalten in der Sitzung am 6. April 1877 der k. k.
Gesellschatt der Aerzte (Wiener medicinische Presse. 1877, Nr. 15). —
Rede, gehalten bei der Enthüllung der Gedenktafel am Geburtshause
Rokitansk y’s zu Königgrätz am 3. August 1879 (Separatabdruck und
*) Etwaige in böhmischer Sprache in diesen Abhandlungen aufge¬
nommene Beiträge siehe in den Publicationen der böhmischen Akademie
der Wissenschaften.
Nr. 40
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
901
Wiener medicinische Blätter. 1879). - Antrittsrede, gehalten beim Beginne
seiner klinischen Vorlesungen an der Universität Wien am 2. Mai 1881.
Wien 1881 — Chirurgische Mittheilungen aus der Sitzung vom 28. Oc¬
tober 1881 ' der k. k. Gesellschaft der Aerzte (Wiener medicinische Jahr¬
bücher 1881). — Ueber Darmwandbrüche. Mittheilung in der Sitzung vom
20 Februar 1882 der k. k. Gesellschaft der Aerzte (Wiener medicinische
Jahrbücher 1882). — Demonstration von Blutdruckcurven. Aus der Sitzung
vom 16 Februar 1883 der k. k. Gesellschaft der Aerzte (Wiener allgemeine
medicinische Zeitschrift. 1883, Nr. 8). - Demonstration und Vortrag über
Gelenksresectionen . Aus der Sitzung vom 12. December 1882 der k. k Ge¬
sellschaft, der Aerzte (Wiener allgemeine medicinische Zeitschrift. 1883,
Nr. 2) — Chirurgische Mittheilungen. Aus der Sitzung vom 9. Februar 1883
der k. k. Gesellschaft der Arzte (Wiener medicinische Jahrbücher. 1883).
_ Ueber die neueren Untersuchungen, betreffend die Mechanik der Schädel-
fracturen. Vortrag aus der wissenschaftlichen Versammlung des Wiener
medicinischen Doctoren-Collegiums (Wiener medicinische Presse. 1884,
Nr. 52). _ Ein Blick auf den heutigen Zustand der Chirurgie. Vortrag,
o-ehalten in der wissenschaftlichen Versammlung vom 26. October 1885 im
Wiener medicinischen Doctoren-Collegium (Wiener allgemeine medicinische
Zeitschrift. 1885, Nr. 44 und medicinisch-chirurgisches Centralblatt. . 1885,
Nr. 28 _ 31, 49). — Beiträge zur Nierenchirurgie. Vortrag, gehalten in der
Sitzung vom 13. Februar 1885 der k. k. Gesellschaft der Aerzte (Wiener
medicinische Presse. 1885, Nr. 9). — Die chirurgische Behandlung
scrophulöser und tuberculöser Leiden. Vortrag, gehalten in der wissen¬
schaftlichen Versammlung vom 8. April 1889 des Wiener medicinischen
Doctoren-Collegiums (Internationale klinische Rundschau. 1889, Nr. 15).
Festrede, gehalten am 30. Mai 1889 anlässlich der Enthüllung der fünf
Denksäulen : Van S w i e t e n’s, Quari n’s, Stiff t’s, Schn h’s und
Hyrtl’s im Arcadenhofe der k. k. Universität Wien (Wiener medicinische
Wochenschrift. 1889, Nr. 23 und Separatabdruck). — Ueber Skoliose.
Vortrag, gehalten in der Sitzung vom 7. Februar 1890 der k. k. Gesell¬
schaft der Aerzte (Wiener medicinische Presse. 1890, Nr. 6). Ueber die
Aufgaben der Medicin der Zukunft. Rede, gehalten anlässlich des 25jährigen
Doctorenjubiläums am 22. Januar 1892 (Internationale klinische Rundschau.
1892, Nr. 4). — Zur Krebsbehandlung des Prof. Adamkiewicz.
Vortrag, gehalten in der Sitzung vom 12. Februar 1892 in der Gesellschaft
der Aerzte (Wiener medicinische Presse. 1892, Nr. 7). Rede zur
Jubiläumsfeier Theodor Billroth’s am 11. October 1892 (Wienei
klinische Wochenschrift. 1892, Nr. 41). — Bericht über eine Quecksilber-
autointoxication mit Sublimat. Aus der Sitzung vom 2. December 1892 der
k. k. Gesellschaft der Aerzte (Wiener medicinische Presse. 1892, Nr. 49).
— Gedenkrede auf weiland Th. Billroth, gehalten am 16. Februar in
der Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte (Wiener klinische Wochen¬
schrift. 1894, Nr. 8). — Demonstration und Mittheilung eines Falles. Aus
der Sitzung vom 7. December 1894 der k. k. Gesellschaft der Aerzte
(Wiener medicinische Presse. 1894, Nr. 51). — Demonstration und Vortrag
(Ankylostoma) . Aus der Sitzung vom 25. Januar 1895 der k. k. Gesell¬
schaft der Aerzte (Wiener medicinische Presse. 1895, Nr 4). —
Gedenkrede anlässlich der Enthüllung der Portraitbüste weiland Professor
Billroth’s in der k. k. Gesellschaft der Aerzte am 6. Februar 1895
(Wiener klinische Wochenschrift. 1895, Nr. 7). — Ueber Skoliose. \ ortrag,
gehalten in dsr Sitzung vom 29. November 1895 der k. k. Gesellschaft der
Aerzte (Wiener medicinische Presse. 1895, Nr. 48). — Ueber Skoliose.
Vortrag, gehalten in der Sitzung vom 21. Februar 1896 der k. k. Gesell¬
schaft der Aerzte (Wiener medicinische Presse. 1896, Nr. 8). — Ueber
totale Magenexstirpation. Mittheilung in der Sitzung vom 22. April 1898
der k. k. Gesellschaft der Aerzte (Wiener medicinische Presse (1898, Nr. 18).
— Gedenkrede auf weiland Prof. L. R. v. D i 1 1 e 1, gehalten in der Sitzung
vom 14. October 1898 der k. k. Gesellschaft der Aerzte (Wiener klinische
Wochenschrift. 1898, Nr. 42). — Ueber die Architektur der Knochenspon¬
giosa. Vortrag, gehalten in der Sitzung vom 20. October 1899 in der
k. k. Gesellschaft der Aerzte (Wiener klinische Wochenschrift. 1899, Nr. 43). —
Bemerkungen zur neuen Rigorosenordnung. Vortrag, gehalten in der Sitzung
vom 19. Januar 1900 der k. k. Gesellschaft der Aerzte (Wiener klinische
Wochenschrift. 1900, Nr. 4). — Begrüssungsrede als Vertreter der öster¬
reichischen Regierung am internationalen medicinischen Congresse zu Paris
1900 (Wiener medicinische Presse. 1900, Nr. 32). — Die Architektur der
thierischen und menschlichen Knochen. Vortrag, gehalten am internationalen
medicinischen Congresse zu Paris 1900. Dr. Friedrich Müller.
Aus dem Kaiser Franz Josef-Ambulatorium in Wien.
Die Bewegungsphänomene in der Mund- und
Rachenhöhle bei InsufFicienz der Aortenklappen.
Von Docent Dr. Hermann Schlesinger.
Die Beobachtung- eines Falles von ausgesprochensten
pulsatorischen Phänomenen der Mund- und Rachen Schleimhaut
bei Insufficienz der Aortenklappen veranlasste mich, diese
Phänomene bei einer grösseren Zahl von Fällen zu studiren.
Die einschlägige Literatur ist, so weit ich sie übersehen
kann, recht klein und wenig gekannt, so dass ich auch in
mehreren neuen umfangreichen Werken über Affectionen der
Mund- und Rachenhöhle (auch in dem neuen Handbuche,
herausgegeben von Hei mann) vergeblich nach einnr Er¬
wähnung der Erscheinungen gesucht habe. Selbst ein so er¬
fahrener Kenner der Herzkrankheiten wie Rosenbach hat
die Phänomene einer gelegentlichen Bemerkung zufolge,
nicht beobachtet. Fr. Müller lenkte im Jahre 1889, wie es
scheint als Erster, in einer kleinen Mittheilung die Auf¬
merksamkeit auf eigenartige Bewegungserscheinungen am
Gaumen pulsatorischer Natur, welche von ihm zu wiederholten
Malen an Fällen von Aortenklappeninsufficienz gesehen
worden waren. Merklen, Hu chard, L "it ten, Andrd
Petit und Gerhardt (auf dessen Klinik Müller seine
Beobachtungen angestellt hatte) kamen in kleinen Mittheilungen
oder bei Gelegenheit von Krankendemonstrationen auf diese
interessante Erscheinung zurück und vermehrten die Casuistik
um eine Reihe von neuen Fällen.
Ich habe 40 Fälle von reiner oder mit anderen Affectionen
complicirter Insufficienz der Aortenklappen auf Pulsations¬
erscheinungen in der Mund- und Rachenhöhle untersucht,
jedoch konnte nur in einer erheblich geringeren Zahl ein
genauer Befund erhoben werden. Will man nämlich pulsatorische
Erscheinungen an den Gebilden der oben erwähnten Höhlen
untersuchen, so ist eine Reihe von äusseren Bedingungen
nothwendig, deren Erfüllung keineswegs stets im Bereiche der
Macht des Kranken oder Arztes gelegen ist. Der Kranke
muss bei geöffnetem Munde ruhig athmen; Würgbewegungen
machen eine genaue Beobachtung unmöglich. Da der Rachen¬
eingang und die hintere Rachenwand oft nur nach Nieder¬
drücken des Zungengrundes sichtbar gemacht werden können
und schon geringfügige Contractionen der Rachenmuskeln,
respective Gaumenmusculatur jede genauere Wahrnehmung
verhindern, viele Menschen dieselben absolut nicht oder nur
nach langer Uebung zu unterdrücken im Stande sind, so ist
es begreiflich, dass bei einem nicht unerheblichen Procentsatz
von Kranken nicht festgestellt werden kann, ob die Rachen¬
gebilde Locomotionen Vornahmen, die mit der Herzaction im
Zusammenhänge stehen oder nicht. Rechnet man noch hinzu,
dass ein Theil der Kranken an Compensationsstörungen mit
Dyspnoe litt, so wird man die später mitgetheilten Ziffern
nicht als vollkommen verlässlich, sondern nur als Minimal-
werthe zu betrachten haben.
Gleich den anderen Beobachtern habe ich rhythmische
Erschütterungen der Mund- und Rachengebilde nur in Fällen
schwerer Insufficienz der Aortenklappen gesehen, in welchen
auch an den Arterien anderer Körperabschnitte die Pulsationen
ungemein deutlich zu sehen waren (»forme pidsatile«
Hu chard’s). Jedoch pulsiren keineswegs alle Gebilde der
Mund- und Rachenhöhle gleich stark und gleich häufig, und
dürften die Bewegungen nicht auch stets auf dieselbe Weise
entstehen. Man kann bei der in Rede stehenden Herzaffection
zwei Gruppen von Bewegungserscheinungen unterscheiden, die
allerdings Uebergänge und Combinationen untereinander auf¬
weisen. Die Bewegungen sind mitgetheilt oder sie entstehen
durch Volumszunahme der Weichtheile.
Die mitgetheilten Bewegungen beobachtet man recht oft
an den Tonsillen, den seitliche^ Abschnitten der Gaumenbögen,
dem Zungengrunde. Die Excursionen dieser Gebilde gegen den
Racheneingang zu sind dann oft recht erhebliche, namentlich
die Einwärtsbewegung der Tonsillen und der seitlichen
Rachenwand in Folge des mächtigen Anschlages der Garotis;
dennoch erfolgt keine bedeutende Volumsveränderung der
Weichtheile. Diese Pulsationen hat Hu chard als »Pouls
amygdale« beschrieben.
Neben dieser grossschlägigen Pulsation, welche man
recht oft sehen kann, gibt es, in selteneren Fällen deutlich
wahrnehmbar, ein rhythmisches An- und Abschwellen dei
Weichtheile. Die Zunge wird dicker (man kann dies bisweilen
am Zungenrande deutlich wahrnehmen) synchron mit dem
Anschlägen der Carotis gegen den Finger und schwillt in dei
Diastole ab. Die Gaumen bögen werden in der Systole plumper
und treten mehr hervor, die Uvula wird voluminöser und
nähert sich mehr dem Zungengrunde, welcher zu gleicher
Zeit gehoben wird. Auch die hintere Rachenwand erfühlt eine
Dislocation und tritt nach vorne zu vor, und sinkt in dei
Diastole zurück. Eine Aenderung der Farbe wurde von
Müller beobachtet — Zunahme der Röthung im Zeit-
902
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 40
momente der Systole — in meinen Fällen war eine Aenderung
der Farbennuanee nicht wahrnehmbar.
Zweifellos ist diese Pulsation, wie auch Müller,
Merk len, Petit glauben, in eine Parallele zu bringen mit
dem Capillarpulse an anderen Körperstellen, jedoch dürfte der
mächtigeren Ausweitung der kleinen und kleinsten Arterien
ein recht wesentlicher Antheil an dem Zustandekommen dieser
Bewegungsvorgänge gebühren. Denn , ich habe zu wiederholten
Malen bei recht ausgebildetem und räumlich ausgedehntem
Capillarpulse vergeblich nach dem Phänomen gefahndet.
Bisher hat man fast nur auf die Bewegungen des Gaumen¬
segels, der Gaumenbögen, der Uvula geachtet; nun sind auch
analoge Dislocationen an der ganzen Zunge, an der hinteren
Rachenwand festgestellt. Die Gingiva, die Schleimhaut des
harten Gaumens betheiligten sich in meinen Fällen nicht an
den Bewegungen, es rückten also nur jene Schleimhaut¬
abschnitte in die Mund- und Rachenhöhle vor, welche
nicht durch straffes Gewebe an eine starre Unterlage befestigt
sind. Die Bewegung der Schleimhautoberfläche ist in ausgebil¬
deten Fällen eine recht erhebliche und schien bisweilen die
Differenz zwischen der Lage in der Systole und der Diastole
1 — iy2 mm zu betragen. Ist das Phänomen voll ausgebildet,
so erfolgt also eine rhythmische Verengerung der
Mund- und Rachen höhle; bei unvollkommener Ent¬
wicklung entsteht bisweilen nur eine rhythmische Stenosirung
des Racheneinganges.1) Die rhythmische Verkleinerung der
Mund- und Rachenhöhle ist gar nicht unerheblich und kann
bisweilen durch die Bewegungen eines vor den Mund ge¬
haltenen Blattes Papier oder einer bei geschlossenem Munde
und angehaltenem Athem vor die Nase gehaltenen Feder
schön demonstrirt werden.
Was die Häufigkeit der einzelnen pulsatorischen Er¬
scheinungen anbelangt, so dürfte wohl die rhythmische Hebung
des Zungengrundes an erster Stelle zu nennen sein. Sie konnte
in zehn Fällen deutlich constatirt werden. Dann folgt die Vor¬
wölbung der seitlichen Rachenwand und die Pulsation der
Tonsillen, dann das rhythmische Anschwellen der Gaumenbögen
und Uvula.
Das seltenste Phänomen ist die gleichmässige Verengerung
der Rachen- und der Mundhöhle (letztere durch Anschwellen
der Zunge). Ich habe es deutlich ausgebildet nur in vier Fällen
gesehen, also auf zehn Fälle von Insufficienz der Aortenklappen
je einmal.
Die Uvula macht recht häufig auch eine Bewegung
synchron mit der Herzaction im Sinne von rückwärts nach
vorne. Interessant war in einem Falle meiner Beobachtung
das Auftreten halbseitiger pulsatorischer Phäno¬
mene in der Mundhöhle. In Folge atheromatöser Veränderung
der Gefässe war eine Carotis, die linke, schlechter gefüllt als
die rechte. Bei dem Kranken bestand eine rhythmische Ver¬
engerung der Rachen höhle, aber nur auf der rechten Seite,
während die linke ganz ruhig war. Die Uvula machte in
diesem Falle rythmische Bewegungen von rechts nach links
und nicht wie sonst von vorne nach hinten, und zwar stand
das Zäpfchen im Momente der Systole mehr nach links, in
der Diastole mehr nach rechts. Es ist dies wohl ein weiterer
Beweis' für die selbstständige und nicht mitgetheilte Pulsation
des Gaumensegels. Die geschwellte rechte Gaumenhälfte drängt
eben die Uvula nach der anderen Seite hin; collabirt das
Velum, so kann die Uvula nach der anderen Seite zurück¬
kehren.
Bisweilen ist von allen Bewegungsphänomenen in der
Mundhöhle nur die rhythmische Bewegung der Uvula deutlich
vorhanden. Es darf dann diese Pulsation nicht mit dem
klonischen Krampfe der Gaumensegelmuscu-
latur verwechselt werden, der. als isolirte spastische Er¬
scheinung auftreten kann und auch zu wiederholten Malen
mit oder ohne Lähmungen des Velums beobachtet wurde (u. A.
von Oppenheim, Gerhardt, Seifert, Peyser, mir
und vielen Anderen). In beiden Fällen können eigenthümliche
') Zur Zeit meiner Krankendemonstration (im Wiener medicinischen
Club, 14. März 1900) war mir die Mittheilung Mülle r’s unbekannt, in
welcher er ebenfalls von einer »Verengerung des Gaumenthores« spricht.
Gehörseindrücke die Uvulabewegung begleiten. Während aber
bei der Aortenklappeninsufficienz der Kranke öfters nur das
Klopfen der Arterie fühlt oder hört, hört der Patient mit
klonischem Gaumensegelkrampf ein knackendes Geräusch
synchron mit der Contraction des Velums, also nur ausnahms¬
weise synchron mit der Ilerzaction. Bei dem klonischen
Krampfe des Velums kommen sehr zahlreiche Contraetionen
des Gaumensegels mit Hebung desselben und Rückwärts¬
bewegung der Uvula zu Stande, während bei der rhythmischen
Pulsation im Gegentheile eine Senkung des Velums synchron
mit einer Vorwärtsbewegung der Uvula statt hat.
Eine sehr wesentliche diagnostisch Bedeutung kommt
nach allem Früheren den Bewegungsphänomenen im Cavum
bucco - pharyngeale bei der Insufficienz der Aortenklappen
nicht zu, wohl aber ist die lvenntniss derselben von einigem
klinischen Interesse, welches die Veröffentlichung meiner Be¬
obachtungen rechtfertigen dürfte.
Literatur.
Fr. Müller, Pulsation des Gaumens bei Aorteninsufficienz. Charite
Annalen. 1889, pag. 251.
Litten, Referat in Virchow-Hirsch’s Jahresbericht. 1890, pag. 177,
Anmerkung.
H. H u c h a r d, Pouls amygdalo-carotidien dans l’insufficance aortique.
Soe. med. des Impit. de Paris. 2. Mai 1890.
Andre Petit, Lesions de l’orifice aortique. Traite de Medecine
(Charcot-Bouc h ard), T. V.
Merklen, Le pouls du voil du palais et de la luette dans l’in-
sufficance aortique. Gaz. hebdom. 15. März 1890.
Von der Abtheilung 1B (interne Krankheiten) des
St. Lazar-Landesspitales in Krakau.
Zur Behandlung der Lungentuberculose mit
intravenösen Hetolinjectionen nach Länderer.
Von Primarius Dr. Anton Krokiewicz.
»Bis heute besitzen wir kein specifisches Heilmittel
gegen Lungentuberculose.« Mit diesen Worten äussertc
sich Kober t auf dem im Jahre 1899 nach Berlin einbe-
rufenen Congress zur Bekämpfung der fürchterliche n
Krankheit dieses Jahrhundertes (Bericht über den Congress
zur Bekämpfung der Tuberculose als Volkskrankbeit.
Berlin 1899, pag. 365 u. s. w.) und diese Worte entsprachen
der allgemeinen Meinung der Anwesenden. Petruschky
(Die specifische Behandlung der Tuberculose. Berliner klinische
Wochenschrift. 1899, Nr. 51) empfiehlt zwar neuerdings sehr
warm das Tuberculin als specifisches Heilmittel bei sehr
frühen tuberculösen Veränderungen, doch braucht das noch
weiterer Bekräftigung. Von den pharmakologischen Präparaten
empfiehlt Kobert auf Grund eigener Erfahrung und klini¬
scher Beobachtung von mehr als 50 000 Fällen, welche ihm
von über 200 hervorragenden Aerzten zugewiesen wurden,
bei Tuberculose der Lunge, des Verdauungstractes und der
Drüsen, neben der modificirten Behandlungsweise nach
Brehmer die Anwendung unschädlicher Kreosotpräparate, als
Kreosotal und Duotal (Leyden, Cornet), wobei er erwähnt,
dass deren günstige Wirkung nicht auf eine tuberkelgift¬
zerstörende Eigenschaft zurückzuführen ist, sondern auf eine
Steigerung des Appetites, Besserung der Verdauung, Kräfte¬
hebung beim Kranken, wie auch auf die Entwicklungshemmung
der sogenannten Miscbinfection.
In den letzten Jahren führte Länderer in die Reihe
der Schwindsuchtsheilmittel die Zimmtsäure und ihre Salze
ein. Sie wurden zwar schon seit 18 Jahren bei Tuberculose
benützt, doch versuchte erst Länderer der Anwendung der¬
selben eine grössere Ausbreitung zu geben, indem er eine
diesbezügliche, auf intravenösen oder intranmseulösen Injectionen
der erwähnten Heilmittel fussende Technik schuf. Bei dieser
Heilmethode soll er in 158 an Tuberculose (bis 1. März 1899)
behandelten Fällen 88, das ist 55'7%, Genesungen und 35,
das ist 22 1%5 Besserungen, respective im Ganzen 77 8%
günstige Erfolge und nur 22‘2% ungünstige erzielt haben.
(Anweisung zur Behandlung der Tuberculose mit Zimmtsäure.
Nr. 40
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
909
Von Dr. A. Länderer. Leipzig 1899.) Nach Länderer
ist die günstige Wirkung der Zimmtsäure und ihrer Salze in
der Bildung allgemeiner Leuköcytose, wie auch in der asepti¬
schen Entzündung um den Tuberkelherd begründet. In Folge
der aseptischen Entzündung kommt es anfangs zur Ein¬
dämmung und Infiltrirung der tuberculösen Herde mit weissen
Blutkörperchen; darauf wird mit der immer stärkeren Ent¬
wicklung des jungen Granulationsgewebes und der neugebildeten
Blutgefässe der käsige Tuberkelherd resorbirt, und es bleibt
an dieser Stelle ein Narbengewebe zurück. Die histologischen
Veränderungen, welche die Zimmtsäure in dem tuberculösen
Gewebe hervorbringt, sind im Allgemeinen dieselben, wie bei
selbstständiger Heilung der tuberculösen Herde, nur lebhafter
und energischer.
Die Zimmtsäure wirkt nicht immunisirend; höchst wahr¬
scheinlich tritt ihre Wirkung als die eines Alexins oder Anti¬
körpers derart auf, dass das Toxin der Tuberkelbacillen mit
den Zimmtsäuresalzen ungiftige Verbindungen eingeht. Die
Tuberkelbacillen sind in den ersten Monaten wenig an¬
gegriffen und färben sich schwieriger; später sollen sie ab¬
sterben.
Im Jahre 1897 veröffentlichte Heusser (Therapeutische
Monatshefte. Nr. 9) die Resultate der Zimmtsäurebehandlung
in 22 Fällen von Lungenschwindsucht; hievon soll er in
6 Fällen Heilung und in 12 Fällen eine Besserung erzielt
haben; vom Rest erfolgte in einem Falle der Tod und 3
wurden resultatlos behandelt. Von den G geheilten Fällen ge¬
hörten 3 der leichteren Form an (Verdichtung ohne Zerfall
mit mässigem Fieber), 3 wieder der schwereren (Cavernen
mit massigem Fieber). Von den 12 Kranken, die eine Besserung
erfahren haben, gehörten 3 zur ersten und 9 zur zweiten
Gruppe. Bei 7 von diesen Patienten ist die Besserung stabil;
2 starben nach i/2 — 1 Jahre; von 3 fehlt eine spätere
Nachricht.
In Davos sich aufhaltende Kranke erfuhren hei der
Zimmtsäurebehandlung viel früher eine Besserung, und es
traten bei ihnen auch seltener Recidiven ein.
Heusser injicirte die Zimmtsäure nur in die Muskeln
der Oberschenkel. Er benützte eine 5%ige Emulsion, begann
mit einer Dosis von 040// und steigerte dieselbe jeden zweiten
Tag um 040</; die Maximalgabe betiug 1*0/7- Nach Rück¬
tritt der Krankheitssymptome empfiehlt Heusser diese Be¬
handlung noch durch einen Monat fortzusetzen, und hat die
Behandlungsdauer fünf bis sechs Monate zu betragen.
Nach der Injection verspürten die Kranken an der
Einstichstelle manchmal ein Brennen. Kopfschwindel konnte
nur einmal beobachtet werden; hingegen fühlten die Kranken
häufig subjectiv eine Art allgemeiner Ermattung und selten
hatten sie Con^estionen.
In Uebereinstimmung mit Länderer behauptet
Heusser, dass wir 1. in der Zimmtsäure ein energisch auf
die tuberculösen Gewebe wirkendes Mittel besitzen; 2. die
lnjectionen von Zimmtsäure in die Oberschenkel bei Beob¬
achtung . gewisser Vorsichtsmassregeln unschädlich sind; 3. die
Zimmtsäureeinspritzungen in vielen Fällen die Schwindsucht
zu heilen im Stande sind; 4. die Zimmtsäure kein specifisclies
Mittel gegen Tuberculose ist.
Die Ansichten Ländere r’s bekräftigen auch russische
Aerzte, wie Go rtscharenko, L o w s k i, Jurjew
(Sammelreferat. Wiener medicinische Blatter. 1900, Nr. 2, 3, 4).
Die beiden Ersten bemerkten bei der Behandlung von Schwind¬
süchtigen mit Zimmtsäure eine Zunahme des Körpergewichtes,
Aufhören des Schwitzen?, Besserung des allgemeinen Be¬
findens und Heilung der Anfangsstadien der Tuberculose; der
Letzte erweist wieder in experimentellem Wege eine günstige
W irkung auf den Schwindsuchtsprocess bei Thieren, obwohl
er die Sache etwas anders erklärt als Länderer.
Günstige Heilerfolge mit Zimmtsäure und Arsenpräparaten
bei Lungenschwindsucht gibt Hoff von der Poliklinik des
Prof. Stofella in Wien an in der Abhandlung; »Die Arsen-
Zimmtsäure-Therapie der Lungentuberculose« (Aerztlicher
Central-Anzeiger. 1899, Nr. 33). Hoff verabreichte den
Schwindsüchtigen innerlich Arsen mit Zimmtsäure nach folgen¬
der Vorschrift:
Rp. Acidi arsenicosi 04,
Kali carbon, dep. 0'2,
Acid, cynamylic. 0 3,
Aquae destill. 5'0.
Coque usque ad perfectam solutioncm (:i/4 b), dein adde:
Cognac 25,
Extr. laudan. aqu. 0 5.
Quod in aqua destill. 2'5 sol , dein filtratum sit.
S. Nach dem Mittag- und Abendmahl von 6 — 22 Tropfen all-
mälig steigend einzunehmen.
Hoff behauptet auf Grund klinischer Beobachtung von
über 100 Krankheitsfällen, dass er mehrmals bei normaler
Beschaffenheit der Nieren günstige Heilerfolge an Schwind¬
süchtigen erzielt habe.
Ohne iu eine nähere kritische Analyse der angeführten
Bereitungsvorschrift des Arsen und Zimmtsäure enthaltenden
Heilmittels einzugehen, müssen wir den Zweifel äussern, ob
das von Hoff empfohlene Mittel, bei der schweren Löslichkeit
der arsenigen Säure in Wasser (dieselbe löst sich nach längerer
Zeit bis zu l°/0 und das Kaliarsenit in derselben Verdünnung
etwas rascher) und leichter Verflüchtigung beim Erhitzen, auch
thatsächlich die vorgeschriebene Menge Arsen enthält.
Einen geringeren Heilwerth misst der Zimmtsäure in der
Lungentuberculose Fritz Frankel in Heidelberg bei (Die
Behandlung der Tuberculose mit Zimmtsäure. Deutsches Archiv
für klinische Medicin. 1900, Bd. LXV, Heft 5 und 6), Des¬
gleichen Ewald in Charlottenburg (Berliner klinische Wochen¬
schrift. 1900, Nr. 21).
Von dem Grundsätze ausgehend, dass es Pflicht des
Klinikers, dem ein grösseres Material im Spitale zur Ver¬
fügung steht, sei, jedes, wenn auch nicht specifische Heilmittel
zu versuchen, welches auf den Verlauf der Lungentuberculose
günstig wirkt, unternahm ich auf meiner Abtheilung Ex¬
perimente mit Hetol, und das umsomehr, als ich hiezu durch
die von Länderer und Heusser angegebenen günstigen
Ei folge angeeifert wurde. Bei meinen Versuchen beniizte ich
das Hetol von Kalle & Comp, in Biebrich am Rhein und
wandte ausschliesslich intravenöse Hetolinjectionen an, bei
strenger Beobachtung der antiseptischen Regeln. Nach genauer
Waschung des Armes und des Ellbogengelenkes mit l%oioer
Sublimatlösung, dann mit 96%igem Alkohol und Aether, ferner
nach Anlegung einer elastischen Binde, welche einen Druck
am Oberarme ausübte, was das Auflaufen der Venen behufs
eines deutlichen Hervortretens derselben bezweckte, spritzte
ich mit P r a v a z’scher Spritze Hetollösung in die Venen. Zur
völligen Sterilisirung wurde die Injectionsspritze vor jeder
Operation ll/4 — ll/2 Stunden in 0'6%iger physiologischer Koch¬
salzlösungausgekocht und nach jedesmaliger Benützung mit der¬
selben Lösung ausgespült. In gleicher Absicht wurde die in physio¬
logischer Kochsalzlösung zubereitete Hetollösung vor ihrer
Verwendung fünf Minuten lang gekocht. Die lnjectionen
machte ich jeden zweiten oder vierten Tag, präcis nach
Lander er’s Anweisung mit einer Dose von 0 0005// be¬
ginnend, und vergrösserte dieselbe ein jedes Mal, je nachdem
es die Umstände gestatteten, um 0 0005//. Bei einer Temperatur¬
steigerung bis zu 38'2° C. oder bei Eintritt von Blutspucken,
wie auch anderen Störungen, unterbrach ich sofort die Injec-
tionen. Zugleich muss ich bemerken, dass in jedem zur Hetol-
behandlung bestimmten Falle die Körperwärme des Kranken
während seines ganzen Aufenthaltes im Spitale dreimal täglich,
das ist Früh, Mittags und Abends gegen 6 Uhr, genau ge¬
messen wurde. Auf diese Art unterzog ich 43 mit Lungen¬
tuberculose behaftete Kranke der Hetolbebandlung, wovon
ich in 25 Fällen die Therapie ausschliesslich auf die intra¬
venösen lnjectionen von Hetollösung beschränkte und in
18 Fällen überdies arsenige Säure subcutan injicirte. Im All¬
gemeinen vollführte ich bei einem Gesammtverbrauch von
4 136 g Hetol 924 lnjectionen und bemerkte danach niemals
irgendwelche Complicationen; ja die Kranken haben vielmehr
diesen Eingriff sehr gut und ohne jede locale Reaction
ertragen.
904
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 40
Das Resultat der Versuche stellt sich, wie folgt, dar:
I. Heilung konnte ich in einem Falle beob¬
achten.
1. Wasserberger St., 33 Jahre alt. Seit sechs Wochen krank;
Husten, Diarrhöe; Schweiss; seit vier Tagen Blutspucken. Am
12. September auf die Abtheilung aufgenommen.
Status praesens: Temperatur 378° C., an beiden Spitzen,
besonders an der linken Dämpfung; dorlselbst unbestimmtes Athem-
geräusch, dem der Bronchien genähert; zahlreiche Rasselgeräusche.
Im Harne eine Spur Eiweiss. Untersuchung auf Bacterien nach
Czaplewski’s Scala: Cz. 0 == ; Sputum in karger Menge,
schleimig-eiterig.
Während zehntägiger klinischer Beobachtung kann constatirt
werden: Starke Schweissabsonderung, Schüttelfrost, Sputum in
karger Menge zeitweise mit einer Beimischung von frischem Blute;
subfebriler Zustand. Mit den Hetolinjectionen wurde am 22. Sep¬
tember begonnen; das Körpergewicht hat 50 hg 500# betragen.
Beendigt wurden wieder die Injectionen am 6. November, und das
Körpergewicht hat. 5G hg 500# betragen. Die Injectionsperiode
dauerte 4G Tage; es wurden 23 Injectionen ausgeführt und dabei
im Ganzen 135 mg = 0135# Iletol verbraucht; die grösste Gabe
war 0 01#.
Nach der zweiten Injection hörten Schweisssecretion und
Schüttelfrost auf, ebenso wie auch der subfebrile Zustand. Der
Husten ist geringer, der Stuhl verstopft. Der Zustand des Patienten
wird mit jedem Tage besser, nur einmal trat während der ganzen
klinischen Beobachtungsperiode gegen Abend nach einer vor¬
mittäglichen Injection von 0 005 Iletol Schweiss auf; später war
keiner mehr zu constatiren. Der Appetit ist andauernd gut; der
Husten gering; kein Auswurf.
31. November wurde der Kranke aus der Anstalt entlassen.
Bei der Untersuchung konnte nur in der rechten Lungenspitze ein
etwas gedämpfter Schall ohne Rasseln und dort ein schärferes
Alhemgeräusch nachgewiesen werden; sonst keine Krankheits-
veränderungen in den Lungen. Albuminurie hörte auf. Der Kranke
fühlt sich bedeutend stärker; er verdaut ausgezeichnet. Im Ver¬
laufe von 4G Tagen nahm das Körpergewicht des Kranken während
der Zeit der intravenösen Hetolinjection um genau 0>kg zu.
Drei Monate darauf untersuchte ich den Kranken im Spitale;
sein Zustand war unverändert; im geringen Sputum sind keine
Tuberkelbacillen, trotzdem er während dieser Zeit als öffentlicher
Dienstmann beschäftigt war und heiratete.
II. Die Fälle, in welchen bei der Behandlung
durch intravenöse Injectionen von Hetol eine
bedeutende Besserung erfolgte, waren, w i e n ach-
stehend:
2. Piatek M., 27 Jahre alt. Seit einigen Monaten krank; seit
einem Monat Verschlimmerung, Husten, Seitenstechen, Fieber,
Schweiss. Am 15. September auf die Abtheilung aufgenommen.
Status praesens: Körperwärme 37;8° C. An der linken
Lungenspitze Dämpfung, die Athmungen unbestimmt, von Pfeifen,
Sausen und Rasseln verdeckt. Sonst sind dieAthemzüge verschärft,
hie und da durch Pfeifen verdeckt. Die Milz gross, hart. Bacteriolo-
gischc Untersuchung: Cz.-"-; Sputum reichlich, eiterig. Während
einer siebentägigen klinischen Beobachtungszeit war häufig Husten,
Schweiss und Schüttelfrost, der nach Chinin aufhörte, nachweisbar.
Am 22. September wurde mit den Injectionen begonnen;
Gewicht des Körpers 51 hg 20 dkg.
Am 10. November wurden die Einspritzungen eingestellt;
das Körpergewicht 55 hg 20 dkg\ Die Injectionsperiode währte
54 Tage, bei 27 Einspritzungen mit einem Gesammtverbrauch von
184 mg = 0484# Hetol. Die maximale Dosis war 001#.
Zur Zeit der ersten Injectionen stellte sich kurz nach den¬
selben eine Temperatur von 374° — 37-8° C. nebst Schweiss ein;
später traten diese Symptome zurück, und nur zeitweise erreichte
die Abendtemperatur 38° — 38-2° C., deren Ursache jedoch eher
im Wechselfieber, das nach Chinin zurückging, als in der Heil¬
wirkung zu suchen wäre. Nach der IG. Injection bis zum Ende
absolut kein Fieber, vorzüglicher Appetit, Verdauung sehr gut,
Husten gering, Auswurf karg.
') Der Zähler bezeichnet die Zahl der Bacillen, der Nenner jene der
Gesichtsfelder.
11. November. Der Kranke fühlt sich bedeutend besser; gar
kein Schüttelfrost und Schweiss. Husten sehr gering; Sputum gering,
frei von Tuberkelbacillen. An beiden Spitzen ist kaum eine
Dämpfung, verschärftes Athemgeräusch zu constatiren; in der
linken Lungenspitze kaum auf der Höhe der Einathmung spärliches
Knistern. Der Kranke nahm an Gewicht in 54 Tagen gerade
4 hg zu.
Am 23. Januar 1900 erschien er wegen Husten und Fieber,
das sich jedoch erst vor einigen Tagen gezeigt haben soll, neuer¬
lich auf der Abtheilung. Damals wog er 52 hg 70 dlcg. Die Unter¬
suchung erwies ausgebreitetes Pfeifen und Sausen neben Dämpfung
in beiden Spitzen und besonders in der linken, nebst Rassel¬
geräusch dortselbst. Im Auswurf spärliche Bacillen. Patient verblieb
38 Tage in Spitalspflege, und es wurden ihm 19 intravenöse Hetol¬
injectionen applicirt, bei einem Verbrauch von 57w?# = 0'057#
Hetol mit einer Maximalgabe von 0 0045. Auch da vertrug der
Kranke die Injectionen sehr gut und verliess am 3. März das
Spital in demselben Zustande, wie am 11. November 1899, mit
einer Körpergewichtszunahme von 5 hg 30 dkg.
3. Sredniawa Andreas, 19 Jahre alt. Seit sechs Wochen
krank; Schweiss, Schüttelfrost, Husten, Schwäche. Aufgenommen
am 21. September.
Status praesens: Rechte Lunge: vorn Dämpfung bis
zur zweiten Rippe, rückwärts zum Kamm des Schulterblattes; aus
der Tiefe klingendes Rasseln, das Athemgeräusch jenem der Bron¬
chien genähert. Linke Lunge: vorn Dämpfung bis zur dritten Rippe,
rückwärts bis zum halben Schulterblatt; Bronchialgeräusch, klin¬
gendes Rasseln. Schweiss reichlich, Temperatur 38'3° C.; bacterio-
logischer Befund: Cz. = — p. Während der ersten sieben Tage
der gleiche Zustand, nur das Fieber etwas geringer.
Beginn der Hetolinjectionen am 28. September; Körpergewicht
4 6 hg 48 dkg. Ende derselben am 10. November. Es wurden
22 Einspritzungen mit 132 5 mg = 01325# Hetol applicirt. Die
Höchstgabe war 0'01. Nach der sechsten Injection hörte der
Husten fast auf; der Zustand stabil fieberfrei; Schüttelfrost und
Schweiss hörten auf; die Verdauung normal, der Appetit vor¬
züglich. Der Kranke fühlt sich besser. Dieser Zustand hält während
der ganzen Behandlungszeit an.
11. November. Status praesens: Patient fühlt sich be¬
deutend besser, er ist kräftiger. Der Husten unbedeutend, Auswurf
karg, eiterig. Die rechte Lunge vorn bis zur zweiten Rippe, rück¬
wärts bis zum Schulterblattkamm Dämpfung; kein Rasseln; das
Athemgeräusch jenem der Bronchien genähert. Die linke Lunge:
vorn Dämpfung bis an die zweite Rippe, Ein- und Ausathmung un¬
bestimmt, mit kargem Rasseln bedeckt; rückwärts bis zum halben
Schulterblatt Percussionsschall gedämpft, Ein- und Ausathmung ver¬
schärft mit kargem Gerassel. Das Körpergewicht ist um 4 hg 12 dkg
gestiegen.
4. Wolfram Anton, 59 Jahre alt. Seit drei Monaten Husten,
Schwäche, Schweiss, Heiserkeit und Diarrhöe. Am 22. September
auf die Abtheilung aufgenommen.
Status präsens: An den Lungenspitzen, besonders an der
linken Percussionsschall ein wenig gedämpft: das Athemgeräusch
unbestimmt; auf der ganzen Lungenfläche Pfeifen, Sausen, Körper¬
wärme 377 — 37’8° C.; Diarrhöe. Die Untersuchung mit dem Kehl¬
kopfspiegel, welche auf der laryngologischen Abtheilung vorgenommen
wurde, erwies: Erosiones laryngis. Bacteriologische Untersuchung:
Gz. =4-.
Während einer sechstägigen klinischen Beobachtungsperiode
hielt derselbe Zustand an.
Am 28. September wurde mit dem Hetolinjectionen begonnen
und am 26. November aufgehört ; das Körpergewicht betrug 47 hg
beim Beginn und 50 7c# 50 dkg nach Beendigung der Einspritzungen.
Die Injectionsperiode währte G2 Tage bei 31 Einspritzungen und
2 14 5 mg = 0 2 145 # Gesammthetolverbrauch ; die Maximaldosis
betrug 0 01 #.
Patient hat die Injectionen vorzüglich vertragen; Fieber war
niemals vorhanden. Temperatur 36’8 — 37° C. ; nach der vierten In¬
jection hörten Schweiss, Schüttelfrost und Diarrhöe auf; der Appetit
sehr gut, Husten schwächer. Die Heiserkeit behoben am 30. Oc¬
tober. Das einzige negative Symptom bestand in Kopfschmerzen.
An Körpergewicht nahm Patient um 3 hg 50 dkg zu.
Nr. 40
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
905
Der günstige Zustand blieb beim Kranken auch nach dem
Aufhören der Hetolinjectionen bestehen.
Am 5. December verliess er das Spital, und die klinische
Untersuchung ergab: Der Kräftezustand des Kranken gut; an der
rechten Lungenspitze selbst Verdichtung ohne Rasseln ; an der linken
Spitze kaum spärliches Rasseln auf der Höhe der Einathmung. Heiser¬
keit nicht vorhanden. Am 14. December kehrte der Kranke wegen
Beschäftigungsmangel ins Spital zurück und verweilte hier bis zum
7. Januar 1900. Während dieser Zeit konnte ebenfalls weder Fieber,
noch Schweiss oder Schüttelfrost, sondern nur ein mässiger Husten
constatirt werden. Der Lungenzustand erfuhr keine Veränderung.
Am 20. März wurde der Patient zum dritten Male in die Anstalt
aufgenommen, und damals konnte in der linken Lungenspitze
eine Dämpfung bis zum Schulterblattkamm nachgewiesen werden mit
ziemlich zahlreichem Sausen und Rasseln, wie auch ein subfebriler
Zustand und Schweiss.
5. Mitka Josef, '50 Jahre alt, ist seit sechs Monaten
krank; Husten, Schweiss, Schüttelfrost, allgemeine Schwäche. Wurde
am 23. September 1899 in das Spital aufgenommen.
Status praesens: Die rechte Lungenspitze weist vorn
bis zur zweiten Rippe und zum Schulterblattkamm rückwärts eine
Dämpfung auf; daselbst bronchiale Ein- und Ausathmung, Rasseln.
Die linke Lungenspitze ein wenig gedämpft; dortselbst selten Pfeifen
und Sausen. Mässige Schweissabsonderung, Schüttelfrost ; subfebriler
Zustand. Untersuchung auf Bacillen: Cz. = -y-,
Beginn der Hetolinjectionen am 28. September. Körpergewicht
53 % 50 dkg. Ende der Injectionen am 2. November; Körpergewicht
55 % 50 dkg. Die Injectionszeit dauerte 36 Tage; es wurden 19 Ein¬
spritzungen gemacht und im Ganzen 92'5w/7 = 00925 g Hetol
benützt; die Höchstgabe betrug 00095 g. Die Gewichtszunahme
machte gerade 2 % aus.
Mit der vierten Injection traten Schweiss und Schüttelfrost
zurück; der Husten wurde geringer, der Auswurf karger. Verdauung
gut, die Einspritzungen wurden vom Kranken sehr gut vertragen.
Nach 19 Injectionen ist der Zustand bedeutend besser. Schmerz in
der Brust. Am 3. November verlässt der Kranke aus Familienrück¬
sichten plötzlich die Anstalt.
6. Wyroba Theop^hila, 62 Jahre alt, am 23. Mai 1899
in das Spital aufgenommen. Sie hielt sich daselbst vom 23. Mai bis
22. September 1899 auf. Während der ganzen Zeit zehrendes Fieber,
395 — 40° C. mit reichlicher Schweissabsonderung und allgemeinem
Herabkommen; reichliches, eiteriges Sputum, vollständiger Appetit¬
mangel; die Schwäche ist derart, dass die Kranke nicht einen Schritt
allein machen kann. Der Puls fadenförmig; alle Heilmittel wirkungslos.
Status praesens: 22. September. Verdichtung an der
rechten Spitze, Pfeifen, Sausen; an der linken Spitze Dämpfung vorn
bis zur dritten Rippe und bis zum Kamm des Schulterblattes rück¬
wärts; hier die Ein- und Ausathmung unbestimmt; spärliches Rasseln.
Untersuchung auf Bacillen: Cz. =
Am 10. September wurde mit den' Injectionen begonnen; das
Körpergewicht machte 35 % 15 dkg, und am 10. November wurden
dieselben eingestellt, das Gewicht betrug 36% 15 dkg. Nach der
14. Injection wog die Kranke 36% 15 dkg. Die Tnjectionsperiode
dauerte 50 Tage, mit 26 Einspritzungen und einem Verbrauche von
153 mg — 0453(7 Hetol; grösste Gabe 0 015(7-
Nach der siebenten Einspritzung fällt das Fieber von 39° auf
37° C.; der Schweiss und Schüttelfrost treten zurück. Der Appetit
vorzüglich (vorher vollständiger Mangel desselben); die Kräfte besser.
Nach der 19. Injection ist der Zustand der Kranken zufriedenstellend;
in der rechten Lungenspitze das Athemgeräusch verschärft, ohne
Rasseln; Sputum karg. Nach vier Tagen steigt jedoch die Temperatur
Abends auf 38° C., Früh tritt spärlicher Schweiss ohne Schüttel¬
frost ein; unbedeutender Husten und spärlicher Auswurf.
Die Kranke verliess am 11. November 1899 mit Besserung
das Spital bei folgendem Zustande der Lungen: Percussionsschall in
der rechten Spitze kürzer; daselbst aus der Tiefe hörbares Sausen,
Ein- und Ausathmung unbestimmt. In der linken Spitze vorne
Dämpfung bis an die zweite Rippe und hinten an den Schulterblatt-
kamm ohne Rasseln. Die Kranke, welche vorher aus eigener Kraft
nicht umherschreiten konnte, geht jetzt frei herum.
III. In nachstehenden Fällen trat bei gleich¬
zeitigen intravenösen Injectionen und sub-
cutanen Einspritzungen von arseniger Säure
eine bedeutende Besserung ein:
7. Zaluszczak Johann, 42 Jahre alt. Seit sechs Wochen
Fieber, Schweiss, Husten, Schwäche. Aufgenommen am 15. October.
Status praesens: Dämpfung an der rechten Lunge vorne
bis zur dritten Rippe und rückwärts zum halben Schulterblatt:
reichliches, klingendes Rasseln. An der linken Lunge beschränkt sich
die Dämpfung nur auf die Spitze und dort Rasseln, reichlich, klang-
los. Temperatur 38' 1° C. Untersuchung auf Bacillen: Cz. = — — .
Während einer fünftägigen klinischen Beobachtung wurden
Fieber bis zu 38'2° C., reichlicher Schweiss, Schüttelfrost, starker
Husten und ausgiebiger Auswurf constatirt. Am 31. October wurde
mit den Hetol- und Arseninjectionen begonnen; das Körpergewicht
betrug 63% 20 dkg, nach drei Wochen 64% 20 dkg. Die Hetol¬
injectionen wurden am 20. December beendigt; Körpergewicht
65% 70 dkg. Die Injectionsperiode erstreckte sich auf 52 Tage; es
wurden 26 Einspritzungen gemacht und im Ganzen 1545 mg =
04545 g Hetol benützt; die Höchstgabe war 001. Nach drei Wochen
wurde abwechselnd Hetol und arsenige Säure injicirt, dessen Ge-
sammtmenge 29 mg ausmachte. Die Maximaldosis der arsenigen Säure
hat 0 002 g betragen.
Der Kranke hat die Injectionen sehr gut vertragen. Nach der
dritten Injection traten Schweiss und Schüttelfrost zurück; Husten
mässiger, Sputum ziemlich reichlich, Appetit gut. Dieser Zustand
hielt in der Zeit der ferneren klinischen Beobachtung an und nur
einmal konnte, kurz nach der intravenösen Hetolinjection, Schweiss
constatirt werden. Als Nebenerscheinung spürte der Kranke Brust¬
schmerz.
27. December. Patient stets fieberfrei; Kräftezustand sehr gut.
In der rechten Lungenspitze verschärfte Ein- und Ausathmung,
spärlich Rasseln; in der linken Spitze kürzerer Percussionsschall.
Durch Auscultation kann nur kaum hie und da ein Sausen nach¬
gewiesen werden. Patient sieht sehr gut aus. Gewichtszunahme
2 % 50 dkg.
8. Nowak Adalbert, 36 Jahre alt. Seit drei Jahren Husten,
Fieber; seit drei Monaten erhebliche Verschlimmerung, Schweiss,
Blutspucken. Kam am 25. October 1899 im Spitale an.
Status praesens: An der linken und rechten Lungenspitze
Dämpfung; über beiden Lungen ausgebreitetes Pfeifen, Sausen,
tonloses Rasseln. Rückwärts, unten, linkerseits in der Ausdehnung
einer Säuglingshandfläche gedämpfter Percussionsschall; dort bron¬
chiale Ein- und Ausathmung mit häufigem Rasseln. Temperatur
37-4° C.
Während einer siebentägigen klinischen Beobachtungszeit:
Schweiss, subfebriler Zustand, heftiger Husten, spärlicher Auswurf.
Bacteriologische Untersuchung: Cz. = - .
31. October. Beginn der Hetolinjectionen; Gewicht des Körpers
41%. Ende der Injectionen 18. December. Gewicht 43%; nach
drei Wochen, d. i. am 20. November, betrug dasselbe 42 % 50 dkg.
Die Injectionszeit dauerte 49 Tage mit 24 Einspritzungen und
155'5 mg = 04555(7 Hetolverbrauch; grösste Gabe 001.
Nach der dritten Injection hörten Schüttelfrost und Schweiss
auf, Husten ziemlich häufig, Temperatur 37'2 — 37-5° C. Nach der
sechsten Injection Husten seltener, Temperatur 37° C.
In den letzten drei Wochen wurden abwechselnd intravenöse
Hetol- und subcutane Arseninjectionen angewendet; es wurden 29 mg
arsenige Säure in 10 Sitzungen applicirt, jedoch ohne merkliche
Besserung, denn wenn bei ausschliesslichen Hetoleinspritzungen der
Kranke in drei Wochen um 1 % an Gewicht zunahm, so erhöhte
sich dasselbe in den nachfolgenden drei Wochen, wo abwechselnd
Hetol und Arsen injicirt wurden, kaum um */2 %• Der Kranke ver¬
liess das Spital mit deutlich wahrnehmbarer Besserung. Die In¬
jectionen vertrug er im Allgemeinen sehr gut, nur klagte er über
Brustschmerz nach der Heloleinspritzung. Beim Verlassen des Spitals
konnte bei der Untersuchung Dämpfung über beiden Lungenspitzen
neben spärlichem Sausen festgestellt werden.
9. Nowakowski J 0 h a n n, 54 Jahre alt. Seif zwei Monaten
krank; Husten, Beklemmung, Schweiss. Am 23. October ins Spital
aufgenommen.
Status praesens: Verdichtung beider Lungenspitzen, be¬
sonders der rechten. Malarischer Milztumor, Diarrhöe, Malariakachexie.
Temperatur 37'9° G. Bacteriologische Untersuchung: Gz. = x •
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 40
906
Während einer siebentägigen Boobacbtungspcriode subfebriler Zu¬
stand, Schweiss, Diarrhöe trotz Verabreichung von grösseren Gaben
Chinin, Opium und Wismuth. Die Temperatur erreicht zuweilen
38 6° C.
Mit den lletolinjeclionen wurde am 30. October 1899 be¬
gonnen. Körpergewicht 51 kg 20 dkg-, am 29. Jänner 1900 wurden
dieselben beendigt; Gewicht 56 kg. Injeetionsperiode 91 Tage mit
29 lletoleinspritzungen und 136 5 mg — 0 1365 Gesammtverbrauch
an Helol-Maximaldosis (H)08. Arseninjectionen wurden 27 vollführt
und im Ganzen 52 ?rc<7 = 0 052 <7 arsenige Säure benützt; die Höchst¬
gabe betrug 0'00'lg.
Während der abwechselnden Hetol- und arsenige Säure-Injec-
tionen besserte sich der Zustand des Kranken. Die Körperwärme
erreichte höchstens 37‘8° C. am Abend. Patient sah immer besser
aus, er war kräftiger; Schweiss und Schüttelfrost sehr unbedeutend;
die Diarrhöe hörte auf. Gegen Ende konnte Verdichtung der rechten
Lunge ohne Rasseln constatirt werden. Blutarmuth von geringerer
Intensität. Der Kranke sing mit bedeutender Kräftebesserung nach
Hause; an Gewicht nahm er um 4: kg SO dkg (also fast 5 kg) zu und
ist hier zu verzeichnen, dass das Körpergewicht in 30 Tagen nach
Beginn der Injectionen um 4 kg 20 dkg grösser wurde. Nach 2 72 Mo¬
naten kehrte der Kranke mit , einem Fieber von 39° C. in die An¬
stalt zurück und es konnte bei der Untersuchung Infiltration in der
rechten Lungenspitze mit klingendem Rasseln, vorne bis an die
zweite Rippe und rückwärts an den Schulterblattkamm reichend,
wie allgemeines Herabkommen constatirt werden.
10. Eisenberg H., 19 Jahre alt, seit zwei Jahren krank,
Husten, Schüttelfrost, Schweiss, Appetitmangel, rasche Abmagerung.
In die Anstalt aufgenommen am 10. October.
Status praesens: Ueber der rechten Lunge vorn an die
vierte Rippe, rückwärts an dem Kamm des Schulterblattes Dämpfung,
hier Athemgeräusche und Rasseln klingend ; Schweiss, Stechen in
der rechten Seite, starker Husten. Temperatur 37 '2°. Die Kranke
bekommt: Kresalbin, Duotal ohne Wirkung. Untersuchung auf
Bacillen: Gz. = -30 .
Die Hetolinjectionen wurden am 29. October begonnen; Ge¬
wicht des Körpers 48 £<7; am 24. November wurden dieselben
beendet; Gewicht 49 kg 3 dkg. Darauf wurde nur Arsenik eingespritzt
und zwar bis zum 7. December. Körpergewicht 49 kg 70 dkg. Die
Injeetionsperiode des Iletols erstreckte sich auf 28 Tage mit
18 Injectionen und 67‘5 mg = 0‘0675 Hetolverbrauch bei (4005 g
Maximalgabe. Die Einspritzungsperiode des Arsens umfasste hierauf
zehn Tage mit neun Injectionen, 13 mg Arsenverbrauch. Die höchste
Einzelgabe war 2 ‘5 mg.
Die Kranke fühlte sich nach der vierten Hetolinjection besser;
nach der achten traten Schweiss und Schüttelfrost vollständig
zurück; fieberfreier Zustand, guter Appetit, klagt über Brust¬
schmerzen. Gegen Ende der Behandlung unbedeutender Schweiss
und Schüttelfrost.
Das Allgemeinbefinden der Kranken besser, sie sieht besser aus,
hustet wenig und spuckt selten, das Rasseln hörte in der rechten
Lunge fast völlig auf und es konnten dort nur Verdichtungs¬
symptome constatirt werden. Das Gewicht der Kranken nahm um
1 kg 80 dkg zu.
1 1 . Ehrenkranz Marie, 23 Jahre alt. Seit sechs Monaten
Husten, Schweiss, Fieber, Schüttelfrost; seit zwei Tagen Blut¬
spucken. Kam am 4. November in das Spital. Blutspucken und
Schweiss bis zum 19. November; dann fieberfreier Zustand.
1. December. Status praesens: Ueber der rechten Lunge
vorn Dämpfung bis an die zweite Rippe, rückwärts bis an den
Schulterblattkamm; dort Ein- und Ausathmung der bronchialen
genähert; spärlich Rasseln. An der linken Lungenspitze vorn bis an
die dritte Rippe Dämpfung; das Athemgeräusch verschärft, spär¬
liches Sausen. Bacteriologische Untersuchung: Gz. = ~ .
Am 1. December wurde mit den Hetolinjectionen begonnen;
Körpergewicht 56 kg 50 dkg; am 30. December wurden sie beendet;
Gewicht OI/1Y7. Die Injeetionsperiode währte 30 Tage mit 14 Ein¬
spritzungen und Gesammtverbrauch von 49 mg = 0‘049 g Hetol;
die Maximaldosis war 04)05 <7. Arseninjectionen wurden acht aus¬
geführt und 14 mg arsenige Säure verbraucht: die Höchstgabe
machte 2'5 inq ans.
Patientin hat die Injectionen sehr gut vertragen; Schweiss
und Schüttelfrost kamen nicht zum Vorschein; die Temperatur
stieg nur zeitweise nach der Injection bis zu 37"9° G. Der Appetit
ist sehr gut; die Kranke fühlt sich beim Ende der Behandlung
bedeutend kräftiger; ihr Gewicht nahm um 4 kg 50 dkg zu. Durch
die Untersuchung kann nur eine Verdichtung der rechten Lungen¬
spitze ohne Rasseln nachgewiesen werden.
Die weiteren Fälle, bei denen Hetol intra¬
venös injicirt wurde und unbedeutende ß e s s e-
r u n g oder a u c h Verschlimmerung und der Tod
eintrat, stellen sich in Kürze wie unten¬
stehend dar:
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S3
12
Musiatek Frz.
57 Jahre alt
46
22
69
0-005
4
Cz. = — Gewichtszu¬
nahme 80 dkg-, fieberfreier
Zustand nach der fünften
Injection; Schweiss 0; Appe-
lit vorzüglich; Besserung.
13
Flaczynski Joti.
19 Jahre alt
32
! 16
43
0-004
Cz. = d — Gewichtszu¬
nahme 1%; nach der 6.
Inject. Besserung; Schweiss
geringer.
14
Kamiriska Marie
42
19
485
0-003
7
Cz. = - — Gewichtszu-
23 Jahre alt
1
nähme 50 dkg] nach der 6.
Injection trat Heiserkeit
zurück, nach der 16. In¬
jection der Schweiss; Bes-
serung.
15
Lezniak Agnes
42
21
134-5
0-01
Cz. = y - Gewicht das¬
selbe; hinsichtlich der Kräfte
allgemeine Besserung.
38 Jahre alt
16
Pzpczek Agnes
44
22
134-5
0 01
Cz. — ; Gewichtszunahme
28 Jahre alt
50 dkg- allgemeine Besserung,
nahm auch zweimal zu 0"5 g
•
Kresalbin ein.
17
Kumala Stephanie
42
21
134-5
001
n 12—25 ^ . .
1 - Ciewichtszu-
45 Jahre alt
1
nähme 1"50 kg] Besserung,
18
Steiner Bertha
42
21
109
0 01
n 2—3
Cz. = Gewicht.sab-
23 Jahre alt
l
nähme 3 50 hg ; Verschlim-
merung.
19
Duda Michael
18
9
27
0005
Cz. = — — 3 - Alkoholis-
35 Jahre alt
1
mus; f.
20
Tabor Thomas
24
12
31
0-0035
Cz. = — Gewichtsab-
38 Jahre alt
1
nähme T80ä^; Verschlim¬
merung; f zwei Wochen
nach Beendigung der In-
jectionen.
21
Malinowski Karl
46
23
101
0008
15
Cz. = - - kam mit Zehr-
53 Jahre alt
I
lieber in das Spital; f.
22
Scibor Josefine
18
9
18
0 0025
Cz. = -f — vertrug die
30 Jahre alt
Injectionen schlecht; f 20
Tage nach Beendigung
derselben.
23
Brzezinska Justine
63 Jahre alt
10
-
O I
9
0-0025
Cz. = - - hat die Inject
schlecht vertragen ; -j- sechs
Wochen nach deren Been-
digung.
2t
Duda Johanna
24
9
15*5
0 0025
1 OO
Cz. = -- , hat die Inject.
19 Jahre alt
l ’ J
schlecht vertragen; Ge¬
wichtsverlust 110 hg in 24
Tagen; f vier Wochen
nach Beendigung der Ein-
Spritzungen.
Nr. 40
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nummer
Name und
Vorname
Zeitperiode, Tage
Zahl der Injectionen
Gesammte Hetol-
menge in
Milligramm
Maximalgabe
Bemerk u n g
25
Chodacka Anna
34 Jalire alt
22
11
225
0-003
3
Cz. = - - hat die In¬
jectionen schlecht vertragen ;
-j- vier Wochen nach deren
Beendigung.
26
Grzegorczyk
Anton
32 Jalire alt
52
26
162 5
001
Cz. = ^ - Gewichtsver¬
lust 2%; Verschlimmerung
trotz Darreichung von Ich¬
thyol, wie Kresalbin und
Xeroform; -f 32 Tage nach
Beendigung der Injetiunen.
27
Doj la Johann
38 Jahre alt
14
8
19 5
0-0035
Cz. = ^ - Gewichtsver¬
lust 3 10 hg in einer Woche;
bedeutende Verschlechte¬
rung; f drei Wochen
nach Beendigung der In¬
jectionen.
00
OJ
Ziomek Anna
20 Jahre alt
•
42
21
124-5
001
Cz. = - Gewichtszu¬
nahme 4 hg nach 13 Injec-
tionen; anfangs bedeutende
Besserung; später Lungm-
blutung und f.
: 29
Kulezyk Franz
63 Jahre alt
40
20
101-5
0 0085
4 _ 2
Cz. = - - Verschlim¬
merung auch bei Xeroform¬
verabreichung; Diarrhöe; f.
In nachfolgender Zusammenstellung sind
wieder die Resultate der intravenösen Hetol-
und subcutanen Injectionen von arseniger
S äu r e e r s i ch 1 1 i c h gemacht (siehe Tabelle pag. 908).
Aus dieser Zusammenstellung geht hervor, dass auf
43 Fälle von Lungenschwindsucht (in einem Falle Nr. 36 trat
als Complication tuberculöse Entzündung der Wirbel ein) nur
einmal Heilung (2 3%) nachgewiesen werden konnte; elfmal
bedeutende Besserung (25 6%); neunmal geringe Besserung
(23-2%) und 21mal bedeutende Verschlimmerung und Tod
(48*8%). In den Fällen mit tödtlichem Ausgange wurden auch
andere Heilmittel, wie Duotal, Kreosot, Kresalbin (Creosotum
albuminatum), Ichthyol, ohne jeden Erfolg eingegeben; sie
betrafen Fälle mit weit vorgeschrittenem Krankheitsprocesse.
Die intravenösen Hetolinjectionen wurden überhaupt nur dann
angewendet, wenn im Sputum Tuberbacillen nach Ziehl-
N e e 1 s e n’scher Methode nachgewiesen werden konnten.
Bei Betrachtung der Behandlung der Lungentuberculose
einzig und allein mit intravenösen Hetolinjectionen und der
Therapie der Lungentuberculose, bestehend in den intravenösen
Hetol- und subcutanen Injectionen von arseniger Säure,
müssen wir unbedingt der ersteren die Ueberlegenheit ein¬
räumen ; wir erhielten doch bei den alleinigen intravenösen
Hetolinjectionen in 30'2°/o der Fälle günstige Resultate, da¬
gegen in jenen, wo neben Hetol abwechselnd arsenige Säure
eingespritzt wurde, kaum 16-5%. Es muss überhaupt hervor¬
gehoben werden, dass der Schwind suchtsprocess unter dem
Einflüsse der Arseneinspritzungen neben den intravenösen
Hetolinjectionen einen ungewöhnlich raschen, mit dem Tode
endigenden Verlauf aufwies. Dieser Umstand spricht für die
Ansichten Leyden’s, welcher entgegen anderen Klinikern
vor Verabreichung von Arsenpräparaten bei der Lungentuber¬
culose mit Fieber warnt.
Die kürzeste Injectionsperiode umfasste 10 Tage, die
längste 132 Tage; im Allgemeinen dauerte dieselbe:
In 2 Fällen von 10 bis 15 Tagen, in 3 Fällen von 15
bis 20 Tagen, in 3 Fällen von 20 bis 25 Tagen, in 2 Fällen
von 25 bis 30 Tagen, in 1 Falle von 30 bis 35 Tagen, in
4 Fällen von 35 bis 40 Tagen, in 7 Fällen von 40 bis
45 Tagen, in 7 Fällen von 45 bis 50 Tagen, in 4 Fällen
von 50 bis 55 Tagen, in 2 Fällen von 55 bis 60 Tagen, in
2 Fällen von 60 bis 65 Tagen, in 2 Fällen von 65 bis
70 Tagen, in 2 Fällen von 70 bis 75 Tagen, in 1 Falle
92 Tage, in 1 Falle 132 Tage.
Die Zahl der ausgeführten Injectionen hat betragen:
In 6 Fällen von 5 bis 10, in 4 Fällen von 10 bis 15,
in 8 Fällen von 15 bis 20, in 14 Fällen von 20 bis 25, in
6 Fällen von 25 bis 30, in 3 Fällen von 30 bis 35, in 2 Fällen
von 45 bis 46.
Die Maximaldosis war durchschnittlich 0 ' 0 1 <y ; einmal
erreichte sie bei einer 63jährigen Frau 0"015$; die kleinste
Gabe 0'0005 g. In 20 Fällen, d. i. 46'7%> haben die Kranken
die Hetolinjectionen mit grösserem oder geringerem Vortheil
vertragen; in 23 Fällen hinwider, d. i. 53'4 % haben sie die¬
selben hinsichtlich des Krankheitsprocesses (und nicht die In¬
jection selbst) sehr schlecht vertragen. Im Allgemeinen konnten
in Bezug auf die Gaben sowohl bei Männern, wie auch bei
Frauen bedeutende individuelle Unterschiede beobachtet werden,
so dass unsere Erfahrung der Anwendung von kleinen Gaben
(mit 00005(7 beginnen und bis zu 0 005$ steigen) in drei-
bis viertägigen Intervallen, ja sogar noch seltener, das Wort
spricht. Die günstige Wirkung äussert sich schon in den ersten
zwei Wochen, und das hauptsächliche Symptom ist die Zu¬
nahme des Körpergewichtes des Kranken.
Der günstige Einfluss der Einwirkung der intravenösen
Hetolinjectionen auf die Hemmung des Schwindsuchtsprocesses
macht sich neben der Körpergewichtszunahme auch durch
den erhöhten Appetit bemerkbar, wie auch durch allgemeine
Frische und grössere Lebensenergie, durch den Rücktritt von
Schweiss und Schüttelfrost, die Verringerung, respective durch
das Aufhören des Rasseins in den Lungen und durch das Auf¬
hören der Diarrhöe. Wie bedeutend sich das Körpergewicht
des Kranken zu erhöhen vermag, lehren folgende Fälle, wo
das Gewicht zunahm:
Tagen
Injectionen
hg
Im Falle Nr. 1
im
Verlaufe
von
26
16
um
6-00
» » »2
54
27
»
400
und bei dem zweiten Eintritt
in
das Spital
im
Verlaufe -
von
38
19
»
530
im Falle Nr. 3
»
44
22
»
4-50
» » »9
»
»
91
29 .
4 80
dabei
»
30
14
»
4-20
im Falle Nr. 11
»
»
»
30
14
»
4 50
» » 4
»
»
»
62
31
»
3-50
» » » 5
»
»
36
19
»
200
» » » 28
»
»
»
26
13
»
4 00
» » » 7
»
»
»
52
26
»
2-50
Die Gewichtszunahme muss auf die Wirkung des Hetols und
nicht auf die des Arsens zurückgeführt werden. Dafür zeugt
der Fall Nr. 8, wo bei den Hetolinjectionen das Gewicht des
Kranken in 49 Tagen (nach 24 Einspritzungen) um 1 kg 50 dkg
stieg und bei den folgenden ausschliesslich nur Einspritzungen
von arseniger Säure (der einzige Fall zur Controle) in 21 Tagen
um kaum % kg.
Aehnlich hörte auch bei günstiger Wirkung des Hetols
der Schweiss auf, wie dafür die klinische B jobachtung im Fall
Nr. 1 (nach 2 Injectionen), Nr. 7 und Nr. 8 (nach 3 In¬
jectionen) Nr. 5 (nach 4 Injectionen) u. s. w. spricht. Ge¬
wöhnlich trat der Schweiss in der vorwiegenden Anzahl von
Fällen erst nach zahlreicheren Einspritzungen zurück. Liner
besonderen Erwähnung ist der Fall Nr. 19 werth, in welchem
nach 19 Injectionen der Schweiss vollkommen verschwand»
obwohl er vorher tagtäglich durch zwei Jahre aufgetreten ist
und der Wirkung aller gewöhnlichen Mittel Widerstand ge
leistet hat.
Abwesenheit von Tuberkelbacillen im Sputum konnte
nach den intravenösen Hetolinjectionen in Fall Nr. 1 und Nr. 2
constatirt werden; in den anderen Fällen fanden sie sich im
Auswurf in verschiedener Anzahl vor. Diesem Umstande ist
jedoch nach unserem Dafürhalten in der Prognose kein
grösseres Gewicht beizumessen, denn die klinische Erfahrung
leh% dass häufig die Zahl der Tuberkelbacillen im Sputum
908
Nr. 40
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nummer
Name
und
Vorname
Zeitperiode der Hetol¬
injectionen, Tage
Zahl der Hetol¬
injectionen
Menge des ver¬
brauchten Hetols
in Milligramm
CD
<D
CD
% 2
’s«
E ~
JO
s
Zahl der Arsen¬
injectionen
CD
<D
£ E
s c
a> tn Ä
B ® A
p r in
CD
<D
o
Maximalgabe des
Arsens
30
Gorecki J.
58
29
93
0 008
10
26
0*0025
Cz. =
31
Salik Joseiine
32 Jahre alt
39
17.
58*5
0*005
14
31
0 002
Cz. -
32
Kozub Constantia
22 Jahre alt
62
22
133*5
001
18
38
0*003
Cz. =
33
Sliwinska Stefanie
38 Jahre alt
132
35
1 36*5
0*01
4
7
0*002
Cz. =
34
Metal Franz
28 Jahre alt
52
25
715
0 0ü(
10
22
0*003
Cz. =
35
Klys Franz
23 Jahre alt
52
26
67
0 007
10
29
0*002
Cz. 4=
36
Budzon Franz
53 Jahre alt
76
29
169
0*01
17
52
0003
Cz =
37
Petro Cajetan
36 Jahre alt
46
23
77 5
0*005
5
8*5
0*002
Cz. =
38
Ciastoh Valentin
22 Jahre alt
70
46
198*5
0*01
5
10
0*002
Cz. =
39
Konarska Kathar.
32 Jahre alt
19
10
26
0004
9
.15
0*0025
CZ. :
40
Czajowski Stefan
25 Jahre alt
29
14
39
0*0045
11
19
0*002
Cz. —
41
Oslak Johann
18 Jahre alt
46
18
51
0*0045
15
25
0C02
Cz. =
42
Ornat Katharina
25 Jahre alt
36
19
72
0*006
9
15
00025
Cz. =
43
Wazydr^g Anton.
14 Jahre alt
49
24
98
0*005
10
15
0002
Cz. =
B
m e
k u n g
' — Gewichtszunahme 70 dkg] Besserung
co
3
00
2
Gewichtszunahme 1%; Besserung.
— in der Injectionezeit des Hetols nahm das Gewicht um G kg, und
hierauf nahm es bei den Arseninjectionen ab; im Allgemeinen wog sie
um 2*50% mehr beim Verlassen des Spitales, als von Anfang;
Besserung.
A — nach der achten Hetolinjection trat Blutspucken ein; nach der
20. Einspritzung allgemeine hochgradige Aufregung, Reizbarkeit und
Brennengefühl; man begann mit den Arseninjectionen; nach der vierten
Blutspucken, schliesslich Verschlimmerung.
n _ Q
Gewichtsverlust 4*60%; Verschlimmerung.
__ Gewichtsverlust 1*20 hg in einer Woche; es wurde Duotal und
Kreosot verabreicht.
“ — nach der achten Einspritzung 1*80 kg Gewichtszunahme; Besse¬
rung, dann Verschlechterung und j. Complieirt mit Spondylitis dorsalis;
es wurde Duotal eingegeben. •
— Ge vichtsabgang 2*50 leg-, Verschlechterung.
X
• nach 50 Tagen Besserung und Gewichtszunahme um 1*50%; dar¬
nach wurden die Iujectionen einen Monat ausgesetzt ; bei Wiederholung
derselben Verschlimmerung und f.
— - Gewichtsverlust 1*40 kg-, vier Wochen darauf nach Beendigung
der Injectionen *f*.
— — - Gewichtsverlust 4 kg-, Verschlimmerung und f.
| — Gewichtsverlust 1*35 kg- hielt sich 72 Tage im Spitale auf;
neben den Injectionen nahm er Duotal, Ichthyol und Kreosot ein; Ver¬
schlimmerung und f.
= — A — Gewichtsverlust 7*40%; f.
“ — anfangs hat sie die Injectionen gut vertragen; Gewichtszunahme
2*50%; später, 0*005, fing sie au unter Fieber, 40n C. (nach der 16. In¬
jection), rasch abzufallen; f 120 Tage nach Sistirung der Ein¬
spritzungen.
im verkehrten Verhältnisse zu den physikalischen und Au-
scultationsergebnissen in den Lungen, somit auch zur Intensität
des Krankheitsprocesses steht.
Von Nebenerscheinungen wären das Brennen im ganzen
Körper und hie und da auch Brustschmerz nach den intra¬
venösen Hetoleinspritzungen zu verzeichnen; im letzteren
Falle hat Einpinselung des Brustkorbes mit Jodtinctur eine
gute Wirkung ausgeübt.
Die allgemeine Reizung des Nervensystems, welche fast
an jedem mit Hetolinjectionen behandelten Kranken beobachtet
werden kann, spricht gegen die Anwendung der Einspritzungen
bei Frauen vor der Menstruation; es trat nämlich damals in
zwei Fällen, d. i. Nr. 28 und 83, eine Lungenblutung ein, die
im Falle Nr. 28 sogar den ganz unverhofften letalen Ausgang
veranlasste.
In Uebereinstimmung mit Länderer und Anderen
kann als Folge der Anwendung intravenöser Hetolinjectionen
locale und allgemeine Leukocytose höheren Grades bestätigt
werden, welche abhängig von der Gabe bald grössere, bald
kleinere Ansbreitung erlangt. Da jedoch die auf den Orga¬
nismus schädlich wirkende Gabe von der Individualität ab¬
hängig ist, so ist demnach auch der Grad der Leukocytose
auf letztere zurückzuführen. Aus diesem Grunde trat auch
häufig nach relativ kleinen Dosen, bei 88° C. nicht über¬
schreitendem Fieber und wo die Kranken diese Therapie aus¬
gezeichnet vertragen haben, plötzlich und unverhofft Ver¬
schlimmerung ein, die sieh durch nichts aufhalten liess. ln
allen diesen Fällen konnten bei der Leichenobduction in den
inneren Organen disseminirte tuberculöse Herde beobachtet
werden, welche auf eine Erweichung der käsigen Tuberkel¬
herde in den Lungen und Verallgemeinerung des Schwind-
suchtsprocesses durch die Blutgefässe hinwies. Als classisches
Beispiel einer solchen Erweichung der tuberculösen Herde stellt
sich Fall Nr. 28 vor, dessen Krankheitsgeschichte und den
Sectionsbefund ich mir in Kürze anzuführen gestatte;
Ziomek Anna, 20 Jahre alt. Am 10. September 1899 auf
der Abtheilung aufgenommen. Seit vier Monaten Husten, Schüttel¬
frost, Schweiss; vor zwei Monaten Blutspucken. Die Mutter starb
an Schwindsucht.
Status praesens: Die linke Lungenspitze vorn bis zur
zweiten Rippe angegriffen; rückwärts bis zum Kamm des Schulter¬
blattes; daselbst bronchiale Ein- und Ausathmung; Rasseln. In der
linken Achselhöhle in der Ausdehnung einer Kindeshandfläche
Dämpfung; Ein und Ausathmung unbestimmt, fast bronchial,
klingendes Rasseln. In der rechten Lungenspitze Dämpfung,
Athmungsgeräusch unbestimmt, spärliches Rasseln. Während einer
zwölftägigen klinischen Beobachtungszeit der Zustand unverändert;
in den letzten Tagen gesellte sich nur Stechen in der linken Seite
hinzu; sonst Diarrhöe, heftiger Husten, allgemeine Schwäche; sub¬
febriler Zustand gegen Abend (38° C.). Bacteriologische Unter-
suchung: Cz. =
Die Hetolinjectionen -wurden am 22. September begonnen;
Gewicht des Körpers 4GL/51 dkg. Ende derselben am 2. November;
Nr. 40
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
909
nach der 13. Injection machte das Körpergewicht 50 hg 50 dkg aus.
Die Injectionsperiode umfasste 42 Tage mit 21 Einspritzungen und
124-5 mg — 04245 g Hetol verbrauch. Die Maximalgabe war 001.
Anfangs hatte die Kranke die Injectionen sehr gut ver¬
tragen; Schüttelfrost und Schweiss waren nicht vorhanden; zeit¬
weise subfebriler Zustand bis zu 38° G. Nach der vierten Injection
Husten schwächer, Kräftezustand besser, Appetit ausgezeichnet. Bis
zum 29. October (19 Injectionen) fühlt sich die Kranke sehr gut.
Die Untersuchung ergibt damals unbestimmte In- und Expiration
in der rechten Spitze, in der linken bronchiales Athemgeräusch
mit spärlichem Rasseln verdeckt; dasselbe in der linken Achsel¬
höhle in der Ausdehnung einer Säuglingshandfläche. Die Kranke
sieht vortrefflich aus; Gewichtszunahme 4Jcg; Sputum spärlich. Es
wurde 001 g Hetol eingespritzt, und von da ab wurde dieses mit
derselben Gabe jeden zweiten Tag wiederholt.
Am 2. November. Symptome von Angina follicularis; nach
der Injection Fieber, Früh 37’3°, Abends 38’2° C..
Am 3. November Früh Temperatur 38-6°, Abends 36° C.; in
der Nacht Schüttelfrost (nach 'der dritten Einspritzung von 0'01),
Lungenblutung Menses.
Wegen der Blutung wurden die Injectionen eingestellt,
zehrendes Fieber mit täglichen Schwankungen zwischen 36-7° bis
39-3° C.; im Rachen werden die Geschwüre auf den Mandeln
reiner; Sputum reichlich, münzenartig.
8. November. Die Kranke klagt über Stechen in der linken
Seite; sie ist unruhig. Morgentemperatur 39'3° C., Abends 37'G° C.;
Zahl der Athmungen 40; Patientin ist sehr unruhig, singt; in der
Nacht Lungenblutung und inmitten dieser — Tod.
Sectio nsbefund: Caverna tuberculosa parva apicis sin.
pulmonis. Tuberculosis nodosa pulmonis sinistri et apicis dextri.
Nodi caseosi emollientes lobi inferioris pulmon. sinistr.
et superioris dextri. Arrosio rami secundi ordinis arteriae pul-
monalis d. ss. haemorrhagia et aspiratione sanguinis. Anaemia
universalis. Lipomatosis cordis. Hypoplasia cordis et vasorum.
Die tuberculösen Veränderungen am Secirtische unterschieden
sich im Allgemeinen nicht von den in ähnlichen Krankheitsfällen
zu beobachtenden; sie wiesen nur auf einen raschen, acuten
Verlauf bei Lebzeiten. Nur in einem Falle, Nr. 41, einem 18jährigen
Jüngling, wurde bei der Obduction fibröse Degeneration der rechten
Lungenspitze neben frischen, im Lungenparenchym zerstreuten Ver¬
änderungen constatirt. Im gegebenen Falle dauerte die Hetol-
behandlung 46 Tage und die Gesammtobservation 72 Tage.
ln einem Falle, bei einem Manne, wurde bei der Section
Ruptur des geschwürigen Darmes und septische Bauchfellentzündung
constatirt; desgleichen in einem Falle, bei einem Manne, Berstung
der rechten Lunge und folgender Pyopneumothorax.
In einem Falle (Nr. 36), wo eine unbedeutende alte Caverne
in der rechten Lungenspitze bestand, traten durch die Einwirkung
der Hetolinjectionen tuberculöse Veränderungen in den V irbeln
und zerstreut in den Lungen auf, wobei zu erwähnen ist, dass bei
der anfänglichen klinischen Untersuchung keine tuberculösen Ver¬
änderungen in den Wirbeln wahrnehmbar waren und diese erst
während der klinischen Beobachtungszeit hervortraten. Das dies¬
bezügliche Sectionsprotokoll lautet kurz:
Spondylitis tuberculosa vertebrae I, II, dorsalis ss. abscessu
frigido ad dorsum. Caverna tuberculosa apicis dextri pulmonis.
Tuberculosis disseminata nodosa pulmon% Adhaesiones pleuriticae
bilat. Inanitio. Anaemia.
AufGrund unserer klinischenErfahrungen
können wir die Anwendung der intravenösen
Hetolinjectionen überhaupt nur in sehr frühen
Anfangsstadien der Lungentuberculose em¬
pfehlen, und das nur in kleinen Dosen bis höch¬
stens zu 0’005 g, bei 0 0005 g beginnend, mit mehr¬
tägigen (drei bis vier Tage) Intervallen, wobei
dieselben im Falle Abnahme des Körperge¬
wichtes oder anderer Nebenerscheinungen, wie
Fieber u. dgl., vollständig zu sistiren sind. Die
intravenösen Hetoleinspritzungen bilden kein
specifisches Heilmittel gegen Lungentuber¬
culose; in manchen Fällen können sie jedoch
mittelbar zur Heilung der Lungenschwindsucht
beitragen durch Hervorrufung einer massigen
allgemeinen Leukocy tose und localer Reaction
in den Krankheitsherden, und dadurch in den
günstigsten Verhältnissen auch der fibrösen
Verdichtung im Lungenparenchym an Stelle
der käsigen Herde, wie auch durch Anregung
der Lebensenergie des Organismus, Hebung des
Appetits und damit auch des Körpergewichtes,
Verringerung der Sch Weissabsonderung und
der Diarrhöe, oder auch ihre Behebung; hiebei
ist der günstige Einfluss auf die Hemmung der
Schwindsuchtsprocessausbreitung, respective
auch auf die Selbstheilung, ein kurzdauernder
und vorübergehender.
Die Wirkung der intravenösen Hetolinjectionen erinnert
sehr an das Koch’sche Tuberculin. Unter dem Einflüsse
dieser beiden Mittel tritt in dem erkrankten tuberculösen Ge¬
webe eine allgemeine und locale Reaction ein: bei der Anwen¬
dung beider Mittel kann es zur Erweichung der Herde
und zur Verallgemeinerung des Schwindsuchtsprocesses im
Organismus durch die Blutgefässe kommen. Der Unterschied
liegt jedoch darin, dass, wenn manche Autoren in dem Tuber¬
culin einen diagnostischen Behelf für die latente Tuberculöse der
Lungen und der inneren Organe (Petrushky, F r ä n k e 1)
sehen wollen und in ihm sogar bei entsprechender Anwendung
ein specifisches, gegen Tuberculöse immunisirendes Mittel er¬
blicken (Petrushky), wir das vom Hetol nicht sagen
können.
REFERATE.
Die pathologischen Beckenformen.
Von Prof. Dr. Karl Breus und Prof. Dr. Alexander Kolisko.
I. Band, I. Theil. Mit 116 Abbildungen.
Leipzig und Wien 1900, Franz D e u t i e k e.
Besprochen von Alfons Ros thorn.
Der Aufbau der Lehre von den pathologischen Beckenformen
wurde, wie die Geschichte lehrt, fast ausschliesslich und damit
auch etwas einseitig von den Geburtshelfern durchgeführt. Die Aus¬
nützung vieler vorhergegangener Detailarbeiten Anderer führte
unter Benützung eigener, scharfsinniger Beobachtungen zu den I ür
diese Lehre grundlegenden und umfassenden Werken von Michaelis
und L i t z m a n n. Seit dieser umfangreichen Bearbeitung des Gegen¬
standes, welche in den Sechziger- Jahren ihren Abschluss land, ist
in pathologisch-anatomischer Hinsicht nichts Hervorragendes in der
Beckenlehre mehr geschaffen worden. Die Autoren können auch in
der in der neueren Zeit entstandenen Zusammenstellung Schauta s
nur die Durchführung des ätiologischen Eintheilungsprincipes als
Vorzug erblicken.
Auch in dieser letzteren Zeit betheiligten sich die patho¬
logischen Anatomen • fast gar nicht an dem Ausbau peliko-
logischer Fragen. Das reiche, in den Museen aufgespeicherte Mateiial
i blieb vielfach unbenützt, und so kam es, dass durch einseitige
Behandlung der Beckenlehre wichtige Fundamentalwahrheiten un¬
beachtet blieben und andere Hypothesen weiter propagirt wurden.
Aetiologisch wurde für manche Deformitäten die Wirkung der
Rumpflast und des Oberschenkeldruckes viel zu sehr in den
Vordergrund gestellt und andere wichtige Momente, wie die com-
plicirten Wachsthumsvorgänge, ganz vernachlässigt.
Lange Zeit hindurch würden die Becken viel zu sehr gemessen,
man hoffte, mit dem Centimetermasse und der Construction ver¬
schiedener Diagramme auch ätiologische Fragen lösen zu können. Die
Mängel der in der Geburtshilfe üblich gewordenen Messungsmethoden
können nicht genug hervorgehoben werden. Am richtigsten wäre es,
die sofort vor Messung der den Leichen frisch entnommenen Becken
zunehmen. Wichtig ist, dass die Messpunkte alle in einer Ebene
liegen und diese Messpunkte auch von allen Untersuchern gleich-
mässig markirt werden. Auf die Beurtheilung der Ausgestaltung
eines Beckens, respective der Wachsthumsveränderungen an dem¬
selben, ist die Aufnahme der Slreckenmasse von ganz besondeiei
Bedeutung (Pars sacralis, iliaca, pubica der seitlichen Beckenwand).
Da die Breite und Beschaffenheit des Kreuzbeines lür die Quei-
masse von grosser Bedeutung sind, so müssen die Dimensionen
und die Form dieses Knochens ganz besonders in Rücksicht ge-
•J10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. FJOO.
Nr. 40
Kögen werden; die Messung ist doppelt vorzunehmen, mit Band-
mass und Zirkel. Die Beziehung des Promontorium zur Terminal¬
ebene, die Feststellung des Terminalwinkels sind nicht unwichtige
Ergänzungen; von einer graphischen und bildlichen Darstellung
sehen die Autoren jedoch ab, da sie der Meinung sind, dass diese
Art der Behandlung leicht zu einer geometrisch-schematisirenden
werden und die anatomischen Momente dabei ganz in den Hinter¬
grund» treten könnten.
u
I m über die Entstehung der Beckenformen ins Klare zu
kommen, muss das Becken des Neugeborenen zum Aus¬
gangspunkt genommen und die Wandlungen desselben bis zur
Fertigstellung der Deformität verfolgt werden. Hiebei zeigt es sich,
dass der Einfluss des Knochenwachsthums auf die Gestaltung eines
Beckens der hei Weitem wichtigste von allen ist, indem selbst die
mechanischen Einflüsse (Rumpflast, Oberschenkeldruck, H. v. Meyer,
Lit z mann) jenem gegenüber in den Hintergrund treten müssen.
Es werden nun die gegenwärtig als sicher anzunehmenden Ossi-
licalionscenlren, chondralen Wachsthumszonen und aecessorischenOssi-
licalionsherde im Beckenskelete angeführt und bezüglich der Details be¬
sonders auf die Arbeiten von T o 1 d t, Langer, Schwegel u. A.
verwiesen. Die Bedeutung jener Momente, die bei der
Umbildung dos Beckens von der fötalen zur fertig
ausgebildeten Form in Betracht kommen, so die Ent¬
wicklung der Beckeneingeweide, der Druck der Rumpflast, der Zug
und Druck der am Becken haftenden Muskeln und Bänder kann
von den Autoren nicht in jenem Masse zugestanden werden, als
dies bisher allgemein der Fall war. Die eigenthümliche Beckenform,
die sich bei Aplasie der Genitalien vorfindet, ist nicht als die Folge
dieser letzteren anzusehen; vielmehr sind beide Deformi¬
täten auf dieselbe G r undurs a che zurückzuführen. Die
mechanische Belastungstheorie, welche eine ganze Reihe von De¬
formitäten auf den Druck der Rumpflast zurückführt, kann von den
Verfassern nur für das ostoomalacische Becken uneingeschränkt
zugeslanden werden. Auch die Deformirung des kindlichen Beckens
durch abnorme Belastungsverhältnisse kann von den Autoren nicht
zugegeben werden, da die Druckwirkungen wieder durch die enorme
Elasticität des kindlichen Knochens wettgemacht werden können.
Der Einfluss von Muskeln und Bändern auf die Beckengestalt wurde
jedoch vielfach unterschätzt, da bei dauernder Inacti vität der ersteren
die betreffenden Knochentheile, an denen die Muskeln inseriren, atro-
phiren; und umgekehrt kann es bei anhaltender Muskelarbeit an
den Insertionsstellen zu periostaler Knochenneubildung kommen
(M e y e r, Kehr e r). Die Wachsthumsveränderungen der Becken¬
knochen und der einzelnen Theilstücke des Beckenringes, aus
welchen die Umwandlung der Beckenform zu Stande kommt, wurden
von Litzmann meisterhaft geschildert.
Seit Litzmann ist die Schrift Fe filing's (»Die Form des
Beckens beim Neugeborenen und ihre Beziehung zu der beim Er¬
wachsenen«) die bedeutendste Leistung auf diesem Gebiete. Dass
die Querspannung, da sie bereits im dritten Monate am fötalen
Becken, analog wie die Keilform der Kreuzwirbel, nachweisbar ist,
nicht als eine Folge der Einwirkung von mechanischen Momenten
angesehen werden kann, sondern vielmehr als eine specifische
\\ achsthumseigenthümlichkeit angesehen werden muss, wird von
den Autoren bestätigt. Diese stimmen daher auch der Lehre
Freund’s von der pelikogenen Kyphose zu, die sich ja auch
gegen die Belastungstheorie wendet.
Nach Aufzählung der allgemein gangbaren und bekannter
Eintheilungen der pathologischen Beckenformen nach Michaelis
bitzman n, Schaut a, D o h r n, L a T orre, Tarnier, B u d i r
geben die Verfasser selbst folgende Uebersicht, bezüglich der si<
jedoch die Bemerkung machen, dass einzelne Gruppen vorläufig
iingcieiht weiden mussten, ohne dass für dieselben das ätiologisch!
Einlheilungsprincip mit Sicherheit verwerthet werden konnte. Di<
1 lauptgruppen umfassen :
1. Anomalien als Folge von Störungen der embryonalen
Entwicklung und des intrauterinen Wachsthums (Missbildungs-,
Assimilations-, Zwerg-, Riesen-, Rachitisbecken und Dimensional¬
anomalien).
-• Anomalien als Folge von Erkrankungen der Beckenknochen
und ihrer Synehondrosen (osteomalacisches , osteomyelitisches
Synostosen-. Exostosen-, Neubildungs-, Fracturen-, Lacerationsbecken).
3. Abnorme Becken als Folge von Anomalien an der Wirbel¬
säule (spondylolisthetisches, Kyphosen-, Skoliosenbecken).
4. Abnorme Becken in Folge von Anomalien an den unteren
Extremitäten (Luxations-, Coxitisbecken, Asymmetrie der unteren
Extremitäten).
5. Abnorme Becken in Folge von Anomalien des centralen
Nervensystems.
Hervorgehoben wird bei der Besprechung dieser Eintheilungen,
dass die abnorme Ausgestaltung des Beckens durch das Wachs¬
thum nach der Geburt oft nur eine Fortsetzung der Entwicklung
einer abnormen Anlage sei. Missbildungsbecken können nur als
Folge congenitaler Bildungsfehler und angeborener Defecte angesehen
werden, und alle Formen, welche auf Wachsthumsstörungen zurück¬
geführt werden müssen, können bei diesen nicht aufgenommen
werden. Unter den Dimensionalanomalien fassen die Autoren aus¬
schliesslich die Abweichungen von der normalen Grösse, von den nor¬
malen Durchmessern zusammen (das einfache platte, das allgemein
verengte, das Trichterbecken). Diese Gruppe ist als Provisorium an¬
zusehen, da ein Einblick in die Art der Entstehung dieser Formen
bislang nicht gewonnen wurde; dieselbe wird im Laufe der Zeit
mit der fortschreitenden Erkenntniss verschwinden müssen. Zweifel¬
los kommen als ätiologische Momente auch bei diesen Rachitis,
Assimilations- und Vegetationsstörungen in Betracht. Rachitis muss
als eine Wachsthumsstörung des jungen Knochens und nicht als
ein Belaslungsdefect, wie die Osteomalacic, angesehen werden. Die
Knochengestalt ist hier schon von vorneherein eine verzerrte, ab¬
norme. Das Nägele’sche und Robert’sche Becken sind auf¬
zufassen als Effecte von Symphysenprocessen; sie stehen also den
osteomalaeischen Formen am nächsten.
Gruppe 3 und 4 entsprechen der S c h a u t a'schen Ein-
theilung, nur sind die Assimilationsbecken als Anomalien der
embryonalen Anlage von hier ausgeschaltet. Spondylolisthesis ist
eine erworbene Anomalie der Wirbelsäule, welche secundär das
Becken verändert, gehört also hieher.
Als besondere Gruppe (5) fassen die Autoren jene Deformi¬
täten zusammen, welche sich bei schweren Erkrankungen des
Nervensystems (Tabes, Syringomyelie, infantile Kinderlähmung) ent¬
wickeln. Wir finden bei denselben intensive Ernährungsstörungen
der Knochen und Gelenke (Osteoporose, Arthropathien, Fracturen).
Bekannt ist der Einfluss von Paralyse und Contractur und die
Folgen von Inacti vitätsatrophie; auch das sogenannte Liegebecken
gehört hieher.
ln dem speciellenT heile dieses Bandes sind aus
den Anomalien, welche durch Störungen der embryonalen Ent¬
wicklung und des extrauterinen Wachsthums aufzufassen sind, die
Missbildungs-, Assimilations- und Zwergbecken aufgenommen. Nur
die beiden ersteren können als Vitium primae conformationis auf¬
gefasst werden. Die Zwergbecken gehören schon in die Gruppe der
Vegetationsstörungen, welch letztere im Sinne K u n d r a t’s von den
eigentlichen Krankheiten allgetrennt werden müssen. Nur die Störung
in der intrauterinen Entwicklung kann als Missbildung aufgefasst
werden. Von praktischer Bedeutung können von den Missbildungs¬
beck en das pyopagische Becken, die angebornen Spaltbildungen
und die seltenen Formen von congenitalen Ossificationsdefecten am
Kreuzbeine in Betracht kommen, indess die anderen wegen Mangels
der Lebensfähigkeit der Frucht keine praktische Bedeutung er¬
langen.
Am eingehendsten ist in diesem Abschnitte das Spaltbecken
(S y m p h y s e n sp al t) und die so ausserordentlich seltenen und
interessanten Ossificationsdefecte am Kreuzbeine behandelt. Be¬
züglich der ersteren erscheint besonders hervorhebenswerth, dass
die Autoren zwei Formen unterscheiden: 1. Die von Litzmann
beschriebene, mit convexer Ventralfläche des Kreuzbeines; bei
dieser steht, entgegen der Anschauung der meisten Autoren, das
Promontorium hoch. Der Mangel des Abschlusses der vorderen
Beckenwand ist ersetzt durch eine sehr kräftige Entwicklung des
Kreuzbeines, der Articulatio sacro-iliaca, des Bandapparates und der
Muskelinsertionen. Diese Beckenform muss eher als eine Pelvis
quadrata und nicht plana angesehen werden, wie dies noch viel¬
fach fälschlich geschieht. Das Charakteristische für die zweite Form
ist die Concavität der Vorderfläche des Kreuzbeines; hieher gehört
das dritte Wiener Spaltbecken, ferner das von Foges und
Lewitzky beschriebene. Das Grazer Spalfbecken dürfte eher als
Nr. 40
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
911
eine Uebergangsforin zu bezeichnen sein. Der von Litzmann
vertretenen Anschauung, dass die Form des Spaltbeckens eine
Wirkung der Rumpflast sei, muss entgegengetreten werden, indem
diese Gestaltsveränderung schon beim Neugeborenen in voll¬
kommenster Weise nachweisbar ist. Bei Spaltbildungen höheren
Grades an Früchten, welche nicht lebensfähig sind, ist die
charakteristische Spaltbeckenform in noch höherem Grade ausgeprägt
(Pelvis inversa, A h 1 f e 1 d).
Es folgt eine eingehende Würdigung der fünf in der Literatur
anatomisch beschriebenen Spaltbecken (W alter, G reve, Litz¬
mann, Lewitzky, Fog es). Deductionen aus den an der
Lebenden beschriebenen Formen können nicht als überzeugend an¬
gesehen werden, weshalb auch die Anschauung W. A. Freunds,
dass eine Synostose der Articulatio sacro-iliaca bei Spaltbecken
sich regelmässig finde, zurückgewiesen werden muss.
Als congenitale Ossificati onsdefecte am Sacrum
werden angesehen: aj das Kreuzbein mit keilförmigem Wirbel¬
rudiment; b) mit Defect eines ganzen Fiügels; c) mit Defect eines
Querfortsatzes. Für die erste Form werden die von R oki t a n s k y,
v. Meyer und Paterson beschriebenen Becken einer ein¬
gehenden Kritik unterzogen. Das von Gust. Braun und von
Mohr beschriebene (Spondyloparembole) enthält keine überzähligen
Wirbelrudimente eingeschaltet. Als Typus der zweiten Form wird
der sogenannte Kundrat’sche Defect angeführt und eine aus¬
führliche Beschreibung des in der Wiener Sammlung befindlichen
Präparates gegeben. Hier fehlt an der rechten Seife des ersten
Kreuzwirbels die Pars costalis und der dem Processus transversus
entsprechende Theil. Die gelenkige Verbindung mit dem Darmbeine
ist durch eine Knochenspange vom zweiten Kreuzwirbel gebildet.
Dabei besteht keine Synostose in diesem letzteren. Die Asymmetrie
ist blos auf den Beckeneingang beschränkt. Dieser Defect ist
zweifellos congenital; die Ursache desselben ist nicht klargestellt.
Die H o 1 l'sche Lehre von der Entwicklung der menschlichen
Wirbel findet durch diese pathologische Beckenform ihre Bestäti¬
gung. Als einziges analoges Becken kann aus der Literatur das von
Thomas beschriebene Leidener Becken- angesehen werden. Der
Defect des Processus transversus am ersten Kreuzwirbel findet sich
bilateral und combinirt mit Luxation der rechten Pars costalis bei
dem eingehend von den Autoren beschriebenen Wiener Fall. Das
seinerzeit von Fritsch als typisches Fracturenbecken angesehene
zeigt bei Vergleich mit dem beschriebenen eine solche Analogie,
dass es wohl nur als solches angesehen werden kann.
ln der Einleitung zur Besprechung der mit besonderer Liebe
bearbeiteten Assimilationsbeck on wird auf die grosse Be¬
deutung der wichtigen, entwicklungsgeschichtlichen Untersuchungen
Rosenberg’s über die Bildung des Kreuzbeines zur Erklärung
der Assimilationsbecken hingewiesen. Vor Allem ist jener Theil
der Lehre verwerfhbar. dass der erste Kreuzwirbel in seiner ersten
Anlage nicht mit dem Sacrum verschmolzen ist und noch ganz
die Form eines Lendenwirbels aufweist. Von dem mehr oder
minder bedeutenden craniellen Vorrücken des Beckens, das heisst
von der Höhe, in welcher die Anlagerung der embryonalen Hüft¬
beine an die Wirbelsäule stattfindet, ist der definitive Hoch- oder
Tiefstand des Vorberges abhängig. Das Auftreten von Assimilations¬
zeichen am Kreuzbeine wird demnach als die Folge eines während
der frühesten embryonalen Entwicklung zu Stande gekommenen
Niveaufehlers in dem Anschlüsse der Anlage der Darmbeine an
das Kreuzbein zu suchen sein, und danach ist die Assimilation als
der Ausdruck einer fundamentalen Entwicklungsanomalie anzusehen.
Bei der eingehenden Erörterung der besonderen Assimilations¬
zeichen wird als Hauptmoment das Verhalten der Costarius-
antheile am ersten Sacralis und Präsacralis hingestellt. Die äussere
Form des betreffenden Uebergangswirbels, die Stellung desselben
zum Beckeneingange, die Art der Verbindung desselben mit dem
Hüftbeine, die Zahl und Lage der Sacrallöcher, die Form und Art
der Verbindung des ersten Caudal wirbels, welcher auch häufig eine
Uebergangsforin zeigt, sind die wichtigsten Merkzeichen. Bei sorg¬
fältiger Betrachtung zeigt sich das Vorkommen von Assimilationen
viel häufiger, als man erwarten sollte; ungewöhnliche Massverhält-
nisse und eine auffallende Configuration lassen solche von vorne-
herein erschlossen. Die Beckengestalt weicht regelmässig von der
Norm ab, ebenso wie die Stellung des Kreuzbeines. Letzteres kann
verlängert, verkürzt, verbreitert und verschmälert sein und auch
Veränderungen in seiner ventralen Fläche in Form von Krümmung
und Streckung aufweisen. Wichtig ist auch die Betrachtung der
Facies auricularis bezüglich der Antheilnahme der einzelnen Kreuz¬
wirbel an dieser letzteren.
Ausser der grossen Zahl von Variationen in den Assimilations¬
formen lassen sich bestimmte Typen aufstellen, wobei die Ver¬
änderungen am Kreuzbeine als die constantesten in den Vorder-
grand gestellt werden müssen. Die Verfasser unterscheiden fünf
solche: Das hohe, querverengte, mitten platte, niedere und asymme¬
trische Assimilationsbecken und schliesslich Combinationen aller
untereinander. Die wesentlichen, einander gegenüber zu stellen¬
den Formen sind das hohe und das niedere, wobei das
erstere weitaus die häufigste Form darstellt; an diese Hessen sich
als Unterart angliedern das mitten platte und querverengte. Alle
diese einzelnen Formen werden auf Grund eigener exacter Beob¬
achtung eingehend geschildert, worauf hier nicht eingegangen
werden kann. An der Lebenden dürfte unter günstigen Verhältnissen
nur das asymmetrische Assimilationsbecken erkennbar sein, welches
bei Betrachtung der dorsalen Ansicht aus dem ungleichen 1 Joch¬
stande der beiden Spinae posteriores superiores bei Ausschluss
anderer ätiologischer Momente zu diagnosticiren wäre. Die Geburts¬
helfer haben sich bisher mit dieser Beckenform kaum beschäftigt,
und fehlt dieselbe in den betreffenden Lehrbüchern überhaupt.
Schauta (Mülle Fs Handbuch) reiht diese pathologische Becken¬
form unter die Belastungsanomalien ein. Zum Schlüsse dieses
Capitels wird noch der H o 1 l’schen Abhandlung über die richtige
Deutung der Querfortsätze der Lendenwirbel und Entwicklung der
Wirbelsäule gedacht und ihr besondere Beachtung mit Rücksicht
auf die Erklärung der Assimilation beigemessen.
Nach einer kurzen Einleitung, in, welcher nebst historischen
Bemerkungen eine Definition des Begriffes »Zwerg« gegeben
ist, werden die Typen der verschiedenen Zwerge im Allgemeinen
eingehend charakterisirt. Die Verfasser unterscheiden den durch
Chondrodystrophie bedingten, den echten, den cretinistischen, den
rachitischen und den hypoplastischen Zwergwuchs.
Besonders eingehend wird die Chondrodystrophie be¬
sprochen und dieselbe der Rachitis congenita, der Osteosklerosis
Kundrat’s, der Achondroplasie Parrot-Porak’s gleichgestellt.
Der von Kaufmann empfohlene Ausdruck »Chondrodystrophica
foetalis« wird als der zweckmässigste acceptirt. Auf Grund von
eigenen Beobachtungen können sich die Verfasser klar und be¬
stimmt aussprechen. Sie neigen der Ansicht zu, dass man, gleich
Kaufmann, zwei Formen, eine mehr hyperplastische und eine
mehr hypoplastische unterscheiden müsste. Die Charakteristik dieser
Zwergformen ist eine so ausgesprochene, dass sie mit anderen
kaum verwechselt werden kann. Die Wachsthumsstörung ist eine
angeborene und beschränkt sich hauptsächlich aul Störungen des
Längenwachsthums in den Knorpelzonen.
Diese Form steht gegenüber der echten Zwergfor m,
wie sie K u n d r a t und ganz besonders A. P a 1 1 a u 1 ein¬
gehend beschreiben und von den anderen Formen abgetrennt haben.
Das Stehenbleiben der Knochenentwicklung aut einer frühen Stufe,
so dass kindliche Proportionen erhalten bleiben, das Offenbleiben
der Knorpelfugen, die ganz bestimmten Proportionen sind Merk¬
male, welche auch diese von den anderen unterscheiden. Am
nächsten steht dem echten Zwerg noch der cretinistische;
auch hier ist ein Stehenbleiben auf infantiler Stufe gegeben,
welches sich mit einer Störung des Intellectes paart. Da die
Wachsthumsstörung nicht an allen Theilon eine gleiche ist, so ent¬
wickeln sich Störungen in der Proportion. Die Neugeborenen unter¬
scheiden sich durch nichts von den anderen; das wesentliche
Moment wird in dem Ausfälle der Function der Schilddrüse gesucht
(kropfige Degeneration oder Aplasie). Beim rachitischen
Zwerge sind es einerseits Verbiegungen der Extremitätenknochen,
andererseits Hemmungen im Längenwachsthum, welche die Ver¬
kürzungen hervorrufen. Es erinnert der Erweich ungsprocess im
Knochensysleme sehr an den bei der Osteomalacie. Hier ist nicht
blos die enchondrale, sondern auch die perichondrale Ossification
gestört. Eine qualitative Alteration im Knochenwachsthume fehlt
gänzlich beim hypo plastischen Zwerge, der ein reines
Miniaturskelet aufzuweisen hat. Bei diesem sind also auch nicht
die kindlichen Proportionen wie beim echten Zwerg zu finden. Als
Typus desselben gelten die Zwergvölker. Allgemeine Lrnährungs-
912
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900,
Nr. 40
Störungen hohen Grades, Mikro- und Hydrocephalie, können aber
auch bei uns solche Skelete hervorbringen. Geburtshilflich spielen
dieselben keine Rolle.
Es werden nun mit besonderer Sorgfalt die verschiedenen
Zwergbecken besprochen und an der Hand eigener Beob¬
achtungen und solcher von Anderen eingehend kritisirt. Es möge
noch hervorgehoben werden, dass von den chondrodystrophischen
Becken zwei Formen unterschieden werden. Genaue Messungen von
sechs Becken der ersten Form mit hochgradiger Abplattung, hoch¬
stehendem Promontorium, Fronta' stenose im Sacraleanale, Ein¬
sattelung der Lendengegend werden einer einzigen Beobachtung
gegenübergestellt, nämlich dem Grazer Becken, das auch in den
Querdurchmessern verengt ist, sich durch auffallende Niedrigkeit
auszeichnet und keine Sacralcanalstenose aul weist. Dass Chondro¬
dystrophie eine fötale Störung ist, zeigen die Becken von derartigen
Neugeborenen, welche schon ganz charakteristisch in dem erwähnten
Sinne umgeformt erscheinen. Als zuverlässig echte Zwergbecken
werden nur das sogenannte Heidelberger Becken (Nägele, Böckh)
und das von Schauta beschriebene Prager Becken als von
weiblichen Individuen abstammend anerkannt. Für das männliche
Skelet dienen die sehr genauen Beschreibungen von A. Pal tauf,
welchen noch von den Autoren ein ihnen von Zemann zur Ver¬
fügung gestelltes Zwergbecken angereiht wird.
Das Ueberschreiten der gewöhnlichen Ausdehnung eines
analogen Inhaltsreferates mag darin seine Rechtfertigung finden,
dass man dem Erstehen eines grossen, wohl epoche¬
machenden Literaturproductes gegenü borsteht, das
an Fülle des Gebotenen, sowohl was exacte Detail¬
beobachtung als die Lehre selbst betrifft, Alles
bisher Erschienene weit üb er trifft.
Eine glückliche Vereinigung von günstigen Umständen, so vor
Allem die gemeinschaftliche Bearbeitung des schwierigen Gegen¬
standes durch je einen hervorragenden Vertreter sowohl der prak¬
tischen als theoretischen Richtung, die Reichhaltigkeit des den
Autoren in liberaler Weise zur Verfügung gestellten Materiales der
verschiedenen pathologisch-anatomischen Museen liess erwarten,
dass uns hier etwas besonders Vorzügliches geboten werden
dürfte. Es mag auch schliesslich des Umstandes gedacht werden,
dass das vorliegende Werk in einem Institute seinen Ursprung
nahm, dessen seinerzeitiger Leiter, unser leider so früh dahin¬
geraffter Lehrer K u n d r a t, welcher als ein Kenner allerersten
Ranges der Pathologie des Knochensystemes gegolten hat, vielfach
bemüht war, bei seiner Umgebung Interesse für die scheinbar
starren, aber so variablen Skeletformen wachzurufen und Einblick
in die Aetiologie der Deformitäten derselben zu verschaffen. Gewiss
war von dieser Seite reichlich Anregung für die intensivere Be¬
trachtung der Objecte und die Deutung der Entstehung derselben
gegeben worden und so ist durch dieses vortreffliche Werk ge¬
wiss auch im Sinne der Verfasser dem Andenken Kundrafs
ein ehrendes Monument gesetzt worden.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
365. Acute Herz dilatation und Cor mobile. V on
Dr. Hoffmann (Düsseldorf). Die Lehre von der acuten Herz¬
dilatation hat namentlich in letzterer Zeit, und zwar durch die
Untersuchungen von Henschen eine Bedeutung erlangt, der sie
ganz ungewöhnlich häufig bei Chlorose und Anämie, Scharlach,
Nephritis, beim Alkohol- und Greisenherz, bei Infectionskrankheiten,
Rheumatismus, Klappenfehlern, aber auch bei Gesunden nach
starker körperlicher Anstrengung beobachtet haben will. Dem¬
gegenüber betonen wieder andere Autoren, dass es sich hier nur
um scheinbare, durch Hochstand des Zwerchfelles und Retraction
der Lungen bedingte Vergrösserung der Herzdämpfung handle.
Hoffmann bemerkt, dass eine Vergrösserung des Herzens be¬
sonders dann vorgetäuscht werden kann, wenn zwei Bedino-un<ren
vorhanden sind: Hochstand des Zwerchfelles, wie er bei Chlorose
häufig ist, und ein sehr bewegliches Herz, wie es auch bei Chlorose
und ausserdem bei Nervosität nicht selten anzutreffen ist. Ein solches
Cor mobile kann unter Umständen ganz lebhafte Beschwerden
machen. Solche hatten in einem von Hoffmann näher ange¬
führten Falle bestanden. Der Schlaf war schlecht, ausser Kopfdruck,
Unruhe und sonstigen neurasthenischen Symptomen zeitweilig
heftiges Herzklopfen, namentlich Nachts, Angstanfälle mit Be¬
klemmungen, niemals jedoch eigentliche Dyspnoe. Bei der Unter¬
suchung wurde der Spitzenstoss 2 cm ausserhalb der Mamillar-
linie gefunden, sonst am Herzen nichts Abnormes. Bei Lagerung
nach links wanderte die Herzspitze um weitere 5 cm nach aussen,
blieb aber im fünften Intercostalraum. Dabei tvmpanitischer Schall
über dem ganzen Abdomen. Zwei Tage später nach Abführmitteln
und reizloser Kost begann die Leberdämpfung erst an der sechsten
und nicht wie früher am unteren Rand der fünften Rippe, und
der Spitzenstoss war innerhalb der Mamillarlinie fühlbar. —
(Deutsche medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 19.) Pi.
*
366. Ueber fremde Körper in den Verdauungs¬
wegen. Von Dr. Puttern ans. Verfasser erklärt die Punkte eines
Merkzeichens (repere) zur Erkennung fremder Körper in den Ver¬
dauungswegen. Das Leitinstrument beginnt in der Höhe des Tuber¬
culum carotideum, ist von der oberen Zahnreihe 15 cm entfernt;
sein Lumen beträgt 14 — 25 mm und hat drei markirte Punkte,
am Begipne der Leitungsröhre, dann 15 cm tiefer, endlich am Ende
derselben. Im Niveau dieser physiologischen Verengerungen ist es,
wo zumeist die fremden Körper stecken bleiben und Abschürfungen,
Eiterungen, Narben und sogar auch Perforation der Luftröhre und ein
allgemeines Emphysem erzeugen können. Fremde Körper in der
Speiseröhre, besondes künstliche Gebisse (36°/0) sind sehr häufig
mit Erscheinungen von Suffocation, plötzlichen Todes oder mindestens
peinlichen Angstgefühles verbunden. Die Untersuchung geschieht
durch Palpation, Pharyngoskopie oder Radiographie. Nicht so ver¬
breitet ist die Anwendung des metallischen Resonateurs von
Colin, mittelst welchen die geringste Reibung oder Berührung
mit dem Fremdkörper zu vernehmen ist. Im Allgemeinen ver¬
wendet man die articulirte Pincette von Colin besonders bei
sphärischen Körpern (Kirschkerne) oder den Münzenfänger von
Grave, endlich in England das sogenannte Parapluie von Fer¬
gus s o n. Wenn die Extraction nicht gelingt, so muss man trachten,
den fremden Körper in den Magen hinabzuslossen. Felizet be¬
dient sich besonders bei Kindern einer Harnröhrensonde mit Krücke
Nr. 18, welche zwischen die Wand und den fremden Körper ge-
stossen wird. Hierauf werden 200 — 800 einer warmen Borlösung
injicirt, die Sonde durch leichte Drehung zurückgezogen und durch
das Erbrechen kann der fremde Körper herausbefördert werden.
Ist derselbe in der Speiseröhre eingeklemmt, so muss die äussere
Oesophagotomie gemacht werden. Mitunter kann die Gastrotomie,
welche die retrograde Extraction des Fremdkörpers erleichtert, an¬
gezeigt sein. Beim Sitze in den Gedärmen kann der Abgang des
Fremdkörpers durch gewisse Nahrungsmittel, wie Reis, Kartoffeln,
gefördert werden. Der Ausbruch schwerer Symptome erfordert
chirurgische Intervention. In der Höhe des Mastdarmes hat man
viele Fremdkörper beobachtet, deren Entfernung durch das Steiss-
bein zuweilen gehindert wird. Wenn der Körper durch Extraction
mit dem Finger nicht zu entfernen ist und fest eingekeilt bleibt,
so muss die hintere Rectotomie, eventuell durch eine Resection
des Steissbeines vervollständigt, unternommen werden. Dr. Hanens
erinnert an ein zehn Monate altes Kind, welches einen Kammputzer
von mehreren Centimetern Durchmesser verschluckt hatte und bei
welchem das rapide Fortschreiten des Instrumentes längs der Ver-
dauungscanales durch die Radiographie gezeigt werde; der Fremd¬
körper befand sich in der dritten Stunde im Magen; in der sechsten
Stunde in der Höhe des Nabels und wurde Tags darauf nach einem
Lavement ausgestossen. — (Journal Medical de Bruxelles. 2. August
1900, Nr, 31.) Sp.
*
367. Aus der I. medieinischcn Universitätsklinik in Wien
(Hofrath Nothnagel). Klinische Studien mit dem
Aesthesiometer. Von Gand. med. Erwin S t r a nsky und
Dr. B. F. ten Gate. Die bekannte Erscheinung, dass die künst¬
liche Erzeugung von Hypästhesie auf einer Stelle der Körperober-
fläche mit Hyperästhesie der symmetrischen Stelle der Gegenseite
einhergehe, wird von den Verfassern als correlative Empfindlichkeits¬
schwankung bezeichnet. Die vorliegenden Untersuchungen wurden
mit einem von Dr. ten Gate modificirten F r e y’schen Aesthesio
meter angestellt. Auf den in Betracht kommenden HautsteHen,
welche vorher rasirt wurden, wurden kleine, bis höchstens 1 cm'1
Nr. 40
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
913
grosse Flächen abgegrenzt und auf ihre Reizschwelle hin geprüft.
Die Hypästhesie der in Betracht kommenden Stellen wurde durch
Einwirkung von Eis hervorgerufen. Untersucht wurden circa 50 Fälle,
theils Individuen mit normalem, theils solche * mit geschädigtem
Nervensystem betreffend. Nach den Ergebnissen dieser Unter¬
suchungen ruft Hypästhesirung eines Hautbezirkes Empfindlichkeits-
erhöhung der tactilen Sensibilität und der Sehmerzempfindung nicht
nur der Gegenseite, sondern in den Hautbezirken der Nachbar¬
segmente beider Körperhälften hervor. Bei Störungen im Bereiche
der sensiblen Nerven, respective ihrer Bahnen und Centren, treten
je nach dem Sitze der Leitungsunterbrechung verschiedene Ab¬
weichungen von der Norm auf. Der die correlative Empfindlichkeits¬
schwankung bedingende Process kommt in den Rückenmarkssegmenten
zu Stande. (Jahrbücher für Psychologie und Neurologie. Bd. XIX,
Heft 2.) ' S-
*
368. Zur Pathologie undTherapie derBasedow-
schen Krankheit. Von Prof. Dinkier (Aachen). Einer der
beiden anatomisch genau untersuchten Fälle hatte auch seltene
klinische Erscheinungen geboten: Motorische Störungen in Form
choreatischer Zuckungen, psychische, indem die Frau gegenüber
ihren früheren Gewohnheiten unrein, unordentlich, unmässig wurde;
später war noch eine Parese des linken Armes und Beines hinzu¬
getreten. Als Grundlage für die psychischen Symptome, die Hemi¬
plegie, die motorischen Reizerscheinungen etc. wurde eine nur
mittelst der March i’schen Methode deutlich nachweisbare ungleich-
mässige Erkrankung des ganzen Hirnmantels mit entsprechender
absteigender Degeneration der Pyramidenbahnen, sowie eine solche
der Ganglienzellen am Boden des vierten Ventrikels und im Bereiche
der grauen Vordersäulen des Rückenmarkes gefunden. An den
Muskeln der paretischen linken Seite war einfach Atrophie und
Lipomatose nachweisbar gewesen. Die Struma zeigte in dem einen
Falle eine Neubildung solider Epithelgänge und Alveolen, des¬
gleichen im zweiten Falle, jedoch in weit geringerem Grade; da¬
gegen hatte hier eine enorme Thymushypertrophie bestanden. Dieser
Fall war auch milder verlaufen, was möglicher Weise mit den ge¬
ringeren Veränderungen der Schilddrüse und der Thymushyper¬
plasie Zusammenhängen kann. Beachtenswert!] ist noch der Befund,
dass die Arterien der Schilddrüse an Zahl nicht vermehrt waren,
den fast normalen Querschnitt zeigten, während Venen und Capillaren
beträchtlich erweitert waren. Dinkier hält die Annahme für ge¬
rechtfertigt, dass beim Basedow eine das Gefässsystem und das
Herz in gleicher Weise schädigende Noxe, wahrscheinlish thyreo¬
genen Ursprunges, die Hauptrolle spiele; nervösen Einflüssen soll
keine ursächliche Rolle für die Schilddrüsenveränderungen zu¬
kommen. Obwohl die operativen Erfolge bei der Basedow-Behandlung
schon manche schwere Enttäuschung gebracht hat, ist Dinkier
dennoch bei geeigneten Fällen für die Einleitung einer chirur¬
gischen Behandlung (Strumektomie etc.). — (Münchener medicinische
Wochenschrift. 1900, Nr. 21.) Pi.
*
369. Die Larven von der »Sarcophilamagnifica«
(S ch i n e r) im Darmcanale des Menschen. Von Professor
Perroncito. Die mit den Speisen etwa verschluckten Larven von
Zweiflüglern können factisch im Darme durch einige Tage leben
ohne zu Grunde zu gehen, wenn man die relativ grosse Zähigkeit
ihres Lebens in Erwägung zieht. Aber in diesem Falle können sie
dem Menschen keine schweren Störungen bereiten. Andererseits wurden
Fälle gesammelt, in welchen die Anwesenheit der Larven im Magen-
Darmcanal mitunter von sehr schweren Störungen begleitet war.
Perroncito berichtet über einen diesbezüglichen Fall, welchen
Prof. Paolucci und Dr. Ricci in Ancona beobachtet haben.
Dieser betrifft einen 40jährigen, kräftigen Mann, welcher ausser
einem chronischen Gelenksrheumatismus mit Endocarditis an be¬
ständigen Darmblutungen und Erbrechen schwarzen Blutes leidet.
Die Darmausscheidungen sind fäulnissartig, von penetrantem Gerüche.
Ricci vermuthete Anchylostomiasis, fand aber nichts unter dem
Mikroskope. Farnkrautöl hatte keinen Erfolg, erst nach Darreichung
von 4 g Benzonaphthol durch mehrere Tage kamen die Larven zum
Vorschein. Das Leiden besteht seit einem Jahre, verstärkt seit
drei Monaten. Die gefundenen Larven glichen keinesfalls den ge¬
wöhnlichen Entozoen des Körpers, eher Leichenwürmern. Nachdem
das Benzonaphthol stets viele Larven mit den Fäces herausbeförderte,
wurde zum Schlüsse dem durch die Blutungen aufs Aeusserste ge¬
schwächten Kranken noch durch zwei Tage je lg Kalomel
gegeben, worauf Blutungen und Ausscheidungen von Larven plötzlich
aufhörten. Der Kranke erzählte, dass er in Amerika in einer Ort¬
schaft gelebt habe, in welcher Fliegen aller Grössen in enormer
Zahl Vorkommen, und vermuthet Ricci, dass die Eier derselben
Fleisch und andere Lebensmittel verunreinigen. Prof. Perroncito
berichtet schliesslich, dass nach 16 — 18 Tagen aus den ihm über¬
sendeten Larven zwei Männchen und ein Weibchen von Sarcophila
magnifica (S chin er) herauskamen, welche zur Familie »Muscidae«,
Unterfamilie »Muscidae calypteratae«, Tribus »Sarcophagine« ge¬
hören. — (Giornale d. R. Accadem. di Medicina, Torino. Juni 1900,
Nr. 6.) Sp.
*
370. Aus der psychiatrischen Klinik zu Tü¬
bingen (Prof. Sie m erlin g). Beitrag zur Pathologie
des Halssympathicus. Von Dr. Heiligenthal i n B a d e n-
Baden. Wenn beim Thier der Halstheil des Sympathicus durch¬
schnitten wird, so tritt gesetzmässig theils sofort, theils nach
längerem Bestehen der Läsion eine Reihe von Erscheinungen auf:
Dauernde Verengerung der Pupille, Enge der Lidspalten, stärkere
Injection der Hautgefässe und damit erhöhte Temperatur der be¬
treffenden Seite, Herabsetzung, respective völlige Aufhebung der
Schweisssecretion, sowie Störungen der Speichelsecretion. Später ge¬
sellen sich hinzu ein Zurücksinken des Bulbus, verbunden mit Ab¬
nahme der Spannung, sowie hin und wieder eine Atrophie der be¬
troffenen Gesichtsseite. Heiligenthal hat in fünf Fällen Sym-
ptomencomplexe in Folge von krankhaften Processen oder Ver¬
letzungen am Halse beobachtet, die in ihrer Gesammtheit als Lähmung
des Halssympathicus aufgefasst werden können, indem sie alle jene
Cardinalsymptome in wechselnder Vollkommenheit zeigten, die sich
beim Thierexperiment nach Durchschneidung des Halssympathicus
einstellen. In vier dieser Fälle war eine mehr weniger entwickelte
Struma vorhanden, im fünften war die Lähmung traumatischen Ur¬
sprunges. Heiligen thal ist auch der Ansicht, dass dort, wo
Struma vorhanden ist, diese die Ursache der Sympathicuslähmung
ist. Hiebei spielt die Form der Struma eine wichtigere Rolle als
die Grösse derselben. Heiligenthal bespricht die einzelnen
Symptome der Lähmung des Halssympathicus. Die dauernde Ver¬
engerung der Pupille bedarf eines weiteren Eingehens nicht. Die
Verengerung der Lidspalte lässt sich unabhängig von dem Zurück¬
sinken des Bulbus vielleicht so erklären, dass durch Lähmung des
Sympathicus eine dem natürlichen Tonus der Verringerer der Lid¬
spalte entgegenwirkende Kraft in Wegfall gekommen ist. Das Zurück¬
sinken des Bulbus mag durch die Lähmung des Müller’schen
Muskels allein kaum Erklärung finden, es dürfte die Abnahme des
Orbitalfettes mitwirken. Auch die Ungleichheit der Gesichtshälften
dürfte hauptsächlich, vielleicht sogar ausschliesslich durch Schwund
des Fettes bedingt sein. Die nach dem Experiment zu erwartende.
Erweiterung der Gefässe auf der gelähmten Seite, ausgedrückt durch
Röthung und Erhöhung der Temperatur, findet sich bei den Kranken
mit Lähmung des Halssympathicus durchaus nicht immer. Heiligen¬
thal hat gefunden, dass man aus der Temperalurdifferenz allein
nicht auf die Seite der Lähmung zurückschliessen dürfe. Aber
während ein Reiz, zum Beispiel Körperbewegung, in den Vaso¬
motoren der gesunden Seite eine wesentliche Reaction hervorruft,
bleiben die Vasomotoren der gelähmten Seite zwar nicht reactionslos,
jedoch der Ablauf der Reaction ist ein anderer. Nur bei einer
Patientin Heiligenthal’s war die Schweisssecretion auf der ge¬
lähmten Seite sistirt. Heiligen thal fand in seinen fällen keine
Erklärung für das verschiedene Verhalten der Schweisssecretion bei
Lähmung des Halssympathicus. — (Archiv für Psychiatrie. Bd. XXXIII,
Heft 1.) s-
*
371. (Aus der medicinischen Klinik zu Würzburg.) lieber
den Zungenbelag bei Gesunden und Kranke n. Von
Dr. Müller. Das, was bei gesunden Menschen als »Belag« der
Zunge angesehen wird, sind die Papillae filiformes, welche bei den
einzelnen Individuen verschieden zahlreich und mächtig entwickelt
sind, bei Kindern sehr schwach ausgeprägt und im Greisenalter
häufig atrophirt sind, weshalb ältere Personen nicht selten eine
glatte, rothe, wie lackirt aussehende Zunge haben. Dieser Zungen¬
belag ist demnach vielfach kein Spiegel des Magens,, sondern etwas
914
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 40
Physiologisches, und es ist daher kaum zweckmässig, diese »Beläge«
durch Kratzen und Schaben zu entfernen zu suchen. Die schonendste
Reinigung der Zunge wird durch Kauen fester Speisen, besonders
trockenen Brotes besorgt. In vielen Fällen ist der Zungenbelag
ein pathologischer und wird besonders bei acuten Krankheiten
beobachtet, gleichviel ob sie den Verdauungscanal primär betreffen
oder nicht. Die mikroskopische Untersuchung der durch Abschabung
der Zunge gewonnenen Objecte ergibt, dass dieselben aus denselben
Elementen, wie sie schon auf der Zunge des Gesunden gefunden
werden, bestehen: aus Epilhelien, Bacterien, Fadenpilzen, Speise¬
resten und Leukocyten. Letztere finden sich jedoch beim Magen-
carcinom und der Lungcntuberculose in so beträchtlicher Menge,
dass Verfasser ein zufälliges Zusammentreffen für unwahrscheinlich
hält und an eine gesetzmüssige Beziehung zwischen dem Leuko-
cy tengehall der Zungenoberfläche und den genannten Krankheiten
glaubt. Von den Leukocyten abgesehen wurden zwischen den von
den Zungen Gesunder und Kranker abgestreiften Massen nur quanti¬
tative Unterschiede gesehen. Zur Entstehung des vermehrten Belages
trägt wahrscheinlich bei, dass die Kranken feste Nahrung nicht
geniessen, die Zunge - welche bei Apathischen überdies noch
ruhig steht — nicht abgebürstet, reingefegt wird; bei manchen
Krankheiten kommt es zu einer vermehrten Abschilferung der
Zunge, zu einem desquamativen Katarrh. Existirt demnach ein
Zungenbelag, so ist feslzustellen, ob derselbe ein normaler oder ein
pathologischer ist; bei dem letzteren lässt sich eine reichlichere
Masse abstreifen. — (Münchener medicinische Wochenschrift. 1900,
Nr. 33.) Pi.
*
372. (Medieinisch-chirurgisches Ambulatorium di Guspini
[Cagliari].) PrimitiveEchinococcuscystederLunge. Von
C. L o i. Die 32 Jahre alle Kranke wurde November 1897 von Husten
mit abundanter Expectoration, Fieber befallen. Die Diagnose wurde
auf Lungentuberculose gestellt. Zehn Monate später Verschlimmerung
des Zustandes, Athemnoth, heftiger Husten, Cyanose, Erbrechen
einer grossen Menge erst klarer, dann blutig-schaumiger Flüssigkeit.
Drei Wochen später erbrach sie unter heftigem Hustenanfall sechs
Stücke einer Membran von Echinococcuscyste, weiss und von ver¬
schiedener Grösse, worauf sämmtliche Athembeschwerden vergingen.
An der linken Lungenspitze deutliche metallische Resonanz, Athem-
geräusch kaum vernehmbar. Die Untersuchung auf Tu-
b e r k e 1 b a c i 1 1 e n w a r i m m e r negativ. Im Januar 1899
neuerdings Hustenanfälle. Der Stimmfremitus an der linken Lungen¬
spitze fast verschwunden: vorne links eine Zone dumpfen Schalles
scharf begrenzt, daselbst ein charakteristisches vibri-
r end es Geräusch zu vernehmen. Hustet die Kranke, so hört
man ein Gurgeln. Die Auscultation der Stimme ergibt deutliche
Bronchophonie. Diesen Zustand erklärt Verfasser als Wiederholung
der cystischen Erkrankung, umsomehr als sich an derselben
Lungenstelle das charakteristische Vibriren über einer schallleeren
Gegend befand. Man muss daher annehmen, dass ein Echinococcusei
in den Verdauungstract der Kranken gedrungen sei, dass unter dem
Einflüsse des Magensaftes die Kapsel des Embryo sich gelöst habe
und im Wege des Venensystems in die linke Lunge gedrungen
ist. Die neue Bildung der Cyste erklärt Verfasser daraus, dass bei
dem ersten Anfalle in^ August 1898 mit der Membran nicht alle
Keimcysten ausgebrochen wurden und eine davon in der linken
Lungenspitze zur Entwicklung gekommen ist. — (La Riforma
Medica. 31. Juli 1900, Nr. 170.) Sp.
*
373. Die Ozaena und ihre Behandlung. Von
Klemperer (Berlin). Der Name Ozaena gilt eigentlich nur mehr
für jene stinkenden Nasenaffcctionen, die mit Ausschluss jener,
welche bei Lues, Fremdkörpern in der Nase und bei fötiden Eite¬
rungen der Nasennebenhöhlen Vorkommen, eine diffuse Erkrankung
der Nase darstellen und durch drei Symptome ausgezeichnet sind:
das reichliche Secret, den Gestank, welcher an dem zu Krusten
eingelrockneten Secret haftet, und endlich die Atrophie der Nasen¬
schleimhaut und Knochen. Diese Erkrankung, für welche schon ein
Bacillus gefunden sein soll, tritt besonders in den Pubertätsjahren
auf und befällt besonders weibliche Individuen. Die Behandlung
der mit dieser Krankheit behafteten Patienten, welche in Folge des
aus der Nase kommenden Gestankes oft gesellschaftlich unmöglich
werden, hat die Aufgabe, die Secretion in Schranken zu erhalten
und den Fötor zu beseitigen, was nach Verfasser durch Rein¬
haltung der Nase zu erreichen ist. Dieselbe wird durch die
Combination zweier Mittel erreicht: die Tamponade und die Nasen¬
spülung. Sobald der Patient zur Behandlung kommt, legt man nach
einander in jede Nasenseite einen Wattewickel durch ein oder
zwei Stunden ein. Soweit die Krusten durch diese nicht entfernt
sind, werden sie durch eine nachfolgende, ausgiebige Spülung be¬
seitigt. Ist auf diese Weise die Nase einmal vollständig ge¬
reinigt, so legt der Patient in der ersten Zeit Morgens für eine
halbe bis eine Stunde die Tampons ein und spült hernach mittelst
(sogenannter englischer) Nasenpumpe mit mässigen Mengen einer
physiologischen Kochsalzlösung aus; die Ausspülung wird Mittags
und Abends wiederholt. In schweren Fällen soll auch Abends ein
Tampon eingelegt werden. Mit der Zeit wird die Spülung Mittags
fortgelassen, statt der Pumpe einfach die Nasenkanne verwendet,
der Tampon nur kürzere Zeit liegen gelassen. In manchen Fällen
kommt durch diese Behandlung auch der anatomische Process zum
Stillstand, in einigen Fällen sogar zur Heilung. (Die Therapie der
Gegenwart. 1900, Nr. 8.) Pi.
*
374. Lieber Behandlung der Epilepsie. Von Pro¬
fessor Fürstner in Strassburg. Bezeichnend für den heutigen
Stand der Epilepsiebehandlung ist die Unmöglichkeit einer sicheren
Voraussage, ob in einen einzelnen Falle mit den verordneten Medi-
camenten, vor Allem mit den Bromsalzen, Resultate zu erzielen sein
werden oder nicht. Es ist daher der Prüfung würdig, ob diagnostische
Irrthümer die therapeutischen Misserfolge zum Theile begründen,
insoferne anderweitige Erkrankungen mit genuiner Epilepsie ver¬
wechselt werden, ferner, ob bei den ungünstigen Verhältnissen be¬
stimmte ätiologische Factoren vorliegen, ob dieselben besondere
klinische Merkmale bieten, durch welche sie sich von dem Gros
der Epilepsieerkrankungen unterscheiden, endlich ob sich Merkmale
finden lassen, welche von vorneherein günstige Chancen für die
Therapie in Aussicht stellen. Fürstner bespricht zunächst jene
in der poliklinischen, wie in der Privatpraxis häufigen Fälle, in
welchen die Anfälle durchaus die Merkmale des epileptischen In¬
sultes bieten können, während es sich doch nicht um Epilepsie,
sondern um Hysterie handelt. Hier führt der Gebrauch der Brom¬
präparate zu keinem Erfolg. Fürstner theilt zwei derartige Fälle
mit, in welchen auf Brompräparate, nicht aber auf Bromipin eine
eigenthümliche Hautaffection zur Entwicklung kam. Fürstnerver¬
weist ferner auf jene Fälle, in welchen sich angeborene oder früh¬
zeitig erworbene organische Hirnerkrankungen ausschliesslich durch
epileptische Anfälle kundgeben. Vielleicht ist diesen Fällen eine ln-
constanz des durch Brombehandlung zu erzielenden therapeutischen
Effectes eigen. In naher Beziehung zu dieser Gruppe stehen Fälle
die der cerebralen Kinderlähmung zuzurechnen sind. Fürstner
bespricht ferner jene Fälle von Epilepsia tarda, in welchen in der
Kindheit vereinzelte Anfälle auftraten, die dann cessirten und unter
irgend einer occasionellen Schädlichkeit nach einigen Jahrzehnten
wieder sich einslellen. Häufig sind in diesen Fällen die Brompräparate
wirkungslos. Wo epileptische Insulte in Folge atheromatöser Processe
entstehen, sind Brompräparate nicht empfehlen swerth. Bei auf
tophischer, vor Allem alkoholistischer Basis entstandenen epi¬
leptischen Insulten hat oft der Fortfall der Schädlichkeit allein schon
günstigen Erfolg. Von den in der Kindheit auftretenden Anfällen
heilen diejenigen am ehesten, in welchen die regelmässige Brom¬
therapie im kindlichen Alter begonnen und über die Pubertätszeit
fortgesetzt wird. — (Archiv für Psychiatrie. Bd. XXXI II, Heft 1.)
S.
*
375. Zur Klinik der 1899 in Oporto beob¬
achteten Pesterkrankungen. Von Dr. Reiche (Hamburg).
Von besonderem Interesse ist die geringe Expansion der Seuche,
sowie die Milde des Verlaufes der einzelnen Fälle, da die Epidemie
nach fast siebenmonatlicher Dauer mit 311 Erkrankungen und
104 Todesfällen ihr Ende erreicht halte. Der typische ausgeprägte
Pestanfall begann in der Regel acut mit Kopfschmerz, Schüttel¬
frost und schwerer Abgeschlagenheit, häufig mit gleichzeitigem
Durchfall und Erbrechen. Nach wenigen Tagen setzte entweder
Genesung mit oder ohne Vereiterung der Drüsen ein, oder aber
die schweren Symptome traten mehr hervor und unter dem Bilde
der Septikämie oder dem der Intoxication erfolgte in hohem Fieber
Nr. 40
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
915
oder auch bei Abfall desselben der Tod. Andererseits sab man fou-
droyante Fälle, die innerhalb weniger Stunden oder zwei bis drei
Tagen zum Tode führten. Dem gegenüber traf man leichte Verlaufs¬
arten in denen die klinischen Symptome ganz und gar zurück¬
traten. Prodrome waren meist keine vorhanden, das Fieber ent¬
sprach im Grossen und Ganzen der Schwere des Falles. Die Re¬
spiration war, ohne dass Lungenveränderungen Vorlagen, meist be¬
schleunigt, nicht aber der Puls. Milzschwellung war in schweren
Fällen fast immer vorhanden gewesen. Das Hauptmerkmal der
Krankheit bildeten die Bubonen, die zumeist gleich im Beginne der
Krankheit, aber auch später am vierten bis siebenten Tage auf¬
traten. Die Zahl der befallenen Drüsenpakete schwankt ganz er¬
heblich, nicht selten war nur eine Region ergriffen. Die Grösse der
Bubonen war eine verschiedene, zwischen mächtigen Schwellungen
und kaum erbsengrossen Infiltrationen bestanden alle Uebergänge.
Immer war jedoch eine hervorragende Druckempfindlichkeit vor¬
handen, was in manchen Fällen pathognomisch wichtig ist; so
konnten mehrmals subpectorale Drüsenschwellungen hei starker Ent¬
wicklung des Pectoralis oder der Mamma nur an der tiefen Schmerz¬
haftigkeit erkannt werden. Am meisten waren die inguino-femoralen
Drüsen ergriffen, bei Kindern besonders häufig die axillaren; in
einem Falle war ein Bubo unterhalb des rechten Knies aufgetreten,
der in seinen Erscheinungen eine beginnende Arthritis Vortäuschen
konnte. Bemerkenswerth ist, dass das Fieber schon häufig ge¬
schwunden war, wenn die vereiterte Drüse zur Incision reif
geworden war. Ein echter Pestcarbunkel (am Unterleib) war nur
ein einziges Mal ebenso wie eine Pestmeningitis beobachtet worden.
Die Therapie hatte sich auf Hygiene, Isolirung, Verabreichung von
Darmantiseptica und Tonica beschränkt, später waren in geringer
Zahl Injectionen mit Yersin’schem Serum vorgenommen worden.
Der Infectionsmodus blieb zumeist unaufgeklärt. — (Münchener
medicinische' Wochenschrift. 1900, Nr. 31.) Pi-
*
376. (Medicinisch-chirurgisches Ambulatorium di Guspini
[Cagliari].) Heilung einer chronischen Ischias durch den
Biss ei n er Viper. Von Pomerol. 45jährige Kranke, seit mehreren
Jahren an heftiger linksseitiger Ischias leidend, so dass schliesslich
die Beugemuskeln der Hüfte und des Beines sich zusammenzogen
und die Kranke mit grösster Schwierigkeit hinkte. Als sie eines
Tages über eine frisch gemähte Wiese ging, wurde sie in den
linken äusseren Knöchel von einer Viper gebissen, worauf Schwäche,
Uebelkeiten. Athmungsbesch werden ein traten. Verfasser fand an der
Bissstelle zwei violett gefärbte Punkte, die ganze Gliedmasse
schmerzhaft und von einer harten bis zur Leiste hinaufreichenden
Geschwulst befallen. Nach entsprechender Behandlung verschwanden
die Allgemeinerscheinungen in einigen Tagen. Das im Anfänge
dunkelblau gefärbte Glied nahm eine gelbe Färbung an, und nach
einem Monate trat die Heilung ein. Vom Tage des Bisses durch
die Schlange waren die Schmerzen im Ischiadicus ver¬
schwunden, desgleichen die Muskelstarre und das
Glied erlangte seine normale Function wieder. Die Heilung war
bleibend. Die alten Aerzte verwendeten sehr häufig die Viper zur
Heilung von Stichen und Bissen giftiger Thiere und wüthender
Hunde, wie Ambroise Pare versichert. Der berühmte Theriak
enthielt Fleisch und ohne Zweifel auch Gift von der Viper. Jäger
erzählen, dass von der Viper gebissene Hunde gegen die Wuth-
krankheit geschützt sind. Es wäre demnach nützlich, die Wirkung
abgeschwächter Gifte mittelst Serumbehandlung weiter zu prüfen.
— (Gazette des Höpitaux. 2. August 1900, Nr. 87.) Sp.
*
377. U eher die nervösen Störungen im Bereiche
des Brachialplexus bei Angina pectoris. Von Loewen-
f e 1 d (München). Die bei Angina pectoris namentlich im Bereiche
des linken Armes auftretenden Erscheinungen sondern sich in drei
Gruppen: 1. Störungen der Sensibilität, 2. der Motilität und 3. vaso¬
motorische Störungen. Zu den ersteren gehören die anfallsweise
auftretenden Schmerzen, die Parästhesien — Taubsein, Pelzigsein,
Gefühle von Kälte u. s. w. — , zu den zweiten ein Gefühl von
Schwäche im Arm; spastische Erscheinungen scheinen nur bei der
nervösen Angina, nicht bei der echten beobachtet zu sein. Die
vasomotorischen Erscheinungen äussern sich in einer Kälte und
Blässe der Hand. Die zeitlichen Beziehungen zwischen dem ganzen
Anginafall und den brachialen Symptomen sind verschiedene: ab¬
gesehen davon, dass die brachialen Erscheinungen bei Angina
pectoris ganz fehlen können, treten sie während des Anfalles auf,
oder sie gehen demselben voraus, oder überdauern den Anfall, oder
sie können selbstständig längere Zeit vor dem ersten Angina-
anfalle auftreten. Verfasser berichtet über einen hieher gehörigen
Fall, in dem ein halbes Jahr vor den eigentlichen Anfällen von
Angina pectoris schon heftige Neuralgien, und zwar in beiden
Armen, aufgetreten waren. Die Obduction hatte in diesem Falle
eine Atrophie und Sklerose der Nervenstämme des linksseitigen
Plexus brachialis ergeben. In den meisten Fällen werden die bra¬
chialen Symptome auf Irradiationen zurückzuführen sein, die vom
Plexus cardiacus ausgehen und durch die beiden unteren Hals¬
ganglien in das Rückenmark geleitet werden. Für andere Fälle
muss aber die Möglichkeit zugegeben werden, dass die Auslösung
von Anginaparoxysmen auch vom Plexus brachialis aus erfolgen
kann. (Münchener medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 32.)
Pi.
*
378. Beitrag zurLehre von der symmetrischen
Gangrän. Von Dr. Paul Tesdorpf in München. Tesdorpf
berichtet über einen Fall von Hysterie, der durch das Auftreten
hysterischer symmetrischer Entzündungserscheinungen als » hysterische
symmetrische Entzündung« bezeichnet zu werden verdient, wobei
alle Grade der Entzündung: Röthung, derbe Infiltration, Blasenbildung,
Keloidbildung, Eiterung, Gangrän und Geschwürsbildung beobachtet
wurden. Es handelt sich um ein 22jähriges, schon von Kindheit
auf ängstliches und nervöses Individuum, dessen krankhafte Sug-
gestibilität und krankhafte Verknüpfung der psychischen und körper¬
lichen Vorgänge die Diagnose »Hysterie« umsomehr rechtfertigte,
als im Anschluss an eine Hypnose sich ein schwerer hysterischer
Anfall einstellte. Im Februar 1897 trat im Anschluss an einen
kleinen Hautschnitt am linken Daumen Röthung, Schwellung und
Steifheit, einige Tage später Schwarzfärbung, Gefühllosigkeit und an
einzelnen Stellen Gangrän auf. Im Anschluss an diese zeigten sich
später vielfach brandige IJautaffectionen von symmetrischer Be¬
schaffenheit. Eine hypnotische Suggestivbehandlung übte einen
günstigen Einfluss auf den Verlauf der Hauteruptionen, so dass die
enge Beziehung der Hautaffection zur Hysterie evident war. Der
Nachweis, dass die Hautgangrän durch absichtliche Verletzungen
provocirt war, gelang nicht, obwohl die Neigung, sich selbstthätig
Verletzungen oder mindestens Alterationen der Hautoberfläche mittelst
der Hände zuzufügen der Kranken thatsächlich innewohnte. Ein
Theil der Hauteruptionen kam bei der Patientin nach psychischem
Affect zu Stande. Für die Beantwortung der Frage, auf welchem
Wege die Hysterie zu symmetrischen Hautentzündungen, insbesondere
zu Gangrän führen könne, verweist Tesdorpf unter Anderem auf
die Lehre vom sogenannte Transfert, der symmetrischen Ueber-
tragung eines Reizes von der einen Körperhälfte auf die andere,
indem eine bestimmte Hautstelle der einen Körperhälfte bei einem
hysterischen Individuum treffende Erregung durch Vermittlung des
Centralnervensystems die identische symmetrische Stelle der anderen
Körperhälfte in Mitleidenschaft zieht und zu gleichartiger Erregung
bringt. — (Archiv für Psychiatrie. Bd. XXXIII, Heft 1.) S.
*
379. lieber Urinbefunde nach Nierenpalpation.
Von Dr. Menge (Leipzig). Nachdem Menge erst zufällig nach einer
in gewöhnlicher Weise ausgeführten Nierenpalpation ein vorüber¬
gehendes Auftreten von Eiweiss im Urin bemerkt hatte, wurde der
Sache mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Die weitere Beobachtung
von 21 Fällen von Tiefstand der Nieren^ ergab, dass in 14 der¬
selben der vor der Palpation eiweissfreie Urin nach der Unter¬
suchung in wechselnder Menge eiweisshaltig geworden war. Es war
ferner mit aller Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der bimanuelle
Druck zunächst nur ein Durchtreten von Blutserum durch die
Capillaren in Folge plötzlich geänderter Circulationsverhältnisse zur
Folge hat und hiedurch der Eiweissgehalt bedingt sei, dass es
sich hier also um eine renale Hämaturie mit Albuminuria spuria
handle. Da aber die Eiweissmenge' grösser war, als sie den Blut¬
beimengungen entsprach, dürfte die Albuminurie gelegentlich auch
eine reine sein. Aus den weiteren bemerkenswerthen Befunden sei
hervorgehoben, dass das Auftreten von Eiweiss besonders von det
Stärke und Dauer des Palpationsdruckes und dem Grade der
Nephroptose abhängig war. Auf Grund dieses Befundes scheinen
916
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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zwei bei Nephroptose angewendete therapeutische Verfahren: die :
Massage der Nierengegend und die Anwendung von Bandagen mit
besonderen Nierenpelotten nicht unbedenklich zu sein. — (Münchener
medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 28.) Pi.
*
380. Hereditäre Syphilis der zweiten Genera¬
tion. Fournier berichtet in der Academic de Medecine zu Paris
im Namen von Lemonnier über zwei Beobachtungen. 1. lieber
ein achtjähriges Mädchen, ausgesprochen heredo-syphilitisch, welches
ausserdem an Diabetes litt und von demselben durch die specifische
Behandlung geheilt wurde, woraus Fournier auf einen Zusammen-
hang der beiden Krankheiten schliesst. Die zweite Beobachtung be¬
trifft ein authentisches Beispiel von Ilcredo-Syphilis in der zweiten
Generation. Von zwei Brüdern, 27 und 24 Jahre alt, leidet der
ältere an einem intranasalen Geschwüre und an Sarkocele, der
jüngere an vielfachen Geschwüren beider unteren Gliedmassen. Die
Richtigkeit der Diagnose unterliegt keinem Zweifel und wurde durch
das günstige Resultat der Behandlung bestätigt. Da beide Brüder
getrennt lebten und eine persönliche Ansteckung absolut aus¬
geschlossen war, so vermuthete Lemonnier eine specifische
Heredität und erfuhr, dass der Vater und der Grossvater der beiden
Brüder an derselben Krankheit litten und fand bei dem Vater die
Stigmata von Ileredo-Syphilis (kleine Gestalt, krumme Beine, De¬
formität des Schädels, zahlreiche Hautnarben u. s. w.). Die Mutter
der beiden Brüder ist stets gesund gewesen. — (La Semaine
Medicale. 15. August 1900, Nr. 34.) Sp.
*
381. (Aus der chirurgischen Klinik in Bonn.) Zwei Fälle
von Kleinhirntumoren. Von Prof. Schede. Bekanntlich
führen die Kleinhirntumoren erst, nachdem sie eine gewisse Grösse
erreicht haben, zu Symptomen, als Kopfschmerz, Hirndruck und
Stauungserscheinungen; wichtig ist besonders die Erscheinung der
cerebellaren Ataxie, des Schwindels. Ein zuverlässiges Merkmal
dafür, welcher Kleinhirnseite der Tumor angehört, gibt es nicht.
Man nimmt an, dass der Tumor gewöhnlich auf jener Seite sich
befinde, welcher jener entgegengesetzt ist, nach welcher der Kranke
schwankt. In den beiden von Schede veröffentlichten Fällen
(Gliom) hatte dieses Symptom vollständig im Stich gelassen.
Schede hat beide Male am steil sitzenden, stark vorne über¬
gebeugten Patienten operirt, weil dadurch sehr viel Blut gespart
wird. Der Schnitt wurde vom hinteren Rande des einen Proc. mast,
bogenförmig über die Spina occipitalis zum anderen Warzenfortsatz
geführt, die ganzen Weichtheile wurden bis zum Hinterhauptsloch
abpräparirt und der Knochen sammt der Crista occipitalis ent¬
fernt. Von den elf bisher wegen Kleinhirntumoren operirten Pa¬
tienten sind fünf sofort gestorben, zwei haben die Operation über¬
standen, ohne irgend eine Besserung erfahren zu haben, einer
starb an Recidiv, drei sind wirklich geheilt. (Deutsche medicinische
Wochenschrift. 1900, Nr. 30.) Pi.
*
382. Aus der psychiatrischen und Nervenklinik des königlichen
Charite (Prof. Jolly). U e b e r Gehirn a bscesse. Von Dr. A.
Westphal. Westphal theilt zwei Fälle von metastatischem, einen
Fall von traumatischem Hirnabscess mit, die er klinisch und ana¬
tomisch zu untersuchen Gelegenheit hatte. Die von Westphal
beschriebenen Abscesse lassen sämmtlich Einkapselung erkennen,
und zwar ist in zweien chronisch verlaufenen Fällen eine derbe
Kapsel verbanden gewesen, in einem Falle, in welchem der Exitus
schon 17 Tage nach dem Auftreten der ersten Gehirnerscheinungen
erfolgte, fand sich eine ganz zarte membranöse Begrenzung der
Eiterhöhle, nach innen gebildet von einer Schichte Gliagewebes, nach
aussen von einer bindegewebigen Zone. In einem Falle fanden sich
bindegewebige Züge, die von der verdickten Pia aus mit den Ge¬
lassen auf die Abscesshöhlc zogen und deren Wandung bildeten.
Es ist mithin wahrscheinlich, dass die Kapsel wesentlich von Binde¬
gewebe gebildet wird, das von der Pia aus mit den Gefässen zur
Abscesshöhle gelangt. Tn jedem Falle fanden sich verschiedenartige grosse
Zellen, die den einzelnen Fällen 'durch den Wechsel ihrer Form und
die Zahl ihres Auftretens ein besonderes Gepräge verleihen (epi-
Iheloide Zellen), ausserdem Sehwellungszuslände der Gliazellen, da¬
zwischen mancherlei Uebergangsformen, so dass die Entstehung
wenigstens eines Theiles der epitheloiden Zellen aus den Neuroglia-
zellen wahrscheinlich ist, ferner auf weite Strecken Rundzellen ver¬
schiedener Grösse, in allen diesen Zellen feinere und gröbere, dem
zerfallenen Nervenmark der Umgebung entstammende Bestandteile,
endlich eigentliche »Körnchenzellen«. Ausser den Veränderungen an
den zelligen Elementen sind verschiedenartige Gewebsdegeneralionen
in der weiteren Umgebung des Abscesses nachweisbar. Schlüsse äuf
die Entstehung der Gehirnabscesse glaubt Westphal aus seinen
Befunden nicht ziehen zu können. — (Archiv für Psychiatrie.
Bd. XXXIII, Heft 1.) S.
*
383. Am mittelfränkischen Aerztetage (Fürth, 30. Juni 1900)
berichtete Dr. v. R a d (Nürnberg) über z w e i F ä 1 1 e von Tabes
bei Kindern. In dem einen Falle handelt es sich um ein elf¬
jähriges Mädchen, dessen Vater luetisch gewesen und das selber,
die Zeichen hereditärer Lues bietend, die classischen Erscheinungen
der Tabes zeigte. Der andere Fall betraf einen neunjährigen Knaben,
dessen Mutter an Gehirnlues litt. An zwei Strcptococcen-
empyemfällen bespricht Dr. L e n h a r t z die überaus günstige
Wirkung der Behandlung mit dem Perthes’schen Apparat,
der eine Vervollkommnung der Bülau’schen Heberdrainage dar¬
stellt. Die besten Erfolge sah Lenhartz, wenn der Apparat
gleich am Tage nach der Operation angelegt worden war. In dem
einen Falle war nach 26 Tagen noch keine Verkleinerung der
Höhle zu constatiren gewesen; es trat jedo'ch vollständige .Heilung
nach 21 Tagen ein, nachdem der genannte Apparat angelegt worden
war. Im anderen Falle war die Heilung bei vollständigem Verschluss
der Fistel schon am 18. Tage erzielt worden. Der Apparat bleibt
zwei bis drei Wochen ohne Verbandwechsel liegen. Statt Abschluss
der Fistel mit Gummikappe empfiehlt Lenhartz den einfacheren
mit Jodoformgaze und Collodium. Pi.
*
384. Ueber Läsionen der Ganglien bei der
Hundswut h. Von van Gebuchten. Bei den m Folge des
natürlichen Ablaufes der Wuthkrankheit verendeten Hunden
finden sich in den Ganglien des Gehirns und Rückenmarks be¬
stimmte Läsionen, aus welchen man die Diagnose post mortem
machen kann. Unsere Methode bezieht sich jedoch nicht auf
Hunde, welche der Wuth blos verdächtig gewesen sind. Neben
der natürlichen Wuthkrankheit gibt es auch eine experimentelle,
in Folge der Inoculation fixen oder Strassengiftes. Die Läsionen
der Ganglien fehlen immer nach Inoculation fixen Giftes. Hingegen
sind die Resultate nach Einimpfung von Strassengift verschieden;
zuweilen ebenso heftig wie bei der natürlichen Wuth, zuweilen
weniger tief, zuweilen gänzlich fehlend. Diese Unterschiede lassen
sich nur durch eine verschiedene Virulenz des Giftes, andererseits
durch die Entwicklung der Krankheit selbst erklären. Die durch
das fixe Virus erzeugte Wuth hat gewissermassen eine foudroy-
ante Wirkung; das Thier stirbt zwischen 12 und 36 Stunden,
während bei Strassengift der Verlauf viel langsamer ist. — (Jour¬
nal Medical de Bruxelles. 2. August 1900, Nr. 31.) Sp.
*
385. Ueber 49 Fälle von Pubertätsirresein
Von Dr. Elmiger, zweiter Arzt, St. Urban, Kanton Luzern. Nach
den Untersuchungen Elmiger’s befällt das Pubertätsirresein vor¬
wiegend das weibliche Geschlecht und nimmt meistens einen un¬
günstigen Ausgang. Im Falle der Heilung der ersten Erkrankung
sind Recidiven wahrscheinlich. Die in' der Pubertät auftretenden
Melancholien und Manien sind häufig die erste Phase einer peri¬
odischen oder circulären Psychose. - — (Zeitschrift für Psychiatrie.
Bd. LVII, Heft 4.) ‘ S.
*
386. Perniciöse Anämie mitAntistreptococcen-
Serum behandelt. Von W. Eider. Gemäss der Anschauung,
dass die perniciöse Anämie durch unausgesetztes Verschlucken
von im Bereiche der Mundhöhle vorhandenen Eitercoccen hervor¬
gerufen werden soll, die eine Infection der Schleimhaut des Ver-
dauungstractes hervorrufen, hat Eider einen derartigen Fall mit
Injectionen von Antistreptococcen-Serum behandelt. Der Effect war
anscheinend ein sehr guter: nach 18 Injectionen und Anwendung von
Darmdesinfectionsmitteln sowie Reinhaltung des Mundes war nach
etwas mehr als einem Monat die Zahl der rothen Blutkörperchen
von circa 800.000 auf 4 \/.2 Millionen, der Hämoglobingehalt von
24 auf 88% gestiegen. (Lancet. 28. April 1900.) Pi.
*
Nr. 40
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917
387. Zur Wirkung der Organe auf einige Gifte.
Von Thoinot und Brouardel. Die hemmende Wirkung der
Leber und der Lunge auf gewisse Gifte ist seit den Arbeiten von
Roget wohlbekannt. Ebenso jene des Gehirns und anderer Organe
auf dieselben. Die Methode der Verfasser besteht in der Extraction
des Organs eines eben getödteten Thieres, in der Verreibung einer
stets gleichen Quantität dieses Organs und Vermischung mit' einer
stets gleichen Lösung des Giftes, ferner in der Filtrirung der
Mischung durch eine sterilisirte Compresse, worauf man diese
Meerschweinchen einspritzt, während anderen Meerschweinchen die
Giftlösung allein injicirt wird. Die Giftdosis ist auf 100 g des
Thieres berechnet. Versucht wurden Strychnin, Morphin, Atropin,
arsenige Säure. Diese Versuche beweisen, dass verschiedene Organe
gegenüber verschiedenen Giften eine hemmende oder erregende
oder gar keine Wirkung ausüben können. Leber und Niere neutra¬
leren alle angewendeten Gifte constant, besonders das Strychnin.
Das Muskelgewebe neutralisirt sehr stark das Strychnin, weniger
Morphin und Atropin, steigert jedoch die Giftigkeit des Arseniks.
Die Lunge hemmt besonders das Atropin, schwächer Strychnin
und Morphin, ohne Wirkung auf Arsenik. Das Gehirn neutralisirt
Strychnin und Morphin, steigert beträchtlich die Wirkung des
Arseniks; auf Atropin ohne Wirkung. — - (La Medicine Moderne.
1. August 1900, Nr. 52.) Sp.
*
388. Ein Fall von Erstickung in Folge vonVer-
schlucken eines Schnullers. Von L o r e n t z. Der Fremd¬
körper, welcher unterhalb der Epiglottis sass, bestand aus dem
Kork einer Bierflasche, über den ein gewöhnliches Gummisaug¬
hütchen befestigt war. Obwohl die Extraction leicht gelang, konnte
das Kind, da zu viel Zeit verflossen war, nicht mehr gerettet
werden. — (Petersburger medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 29.)
Pi.
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Ernannt: Der mit dem Titel und Charakter eines Ober¬
bezirksarztes bekleidete Bezirksarzt in Scheibbs Dr. Josef N owak
zum Director des Kaiserin Elisabeth-Spitales in Wien. — Prof. Rosen¬
bach in Göttingen zum Geheimen Medicinalrath. — Dr. O. W anscher
in Kopenhagen zum a. o. Professor der Chirurgie.
*
Verliehen: Den städtischen Aerzten erster Classe in Wien
der Titel von städtischen Oberärzten. — Dem Regimentsarzte Dr. Franz
Heiek in Agram das Ritterkreuz des Franz Josef-Ordens, sowie der
Ausdruck der Allerhöchsten Zufriedenheit. — Den Privatdocenten
Dr. B e n e k e und Dr. Aschoff in Göttingen das Prädicat Professor.
*
Gestorben : Regierungsrath Dr. Karl Denar ovski,
Landes-Sanitätsreferent in Czernowitz. — Der Professor der Ohren¬
heilkunde in Strassburg Dr. A. Kuhn.
¥T
Das k. k. Ministerium für Cultus und Unterricht hat mit dem
Erlasse vom 19. Juli 1900, Z. 17890, genehmigt, dass die Privat-
docanten Dr. Karl Fieber, Dr. Karl Kunn, Prof. Dr. Emil
Redlich, Dr. Hermann Schlesinger, Dr. Emil Schwarz,
Dr. Gustav Singer und Dr. Ladislaus v. Vajda Vorlesungen
und Curse am Kaiser Franz Josef- Ambulatorium in Wien abhalten.
*
Dr. Albrecht Bar sis bat Wien nach zehnjähriger ärztlicher
Thätigkeit aus Gesundheitsrücksichten verlassen und im Wintercurorte
Meran ein Institut für Heilgymnastik, Massage und Orthopädie
errichtet, in welchem auch die Uebungsbehandlung der Tabes nach
Frenkel-Leyden mit besonderer Sorgfalt gepflegt wird.
*
Der „Atlas der topographischen Anatomie des
Menschen“, herausgegeben bei G. F i-s c h e r in Jena von v. B a r d e-
leben, Haeckel und Frohse, ist in zweiter Auflage erschienen.
Gegenüber der ersten Auflage ist, abgesehen von der \ ergrösserung
des Formates, eine Vermehrung der Abbildungen um 42 ganz neue,
sowie ein Ersatz von 55 alten Abbildungen durch neue zu erwähnen.
Eine besonders grosse Anzahl dieser Abbildungen wurden mit Rück¬
sicht auf jene Körpergegenden eingereiht, deren pathologische Zustände
jetzt dem Grenzgebiete der internen Medicin und Chirurgie zugezählt
werden und deren topographische Anatomie daher auch für jeden
Praktiker das grösste Interesse bietet.
♦
Wie die „Wiener Zeitung“ mittheilt, gelangt mit 1. October eine
mit Allerhöchster Genehmigung neu begründete militär ärztliche
Applicationsschule zur Aufstellung, welche in erster Linie
den Zweck hat, den Aspiranten des militärärztlichen Officierscorps die
für ihre besondere Berufsthätigkeit im Frieden und im Kriege er¬
forderliche theoretische und praktische Ausbildung zu geben und
deren an der Universität erworbenen sachlichen Kenntnisse zu er¬
weitern. Auch sollen an dieser aus einem einjährigen Curse bestehenden,
mit dem Garnisonsspitale Nr. 1 örtlich vereinten Schule jüngere active
Militärärzte theilnehmen. Alle Aspiranten für den Berufsstand des
militärärztlichen Officierscorps sind ordentliche Hörer der Applications¬
schule, an welcher sie auch nach Ernennung zu Berufs-Oberärzten
(im Stande des Garnisonsspitales Nr. 1) belassen werden, bis sie den
ganzen Curs frequentirt haben. Alle Bewerber für den militärärztlichen
Berufsstand werden als ordentliche Hörer aufgenommen, wenn die
Bewilligung des Reichs -Kriegsministeriums erfolgt. Als ausserordentliche
Hörer können solche Berufs-Oberärzte und rangsjüngere Regiments¬
ärzte bestimmt werden, welche die Schule noch nicht absolvirt haben
oder eine Vervollständigung ihrer fachtechnischen Kenntnisse anstreben.
Zum Commandanten dieser militärärztlichen Applicationsschule wurde
Oberstabsarzt Dr. Florian Kratschmer ernannt.
*
A u 8 dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er-
w e i t e r t e n G e'm e i n d e gebiete. 37. Jahreswoche (vom 9. September
bis 15. September 1900). Lebend geboren: ehelich 471, unehelich 236, zusammen
707. Todt geboren: ehelich 31, unehelich 26, zusammen 57. Gesammtzahl
der Todesfälle 527 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
16-5 Todesfälle), darunter an Tuberculose 89, Blattern 0, Masern 2,
Scharlach 4, Diphtherie und Croup 6, Pertussis 2, Typhus . abdominalis 1,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 2, Cholera 0, Puerperalfieber 1, Neu¬
bildungen 36. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
5 (_ 4)t Masern 47 (— 10), Scharlach 42 (-j- 12), Typbus abdominalis
17 (-f- 10), Typbus exanthematicus 0 (=), Erysipel 16 ( — 2), Croup und
Diphtherie 45 (+8),. Pertussis 22 ( — 1), Dysenterie 0 ( — 1), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 1 ( — 2), Trachom 2 ( — 1), Influenza 0 (=)•
Von der Bibliothek.
Nachstehende Werke wurden seit 21. Juni 1900 (siehe
Nr. 25, 1900 der »Wiener klinischen Wochenschrift«) von
dem Gefertigten für die Bibliothek der k. k. Gesellschaft
der Aerzte in Empfang genommen:
ISTr. 2.
Geschenke :
Adler H. und A. Kronfeld, Medicinische Chronik des XIX. Jahrhunderts.
Wien 1900. 8°. Von den Autoren.
Buxbaum B., Lehrbuch der Hydrotherapie. Leipzig 1900. 8°. Vom
Autor.
Cinquantenaire de la Societe de Biologie. Volume Jubilaire publie parla
Societe. Paris 1899. 8°. Von der k. und k. Botschaft in Paris.
Duhamel Josef, Ueber die Erweiterung der Flexura sigmoidea coli,
insbesondere die angeborene Erweiterung. Inaugural-Dissertation
Strassburg 1899. 8°. Vom Autor.
Fellner Leopold, Franzensbad und seine Heilmittel Zweite Auflage. Wien
und Leipzig 1900. 8°. Vom Airtor.
Finkei L. und St. Starzynski, Historya Universytetu Lwowskiego. Lwow
1894. 8°. Von Herrn Hofrath Prof. Chrobak.
Graetz L-, Die Elektricität und ihre Anwendungen. Fünfte Auflage. Stuttgart
1895. 8°. Von Herrn Dr. Max Weiss.
Jolles Adolf, Ueber die Reaction des Bilirubins mit Jod und Chloroform.
Separatabdruck. Leipzig 1899. 8°. Vom Autor.
Jolles Adolf, Beiträge zur Kenntniss der Purinbasen. Separatabdruck.
Leipzig 1900. 8n. Vom Autor.
Läufer Heinrich, Beiträge zur Kenntniss der tibetischen Medicin. Berlin
1900. 8°. Vom Autor.
Monografia intorno alia fondazione e allo sviluppo del pio istituto di
nnituo soccorso fra i medici e i chirurghi della citta e provincia di
Bologna. Bologna 1900. 4°. Von Herrn Dr. Galatti.
Montandon G., Contributo all’ istologia della glandola tiroide nei vertebrati.
Napoli. 1891. 8°. Separatabdruck. Vom Autor.
Neuburger Max, Die Anschauungen über den Mechanismus der specitiselien
Ernährung. Leipzig und Wien 1900. 8n. Vom Autor.
Paris-Medical assistance et enseignement. (XIII. Congres international de
Medecine.) Paris 1900. 8°. Von Herrn Prof. Lang.
Stations Hydro-Mineraies Climateriques et Maritimes de la France.
(XIII. Congres international de Medecine. Paris 1900.) Paris 1900.
8°. Von Herrn Prof. Lang.
Pontoni Luifli, Considerazioni del circa le tre proposte della giunta pro¬
vincial di Gorizia sulla questione del Manicomio Gorizia. 1900. 8".
Von St-. Excellenz Dr. v. Scherze r.
Contributions from the William Pepper Laboratory of Clinical
Medicine. (University of Pennsylvania.) Philadelphia 1900. 4". Von
der University of Pennsylvania.
Die Gemeindeverwaltung der Stadt Wien im Jahre 1897. Bericht des
Bürgermeisters Dr. Karl Lueger. Wien 1900. 8". Vom Bürger¬
meister Dr. K a r 1 L u e g e r.
918
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 40
Norges officielle Statistik, Tredie Raekke Nr. 331. Oversigt over
Sindssygeasylernes Virksomhed i aaret 1898. Kristiania 1900. 8°. Vom
Medicinaldirector.
Sbornik Klinicky, öasopis pro pöstovani v£dy lekarske. V Praze 1900.
Vol. I. Von Herrn Prof. May dl.
Bericht des niederösterreichischen Landesausschusses über seine Amts-
wirksamkeit vom Juli 1898 bis 30. Juni 1899. VI. Gesundheitswesen,
Landes- Wohlthätigkeitsanstalten etc. Wien 1899. 8n. Vom nieder-
österreichischen Landesausschusse.
General-Bericht, Einundzwanzigster, der österreichischen Gesellschaft vom
Rothen Kreuze. Wien 1900. 8". Von der Gesellschaft vom Rothen
Kreuze.
Bullettino della Reale accademia Medica di Roma. Anno XXV. Roma
1899. 8n. Von der Accademia Medica di Roma.
Geneeskundig Tijdschrift voor Nederländsch-Jndie. Deel XXXIX. Batavia
1899. 8n. Von Sr. Excellent Dr. v. Scherze r.
Mittheilungen aus der me dicinischen Facultät der kaiserlich japanischen
Universität zu Tokio. IV. 1899. Tokio 1899. Von der medicinischen
Facultät zu Tokio.
Sanitäts-Bericht des österreichischen Küstenlandes für die Jahre 1895
bis 1897. Triest 1899. 4n. Vom k. k. Landes-Sanitätsrathe in
Triest.
*
An gekauft:
Preyer W , Die Seele des Kindes. Fünfte Auflage. Leipzig 1900. 8°.
Encyklopädie der Haut- und Geschlechtskrankheiten. Leipzig 1900. 8".
Hertwig Oskar, Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen und
der Wirbelthiere. Sechste Auflage. Jena 1898. 8°.
Vogl A. E. V., Bematzik - Vogl, Lehrbuch der Arzneimittellehre. Dritte,
neu bearbeitete Auflage. Berlin und Wien 1900. 8°.
Vierordt H.. A natomische, physiologische und physikalische Daten und
Tabellen. Zweite vollständig umgearbeitete Auflage. Jena 1893. 8'*.
Robert R., Lehrbuch der Intoxicationen. Stuttgart 1893. 8°.
The American Journal of Physiology. Edited from the American Physiological
Society. Boston 1900 flr. 8".
Würzburger Abhandlungen aus dem Gesammtgebiete der praktischen
Medicin. Herausgegeben von Dr. J oh. Müller und Prof. Dr. O.
Seifert. Würzburg 1900 ff.
Biographisches Lexikon hervorragender Aerzte des neunzehnten Jahr¬
hunderts. Herausgegeben von Prof. Dr. J. Page 1. Berlin und
Wien 1900. 8".
*
Neue Tau sch exemplars:
Revue de Medec’me. Redact. L. Landouzy et R. Le pin. Paris 1900 ff.
Revue de Chirurgie. Redact. M. F. Perrier. Paris 1900 ff.
University Medical Magazine. Published under the auspices of the
University of Pennsylvania. Edit. Ch. H. Frazier, M. D Phila¬
delphia 1900 ff.
Zeitschrift für praktische Aerzte. Redaction: Dr. Honigmann.
München 1900 ff.
Wien, im October 1900. Unger.
Bei der Redaction eingelangte Bücher.
(Mit Vorbehalt weiterer Besprechung.)
Penzoldt, Lehrbuch der klinischen Arzneibehandlung. 5. Auflage. Fischer,
Jena, Preis M. 7.50.
Sclieube, Die Krankheiten der warmen Länder, 2. Auflage. Ibidem.
661 S.
Marc, Wildungen und seine Quellen. Pusch, Wildungen. Preis M. 0'50.
Staerkle, Ein Beitrag zur Therapie der Netzhautablösung. Inaugural-Disser¬
tation. Riehm, Basel.
Monti. Keuchhusten, Influenza, Mumps, typhöse Erkrankungen. (Kinderheil¬
kunde in Einzeldarstellungen.) Urban & Schwarzenberg, Wien
Preis M. 2.50.
Schneidemtilll, Die animalischen Nahrungsmittel. 1. und 2. Abtheilung.
Ibidem. Preis ä M. 4-80.
\ ogl, Bernatzik-V ogl’s Lehrbuch der Arzneimittellehre. 2 und
3. Abtheilung. Ibidem. Preis ä M. 7. — .
Kahane, Die Chlorose. Ibidem. 168 S.
Altiliann, Aerztliche Ehrengerichte in Preussen. Müller, Berlin. Preis
M. 2.40.
Altschul, Hypnotismus und Suggestion, llaerpfer, Prag. 70 S.
(’olinheiin. Chemie der Eiweisskörper. Vieweg, Braunschweig. Preis
Schwalbe, Untersuchungen zur Blutgerinnung. Ibidem. Preis M. 2‘50.
Zuckcrkaildl, Atlas der topographischen Anatomie des Menschen, lieft 2.
Brust. Braumüller, Wien.
Frisch. Les maladies de la prostate. Miot, Liege.
Bardeleben und Haeckel, Atlas der topographischen Anatomie des
Menschen. 2. Auflage. Fischer, Jena 1901.
Bing, Die Prophylaxe in der Ohrenheilkunde. Seitz & Schauer, München.
Preis M. 1.—.
Flatau, Die Prophylaxe bei Hals- und Nasenkrankheiten. Ibidem. Preis
M. 1.50.
Windscheid, Die Prophylaxe in der Nervenheilkunde Ibidem. Preis
M. 1.50.
Danziger, Die Entstehung und Ursache der Taubstummheit. Alf, Frankfurt.
Preis M. 4. — .
Frankl, Beiträge zur Lehre vom Descensus testiculorum. (Akademie der
Wissenschaften.) Gerold, Wien.
Dtims, Handbuch der Militärkrankheiten. Bd. III. Georgi, Leipzig. Preis
M. 12-50.
Räuber. Der Ueberschuss an Knabengeburten und seine biologische Be¬
deutung. Ibidem. M. 5. — .
Kl’önig und Bluinberg. Beiträge zur Händedesinfection. Ibidem. Preis
M. — -80.
Kayser. Anleitung zur Diagnose und Therapie der Kehlkopf-, Nasen- und
Ohrenkrankheiten. Karger, Berlin 1901. Preis M. 4. — .
Seitz. Kurzgefasstes Lehrbuch der Kinderheilkunde. 2. Auflage. Ibidem.
Preis M. 10.80.
Freie Mellen*.
Sali nenarztes stelle. Bei der k. k. Salinenverwaltung in
Hallein gelangt die Stelle eines Salinenarztes zweiter Kategorie mit dem
Dienstorte Diirrnberg zur Besetzung. Mit dieser Stelle ist die Verpflichtung
zur Ausübung des ärztlichen Dienstes in dem die Ortschaften Dürrnberg,
Fischpointleiten, Kranzbichl, Plaik, Winterstall, Au (Ober- und Unterau),
Scheffau, Schellenberg und Resten umfassenden Cui bezirke der k. k. Salinen¬
verwaltung in Hallein unter Beobachtung der hiefür vom k. k. Finanz¬
ministerium erlassenen Instructionen verbunden. Diese Instruction, sowie die
sonstigen Bestimmungen über die Ausübung des ärztlichen Dienstes bei den
k. k. Salinenverwaltungen können bei diesen letzteren, sowie auch bei dem
k. k. Finanzministerium in Wien eingesehen werden. Mit der Stelle eines
Salinenarztes zweiter Kategorie ist der Anspruch auf ein Jahreshonorar im
Ausmasse des Gehaltes eines Civilstaatsbeamten der X. Rangsclasse, das ist
im Betrage von 2200 K, einschliesslich der Quadriennien und Dienstalter s-
Personalzulagen, jedoch ohne die den Civilstaatsbeamten zustehende Activi-
tätszulage, verbunden. Ausser dem vorbezeichneten Honorar bezieht der
Salinenarzt zweiter Kategorie bei der k. k. Salinenverwaltung in Hallein
noch ein Fuhren- (Fahrgeld-)Pauschale jährlicher 700 K ab aerario, dann
Brennmaterial um ermässigten Preis und ein Salzdeputat nach den für die
Salinenbeamten der entsprechenden Rangsclasse geltenden Bestimmungen.
Hinsichtlich der Versorgungsgenüsse weiden die Salinenärzte und deren
Familien nach dem Gesetze vom 14. Mai 1896, R. G. Bl. Nr. 74, gleich
den Civilstaatsbeamten auf Grund ihrer staatlichen Bezüge, bezie¬
hungsweise der gesetzlich rormirten Ausmasse gegen die Verpflichtung
zur Zahlung des im § 15 dieses Gesetzes normirten Jahresbeitrages von
3°/„ des jährlichen Honorars behandelt. Für den Fall, als das Vertrags-
verhältniss ohne Verschulden des Salinenarztes von Seite des Staates gelöst
werden und dem Arzte ein Anspruch auf eine Ruhegebühr noch nicht zu¬
kommen sollte, wird ihm die Zurückstellung der eingezahlten 3"/0igen Jahres¬
beiträge ohne Ersatz der Zinsen zugesichert. Das Vertragsverhältniss, auf
welchem die Bestellung eines Salinenarztes durch den Staat erfolgt, ist von
beiden Theilen mit dreimonatlicher Fiist kündbar. Das Finanzministerium
behält sich jedoch das Recht vor, falls der Salinenarzt sich eines der im
§ 41 der Instruction angeführten Delicte schuldig macht, sofort denselben
des Dienstes zu entheben und dessen Bezüge einzustellen. Bewerber
um die ausgeschriebene Stelle, welche Doctoren der Medicin, Chirurgie und Ge¬
burtshilfe, beziehungsweise Doctoren der gesammten Heilkunde sein müssen,
haben ihre vorschriftsmässig gestempelten und belegten Gesuche bis läng¬
stens 14. October 1900 bei der gefertigten k. k. Salinenverwaltung zu
überreichen. Diesen Gesuchen muss insbesondere angeschlossen sein:
l. die Altersnach Weisung; 2. der Nachweis über den erlangten Doctorgrad;
3. über die Staatsangehörigkeit und 4. über das untadelhafte staatsbür¬
gerliche Verhalten; 5. ein amtsärztliches Zeugniss über die physische
Eignung; 6. ein Nachweis der bisher zurückgelegten ärztlichen Thätigkeit.
ln dem Gesuche haben die Bewerber auch anzugeben, ob sie in der Lage
sind, nach Verständigung über die erfolgte Verleihung der Salinenarztes¬
stelle ihren Dienst sofort anzutreten oder binnen welcher Frist dies zu¬
versichtlich geschehen kann. Bewerber, welche eine besondere Ausbildung
in der operativen Chirurgie und Geburtshilfe nachzuweisen im Stande sind,
erhalten den Vorzug vor anderen. K. k. Salinenverwaltung Hallein, am
19. September 1900.
Bei der Bezirk skrankencasse in Neuhaus in Böhmen
gelangt vom 1. November 1900 die Stelle eines Cassearztes für die Stadt
Neubistritz und Umgebung mit einem Jahresgehalte von 1200 K, nebst
120 K Wagenpauschale zur Besetzung und ist dort auch Aussicht auf eine
lohnende Privatpraxis vorhanden, da in dieser Stadt nur noch ein Districts-
arzt domicilirt. Gesuche sind bis 20. October 1. J. an den Obmann der
Bezirkskrankenoasse, Sigmund Singe r, Fabrikanten in Neuhaus, zu
richten.
Ah die |». t. der k. k. {«esellselialt
der Aerzte in Wien.
Die Mitglieder-Beitriige fiii* tins Jahr 11)00, welche
bis 15. October noch ausständig sein sollten, werden
nach diesem Termin zuzüglich der Portoauslagen mittelst
Postauftrag eingehoben werden.
Wien, 27. September 1900.
Da* Präsidium
der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
IiTI'Pi— Ifdliyiitfil ilF'HuBt iWH WiULIII'
Nr. 40
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
919
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften
und Congressberichte.
USJ'IK.A.ll.T :
72 Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Aachen 1900. | 13. Internationaler medicinischer Congress zu Paris. (2. -9. August
Sitzung am 18. September. | 1900.) (Fortsetzung.)
72. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in
Aachen 1900.
(Fortsetzung.)
Gemeinschaftliche Sitzung der Abtheilungen für
pathologische Anatomie, innere Medicin, Chirurgie,
Kinderheilkunde und Hygiene am 18. September,
Vormittags 9 Uhr.
Vorsitzender: Heubner (Berlin).
I. Ponfick (Breslau): Ueber die Beziehungen
zwischen Scrophulose und Tuberculose.
Das Wort Scrophulose wird immer seltener gehört, seitdem es
gelang, durch Einimpfung scrophulöser Bestandtheile genau dieselben
Erscheinungen hervorzurufen, wie durch Impfung tuberculöser Theile.
Dies ist seit 1884 in vielen wiederholten Versuchen immer wieder
bestätigt worden. Die unversehrte Haut leistet gegen das Eindringen
der Tuberkelbacillen grossen Widerstand, dagegen können kleine, oft
unbeachtete Wunden und Hautentzündungen Eingangspforten werden
für lupöse Erkrankungen der Haut und seropliulöse Erkrankungen der
Lymphdrüsen, besonders bei Kindern. An die rituelle Beschneidung
Neugeborener schloss sich oft tuberculose Schwellung und Verkäsung
der Leistendrüsen, sogar Miliartuberculose an; stets war dann der
Nachweis möglich, dass der die Beschneidung Vornehmende an Tuber¬
culose der Lunge litt. Die Schleimhäute lassen sogar in unverletztem
Zustande Tuberkelbacillen durch. Bei sonst anscheinend gesunden
Kindern finden sich oft chronische Hautentzündungen oder Drüsen¬
schwellungen, also das, was sonst als Scrophulose bezeichnet wird. Bei
diesen Erkrankungen hat man stets Tuberkelbacillen oder Staphylo-
und Streptococcen nachweisen können. Es kommen aber auch Misch-
infectionen vor. Wiederholt ist der Nachweis gelungen, dass zu
rein serös-eiterigen Entzündungen später eine tuberculose Infection
hinzutrat, wofür Redner mehrere sehr deutliche Fälle anführte. Die
Schleimhäute sind für die Aufnahme von Infectionsstoffen viel empfäng¬
licher, als die Haut. An vielen Stellen sind sie schon von Natur ge-
wulstet (Mandeln, Nasenschleimhaut).
Diese Wulstung nimmt bei entzündlichen Processen stark zu und
bietet dann leicht Eingangspforten für Bacillen, zumal mit der Wulstung
stets eine Lockerung verbunden ist. Nach Ponfick ist die Scrophu¬
lose also anzusehen entweder als eine Entzündung durch Eitererreger,
oder als eine Entzündung durch Tuberkelbacillen, oder als Entzündung
durch beide (Mischinfection).
Die Kinder besitzen eine grössere Aufnahmefähigkeit für fremde
Einflüsse als Erwachsene. Die Gewebe sind saftreicher; die Zwischen¬
substanz ist reich mit Lymphe durchtränkt. Hier treten leicht Lymph¬
stauungen ein und hier können Bacterien sich leicht festsetzen und
weiter wuchern. Es ist also kein Wunder, dass gerade Kinder öfters
von diesen Krankheitserregern heimgesucht werden und dass die Scro¬
phulose eine Kinderkrankheit ist.
Ob der Begriff Scrophulose noch als eine besondere Kraukheits-
form aufzufassen sei, betrachtet Ponfick bei dem heutigen Stande
der Forschungen als eine durchaus offene Frage.
II. Fee r (Basel) : Prophylaxe der Tuberculose im
Kindesalter.
In der Prophylaxe liegt der Schwerpunkt des Kampfes gegen
die Tuberculose. Je jünger ein Kind ist, um so grösser ist die Gefahr,
dass es an Tuberculose erkranken kann. Wie ist nun Tuberculose des
Kindes zu verhüten? Zunächst soll der Arzt vor Heiraten zwischen
Tuberculösen dringend warnen. Tuberculösen Eltern ist vorzuhalten,
dass Tuberculose nicht erblich, aber dass ihre Kinder leicht an Tuber¬
culose erkranken. Kinder soll man nicht mit Tuberculösen verkehren
lassen. Der Körper ist gesund zu halten und zu stärken. Es ist für
bessere Wohnungen zu sorgen mit hellen, luftigen, sonnigen Zimmern.
Ueberfüllung der Wohnräume, dumpfe Luft und Unreinlichkeit be¬
günstigen die Infection. Die Mutter soll sich ganz den Kindern widmen.
Es muss eine Hauptaufgabe der socialen Gesetzgebung sein, der Mutter
die Theilnahme am Broterwerb zu ersparen. Grösste Reinlichkeit ist
noting, öfteres Waschen und Baden der Kinder, häufige Mundreinigung;
das Küssen ist zu verwerfen, ebenso der Gebrauch von Lutschern. Bei
älteren Kindern ist Zahnpflege sehr wichtig. Fingerlutschen, Nasen¬
bohren sind zu verhindern. Jedes Kind soll ein besonderes Taschen¬
tuch haben. Die Kinder sind dahin zu belehren, dass sie nur durch
die Nase athmen. Behinderte Nasenathmung begünstigt Auftreten von
Rachen-, Hals- und Nasenkatarrhen, während gesunde Schleimhäute
der Respirationswege bestes Verhinderungsmittel gegen Infection sind.
Teppiche und Polstermöbel sind aus der Umgebung der Kinder zu
verbannen. Kinder sollen nicht auf der Erde herumkriechen, weil sie
dort leicht Staub einathmen und Gesicht, Finger und Spielzeug leicht
beschmutzen. Bei Familien, in welchen Tuberculose vorkommt, ist
noch viel mehr Vorsicht nöthig. Jeder Tuberculose soll ein besonderes
Zimmer für sich haben. Noch besser wäre Unterbringung in eine Heil¬
anstalt. Es ist für kräftige, ausgiebige Ernährung zu sorgen. Milch
soll nur in gekochtem Zustande getrunken werden. Jedenfalls ist aber
die Infection durch Nahrungsmittel sehr viel seltener, als Infection
durch Eingang im Wege der Schleimhäute der Athemwege. Viel Be¬
wegung im Freien ist sehr zu empfehlen. Gut geleitete Kinderkrippen
mit Gärten für kleine Kinder, Feriencolonien für Schulkinder sind in
grossen Städten sehr nützlich. Redner empfiehlt auch die sogenannten
Halbcolonien: die Schulkinder werden von Lehrpersonen an schönen
Tagen ins Freie geführt, wo sie dann stundenlang sich herumtummeln
können. See- und Soolbäder stärken die Gesundheit der Kinder sehr
und sind daher prophylaktisch zu empfehlen. Feer empfiehlt die
Errichtung von Kinderheilstätten, wie eine solche die Stadt Basel in
schöner waldiger Gegend angelegt hat. Dort werden kranke, anämische
Kinder, auch solche mit Katarrhen, aufgenommen und durch steten
Aufenthalt in frischer Luft bei guter Pflege bald wieder gesund. Aus¬
geschlossen von der Aufnahme sind Kinder mit deutlicher Tuberculose.
Keuchhustenkranke Kinder bedürfen besonderer Sorgfalt. Die Zimmer
von offen tuberculös Erkrankten sollten von staatswegen kostenfrei,
aber obligatorisch desinficirt werden.
Die Durchführung des Verbotes des Ausspuckens in Zimmern
und Räumen, die dem öffentlichen Verkehr dienen, wie Schulen,
Kirchen, Versammlungslocalen jeder Art, Wirthshäusern, würde sehr
heilsam sein, ist aber schwer zu erreichen. Dagegen sollten in solchen
Räumen stets Spucknäpfe aufgestellt werden. Eine Verminderung der
Kindertuberculose lässt sich aber nur ermöglichen durch Verminderung
der Tuberculose der Erwachsenen. Eine Belehrung aller Bevölkerungs¬
schichten durch Schriften und besonders durch geeignete Lehrpersonen
in allen Schulen ist hiezu dringend anzurathen.
Kurz gesagt, sind fleissiger Gebrauch von Sonne, Luft, Wasser
oder mit anderen Worten viel Körperbewegung im Freien und grösste
Reinlichkeit die wichtigsten Hilfsmittel, um die Kinder vor der Tuber¬
culose zu bewahren.
*
II. S i t z u n g am 18. September, Nachmittags 3 Uhr.
Vorsitzender: Robert (Rostock).
I. Eulenburg (Berlin) : Ueber gonorrhoische
Nervenerkrankungen.
Die Gonorrhoe hat mancherlei Erkrankungen im Gefolge; die
wichtigsten sind Arthritis und Endocarditis. Die gonorrhoischen Nerven¬
erkrankungen sind zunächst functioneller Art und entwickeln sich
bei chronisch gonorrhoisch Erkrankten als allgemeine Neurasthenie
oder als sexuale Neurasthenie. Dann gibt es hauptsächlich drei Formen
von localen Nervenerkrankungen, die auf Gonorrhoe beruhen :
1. Neuralgien, 2. Muskelatrophien und -Lähmungen, 3. Neuritis und
Myelitis.
Redner berichtet über 14 Fälle aus seiner Privatpraxis aus den
letzten zwei Jahren (er hat nur Männer berücksichtigt). Davon waren
neun Falle von Neuralgie; vier Lähmungen und Atrophien und eine
Myelitis. Von den neun Neuralgien betrafen acht das Gebiet^ des
N. ischiadicus. Meist waren andere benachbarte Nerven mit atficirt.
Naturgemäss erkrankten meist Männer von 20 — 40 Jahren. Die Er¬
krankung war theils einseitig, theils doppelseitig. Die Nerveneikian-
kung trat meist zwei bis sieben Monate nach der gonorrhoischen In¬
fection auf. Die Atrophien entstanden im Anschluss an gonorrhoische
Gelenkserkrankungen. Die Therapie ist die allgemeine Iherapie gegen
Gonorrhoe. Redner sah besonders gute Erfolge von subcutanen Jodipin-
injectionen.
920
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 40
II. Rumpf (Hamburg): Eiweissumsatz und Zucker¬
ausscheidung.
Rumpf ist mit seinen Schülern G r u n o w, Hartogh und
Schümm neuerdings der Frage näher getreten, ob beim Phlorhidzin-
Diabetes eine Bildung von Zucker aus Fett wahrscheinlich ist. Be¬
kanntlich hat Minkowsky gefunden, dass beim Pankreas Diabetes
und reiner Fleischnahrung die Menge des ausgeschiedenen Zuckers
zum Stickstoff sich etwa wie 2'8 : 1 verhält. Mancherlei theoretische
Erwägungen lassen es allerdings möglich erscheinen, dass aus 110 g
Eiweiss etwa 113 g Dextrose entstehen können, so dass auf 1 g Stick¬
stoff im Harne etwa 6 — 7 g Dextrose kommen. Indessen wird diese
Anschauung von Kos sei nicht getheilt, so dass Müller und
Seemann zu der Erklärung des Auftretens grösserer Zuckermengen
sich der hypothetischen Anschauung zuwenden, dass der Zucker,
welcher sich beim Diabetes aus Eiweiss bildet, nicht als solcher prä-
formirt im Eiweissmoleciil vorgebildet ist, sondern sich nachträglich
bildet. Immerhin hat sich bei Phlorhidzinversuchen bis jetzt
höchstens ein Verhalten des Harnstickstoffes zum Zucker wie 1 : 4
ergeben.
In den Versuchen, über welche der Vortragende berichtet,
wurden grosse Hunde, bis zu 120 Pfund schwer, reichlich mit Fett
und geringen Mengen Eiweiss ernährt. Nachdem eine 10 — 14tägige
Vorperiode mit gleicher Ernährung und entsprechend angestrengter
Körperbewegung zur möglichsten Verbrennung des Glykogens voran¬
gegangen war, wurde unter langsamer Steigerung der • Dosis
mit der Phlorhidzineinfuhr begonnen. Auf diese Weise gelang es,
einen 120 Pfund schweren Hund 24 Tage am Leben zu erhalten.
Dabei stieg das Verhältniss des Zuckers zu N in der zweiten Periode
auf 44:1; gleichzeitig stieg aber auch die tägliche Stickstoff¬
ausscheidung von G-82 auf 20'94. In der dritten Periode ging trotz
der Steigerung der Phlorhidzindosis die Stickstoff- und Zucker¬
ausscheidung zurück. An Stelle von 20 g N finden sich nur 9 g und
an Stelle von 92 Zucker nur 58 g. Aber der Harnstickstoff verhielt
sich zum Harnzucker wie 1 : 6T. In der vierten Periode stellt sich
der ausgeschiedene Zucker zum Harnstickstoffe wie 8 9:1 und in der
fünften Periode fiel er wieder auf 4'4:1, ein Verhältniss, welches sich
möglicher Weise durch Beimengung von Eiter zum Urin erklärt. An
einem Tage der vierten Periode stellte sich der Stickstoff zum Zucker
sogar wie 1 : 12 T.
Da bei dem Hunde keine Nephritis bestand, welche die Zurück¬
haltung von Stickstoff erklären könnte, so ist also hier ein Verhältniss
von Stickstoff zum Zucker erreicht, welches die Entstehung des
Zuckers aus dem Ei tveissmolecül auszuschliessen scheint.
In einem weiteren Versuche wurde ausser dem Stickstoffe und
Zucker die Phosphor- und Schwefelsäureausscheidung bestimmt. Dabei
zeigte sich, dass mit dem Steigen der Stickstoffausscheidung keines¬
wegs eine entsprechende Steigerung der Phosphorsäure einherging, so
dass der Vortragende die Anschauung von Blumenthal nicht be¬
stätigen kann, nach welcher beim Diabetes ein besonderes phosphor¬
reiches Eiweiss zerfallt.
Rumpf ist der Meinung, dass sowohl beim Diabetes des
Menschen als beim Phlorhidzin-Diabetes zunächst das Eiweiss für die
Zuckerbildung in Anspruch genommen wird. Sobald aber der Körper
gezwungen ist, mit seinem Eiweiss sparsam umzugehen, müssen bei
kohlehydratfreier Kost andere Quellen für die Zuckerbildung heran¬
gezogen werden. Diese Quelle glaubt Vortragender einstweilen in dem
Fett sehen zu müssen.
III. A. Guttenberg ( W ürzburg) : U e b e r perineuriti-
s c h o Erkrankungen des P 1 e x it s sacralis und deren
Behandlung.
Redner hat an einer Anzahl von Kranken pathologische Ver¬
änderungen an den Kreuzbeinnerven constatirt in Verbindung mit
Symptomen, welche eine Reihe bisher der Hysterie zugeschriebener Er¬
scheinungen erklären.
Redner hat eine Anzahl von Kranken, hauptsächlich Frauen, im
Alter von 22 — 61 Jahren beobachtet, bei welchen er längs und auf
verschiedenen Aesten des Plexus sacralis strangförmige (rosenkranz-
ai tige) und solitäre Verdickungen durch die Palpation nachweisen
konnte. Die Grösse der einzelnen Prominenzen variirte von Erbsen-
bis Bohnengrösse. Die Consistenz war etwas derb, etwa hartem Brot¬
teig entsprechend. Aetiologisch kommen in Betracht Cystitis, chro¬
nischer Darmkatarrh, Menstruationsanomalien und Aehnliches. Die
Kranken hatten zum Tlieile an jahrelangen Beschwerden gelitten. In
den meisten Fällen klagten die Kranken über Druck und ziehende
Schmelzen im Kreuze und Rücken, zuweilen nach vorne gegen die
Symphyse ausstrahlend und in die Hüfte, sowie in die Oberschenkel,
oft auch bis zur Planta pedis. Die Kranken werden leicht reizbar’
neivüs, mangelnde Esslust führt zu Anämien 5 Frauen erwecken den
Eindruck von Hysterie.
Die Diagnose beruht abgesehen von den subjeetiven Symptomen
aut dem Nachweis der beschriebenen Verdickungen.
Die Palpation muss in verschiedenen Positionen (Rücken-,
Seiten-, Knieellenbogenlage und im Stehen) erfolgen.
Die Prognose ist im Allgemeinen günstig, selbst bei bejahrten
Kranken ist eine wesentliche Besserung zu erzielen.
Die Therapie besteht in einer tonisirenden Allgemein¬
behandlung, in localer Massage, daran anschliessenden passiven Be¬
wegungen, Bädern und Gymnastik. Bei älteren Kranken, bei welchen
man eventuell mit Sklerose der dem Plexus sacralis benachbarten Ge-
fässe zu rechnen hat, ersetzt man die Massage durch mehrmals täglich
wiederholte Wassereinläufe in das Rectum.
*
GemeinschaftlicheSitzungder medicinischen Haupt¬
gruppe. Mittwoch den 19. September, Vormittags
II — I1/2 Uhr.
Vorsitzender: Geheimrath Prof. Dr. v. Winckel (München).
I . V e r w o r n (Jena) : Das Neuron in Anatomie und
Physiologie.
II. Nissl (Heidelberg): Die Neuronlehre vom path o-
1 o g i s c h-a natomischen und klinischen Standpunkte.
Beide Vorträge eignen sich nicht zum Referat. (Jeder dauerte
fast l'/2 Stunden.)
*
Nachmittags 4 Uhr Fortsetzung der Sitzung.
III. Prof. W. K ruse (Bonn) : Ueber die Bedeutung
der Ruhr als Volkskrankheit und ihren Erreger, den
Ruhrbacillus.
In Deutschland kommt die Ruhr noch ziemlich häufig vor, aller¬
dings viel seltener als in den Jahren von 1870 — 1880. Während in
den östlichen Theilen des Deutschen Reiches noch Jahr für Jahr Ruhr¬
epidemien auftreten, ist die Ruhr im Westen seit 1880 selten vorge¬
kommen. 1892 trat sie im Kreise Gelsenkirchen auf (50 Fälle). Seit¬
dem nahm die Krankheit dort sehr zu. 1899 trat sie plötzlich mit
etwa 600 Fällen in Barmen auf; 1900 in Barmen und Ruhrort. Alle
befallenen Orte sind Industrie-Centren. Seit Juli 1900 hatte Redner
in Laar bei Ruhrort, wo plötzlich eine Ruhrepidemie auftrat, Ge¬
legenheit, die Krankheit eingehend im dortigen St. Josefs-Kranken¬
hause, in welchem sämmtliche Erkrankte Aufnahme fanden, zu
beobachten. Während man festgestellt hat, dass bei der ägyptischen
Ruhr meist Amöben die Ursache sind, war dies in Laar nicht der
Fall. Kruse fand nur in einem Falle Amöben, die man also nicht
als Erreger der Epidemie ansehen kann. In den Eiterpartikelchen
der Ruhrstühle fand nun Kruse in Zellen eingoschlossen zahlreiche
kurze Stäbchen. Wenn ein Eiterpartikelchen auf Gelatine ausgestrichen
wurde, entwickelten sich zahlreiche Bacillencolonien innerhalb
24 Stunden. Diese Bacillenculturen entwickeln auf zuckerhaltigen
Nährböden kein Gas; also sind diese Bacillen mit Colonbacterien in
keiner Weise verwandt. Angestellte Thierversuche blieben bisher ohne
Erfolg in Bezug auf Uebertragung der Krankheit. Aber bei Typhus-
und Cholerabacillen ist ja. dasselbe der Fall. Wie das Blutserum
Typhuskranker auf Typhusbacillen Reaction hervorruft, so auch Ruhr¬
blut auf die Ruhrbacillon. Das Blutserum Ruhrkranker agglutinirt
Ruhrbacillen. Bei Section von acht Ruhrleichen hat Kruse nur
einmal den Ruhrbacillus in den Darmgeschwüren gefunden, doch liegt
das wohl daran, dass die Ruhrkranken meist in der dritten Woche
sterben, wo der Krankheitsprocess im Darme schon fast ganz ab¬
gelaufen ist, also keine Bacillen mehr vorhanden sind; in dem einem
Falle war kurz vor dem Tode eine neue Eruption des diphtherischen
Krankheitsprocesses aufgetreten.
13. Internationaler medicinischer Congress zu Paris.
(2.-9. August 1900.)
(Fortsetzung).
Abtheilung der Colonien.
(Referent Dr. S p.)
(Fortsetzung.)
March ou x (Correferent): Die Ansichten der verschiedenen
Autoren, welche sich mit der Aetiologie des Anfalles von Hämo¬
globinurie beschäftigt haben, können in drei Gruppen eingetheilt
werden. Die Einen betrachten dieses Leiden als eine der Erscheinungen
des Paludismus, die Anderen sprechen demselben jeden Zusammen¬
hang mit der Malaria ab und betrachten dasselbe als eine besondere,
in gewissen Ländern endemische Affection; endlich ist bei der dritten
Gruppe die letztere das Resultat einer Chininvergiftung.
Wenn der hämoglobinurische Anfall nur durch den Sumpf-
einffuss bedingt wäre, so müsste man denselben in jener Periode, in
Nr. 40
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
921
welcher der Paludismus als acuter Zustand wüthet und wo die An¬
fälle schwerer, die Zahl der Befallenen grösser ist, am häufigsten an¬
treffen. Die Hämoglobinurie zeigt sich im Gegentlieile mit Vorliebe
nach der schlechten Jahreszeit, wo man nur das chronische, inter-
mittirende Fieber antrifft. Auch ist es unerklärlich, warum, wenn das
Hämatozoon das einzige Agens ist, dasselbe niemals im ersten Fieber-
anfalle die Hämoglobinurie hervorruft und warum man diese so selten
bei den Eingeborenen der afrikanischen Küste beobachtet, welche zu¬
weilen ebenso stark von der Seuche ergriffen sind wie die Europäer,
besonders in ihrem jungen Alter. Endlich, wenn der Parasit von
Lave.ran die unmittelbare Ursache der Hämoglobinurie wäre, müsste
man denselben im Blute der Kranken viel leichter an treffen.
Andere Beobachter wollen die fragliche Krankheit als etwas
Besonderes hinstellen, die sich blos in gewissen Küstenstrichen und
unter besonderen Einflüssen zeigt, und das Hämatozoon nicht als
Ursache gelten lassen. Sie stützen sich hauptsächlich auf zwei Beweise:
das Leiden kommt nicht in allen versumpften Ländern vor; das Chinin
ist bei dessen Behandlung ohne nützliche Wirkung (?). Y er sin hat
in den Urinen bei Hämoglobinurie einen Mikroben gefunden.
In Wahrheit zeigt sich die Hämoglobinurie nicht in allen
Sumpfgegenden, aber sie wurde überall dort signalisirt, wo der
Paludismus diese besonders schwere Form, die man in den Tropen
beobachtet, annimmt. Das afrikanische Land als dasjenige, wo die
Malaria mit grösster Heftigkeit wüthet, ist auch das, wo diese Affection
an häufigsten angetroffen wird. Aber man hat sie auch angezeigt auf
den Antillen, in Centralamerika, in Mexiko, Guyana, Brasilien, auf
den Hebriden, Sunda Inseln, in Tonking, Cochinchina, Birmanien und
Indien. Mau hat sie, wenn auch seltener, in Europa angetroffen: in
Sicilien, Italien, Griechenland, an den Ufern der Donau und im
Kaukasus. Der Mikrobe von Yersin wurde niemals wiedergesehen.
Nur zur Erinnerung erwähne ich gewisse Parasiten, welche gewisse
Autoren im Blute der Hämoglobinuriker beschrieben haben.
Die dritte Meinung ist sicher diejenige, welche dem Geiste am
meisten genügt und den Thatsachen am besten entspricht. Die Er¬
fahrungen von Tomaselli, Carreau, Yersin und Dumas
lassen über die Möglichkeit der Entstehung von Hämoglobinurie
keinen Zweifel.
Zwei Hauptgründe unter denen, welche verhindert haben, den
hämoglobinurischen Anfall im Allgemeinen dem Chinine zuzuschreiben,
sind die folgenden: 1. Die Kranken kommen oft ins Spital mit einer
bereits bestehenden Hämoglobinurie, und es ist immer schwierig, durch
Nachforschung die bestimmte Entstehung derselben zu erfahren.
2. Dass zuweilen reichlich behufs Behandlung verabfolgte Chinin ver¬
hinderte nicht die Heilung einer gewissen Zahl von Kranken.
Thatsächlich genügt das Chinin nicht, um Hämoglobinurie zu
erieugen. Es ist noch nothwendig, dass der Kranke im Allgemeinen
vorübergehende, zuweilen bleibende Läsionen babe, wTelche die toxische
Wirkung des Medicamentes begünstigen. Wiederholte und schlecht
besorgte Fieberanfälle sind die gewöhnlichste Ursache dieser Läsionen.
Und so erscheint nach einer mehr oder weniger langen Reihe von
Fieberanfällen die Hämoglobinurie eines Tages nach Verabreichung
einer Dosis Chinins.
Es sind also, so paradox auch ein solches Raisonnement er¬
scheinen mag, die besten prophylaktischen Mittel zur Verhütung von
Hämoglobinurie der präventive Gebrauch von Chinin und die rationelle
Behandlung der Fieberanfälle, wenn diese trotz Allem zum Ausbruck
kommen.
*
Abthei’lung für Dermatologie und Syphiligraphie.
Referent Dr. Sp.
I. Prof. Jadassohn (Bern) : Ueber den parasitären
Ursprung des Ekzems.
A. Die Definition des Begriffes „Ekzem“ wurde bisher auf
eine einzige positive Eigenschaft gegründet, nämlich auf die Ent¬
zündung der oberflächlichen Hautschichten, ausserdem auf mehrere
negative Zeichen, z. B. Fehlen einer klaren und einheitlichen Aetiologie,
einer typischen Entwicklung, eines besonderen pathologischen Processes.
Auch die Klinik konnte im Ekzem keine Efflorescenz nachweisen,
welche allseitig als specifisch erkannt worden wäre.
In Folge dieser Schwierigkeiten haben viele Autoren gewisse,
mehr ausgeprägte Krankheiten vom Ekzem getrennt, so das Eczema
marginatum und den Prurigo von II e b r a ; die chronische um¬
schriebene Neurodermatitis, die Impetigo contagiosa (Bock Aar dt),
das folliculäre Ekzem von Morris, die typischen Formen der
Seborrhoe von D u h r i n g, das Ekzema seborrhoicum von U n n a.
Die Frage des auf einer Diathese beruhenden Prurigo von
Besnier ist viel schwieriger zu lösen.
Bezüglich derDyshydrose findeich dieTrennung nicht gerechtfertigt-
Die künstlichen Dermatiden wurden wegen ihrer scheinbar ein¬
fachen Aetiologie ebenfalls getrennt.
Selbst nach Trennung dieser verschiedenen Krankheitstypen
bleibt noch immer eine sehr grosse Gruppe gewöhnlicher Ekzeme, auf
welche der Anspruch Walker’s anwendbar ist: „Das Ekzem ist der
gewöhnlich gebrauchte Ausdruck für jede Entzündung der feuchten
oder schuppigen Haut, deren Ursache oder Natur dem Beobachter
unbekannt ist“.
In Folge der Schwierigkeit, das Ekzem zu definiren, hat
Besnier den Ausdruck „Ekzematisation“ bestimmt und Török
die Ekzeme unter die Arten der Reaction gegen chemische und
thermische Reize eingereiht. Sabouraud hat statt des Ausdruckes
„Ekzematisation“ den viel präciseren „Impetiginisation“ gesetzt. Es
scheint mir vorlheilhafter, statt des zuletztgenannten Wortes die Be¬
zeichnung „locale Invasion gewöhnlicher Mikroben“ einzuführen,
welche in keiner Weise ihrer pathogenen Wirkung präjudicirt.
B. Die Frage des parasitären Ursprunges des Ekzems besteht
aus folgenden drei Theilfragen:
1. Gibt es ausser den obenerwähnten, von der Gruppe der Ek¬
zeme abgetrennten Krankheitsprocessen und ausser den gewöhnlichen
Infectionen noch Proeesse, welche mit gutem Rechte den Namen Ekzeme
(wahre Ekzeme) tragen?
2. Wenn es ähnliche Proeesse gibt, welche nicht durch die
gewöhnliche pyogene Infection entstanden sind, sind dieselben parasi¬
tären Ursprunges?
3. Sind die Mikroben, welche sich in der ekzematösen oder
impetiginösen Haut befinden, die Erzeuger dieser Proeesse?
Ad 1. Nach Scholz und Raab gibt es keine gewöhnlichen
Ekzeme ohne den Staphylococcus aureus. Andererseits geben
Sabouraud und Kreibich Ekzeme zu, welche durch die ge¬
wöhnliche pyogene Infection nicht hervorgerufen sind.
Ich will nicht leugnen, dass gewisse Kategorien der Krankheit
sich ohne die Wirkung der banalen pyogenen Mikroorganismen ent¬
wickeln können. Unsere eigenen Untersuchungen haben zur Klärung
dieser Frage nicht viel beigetragen, weil dieselbe durch lange Zeit auf
das Studium der Morococcen (U n n a) gerichtet waren. Wir konnten
bei gewöhnlichen Ekzemen eine sehr geringe Zahl weisser, die Gelatine
nicht verflüssigender Staphylococcen nachweisen, denen wir in diesem
Falle keine pathogenetische Rolle zuschreiben.
Wir konnten ebenfalls constatiren, dass einige dieser Efflore-
scenzen vollständig steril waren.
2. Die Frage nach der parasitären Natur bei jenen Ekzemen,
bei welchen die Abwesenheit eines pyogenen Mikroorganismus constatirt
wurde, ist weder durch die publicirten Arbeiten, noch durch die
Untersuchungen von Frederic geklärt worden. Entweder sind die
Ekzeme nicht parasitär, oder durch Mikroorganismen bedingt, deren
Anwesenheit bisher sich noch nicht nachweisen liess, oder endlich
durch Toxine entstanden, ohne dass deren Mikroorganismen in den
Efflorescenzen vorhanden sind.
3. Das Problem der parasitären Natur der Ekzematisation wäre
gelöst :
a) Durch Unna in dem Sinne, dass sie durch Morococcen
bedingt ist.
b) Nach Scholz und Raab ist der Staphylococcus aureus die
Hauptursache.
c) Nach Sabouraud ist die Impetiginisation eine Strepto¬
coccenkrankheit analog dem Impetigo von Tilbury Fox, oder von
Staphylococcen abstammend analog dem Impetigo von Bockhardt.
d) Nach Kreibich sind die ursprünglich nichtparasitären
Ekzeme secundär durch den Staphylococcus aureus albus und durch
die Streptococcen inficirt und in ihrer Entwicklung modificirt.
C. Indem ich mich auf die Untersuchungen Frederic’s stütze,
ist meine Ansicht derzeit, wie folgt :
1. Morococcen. Wir haben sehr häufig in den Präparaten
von Schuppen und Krusten nach der Methode von Unna die
typischen Anhäufungen von Morococcen gefunden ; die Aussaat in die
Kapseln von Petri ergab- Reinculturen von Staphylococcus aureus
oder albus oder aber eine Mischung beider.
Wir haben nur einmal Morococcen gesehen mit allen Charakteren
dieses Mikroben, welcher nur theil weise die Gelatine verflüssigte. Man
könnte denken, dass diese theilweise Verflüssigung durch Vermischung
der Culturen von Staphylococcus der Oberhaut und Staphylococcus
albus verursacht sei, aber alle weissen Staphylococcen (ausgenommen
den einzigen oben erwähnten Fall) verflüssigten entweder die ganze
Gelatine oder gar nicht ; es handelte sich daher um Coccen, welche
wir bis heute mit dem Staphylococcus albus oder epidermidis identi-
ficiren müssen.
Weder bei der Psoriasis, noch bei dem trockenen parasitären
Ekzeme konnten wir Morococcen finden.
2. Staphylococcen: Von diesen wurden drei Arten bei
Ekzemen gefunden: Staphylococcus epidermis non liquefaciens,
Staphylococcus albus pyogenes liquefaciens und Staphylococcus
aureus.
-tart^ggyr
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 40
922
Der erste ist von geringer Wichtigkeit, der Staphylococcus
aureus ist nach Scholz und Raab der specifisehe Mikrobe des
Ekzems (Ekzematisation); nach Sabouraud erzeugt er die
Impetiginisation (B o ck h a r d t).
Bei Aussaat in die P e t r i’schen Kapseln erhielten wir zumeist
Rcinculturen oder fast Reinculturen von Staphylococcus aureus, in
anderen Fällen Mischculturen von Staphylococcus aureus und albus,
oder endlich Reinculturen von Staphylococcus pyogenes albus.
3. Streptococcen. Seit Frederic sich der von S a b o u-
r a u d empfohlenen Culturmethode bedient, fand er in einer grossen
Zahl von feuchten Etl’lorescenzen jeder Art 55 7% und in 21 Fällen
von Ekzem im weitesten Sinne des Wortes 14mal Streptococcen.
Somit ist die sehrhäufige Anwesenheit vonStrepto-
coccen selbst in gewöhnlichen Processen eine e r-_
w i e s e n e Thatsache.
Man kann die Anwesenheit von Bacterien in grosser Quantität
bei der Mehrzahl der Ekzeme nicht leugnen. Nun könnte jemand über
die pathogenetische Rolle dieser Mikroorganismen skeptische Ein¬
wendungen machen. Viele Schriftsteller weiden die von Scholtz
und R a a b erzeugten Hautentzündungen nicht als Ekzeme gelten lassen:
andere werden behaupten, dass es sich um Reize, welche formirte
Toxine in den Culturen hervorgerufen haben, und nicht um Infectionen
handelte. Nicht bewiesen ist es, dass die Mikroorganismen in die Tiefe
gedrungen sind, denn K reib ich hat bei seinen Desinfections-
versuchen andere Resultate als Scholtz und Raab bekommen. Wir
konnten bei den mikroskopischen Schnitten in den Schleimhäuten
keine Coccen entdecken. Man muss aber die pathogenetische Wirkung
der Mikroorganismen, welche nur die oberflächlichsten Hautschichten
einnehmen, zugestehen.
Die beste Probe wäre diejenige, welche Sabouraud zu geben
versucht hat: Den Beweis der constanten Existenz klinisch und.
histologisch specifischer Processe durch Infection von Staphylococcus
oder Streptococcus.
Das Studium der künstlichen Hautentzündungen hat ebenfalls
Beziehungen zur Wirkung der Mikroben.
Wir kennen die Resultate von Sabouraud, welcher in den
durch Krotonül, Theer oder Jodoform entstandenen Dermatiden eine
grosse Zahl von Staphylococcus aureus vorfand, nur bestätigen. Haut¬
entzündungen durch Verwendung von Jodtinctur, Silbernitrat, Sublimat
und Pyrogallussäurc blieben einige Zeit steril, wenn sie auch früher
purulent waren.
Manchmal blieben die von Ivrotonöl erzeugten Dermatitiden steril,
wenn das Oel auf eine früher mit Pyrogallussäure bestrichene Ilaut-
stelle applicirt wurde. Es ist daher nicht zweifelhaft, dass eiterige
Hautentzündungen ohne Hilfe von Mikroorganismen sich ausbilden
können. Um deren Rolle bei künstlichen Dermatitiden zu bestimmen,
müsste man auf einer vorher aseptisch gemachten Haut mit Hilfe nicht
antiseptischer Agentien Reizungen hervorrufen und diese mit den auf
gleiche Weise auf einer nicht desinficirten Haut entstandenen Ent¬
zündungen vergleichen.
D. Die Ansicht, nach welcher alle impetiginösen Processe im
Ekzem durch Einwanderung pyogener Coccen verursacht sind, datirt
schon seit mehren Jahren (z. B. Pick 1889). Uebrigens glaubte ich
mit der Mehrzahl der Dermatologen in Uebereinstimmung zu sein, als
ich 1894 behauptete, mau müsse bei Ekzemen eine einfache, nicht
parasitäre Eiterung und eine solche als Folge secundärer Infection
unterscheiden, was klinisch sehr schwierig war. Im Principe muss
diese Möglichkeit für seröse und purulente Ekzeme zugegeben werden.
Von nun an wird man also mit dieser Thatsache, welche sehr
wahrscheinlich, wissenschaftlich jedoch noch nicht absolut sicher
gestellt ist, rechnen müssen, dass in der grossen Mehrzahl der Ekzeme
die Staphylococcen und die Streptococcen auf deren Entwicklung sehr
von Einfluss sind. Die gewöhnlichen pyogenen Mikroben scheinen bei
den gewöhnlichen Hautentzündungen dieselbe Rolle zu spielen, wie bei
Wunden, welche nicht per primam vernarbt sind. Interessant ist es,
dass Kocher und Tavel vom chirurgischen Standpunkte 1895
erklärt haben, dass „die Ekzeme, das heisst die oberflächlichen Haut-
entziindungen, am häufigsten durch Staphylococcen verursacht sind“.
E. Schlüsse:
1. Bei der grossen Gruppe gewöhnlicher Ekzeme gibt es
Eft’lorescenzen, bei welchen man derzeit keine Mikroorganismen oder
wenigstens nicht so beschaffene entdecken kann, dass man denselben
irgend eine pathogenetische Rolle zuschreiben könnte. Hier müssen
wir als ätiologische Factoren locale und allgemeine Prädispositionen,
mechanische und chemische Reize annehmen.
2. In diesen Processen, sowie bei vielen anderen Hautkrank¬
heiten könpen wir am häufigsten die Invasion gewöhnlicher Mikro¬
organismen constatiren (Staphylococcen, Streptococcen). Die Folgen
dieser Invasion hängen von dem Grade der Giftigkeit der Mikroben,
von der localen und allgemeinen Prädisposition und von der Natur
des ursprünglichen Processes ab.
Dies ergibt eine lange Reihe sehr verschiedener Reactionen der
Haut, von der geringsten Irritation bis zu starker Impetiginisation, von
der vorübergehendsten Läsion bis zum schweren und chronischen Ekzem.
3. Die gewöhnlichen Infectionen können sich ohne Weiteres
ohne Vorbestand eines erkennbaren Krankheitszustandes erzeugen.
Ihre Entwicklung und ihr Grad sind in gleicher Weise von der Natur
des Terrains abhängig.
II. B r o c q und V e i 1 1 o n (Paris): Bedeutung desWortes
Ekzem.
Folgendes sind die wichtigsten Punkte: deren Discussion uns
nöthig erscheint. Wir theilen sie in zwei Gruppen: A. Die erste
betrifft jene Eruptionen, die wir als wahre Ekzeme; B. die* zweite
jene Eriqjtionen, welche wir unter dem Namen Ekzeme bezeichnen.
A. Muss man zu den Ekzemen folgende Krankheitsformen
einreihen :
1. Dyshydrosis? Nein, weil die wahre Dyshydrose w’eder das
Aussehen, noch die Entwicklung, noch die therapeutischen Reactionen
der wahren Ekzeme darbiotet.
2. Aus demselben Grunde gehören Prurigo simplex (Brocq),
Prurigo temporaire autotoxique (T o m m a s o 1 i), Lichen simplex
aigu (E. Vidal) nicht zu den Ekzemen.
3. Bezüglich des Prurigo von Hebra ist die Frage complicirt, weil
man bei demselben sehr häufig, wenn nicht immer, Ekzeme beobachte!.
4. Lichen der alten Autoren: Neurodermites von Brocq und
Jaquet gehören nicht hieher, weil diese Dermatosen sich in voll¬
kommen trockenem Zustande, ohne irgend eine Bläschenbildung ent¬
wickeln können, wenn sie auch nach Besnier wirklich ekzematogene
oder präekzematische Affectionen sein mögen.
5. Impetigo contagiosa von Tilbury Fox; Ekthyma von
Sabouraud sind genau bezeichnete iiberimpfbare, oder autoinoculable
Affectionen, bei welchen der Mikrobe eine grosse Rolle spielt. Das¬
selbe gilt:
G. Vom Impetigo von Bockhardt.
7. Bei dem seborrhoischen Ekzem sind folgende Unter¬
scheidungen nöthig:
a) Die Krusten der behaarten Kopfhaut und die verschiedenen
eoncreten Seborrhoen wären in die Ekzeme nicht einzureihen.
b) Pityriasis capitis, die fliegenden Flechten des Gesichtes oder
die typischen, pityriasisartigen Seborrhoen wären nicht als Ekzeme zu
betrachten, weil sie bei ihrer Entwicklung immer den Charakter
absoluter Trockenheit bewahren und daher sich mehr den Psoriasis¬
formen nähern.
c) Die typischen psoriasisartigen, seborrhoischen Ekzeme sind
aus gleichen Gründen nicht einzureihen.
d) Die pityriasis- oder psoriasisartigen Parakeratosen oder
Seborrhoiden sind, sobald sich nässende Bläschen bilden, als Com-
plicationen des Ekzemes zu betrachten.
e) Das Eczema circinatum, mit seinem bei den Autoren ver¬
schiedenen Bezeichnungen betrachten wir als eine besondere, wahr¬
scheinlich durch Mikroben erzeugte Krankheitsform.
8. Die Pityriasis Rose von Giber t hat ganz besonderen Ver¬
lauf; sie tritt mit einem auffälligen Plaque auf, hierauf seeundäre
Generalisation, cyklische Entwicklung, spontane Heilung, ohne
Bläschenbildung.
9. Psoriasis gehört ganz entschieden nicht zu den Ekzemen.
10. Acne rosacea ist durch rapide Entwicklung einer Reihe
von oberflächlichen, feinen, lebhaft rothen Papeln und Pusteln, welche
auf den Wangen, der Nase, dem Kinne, der Stirne, den Lippen ver¬
streut sind, charakterisirt, welche rasch verschwindend sich irregulär
mit grösster Raschheit und Hartnäckigkeit wiederbilden. Man hat
diese Dermatosen den Ekzemen genähert, jedoch ist dieselbe für uns
eine ganz besondere Krankheit.
11. Alle künstlich erzeugten, bläschenartigen Eruptionen be¬
trachten wir nicht als Ekzeme. Die Traumatismen, die verschiedenen
Hautreize und Mikroben können bei dazu veranlagten Personen Ekzeme
hervorrufen. Sie können aber auch künstliche Hautentzündungen er¬
zeugen, ohne den Charakter von Ekzemen; schliesslich sich mit
echten Ekzemen compliciren, was sehr häufig beobachtet wird.
B. Unter dem Namen Ekzem muss man einzig und allein die
bloss erythematösen bläsehen- und schuppenartigen Hautaffectionen
verstehen, wie dies allgemein angenommen wird. Die Bläschen¬
bildung ist typisch für das Ekzem, sei dieselbe in vollständiger
Entwicklung oder verkümmert und nur durch eine feine, krusten¬
artige, in der Oberhaut eingefügte Schuppe gekennzeichnet. Dies muss
vorläufig als das objective Kennzeichen dieser Affection bezeichnet
werden, welche nebst anderen Kennzeichen in ihrer Entwicklung und
Neigung zu Recidiven von den blos artificiellen Eruptionen voll¬
ständig verschieden ist.
Damit wir bei der Bezeichnung Ekzem uns auf ein sicheres
pathogenetisches Kriterium stützen können, glauben wir als solches vom
klinischen Standpunkte wählen zu müssen:
Nr. 40
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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1 . Der objective Anblick, welcher dieser Dermatose
während ihrer Entwicklung am meisten eigenthümlich ist und dieselbe
von allen Complicationen unterscheidet; dieser ist für das echte Ekzem
unbestreitbar die Bläschenbildung. Dieses ist das objective
Symptom Ekzem, das heisst Ekzematisation.
2. Die specielle Entwicklung dieser Dermatosen durch successive
Nachschübe mit demselben objectiven Typus oder mit Typen derselben
Ordnung, amormph, münzenartig, mit disseminirten Papeln und
Bläschen, welche sich aneinanderreihen oder combiniren können und
bei demselben Individuum mit eiuer ganz besonderen Hartnäckigkeit
unter dem Einflüsse der verschiedensten Gelegenheitsursachen auf-
treten. Dieses ist die Krankheit E k z e m, welche durch das be¬
sondere Aussehen der Eruption und durch die besondere Entwicklung
bestimmt ist.
Bedeutung der Mikroben bei der Entstehung der
Ekzeme.
Gegenwärtiger Stand der Frage. Dieselbe wurde im Jahre 1890
auf dem Congresse zu Birmingham zuerst angeregt, und zwar von
Unna. Nach ihm ist das Ekzem eine durch einen besonderen patho¬
genen Mikroben klar abgegrenzte Krankheit, den Morococcus, dessen
Impfung und Entwicklung auf einem durch Verbesserung des Nähr¬
bodens günstig gestalteten Terrain die charakteristische Eruption zur
Folge hat.
Diese Auffassung wurde durch die Schüler U n n a’s, M orris
in England, Leredde in Frankreich, unterstützt. Controluntersuchungen
der jüngsten Zeit scheinen diese Lehre nicht zu bestätigen.
Nach T ö r ö k ist das acute vesiculäre Ekzem der Impfung
U n n a’s kein Ekzem. Die besonderen Kennzeichen, welche Unna
für seinen Morococcen angegeben hat sind ungenügend oder wider¬
sprechen sich; derselbe ist nur ein gewöhnlicher Staphylococcus.
Nach Sabouraud ist der Morococcus nur ein besonderer
Staphylococcus, welcher sich von dem Staphylococcus albus unter¬
scheidet; durch eigenartige Cultur wird wahrscheinlich bei manchen
schuppigen Epidermitiden und Parakeratosen die fettige Entartung
begünstigt. Hiemit ist seine Aufgabe begrenzt, er ist aber für das
wahre Ekzem keineswegs pathogen.
Derselbe Autor behauptet, dass, wenn sich Staphylococcus aureus
und Streptococcus auf inficirten Hautdecken entwickeln, diese daselbst
besondere Entzündungen hervorrufen, welche er „dermite chronique ä
streptocoques“ und „dermite pustuleuse miliaire staphylococcique“ be¬
zeichnet, aus deren Combination jener Complex entsteht, welchen die
Kliniker chronisches Ekzem benennen.
Scholz und Raab haben gefunden, dass der Staphylococcus
aureus auf der Oberfläche der Ekzeme immer in beträchtlicher Menge
vorkommt. Ihre Impfungen mit derartigen Culturen sind wenig be¬
weisend gewesen.
Sie schreiben aber denoch der Infectiou durch den Staphylococcus
eine besondere Bedeutung bei; denn mit Rücksicht auf sein constantes
Fortkommen, müsse man diesen Mikroben als wesentlichen
Factor in der Aetiologie betrachten, ohne welchen
ein Ekzem mit typischem Verlaufe sich nicht ent¬
wickeln kann.
Dennoch geben sie zu, dass die Staphylococceninfection eine
secundäre Ursache sei; die Hauptursache sei durch die Art der Läsion
der Haut bedingt, so dass nur auf lädirtem Terrain Invasion und
Infection entstehen können.
Kreibich schloss aus seinen Untersuchungen, dass das
idiopathische, papulo-vesiculöse Ekzem von II e b r a, sowie die acuten
Nachschübe bei chronischen Ekzemen ohne Intervention von Mikroben
zu Stande kommen. Die ekzematösen Bläschen sind bei
ihrer Entstehung amikrobisch. Sobald sie älter werden
können verschiedene Mikroorganismen hinzutreten; letztere und ihre
Toxine können einen Durchtritt von Leukocyten bewirken. Von diesen
Mikroorganismen hängen die pustulösen und lympbangioitischen Com¬
plicationen ab, sie sind an der Oberfläche nässender Ekzeme zahlreich
vorhanden.
Persönliche Untersuchungen.
• 1. Die jungen, nicht offenen Bläschen enthalten keinen
Mikroben.
2. Die alten offenen Bläschen, die nässenden oder krustenartigen
Oherflächen sind reich an Mikroben.
3. Letztere sind von gewöhnlicher Art und nicht etwas Be¬
sonderes.
4. Diese Mikroben kommen auf gesunder Haut vereinzelt vor,
5. hingegen reichlich auf erkrankter Haut,
6. jedoch mit Vorliebe auf den Ekzemen, vor Allem der
Staphylococcus aureus.
7. Hat man eine ekzematöse Stelle desinficirt und mit sterili-
sirtem Zinkoxyd-Leim bedeckt, so findet man die Bläschen und das
Serum zwei Tage später amikrobisch.
8. Auf der gesunden Haut eines Ekzematösen konnten wir
durch den prolongirten Contact von Staphylococcus-Culturen, aus einer
ekzematösen Partie stammend, nie Ekzem hervorrufen.
Beim gegenwärtigen Stande unserer Kenntnisse ist die Existenz
eines specifischen Mikroben des Ekzems noch zu beweisen; die auf
der Oberfläche nässender Ekzeme oder Krusten sich anhäufenden ver¬
schiedenen Mikroben sind secundäre Infectionen und die Ursache der
verschiedenen Complicationen, welche die tyische Entwicklung des
reinen Ekzems häufig stören.
III. Unna (Hamburg): Ueber den parasitären Ur¬
sprung des Ekzems.
1. Die Unsicherheit über den Erreger des Ekzems beruht zum
Theile auf dem Mangel einer guten und wissenschaftlichen Systematik
der Coccen überhaupt.
2. Die bisherige Systematik aller Coccen, welche nicht zu den
Streptococcen und Paquetcoccen gehören, ist ganz künstlich und
nicht ausreichend, um ähnliche, aber pathologisch grundverschiedene
Arten fest zu bestimmen und sicher von einander zu trennen.
3. Zu den Mitteln einer besseren Definition und Classification
der Coccen gehört die genaue mikroskopische Untersuchung mittelst
bestimmter Färbemethoden.
4. Um die ätiologische Rolle eines Ekzemerregers sicher¬
zustellen, bedarf es vor Allem des Nachweises, dass das histo-bac-
teriologische Bild der durch die Impfung erzeugten Hautkrankheit mit
dem histo-bacteriologischen Bilde des Ekzems übereinstimmt.
5. Unter den vielen beim Ekzem gefundenen Organismen sind
mehrere, welche bei der Impfung wieder Ekzeme erzeugen.
6. Die verschiedenen Formen des Ekzems zum Theile auf die
Wirkung zurückzuführen, ist die nächste Aufgabe der Zukunft in der
Ekzemfrage.
7. Das Ekzem ist eine ansteckende und unter Umständen auch
epidemische Erkrankung.
IV. L a s s a r (Berlin) : Die Peladen,
1 . Die Verbreitung der Peladen hat innerhalb
der letzten Jahrzehnte augenscheinlich immer mehr
um sich gegriffen. Die Eindrücke und Angaben einzelner Aerzte
können für das Zahlenverhältniss aber nicht als beweiskräftig be¬
trachtet werden. Das etwa relativ grössere Anwachsen ihres eigenen
Beobachtungsmaterials muss zum Theil auf dem grösseren Zugang
der Hilfesuchenden beruhen, welche erfahren haben, wer sich mit Be¬
handlung der sonst weniger beachteten Haarkrankheiten erfolgreich
befasst.
Ein sicheres statistisch werthvolles Material vermag nur auf
dem Wege der Enquete gewonnen werden. Diese Umfrage wäre bei
den Fachgenossen aller Culturländer anzustellen. Eine Commission,
bestehend aus den Herren General- und Landessecretären des Con¬
gresses, würde mit Hilfe eines einfachen Schemas ein sicheres und
interessantes Ergebniss zu Tage fördern. Auch für andere Kategorien
von Krankheiten kann ein derartiges Vorgehen der internationalen
Collegialität Weith gewinnen. Es ist aber aussichtsvoller, vorerst aut
einem so leicht übersichtlichen Gebiete den Anfang zu machen.
2. Eine besondere Veranlagung oder Wider¬
standskrafteinzelner Individuen besteht gegen¬
über der Alopecia areata nicht. Eine Immunität
gegen das Leiden kann nicht erworben werden. Dafür
spricht, dass Personen jeden Alters und jeder Lebenslage ohne Aus¬
wahl befallen werden. Zu allen Zeiten und in allen Gegenden hat das
Leiden dasselbe Bild dargeboten. Der atypische Fortschritt in jedem
Einzelfall hat etwas rein Zufälliges. Dieselben Personen und dieselben
Körperstellen können immer wieder von Neuem befallen werden.
3. Die Aetiologie harrt noch der endgiltigen
Aufklärung. Die neuropathische Auffassung hat mehr und mehr
an Boden und Anhängern verloren. Sie würde auch an sich nichts
beweisen, ehe nicht eine vorhergehende Alteration der etwa erkrankten
Nervengebiete oder eine Mitbetheiligung des Nervensystemes in irgend
einer Form dargethan ist. Selbst die in der Literatur niedergelegten,
vereinzelten Vorkommnisse, welche jene Deutung unterstützen könnten,
kommen gegenüber der grossen Menge alltäglicher, ohne jede andere
Erscheinung als den Haarprocess auftretender Einzel- und namentlich
Massenfälle nicht in Betracht. Eine epidemische oder nur endemische
Nervenerkrankung, mit Ausschluss aller anderen Symptome als den
fleckförmig, allmälig um sich greifenden Haarausfall gibt es sicher¬
lich nicht. Dazu kommt die Localisation. Dieselbe ist an keinerlei
vorgezeichnete Nervenbahnen gebunden. Sie kann sich unilateral,
bilateral, universell gestalten, müsste also im Falle einer directen Ab¬
hängigkeit vom Nervensystem entweder eine grosse Anzahl peripherer
Nerv.enstämme oder ein ausschliesslich für das Haarwachsthum exi-
stirendes Centrum betreffen. Beides ist gleich unwahrscheinlich, bildet
924
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 40
aber für Aufrechterhaltung von der nervösen Natur der Alopecia
areata die unumgängliche Voraussetzung.
Die parasitäre Theorie ist die in jeder Beziehung allen analogen
Verhältnissen am meisten homogene. Die contagionistische Auffassung
wird durch das Auftreten in Familien, Schulen, Internaten, Kasernen,
durch die gruppenweise Etablirung der Krankheitsherde, die Beziehung
zu Barbierstuben und Haarschneiden in übereinstimmender Art er¬
wiesen. Dazu kommt die Verbreitungsart, welche nur mit einer vor
sich gehenden Autoinoculation zu erklären ist. Da nun fast alle von
Person zu Person direct oder indirect verschleppbaren Krankheits¬
zustände auf parasitären Einnistungen beruhen, so liegt kein ge¬
gründeter Zweifel vor, dass auch die Peladen sich als bacterielle
Affection erweisen werden. Ehe nicht activ durchgeführte Experimente
den Beleg geliefert haben, ist dieser Beweis jedoch nicht erbracht.
Entgegen steht demselben leider der Umstand, dass sämmtliche uns
zu Gebote stehende Versuchsthiere immun zu sein scheinen. Wenigstens
sind bis jetzt alle Uebertragungsversuche negativ ausgefallen. Endlich
bleibt noch die Möglichkeit offen, dass eine fremdartige, bis lang un¬
erwartete Ursache gefunden werde, welche eine toxische Hemmung
des Haarwuchses an Ort und Stelle bewirkt, ohne sich schliesslich
als locale Bacterienentwicklung zu erweisen.
4. DieTherapie der Alopecia areata bildet eine
auf hypothetischer Voraussetzung begründete und
in günstiger Weise bewährte Empirie. Von ihrer früh¬
zeitigen Anwendung hängt die Prognose ab. Diese gestaltet sich bei
Vernachlässigung ungewiss und ungünstig und hebt sich direct im
Verhältniss zur Anwendung derjenigen Mittel, von denen man sich
nichts Anderes als eine bactericide, antiparasitäre, beziehungsweise
antitoxische Wirkung vorstellen und versprechen kann. Ohne auf die
einzelnen Vorschläge der hierin übereinstimmenden Autoren einzugehen,
ist hervorzuheben, dass alle wirksamen Methoden, von Sublimat und
Carbolsäure bis zur Anwendung der elektrischen Energien, in ihren
verschiedenen Formen in diesem Sinne übereinstimmen.
*
Abtheilung für Neurologie.
Ref. Dr. Sp.
I. Jendrassik (Budapest): Ueber die Natur der
Sehnenreflexe.
1. Die Sehnenreflexe sind wahre Bewegungsreflexe, deren Weg
direct quer über die graue Substanz des Rückenmarkes bis zur Höhe
der zweiten und vierten Lendenwurzeln führt.
2. Der Kniescheibenreflex und die Sehnenreflexe im Allgemeinen
sind das Resultat einer plötzlichen, mechanischen, augenblicklichen
Erregung der Empfindungsn erven der die Sehne umgebenden Gewebe
und sind nicht dem Muskel durch eine Vibration der Sehne übertragen.
3. Die genannten Reflexe können nicht mit anderen identificirt
werden. Die gewöhnlichen Hautreflexe steigen bis zum Gehirn, wahr¬
scheinlich bis zur Rinde, während die Reflexbewegungen der myeliti-
schen Paraplegiker, in Folge einer nur wenig verlängerten Haut¬
erregung und Beugung der Hüfte, des Beines und Dorsalbeugung des
Fusses, selten eine andere Bewegungsform erzeugend, pathologische
Reflexe sind. Letztere sind das Resultat einer Abweichung des Nerven-
stromes, der den Weg zum Gehirn zu Anden verhindert ist, oder
einer gesteigerten Erregung der nervösen Elemente des von den oberen
Centien getrennten Rückenmarkes.
4. Der Muskeltonus hat einen grossen Einfluss auf die Sehnen¬
reflexe; ist er gesteigert, so ist der Reflex lebhafter; Schwächung des
Tonus kann sogar die Reflexe verschwinden machen.
:>. Das Verschwinden der Kniescheibenreflexe bei Tabes ist
durch die gegenwärtigen Theorien noch nicht genügend erklärt, aber
sehr wahrscheinlich durch Abschwächung des Muskeltonus bedingt.
G. Das Verschwinden der Sehnenreflexe bei Gehirnkrankheiten
ist ausnahmsweise und möglich durch Nervenshock oder durch
eine secundäre Erkrankung des Rückenmarkes verursacht.
7. Das Verschwinden der Sehnenreflexe bei Erkrankungen des
Kleinhirns ist nur in sehr wenigen Fällen verzeichnet; im Gegentheile
ist Steigerung dieser Reflexe die Regel. Auch ist es sehr wahr¬
scheinlich, dass bei Geschwülsten des Kleinhirns dieses Verschwinden
eher ein allgemeines Symptom war, bedingt durch consecutive Hydro-
myelie oder durch starre Contracturen der Muskeln.
8. Der Verlust der Kniescheibenreflexe ist keineswegs ein Beweis
einer gänzlichen IransversalenTheilungder NervenelemtedesRückenmarkes.
9. Der Verlust der Kniescheibenreöexe bei traumatischen
Läsionen des Hals- oder Dorsal markes ist ein klinischer Beweis, dass
auch die graue Substanz des Lendenmarkes ergriffen ist ; diese Aus¬
dehnung des pathologischen Processes ist nicht immer durch unsere
gegenwärtigen histologischen Mittel zu beweisen, aber sie ist bewiesen
durch den Eintritt schwerer trophischer Störungen : Acuter Decubitus,
septische Cystitis und Pyelitis, vasomotorische Störungen, Muskel¬
schwund u. s. w. Es ist also das Verschwunden der Kniereflexe
ein Symptom von schlechter Vorbedeutung, ausgenommen die seltenen
Fälle, welche durch Nervenshock verursacht sind.
10. Die Prüfuug der Kniescheibenreflexe ist bei paraplegischen
Zuständen nicht immer leicht. Man muss sich genau an die Regeln
dieser Untersuchung halten, nicht selten gelingt es durch geeignete
Mittel den scheinbar fehlenden Reflex nach früher wiederholten Ver¬
suchen denuoeh hervorzurufen.
*
Abtheilung für Orthopädie.
Referent Dr. Sp.
Prof. Lorenz (Wien) : Ueber die unblutige Behand¬
lung der angeborenen Hüftgelenksverrenkung.
Die unblutige Behandlung ist der operativen Behandlung vor-
zuziehon, weil die letztere nicht frei von Gefahren ist: 2 — 10 : 100 Sterblich¬
keit; ausserdem verbleiben häufig Ankylosen und Contracturen, welche
eine peinliche und langdauernde Behandlung nach der Operation erfordern.
Endlich kann die Verletzung oder Exstirpation des Knorpels von
Verkürzung des Beckens in Folge Verhinderung der Knochenentwick
lung gefolgt sein.
Die mechanische Behandlung durch tragbare Apparate ist lang¬
wierig, ohne Ende und ohne zufriedenstellende Resultate. Bei einer
anderen unblutigen Methode, nämlich der langsamen Reduction in Ex¬
tensionsschienen, kann man nur bei ganz kleinen Kindern Erfolg
haben. Aber auch hier ist die Behandlung zu lang und die Lagerung
in der Schiene dem Allgemeinbefinden schädlich.
Also die unblutige Behandlung mit der so¬
fortigen Reduction des Schenkelkopfes unter
Chloroform vermeidet alle diese Uebelstände. Innerhalb der Alters¬
grenzen (d. h. ein Kind mit einer angeborenen einseitigen Ver¬
renkung darf höchstens neun bis zehn Jahre, mit einer beiderseitigen
sieben bis acht Jahre zählen) ist diese Methode ohne Gefahr. Die
sofortige Reduction unter Chloroform macht man oberhalb des oberen
Randes der Gelenkspfanne mittelst horizontaler Extension, oder ober¬
halb des hinteren Randes der Pfanne mittelst verticaler Extension;
letzterer Vorgang ist vorzuziehen, weil die bessere Entwicklung des
hinteren Pfannenrandes das Gelingen der Reduction exacter constatiren
lässt. Uebt man die sofortige Reduction oberhalb des hinteren Randes,
so braucht man keine mechanischen Apparate. Diese wird in folgender
Weise vorgenommen:
Man beginnt mit dor subcutanen Zerreissung der Adduetoren
mittelst Petrissage der durch eine forcirte Abduction stark gespannten
Muskeln, hernach übt man auf den im rechten Winkel gebeugten
Oberschenkel eine verticals Extension und eine Abduction bis beinahe
auf 90°, combinirt mit einem directen Drucke auf den grossen Tro¬
chanter. Die gelungene Reduction zeigt untrügliche Symptome und
kann noch durch die Radiographie bestätigt werden. Das Princip der
Nachbehandlung besteht darin, den Grund der Pfannenhöhlung dem
Drucke des Körpergewichtes mittelst des reintegrirten Schenkelkopfes
zu unterwerfen, und unter dem Einflüsse dieser physiologischen Function
erweitert und vertieft sich der Pfannengrund durch Erhöhung des
oberen Randes. Um nun den Schenkelkopf in der Höhlung zu er¬
halten, ist der Oberschenkel in einer übermässigen Abduction, je nach
Umständen bis 90° fixirt, combinirt mit leichter Hyperextension und
Drehung nach innen, zu belassen. Erst nach einem Zeiträume von vier
bis fünf Monaten verbessert, man diese extreme Stellung des Ober¬
schenkels durch eine mittlere Stellung (leichte Beugung und Abduction)
und fixirt dieselbe während weiterer vier bis fünf Monate. Während
der Fixation muss sich der Kranke im Gehen oder Stehen möglichst
lange auf den Beinen erhalten. Nach Entfernung des letzten Gyps-
verbandes übt man die Massage und Gymnastik der Becken-Trochanter¬
muskeln. In vielen Fällen zeigt die Radiographie eine fast vollständige
anatomische Herstellung der Pfannenhöhle, die sich unter dem Ein¬
flüsse des Körpergewichtes concentriseh erweitert hat. In anderen
Fällen erweitert sich die Gelenkshöhle excentrisch in die Höhe unter
Bildung eines neuen oberen Knochenrandes, unter welchem der Schenkel¬
kopf befestigt bleibt. In anderen Fällen erleidet der wieder zurecht¬
gestellte Kopf eine neuerliche Verrenkung in die Höhe und die
Pfannenhöhle wird nicht alterirt. In diesen letzten Fällen liegt der
vordere Rand des Darmbeines über das reluxirte Oberschenkelbein
derart, dass das Becken einen knöchernen Stützpunkt gewonnen hat.
Beinahe in der Hälfte der Fälle kann man von einer radicalen Heilung
sprechen, in der anderen Hälfte sind die Resultate, wrenn auch ana¬
tomisch nicht genügend, für die Functionen des Gliedes ausreichend,
ja zuweilen noch besser, als die anatomisch vollständigen Resultate;
nach der Operation verschwunden sogar die pathologische Lordose nach
beiderseitiger Luxation.
Wo man mit der unblutigen Methode nicht ausreicht, vollführt
man die blutige, lässt die Gelenkshöhle intact und leitet die Weiter¬
behandlung nach den Grundsätzen der unblutigen Reduction.
* (Fortsetzung folgt.)
Verantwortlicher Redacteur : Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900. Nr. 40.
Nach Cassoute, Cornier und anderen französischen
Aerzten ist
„CRE0S0TAL“
EIN EMINENTES
HEILMITTEL BEI
PNEUMONIE
* %
nnd allen anderen acuten Erkrankungen der Atmungsorgane.
Litteratur mit genauer Angabe der Dosierung kostenfrei
durch Chemische Fabrik von Heyden, Radebiu! bei Dresden.
Cascarine Lei>rince.
C12 H10 05.
Wirksamer Bestamltheil der Cascara Sagrada. Cholagogum & Copragogum
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beschwerde.
Antisepsis
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während der
Gravidität
und der
Lactation.
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) lithiasis.
Pillen und Elixir.
Das »Cascarinet ist ein chemisch bestimmter krystallisirter Körper etc. (Comptes
rendus de l’Academie des Sciences, Bd. CXV, pag. 286.) Begründet wurde seine thera¬
peutische Wirkungsweise wissenschaftlich (M. Laffont, Bulletin de l’Academie de Mede-
cine, 14. Juni 1892) und klinisch (Societe de Therapeutique : Constantin Paul ; Dujardin
Beaumetz, Medications nouvelles, 2. Serie; Bibliotheque Charcot-Debove, Purgatifs,
pag. 104; Prof. Lemoine in Lille. Therapeutique clinique, pag. 305; Tison, Höpital
St. -Joseph und Congrfes pour l’avancement des Sciences, Bordeaux, 1895, 1. Theil,
pag. 963 , Prof. Charles in Lüttich, Cours d’accouchements u. s. w.)
Seine Wirkung ist regelmässig, leicht zu erzielen, ohne Angewöhnung, aus¬
gezeichnet bei habitueller Verstopfung und gegen bacterielle Proliferation de3 Rheuma¬
tismus (Dr. Roux) bei Typhus abdominalis etc.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900. Nr. 40,
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H. Clliari, Doc. A.
R. v. Jakscli, Prof.
Fracnkel, Prof. E. Fuchs, Prof. C.
E. Ludwig, Prof. E. Neusser, Prof. A.
und Prof. A. TVeicliselbauni.
Gussenbauer, Prof. Y.
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(Redaction: Prof. H. Clliari in Prag.)
XXI. BAND (NEUE FOLGE I. BAND), JAHRGANG 1000, REFT IX.
Abtheilung für Chirurgie und verwandte Disciplinen, III. Heft.
Inhalt :
KEULER, Dr. H. (Wien). — Ovarialcyste combinirt mit einem soliden und zwei eystischen Embryomen. — Mit Tafel II — IV.
GERSUNY, Dir. Dr. R. (Wien). — lieber eine subcutane Prothese.
DONATI, Dr. C. (Innsbruck). — lieber einen Fall von Haematosalpinx und Haeinaiometra, — Mit Tafel V.
SMOLER, Dr. F. (Prag). - 1 )arminvagination, bedingt durch ein melanotisehes Sarkom des Dünndarms. — Mit Tafel VI
FÖDERL, Dr. O. (Wien). — Ueber Hydrokele muliebris. — Mit Tafel VII— XI.
KRCZMAR, Mag. ph. H. (Prag). — Werthbestimmung von Jodoformgazen.
TÖRÖK, Prim. Dr. G. v. (Wien). — Teratom der Brusthöhle. — Mit 1 Abbildung.
Die „ZEITSCHRIFT FÜR HEILKUNDE“ erscheint jährlich in 12 Heften von je circa 5 Druck¬
bogen Umfang.
Del- Ahouneuieutspreis für den Jahrgang (12 Hefte) beträgt K 36. - 31. 30.—.
Der Abonnementspreis für die einzelnen AMllcilimgCll, und zwar:
Interne Medicin und verwandte Disciplinen (4 Hefte),
Chirurgie und verwandte Disciplinen (4 Hefte) und
Patholog. Anatomie und verwandte Disciplinen (4 Hefte),
ist, K 12. — — 31. 10. — für jede Abtlieilung.
Zuschriften für (lie Redaction sind zu richten an Herrn Professor H. Clliari, Prag, II. Kranken¬
hausgasse 4-
der
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Ich empfehle
hervorragenden
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die Zeitschrift, welche berufen ist,
medicinischen Faeliorgane zu stehen,
in ihrer Neugestaltung sehr bald in erster Reihe
der besonderen Aufmerksamkeit der Herren Aerzte
Wien u. Leipzig. October 1900.
Hochachtungsvoll
Wilhelm Braumüller.
Die „Wiener klinische
Wochenschrift“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von minde¬
stens zwei Bogen Gross-
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Zuschriften für die Redac¬
tion sind zu richten an
Dr. Alexandor Fraenkel,
IX 3, Maximilianplatz,
Günthergasse 1 . Bestellun¬
gen und Geldsendungen an
die Verlagshandlung.
Redaction:
Telephon Nr. 3373.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, O. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, M. Gruber,
M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann, R. Paltauf,
Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt, A. v. Vogl, J. v. Wagner,
H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gussenhauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel.
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I Abonnementspreis
jährlich 20 K — 20 Mark.
Abonnements-, und Inser¬
tions-Aufträge für das In-
und Ausland werden von
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nommen. — Abonnements,
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zeile berechnet. Grössere
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Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VI 11/1, Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang.
Wien, 11. October 1900.
Br. 41.
1 1ST ZE3I ^ IL T :
I. Originalartikel : 1. Zur Lehre vom Trachom. Vun C. Ziem in Danzig.
2. Ueber den normalen - Grosszehenreflex hei Kindern. Von Fritz
Passini, Assistenten der Abtheilung des Herrn Prof. Früh w aid
an der Wiener Allgemeinen Poliklinik.
3. Fornialdehyddesinfection. Von Dr. Basil Kluczenko, k. k. Laudes-
Sanitätsreferent in der Bukowina.
II. Feuilleton: Vorstellungen über die Art der Durchführung des Unter¬
richtes in Geburtshilfe und Frauenheilkunde. Von Alfons v.
Rosthorn (Graz).
III. Referate: Die Bäder und Mineralwässer derErdelyer (siebenbürgischen)
Landestheile Ungarns. Von Wilhelm v. Hanko. — Die Unter¬
suchung des Harnes und sein Verhalten bei Krankheiten. Von Dr.
Zur Lehre vom Trachom.
Von C. Ziem in Danzig,1)
Die Lehre vom Trachom ist in einer Umwälzung be¬
griffen. Die lange Zeit gütige Anschauung, dass es hiebei
um ein rein contagiöses Leiden sich handle) das nur und. aus¬
schliesslich von Person zu Person übergehe, vornehmlich durch
gemeinsame Benützung von Handtüchern u. dgl., unter \ er-
mittlung der in manchen Provinzen, in Posen, Siebenbürgen,
Nordungarn und anderwärts so verbreiteten Sachsengängerei,
durch Einquartirung trachomkranker Truppen in Städten oder
auf dem flachen Lande, wie besonders zur Zeit der Kriege
Napoleon I., durch Entlassen trachomkranker Soldaten in die
Heimat, vornehmlich im Jahre 1834 in Belgien, durch An¬
steckung in Internaten, Schulen u. dgl., oder mit einer eine
Zeit lang modernen, aber durchaus einseitigen und kurz¬
sichtigen Modification dieser Lehre, dass es oft von einer
anderen Schleimhaut derselben Person, besonders derjenigen
der Harnröhre, auf die der Augen durch Autoinfection ver¬
mittelst der Finger oder beschmutzter Kleidungsstücke über¬
tragen werde (Dutrieux, Grossmann, Horr u. A.):
- — - diese Anschauung ist für einen Theil der Fälle selbst¬
verständlicher Weise durchaus zutreffend, und wer wollte oder
könnte das leugnen? — aber durchaus nicht für alle, wahr¬
scheinlich nicht einmal für den grössten Theil der Krankheits¬
fälle durchführbar, wie das besonders auf Grund der geo¬
graphischen Verbreitung des Trachoms und seiner in so und
so vielen Beobachtungen nachweislich ohne Vermittlung bereits
inficirter Truppenkörper stattgehabten Auftretens Pk. v. Wal-
J) Nach einem der am 20. Februar 1899 in New Orleans statt-
gefundenen Jahresversammlung der Western Ophthalmologie and Oto-Laryngo-
logic Association auf Einladung eingesendeten Vortrage.
(Alle Rechte Vorbehalten.)
med. C. Beier. — Practicum der physiologischen Chemie nebst
einer Anleitung zur anorganischen Analyse für Mediciner. Von
E. Salkowski. — Chemie der Ei weisskörper. Von Dr. Otto Cohn¬
heim. — Die Praxis des Chemikers bei Untersuchung von Nahrungs¬
mitteln, Genussmitteln und Gebrauchsgegenständen etc. Von Dr.
Fritz Elsner. — Ueber einige qantitative Verhältnisse bei der
Pepsinverdauung. Von E. Schütz und Huppert. I. Physio¬
logische Chemie für Studirende und Aerzte. Von Ph. Bottazzi.
11° Die anorganischen Salze im menschlichem Organismus. Von
R. Brasch. Ref. R. v. Zeynek.
IV. Aus verschiedenen Zeitschriften.
V. Vermischte Nachrichten.
VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberiehtc.
ther, Arlt, Zeltender und neuestens Hirsckberg bereits
ausgesprochen und in sehr eingehenden Untersuchungen Uber
das in Livland endemische Trachom v. Oettingen und
v. Himmelstirn schon im Jahre 1861 überzeugend dar¬
gelegt haben (Z e h e n d e r).
Freilich sind in einer später noch näher zu besprechen¬
den Arbeit noch unlängst Prof. Feuer in Budapest, sowie das
Grossherzoglich Mecklenburgische Sanitätscollegium mit eng¬
gebanntem Blicke für die rein contagionistische Auffassung
eingetreten, während doch die unbefangene Beobachtung lehrt,
1. dass in manchen Gegenden, vornehmlich auch in der Um¬
gebung von Szegedin in Ungarn das Jrachom auf dem flachen
Lande häufiger ist als in den benachbarten Städten (1 euer),
was zu Gunsten einer Ausbreitung durch den Verkehr un¬
bedingt nicht spricht • 2. dass in verschiedenen, der Sachsen¬
gängerei nicht unterworfenen Gegenden der Erde, vornehmlich
auch im classischen Lande des Trachoms, in den Niederungen
von Aegypten, aber auch in Syrien, dem Hochlande von
Palästina und anderwärts das Trachom durchaus nicht, wie
es der contagionistischen Auffassung entsprechen müsste, zu
allen Jahreszeiten in gleichmässiger Häufigkeit vorkommt,
sondern dass das Auflodern der Lpidemie oder richtiger dei
Endemie in jedem Jahre von bestimmten, allgemein ein¬
wirkenden, klimatischen oder telluriscken \ erhältnissen ab¬
hängt, was übrigens schon Larrey im Jahre 1812 zum 1 heile
wenigstens hervorgehoben hat. Als solche könnten an und für
sich in Betracht kommen:
1. übermässige Hitze und Blendung) auf das Auge selbst unt
2. Dunst und Staub J unmittelbar einwirkend,
3. Moderstoffe, besonders in Malariagegenden, entweder a) als
Sumpfluft auf die Ptespirationsorgane und zwar zunächst die
Nase einwirkend, dann entweder längs der Contiguität der
Schleimhaut oder auch vermittelst nachbarlicher Gefässvei bin-
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900,
Nr. 41
düngen auch die Bindehaut des Auges und andere Theile des¬
selben befallend, oder b) als ein durch den Nahrungsweg, be¬
sonders auch mit dem Trinkwasser in den Organismus ein¬
dringendes, dann durch den Circulationsapparat fortgeführt,
auf das Auge sich localisirendes Agens.
1. Die an erster Stelle genannten, von Larrey schon
erwähnten Momente, übermässige Hitze und Blendung, könnten
für unseren Gegenstand natürlich nur in tropischen oder sub¬
tropischen Gegenden, so im Gebiet des Mississippi, Niger, Nil,
Euphrat und Tigris, Indus, Ganges und anderwärts, im Sudan,
in Arabien, Persien, Palästina, allenfalls auch auf den Hoch-
plateaux von Spanien und Portugal, in Sicilien, Unteritalien,
Griechenland u. s. w., keinesfalls jedoch in den so trachom-
reichen Niederungen des Rheins, in Ost- und Westpreussen,
den russischen Ostseeprovinzen, in Polen, Finnland und anderen
Ländern in Betracht kommen. Und obschon man in heissen
Gegenden, wie bei Bagdad unter dem 32. Grade nördlicher
Breite Erhitzung des nackten Sandes bis auf 78° C., bei
einer Schattentemperatur von 55° C. beobachtet hat, es nach
Meinung von Q. Curtiusauch kein Land der Erde gäbe, wo
die Hitze eine so intensive sei, als in Mesopotamien, derart,
dass Thiere dort auf freiem Felde zu Grunde gingen und Alles
wie geröstet sei, in Sogdiana die Sonne den Sand so glühend
mache, als ob ein, Feuer darüber gegangen wäre, in der
Sahara, wo »die Erde Feuer ist und der Wind eine Flamme«,
man Eier im Sande soll sieden können und das Heer Ale¬
xanders auf dem Marsche nach Ammonium in dem glühenden
Sande fast verschmachtete: so sind doch Entzündungen der
Augen, gleichviel welcher Art, in Folge der Hitze oder der
Blendung durch den Sand, beziehungsweise die weissen Kalk¬
steinfelsen in dem meistens aus Landfremden bestehenden
Heere Alexanders weder in Sogdiana noch in Libyen beob¬
achtet worden (C u r t i u s, A r r i a n), und zu Zeiten des Herodot
gab es in Babylon wie überhaupt wenig Krankheiten, so auch
so wenig Augen krankhei ten, dass bei den eine Art Natur¬
heilkunde oder Laienheilkunde betreibenden Babyloniern ein
ärztlicher Stand überhaupt nicht existirte und Cyrus einst
einen Augenarzt aus Aegypten kommen lassen musste. Wenn
nach einigen Autoren auf dem Rückzuge Alexanders aus
Indien durch Oritien und Gedrosien zahlreiche Augenkrank¬
heiten in Folge der Hitze aufgetreten sein sollen, so erwähnt
weder Arrian noch C u r t i u s etwas hievon, und selbst
wenn Augenkrankheiten vorgekommen wären, so könnten
solche auch und mit grösserer Wahrscheinlichkeit auf die im
Heere in Folge der mangelhaften und ungesunden Nahrung
damals herrschende pestähnliche Krankheit bezogen werden,
sofern das wirklich eine Pest war, da bei dieser Augenkrank¬
heiten verschiedener Art bekanntlich Vorkommen. Andererseits
findet sich nach Volney (1788) und Röser (1837) in von
dem Nil entfernten Landstrichen, bei in der Wüste lebenden
Beduinen Augenentzündung und Trachom selten oder gar
nicht und wird auch oberhalb Kairo seltener, so dass man bei
der hier so deutlichen Immunität der Eingeborenen, der
bronze- oder kupferfarbenen oder schwarzen Bewohner heisser
Gegenden gegen Blendung und strahlende Wärme auf den
grossen Pigmentgehalt der Haut, vornehmlich auch der des
Gesichtes und der Lider, die bräunliche Schattirung der Sklera
und die dunkelschwarze Iris der Neger sowie, nach Lew¬
ie o witsch, die engere Pupille der Tropenbewohner recurriren
muss, natürliche Schutzvorrichtungen, welche durch das bei
manchen Völkern, den Aegyptern, Marokkanern, Persern u. A.
gebräuchliche Färben der Umgebung der Augen mit dunklen,
antimonhaltigen Farbstoffen noch verstärkt werden können.
Es wäre auch eine schlechte Fürsorge der Natur, wenn die
einheimischen Bewohner heisser Gegenden den örtlichen Schäd¬
lichkeiten des Klimas ohne Gefährdung der Augen sich nicht
aussetzeu könnten, wie andererseits auch in Folge gewisser,
zum Theile wohl noch wenig bekannter Eigentümlichkeiten
im Baue der Augen Schneeblindheit nur selten bei Einheimischen,
häufiger bei Landfremden beobachtet wird, auch schon im
Alterthume beobachtet worden ist, so auf dem Rückzuge der
Zehntausend in Armenien und im Heere Alexanders in den
Schneefeldern des parapamisischen Kaukasus. Allerdings be¬
obachtet man auch bei uns öfters Oedeme und Katarrhe,
welche durch die Einwirkung von grellem, besonders elek¬
trischem Lichte zweifellos hervorgerufen werden, doch dürfte
eine eiterige oder gar eine trachomähnliche Erkrankung nur
unter ganz besonderen Umständen daraus sich entwickeln
können. Was die Hitze an und für sich anlangt, so ist der¬
selben, entgegen Larrey’s, Germann’s u. A. Annahme,
wenigstens für die mehr oder weniger barhäuptigen Eingebo¬
renen südlicher oder heisser Länder, der Aegypter, Neger,
Abessynier u. A. ein bedeutender Einfluss auf Erregung von
Augenkrankheiten auch nicht beizumessen, wofür sich gleich¬
falls geschichtliche Thatsachen anführen lassen. So war im
griechischen und römischen Alterthume Barhäuptigkeit in
Friedenszeiten allgemein gebräuchlich und das Tragen einer
Kopfbedeckung im gewöhnlichen Leben sehr auffallend (Plutarch,
Solon), selbst auf dem Marsche ging » J. Caesar capite detecto,
seu sol seu imber esset« (Sue ton);' ebenso waren die Perser
auf dem Marsche barhäuptig (Xenophon) und die alten Aegypter
und Lybier pflegten sogar mit von Jugend auf rasirtem Kopfe
barhäuptig zu gehen, eine Gewohnheit, welcher Herodot eine
günstige Einwirkung nicht nur gegen das Kahlwerden zu¬
schreibt, sondern von welcher er, nach Untersuchung der
dicken Schädel vieler bei Pelusium im Kampfe gegen die
Perser gefallener Aegypter, in Verbindung mit der auf den
Kopf so unmittelbar einwirkenden Sonne, die starke Verdickung
der Schädelknochen ableiten möchte, während die mit einer
Tiara meistens umwundenen ungeschorenen Schädel der Perser
auffallend viel dünner gewesen seien. Auch andere Stämme
von Nordafrika, die Macer, Machlyer, Ausseer und Maxyer
pflegten die Kopfhaare in verschiedener Art und Ausdehnung
abzurasiren, so dass deren Rest ein Büschel auf dem Scheitel,
am Vorderkopfe oder Hinterkopfe oder selbst auf einer Seite
darstellte, und doch waren von allen Völkern, die Herodot
kennen gelernt, diese nomadisirenden Libyer die gesundesten
und würden seiner Meinung nach auch ebenso gesund gewesen
sein ohne das bei ihnen gebräuchliche, zur Vermeidung von
Schnupfen bestimmte, in etwas anderer Weise übrigens noch
heute in Aegypten geübte Kauterisiren des Scheitels und der
Schläfen. Ebenso bezeichnet Sallust die Bewohner von Nord¬
afrika als ein » genus hominum salubri corpore, velox, patiens
laborum«, welche meistens »senectus dissolvit, nam morbus haut
saepe quemquam superat« und erwähnt, abgesehen von einer
später noch zu besprechenden Notiz, besonders auch nichts
von Augenkrankheiten. Ebenso heisst es in einer vor etwas
über 200 Jahren erschienenen, von John Locke erwähnten
Reisebeschreibung von den Bewohnern Maltas, woselbst die
Hitze stärker sei, als in irgend einem anderen Theile von
Europa, auch stärker als in Rom und fast erstickend, weil
dort selten kühlende Winde wehen, dass die Hitze das ge-
wöhliche Volk so dunkelbraun wie die Zigeuner mache: »and
yet the peasants defy the sun, they work on, in the hottest
part of the day, without intermission or sheltering themselves
from his scorching rays. The Maltese, too, harden the bodies
of their children and reconcile them to the heat, by making
them go stark naked without shirt, drawers or anything on
theirs heads, from their cradles, till they are ten years old.
Das hat mich überzeugt«, fährt Locke fort, »dass die Natur
sich zu vielem unmöglich Scheinenden bringen lasse, sofern
wir uns nur von Kindheit an gewöhnen«.
Allerdings bin auch ich, wie G ermann, der Meinung,
dass der Turban der Mohammedaner ein äusserst unzweck¬
mässiges Kleidungsstück darstellt, nicht jedoch deshalb, weil
er im Gegensätze zu anderen Kopfbedeckungen gegen Hitze
zu wrenig schütze, als vielmehr deshalb, weil er bei dem hiebei
vielfach gebräuchlichen vollständigen Abscheeren und Ab-
rasiren der Kopfhaare eine, durch ein paar mehr oder weniger
schmutzige, vom Schweisse gar noch durchnässte Leinw'and-
stüeke natürlich nicht zu ersetzende, Schutzvorrichtung zur
Regulirung der Wärme des Kopfes beseitigt und seine Träger
somit Erkältungen der Kopfhaut und dadurch Schnupfen¬
anfällen vielfach aussetzt, trotz Prof. S. Exner's anregender
Darlegungen über die Function der in ihrer physikalischen
Beschaffenheit den einzelnen Klimaten angepassten Kopfhaare,
Nr. 41
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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ein in der Pathologie und vornehmlich der Ophthalmopathologie I
seiner grossen Bedeutung nach kaum gewürdigter Gegenstand,
auf welchen hier noch einige Worte verwendet werden sollen.
AVenn einerseits bei voller Conservirung des Haupthaares, wie
bei den Babyloniern, Persern und Maltesern Augenkrankheiten
selten waren, andererseits aber bei den, den Kopf rasirenden
und nackt tragenden alten Aegyptern nach Meinung von
Prosper Alpinus, Rust, Arlt und Hirschberg
Augenkrankheiten seltener gewesen sein sollen als bei den,
den Kopf gleichfalls rasirenden, aber einen Turban tragenden,
Aegyptern der Gegenwart, so mag immerhin, abgesehen
natürlich von anderen, noch zu besprechenden Momenten, auch
die verschiedene Art der Haartracht hier in Betracht zu ziehen
und der Versuch gerechtfertigt sein, ob nicht vielleicht schon
durch eine andere Kopftracht, Benützung von Strohhüten, wie
in Ost- und Westindien oder dergleichen, oder einfach durch
Barhäuptigkeit, »from their cradles« natürlich, und bei Con¬
servirung des Haupthaares die Zahl der Augenkranken in
manchen Ländern sich etwas vermindern Hesse.
Können wir also nach Allem der auf den Kopf ein¬
wirkenden Hitze, sowie der Blendung eine irgendwie wesent¬
liche Bedeutung in der Genese eiteriger Augenkatarrhe und
des Trachoms wohl kaum beimessen, so ist als eine weit
wichtigere Schädlichkeit
2. auf das Auge einwirkender Staub und Dunst zu be¬
zeichnen. So wird in einem von Zehender erwähnten Be¬
richte in Finnland, wo das Trachom die häutigsten Erblindungs¬
ursache darstellt und woselbst in manchen Gegenden kaum
eine Bauernstube ohne einen Trachomkranken zu finden ist,
als ätiologisches Moment in erster Linie Rauch und Hitze be¬
schuldigt, indem es in sehr vielen Gegenden des Landes noch
Rauchstuben gibt und die rauchigen Badestuben, die Dresch¬
tennen, sowie die Gewohnheit, das Essen über freiem Feuer
zu kochen, eine weitere Gelegenheit für die schädliche Ein¬
wirkung des Rauches auf die Augen darböten. Aehnliches be¬
richtet Feuer aus Nord-Ungarn, wo der Feuerherd noch
vor Kurzem des Rauchfanges entbehrte, Aehnliches habe ich
in Aegypten gesehen, wo als eine weitere Schädlichkeit noch
die Art des Brennmateriales, an der Sonne getrockneter Dung
von Haussieren, hinzukommt, der übrigens ja auch in anderen
holzarmen Gegenden, wie in Kleinasien, in der Jartarei, in
Dekan zur Feuerung benützt wird. Sicherlich kann in diesen
Schädlichkeiten, wie auch in den Ammoniakdünsten von Gas¬
anstalten oder in den mangelhaft desinficirten Pissoirs von
Paris und anderer grosser Städte nur ein prädisponirendes
Moment erblickt werden, sei es nun, dass das Augenleiden
erst durch Mangel an ärztlicher Hilfe und den Gebrauch un¬
zweckmässiger Hausmittel (Zehender), oder durch das
Hinzutreten eines contagiösen Agens (Feuer) oder auch in
anderer Weise die für das Sehvermögen bedrohliche Höhe
erreicht.
Wichtiger dürfte die mechanische Einwirkung des
Staubes sein, besonders wenn derselbe, wie z. B. in
Alexandrien, in den an gewissen Plätzen im Freien auf¬
gestapelten und bei Windstössen natürlich zum Theile aus¬
einander getriebenen Müllhaufen, noch so und so viele or¬
ganische Zersetzungsproducte enthält. Das einfachste und
zweckmäßigste, leider noch wenig verbreitete Verfahren zur
Beseitigung des Hausmülles, das ich schon im Jahre 1892
empfohlen habe 2), tagtägliches Verbrennen des Kehrichts,
sowie aller Küchenabfälle einschliesslich der Knochen in
jeder einzelnen Haushaltung, so dass die Kehrichtkasten über¬
haupt keine organischen, fäulnissfähigen Substanzen, sondern
nur noch Asche enthalten, dieses Verfahren wäre gerade in
Alexandrien um so schwieriger einzubürgern, da das ange¬
sammelte Müll als Heizmaterial für die öffentlichen Bade¬
anstalten dort verwendet wird.
Auch das Rupfen der Gänse, das in gewissen Gegenden
von Westpreussen von manchen Leuten im Grossen betrieben
wird, kann vermöge des vielen hiebei sich entwickelnden
feinen Federstaubes zu heftigeren Entzündungen der Binde¬
haut öfters Veranlassung geben, wie denn bei dem Verarbeiten
2) Berliner klinische Wochenschrift. Nr. 46.
und Sortiren von Daunen auch eiterige Katarrhe der Nase zu¬
weilen auftreten.
Abgesehen jedoch von derartigen, mehr an einzelne Orte
gebundene Schädlichkeiten kommen nicht selten Kranke zur
Beobachtung mit starkem Reizzustande eines oder beider
Augen, und mit der Klage, dass feiner Staub von Holz, beim
Sägen oder Drehen desselben, besonders auch Staub von
trockenem, zum Theile übrigens wohl auch chemisch ein¬
wirkendem Fichtenholz, Staub von Heu, von Backmehl,
Knochenmehl, Töpferthon, Bernstein, Glas, selbst Klettenstaub
u. dgl. bei der Arbeit ihnen in das Auge gerathen sei,,
während man doch bei genauer Untersuchung auch mittelst
seitlicher Beleuchtung und bei der Lampe irgend einen Fremd¬
körper nicht auffindet, alle Beschwerden aber oft sofort ver¬
schwinden, wenn man, nach Ektropioniren der Lider, die
Bindehaut, besonders auch die der Uebergangsfalten mittelst
eines Irrigators oder noch besser einer Druckpumpe und
physiologischer Kochsalzlösung gründlich und zu wiederholten
Malen abschwemmt oder ausschwemmt, während ohne einen
derartigen Eingriff, wie ich aus anderer Praxis nicht selten
gesehen, und besonders bei unzweckmässiger Behandlung mit
Aetzmitteln u. dgl. hartnäckige Entzündungen selbst mit so
und so grosser Schwellung der Uebergangsfalten und noch
schlimmeren Folgezuständen unterhalten werden können. Das
Krankheitsbild ist manchmal geradezu das der Blennorhoe,
ganz besonders wenn eine die Ausgleichung noch weiter
hemmende Verstopfung und Eiterung der Nase gleichzeitig
vorhanden ist, aber bei geeigneter Behandlung oft in wenigen
Tagen verschwunden, ist auch auf dem Auge oft stärker aus¬
geprägt, dessen gleichseitige Nasenhälfte verschwollen,
beziehungsweise stärker verschwollen ist. Eine derartige
Kranke meiner Beobachtung war von einem verstorbenen,
angesehenen Collegen in eingreifendster Weise, selbst mit
einer Schmiercur, neun Monate lang ohne Erfolg klinisch be¬
handelt worden und hat dann schliesslich »operirt« werden
sollen — wie es scheint durch Excision der etwas ge¬
schwollenen Uebergangsfalten — ist aber dann durch 8 oder
14 Tage lang täglich vorgenommenes Ausspülen des Binde¬
hautsackes, sowie der mit einem eiterigen Katarrh behafteten
Nase, unter Rückgängigwerden einer leichten Keratitis vas-
culosa von mir geheilt worden und seit dem Frühjahr 1886
bis auf den heutigen Tag auch geheilt geblieben ; genaueres
Nachforschen nach der Entstehung der Krankheit hat damals
ergeben, dass Strassenstaub bei heftigem Winde in das Auge
geweht worden war. In einem anderen, allerdings nur durch
Hörensagen mir bekannt gewordenen Falle ist Staub von
Schnupftabak, der bei einer Rauferei Einem in das Auge ge¬
worfen, in der oberen Uebergangsfalte abgelagert, viele
Wochen lang von demselben Augenärzte übersehen, doch der
»schwere eiterige Katarrh« nach Entfernung des Fremdkörpers
durch einen anderen Collegen schnell geheilt worden. Bei
einem kürzlich von mir behandelten, früher immer augen-
gesunden, auch am zweiten Auge gesunden Arbeiter war
durch in des Auge hinein gerathenen Staub oder Schmutz
neben Eiterung der Bindehaut sogar eine umschriebene, fast
i/2 cm lange, zapfenförmige Wucherung derselben an der
oberen Uebergangsfalte verursacht worden. Wie wenig richtig
solche Fälle auch seitens officieller Vertreter der Ophthalmo¬
logie gelegentlich beurtheilt werden können, habe ich voi
einigen Jahren erfahren, als bei einem Hafenarbeitei , dem ein
oder zwei Tage zuvor feiner Sand in das Auge geweht
worden, und bei welchem eine centrale, halbstecknadelkopt-
grosse eiterige Keratitis bereits bestand, nach der Ansicht
eines damals gerade mich besuchenden, ordentlichen Professors
der Augenheilkunde jene Infiltration der Hornhaut mittelst des
Galvanokauters hätte ausgebrannt werden müssen, wähl ent
doch nach Ausschwemmen des Bindebautsackes ein bis dalnn
vorhandener, stechender Schmerz nach Angabe des Kranken
sofort verschwunden war und nach Ausspülen auch der Nase
und bei Schluss verband des Auges der Kranke schon am
nächstfolgenden Tage, bei nahezu voller Sehschärfe, wieder
arbeitsfähig gewesen ist; mit vollem Rechte darf wohl ver-
muthet werden, dass die beabsichtigte Kauterisation der Horn-
928
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 41
haut bei Verbleiben und weiterer Einwirkung des wahr¬
scheinlich allerdings nur minimalen Sandkörnchens im Binde¬
hautsacke zu so oder so umfänglicher Verschwärung der
Hornhaut und trotz einer modernen Plastik der Bindehaut
vielleicht selbst zu Verlust des Auges geführt haben würde.
Es dürfen wohl auch einige liiehergehörige Notizen aus dem
römischen Alterthume beigebracht werden. So hat Q. Ser-
torius die jenseits des Tajo in unzugänglichen Höhlen
zurückgezogenen Characitaner dadurch zur Unterwerfung ge¬
bracht, dass er gegenüber ihren nach Norden sich öffnenden
Höhlen hohe Haufen eines dort vorhandenen, sehr feinen,
ascheartigen Staubes aufwerfen liess, der von dem gerade
webenden Nordwinde in die Höhlen und so in die Augen und
Respirationsorgane ihrer Bewohner mit Macht hineingetrieben,
die Belagerten zur Ergebung am dritten Tage veranlasste
(Plutarch); so haben die parthischen Reiter durch absicht¬
liches Aufwühlen des Staubes in der Ebene von Carrhae
Sehen und Athmen den Römern sehr erschwert (P 1 u t a r c h) ;
so sagt Sallust von der Sandwüste zwischen Cyrene und
Karthago: »solet in illis locis tempestas haut secus atque in
mari retinere ; nam ubi per loca aequalia et nuda gignentium
ventus coortus arenam humo excitavit, ea magna vi agitata
ora oculosque implere solet, ita prospectu impedito morari iter«.
Feiner Staub der Art wirkt natürlich besonders dann
ungünstig ein. wenn ein so oder so beschaffener Katarrh der
Bindehaut an und für sich schon besteht. So ist mit be¬
deutender Schwellung und Unebenheit der oberen Uebergangs-
falten, Verklebtsein der Augen Morgens beim Erwachen und
Druck in denselben ein vielem Staube ausgesetzter Glaser¬
geselle im August 1897 mir zugegangen, dessen Krankheit
anderwärts bereits als Trachom bezeichnet worden war und
trotz des Mangels ausgesprochener Follikel wohl auch so be¬
zeichnet werden musste, und bei welchem anstatt der alsbald
von mir vorgeschlagenen, auf Wunsch des Kranken dann
jedoch noch verschobenen Scarificationen der Bindehaut, zu¬
nächst nur eine Ausspülung des Bindehautsackes, sowie der
etwas versch wollenen, schleimig- eiterig secernirenden Nasen¬
höhle mit Kochsalzlösung vorgenommen wurde; wie erstaunt
war ich, bei dem nun erst nach Monatsfrist sich wieder ein¬
stellenden Kranken zu sehen, dass eine anfangs vorhandene,
abgesetzte, halberbsengrosse, himbeerförmige Excrescenz der
oberen Uebergangsfalte auf etwa die Hälfte ihres früheren
Umfanges zusammengeschrumpft war, was, da hier sonst
durchaus nichts Anderes vorgenommen worden, entweder nur
durch die stattgehabte, gründliche Säuberung der Uebergangs¬
falte von feinem, einen Reiz ausübenden Glasstaub oder auch,
in Verbindung mit der Ausspülung auch der Nase, durch eine
Einwirkung auf den trachomatösen Process selbst erklärt
werden konnte; der Kranke wurde, unter Fortsetzung der
Ausspülungen, dann einige Male von mir scarificirt, ist jedoch
bald darauf von Danzig verzogen.
Aehnliche Beobachtungen habe ich in grösserer Zahl
bei auswärtigen Arbeitern gemacht, welche beim Abtragen der
alten Festungswälle von Danzig beschäftigt, besonders bei
trockenem Wetter einem oft ausserordentlich intensiven Staube
ausgesetzt waren; es fanden sich hier, auch bei Personen, die
bis kurz zuvor in keiner Weise über ihre Augen zu klagen
hatten, ja zum Theile aus dem Militärdienste als augengesund
gerade erst entlassen waren, oft recht bedeutende Schwellungen
und Wucherungen der Bindehaut, zumal der oberen Ueber-
gangsfalten vor, in Avelchen ja auch nach J. Jacobson’s
Beobachtungen diese und ähnliche Schädlichkeiten meistens
zuerst sich localisiren, mit mehr oder weniger heftiger eiteriger
Secretion, aber ohne ausgesprochene Follikel; stärkeres Er¬
griffensein des Auges, dessen gleichseitige Nasechälfte mehr
angeschwollen und verstopft war, war auch hier öfters zu
constatiren. Ausspülungen der Augen und der Nase haben
solchen Kranken viel Erleichterung gebracht, doch hat nur
ein Theil derselben, weil in Accordarbeit stehend, zur Be¬
handlung sich regelmässig eingefunden, um dann jedoch, nach
Vollendung der Arbeit, schleunigst in die Heimat zurückzukehren.
Ferner ist mir in den Jahren 1880 — 1882 in Alexan¬
drien seitens schon länger dort ansässiger Europäer mitgetkeilt
worden, dass die Zahl der Augenkranken daselbst merklich
abgenommen habe, seitdem ein Theil der Stadt mit grossen
Quadern gepflastert und der beim Wehen des Wüstenwindes
früher oft äusserst intensive Staub hiedurch vermindert
worden sei; eine ähnliche Notiz ist mir vor drei oder vier Jahren
auch seitens eines russischen Schiffscapitäns zugegangen, nach
welcher die Häufigkeit von Krankheiten der Bindehaut in
Russland im Publicum und seitens vieler Zeitungen auf über¬
mässige Staubentwicklung in Folge intensiver Abholzung der
Wälder zurückgeführt werde. Nun hat allerdings Dr. L e w-
ko witsch, der in Südafrika 14 Jahre lang practicirt und
die in Johannesburg während der Wintermonate mit besonderer
Heftigkeit wüthenden Staubstürme selbst durchgemacht, mit-
getheilt, dass man innerhalb weniger Minuten Mund, Nase
und Ohren von dem dicken, gelben Staube voll habe und
aus den mit einer dicken Staubkruste vollständig verklebten
Augen nicht heraussehen könne, sich aber einfach den Sand
aus den Augen reibe und wische, so gut es eben gehe, und
dass für gewöhnlich hiemit, ohne ärztliche Hilfe, Alles er¬
ledigt sei; jedoch hat er irgend ein anderes Moment als eben
die Staubstürme nicht genannt, auf welches das auch dort so
häufige, unter den Boeren wie unter den, Waschschüssel und
Handtuch, die angeblichen Träger der Infection, nicht be¬
sitzenden Kaffern so häufige Trachom zurückzuführen sei;
und obschon civilisirte Personen, wenn einem solchen Staub¬
sturme ausgesetzt, ihre Augen mehr oder weniger gründlich
auswaschen werden, so dürfte eine derartige Bemühung vielen
der dortigen Eingeborenen doch wohl zu umständlich sein
und bei häufiger Wiederholung einer solchen jedes Mal nur
unvollkommen compensirten Schädlichkeit nicht nur ein einfacher
Katarrh, sondern auch schwere Augenkrankheiten sich ent¬
wickeln können. Werden doch auch nach den werthvollen
Mittheilungen von G ermann in Syrien und besonders in
Palästina in der heissen, regenlosen Zeit, vornehmlich im
August, September und October, auch ohne die von vielen
Personen dort angeschuldigte Mitwirkung der vom Winde
verwehten feinen Stachelhaare der wilden Feigen »schon allein
durch die Alles durchdringenden, Augen und Athmung sehr
belästigenden Staubmassen des Kalk- und Lehmbodens gewiss
viele Augen inficirt«, und dieses Moment dürfte wohl einfacher
und leichter verständlich sein als Germann’s Versuch, von
der Uebertragung des den wilden Feigen anhaftenden Schmutz¬
staubes gerade durch die Finger auf die Augen die Häufigkeit
der Augenkrankheiten in diesen Ländern abzuleiten; jedenfalls
aber ist mit dem Nachlassen der Hitze und dem Eintritte von
Regen eine beträchtliche Abnahme der Augenkrankheiten in
jedem Jahre zu bemerken, ja in Syrien, das reicher ist an
Quell- und Flusswasser und daher an Vegetation und woselbst
die Staubmassen während der regenlosen Zeit geringere sind,
ist das Trachom weniger verbreitet, auch gutartiger als in Palästina.
Von Interesse bezüglich der Bedeutung des Staubes
dürfte hier auch eine Mittheilung des Zoologen Professor
Marshall in Leipzig sein, der bei windigem Wetter zu
verschiedenen Malen in Dünen gewesen ist, deren oberfläch¬
lichste Saudlagen durch den Wind in lebhafte Bewegung ver¬
setzt und in die Höhe gehoben wurden; »bald«, so erzählt er,
»war der Sand in das Gewebe der Kleidung eingedrungen und
diese voll von ihm ; auf der Haut des Gesichtes und der
Hände empfand ich ein eigenthümlich nadelndes Gefühl, das
bald in ein Brennen überging, ich konnte nur blinzelnd sehen
und der Sand knirschte zwischen meinen Zähnen . . . ; besteigt
man«, so fährt derselbe mit W es s ely fort, »die Düne westlich
vom Dorfe Westerland auf der Insel Sylt, so sieht man an
dem auf der halben Höhe der Düne erbauten Pavillon sämmt-
liche Fensterscheiben so matt geschliffen, dass es unmöglich
ist, Gegenstände hinter denselben zu erkennen; die Sand¬
körnchen, die von der Höhe der Düne herabgeweht wurden,
sind gegen die Fensterscheiben geflogen und haben mit ihren
spitzen Kanten Tausende und aber Tausende von kleinen Ritzen
verursacht, durch welche endlich die Undurchsichtigkeit des
Glases herbeigeführt worden ist«.
Selbstverständlich darf die im letzteren Beispiele in so
augenscheinlicher Weise festgestellte Einwirkung oftmals wieder-
Nr. 41
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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kehrender Sandstürrae auf eine anorganische Masse, das Glas
der Fenster, nicht ohne Weiteres auf den lebenden Organismus
übertragen und ein allmäliges Blindwerden auch der Hornhaut
des Auges in dieser Art als hiedurch erwiesen angenommen
werden* es müssten, sofern die Frage nicht in andererWeise,
besonders durch geographische und geschichtliche Thatsachen
klar gelegt werden kann, vielleicht einschlägige Experimente,
allerdings ziemlich grausamer Art, an Thieren noch vor¬
genommen und deren Augen, sowohl mit als ohne gleichzeitige
Einwirkung auch auf die Nase, massigen Staubwolken aus¬
gesetzt werden; ja es liesse sich, im Hinblicke auf eine ent¬
sprechende Bemerkung von Lew ko witsch in dieser Weise
auch feststellen, ob dieser oder jener Art von Sand oder Staub,
dem durch die Hitze der Sonne etc. sterilisirten oder dem
organische Zersetzungsproducte, besonders Dung von Haus
thieren, worauf G e r m a n n besonderem Werth legt, noch ent¬
haltenden Staube, dem salpeterhaltigen Staube alter Festungs¬
mauern u. dgl. eine mehr oder weniger schädliche Einwirkung
auf das Auge zukommt, oder ob nicht, was wahrscheinlicher
ist, die oftmals wiederkehrende mechanische Schädlichkeit
an und für sich die Hauptsache ist. Unbedingt jedoch dürfte
aus Allem hier Angeführten im Anschlüsse an Prosper
Alpin us, Larrey und andere Autoren zu folgern sein,
dass mindestens ein Theil der in Trachomgegenden vorkom¬
menden Krankheitsfälle auf massige und oftmalige Einwirkung
von Staub mit grosser Wahrscheinlichkeit bezogen werden
muss, aufStaub- und Sandstürme in der Wüste, in Nordafrika,
Südafrika, Palästina, Persien, Kleinasien, Griechenland, Ungarn,
in manchen Gegenden von Ost- und Westpreussen, im süd¬
lichen Frankreich an der Mündung des Rhone bis nach Mar¬
seille hin, in Spanien, Portugal und anderen Ländern, von
deren heutzutage so auffälligen, auch von Nichtfachmännern
(Profanschriftstellern nach Hirschberg) stets hervorgeho¬
benen Durchseuchung mit Trachom und ähnlichen, zur Er¬
blindung führenden Krankheiten bei alten Schriftstellern, wie
bei Julius Cäsar für Gallien und Spanien, bei Josephus für
Palästina, bei Q. C urt i u s und Ar ria n für Kleinasien, Persien
und andere Länder, in den Lebensbeschreibungen des Plutarch
und S u e t o n, bei Herodot, Xenophon und anderen
Autoren so gut wie nichts erwähnt ist.
Fragt man sich, wodurch dieser Wechsel der Dinge
wohl bedingt sein könne, so wird es umso schwerer, mit
Feuer und anderen Autoren an eine Ansteckung von Person
zu Person zu glauben, als nach den Anschuungen von Mon¬
tesquieu, Burke, Lubbock und anderen Autoren vor¬
nehmlich die Mittelmeerländer in früheren Jahrhunderten weit
mehr bevölkert waren als sie gegenwärtig sind, was Montes¬
quieu zu einseitig auf die erleichterten Ehen im Alterthume,
die Ehen der Sclaven im römischen Haushalte u. A. gegen¬
über der Vielweiberei des Mohammed anismus, sowie die
Schwierigkeit der Ehescheidung in katholischen Ländern zurück¬
führt, wobei er jedoch übersieht, dass nach Herodot bei den
Persern, nach Sallust bei den Numidiern und Mauretaniern
Vielweiberei in mehr oder weniger hohem Grade auch in
früheren Jahrhunderten bestanden hat — , Burke hingegen mit
flammenden Worten, aber doch mitUeberschätzungdergeschicht-
lichenThatsachenund Zahlen, auf die gewaltigen Züge derSesostris,
Semiramis, Xerxes, Alexander, Cäsar und anderer Eroberer be¬
zieht, während Lubbock zum guten Theile gewiss mit Recht
auf die wilde Verwüstung der Wälder hinweist, die in mehr als
2000 Jahren in Ländern, in welchen einst Milch und Honig
floss, Platz gegriffen und in Folge des an die Waldverwüstung
gebundenen Wassermangels einerseits, plötzlicher Ueber-
schwemmungen durch Wildwasser andererseits, Städte durch
Wüsteneien ersetzt hat. Es hat allerdings schon Q. Curtius
waldlose Berge im parapamisischen Kaukasus erwähnt, jedoch
ist die Ansicht von Karl Müller, alle Bergkuppen seien
einst bewaldet gewesen, trotzdem vielleicht durchführbar, jeden¬
falls aber die von Em. v. Cuendias aufgestellte Behaup¬
tung, auf den ausgedehnten Bergketten von Granada habe
niemals ein Baum gewurzelt, jetzt bereits widerlegt und nach
O p p e 1 sind fast alle, heute nur mit niederem Gebüsch be¬
deckte oder völlig kahlen Theile der granadischen Bergterrasse
einst gut bewaldet gewesen. Auch haben weder Cäsar, Sueton
noch Plutarch irgend Etwas erwähnt von jenen gewaltigen,
das Innere von Spanien jetzt durchfegenden Staubstürmen,
von dem Begrabensein des Landes auf den Bodenflächen von
Castilien im Sommer wie in einer Wüste von grauem Staube
(Scobel), von dem durch die Hitze, den Staub und die Trocken¬
heit bedingten, vornehmlich die regenarmen Ebenen von Sala¬
manca, Guadalajara und Zaragoza im Hochsommer bedeckenden,
die Sonne dann bis zu den Herbstregen nur als blasse Scheibe
erscheinen lassenden und den Himmel verdüsternden Hitze¬
nebel (Calina), dem Analogon des Höhenrauches norddeutscher
Heiden in mancher Beziehung — , obgleich doch Cäsar um
die Erntezeit dort in der Umgebung von Zaragoza, bei Ilerda
gestanden hat; wie denn auch der Umstand, dass die oben er¬
wähnte Kriegslist gegen die Characitaner dem Sertorius in
Spanien und Lusitanien mehr Bewunderung eingebracht hat
als irgend eine seiner anderen rein militärischen Leistungen,
die Vermuthung wohl gestattet, dass Augenkrankheiten durch
Staubstürme sowohl bei der dem Sertorius in Fülle zugehenden
kriegstüchtigen Jugend (Plutarch), als auch überhaupt in diesen
Ländern etwas Gewöhnliches damals nicht gewesen sind — ,
ja dass Staubstürme zum Theile auf die intensive Abholzung
der Wälder zurückzuführen sind, welche die Schiffsbauten des
Cäsar in Gades und Sevilla und vornehmlich und in unge¬
heurem Masse die überseeischen Entdeckungsfahrten, die Ver¬
luste der spanischen Marine unter Philipp II. und späteren
Herrschern verursacht und dem Lande, besonders auch der
im Sommer jetzt fast regenlosen Provinz Andalusien mit Se¬
villa, einen nur kümmerlichen Ersatz in dem jetzt dort vor¬
handenen Buschwald eingebracht haben — , welcher letztere
dem im südlichen Spanien, in Murcia bis zum Cap Nao hin
nicht selten wehenden, heissen, trockenen und einen feinen
Staub mit sich führenden, bei der Entstehung vieler Augen¬
krankheiten gewiss nicht unbetheiligten Wüstenwind Levache
sicher weniger Widerstand als die ehemaligen Wälder bieten
wird. Andererseits aber ist auch die einst hochberühmte römi¬
sche Wasserleitung von Segovia längst verfallen und das
Plateau von Altcastilien, eine der regenarmsten Gegenden von
Europa. Spanien, das jetzt nur noch 17% Waldboden besitzt,
und Portugal, das waldarmste Land von Europa, wo gar nur
noch 2% des Bodens mit Wald bedeckt sind, weisen jetzt
gegenüber der Vergangenheit eine sehr bedeutende Zahl von
Augen- und Trachomkranken auf.
So war ferner die Nordküste von Afrika einst viel baum¬
und wasserreicher als gegenwärtig ; es werden ausgedehnte
Wälder erwähnt bei Thapsacus von Plutarch, bei Utica, dessen
Umgebung heute ganz unangebaut ist und dessen Trümmer
in einem mit salzigem Wasser gefüllten Sumpfe liegen, von
Cäsar, in Westlibyen (Algerien und Tunesien) von Herodot,
Waldungen von wilden Oelbäumen, Myrten und anderen
Bäumen »quae humo arido atque arenoso gignuntur« am
Flusse Muthul von Sallust, während heute Algerien im Ganzen
an Wassermangel leidet, seine Flüsse kurz sind und manche
nur während der Regenzeit Wasser führen, eine zusammen¬
hängende Pflanzendecke nicht vorhanden ist und die kahlen
Stellen die bewachsenen überwiegen (O p p e 1), in Tunesien
die einst berühmte Fruchtbarkeit verschwunden, das Land,
dessen Hauptstadt Karthago einst durch eine zehn deutsche
Meilen lange Leitung mit Gebirgswasser versorgt war, heute
verdorrt und nur an wenigen Stellen noch hinreichend be¬
wässert ist; so waren die Inseln des kleinen Syrtenmeeres mit
Olivenbäumen und Weinbergen einst bedeckt, so hat die
Gegend am Cinyps, an der grossen Syrte, einst eines der
besten Kornfelder der Erde, mit schwarzem, wohlbewässertem, der
Dürre nicht unterworfenem Boden wie Babylon das BOOfache, das
benachbarte Berenice das lOOfache des Saatkorns hervorgebracht,
die durch ausgezeichnete Goldarbeiten und Edelsteinschneidekunst
berühmte Stadt Cyrene sammt der Landschaft Cyrenaika drei
Ernten jährlich gehabt, während heute von ihren I elsengräbern
und grossartigen Wasserleitungen nur noch Ruinen bei dem
Dorfe Grenneh vorhanden sind und alle Ihäler von Tripoli
tanien ohne Ausnahme jetzt nur zeitweilig Wasser führen,
aber die ganze Syrtenlandschaft, Tunis, in geringerem Grade
930
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 41
auch Algier nach Hirse hberg jetzt durchseucht ist vom
Trachom, von welchem bei den alten Schriftstellern nichts zu
erkennen ist und bei dem plötzlichen Auftauchen der Reiter-
schaaren des Jugurtha da und dort, ihrem nächtlichen Ueber-
fallen römischer Heere wahrscheinlich auch nichts vorhanden
war. So hat am Mündungslande des Rhone, nachdem die Um¬
gebung von Massilia für die Belagerungswerke des Cäsar
weit und breit abgeholzt worden, die Vegetation selten eine
frische Farbe, da der in dieser ganzen Gegend bis nach Mar¬
seille hin herrschende, ungeheuere Staub Alles mit einem un¬
durchdringlichen, dichten Flor bedeckt und der von dem dort
überall vorhandenen, leicht zerbröckelnden Sandstein bereitete
Staub durch die kreuz und quer treibenden Südwinde in dicken
Wolken durch die Luft gejagt wird (0 p p e 1).
So war Oberitalien noch zur Zeit des Camillus baum¬
und wiesenreich, die Stätte von Rom selbst einst waldreich,
im Thale des Arno ausgedehnte Buchenwälder, die Landschaft
Sabinum stark bewaldet, der jetzt kahle Bergrücken des Gar-
gano in Apulien ehemals mit Eichen bedeckt, auf dem wegen
seines Waldreichthums schon von Dionysius von Halicarnassus
gerühmten Gebirge Sila in Süditalien Tannenwälder einst
reichlicher vorhanden, die Oelbäume, die von den 16% Wald¬
land Italiens jetzt etwa 3% bilden, erreichen bei Weitem nicht
die Verbreitung, die sie im Alterthume vor dem römischen
Bürgerkriege gehabten Unteritalien, sowie auf der im XVI. Jahr¬
hunderte fast gänzlich abgeholzten Insel Sicilien und Sardinien
überzieht die an Stelle der ehemaligen Wälder getretene
Buschvegetation der Macchien einst schattige Gebirgsflächen ;
die Thäler des Apennin sind jetzt wasserarm, aschgrau ist
die herrschende Farbe, eine spärliche Vegetation deckt aus¬
gedehnte Schutthalden; an der Südostküste sind Gegenden,
wo einst blühende Städte, wie Lolcri, Kroton, Sybaris und
andere lagen, wo die Ebene von Sybaris vor 25 Jahrhunderten
gegen eine Million Menschen ernährte, jetzt nahezu unbewohnt;
das Trachom aber ist in Italien überall verbreitet, wie die
Malaria, die von den 69 Provinzen des Landes nur sechs, nämlich
die drei Provinzen an der Riviera, sowie Piacenza, Florenz und
Pesaro völlig verschont hat und ist, was für die Malaria von
sachkundigen Autoren angegeben wird, wahrscheinlich ebenso
wie diese an diese Verwüstung der Wälder gebunden.
So war Attika schon zu Zeiten des Solon bäum- und
wasserarm, ist aber durch den Bau vieler Flotten und be¬
sonders durch die ausgedehnte Zerstörung der Wälder bei
Athen unter Sulla noch wald- und wasserärmer geworden.
Andere Landschaften, wie Phokis, waren allerdings einst wald¬
reich, jetzt jedoch sind nur noch 9% 6er Gesammtfläche von
Griechenland mit Wald bestanden; der ausgebrannte Boden
trägt eine verkümmerte Vegetation, wegen Wassermangels ist
nur ein Drittel des Bodens anbaufähig und nur ein Sechstel
wirklich angebaut, das Trachom jedoch, wie in den beiden
anderen südlichen Halbinseln, nach Hirschberg sehr ver¬
breitet. So war auch Kleinasien im Alterthume bei Weitem
nicht so bäum- und wasserarm wie jetzt nach 2000jähriger
Zerstörung der Wälder, besonders in Lycien und Cilicien, bei
Siwas, Cäsarea und anderwärts, und von den das Land einst
überaus reich und fruchtbar machenden Bewässerungsanlagen
hat sich nur wenig erhalten, so dass weite Strecken ehemaligen
Culturlandes zur staubigen Steppe geworden sind. Auch in
dem einst sehr waldreichen Persien (Q. C u r t i u s) und dem
zum Theil wald- und vegetationsreichen, zum Theil allerdings
auch aus Sandwüsten bestehenden Bactrien, das einst so viel
kriegstüchtige und daher wohl auch augengesunde Jugend geliefert
hat, ist überall Oedland, wo das Wasser fehlt, beziehungsweise
wo, wie in der Umgebung des Oxus, die alten Canalisations-
an lagen in \ erfall gerathen, und die schon in alter Zeit, offenbar
nach dem Vorbilde der intermittirend oder unterirdisch ver¬
laufenden Flüsse, wie des Ziobetis, angelegten Untergrund¬
canäle (Kaoats) nicht bewahrt worden sind, welche das Wasser
unter einem Flussbette oder anderwärts fortführen, die Ver¬
dunstung desselben durch die Hitze hemmen und es als Trink¬
wasser kühl erhalten. Auch Persien ist nach Hirschberg
mit Trachom heute durchseucht.
Die schwerste Einbusse jedoch hat wohl Mesepotamien
und Palästina erlitten. Den Wandel in der Bebauung von
Mesopotamien haben nicht klimatische Veränderungen, sondern
Menschen hervorgebracht, welche die Culturarbeit früherer Ge¬
schlechter nicht zu erhalten und fortzuführen verstanden; die
beiden Flüsse sind dieselben geblieben, wenn auch wohl wasser¬
ärmer geworden, seitdem Kurden und Türken die Berge holz¬
ärmer machten, als sie ehemals wohl gewesen sind. In heute
wüst liegenden Gegenden von Mesopotamien herrschte einst
altassyrische Cultur, Niniveh besass schon um 1300 v. Chr.
unter Salmanassar eine Trinkwasserleitung; die hängenden
Gärten der Semiramis, die noch heute vorbildlichen Sicherungs¬
bauten derselben und der Nitocris gegen Ueberschwemmung
mit asphaltirten Staubecken, zu welchen die Asphaltquellen
von Mennis das Material lieferten, der Art, dass Babylon mit
fliessendem Wasser umgeben war; die in dem an und für
sich regenarmen Lande durch die Canalisation erzielte ausser¬
ordentliche, 300fachen Ertrag gebende und den dritten Theil
aller Einkünfte des Perserreiches liefernde Fruchtbarkeit, sowie
die Seltenheit von Krankheiten in der Bevölkerung von Babylon
sind von Q. Curtius und Herodot in der fesselndsten
Weise geschildert. In Mesopotamien, bei Bagdad, bei der
grössten Annäherung zwischen Euphrat und Tigris, wo die
Astronomie einst ihren Anfang genommen, verschwindet jetzt
im Sommer die Sonne hiner einem undurchdringlichen Staub¬
und Dunstschleier, die Luft ist so trocken, dass Fensterscheiben
bersten und alles Holzwerk aus den Fugen geht, und wie auf
graugelber, regungsloser Wasserfläche schweben die Palmen¬
wipfel, scheinbar abgetrennt von ihren Stämmen, die das Auge
vor Staub und Dunst nicht sieht (Op pel). Ein Theil des
Landes besteht jetzt aus Steppe, der andere aus Sumpf, und
die verschiedensten Krankheiten sind dort sehr häutig. Und
nun gar die Verwüstung der Wälder in Syrien, das durch
fruchtbare und wasserreiche Thäler einst ausgezeichnet war,
jetzt aber nur sehr wenige Flüsse1) mit beständigem Wasser
besitzt, sowie in Palästina. Die Verwüstung der Cedernwälder,
welche die Bewunderung der Psalmisten einst erregten, die
Cedern des Libanon, »die der Herr gepflanzt hat, in denen die
Adler nisten und auf deren Gipfel die Reiher wohnen«, die das
Holz zu den Tempelbauten des Salomo, des Zerobabe], des
Herodes, zu den Götzentempeln des Hiram in Tyrus und der
Assyrer in Niniveh, zu den Schiffbauten des Salomo, den
Handels- und Kriegsflotten der Phönizier einst geliefert, auch
dort bei Salamis, wo seitens der Phönizier und Syrier allein
300 Triremen im Kampfe waren, dort wo ». . . der Perser Schiffe
Rumpf schlug um, die See war nirgend sichtbar mehr dem
Blick, von Wrack und Scheitern wimmelnd und Erschlagenen . . .«,
dann weiter zu immer neuem Ersatz der Perserflotten, zu den
mächtigen Belagerungswerken des Alexander vor Tyrus, wo
ganze Bäume in Massen ins Meer gesenkt wurden, zum Bau
der zur Umseglung von Afrika bestimmten Flotte des Alexander
in Thapsacus, zu den Prachtbauten der Zenobia in
Palmyra und mit gleicher Waldverwüstung in den folgen¬
den Jahidiunderten weiter, bis endlich die ganze Herrlichkeit
bis auf einen 2000 m hoch gelegenen Hain von 377 Stück
ausgerottet war, unter welchen, nach Ferd. Cohn, die 10m
Stammdurchmesser besitzenden Patriarchen als überlebende
Zeugen einer uralten Vergangenheit verehrt werden — bis aber
auch, in Verbindung mit der im Römerkriege stattgefundenen
Verwüstung der Wälder auch in Galiläa (Jotopata) und Judäa,
die Wasserleitungen des Herodes und Pilatus in Jerusalem,
von Ascalon und Laodicea versiegt, die Lustgärten des Salomo
in Etham, die Balsambäume in Jericho verdorrt sind, der
Jordan im Sommer fast überall durchwatbar, und der trotz *
seltener Regen zum grossen Theile einst so üppige Boden an
den meisten Stellen verödet ist, in dem Lande, »wo Juda
einst sein Füllen an den Weinstock band und seiner Eselin
Sohn an die edle Rebe, wo er sein Kleid in Wein wusch und
seinen Mantel in Weinbeerblut«, heute das einmal im Jahre,
am Ende der Regenzeit, auftauchende »lebendige Wasser«
durch ein Volksfest gefeiert, sonst aber das Trinkwasser, nach
') Anschauliche Uebersichtskavte der nur zeitweilig Wasser führenden
Flüsse, bei: v. Soden, Palästina. Leipzig 1899.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Germ an n, um Geld verschachert wird, die Bewohner von
Jerusalem, deren »corpora salubria et ferentia laboium« selbst
der Judenfeind Tacitus einst gerühmt, jetzt nach v. Soden
fast alle verhungert aussehen, man keinem schönen Menschen
mehr dort begegnet, und jeder Dritte entweder auf einem oder
auf beiden Augen erblindet, auch ganz Syrien nach Hirsch¬
berg und Ger mann vom Trachom durchseucht ist.
In Kürze seien noch erwähnt die aus Soda- oder Natrium-
theilchen bestehenden Staubsäulen, die in der Ebene von Ungarn
nicht nur Alles mit Staub bedecken, sondern häufig auch
Pferde und Wagen umwerfen und besonders für Budapest eine
grosse Plage sind, dessen breite Strassen durchfegend und Alles
mit einer dichten Masse wirbelnden Staubes bedeckend; sowie
endlich die West- und Nordweststürme, welche über die
Wanderdünen der Frischen Nehrung zwischen Danzig und
Pillau, und der Kurischen Nehrung zwischen Königsberg und
Memel, die »ostpreussische Sahara«, dahinbrausen und welchen,
wie es in einer anschaulichen Schilderung von A. H e n s e 1
heisst, selbst die menschlichen Wohnstätten keinen genügenden
Widerstand zu leisten vermögen, »denn mag die Fuge zwischen
Balken und Bretterwerk noch so klein sein, der Wind treibt
den Sand bis ins Innerste der Wohnungen, und wo ein Mensch
solchem Sturme ausgesetzt ist, da fühlt er sich wie mit tausend
Nadeln berührt, selbst zwischen den Zähnen merkt er, dass
der Sand eingedrungen ist.« Ob die Staubstürme Ungarns mit
der Lichtung der Wälder in Siebenbürgen, das im Mittelalter
viel waldreicher gewesen als heute, in Verbindung gebracht
werden können, ist mir nicht bekannt; die Stürme auf den
preussischen Nehrungen jedoch werden mit der Abholzung der¬
selben mit Bestimmtheit in Verbindung gebracht, und die west-
preussische Nehrung war noch vor 200 Jahren mit dichten
tiscalischen Waldungen bestanden, die für 200.000 Thaler ab¬
geholzt wurden, während man jetzt Millionen dafür geben
würde, wenn man den Wald wieder hätte. Beispiele für die
Verderblichkeit solcher Staubstürme für die Augen aus unserer
Gegend sind oben bereits angeführt, auch Hoppe misst den¬
selben in der Entstehung trachomatöser Erkrankungen in Ma¬
suren eine Rolle bei, und nach Germ an n verläuft in Syrien,
das reicher ist an Wasser und Vegetation und staubärmer als
Palästina, das Trachom viel milder.
Trotz der noch immer zunehmenden, von Addison,
Reaumur, Buffon und anderen Autoren schon im vorigen
Jahrhundert beklagten Verarmung Europas an Wäldern, ist
die grosse Bedeutung derselben zum Feucht- und Kühlerhalten
des Bodens, zur Bewahrung des Wasserschatzes einer Gegend,
sowie in Verbindung mit der Moosdecke des Bodens, welche
wie ein Schwamm das Wasser schnell aufnimmt, aber langsam
abgibt, zur Verhütung plötzlicher ausgedehnter Ueberschwem-
mungen durch Wildwasser (Sturzbäche, Fiumaren) erst durch
Alexander v. H u m b o 1 d t’s Darlegungen, denen sich
Marchand, B 1 a n q u i, Rossmässler, Karl Müller,
Lubbock, Ferd. Cohn und andere Autoren angeschlossen
haben, erkannt worden, obwohl bereits Columbus dem Um¬
fange und der Dichtigkeit der die Rücken der Berge be¬
deckenden Wälder die zahlreichen und erfrischenden, die Luft
abkühlenden Regengüsse zugeschrieben hatte, denen er längs
der Küste von Jamaica hinsegelnd ausgesetzt war, bei
diesem Anlasse in seinem Schiffsjournal auch bemerkend,
dass die Wassermenge auf Madeira, den Azorischen
und Canarischen Inseln vormals ebenso gross gewesen, dass
aber seit der rücksichtslosen Abholzung der Schatten ver¬
breitenden Wälder die Regen dort viel seltener geworden
seien; auch hat bereits A. v. Humboldt Beispiele für die
weitere Schädlichkeit derartiger Uebersckwemmungen und der
durch Zersetzung von Pflanzen stoffen hervorgerufenen Miasmen
beigebracht, unter Anderem auch eine durch fiebererregende
Ausdünstungen früher berüchtigte Gegend von Südamerika
erwähnt, wo durch Anpflanzung von Bäumen um einen den
heissen Sonnenstrahlen ausgesetzten Teich die Luft gesünder
geworden ist — doch ist dieser Zusammenhang der Dinge,
diese für unseren Gegenstand so wichtige zweite Folge der
Waldverwüstung, wohl erst durch die Schilderung Karl
Müller’s von Halle bekannter geworden, der die Fieber des
Delta des Rhone, der Niederungen des Po, sowie im Gegensätze
zu Theophrast und H. Kiepert auch der römischen
Campagna von diesem Umstande wohl mit Recht ableitet.
3. Während die bisher betrachtete Schädlichkeit haupt¬
sächlich und in erster Linie das Auge selbst und unmittelbar
betrifft, in ihrer Wirkung allerdings oft noch unterstützt durch
gleichzeitige Einwirkung auf die Schleimhaut der Nase, übt
das jetzt zu besprechende Moment, Moder- oder Sumpfluft,
seine erste Einwirkung zunächst auf die Nase aus, um von da
entweder örtlich nach aufwärts fortschreitend oder durch
Gefässverbindungen verschleppt, auch die Schleimhaut des
Thränen-Nasencanales und die Bindehaut zu befallen.
Die Schädlichkeit der Sumpfluft im Allgemeinen ist aller¬
dings schon in alter Zeit bekannt gewesen, z. B. auch von
den Ausdünstungen der sumpfigen Thalkessel von Böotien
und der dort herrschenden dicken und schweren Luft der
Stumpfsinn seiner Bewohner bereits von alten Schriftstellern
abgeleitet worden, obwohl Plutarch, nicht gerade wahr¬
scheinlich, massige Fleischnahrung seiner Landsleute hiefür
verantwortlich machen wollte; auch ist schon um 450 vor
unserer Zeitrechnung der griechische Arzt und Philosoph
Empedokles zu Ansehen und Ruhm gelangt, als er die
Ursache einer eine Stadt von Sicilien verheerenden Endemie
in sumpfiger Beschaffenheit des Bodens erkannte, während bei
uns,, in Ostpreussen, in Osterode, mitten in der Stadt gelegene,
einen bedeutenden Flächenraum einnehmende Sumpfwiesen in
Folge ihrer Ausdünstungen dortige Aerzte noch bis Anfang
vorigen Jahres mit Kranken, auch Augenkranken, reichlich
versorgt haben und der die Trockenlegung dieser Wiesen ver¬
anlassende Empedokles von Osterode erst neuestens er¬
standen ist. Ja für die Bedeutung sumpfiger Ausdünstungen
selbst für das Auge liegt ein classisches Beispiel schon in der
Geschichte Hannibal’s vor, der, bei seinem Marsche durch
das ehemals weit hinauf sumpfige und überschwemmte Thal
des Arno fieberhaft erkrankt, ein Auge eingebüsst hat: dass
da nun gerade ein Fall von Trachom und besonders der
von einigen Autoren beschriebenen acuten Form desselben mit
rapider Einschmelzung der Hornhaut Vorgelegen habe, das
kann natürlich nicht nachgewiesen werden und es könnte an
und für sich auch z. B. ein Ulcus serpens der Hornhaut ohne
granulöse Erkrankung der Bindehaut gewesen sein, was bei
fieberhafter Erkrankung, besonders auch bei Influenza mit
gleichzeitiger Naseneiterung nicht selten vorkommt. Leider aber
gibt es ja noch viele Personen, welche die Wichtigkeit des in
Rede stehenden Momentes nicht einzusehen scheinen und Be¬
denken tragen, die mit Follikelbildung verbundene Form des
Trachoms für einen grossen Theil der Fälle als das zu be¬
zeichnen, was es ist und wofür ich es, im Anschlüsse an Be¬
obachtungen einiger anderer Autoren schon im Jahre 1893
erklärt habe, als den Begleiter der Malaria, als eine vorwiegend
miasmatische Infectionskrankheit; geht doch selbst ein
Autor von so grosser Erfahrung und unabhängigem Urtheil
wie Prof. Raehlmann in Dorpat über diesen ätiolologisch
und prophylaktisch äusserst wichtigen Punkt mit der kurzen
Notiz hinweg, dass eine klimatische Beeinflussung rein ört¬
licher Natur, einer Sumpfgegend u. dgl., mitunter nicht zu
bestreiten sei. Das ist natürlich viel zu wenig gesagt; es muss
vielmehr heissen, dass dieses Moment sehr häufig oder selbst
ausserordentlich häufig nachzuweisen und in der weitaus
grössten Zahl aller Fälle wahrscheinlich vorhanden ist. Herrn
Prof. Raehlmann sind die von v. Zehende r citirten
Untersuchungen v. Oettingen’s und v. Himmels tir ns
über das in Livland so häufige Trachom, das circa zwei Drittel
aller Krankheiten der Bindehaut und etwa das Fünffache aller
anderen, die Bindehaut nicht betreffenden Augenkrankheiten
dort ausmacht, vielleicht nicht ganz gegenwärtig gewesen,
Untersuchungen, durch welche dargethan wurde, dass das
Trachom der dortigen Gegend einerseits hervorgerufen wii d
durch ungünstige Wohnungsverhältnisse, sowie durch Mangel
an gehöriger Reinlichkeit, andererseits aber vorzugsweise in
sumpfigen Gegenden vorkommt, während an der Meeresküste,
wo durch die häufig wehenden Seewinde die Luft von fremden
Beimischungen frei erhalten wird, eine weit grössere Immunität
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vorherrscht, dass ferner in den feucht gelegenen Districten
336%, an der Seeküste aber kaum 1% Trachomkranke sich
fanden. So wird auch in Finnland, dem trachomreichsten
Lande von Europa, woselbst schon in gewöhnlicher Zeit 33%
der Gesammtfkiche des Bodens von Seen und Sümpfen bedeckt
sind, »dieses Gemisch von Feld, Wasser, Heide, Moor und
Nadelwald im Frühjahre, bei der Schneeschmelze, völlig un¬
entwirrbar und unlösbar, indem dann das Ganze in eine
richtungslos durcheinander flutliende Wasserfläche sich ver¬
wandelt, aus der nur die Wälder und grösseren Granitblöcke
hervorragen, und erst wenn der Wasserschwall sich verlaufen
hat, kann man die Hauptabflusssysteme der Seen einiger-
massen unterscheiden« (Oppel). So ist der grund wasserreiche
Boden der am Südabhange des Karstes gelegenen Stadt Triest,
der Boden von Wilhelmshaven, der geradezu morastige und
Ueberschwemmungen durch Sturmfluthen der Ostsee nicht
selten noch dazu ausgesetzte Boden von St. Petersburg, so
sind die Schilfwaldungen von Polen und Galizien, die Sumpf¬
gebiete des Dnjepr und Dnjester, die von M. Willkomm
geschilderten, Hunderte von Quadratmeilen bedeckenden, nur
im Winter zugänglichen Morastwälder von Kurland und Liv¬
land, die Seen, Sümpfe und Ueberschwemmungsgebiete in Ost-
und Westpreussen, Posen und Mecklenburg, die Grünland¬
moore des Rheins, die trotz vielfacher Trockenlegung seit An¬
fang des Jahrhunderts noch immer 8% der Bodenfläche von
Irland einnehmenden Sümpfe und Moore von Connaught, die
Niederungen des Tajo, das zur Zeit des Marius noch gesunde,
jetzt verschlammte und mit Schilfsümpfen (Rosalieres) be¬
standene Delta des Rhone, das von V. H e h n so plastisch
geschilderte, an Sümpfen und undurchdringlichen Rohrdickichten
reiche Ueberschwemmungsgebiet des Po, das später noch näher
zu besprechende Ueberschwemmungsgebiet der Donau und
der Theiss, die morastige Dobrudscha, die Deltas des Ganges,
Mississippi u. A. reich an Fieber wie an Trachom, so gehen,
wie ich schon im Jahre 1886 und 1893 erwähnt habe, dem
jährlichen Aufflackern der Trachomendemie in Aegypten mit
Fieber verbundene, an Malaria erinnernde Schnupfenanfälle
oft voraus.
Einer Aeusserung von Prof. Schmidt-Rimpler in
Göttingen, dass nicht jeder leichte Schnupfen mit Trachom
verbunden sei, wird man beipflichten, und es führt ja auch
nicht jeder leichte Schnupfen zu einer eiterigen Laryngitis
oder einer Mittelohreiterung oder selbst nur einer Eiterung der
Nebenhöhlen der Nase, und es sei in dieser Hinsicht noch be¬
sonders hervorgehoben, dass von zwei im letzten Jahre von
mir behandelten, in demselben Betriebe — einer der Be¬
schreibung nach überaus verwahrlosten, niedrig gelegenen und
durch das schmutzige Wasser der Radaune öfters über¬
schwemmten Bonbonskocherei in unserer Altstadt — beschäf¬
tigten Personen, die eine, ein von auswärts kürzlich zugereister
und bis dahin angeblich immer gesunder Mann eine profuse
Eiterung der Nase und beider Kieferhöhlen ohne Augener¬
krankung dort acquirirt hat, die andere aber, ein an doppel¬
seitigem obstruirendem Nasenkatarrh schon länger leidendes
Mädchen, eine heftige, mit Fieber verbundene Eiterung der
Nase, sowie eine stark eiterige, mit bedeutender Wulstung und
Furchung der Uebergangsfalten verbundene trachomähnliche
Entzündung der Bindehaut mit beginnender Trübung und
\ ascularisation der Hornhaut sich zugezogen, welche bei etwas
längerem Verweilen in jenem Locale das Bild des acuten oder
subacuten Trachoms meines Erachtens hätte dargeboten haben
müssen, aber bei Schwitzen, Kataplasmiren der Augen und
täglicher Ausspülung derselben sowie der Nase im Laufe eines
Monats gänzlich geschwunden ist und einen so hohen Grad
offenbar nur deshalb erreicht hat, weil eine Störung der Cir¬
culation im Auge in Folge der Verstopfung der Nase schon
längst vorhanden war. Wenn aber Herr Prof. Schmidt-
Rimpler unterlassen hat, anzugeben, aus welchen Anzeigen
er die von ihm behauptete Nichtbetheiligung der Nase in
seinen Fällen von Trachom erschlossen habe, wenn ich ferner
nun doch wohl oft genug dargelegt habe, dass die einfache
Inspection der Nase von vorn oder auch von hinten her zum
Ausschliessen nicht nur einer Sinovitis maxillaris oder fron¬
talis, sondern selbst nur einer Eiterung der Nase überhaupt
nicht genügt, dass für den letzteren Zweck unbedingt noch
eine Probeausspülung, mindestens noch der Nasenhöhle vor¬
genommen werden müsse, da hiebei oft Eiter entleert wird,
von welchem bei rhinoskopischer Untersuchung nichts zu be¬
merken war; wenn weiter aus der Mittheilung Schmidt-
Rim pier’s nicht ersichtlich ist, ob er eine derartige Durch¬
spülung wirklich gemacht habe, dann steht ihm ein ent¬
scheidendes Urtheil in dieser Frage doch wohl kaum zu.3)
Vielleicht entschliesst sich Herr Prof. Schmidt-Rimpler
sein Trachom material auf concomitirende oder primäre Nasen¬
krankheiten für die Folge etwas gründlicher anzusehen, be¬
ziehungsweise ansehen zu lassen, vielleichtauch Nachforschungen
darüber anzustellen, ob dem Ausbruche der Augenkrankheit
nicht in so und so vielen Fällen eine fieberhafte, malariaähn¬
liche Erkrankung vorausgegangen ist, denn nach meinen Er¬
innerungen rekrutirten sich im Jahre 1877 die Trachomkranken
der Göttinger Augenklinik zum guten Theile aus der Gegend
von Mühlhausen in Thüringen und dem Ueberschwemmungs¬
gebiet der Unstrut, deren Regulirung schon Napoleon I. beab¬
sichtigte, die aber noch heute nicht erfdgt ist.
(Fortsetzung folgt.)
Ueber den normalen Grosszehenreflex bei Kindern.
Von Fritz Passini. Assistenten der Abtheilung- des Herrn Prof. Frühwald
an der Wiener Allgemeinen Poliklinik.
Babinski1) hat vor einigen Jahren die Aufmerksam¬
keit auf ein Phänomen gelenkt, dem er grosse pathognomoni-
sche Bedeutung zuschreibt. Kitzeln der Fusssohle erregt
bei Vorhandensein einer organische» Läsion der Pyramiden¬
bahnen reflectorische Extension der grossen Zehe, während
normaler Weise eine Flexion eintritt. Das »phenomene des
orteils« hat bei der Nachprüfung verschiedene Beurtheilung
erfahren; während vor Allem französische Aerzte [R. Cestan
i\nd LouisLe S o u r d 2), G 1 o r i e u x 3), van Gehuchten 4),
Ganault5), Collier6)] Babinski beistimmen, sprechen
andere Neuropathologen dasselbe als unverlässlich an (Martin
Cohn7). Giudiceandrea8) leugnet einen diagnostischen
Wert, während eine Reihe deutscher Autoren sich für den¬
selben einsetzt [Schüler9), K a li s c h e r 10), Remak]11).
Seit Monaten dieses Phänomen an grösserem Kinder¬
materiale prüfend, kann ich die Angaben Babin ski’s be¬
stätigen. Ohne Ausnahme ergab sich bei Kindern, deren Pyra¬
midenbahnen eine organische Schädigung erlitten hatten, dieser
Extensionsreflex. Es wurden Fälle geprüft von cerebraler
Diplegie und cerebraler Monoplegie, angeborenem Hydro¬
cephalus mit spastischen Paresen der unteren Extremitäten,
spinalen Erkrankungen, wie Compressionslähmungen durch
Caries vertebrae.
Auffällig waren die Befunde bei Meningitis tuberculosa;
hier schien es anfänglich, als wenn das Auftreten des Exten¬
sionsphänomens als terminales Zeichen aufzufassen wäre, in
dem eine Reihe von Fällen ein bis zwei Tage ante mortem
die vorherige Flexion in eine Extension verwandelte. Die
späteren Befunde widerlegten jedoch diese Ansicht, es wechseln
Extension und Flexion an derselben Extremität an aneinander¬
folgenden Tagen. Die gestörten Circulationsverhältnisse im
Gehirn und Rückenmark, welche die Region der Pyramiden¬
bahnen zeitweise ödematös durchtränken Hessen, lieferten wohl
diesen wechselnden Befund.
Vor Allem interessirte der Grosszehenreflex der kleineren
Kinder in seinem physiologischen Verhalten. Nach Babinski
ruft ein »Chatouillement de la plante du pied« bei Neugeborenen
eine Extension hervor, weil zur Zeit der Geburt das Pyra¬
midensystem seine Entwicklung noch nicht vollendet hat; sie
stellen, wie er sich ausdrückt, eine Art Paraplegiker vor,
deren Pyramidenbahnen die Aufträge des Gehirnes schlecht
3) An der Bedeutung der Probedurchspülung der Nase zum Nach¬
weise einer Eiterung bin ich selbstverständlicher Weise auch durch die
gegentheilige Meinung des Herrn Prof. Friedrich in Kiel, welchem wohl
eine etwas grössere Erfahrung auf diesem Gebiete zukommt, nicht im mindesten
irre geworden.
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überbringen Erat wenn die Kinder lauten können, verändert
sich der Extensionstypus in die normale Flexion der Er-
wachsenen. R. Ce st an und Louis Le Sourd fanden bei
allen Kindern »unter einem Jahre« eine Extension der grossen
Zehe- den genauen Zeitpunkt, wann das Kind mit L lexion
auf den Fusssohlenrciz reagirt, exact zu bestimmen, gelang
ihnen nicht.
Bei den daraufhin gerichteten Untersuchungen wurde
der von diesen Autoren angegebene Prüfungsmodus möglichst
o-enau eingehalten. Sie heben die Schwierigkeit der Unter¬
suchung bei Kindern hervor, welche wegen der Abwehrbewe¬
gungen, die auf geringen Reiz erfolgt, undurchführbar wird,
und empfehlen, die Sohle nur mit der Fingerkuppe zu be¬
streichen. Die Verhältnisse einer Ambulanz machen es an sich
schwierig, exact zu untersuchen; man hat es vor Allem mit
den S'dir unruhigen darmkranken Kindern zu thun und dann
gerathen die in warmen engen Hüllen hereingebrachten Säug¬
linge nach Entkleiden in eine ihnen behagliche doch lur die
Prüfung sehr störende Muskelunruhe.
Um diese zu bannen, wurden allerlei Mittel ^ angewandt;
wenn möglich wurden sie an die Brust gelegt (I aragö -),
oder ihnen die Flasche gereicht, ein anderes Mal durch Er
regung ihrer Sinnesnerven abgelenkt, was durch einen voi
gehaltenen Lichtre Hector oder durch akustische Reize gelang.
So waren die Ergebnisse der Untersuchung meist klare, doch
wurde die Mehrzahl der Fälle zur Controle nach der Genesung
noch öfters vorgenommen, wie es auch bei den im Spita e
liegenden Kindern geschah, um eine durch Krankheit gestei¬
gerte Reflexerregbarkeit auszuschaltcn.
Schüler hat in CasseTs Poliklinik 100 Rinder
auf ihren GrosszehenrefleX untersucht und fand bei 4U/q
keinen Reflex, bei 12% Extension, bei 80% Flexion bei
18% eine undeutliche undefinirbare Bewegung; diese 4U /0
waren Säuglinge. Unter Anwendung der genannten Mass¬
nahmen wurde die Zahl der negativen Befunde sehr ein¬
geschränkt, so dass von 100 Kindern bis zu einem Jahre nui
sechs eine Zehenbewegung lieferten, die weder von mir noch
von den mitbeobachtenden Collegen in irgend einem Sinne
gedeutet werden konnte. Die fortgesetzten Untersuchungen
ergaben bei weiterem Materiale dasselbe Resultat. Beweisender
als diese Prüfungen sind einige Befunde an in 1 nvatptlege
befindlichen Kindern, an denen das Auftreten des biex.ons-
typus genauer bestimmt werden konnte.
B -\ normal sich entwickelnden Kindern ist bereits im
vierten Quartale des ersten Lebensjahres der Flexionstypus
der vorherrschende. Sein Auftreten geht parallel mit ei a
gemeinen Entwicklung des Individuums; im Wachsthum aus
irgend einer Ursache stark zurückgebliebene Säuglinge e ne ten
länger die Extensionsbewegung (z. B. ein 14 Monate altes
Kind, das an Gewicht einem fünfmonatlichen gleichstand),
während sehr gut florirende Kinder ausnahmsweise schon
früher (ein Kind im fünften Monate) Flexion ergaben.
Kali scher erklärt die physiologische Umänderung
dieses Phänomens aus den veränderten Functionen der Muskeln
des Fusses. Dieser ist in der ersten Zeit als Greiforgan aut-
zufassen, die Dorsalflexion ist der Effect des naturgemäss m
den schwächeren Antagonisten verlaufenden Reflexes emc
angeborene Fluchtbewegung; später wird er zum fort
bewegungs- und Stützorgane, die Interossei treten an 3e eu un^
hinter die Zehenstrecker und entsprechend erregt nun der
Refleximpuls die plantarflectirenden Interossei und Lumbri-
coides. Nach Obigem coincidirt aber das Auftreten des Plantar-
reflexes nicht mit der Zeit des Laufenlernens, es ge it mm
voran, vor Allem bei rachitischen Kindern, die, wo i genä i ,
erst oft nach der Mitte des zweiten Jahres zum Lauten
kommen. Der Gebrauch des Fusses zum Gehen kann tem
nach wohl nicht die mehr mechanische Ursache dieses p ivsio
logischen Wechsels im Reflexacte sein. Derselbe muss wo i
von der fortlaufenden Entwicklung des Pyramiden systemes
abhängen, die aus der angeborenen zweckmässigen oi sa
flexion eine für fjen kommenden Gehact wichtige Plantar¬
flexion einleitet.
Pathologische Veränderungen der Pyramidenbahnen beim
älteren Kinde und Erwachsenen rufen den Jugendzustand
hervor, der bei Ausbleiben der Entwicklung des Tractus
cortico- spinalis, z. B. bei Mikro- und Anencephalie (Stern¬
berg13) erhalten bleibt. Das Extensionsphänomen bei lädirten
Pyramidenbahnen ist fast durchgehends ein exquisiteres als
das physiologische des Neugeborenen. Das erste wie das zweite
ist eine Theilerscheinung eines gesteigerten Muskeltonus. Der
Neugeborene zeigt spastische Symptome, die nach Anton")
nichts Anderes sind als das Resultat des Ueberwiegens der
Hinterstranginnervation über die des Seitenstrangsystemes. Beide
erhalten, antagonistisch wirkend, den normalen Muskeltonus,
erstere befördernd, letztere hemmend (Ad amkiewicz 1 ')•
Mit der allmäligen Entwicklung der Pyramidenbahnen kommt
es darin zum Ausgleich; zweitens die Erlernung gewollter
combinirter Muskelactionen, des Aulrechtsitzens, Knochens,
Stehens und endlich des Gehens wird möglich, andere Muskel¬
gruppen werden zur Function herangezogen, aus dem Greiforgan
wird ein Locomotionsorgan gebildet. Ist die Entwicklung noch
nicht so weit gediehen, so besteht die angeborene Abwehr¬
bewegung; ein späterer Ausfall der hemmenden Fasern durch
eine Läsion ruft deutlich den Extensionstypus wieder hervor.
Literatur.
*) M. Babinski, Da phenomene des orteils et de sa valeur semio-
loeique. La semaine medicate. 1898, pag. 321. „
2) R. Cestan et Louis Le Sour d, Gazette des hopitaux.
1899, pag. 1249.
3) Qlorieux, Journal de neurolog. 18J3, Dec.
4) van Gehuchte n, Journal de neurolog. 1898.
5) Ganault, referirt: Neurologisches Centralblatt. 1899, pag. obö.
6) Collier, referirt: Neurologis dies Centralblatt. 1899, pag. 693.
i\ Martin Cohn, Neurologisches Centralblatt. 1899, pag. 580.
.8) Giudiceandrea, Bull. Soc. Lancisiana. 1899. Referirt: Mün¬
chener mediciuische Wochenschrift. 1900, Nr 29.
9) Schüler, Neurologisches Centralblatt. loJJ, ooo.
Kalischer, Virchow’s Archiv. Nr. 155.
in R e m a k, Neurologisches Centralblatt. 1900, lieft 1.
m F a r a g 6, Archiv für Kinderheilkunde. 1887.
i3\ M. Sternberg, Die Sehnenreflexe, pag. 135
141 Gr Anton, Sammlung medicinischer Schriften. Nr. Io, pag. 4G
15) A Adamkiewicz, Zeitschrift für klinische Medicm. 1881.
Formaldehyddesinfection.
Von Dr. Basil Kluczeako, k. k. Landes-Sanitätaeferent in der Bukowina-
Formaldebyd ist das Aldehyd der Ameisensäure oder des
Oxydationsproduetes des Methylalkohols, welches entsteht wenn
inan die Dämpfe des letzteren über eine glühende Platin-
spirale zusammen mit Luft streichen lässt.
Es entwickelt sich hiebei bekanntlich ein farbloses,
stechend riechendes, in Wasser leicht lösliches Gas, welches
sich in der Luft leicht zu Ameisensäure oxydirt.
Auf dem starken Reductionsbestreben, beziehungsw u» -
Reactionsvermögen beruht wohl in erster Lime seine desinfl-
Cil'en Zu'Dresin“oüönszwecken werden verschiedene Präparate
dos Formaldehyds verwendet, und zwar:
1. Das Formalin, das ist eine 40°/0ige wässerige Losung
dos vas förmigen Formaldehyds.
S2 Paraformolaldehyd; das ist das feste Polymensirungs-
product des Formaldehyds in Pastillenform gebrad
1 8. Das Holzin, das ist Formalin m methylalkoholnc!
Lösung. fonn das ist eiue Mischung aus Formalin mit
IO»/, Glycerin, soll der Polymerisirung des Formaldehyds ent-
gegen zahlreichen eingehenden Untersuchungen des Formal-
desinfection haben das Resultat geliefert dass wir m 1» m
dehyd ein sicheres ausgezeichnetes D*.nfe — >
dass aber dasselbe nicht m Oie Ober-
inficirenden Substanzen dringt sondern n
fläch endesinfection entfaltet Ferner , st man zur «
niss gelangt, dass die Formaldehyddämpfe, um m ve.lnsshc
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Weise desinflcirend zu wirken, mit Wasserdämpfen gesättigt
sein müssen.
Man hat zwar keine erheblichen Gesundheitsstörungen
durch das Formaldehyd beim Menschen beobachtet, aber das
Gas hat einen äusserst durchdringenden, die Schleimhaut der
Augen und Nase heftig reizenden Geruch. Die Augen fangen
an zu thränen, Reiz zum Niesen stellt sich ein, ebenso Kratzen
im Halse und Athembeklemmungen.
Dies wird allmälig so unangenehm, dass man aus der
Formaldehydluft zu entfliehen sucht.
Der Geruch durch Formaldehyd ist sonach äusserst be¬
lästigend und lässt sich durch Lüften schwer beseitigen. Offen¬
bar findet starke Flächenanziehung durch Wände und Gegen¬
stände statt und selbst nach mehrtägigem Lüften ist, wenn die
Fenster geschlossen oder gar das Zimmer geheizt wird, der
lästige Geruch wieder da.
Diese unangenehmen Beschwerden, welche die ganze
Formaldehyddesinfection in Frage zu stellen geeignet sind,
lassen sich durch Einleitung von Ammoniakdämpfen in die
mit Formaldehydgas gesättigten Räume beseitigen. Der Am¬
moniak verbindet sich nämlich mit Formaldehyd zu einer
festen, geruchlosen Substanz (Hexamethylentetramin). Um einen
vollen und sicheren Erfolg zu erzielen, um die Nachbarschaft
von der lästigen Einwirkung der Formaldehyddämpfe zu ver¬
schonen, sollen die Ammoniakdämpfe gleich nach beendeter
Desinfection in den noch ganz mit Formaldehyd gefüllten Raum
eingeleitet werden.
Des gesammte Formaldehyd wird dann in die obgenannte
feste geruchlose Siibstanz umgewandelt und der Ammoniak-
iiberschuss lässt sich leicht durch Lüften beseitigen, so dass
der desinficirte Raum sofort wieder benützbar wird.
Von den bis jetzt angewendeten Präparaten des Formal¬
dehyds erscheint das Formalin, das ist, wie oben gesagt, eine
40%ige wässerige Lösung des Formaldehyds, das entsprechendste
und billigste Mittel.
Was die zu diesem Desinfectionsverfahren hergestellten
Apparate anbelangt, so eignen sich diejenigen am vorteil¬
haftesten hiezu, welche das Formaldehyd gleichzeitig mit
einer entsprechenden Menge Wasserdampfes entwickeln. So
der von Praussnitz angegebene und von B a u m a n n in
Wien hergestellte, sodann der sogenannte Breslauer, nach
Angabe F 1 ü g g e’s construirte, oder der durch Czaplewski
modificirte S c h 1 os s m a n n’sche Apparat. Es ist jedoch zu er¬
warten, dass es der Technik in absehbarer Zeit gelingen wird,
noch bequemer bantirende und billigere Apparate herzu¬
stellen.
Für die Desinfection von Räumen rechnet man auf
100 m3 Raum 11 Formalin und 31 Wasser, ferner für die
Dampfentwicklung als Feuerungsmaterial 11 Spiritus.
Bei Räumen bis zu 200 »i3 L5£ Formalin, 4 1 Wasser
und 1‘5 l Brennspiritus.
Die Entwicklung des Formaldehydgases und Wasser¬
dampfes hat durch sieben Stunden vor sich zu gehen. Durch
Zusatz der doppelten Menge Formalin kann die Dauer des
Verfahrens auf die halbe Zeit, das ist auf 3 72 Stunden, herab¬
gesetzt werden.
Nachdem vielfache Versuche erwiesen haben, dass die
Temperatur, welche in dem zu desinflcirenden Raume herrscht,
für den Erfolg sehr massgebend ist, als bei Temperaturen
unter 10" bei sonst gleichen Bedingungen der Erfolg schlecht
wird, muss in dem zu desinflcirenden Raume die Temperatur
mindestens 12° betragen.
Ferner haben zahlreiche Beobachtungen gelehrt, dass, so
hinge der Ofen oder die Heizkörper überhaupt erheblich wärmer
sind, als der übrige Raum, die Abtödtung der an denselben
oder an anderen von ihnen in der Nachbarschaft intensiver
erhitzten Gegenständen etwa haftenden Infectionsstoffen in
hohem Grade unsicher wird. Es muss also als wichtiger Grund¬
satz aufgestellt werden, dass vor Beginn der Desinfection ein
vollkommener Temperaturausgleich im ganzen Raume vor sich
gegangen ist, dass also die etwa nothwendig gewesene Heizung
des Ofens längere Zeit vor Beginn des Desinfectionsverfahrens
ausgeführt uud dass im Momente des Anzündens der Formal¬
apparate der Ofen oder die Heizkörper jedenfalls schon er¬
kaltet sind.
Nachdem das Formaldehyd, wie oben bemerkt wurde
nur eine Oberflächendesinfection bewirkt, müssen die zu des-
iuficirenden Gegenstände so aufgestellt und angebracht werden,
dass an alle ihre Flächen das mit Wasserdampf gesättigte
Formaldehyd gelangen kann.
Ferner ist in dem zu desinflcirenden Raume ein Ent¬
weichen des überaus flüchtigen Formaldehyds durch Fugen
und OefFnungen (Ofenthiiren, Ventilationsöffnungen, Schlüssel¬
löcher, Fenster- oder Thürfugen) wirksam zu verhindern.
Demgemäss müssen alle Ritzen, Fugen an Fenstern und
Thüren und sonstige Undichten in denselben sorgfältig mit in
2%iger Carbolsäure- oder in solcher Lysollösung getränkten
Wattestreifen oder mit Lehm, welcher mit einer dieser des-
inficirenden Lösungen angemacht ist, in verlässlicher Weise
verstopft werden.
Ferner sind alle in dem Raume befindlichen Oeffnungen
mit gekleistertem und in eine der obangeführten Desinfections-
flüssigkeit getauchtem Papier, mit Ziegeln und Lehm, oder auf
eine andere Weise wirksam zu verstopfen.
Sodann werden alle an den Wänden aufgestellten oder
aufgehängten Gegenstände, als Schränke, Tische, Tafeln, Land¬
karten, Bilder von denselben abgerückt, beziehungsweise ab¬
genommen. Die Thüren von Schränken, die Schubladen von
Tischen und anderen Möbeln werden geöffnet. Bücher, Land¬
karten, Gemälde, Kataloge und Wandkarten sind mittelst
carbolisirten Bindfadens auf eigenen Gestellen oder in Er¬
mangelung derselben auf im betreffenden Raume gespannten
Schnüren frei aufzuhängen.
Handelt es sich um die Desinfection von Wohnräumen,
insbesondere von Schlafzimmern, so wird gebrauchte Leib¬
und Bettwäsche in vorbereitete, siedende, starke Lauge ein¬
gelegt, in welche sie sodann nach beendeter Desinfection aus¬
zukochen ist.
Das Bettzeug wird im Zimmer, wie oben angeführt, frei
hängend befestigt. Kleider sind ebenfalls frei hängend zu
legen, Röcke und Blousen, indem man eine Stange durch beide
Aermel steckt, Rockkragen sind aufzuklappen, sämmtliche
Taschen werden nach Aussen umgewendet, Taschentücher
sind gleich der anderen Wäsche zu behandeln, das ist in Lauge
einzulegen und sodann auszukochen.
Auf dem Fussboden, insbesondere in der Nähe von
Betten oder Sitzstellen befindliche, infectionsverdächtige Ver¬
unreinigungen sind entweder mit 5%iger Carboisäurelösung,
oder mit frisch zubereiteter Kalkmilch zu übergiessen.
Nachdem die zu desinflcirenden Gegenstände zweckmässig
untergebracht, beziehungsweise aufgestellt wurden, nachdem
ferner alle nothwendigen Dichtungen und Abschlüsse richtig
ausgeführt wurden, ist durch das Schlüsselloch der Eingangs-
thiire eine Metallröhre durchzustecken, durch welche sich als
nothwendig erweisende dampfförmige Einleitungen von aussen
in den Innenraum vorgenommen werden können.
Sodann werden die in Verwendung kommenden Formal-
dehydentwickler in Stand gesetzt und so aufgestellt, dass sie
ein Oeffnen der Thüre ermöglichen. Ferner muss, um jegliche
Feuersgefahr auszuschliessen, ein freier Raum im Umkreise
von mindestens 0'5 w2 um die Apparate gelassen werden.
Auch wird es sich empfehlen, diese Apparate auf einer
feuersicheren Unterlage — Blech, Ziegeln — aufzustellen, doch
muss der Fussboden unter derselben mit 5%iger Carbol-
säurelösung oder mit frisch zubereiteter Kalkmilch vorher
sorgfältig desinficirt werden.
Ist eine völlig sichere Aufstellung der Apparate im Innen¬
raume nicht möglich, so können die Breslauer Apparate auch
ausserhalb des Zimmers aufgestellt werden und das entwickelte,
mit Wasserdampf gesättigte Formaldehydgas mit Hilfe einer
Schlauchverbindung durch das im Schlüsselloche angebrachte
Rohr geleitet werden.
Nachdem die die Desinfection vorbereitenden Schritte
vollendet sind, haben die Desinfectionsdiener vor dem Ver¬
lassen des Raumes sich selbst derart zu desinliciren, dass eine
Verschleppung von Infectionskeimen oder eine Ansteckung der
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Diener selbst ausgeschlossen erscheint. Demgemäss haben die j
Desinfectionsdiener, welche zweckmässig mit leicht waschbaren,
leinenen bis zum Knöchel reichenden, mit Kapuzen versehenen
Oberkleidern und mit Galochen über den Schuhen arbeiten
sollen die Hände mit 2%’ger Carboisäurelösung und mit
Seife,’ oder mit 2%iger Lysollösung zu waschen, mit nassen
Händen das Oberkleid abzunehmen und, wie oben bereits an¬
gegeben, frei hängend anzubringen..
Sobald dies geschehen und sobald die mit brennenden
Spiritus armirten Apparate tadellos functioniren, haben die
Diener den inficirten Raum schleunigst zu verlassen und die
Galochen mit der oben bezeiclmeten desinficirenden Lösung
von Aussen intensiv zu reinigen.
Sodann haben sie die Dichtung der Fugen in der Em-
gangsthiire zu bewerkstelligen.
Die Desinfectionsdiener sollen mit der nothwendigen Um¬
sicht und mit einer peniblen Genauigkeit Vorgehen und sich
der grössten Verantwortlichkeit ihrer Aufgabe voll bewusst sein, j
Als oberster Grundsatz für dieselben muss autgestellt
werden, dass sie sich Alles, was sie zur Ausführung des Ver¬
fahrens nothwendig haben, vor dem Betreten des zu
desinficirenden Raumes vorbereiten und knapp vor demselben
aufstellen.
Den Desinfectionsdienern ist strengstens untersagt, nach
dem Betreten des zu desinficirenden Raumes andere Räume
aufzusuchen, da hiedurch sehr leicht Infectionskeime über¬
tragen werden können.
Nach siebenstündiger oder, wenn die doppelte Menge
Formalin in Verwendung kam, nach Entwicklung
des mit Wasserdampf gesättigten Formaldehydgases muss
daran geschritten werden, den desinficirten Raum wieder be¬
nützbar zu machen. Zu diesem Zwecke müssen Ammoniak¬
dämpfe in den mit Formaldehydgas geschwängerten Raum
mittelst eigener hiezu construirter Apparate durch das im
Schlüsselloche der Thüre befindliche Rohr eingeleitet werden,
um, wie bereits oben angeführt, das freie Formaldehydgas
mittelst der Ammoniakdämpfe in das geruchlose feste
Hexamethylentetramin umzuwandeln.
Zur Entwicklung der Ammoniakdämpfe wird das 25%ige
käufliche Ammoniak verwendet.
Für 1 m3 Raum werden 8 cm3 Ammoniak gerechnet, bei
doppelter Formaldehydmenge 12 er?«3.
Der Ammoniakentwickler wird mit dem aus dem Schlüssel-
loche hervorragenden Theile der Blechröhre durch einen
starken Schlauch verbunden.
Im Beisein des Desinfectors wird das Ammoniak ver¬
dampft, wozu die Brennkraft von 100 — 150 cm3 Spiritus ausreicht.
Eine Stunde nach dem Anzünden des Ammoniakentwicklers
folgt Oeffnen des Zimmers und der Fenster, Einordnen der
Sachen, Reinigung des Fusbodens, sowie Auskochen der in
Lauge eingelegten Wäsche, eventuell auch der leinenen Um¬
hüllen der Desinfectionsdiener.
Da das in Folge der Einleitung der Ammoniakdämpte
sich bildende Condenswasser Metalltheile, namentlich Messing
stark angreift, müssen etwa in dem desinficirten Raume be¬
findliche solche Thür-, Fenster- oder Möbel beschläge, sowie
andere etwaige Metallsachen sofort sorgfältig abgerieben und
getrocknet werden.
Es wird sich empfehlen, in dem desinficirten Raume die
Fenster thunlichst lange offen zu lassen.
Bei Diphtherie, Scharlach, Masern, Blattern, Flecktyphus,
Influenza, Pest, Varicellen und Tuberculose ist die I ormalin-
desinfection anwendbar. Bei Cholera, Unterleibstyphus und
Ruhr wäre von der Formalindesinfection abzusehen und die Des-
infection auf Dampfdesinfection von Bettzeug, Wäsche, Kleidern,
auf Abwaschen der näheren Umgebung des Bettes mit Garbol-
lösung, das Tünchen derselben mit Kalkmilch und Abort-
desinfection mit letzterer zu beschränken.
Bei Abgang von Dampfdesinfectionsapparaten könnte als
vorbereitender Schritt auch bei den letztgenannten
drei Krankheitsformen die Formalindesinfection in frage
kommen.
Was die Kosten der Formalindesinfection anbelangt,
so kostet ein sogenannter Breslauer nach Flügges Angabe
von Schering in Berlin verfertigter Apparat für verdünntes
Formalin bei 72 /v, ein kleiner Apparat nach Praussnitz,
erhältlich bei Bau mann in Wien 50 if, ein solcher grosser
72 K. Ein Ammoniak-Verdampfungs- Apparat 32 Ä. Mensuren,
Trichter, Blechflaschen zur Aufnahme, sowie zum Ahmessen
und Anfüllen des Formalins, Ammoniaks und Spiritus bei
30 if. Formalin in Glasflaschen zu 5 l 3 if 20 A pro Liter;
Ammoniak rein circa 25 BA inclusive Glasflaschen 1 K 20 h
pro Liter. Brennspiritus laut Marktpreis.
Es ist aber anzunehmen, dass in absehbarer Zeit billigere
und zweckmässige Formalindesinfectionsapparate construirt
werden, sowie dass der Formalinpreis sich ermässigen wird,
wodurch die Kosten der so bequemen Formalindesinfection sich
bedeutend billiger stellen würden.
Die von der Berliner chemischen Fabrik auf Actien,
vormals Schering, construirten Formallampen, bei welchen zur
Entwicklung des Formaldehyds das feste polymerisirte Formalin
(Trioxydmethylen) in Pastillenform verwendet wird, könnten
nur in Verbindung von besonderen oder mit diesen
Lampen combinirten Wasserdampfentwicklern in Betracht
kommen.
Die obgenannte Fabrik hat auch in letzterer Zeit
Apparate erbaut, in welchen neben der Verdampfung der
Formalpastillen auch Wasserdampf entwickelt werden kann.
Von Max Elb in Dresden werden sogenannte Carbo-
formalbriquettes erzeugt. Es sind dies Patronen, bestehend aus
50p von festem Paraformaldehyd, deren jede einzelne in einer
Kohlenhülse liegt. Diese Kohlenhülse glüht nach einmaligem
Anzünden weiter und entwickelt genug Hitze, um den Para¬
formaldehyd in Formaldehydgas umzuwandeln, ohne jedoch
eine Entzündung zu bewirken.
Diese Briquettes gelangen nach Ansicht von Karl
Enoch in äusserst sinnreicher und zweckmässiger Packung
zur Versendung. Je vier solcher Briquettes werden nämlich in
Form einer Trommel zusammengebunden und oben und unten
mit ausgezackten Blechtellern bedeckt, welche als Untersatz
für die einzelnen glimmenden Briquettes zu dienen die Be¬
stimmung haben.
Zur Inbetriebsetzung der Formaldehydentwicklung ist es
nur nöthig, eine derartige trommelförmige Packung aufzu¬
schnüren, die Briquettes auf den Boden der beigegebenen
Metalltellerchen zu legen und die Kohlenhülse mit Hille eines
Streichholzes oder einer kleinen Flamme anzuglühen.
Die Briquettes glühen weiter, bis sie zu einem feinen
Pulver zerfallen, welches’ auf der Metallunterlage verbleibt.
Eine Beschädigung des Bodens durch die Hitze der glühenden
Briquettes ist ausgeschlossen. Die Dauer des Glühens derselben
ist jedenfalls länger, als die zur Verpackung der Paraformal¬
dehydpatronen nöthige Zeit.
Karl Enoch kommt auf Grund seiner Versuche zu
dem Schlussatze, dass bei grosser Feuchtigkeit der Luft in
dem zu desinficirenden Raume die anderen Formaldesintections-
methoden keinesfalls mehr leisten, als die durch Carboformal-
briquettes. , „ i xn i
Dagegen zeichnet sich letztere, nach Karl En o c b,
durch ihre ausserordentliche Einfachheit, Billigkeit, so wie
durch ihre für jeden Laien leicht zu handhabende Inbetneb-
setzung bedeutend aus.
In dem einfachsten Haushalte, im Eisenbahnwaggon, ja
in jeder Droschke, in der Wohnung der ärmsten Leute können
solche Briquettes angezündet werden.
Schliesslich entfallen die ziemlich erheblichen Anschaffungs¬
kosten für Apparate und Geräthschaften, welche bei den
anderen Methoden der Formaldesinfection benöthigt werden,
I was wohl sehr viel zur Verallgemeinerung der b ormal-
desinfection, besonders in kleineren Gemeinden beitragen
I Wl Bei diesem grossen Lobe, welches Karl Enoch den
Carboformalbriquettes spendet, wäre es sehr wünschenswert!),
diese Desinfectionsmethode zu überprüfen und weiter auszu¬
gestalten.
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Schon gegenwärtig kann jedoch betont werden, dass die
von Karl Enoch gewählte Methode, die Luft in dem zu
desinficirendcn Raume mit Wasserdampf zu sättigen, nämlich
durch Ausgiessen einer grösseren Menge assers aut den
Fussboden "oder durch Aufhängen nasser Tücher in diesem
liaume, nicht zweckmässig erscheint, und dass dieses viel
richtiger durch Aufstellung eines Wasserdampfentwicklers
erreicht werden könnte, welcher sodann auch zur Entwick¬
lung des Ammoniakgases benützt werden soll.
FEUILLETON.
Vorstellungen über die Art der Durchführung
des Unterrichtes in Geburtshilfe und Frauen¬
heilkunde.
Vorlesung- zu Beginn des Wintersemesters 1899/1900.
Von Alfons v. Rosthorn (Graz).
Gestatten Sie, meine Herren, bevor ich die mir übertragene Auf¬
gabe, Sie in zwei der wichtigeren medicinischen Disciplinen einzu¬
führen, aufnehme, Sie mit einigen einleitenden Bemerkungen zu be-
grüssen. Ich habe es hiebei für zweckmässig erachtet, an Stelle eines
rein wissenschaftlichen Kathedervoi träges ein Thema mehr allgemeinen
Interesses zu setzen, dessen Erörterung für Sie, meine Herren,
von Vortheil sein kann. Ich möchte Sie nämlich mit meinen Vorstel¬
lungen über die richtige Art der Durchführung des geburtshilflich¬
gynäkologischen Unterrichtes, sowie über das Mass der Anforderungen,
welche man für die Approbation eines Candidaten beim Examen unter
der Voraussetzung, dass derselbe ohne weitere specialistische Ausbil¬
dung die allgemeine Praxis aufzunehmen gedenkt, im gegenwärtigen
Zeitpunkte zu stellen gezwungen ist, vertraut machen. Meine Erörte¬
rungen werden demnach programmatischen Inhaltes sein.
Neben der Sorge für das Wohl seiner Pflegebefohlenen ist die
wichtigste Aufgabe des klinischen Lehrers selbstverständlich jene, Alles
daran zu setzen, den Unterricht so au^zugestalten, dass jedem einzelnen
Hörer thatsächlich das wird, was er für seine Ausbildung in dem be¬
treffenden Fache zu fordern berechtigt ist. Dies muss ihm in der
leichtest erreichbaren und fasslichsten Form geboten werden.
Allgemein ist die Klage nun über die Unfertigkeit der jungen,
in die Praxis hinaustretenden Aerzte und damit im Zusammenhang
stehend jene über die ungenügende praktische Durchbildung der¬
selben. Naturgemäss -werden Vorwürfe hauptsächlich gegen die Lehrer
jener Fächer erhoben, in welchen Verstösse in der Behandlung ganz
besonders, auch dem Laien in die Augen fallen und zu diesen gehört
wohl zweifellos in erster Linie die Geburtshilfe.
Zahlreiche Vorschläge und die Bestrebungen nach einer Reform
der Studienordnurg überhaupt beweisen hinlänglich, dass ein Zug der
Unzufriedenheit mit den erziehlichen Resultaten durch die ganze
Medicin gehe. Wenn diese Bestrebungen durch Verlängerung der
Unterrichtszeit, Einbeziehung gewisser Specialfächer, Festsetzung eines
obligaten Dienstjahres in einem Krankenhause einer Rtihe von Uebel-
ständen Abhilfe schaffen dürften, so weiden damit noch lange nicht
alle essentiellen Mängel und gerade jene, die unser Fach betreffen,
behoben werden. Diese liegen meiner Meinung nach in der noch
immer nicht entsprechenden und ausserdem nicht
genügenden A r t d e r Durchführung des Unterrichte s,
indem wir unser» n Schülern wohl die nöthige Menge theoretischer
Kenntnisse im Allgemeinen, das „Kennen“, jedoch nicht die Verwer-
thung derselben in praktischer Hinsicht, also das „Können“ beizu¬
bringen im Stande sind.
Freilich ist bei dieser Gelegenheit auch besonders hervorzuheben,
dass von dem Unterrichte in der Medicin ganz andere Dinge verlangt
werden als von dem Unterrichte des Juristen und des Technikers.
Langjährige Unterweisung in der Praxis folgt in diesen beiden Branchen
der theoretischen Ausbildung, bevor an die Selbstständigkeit gedacht
werden kann; der junge Arzt hingegen muss seine Erfahrungen auf
seino eigene Gefahr und seine eigonen Kosten hin gewinnen, wenn
es ihm seine Mittel nicht gestatten, wie es eigentlich in jedem Falle
sein sollte, mclnero Jahre auf Spitalspraxis in den verschiedensten
Fächern zu verwenden. Dieser wesentliche Unterschied kann nicht oft
genug betont werden.
• Es muss weiters zugegeben und hervorgehoben werden, dass
beim Vergleiche mit der Art des Unterrichtes zur Zeit, da wir
studirten, ganz bedeutende Fortschritte zu verzeichnen sind. Doch den
gewissenhaften und weiter strebenden Lehrer der Gegenwart können
diese lange noch nicht befriedigen, und wenn wir weiter kommen
wollen, dürfen wir die Dinge nie mit dem Schlechteren vergleichen.
Man muss sich vielmehr ein Ideal vor Augen halten, dem nahe zu
kommen, man nie und nimmer erlahmen darf. Das volle Aufgehen im
Unterricht ist unsere Pflicht!
Bedarf es Ihnen gegenüber, meine Herren, noch eines besonderen
Argumentes, warum wir an der Untrennbarkeit des Unter¬
richtes in der Geburtshilfe und der Frauenheil¬
kunde als dem einzig richtigen Principe festhalten müssen? Ich
glaube kaum. Der Zusammenhang beider Fächer ist ein so inniger,
die Abhängigkeit eines von dem anderen theoretisch und praktisch
eine so vollkommene, dass die gemeinsame Tradirung beider in einer
Hand liegen muss. Die Zusammengehörigkeit dieser beiden wurde
demnach auch durch staatliche Einrichtung in Deutschland und
Oesterreich gesichert.
Trotz dieser eben erörterten Zusammengehörigkeit darf vom
pädagogischen Standpunkte aus die gleiche Bewerthung beider nicht
zugegeben werden. Bei Einhaltung des Grundsatzes, unsere Hörer mit
solchen Kenntnissen und Fertigkeiten auszustatten, dass sie ihre all¬
gemeine ärztliche Thätigkeit ohne Gefährdung der zu Behandelnden
aufzuuehmen im Stande sind, steht, selbstverständlich die Geburtshilfe
weit obenan. Ich schliesse mich daher wohl in Uebereinstimmuug mit
allen akademischen Lehrern dem vor Kurzem von v. H e r f f in seiner
trefflichen Schrift ausgesprochenen Satze an: „Das Wohl der Mensch¬
heit, beziehungsweise das unserer Frauen verlangt in erster Linie ge¬
bieterisch die Ausbildung guter Geburtshelfer und erst in zweiter Linie
die solcher Frauenärzte.“
Nicht oft genug kann daher den Studireuden gegenüber verlautbart
werden, dass das Bediirfniss vor Allem nach Beherrschung der Geburts¬
hilfe geht, also den wichtigsten Theil der gesammten Gynäkologie im
Rahmen des Universitätsunterrichtes darstellt und mit dem aller¬
grössten Nachdrucke und in möglichst breiter Weise getrieben
werden muss.
Der geburtshilfliche Unterricht zeichnet, wie dies
in einem anderen Gebiete der Heilkunde kaum ähnlich möglich ist, das
Bedürfnissprogramm in klarer Weise vor. Diagnose und Anzeige zum
Eingriffe sind zumeist ganz präcise zu stellen, selten schwankend oder
zweifelhaft. Aber während selbst in der Chirurgie — wenige Fälle
ausgenommen — der Hausarzt zumeist noch Zeit findet, über einen
Fall woiter nachzudeuken, eventuell einen erfahrenen Collegen zu
consultiren, beziehungsweise die Kranken demselben zuzuweisen, ist
der die Geburtshilfe treibende Praktiker fast regelmässig auf sich selbst
angewiesen und zumeist gezwungen, sofort, ohne Säumen und
ohne Beistand einzugreifen, ja unter Umständen die schwierigsten
und mühevollsten Operationen unter seiner alleinigen Verantwortung
auszuführen. Von der Art seines Eingriffes ist oft genug das Erhalten
zweier Menschenleben abhängig.
Nur auf Grund theoretischer Vorbildung und entsprechender
Uebung im Untersuchen wird es möglich, eine richtige Diagnose zu
stellen. Wer möglichst viele normale Fälle mit einiger Vorbereitung
und richtigem Verständnisse zu untersuchen Gelegenheit hatte, wird
durch Erkenntniss des Abweichens von der Regel bei einem patho¬
logischen Falle sich zumeist bald zurecht finden. Zur richtigen Be-
urtheilung des Falles behufs Stellung von Prognose und der thera¬
peutischen Indication bedarf es jedoch geschulten, geburtshilflichen
Denkens, das nur, wie Her ff richtig bemerkt, durch eine Art von
Semina runter rieht erworben werden kann. Derselbe wird theils
in der Klinik vor dem gesammten Auditorium an der Hand solcher. Fälle
in Form von Besprechungen mit den Praktikanten, theils iu dem zweck¬
mässig immer von dem Vorstande der Klinik zu leitenden Operationscurse
gelegentlich der Erörterung von Indicationen und bestimmter geburts¬
hilflicher Situationen zu halten sein. Das dort Beigebrachte muss dem
Lernenden in Fleisch und Blut übergegangen sein und darf nicht in
einem Auswendiglernen bestimmter Regeln bestehen. Wer sich in
dieser Hinsicht Mühe gibt, wird auch bei seinen Hörern ein dankbares
Publicum finden ; dieselben werden sich zu dieser Art geburtshilflicher
Erziehung ebenso herandrängen, wie die Juristen und Philosophen in
die Seminare.
Die Technik geburtshilflicher Eingriffe wird am Phantom erlernt,
wobei streng darauf zu sehen sein wird, ob jeder Handgriff thatsächlich
lege artis ausgeführt wird. Jeder Fehler muss sofort gerügt werden
und beim Examen üble Folgen bringen. Auch diese Handgriffe müssen
so in Fleisch und Blut iibergegangen sein, dass der Betreffende die¬
selben förmlich automatisch, ohne darüber nachdenken zu müssen,
ausführt. Wer so eingeübt ist, wird im gegebenen Falle an der
Lebenden ohne besondere Schwierigkeiten zurecht kommen.
Die Unterrichtsmethode muss in allen klinischen Fächern
eine combinirte sein. Von vorneherein ist es zweckmässig, den
Unterricht von Anfängern und Vorgeschrittenen zu trennen. Es gliedert
sich demnach zunächst ein propädeutischer Curs von den
eigentlichen klinischen Vorlesungen ab, wobei die Ab-
solvirung des ersteren als naturgemässe Bedingung für Zulassung zu den
letzteren gelten müsste. Um viele Wiederholungen zu vermeiden, hätte
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
93?
der propädeutische Unterricht die Einführung in
beide Fächer zu übernehmen. Bei Einhaltung dieses Stand¬
punktes würde sich die Notbwendigkeit des Besuches einer Reihe von
Collegien ergeben.
I. Propädeutischer Unterricht für Anfänger.
a) Systematische, theoretische Vorlesungen
über Anatomie und Physiologie der weiblichen Sexual¬
organe unter besonderer Berücksichtigung der für den Praktiker
wichtigen Gesichtspunkte.
Nach übersichtlicher, zusammenhängender Dai Stellung der in der
descriptiven Anatomie gelehrten, morphologischen Verhältnisse müsste
auf eine eingehendere Erörterung der Topographie der Becken¬
organe besonderes Gewicht gelegt werden, um den Studirenden klare
Vorstellungen für die Aufnahme von Tastbefunden gewinnen zu lassen.
Diese Erörterungen sind durch möglichst zahlreiche Demon¬
strationen an Beckendurchschnitten zu ergänzen. Den Hörern ist
eine genaue Kenntniss von der Vertheilung des Beckenbindegewebes,
der Blut- und Lymphbahnen, sowie des Nervensystems dieser Region
beizubringen, da ihnen heute zumeist noch der so nothwendige Einblick
in die Art der Ausbreitung entzündlicher Processe und der bösartigen
Neubildungen, sowie der Auslösung reflectorischer Erscheinungen fehlt.
Eine eingehende Besprechung der wichtigen biologischen Vorgänge:
Ovulation, Menstruation und Conception ist unerlässlich. Auch das
Wichtigste aus den bezüglichen Capiteln der Entwicklungsgeschichte,
Histologie und Bacteriologie wäre hier zu tradiren.
I) Einführung in die Untersuchung von Schwan¬
geren und Beckenmessung mit entsprechenden praktischen
Ue bun gen. Dem Beginn der Touchii Übungen wären theoretische
Auseinandersetzungen über die Gefahren, welche die Untersuchung
Schwangerer, speciell aber Gebärender im Gefolge haben können, über
den grossen Werth der Prophylaxe und den Stand der heutigen Kennt¬
nisse über Desinfection und die an der Anstalt zu übende Desinfections-
technik vorauszuschicken. Da die inne:e Untersuchung Schwangerer
wesentlich ungefährlicher als jene Kreissender ist, soll gerade hier
möglichst viel Gelegenheit zu Untersuchungen unter entsprechender
Unterweisung geboten werden. Auf die grossen Vortheile guter
Durchbildung in der äusseren Untersuchung soll auch schon hier hin-
gewieeen werden.
c) Einführung in die Untersuchung gynäkolo¬
gischer Fälle mit praktischer Einübung der verschiedenen Unter¬
suchungsmethoden und ihrer Hilfen, wobei deren Vor- und
Nachtheile besonders besprochen werden müssten (Spiegeluntersuchung,
Sondirung, Dilatationsmethoden, Probeexcision und Curettement). Dazu
müssten bestimmte klare Schulfälle gewählt werden, bei denen die
Untersuchung schmerzlos zur Ausführung kommen kann und damit
die Möglichkeit gegeben ist, mehrere Practicanten nach einander einen
Fall sorgfältig durchuntersuchen zu lassen.
II. Unterricht für Vorgeschrittene.
a) Systematische theoretische Vorlesungen über
Anatomie und Physiologie, sowie die klinischen Er¬
scheinungen bei der Geburt und im Wochenbette.
b) Einführung in die Untersuch uug Gebärender
unter entsprechender Leitung und Controle eines Instructors.
c) Eigentliches Practiciren (Zutheilung zum
Dienste im Kreisssal und in den Wochenzimmern) zur
Beobachtung des Verlaufes normaler Geburten und des Wochenbettes
und etwaiger Störungen hiebei ; zur selbstständigen Leitung einzelner
Geburtsfälle, wobei den Practicanten die Abfassung der Geburts¬
geschichte zu übertragen wäre, und sie die dabei in Betracht kommen¬
den Handgriffe (Dammschutz, Abnabelung, Behandlung der Nach¬
geburtsperiode etc.) selbst praktisch zu üben hätten ; endlich zur Er¬
lernung der Wochenbettpflege und der im Verlaufe des Wochenbettes
sich ergebenden Störungen.
III. Operations-Curs.
Unterricht am Phantom zur Einübung der Diagnose der
verschiedenen Fruchtlagen, zur raschen Erkenntniss pathologischer
Lagen, zur Erlernung der Indicationsstellung der verschiedenen geburts¬
hilflichen Eingriffe, sowie der Technik bei Ausführung derselben. Ich
habe seit Beginn meiner Thätigkeit diesen Curs stets selbst gehalten,
da ich dafür halte, dass in demselben die so wünschenswerthe
Fühlung zwischen Lehrer und Schülern am besten hergestellt werde,
dass ferner durch persönliche Betheiligung des Klinikers diesem inte-
grirenden Theile des Unterrichts Seitens der Hörer jene hohe Be¬
deutung beigemessen wild, die ihm zukommt, endlich weil ich in dem
selben einen Theil des so werthvollen Seminarunterrichtes absolviren
konnte. Nur bei den rein technischen Uebungen einzelner Handgriffe,
welche durch die stete Wiederholung ein und desselben bei einer grossen
Hörerzahl — und ich hatte manchmal 80 — 140 zu verzeichnen — sehr
ermüden, Hess ich mich durch die Assistenten unterstützen.
IV. Eigentliche geburtshilfliche Klinik mit theo¬
retischen Vorträgen anschliessend an v o r z u s t ei¬
le n d e Fälle.
Hier hätte die gesammte Pathologie der Schwanger¬
schaft, Geburt und des Wochenbettes zur Erörterung zu
kommen, falls man es nicht vorziehen sollte, einzelne der wichtigsten
Capitel, so Pathologie des Beckens, Pathologie des Wochenbettes in
besonderen Collegien zu tradiren.
V. Die geburtshilfliche Poliklinik.
Diese Unterrichtsmethode erscheint wohl als die beste Alt. der
Einführung in die wirkliche Praxis, indem vorgeschrittene Practicanten
unter Oberaufsicht eines die Verantwortung tragendenden, poliklinischen
Assistenten gezwungen sind, Geburtsfälle in der Armenpraxis ausserhalb
der klinischen Räume zu übernehmen, selbstständig zu leiten und alle
nöthigen Eingriffe unter den eben draussen gegebenen Verhältnissen
auszuführen, auch das Wochenbett zu überwachen, bis die Betreffende
entlassen werden kann. Die Vorzüge dieser Art, die jungen Leute
Selbstvertrauen gewinnen zu lassen, sind zu klar in die Augen fallend,
um noch weiter darüber sich auszulassen. Leider haben wir das Beispiel
anderer Länder noch nicht nachgcahmt. Es wäre dringend zu empfehlen,
das Versäumte nachzuholen. ’)
In welcher Weise können wir diesem viel¬
gestaltigem Programme entsprechen, und welche
Mittel s t o h e n uns zur Durchführung desselben zu
Gebote?
Bei der Unterrichtsmethode, die im Anfänge eine didaktisch-
demonstrative sein muss und erst später eine inductive werden kann,
kommt zunächst die Frage in Betracht, ob systematisch¬
theoretische Vorlesungen überhaupt zu halten seien. Wer
die Geschichte des geburtshilflichen Unteirichtes kennt, weiss, dass
bis in den Anfang unseres Jahrhundertes hinein der Unterricht ein
rein theoretischer und sein Erfolg ein dementsprechend schlechter war.
Man verfiel jedoch bald wieder in das andere Extrem, indem man den
Nutzen solcher Vorlesungen als einen problematischen hinstellte, und
so kam es, dass alle geordneten wissenschaftlichen Vorträge in den
Hörsälen der Kliniker nach und nach aufhörten und es scheinen konnte,
als löse sich die mediciniscbe Lehre in praktische Demonstrations Curse
auf. Die Studenten verlernten es ganz, mit Nachdenken und strenger
Aufmerksamkeit einem Vortrage zu folgen und machte sich bei den¬
selben mehr und mehr die Tendenz geltend, Alles nur durch Ein-
pauken für praktische Zwecke gedankenlos und rein technisch zu er¬
lernen. Für den Lehrer ist es freilich viel bequemer, nur Klinik zu
halten und die Routine und Praxis durch sein Beispiel zu tradiren
(B i 1 1 r o t h).
Ich habe stets daran festgehalten, in zusammen¬
fassenden Vorträgen eine Uebersicht über den gesammten Stoff meinen
Hörern zu bieten ; freilich reicht hiezu der vorgeschriebene Semester
nicht aus. Darüber, dass selbst nur das cursorische Durchnehmen des
mächtig angewachsenen Stoffes beider Fächer ein Minimum von zwei
Semestern in Anspruch nimmt, bedarf es keiner Discussion mehr. Die
Einsicht für diese Nothwendigkeit hat bereits dazu geführt, in alle
von den Facultäten ausgearbeiteten Bediirfnissprogramme für die neue
Studienordnung zwei Semester obligaten Unterrichtes in Geburtshilfe
und Gynäkologie aufzunehmen. In Deutschland werden gewöhnlich
sogar drei Semester belegt. Mit kritischem Blicke lässt sich das praktisch
Wichtigere allerdings herausgreifen und in klarer bündiger form zur
Darstellung bringen. Dabei besteht noch immer die alte Behauptung
zu Recht, dass das durch mündlichen Vortrag Percipirte im Allgemeinen
einen nachhaltigeren Eindruck hinterlässt als das durch Lesen Aut
genommene. Wir wollen daher diese Art des Unterrichtes nicht missen.
Der theoretische Unterricht ist aber in ganz be¬
sonderer Weise durch einen a u s g i e b i g e n A n s c h a u u n g s u n t er-
rieht zu ergänzen; nie darf von einer anatomischen Veränderung
die Rede sein ohne Demonstration des betreffenden makroskopischen
und mikroskopischen Objectes. Gerade unter den Klinikern war dei
letztere allgemein vernachlässigt worden. Wenn wir auch erwaiten
') Die Bedenken der praktischen Aevzte, welche sich schon durch die
bestehendenAmbulatorien mehr benachtheiligt wähnen, als es der \\ irklich-
keit entsprechen dürfte, bei Errichtung eines neuen solchen Institutes g
burtshilflicher Natur wären dann zu beseitigen, wenn sich ein Modus Anden
Hesse, welcher die Benützui g desselben seitens zahlungsfähiger 1 arteten
sicher aussehliesst und auch bei Cassenmitgliedern auf die lütt rossensph.il e
der betreffenden Aerzte Bedacht nimmt, also auch hier eine Schädigung aus-
schliesst. Ein solcher Modus muss sich aber bei einem Ereignisse, dem so
lange Zeit entgegenzusehen ist, fe-t-teben lassen, so durch Beiluingung
eines Armutszeugnisses, Avisirung der Krankencasse, und Eutsclnh 'g'U'g
der Cassenärzte durch dieselbe u. dgl, m,
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können, dass von Seite der pathologischen Anatomen den Hörern die
richtigen Vorstellungen von den wichtigeren Veränderungen im weib¬
lichen Sexualsysteme beigebracht worden sind, so kann es einerseits
nicht schaden, manche wichtige Dinge neuerlich zu besprechen und zu
demonstriren, andererseits den Gesichtspunkt des Praktikers bei Be¬
trachtung derselben geltend zu machen und auf gewisse pathologische
Veränderungen, so z. B. jene entzündlicher Art etwas näher einzugehen,
die von Jenen zumeist stiefmütterlich behandelt werden müssen. Ein
Handmuseum mit der entsprechenden Zahl von anatomischen Schul¬
präparaten, Gefrierdurchschnitten, von pathologischen Beckenformen
nebst einer Sammlung von möglichst guten und vielen bildlichen und
photographischen Aufnahmen, Atlanten, Modellen der verschiedensten
Art (S e 1 1 h e i m’s Phantom, die stereoskopischen Bilder K ii s t n e r’s)
u. s. w. sind den Unterricht wesentlich unterstützende Factoren. 2)
Der geburtshilfliche Lehrer soll aber auch selbst Zeichner und im
Stande sein, einen jeden Befund in Form von Skizzen analog der von
Schultze gegebenen Anregung auf der Tafel zu entwerfen und so
das Verständniss zu erleichtern. Derartige einfache Schemen und
skizzenhafte Darstellungen sind weit werthvoller als das Vorzeigen von
grossen Tafeln und Bildern, die oft zu viel Detail bringen und über
das Wesentliche hinausgehen. Zwei Meister in dieser Hinsicht habe icb
unter meinen Lehrern gehabt; der eine war Langer, der die com-
plicirtesten Verhältnisse, z. B. die Darstellung des Ursprunges der
Wurzel eines Ganglion im Bereiche des Trigeminus durch eine skizzen¬
hafte Zeichnung dem Zuhörer so einzuprägen wusste, dass sie derselbe
nicht mehr vergessen konnte. Der andere war B r e i s k y, der in
geradezu meisterhafter Weise die complicirtesten geburtshilflich¬
gynäkologischen Tastbefunde sowie Beckenverhältnisse auf die Tafel
zu werfen verstand. 3)
Es ist bei uns, entgegen dem Gebrauch in Deutschland, eine alt¬
hergebrachte Gepflogenheit, die theoretischen und klini¬
schen Vorlesungen in einer Doppelstunde zu ver¬
binden, was dem Vorausgeschickten nach nicht als zweckentsprechend
erachtet werden kann, wenn es auch für den betreffenden klinischen
Lehrer bequemer sein mag. Die Beseitigung derselben würde eine ganz
wesentliche Umgestaltung des gewohnten Stundenplanes im Gefolge
haben, aber auch eine Regelung der Studienordnung in Betreff der für
dieses Fach anzufordernden Obligatcollegien involviren. Wir müssen
demnach vorläufig dieser einmal bestehenden Einrichtung Rechnung
tragen.
Ich habe bisher versucht, jener eingangs erwähnten, wünscliens-
werthen Arbeitstheilung dadurch gerecht zu werden, dass ich d i e
ersten drei Monate des Wintersemesters nur für den
propädeutischen Unterricht in Verwendung zog, in-
dess meine Herren Assistenten täglich eine Nachmittagsstunde dazu
benützten, die praktischen Uebungen und Untersuchungen mit den
Hörern abzuhalten. Damit entfiel selbstverständlich für den Unterricht
der Vorgeschritteneren, d. h. Derjenigen, welche die Vorlesungen zum
zweiten Mal belegt hatten, das gesammte in diesem Zeitraum zur Ver¬
fügung stehende, pathologische Material, da ich mit der Vorstellung von
Fällen erst nach Absolvirung des propädeutischen Unterrichts beginnen
konnte.
Von diesem Zeitpunkte an, also nach Absolvirung dieses, wurde
die klinische Doppelstunde zur Hälfte für die Vorstellung von Fällen,
so wie sie in die Klinik kamen und etwas für den Unterricht Ver¬
wendbares darboten, also für die Casuistik, zur Hälfte für die sub II«
genannten, fortlaufenden theoretischen Vorlesungen verwendet. Dar¬
nach gewöhuten sich die Studirenden daran, als Anfänger nur im
Ich möchte hier auf die in Amerika sich geltend machenden
Bestrebungen hinweisen. Dort war bislang der geburtshilfliche Unterricht
vollkommen vernachlässigt worden. Eine geburtshilfliche Literatur fehlte
jenem sonst so vorwärts strebenden Lande gänzlich. Erst in jüngster Zeit wird
diesem Gegenstände mehr Aufmerksamkeit gewidmet und vor Allem wurde
auf die grossen Mängel im Unterrichte hingewiesen. So hat schon Parwin
in der American Academy of medicine (4. Mai 1876) diesbezüglich ernstliche
Vorstellungen erhoben und für eine bessere praktische Durchbildung in den
medicinischen Schulen Amerikas plaidirt. Viele der jungen Aerzte verliessen,
seinen Mittheilungen nach, ihre Unterrichtsstätte, ohne je Zeuge einer
Geburt gewesen zu sein, ja an einzelnen Schulen wurde nicht einmal die
Schwangerenuntersuchung geübt. Seither haben sich schon entsprechende
Vorschläge Geltung verschafft. Jene von J. C'l. Edgar [New York] (On
teaching Obstetrics. New York Med. Journ., 1896, II) und Wh. Williams
(Baltimore) gleichen ganz unseru Vorstellungen über die beste Art der Durch¬
führung dieses Unterrichtes. Die vielen darin empfohlenen Hilfen für die
Verbesserung des Anschauungsunterrichtes sind auch für uns beherzigens-
werlh. Man kann nicht genug zeigen und sich klar genug verständlich
machen. Auch dort herrscht die Bestrebung vor, die Hörer in kleine Gruppen
zu theilen, um so den Erfolg der praktischen Uebungen zu fördern.
’) Auch ich bin stets bestrebt gewesen, in jedem einzelnen Falle
eine solche Skizze an der Tafel zu entwerfen, welche die Beschreibung des
Tastbefundes ergänzen sollte. Ich begnüge mich dabei mit den einfachsten
Linien, so dass der selbst des Zeichnens Unkundige im Stande ist, die¬
selben nachznzeichnen.
Wintersemester zu inscribiren und, obgleich dies bislang nicht obligat
war, die Fortsetzung des Collegs im Sommer zu hören.
Die Betreibung der klinischen Casuistik ist jedoch nicht das,
was man sich unter Klinik im idealen Sinne des Wortes vorzustellen
hat. Sie besteht eben nur in der Vorführung von Fällen, die nach
Mittheilung der anamnestischen Daten gemeinsam von einigen Practi-
canten und dem Lehrer untersucht und nur kurz, rein praktische
Rücksichten im Auge haltend, besprochen werden. Eigentlich sollte an
der Hand eines solchen Falles die Pathologie und Therapie desselben
erschöpfend behandelt werden und erst bei wiederholter Vorstellung
analoger Fälle könnte man sich auf einige praktische Andeutungen
beschränken oder überhaupt mehr ausfragend Vorgehen.
Als eigentliches geburtshilfliches Practiciren verstehe ich
das Verweilen der weiter Vorgeschrittenen in der
geburtshilflichen Station durch eine Woche lang.
Die Bildung der Gruppen ist nach der Menge des vorhandenen
Materiales, also nach der Zahl der Geburten und jener der Hörer zu
regeln. Ich halte es für einen unbedingten Fortschritt, dass eine
solche Gruppe durch eine ganze Woche in der Anstalt verweilt. Damit
ist einerseits die Möglichkeit geboten, einen Geburtsfall, auch wenn er
noch so lange dauern sollte, vom Anfang bis zum Ende zu beobachten,
eventuell auch den Verlauf des Wochenbettes zu verfolgen. Anderer¬
seits ist die Ausnützung des Materiales eine bessere, indem der
Fleissigere in Folge seiner fortwährenden Anwesenheit gegenüber dem
Lässigen wesentlich im Vortheil ist, da er auch dem Letzteren sonst zu¬
fallende Fälle übernehmen kann. Alles, was der Student durch den
propädeutischen Unterricht erlernt hat, kann er hier weiter verwerthen.
Für den bereits Urtheilsfähigen ist die Beschreibung eines ab¬
normen geburtshilflichen Falles vor dem Gesammtauditorium in der
Klinik mit entsprechender Kritik und Epikrise das Werthvollste. Die
vorgerufenen Practicanten, welchen der Fall zur Beobachtung über¬
wiesen war, haben einen Rechenschaftsbericht unter Theilnahme der
ganzen Zuhörerschaft abzugeben.
Der geburtshilfliche Unterricht unterscheidet sich gegenüber
dem in den anderen medicinischen Wissenschaften hauptsächlich noch
dadurch, dass er von unendlich mehr Gefahr für das zu
untersuchende Object begleitet ist. Zur Vermeidung dieser
muss der Student, bevor er an das Gebärbett herantritt, alles Wichtige
bereits beherrschen und so vorbereitet sein, dass eine rasche Orientirung
und gleichzeitig die beste Ausnützung des betreffenden Falles er¬
möglicht wird. Er muss mit jenen Gefahren und deren Vermeidung,
der Prophylaxe, der subjectiven und objectiven Antisepsis vollkommen
vertraut sein und muss, sobald er das Bewusstsein hat, irgendwie mit
infectiösem Material in Berührung gekommen zu sein, von der Vor¬
nahme geburtshilflicher Explorationen mehrere Tage (es genügen drei
Tage) Abstand nehmen, beziehungsweise sich septisch melden. Wieder¬
holt habe ich schon Gelegenheit gehabt, es zum Ausdruck zu bringen,
dass Hörer, welche sogenannte septische Collegien (Operationscurse,
Seeirübungen u. s. w.) frequentiren, vom geburtshilflichen Practiciren
nicht auszuschliessen seien und es damit begründet, dass schon der
Student in der Prophylaxe erzogen werden müsse, da er ja auch als
Praktiker diesen exclusiven Standpunkt nie einnehmen werde können.
Bisher hat die Studentenschaft dieses in sie gesetzte Vertrauen nach
Auseinandersetzung der Gefahren, welche eine Ausserachtlassung
solcher prophylaktischer Massnahmen herbeiführen kann, nicht er¬
schüttert und will ich daher auch hier an diesem Principe fest-
halten.
Die Schwierigkeit des praktischen Unterrichtes in der Geburts¬
hilfe liegt aber nicht allein in der grossen Verantwortung, die durch
die Gefahren bedingt ist, sondern auch in anderen Momenten. Schon
an und für sich ist es klar, dass es schwierig ist, einem Anderen den
durch die Tastempfindung aufgenommenen Befund verständlich zu
machen. Es kann ferner auch immer nur Einem die Möglichkeit ver¬
schafft werden, in einem gegebenen Zeiträume sich entsprechend zu
orientiren. Daher erfordert der Unterricht in Combination mit den
Vorbereitungen der zu Untersuchenden und des Untersuchers unendlich
viel Zeit und in zweiter Linie auch viel Geduld.
Wie kaum irgendwo anders sind die räumlichen Ver¬
hältnisse und Einrichtungen einer klinischen An¬
stalt von so weittragender Bedeutung für die Schadloshaltung der
beim Unterrichte verwendeten Personen. Eine Häufung von inneren
Untersuchungen, besonders seitens unerfahrener Anfänger, steigert die
Gefahren für die Untersuchten in hohem Grade. Wenn nun in der
hiesigen Anstalt trotz aller Anstrengung des dienstthuenden Personales
zu einer Zeit, wo die Studenten zu den Untersuchungen nicht heran¬
gezogen werden, das Auftreten von Wochenbettfieber bisher nicht ganz
ausgeschaltet wrerden konnte, dann sieht man begreiflicher Weise den
Folgen des sogenannten Prakticirens mit einem gewissen Bangen entgegen
und erscheint es mir nothwendig, hier öffentlich die Erklärung
abzugeben, dass icb bei den grossen U ebelständen,
welche hier vorherrschen, nicht in der. Lage bin,
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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diese schwere Verantwortung allein auf mich zu
nehmen. Es muss hier ganz besonders hervorgehoben werden, dass
das Institut in gar keiner Weise auch den bescheidensten Anforderungen,
welche man an ein nach modernen Anschauungen eingerichtetes zu
stellen berechtigt ist, entspricht. Diese Behauptung lässt sich auch
nicht durch die — Dank dem ausserordentlich liebenswürdigen Ent¬
gegenkommen des steiermärkischen Landesausschusses — erworbenen
Verbesserungen, deren Durchführung uns so lange vom Beginne des
Unterrichtes abgehalten hat, modificiren. Es handelte sich hier um
Dinge, welche als eine conditio sine qua non der
Weiterführung der Thätigkeit in diesen L ocali-
täten überhaupt hingestellt werden mussten. )
4) Der hiesigen Anstalt fehlte bislang eine Warmwasser¬
leitung! Bevor Sie, meine Herren, Einblick in das Getriebe einer geburts¬
hilflichen Klinik gewonnen haben, können Sie es kaum ermessen, was es für
einen Mangel bedeutet, wenn zu jeder einzelnen Waschung mit einer Kanne
gelaufen werden muss, um aus einem in einem anderen Locale befindlichen
Kessel das nöthige warme Wasser herbeizuschleppen. Bei der Ausübung eines
praktischen Faches, in dem das Waschen und die sorgfältige Reinigung von
zu Untersuchenden und Untersuchern bei den kleinsten Handgriffen die
Grundlage des Erfolges darstellt, eine solche Erschwerung des wesentlichsten
Factors!
Ebenso schlecht war es mit den Badeeinrichtungen bestellt. Mit
Ausnahme einer alten Wanne in einem kleinen finsteren Raume fand sich
nichts und zur Herstellung eines warmen Bades musste das grosse Wasser¬
quantum ebenso herbeigeschleppt werden. War schon für die Pflege¬
befohlenen so schlecht vorgesorgt, so fehlten für das ärztliche und Warte¬
personal derartige Einrichtungen gänzlich.
Höchst unangenehm musste es den Beseher berühren, dass der Fuss-
boden des Kreisssaales nicht aus Stein, sondern wie die Geiäth-
schaften, die aus Eisen sein sollen, noch aus Holz waren; ebenso dass für
Abflussvorrichtungen keine Vorsorge getroffen war.
Diese hier hervorgehobenen Uebelstände sind nun, Dank der Einsicht
und dem Entgegenkommen des hohen steiermärkischen Landesausschusses,
wie Sie bemerken werden, beseitigt. Der Kreisssaal hat ein solches Aus¬
sehen gewonnen, dass er überhaupt als solcher erkennbar wird. Und das
warme Wasser fliesst in Strömen und lässt sich zu allen gewünschten
Temperaturgraden lierstellen. Neue Badewannen erfreuen das Auge und
die Umwandlung der sogenannten Küche, eines nicht gut beschreiblichen
Nebenlocales, zu einem Baderaum für die Aufzunehmenden, sowie die Er¬
richtung eines Aerztebades sind zu einer wahren Wohlthat geworden. So
können wir Dank dieser Verbesserungen denn in diesem Semester mit etwas
mehr Vertrauen an die Erfüllung unserer verantwortungsvollen Aufgabe
gehen !
Von dem Fehlen einer ganz getrennten Isolirstatio n, in welcher auch
septisch inficirte Kreissende ■ — abgesondert von den Gesunden — entbunden
werden können, von den unhygienischen Verhältnissen einzelner Wochen¬
zimmer, die hauptsächlich durch den Ueberbelag bedingt sind — in einem
einfensterigen Zimmer des zweiten Stockwerkes sind 7 (!) Wöchnerinnen
unterzubringen — , von der elenden Beschaffenheit der Aborte u. dgl. will
ich hier gar nicht sprechen.
Nicht besser ist es um die Einrichtungen für den Unterricht
bestellt. Da fehlt es an allen Ecken und Enden. Der Hörsaal, ein kleines,
zwei Arbeitstische knapp bergendes Laboratorium und das Vorstandszimmer,
welches Bibliothek, Museum und Lehrmittelsammlung, ja sogar Schlaf¬
zimmer des dritten dienstthuenden Assistenten zugleich sein muss, sind unser
Um und Auf. Einen Hörsaal besitzt die Klinik erst, seit es den Bemühungen
meines verehrten Vorgängers, Herrn Prof. Freih. v. Rokitansky gelungen
war, einen solchen zu acquiriren. Derselbe weist allerdings eine ganze Reihe
von Mängeln auf und ist durchaus unmodern. Obgleich die klinischen Vor¬
lesungen um die Mittagszeit (12—2 Uhr) abgehalten werden müssen, sind
die Fenster gegen Süden zu gelegen und die Hörer müssen in das grelle
Licht der Mittagssonne, die sie geradezu blendet, schauen, indess die zu
demonstrirenden Objecte sich nur im Schatten zeigen ; an Stelle von nunmehr
überall gangbaren, eisernen Bänken finden sich nur hölzerne; es ist nicht
das übliche Cementgefälle, wie Sie es in chirurgischen Hö.rsälen sehen
können, vorhanden, auf dem die Abspülung des ganzen Saales ermöglicht
wird; es fehlt auch hier die Warm Wasserleitung und Verschiedenes mehr.
Trotz alledem müssen wir denselben als eine wesentliche Acquisition ansehen.
Da mir in der räumlich noch beengteren Frauenklinik ein Unter¬
richtslocal gänzlich fehlt, sehe ich mich in Folge der räumlichen Trennung
beider Kliniken gezwungen, die zur Demonstration bestimmten, gynäkologi¬
schen Fälle von dem Krankenhause den Berg heraufbringen zu lassen, eine
Massregel, die im Interesse des Unterrichtes geschehen muss, aber bei
schlechter Witterung und ira Winter für die Kranken nicht gerade vor-
theilhaft werden kann.
Es fehlt uns vor Allem ein Lehrzimmer, in welchem die Opera-
tionscurse und die Phantomübungen abgehalten werden können Dieser
Mangel ist schon deshalb rligenswerth, weil er für unsere Pflegebefohlenen,
nachtheilig werden kann, indem wir gezwungen sind, in ein und demselben
Raume Gebärende untersuchen und die nicht geradezu reinlichen Uebungen
mit Kinderleicben am Phantom vornehmen zu lassen.
Von dem Mangel an entsprechenden wissenschaftlichen
A r b e i ts r äu m en histologischen und bacteriologischen Laboratorien,
deren wir ja heute nicht nur zu Forschungszwecken, sondern auch bei der
gewöhnlichen Krankenuntersuchung nicht mehr entrathen können, und
dergleichen Dingen will ich ja gar nicht sprechen.
Zu alledem kommt nun noch der Uebelstand, dass die Anstalt, da
wir durch die Neuerrichtung der Findelanstalt die nahezu dreifache Gebuiten-
Ganz anders steht die Sache mit der Ausbildung in der
Frauenheilkunde. Die besonderen Schwierigkeiten, welche sich
der raschen Erlernung der complicirten Untersuchungstechnik, der
sicheren Erkenntniss oft minimaler Abweichungen von der Norm und
der richtigen Beurtheilung der Beziehungen solcher zu den zuweilen
unverhältnissmässig schweren, reflectorischen Erscheinungen in entfernten
Organen entgegensetzen, bedingen es, dass überhaupt uur ein jahre¬
lang fortgesetztes und intensives Studium der kranken Frauen die
Fähigkeit erwerben lässt, dieses Fach thatsächlich mit einigem Erfolg
betreiben zu können. Ich für meine Person kann diese Fähigkeit selbst
einem Arzte, der, wie unsere Herren Hilfsärzte und Operationszöglinge,
ein ganzes Jahr lang mit regem Eifer diesem Studium obgelegen ist, für
eine grosse Zahl von Fällen nicht zusprechen. Mein eigener Entwick¬
lungsgang, sowie die Beobachtungen an der grossen Reihe meiner
Schüler lässt mich diese Behauptung mit voller Ueberzeugung auf¬
stellen. Wiederholt habe ich meinen Hörern jene Etappen, die ich
selbst durchzumachen hatte, zu schildern versucht, um ihnen klar zu
machen, welcher Unsumme von Mühe, Fleiss und Erfahrungen es be¬
durfte, um einen gewissen Höhepunkt in der Ausbildung zu gewinnen.
Dem Stadium der schwersten Depression über meine eigene Unfähig¬
keit, nur einfach das nachzufühlen, was Anderen leicht gelungen war,
folgte nach dem ersten Tausend von Untersuchungen ein solches von
grossem Selbstbewusstsein, das mit zunehmendem Wissen auf Grund
von Beobachtung weiterer, mehrerer Tausend Fälle neuerlich einem
Gefühle grösster Bescheidenheit weichen musste.
Bei diesen Anschauungen liegt die Frage sehr nahe, ob es nicht,
wie dies früher ja üblich war, zweckmässiger, vor Allem für die
leidende Menschheit besser wäre, von einem Unterrichte in der Frauen¬
heilkunde ganz Abstand zu nehmen. In mancher Hinsicht wäre es
ganz zweifellos für die kranken Frauen günstiger, wenn der alte Con-
servativismus in der Therapie wieder mehr Platz griffe und das Heer
von „sogenannten Frauenärzten“ nicht auf sie losgelassen würde. Wir
als akademische Lehrer dürfen diesem Principe aber trotzdem nicht
huldigen.
Die Nachtheile der halben Ausbildung und ihre bösen Folgen
sind oft genug Gegenstand der Yerurtheilung bei Besprechung des
schrecklichen Ueberwucherns des Specialistenthums und des Rückganges
der hausärztlichen Stellung geworden. Dieser Misswirtschaft, muss
heute beim Unterrichte gesteuert werden; gerade die akademischen
Lehrer müssendem kritiklosen Operiren und Eingreifen in Fällen,
in denen der wirklich erfahrene Fachmann ein gutes Heilresultat auf
eonservativem, schadlosem Wege zu erzielen vermag, energisch entgegen¬
treten, Heute liegen darnach unsere erziehlichen Aufgaben im gynä¬
kologischen Unterricht bereits im Steuern gegen vielfach gebräuchlich
gewordenen Unfug. Wenn es uns gelingt, unseren Hörern derartige
Ueberzeugungen beizubringen, so ist damit schon viel gewonnen.
Zu den allerersten Postul a ten, welche wir an den all¬
gemeinen Praktiker zu stellen haben, gehört die Erkennt¬
niss desFühstadiums von bösartigen Neubildungen,
insbesondere von Gebärmutterkrebs, dieses, wie es statisti¬
schen Berichten gemäss erscheint, die Frauen immer häufiger verfolgen-
den, furchtbaren Leidens. Nie werden wir bei unseren operativen Ein¬
griffen gegen dasselbe zu erfreulichen Resultaten gelangen, wenn wii
der Unterstützung seitens der allgemein practicirenden Collegen nicht
gewärtig sein können. Die Unterlassung der inneren und der Unter¬
suchung mit dem Spiegel in derartig verdächtigen Fällen fordert noch
immer der Opfer genug. Wenn ich auch die optimistischen An¬
schauungen vieler meiner Faclicollegen in Bezug auf die Dauerheilung
zahl zu bewältigen haben werden, einfach den räumlichen Anforderungen
nicht mehr genügen kann. Die Errichtung eines Neubaues wird daher zu
einem unvermeidlichen Postulate!
Alles Sträuben gegen diese Nothwendigkeit wird fallen gelassen
werden müssen. Der Zustand ist auch hier, wie in dem ganzen Kranken¬
hause ein unhaltbarer geworden, wie dies übrigens schon vor . einem
Decennium und auch heuer wieder den massgebenden Behörden m ent¬
sprechend klarer, überzeugender und nachdrücklicher Weise Seitens des
Professoren- Collegiums und des primarärztlichen Gremiums dargelegt
worden ist. , . ,
Wie Ihnen bekannt sein dürfte, war schon vor acht Jahren in dem
Landtage diese Ueberzeugung eine allgemeine und der Beschluss getasst
worden, den Neubau durchzuführen. Der Grund wurde gekauft, die Pläne
waren fertiggestellt, als man auf Grund einer Reihe von Bedenken, der
sogenannten Platzfrage, an deren Stelle dann finanzielle Schwierigkeiten
traten, die ganze Sache fallen liess. Ein Stadium vollkommenster Interesse¬
losigkeit für diese Frage setzte ein und Stagnation herrscht weiter vor.
Es muss demnach unsere wichtigste Aufgabe sein, den massgebenden,
hohen Behörden neuerlich diese Mishre der Verhältnisse immer wieder von
neuem darzulegen und mit allem Nachdrucke auf das grelle Missverhältnis,
das zwischen der glänzenden Ausgestaltung der theoretischen Institute und
dem recht bedauerlichen Zustande, in welchem die klinischen Lehranstalten
sich befinden, besteht, hinzuweisen. Durch letzteren ist der Hemmschuh für
die weitere gedeihliche Entwicklung unserer Universität, speciell der bacul-
tä't gegeben, dessen Beseitigung das nächst anstrebenswerthe Ziel sein muss.
940
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Kr. 41
des Krebses durch operatives Eingreifen nicht theilen kann, so hleiht
uns derzeit trotzdem nichts Anderes übrig, als uns in dem Erkennen
der ersten Anzeichen dieses Leidens möglichst zu vervollkommnen und
bei den Operationen möglichst gründlich und radical vorzugehen.
Auch das soll der Hausarzt verstehen zu unterscheiden, oh in einem
solchen traurigen Falle noch Aussicht gegeben ist, überhaupt operativ
vorzugehen. Sonst erweckt er bei vielen Inoperablen falsche Hoff¬
nungen und veranlasst sie, oft weite Reisen zu Specialisfen zu unter¬
nehmen, indess er selbst durch palliative Eingriffe für den Moment
Abhilfe schaffen könnte.
Die Er kennt n iss typischer Fälle von Lage¬
anomalien der Gebärmutter, die oft auf einfache Weise auch
von dem weniger Geübten beseitigt werden können, sowie die Be¬
herrschung der Pessar therapie, welche bei einiger Vorsicht
ohne Nachtheil in Anwendung gezogen werden kann, sind Dinge, die
wir vom modern gebildeten Praktiker ebenso verlangen müssen, wie
die richtige Diagnose und Kenntniss der conserva¬
tive n Behandlung der so häufigen entzündlichen
Affeetionen aller Abschnitte des Genitaltractes.
Durch entsprechende Wahrung vor neuerlicher Schädigung kann auch
bei mangelhafter Aufnahme des Tastbefundes ungemein viel genützt
werden.
Ueber die Wirkung und den Gebrauch von Bäder euren
sollten die jungen Aerzte eine viel eingehendere Belehrung erhalten,
als dies üblich ist. Es ist eine ganz falsche Vorstellung, welche der
Neuzeit entstammt, die Bedeutung derselben so gering zu achten. In
richtiger Weise und in geeigneten Fällen angewandt, sind sie auch in
unserem erkenntnissreichen Zeitalter noch durch nichts Besseres er¬
setzt worden.
Von localen therapeutischen Massnahmen be¬
schränke sich der Praktiker sonst auf die Vornahme aller jener, welche
vollkommen gefahrlos auszuführen sind; also zumeist auf alle jene,
welche die Resorption von Entzündungsproducten fördern sollen
(heisse Scheidendouchen, Einlegen von medicamentöscn Scheiden¬
tampons, Scarification der Portio u. dgl.).
Nicht genug kann das Gros jener Aerzte, welche die gynäko¬
logische Diagnostik nicht vollkommen beherrschen, vor der Vornahme
der heute so beliebten, gynäkologischen M a s s a g e gewarnt werden.
Bei der Behandlung von Katarrhen betrachte er den
inneren Muttermund als eine nicht ohne dringende Anzeige zu über¬
schreitende Schranke. Die üblen Folgen intrauteriner Eingriffe, be¬
sonders bei ambulanten Kranken, sind nur zu sehr in die Augen
fallend. Im Uebrigen verlangt diese Art der Localtherapie oft weit
mehr Verständniss und Erfahrung, als die Ausführung der meisten
typischen Operationen.
Ja, auch die harmlos aussehende Ausschabung der Gebär¬
mutter überlasse er — von dringenden Fällen abgesehen — dem
hierin besser geschulten Arzte. Nur zu oft begegnen wir in unserer
Praxis Fällen, welche uns die schweren Nachtheile solcher, oft nicht
streng aseptisch ausgeführter Curettements vor Augen führen und die
zuweilen einen bedenklichen Charakter annehmen können. Dasselbe
gilt in noch höherem Grade bei der in neuester Zeit beliebt ge¬
wordenen Vaporisation.
V on den Gefahren der elektrischen Behandlung
will ich zu sprechen Abstand nehmen. Sie hat bei der Schwierigkeit
der Handhabung und Instandhaltung der Apparate bei uns nicht viel
Anhänger gefunden, obgleich das Publicum derlei Behandlungsmethoden
mit besonderen, complicirt aussehenden Apparaten viel Vertrauen ent¬
gegenbringen möchte. Gerade die intrauterine, elektrolytische Behandlung
nach den Regeln von A p o s t o 1 i bedarf einer ganz besonders sorg¬
fältigen Ausbildung, wenn sie nicht entweder Humbug bleiben soll
oder, energisch angewendet, lebensgefährlich werden kann.
Sie sehen, es gibt auch blos bei Berücksichtigung alles dessen,
was der allgemein practicirende Arzt selbst zu behandeln hat, eine
Fülle von Fragen, die einer sorgfältigen Erörterung bedürfen. Der
gynäkologische Unterricht muss Sie aber mit mehr vertraut machen,
als mit dem Vorgebrachten. In den Bereich unserer Erörterungen ge¬
hört auch die sogenannte Gynaecologia major, bei welcher die
operative Seite des Faches die Hauptrolle spielt. Sie müssen während
Ihrer Studien kennen lernen, was in dieser Hinsicht geleistet zu werden
vermag. Vor Allem über die Diagnostik der hier in Betracht kommen¬
den Erkrankungsformen, insbesonders der so unendlich variirenden
Abdominaltumoren, über Indication und Technik der gynäkologischen
Operationen sind Sie nicht minder zu unterrichten, als dies bezüglich
anderer Organsysteme von Seite des Chirurgen zu geschehen pflegt.
Auch über die schönen Erfolge unserer plastischen Operationen müssen
Sie orientirt werden.
Bei der Durchführung des praktischen Unter¬
richtes in der Gynäkologie stellen sich uns noch wesentlich
grössere Schwierigkeiten, wenn auch geringere Gefahren, als
in der Geburtshilfe entgegen. Die Schmerzhaftigkeit bei manchen
Untersuchungen, die Schamhaftigkeit der Frauen, welche einer »
inneren Untersuchung oft grösseren Widerstand entgegensetzen, die
Spannung straffer oder fetter Bauchdecken machen sich hier oft in
unangenehmster Weise geltend. Trotzdem kann ich mich nicht dazn
entschlossen, wie dies anderswo in ausgedehntem Masse geschieht,
jeden vorzustellenden Fall dadurch für den Unterricht nutzbar zu
machen, dass ich die betreffende Kranke, bevor sie in die Vorlesung
gebracht wird, narkotisiren lasse. Zuweilen wird es ja nicht zu um¬
gehen sein. Ich möchte jedoch in dieser zu Untersuchungs- und
Demonstraf ionszwecken grundsätzlich durchgeführten Narkose einen
didaktischen Fehler erblicken. Sie müssen ja für Ihre Praxis dazu er¬
zogen werden, auch bei schmerzhaften Affeetionen sich, ohne bei der
Indagation besondere Schmerzen zu verursachen und selbstverständ¬
lich auch ohne Narkose, rasch orientiren zu können. Je früher Sie
dazu angehalten werden, unter derartig ungünstigen Bedingungen
untersuchen zu müssen, desto besser. Ich muss ferner, da nur eine
ganz beschränkte Zahl einen bestimmten Fall innerlich untersuchen
kann, bestrebt sein, durch die grosse Zahl der vorgeführten Fälle einen
gewissen Ersatz dafür zu bieten. Lassen nur Sie, meine Herren,
keine der sich bietenden Gelegenheiten ungenützt vorübergehen. Es
muss ferner dafür Sorge getragen werden, dass Diejenigen unter
Ihnen, die einen Fall mit mir untersucht haben, der zur Operation
bestimmt ist, auch zu dieser geladen werden, damit Sie durch diese
Obductio in viva Belehrung über die Richtigkeit Ihrer Tasteindrücke
gewinnen. Dies fördert das Verständniss am meisten. So haben auch
wir gelernt und darin liegt unsere durch Erfahrung gewonnene
Routine. Die beste Vorbereitung bleibt also auch hier, möglichst viele
Fälle, mit entsprechenden Vorkenntnissen ausgerüstet, unter guter An¬
leitung untersucht zu haben.
Wenn Sie nun von mir gehört haben, welcher Unzahl von
Untersuchungen und welcher Summe von Erfahrungen es bedurfte, um
einen gewissen Grad von Sicherheit bei Stellung gynäkologischer
Diagnosen zu erlangen, so ist dies für Sie wenig aufmunternd. Ich
muss daher gleich hinzufügen, dass es auch eine Reihe von Fällen
gibt, deren Erkenntniss auch dem Ungeübten, aber Wissenden keine
Mühe bereitet, ja oft das Werk weniger Augenblicke sein kann. Die
Fähigkeit, solche Fälle richtig zu beurtheilen, muss auch von Ihnen bei
der Prüfung gefordert werden. Aber Sie müssen auch den Nachweis
liefern, dass Sie in minder klaren, nicht so typischen Krankheitsfällen
sich so weit zurecht zu finden im Stande sind, als dies nothwendig
ist, um einen entsprechenden therapeutischen Rath ertheilen zu können.
Es muss sich auf Grund einer sorgfältig aufgenommenen Ana¬
mnese und der Vornahme einer Untersuchung, welche zeigt, dass Sie
alle Methoden derselben beherrschen und Ihnen eine Summe von Ein¬
drücken gebracht haben muss, doch eine, wenn auch unvollkommene
Diagnose anf bauen lassen, welche Ihnen den Weg weist, wo sich
zweckmässig therapeutische Angriffsjiunkte bieten. Durch längere
Beobachtung, bei vorsichtig gewählter Behandlung wird sich das Bild
immer mehr klären und die richtige Art der letzteren immer bestimmter
sich darbieten. Verzagen Sie also nicht zu rasch. Nur Vorsicht kann
Ihnen im Interesse Ihrer Kranken nicht genug empfohlen werden !
Wenn wir der Vollendung zustreben, wäre es richtig, den
klinischen Unterricht durch jenen im Laboratorium harmonisch zu er¬
gänzen.
Der Bestand eines klinischen Institutes ohne histologische und
bacteriologische Arbeitsräume ist heute nicht gut mehr denkbar. Wir
haben uns in der Verwerthung dieser Hilfswissenschaften für unsere
Zwecke von unseren Lehrern, den pathologischen Anatomen, zum Theil
wenigstens zu emancipiren getrachtet. Welche Vortheile müsste es fin¬
den Lernenden bedeuten, wenn wir in die Lage versetzt wären, diese
in prognostischer Hinsicht so wichtigen Untersuchungen gemeinsam
mit unseren Schülern vornehmen, dieselben auch in dieser Richtung
erziehen zu können! Die Verwirklichung dieses Wunsches erscheint
jedoch bei der grossen Dürftigkeit unserer eigenen Einrichtungen vor¬
läufig noch lange ausgeschlossen.
Wenn ich in dem Vorausgehenden vielleicht etwas zu weit die
Vertretung der praktischen Interessen beim Unterricht in den Vorder¬
grund gestellt habe, möchte ich damit nicht missverstanden werden.
„V ertiefung im theoretischen Unterrichte ist wixn-
schens wert her als Verflachung in Form des Drill“
verlangt v. Her ff. Ich stimme dieser These und der bezüglichen
Argumentation voll bei.
Der Student soll gelegentlich seines Verweilens an der Hoch¬
schule auch einen Blick in die Stätte der wissenschaft¬
lichen Thätigkeit einer Klinik, der Forschung thun, um
eine Vorstellung von diesem rastlosen Streben nach weiterer Auf¬
klärung zu gewinnen. Es fügen sich keine besseren Schlussworte bei
dieser Richtung des Gedankenganges hier ein, als ein Passus aus
meines grossen Lehrers Billroth „Lehren und Lernen in der
medicinischen Wissenschaft“; derselbe lautet:
Nr. 41
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
941
Die. Aufgaben, welche sich die- deutschen Universitäten gestellt
haben ’und durch welche sie sich von den sogenannten „Hochschulen ‘
anderer Völker unterscheiden sollen, die principiell nur das praktisch
Verwendbare tradiren, sind eben ganz ausserordentliche, nie völlig
erreichbare ; sie setzen eine Quantität und Qualität dei \ oibildung
voraus, wie sie selbst in Deutschland noch nicht allzu weit verbreitet
ist. Der Conflict mit dem reellen Bediirfniss ist unvermeidlich. Die
Wissenschaft muss immer von Zeit zu Zeit einen neuen Modus vivendi
mit den praktischen Verhältnissen eingehen, und dieser muss je nach
dem langsameren und schnelleren Strom der Forschung auch langsam
oder schneller wechseln. Das hat seine grossen praktischen Schwierig¬
keiten, ist aber nicht zu ändern. Der Staat hat die Pflicht, dem Volke
tüchtige Aerzte, Richter und Lehrer in genügender Zahl zu schaffen ;
die Universitäten dürfen sich dieser Aufgabe nicht entziehen; sie
dürfen über der Akademie die Schule nicht ver¬
gessen; doch der Schule soll durch die Akademie der Geist der
endlosen Forschung, der rastlosen Arbeit, der verzehrenden Sehnsucht
nach Wahrheit eingehaucht werden. Die Arbeit ist schwer,
doch nicht zu schwer für deutsche Kraft!4
REFERATE.
Die Bäder und Mineralwässer der Erdelyer (sieben-
bürgischen) Landestheile Ungarns.
Von Wilhelm v. Hankö.
Kolozsvär (Klausenburg) 1900.
Ueber Aufforderung des Erdelyi Kärpät-Egyesület (Sieben-
bürgischer Karpathehverein) ist diese Darstellung der Bäder und
Mineralwässer Siebenbürgens verfasst. In dem Vorworte, welches
der genannte Verein dem Buche beigibt, ist als Zweck der Publi¬
cation hingestellt, die Touristenschaar und das Badepublicum, welche
alljährlich die Schweiz, Tirol etc. aufsuchen, auch nach Siebenbürgen
zu lenken.
Mehr als 40 Badeorte sind in dem Buche eingehend be¬
schrieben; Indicationen, Preisverhältnisse, Analysen der Mineral¬
wässer, eventuell die Namen der Badeärzte sind mitgetheilt.
Das Buch verdient, sowohl was seinen Text, als was die
Ausstattung durch Illustrationen anbelangt, ein Muster für die Ab¬
fassung ähnlicher Schriften genannt zu werden. Zu wünschen wäre
nur, dass in einzelnen Capiteln die deutschen, einem grösseren
Kreise von Gebildeten geläufigen Ortsnamen (Kronstadt, Klausen¬
burg, Hermannstadt etc.) wenigstens in Klammer neben den un¬
garischen Ortsnamen beigesetzt würden, wie es im Titel bezüglich
Erdely geschehen ist. Dadurch würde das Interesse des Lesers
zweifellos gesteigert werden und für den deutschen Leser ist das
Buch doch offenbar bestimmt.
Leider muss gesagt werden, dass ein ähnliches, auch mit
Interesse für den Laien lesbares Buch über die österreichischen
(cisleithanischen) Badeorte nicht existirt.
Die Untersuchung des Harnes und sein Verhalten bei
Krankheiten.
Von Dr. med. C. Beier.
Mediciniscbe Bibliothek für praktische Aerzte. Nr. 153 — 156.
Leipzig 1900, C. G. Naumann.
Das vorliegende Buch soll ein für den praktischen Arzt be¬
stimmter, zuverlässiger Rathgeber bei solchen Harnuntersuchungen
sein, welche ohne besondere Mühe und ohne specielle Apparate
durchführbar sind. Es zerfällt in zwei Abschnitte, 1. die Be¬
schreibung der physikalischen Harnuntersuchung und der chemi¬
schen Untersuchungsmethoden, 2. das Verhalten des Harnes in
Krankheiten.
Dieser zweite Theil, das Verhalten des Harnes bei Krank¬
heiten betreffend, ist eine sehr dankenswerthe Zusammenstellung,
welche besonders die abnormen Substanzen des Harnes berück¬
sichtigt und wohl der grossen Mehrzahl der Praktiker willkommen
sein wird. Nicht durchgehends lässt sich das gleich günstige
Urtheil auf die Auswahl der chemischen Untersuchungsmethoden
ausdehnen. Hier wäre nach der Meinung des Referenten eine
strengere Sichtung und die Auswahl der verlässlichen Methoden
am Platze.
Schon die Behauptung (pag. 20), concentrirte Salpetersäure
im Ueberschusse fälle in der Kälte die Eiweisskörper, ist im Stande,
Fehldiagnosen zu bewirken; Referent kennt dies aus seinem Ver¬
kehre mit Praktikern. Was soll dem praktischen Arzte zum Bei¬
spiele die Aufzählung von zwölf Eiweissproben, von welchen nur
drei (Probe 1, 3, 11) in der Praxis thatsächlich brauchbar sind?
Unter den Proben auf Blutfarbstoff ist die alte, längst der Vergessenheit
würdige Guajak-Probe angeführt und die Darstellung von Hämin-
krystallen beschrieben, obwohl der Praktiker, welcher kein Spectroskop
besitzt, bei geringem Blutgehalte des Harnes doch nur durch den
mikroskopischen Nachweis von rothen Blutkörperchen ein verläss¬
liches Urtheil wird abgeben können.
Gerade solche Reactionen müssen ein präcises Urtheil er¬
möglichen. Rühmend muss bezüglich der Zuckerproben erwähnt
werden, dass neben anderen die Fehling'sche Probe ausführlich
besprochen wird. Dass aus Glycuronsäure Glycerinsäure gemacht
wird, Inosit als eine Zuckerart beschrieben wird, von einem eisen¬
haltigen, färbenden Atom gesprochen wird u. dgl. mag nur beiläufig
erwähnt werden.
Eben weil ein Buch nach Art des vorliegenden eine kritik¬
lose Verwendung voraussetzen muss, wäre eine Einarbeitung seines
ersten Theiles zu empfehlen.
Practicum der physiologischen und pathologischen
Chemie nebst einer Anleitung zur anorganischen Analyse
für Mediciner.
Von E. Salkowski.
Berlin 1 900, Hirschwald.
Zweite vermehrte Auflage.
Jeder, der sich wiederholt mit der Unterweisung von An¬
fängern bei chemischen Arbeiten beschäftigt hat, wird beistimmen,
wie schwer es ist, bei einer grösseren Praeticantenzabl den Be¬
dürfnissen der Einzelnen gerecht zu werden. Dadurch hat sich
wohl in allen grösseren Laboratorien die Einführung von Hilfs¬
büchern als zweckmässig erwiesen ; ihr Gebrauch hat vielleicht
auch den weiteren Vortheil, das Vertrauen der Practicanten in sich
selbst unter nur gelegentlicher Nachhilfe eines Aufsichtsorganes zu
heben. Wie weit ein solches Hilfsbuch beim Anfängerpracticum
gehen soll, darüber findet man verschiedene Urtheile.
Die vorliegende Anleitung für das physiologisch- und patho¬
logisch-chemische Arbeiten der Mediciner ist für die Anfänger be¬
stimmt; sie enthält einen Leitfaden der qualitativen anorganischen
Analyse, welche, wie allgemein anerkannt, die Grundlage jedes
chemischen Arbeitens ist, von organisch-chemischen Untersuchungen
ist lediglich auf physiologisch, respective pathologisch wichtige
Substanzen Rücksicht genommen. Ein besonderes Gewicht wird auf
präparatives Arbeiten und auf das Studium des chemischen Ver¬
haltens der dargestellten Körper gelegt, mehr anhangsweise werden
die wichtigsten quantitativen Bestimmungsmethoden, welche bei
der Analyse des Harnes, der Milch, der Darmentleerungen, u. dgl.
Verwendung finden, mitgetheilt. Von Methoden der Elementar¬
analyse, deren Ausführung ja thatsächlich eine grössere Labora¬
toriumspraxis voraussetzt, ist mit Ausnahme der Stickstoftbestimmung
nach Kjeld ah 1 ganz abgesehen.
Der Verfasser hebt in seinem Vorworte hervor, dass es nicht
seine Absicht sei, jeder Mediciner müsse das ganze in dem Buche
gebotene Material durcharbeiten. Es ist klar, dass die Anforderungen
in Bezug auf die chemische Ausbildung des Mediciners durch die
Ausbildung desselben in anderen Fächern mitbestimmt werden und
dass diezbezüglich an verschiedenen Universitäten die Ziele ver¬
schieden hoch gestellt sind.
Hervorgehoben muss werden, dass gerade dieses Hilfsbuch
geeignet erscheint, den medicinischen Anfänger mit dem chemischen
Denken vertraut zu machen, und dass es zum präcisen Ar¬
beiten anleitet.
Chemie der Eiweisskörper.
Von Dr. Otto Colinheim.
Preis 7 Mark.
Braunschweig 1900, F r i e d r. V i e w e g.
Die vorliegende Monographie ist ein Sonderabdruck aus
Band IX von Roscoe-Schorlemmers »Ausführlichem Lehr
buch der Chemie«. Sie enthält wohl Alles, was über Eiweiss¬
körper, über deren Zersetzungsproducte (Umwandlungs- und Spaltungs-
942
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 41
producte) bekannt ist, in präciser Form zusammengestellt. Der
specielle Theil des Buches enthält die detaillirte Beschreibung der
eigentlichen Eiweisse, der Proteide und der Albuminoide.
Das Buch ist mit grosser Umsicht und Sorgfalt verfasst, seine
Lecture ist zweifellos auch dem praktischen Arzte sehr zu em¬
pfehlen.
Die Praxis des Chemikers bei Untersuchung von
Nahrungsmitteln, Genussmitteln und Gebrauchsgegen¬
ständen etc.
Von Dr. Fritz Elsner.
7. Auflage.
H a m b xi r g und Leipzig 1900, L. Voss.
Eisner’s »Praxis« ist ein so bekanntes Buch, dass es recht
überflüssig erscheint, die Neuauflage zu commentiren. Der Verfasser
des Buches ist mit den praktischen Bedürfnissen der Nahrungs¬
mittelchemiker wohl vertraut und gibt eine übersichtliche Zusammen¬
stellung und Erläuterung von Methoden und Verordnungen, welche
für Chemiker als* sachverständige Vertrauenspersonen der Behörden
von Wichtigkeit sind.
Durch die möglichst erschöpfende und kritische Behandlung
des Materiales ist das Buch ein werthvolles Handbuch.
Ueber einige quantitative Verhältnisse bei der Pepsin¬
verdauung.
Nach Versuchen von E. Schütz und Huppert.
Separatabdruck aus Pflüger’s Archiv. Bd. LXXX.
In der vorliegenden schönen Arbeit ist die Zusammenstellung
systematischer Versuche gegeben, welche, vor etwa 20 Jahren be¬
gonnen, die Abhängigkeit der bei der Pepsinverdauung gebildeten
Producte von den Versuchsbedingungen zum Gegenstände haben.
Verwendet wurde zu den Verdauungsversuchen vom Globulin nach
Hammarsten’s Methode befreites Hühnereiweiss, und zwar stets
in Lösung, da die Lösungsgeschwindigkeit coagulirten Eiweisses
nicht der Verdauungsgeschwindigkeit gleichgesetzt werden darf. Es
wurde der Einfluss der Temperatur, der Säureconcentration, der
Albuminmenge, der Dauer der Pepsinwirkung und der Pepsinmenge
untersucht.
Das Temperaturoptimum für die Bildung der secundären Al-
bumose liegt zwischen 40 — 55°, die Mengen der secundären
Albumose verhalten sich bis zu einer IGstündigen Verdauungszeit
wie die Quadratwurzeln der Versuchszeiten, während dabei die
Summe von Acidalbumin und primärer Albumose constant ist. Bei
gleichbleibendem Salzsäuregehalt begünstigt die Vergrösserung des
Flüssigkeitsvolumens die Verdauung. Eine deutliche Gesetzmässigkeit
ergab sich bezüglich des Einflusses der Säureconcentration. Bis zu
0'2°/o Salzsäure verhalten sich die Mengen der secundären Albu¬
mose wie die Quadratwurzeln aus den Säureconcentrationen. Für
die höheren Säureconcentrationen sind die beobachteten Werthe*um
bestimmte Grössen kleiner als die nach dem Wurzelve rhältniss be¬
rechneten, und zwar verhalten sich die Differenzen vom berechneten
minus gefundenen Werthe zu einander wie die um 0'2 vermin¬
derten, in Zehntelprocenten ausgedrückten Concenlrationen. Aus den
mitgetheilten Werthen berechnet sich, dass bei einer Säureconcen-
tration von etwa 1*2% (aus Eieralbumin) überhaupt keine secundäre
Albumose mehr gebildet werden kann. Bei 0*1 % Salzsäuregehalt
wurde kein Acidalbumin gefunden.
Die Mengen der gebildeten secundären Albumosen verhalten
sich wie die Quadratwurzeln aus den verwendeten Pepsinmengen
und nicht direct proportional denselben; dieses Gesetz gilt nur,
wenn der Salzsäuregehalt ein nicht zu geringer ist und so lange
noch Acidalbumin vorhanden ist. Der einfachste Ausdruck für die
Bildung der secundären Albumose bei mässig schnellem Verlaufe
der Verdauung und einem 0'2% nicht übersteigendem Salzsäure¬
gehalt ist 8 = k A ] p t s, worin S die Menge der secundären
Albumose, A die Albuminmenge, p die Pepsinmenge, t die Versuchs¬
dauer, s die Säureconcentration, schliesslich k eine Constante
bedeutet.
Aus den tabellarisch zusammengestellten Werthen lassen sich
auch einige Schlüsse bezüglich des »genetischen Zusammenhanges
der Erscheinungen« bei der Verdauung ziehen.
Zur Bestimmung der relativen Pepsinmenge ist das Verfahren
von Schütz (Zeitschrift für physiologische Chemie. Bd. IX,
pag. 577) am meisten geeignet. Das von Mett angewendete Ver¬
fahren (Du Bois’ Archiv. 1894, pag. 68) ist dagegen zu genauen
Bestimmungen nicht geeignet.
I. Physiologische Chemie für Studirende und Aerzte.
Von Pli. Bottazzi. Deutsch von H. Boruttau.
1. Lieferung.
Leipzig und Wien 1900, Franz D e u t i c k e.
II. Die anorganischen Salze im menschlichen Orga¬
nismus.
Nach den Grundsätzen der modernen Chemie systematisch dargestellt von
R. Brasch.
1. Abtheilung.
Wiesbaden 1900, Bergmann.
I, II. Ausführliche Referate über diese beiden Bücher sollen
nach deren vollständigem Erscheinen folgen. Vorderhand sei auf
sie aufmerksam gemacht, da sie unter Anderem Versuche dar¬
stellen, die neueren Principien der physikalischen Chemie auf
physiologische Fragen anzuwenden und in der Medicin zu ver-
werthen. Schon dadurch dürften diese Bücher Anregung geben und
Beachtung verdienen. R. v. Z e y n e k.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
389. Ueber den Einfluss des Morphiums auf
die Magensaftsecretion. Von Riegel (Giessen). Bei Hunden
wurde eine P a w 1 o w’sche Magenfistel angelegt und das Verhalten
der Magensaftsecretion nach Morphiumdarreichung beobachtet. Die¬
selbe erwies sich in allen Fällen vermehrt und von der Grösse der
Dosis abhängig; ebenso zeigte sich auch beim Menschen die
Magensaftsecretion nach Morphium vermehrt. Daraus geht hervor,
dass es nothwendig ist, bei der Auswahl der schmerzstillenden
Mittel, zumal bei Magenkranken, auch deren Wirkung auf den Magen
mit zu berücksichtigen. Während die Belladonnapräparate, besonders
das Atropin, die Secretion in hohem Masse hemmen, hat das
Morphium eine gegentheilige Wirkung. In praxi sollte man bei
Magenkranken letzteres darum nur da anwenden, wo eine stärkere
Erregung der Saftsecretion keine Nachtheile bringt. Wo dagegen
die Secretabsonderung ohnedies schon erhöht ist, wie z. B. beim
Ulcus, sollte man zur Schmerzstillung nicht Morphium, sondern die
Belladonnapräparate verordnen, die den Vorzug besitzen, neben der
schmerzstillenden auch eine saftsecretionshemmende Wirkung zu
äussern. (Die Therapie der Gegenwart. 1900, Nr. 8.) Pi.
*
390. Etwas über Pellagra. Von Director Dr. Aurel
v. Zfatarovic (Pergine, Südtirol). Die Pellagra ist nach der
Meinung des Verfassers weder eine durch die chemische Verände¬
rung des Maises verursachte Intoxicationskrankheit, noch eine blosse
Folge der Inanition, sondern eine chronische Tnfectionskrankheit.
Der Microbus der Pellagra ist wahrscheinlich an einen fortwährenden
oder periodischen Alluvionen ausgesetzten und überdies besonderen
klimatischen Verhältnissen unterworfenen Boden gebunden. Als
Weiterverbreiter des Pellagrakeimes kommen der Boden selbst, das
Wasser, die Luft und die Bodenproducte in Betracht. Die Pellagra
verursacht eine constitutionelle Veränderung des Organismus (wie
Syphilis, Tuberculose) und vererbt die Anlage zur gleichen Er¬
krankung. Entkräftung durch mangelhafte Nahrung oder andere
Ursachen (chronischer Alkoholismus) erhöht die Prädisposition. Der
Hauptverwahrer des Pellagragiftes scheint das Blut zu sein, die
Hauptangriffspunkte des Virus bilden die Haut und das Central¬
nervensystem, namentlich das Rückenmark, in welchem haupt¬
sächlich die Hinterstränge, und zwar zumeist die Goll’schen
Stränge ergriffen werden, doch kommen auch Querschnitls-
erweichungen vor. Die Hauptsymptome der Pellagra sind Ver¬
dauungsstörungen, Erkrankungen der Haut und spinale Störungen.
Die Psychopathien der Pellagrösen haben keine besonderen Kenn¬
zeichen. Sie tragen im Allgemeinen den Charakter der Nerven-
inanition an sich. Vorgeschrittene Fälle trotzen jeder Therapie, in
frischen Fällen wirkt gute Ernährung, daneben reichliche Anwendung
von tonisch-reconstiluirendep Mitteln. Recidiven sind häufig. Ver-
Nr. 41
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
943
fasser plaidirt für die Errichtung von Pellagrosarien und so-
genannten Sanitätsspeisehäusern, wie sie in Oberitalien bestehen.
(Jahrbücher für Psychologie und Neurologie. Bd. XIX, Heft 9.) S.
*
39 1 . (Aus der Greifswalder chirurgischen Klinik.) Beitrag
zudemGapitelderHautverbrennung durch Röntgen-
Strahlen. Von Dr. D eutschländer. Bei dem 21jährigen
Patienten war an zwei Tagen fünfmal das Hüftgelenk photographirt
worden. Daran schloss sich eine Dermatitis, deren Anfangssymptome
erst sieben Tage nach der letzten Aufnahme bemerkt wurden. Es
kam zu einer erysipelatösen Röthung, dann zu einer Abhebung der
Haut in Bläschen, die schliesslich gänzlich abgestossen wurde. Die
Heilung erfolgte in drei charakteristischen Stadien. Nachdem der
Process einige Zeit stationär gebliehen, schloss sich daran eine
rasche Ueberhäutung der Peripherie der Wundfläche. Darauf folgte
eine 2'/2 Monate lange Periode, in welcher die Granulationsbildung
eine äusserst torpide war. Schliesslich kam es doch zur Ver¬
narbung. Dem Anscheine nach sind blonde Individuen mit blasser,
anämischer Haut besonders gegenüber der Einwirkung der Röntgen-
Strahlen gefährdet. — (Fortschritte auf dem Qebiete der Röntgen-
Strahlen. Bd. III, Heft 5.)
*
392. Ein Fall von Familien-Gelbsucht. VonLere-
boullet. 23jähriger Mann mit allgemeiner angeborener Gelbsucht,
ohne andere Functionsstörung als häufige Schläfrigkeit während der
Verdauung und häufige gichtartige Gliederschmerzen. Lereboullet
constatirte eine geringe Leberschwellung ohne Cirrhose und eine
beträchtliche Milzschwellung. Der Bruder des Kranken leidet eben¬
falls an chronischem Ikterus mit dem Typus der Acholurie. Seine
Schwester hat an Ikterus, die Mutter und ein anderer Bruder haben
an Koliken in der Gallenblasengegend gelitten. Somit ist der Familien¬
charakter ausgesprochen; dieser Ikterus kann in Cirrhose übergehen.
In zwei anderen Fällen fanden Lereboullet und seine Gollegen
eine erhebliche Prädisposition; es handelte sich dabei um wirkliche
biliöse Cirrhose, welche sich langsam durch Jahre ohne Störung des
Allgemeinbefindens hinzog. Lereboullet glaubt, dass die Ursache
der Anlage nicht in einer anatomischen Veränderung der Gallen¬
wege, sondern in einer Störung der Lebensthätigkeit derselben be¬
gründet sei. — (La Semaine Medicale. 15. August 1900, Nr. 34.)
Sp.
*
393. Aneurysma der Carotis interna nach lon-
sillarabscess. Von Dr. Wulff (Hamburg). Das achtjährige
Mädchen war an einer Angina follicularis erkrankt. Nach acht
Tagen wurde ein Tonsillarabscess diagnosticirt, behufs dessen
Spaltung der Rachen zuvor mit einem Stieltupfer zur Entternung
des Schleimes ausgewischt wurde, hei ■ welcher Gelegenheit eine
äusserst heftige Blutung entstand. Das Geschwür hatte allem An¬
scheine nach zur Arrosion eines grösseren Gefässes geführt gehabt.
In weiterer Folge hatte sich an der gleichen Stelle eine pulsirende
Geschwulst entwickelt, die als Aneurysma erkannt wurde. Wegen
der vorliegenden Gefahr des Berstens des schon sehr verdünnten
Aneurysmasackes wurde die Ligatur der Carotis communis aus¬
geführt, die zur Schrumpfung der Geschwulst und nach einer den
Verlauf- complicirenden Vereiterung derselben zur vollständigen
Heilung führte. — (Münchener medicinische Wochenschrift. 1900,
Nr. 20.) Pi-
*
394. Aus der psychiatrischen Klinik zu Tübingen
(Prof. Siemerling). Einseitige Zellveränderung im
Halsmark bei Phlegmone am Unterarm nebst
weiteren Bemerkungen über die Pathologie der
Ganglienzelle (Einfluss des Fiebers et c.). Von D r.
Ernst Meyer, Assistenzarzt. Ein 56jähriger Mann, welcher
wegen einer acuten Psychose in die psychiatrische Klinik zu 1 übingen
aufgenommen worden war, erkrankte daselbst an einer Phlegmone
des rechten Unterarmes, die in kürzester Zeit zu weitgehender Zer¬
störung der Haut führte, fast die gesammte Musculatur des Unter¬
armes und der Hand in Mitleidenschaft zog und nach sechs Tagen
zum Exitus führte. Bei der Obduction fand sich eine vielleicht von
der Phlegmone abhängige, schwere, eiterige Pachymeningitis und
Meningitis. Die mikroskopische Untersuchung des Rückenmarkes
ergab im Halsmarke, anfangend etwa im fünften Cervical segment,
eine Veränderung der Zellen. Dieselben waren geschwollen, abgerundet,
fortsatzarm und in Folge des Schwundes der Granula aufgehellt.
An den Nerven des rechten Armes fand sich Degeneration, die
Nerven des linken Armes, sowie die Substanz des Rückenmarkes
und die extramedullären Wurzeln waren frei. Die unilaterale Locali¬
sation der Zellveränderungen im Halsmark lässt die Auffassung der
letzteren als Producte des Fiebers ausschliessen. Vielmehr ist an¬
zunehmen, dass diese einseitige Zellveränderung zusammenhängt mit
der durch die Phlegmone gesetzten schweren Schädigung an der
Peripherie. Dadurch ist für eine grössere Zahl von Nervenfasern die
Abgabe der von den Vorderhornzellen kommenden Reize unmöglich
gemacht, es kommt in diesen Zellen zu einer Reizstauung. Da die
Zellen das periphere Hinderniss zu durchbrechen suchen, indem sie
mehr »kinetische Energie« aufbieten, als in dem regelmässigen
Haushalt der Zelle vorgesehen ist, tritt eine Störung des intracellu¬
lären Gleichgewichtes der Ganglienzellen ein, die in obigen ana¬
tomischen Veränderungen ihren Ausdruck findet. — (Archiv für
Psychiatrie. Bd. XXXIII, Heft 1.) S.
*
395. Die Cysten der Brustdrüse. Von Bryant.
Die Arbeit ist deshalb von besonderem Interesse, weil sie zeigt,
dass die Cysten der Brustdrüse weil häufiger sein können, als
gewöhnlich angenommen wird. Unter 242 von Bryant be¬
handelten Brustdrüsenerkrankungen waren 163 maligne Tumoren,
12 Adenome, 2 Lipome, 2 Carcinome bei Männern, 67 Cysten
diagnosticirt worden. Die wegen Carcinom und Gystenbildung zur
Operation gekommenen Fälle lieferten den Beweis, dass 25°/0 aller
Fälle Cysten waren. Die Cysten, welche leicht mit Carcinom ver¬
wechselt werden können, finden sich namentlich bei Frauen über 40.
Der Umstand, dass die Grösse der Geschwulst wechselt, sowie vor¬
handene Fluctuation und Austritt von Cysteninhalt aus der Brust¬
warze, beziehungsweise eine Probeincision sichern die Diagnose.
Ist die Cyste glattwandig, so wird die Wand mit einer reizenden
Flüssigkeit abgerieben; ist sie mit Wucherungen besetzt, so muss
die Höhle ausgespült werden. Bryant tritt der Ansicht entgegen,
dass solche Cysten eine Disposition zur Entstehung eines Krebses
abgeben. - — (Lancet. 28. April 1900.) * Pi
*
396. Ein Fall vonExtr a uterinschwangerschaft.
Von D e 1 b e t. P s a 1 1 o f f hat uns seine Beobachtung hierüber
mitgetheilt, wo er durch Laparotomie und Zerstückelung Heilung
erzielte. In dieser Beobachtung ist das Bestehen von Fieber ohne
Ruptur der Membranen bemerkenswerth, da es doch bekannt ist,
dass bei Intrauterintod des Fötus das Fieber erst nach der Ruptur
erscheint. — - (La Medecine Moderne. 1. August 1900, Nr. 52.)
Sp.
*
397. P o s t i c u sl ä h m u n g im Anschluss an einen
Fremdkörper im Larynx. Von Dr. Bruggisser (Wohlen).
Der 24jährige Patient litt seit 3. April 1896 an Larynxbeschwerden,
als deren Ursache am 11. April eine über den beiden Stimmbändern
befindliche Zahnprothese (zwei Zähne) erkannt wurde, welche ent¬
fernt wurde; zwei Tage später wurde der Patient im besten Wohl¬
sein entlassen. Bald stellten sich neue Athembeschwerden ein, die
immer mehr Zunahmen und die abermalige Spitalsaufnahme noth-
wendig machten, wo schleunigst die Tracheotomie ausgeführt werden
musste. Die Ursache der neu aufgetretenen Dyspnoe lag in einer
vollständigen Lähmung der Stimmbänder, welche bis heute noch
nicht gewichen und das Tragen einer Canule nothwendig macht.
— (Correspondenzblatt für Schweizer Aerzte. 1900, Nr. 15.)
*
398. Zur Casuistik der progressiven Paralyse.
Von Dr. Lustig, Königslutter. Lustig berichtet über zwei Fälle
von progressiver Paralyse, in welchen das Stadium der einfachen
Demenz ohne wesentliche Veränderungen bei nur eben bemerkbare
Progredienz sich nun schon über 16 — 17 Jahre erstreckt, während
die Gesammtdauer der Krankheit schon 20, respective 21 Jahie
beträgt. — (Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. LVII, Heft 4.) S.
*
399. Beiträge zur Frühdiagnose des Darm¬
car ein oms. Von Dr. Holländer (Berlin). Das Darmcarcinom
äussert, sich häufig zuerst durch Stenosenerscheinungen, deren
944
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 41
malignen Charakter bei Mangel eines sicher palpablen Tumors, zu
erkennen, von grösster W ichtigkeit ist. Verfasser legt hier gewissen
Hautveränderungen ein Gewicht bei, so den bekannten kleinen
Angiomen, den seborrhagischen Warzen und gewissen Pigmentirungen.
Wesentlicher ist das Moment der erblichen Belastung, welches eine
Stenose als maligne verdächtig machen kann. Hiefür bringt Ver¬
fasser einen sehr lehrreichen Beleg. Es handelt sich um zwei ver¬
schwägerte Familien, von denen 31 Personen im Stammbaume
verzeichnet sind mit 16 sicheren und drei fraglichen Krebsfällen.
Von sieben Kindern aus einer Ehe zwischen zwei an Krebs ver¬
storbenen Eltern sind sechs an Krebs gestorben, desgleichen wieder
die Tochter des verschonten Sohnes. Von fünf Kindern dieser
Generation starben sämmtliche an Darmkrebs. — (Deutsche medi-
cinische Wochenschrift. 19(0, Nr. 30.) Pi.
*
400. (Allgemeine medicinische Klinik in Turin.) Behand¬
lung der Tuberculose mit Igazol. Von Dr. Guerra.
Nachdem das Formaldehyd zu 6% ’n Norm von Inhalationen zur
Behandlung der Tuberculose vielfach verwendet wurde, ist es wegen
seiner starken Reizwirkung auf die Schleimhäute häufig wieder
verlassen worden. Erst Prof. Cervello gelang es, dieses Mittel
in eine nicht irritirende Form zu bringen, welche er Igazol be¬
nannte. Baron verwendete dasselbe zur Desinficirung der Wohn-
räumo und Sputa ohne besonderen Einfluss auf die Krankheits¬
keime. Von fünf Kranken, welchen Verfasser das Igazol inhaliren
Hess (drei Stunden täglich), verschlimmerten sich drei, einer blieb
stationär und nur bei einem trat eine Besserung ein; die Tempe¬
ratur blieb stets fieberhaft, Husten und Sputum nahmen wohl ab,
aber die Quantität des Letzteren blieb sich gleich; die Bacillen
verschwanden nicht vollständig; die Athmungsgeräusche klärten
sich auf; endlich nahm nach drei Monaten das Körpergewicht um
2 hj zu. — (Gazzelta degli Ospedali. 5. August 1900, Nr. 93.)
Sp.
*
401. Eine Modification des Geisseif ärbungs-
ver fahre ns nach van Er m engem. Von Dr. A. Hinter¬
berger (Wien). Mittelst einer Modification des genannten, auf
einem Versilberungsprocesse beruhenden Verfahrens, das im Originale
aufs Genaueste angegeben, ist es Hinterberger, wie die bei¬
gegebenen Photogramme beweisen, gelungen, von einer Reihe
Bacterien gut gefärbte, sehr lange und zarte Geissein in sehr deut¬
licher Weise zur Anschauung zu bringen. — (Centralblatt für
Bacteriologie. Bd. XXVII.) Pi.
*
402. Zwei Fälle von wiederholten Brandstif¬
tungen unter Einfluss des Alkohols. Von Dr. Hoppe,
Allenberg. Im ersten Falle handelt es sich um einen erblich be¬
lasteten (Vater Potator), schwachsinnigen jungen Menschen, der
unter dem Einfluss vorübergehender Zustände von Trunkenheit
wiederholt Brände legte. Auch im zweiten Falle liegt erbliche Be¬
lastung vor (beide Ellern trunksüchtig). Der in den nüchternen
Intervallen fleissige, solide und fähige 41jährige Mann verfällt in
länger dauernde Trinkperioden. In beiden Fällen tritt in dem durch
die Betrunkenheit erzeugten pathologischen Zustand nach Art von
Zwangsgedanken der impulsive Trieb zum Feueranlegen auf, der bei
dem durch die Trübung des Bewusstseins bedingten Fehlen von
Gegenvorstellungen rasch zur That wird. — (Zeitschrift für Psych¬
iatrie. Bd. LV1I, Heft 5.) S.
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Professor J ul ius H ocheno gg wurde mit der Suppli rung der chirur¬
gischen Klinik weiland Hofrath Albert's betraut.
*
E mannt: Privatdocent Dr. F ri tzKönig in Berlin zum Ober¬
ärzte am städtischen Krankenhause in Altona. — Hofrath Dr. J. O e 1 1 e r
in München zum o. Professor der Augenheilkunde in Erlangen. —
Dr. Tigerstedt zum Professor der Physiologie in Helsingfors.
*
Verliehen: Dem ordentlichen Professor der Geburtshilfe und
Vorstande der 111. geburtshilflichen Klinik für Hebammen an der
Universität in Wien, Hofrath Dr. Gustav Braun, aus Anlass
seiner Uebernahme in den bleibenden Ruhestand der Adelstand. —
Dem Oberstabsarzte Dr. Julius Netolitzky der Generalstabs-
arztens-Charakter ad honores und der Orden der Eisernen Krone dritter
Classe. — Dem Oberstabsarzte Dr. Simon Man dich das Ritter¬
kreuz des Franz Josef-Ordens und dem Oberstabsarzte zweiter Classe
Dr. Johann R i h a der Oberstabsarztem-Charakter erster Classe.
*
Habilitirt: Dr. Otto Barn ick für Ohrenheilkunde in
Graz. — Dr. Herlitzka in Florenz für Geburtshilfe und Gynäko¬
logie ; in Neapel: Dr. S o 1 a r o für medicinische Pathologie,
Dr. Ven tra für Psychiatrie und Dr. Sorrentino für Dermatologie
und Syphilis.
*
In der am 1. October d. J. abgehaltenen Sitzung des nieder¬
österreichischen Landes-Sanitätsrathes wurden Re¬
ferate erstattet: 1. Vorschläge für die Verleihung der Concessionen für
in zwei Gemeinden Niederösterreichs neu zu errichtende Apotheken.
2. Statut und Hausordnung eines Recouvaleseenten Heims in einer
Gemeinde Niederösterreichs und Abänderungen des Statutes eines
Wiener Kinderspitales. 3. Bewilligung zur Errichtung neuer Am¬
bulatorien in Wien. 4. Recurs wegen Verweigerung der Exhumirung
der auf einem Friedhofe in einer Gemeinde Niederösterreichs beigesetzten
Leiche behufs Ueberführung derselben nach dem Auslande zur Feuer¬
bestattung.
*
Die 73. Versammlung deutscher Naturforscher
und Aerzte wird 1901 in Hamburg tagen. Zu Geschäftsführern
wurden Prof. Voller, Director des physikalischen Staatslaboratoriums,
und Geheimer Medicinalrath Dr. Reineke, zum ersten Vorsitzenden
Prof. H e r t w i g (München) gewählt.
*
Privatdocent Dr. Heinrich Ludwig, emeritirter Assistent
an der Universitäts-Frauenklinik des Hofrathes C h r o b a k, wohnt vom
20. October an: Alserstrasse Nr. 22. — Dr. RudolfSavor, emeri¬
tirter Assistent an der Universitäts-Frauenklinik des Hofrathes Chrobak,
wohnt jetzt: VI., Mariahilferstrasse 89a.
*
S a nitätsver hält nissebeiderMannschaftdesk.u.k.Hee re¬
im Monat Juli 1900. Mit Ende Juni 1900 waren krank vers
blieben bei der Truppe 1396, in Heilanstalten 6886 Mann. Kranken¬
zugang im Monat Juli 1900 14.853 Mann, entsprechend pro Mille
der durchschnittlichen Kopfstärke 52. Im Monat Juli 1900 wurden
an Heilanstalten abgegeben 7113 Mann, entsprechend pro Mille der
durchschnittlichen Koplstärke 25. Im Monat Juli 1900 sind vom
Gesammtkrankenstande in Abgang gekommen 15.330 Mann, darunter als
diensttauglich (genesen) 13.469 Mann, entsprechend pro Mille des
Abganges 878, durch Tod 59 Mann, entsprechend pro Mille des Ab¬
ganges 3 85, beziehungsweise pro Mille der durchschnittlichen Kopf¬
stärke 0 21. Am Monatsschlusse sind krank verblieben bei der Truppe
1198, in Heilanstalten 6607 Mann.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeinde gebiete. 38. Jahreswoche (vom 16. September
bis 27. September 1900). Lebend geboren : ehelich 502, unehelich 290, zusammen
792. Todt geboren: ehelich 43, unehelich 24, zusammen 67. Gesammtzahl
der Todesfälle 539 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
169 Todesfälle), darunter an Tuberculose 70, Blattern 0, Masern 1,
Scharlach 4, Diphtherie und Croup 6, Pertussis 3, Typhus abdominalis 5,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 1, Cholera 0, Puerperalfieber 1, Neu¬
bildungen 45. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (=), Varicellen
17 (-)- 12), Masern 47 =), Scharlach 30 ( — 12), Typhus abdominalis
26 (-j- 9), Typhus exanthematicus 0 (=), Erysipel 19 (-)- 3j, Croup und
Diphtherie 29 ( — 16), Pertussis 34 (-[- 12), Dysenterie 0 (—), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 2 (-(- 1), Trachom 4 (-{- 2), Influenza 0 (=)■
Freie Stellen.
Professor- und Assistenten stelle. 1. An der staatlichen
Lehranstalt für Hebammen in Wien gelangt die Stelle eines Professors mit
dem Dienstrange in der VII, Rangsclasse der k. k. Staatsbeamten und den
durch das Gesetz vom 15. April 1896, R. G. Bl. Nr. 36, normirten Bezügen
zur Besetzung. Bewerber um diese Stelle haben ihre Gesuche mit den Be¬
legen über Alter, Stand, den erlangten Doctorgrad, die zurückgelegten Fach¬
studien, die bisherige Verwendung und Ausbildung in der Geburtshilfe,
insbesondere aber mit dem eventuellen Nachweise der Verwendung als Pro¬
fessor oder Privatdocent der Geburtshilfe an einer inländischen medicinischen
Facultät oder als Piofessor an einer Hebammenschule bis 15. October 1. J.
bei der niederösterreichischen Stattbalierei einzubringen. Gesuche von bereits
in öffentlichen Diensten stehenden Beweibern sind im Wege der Vorgesetzten
Behörde vorzulegen. — 2. An derselben Anstalt kommt mit 1. November
1. J. auch eine Assistentenstelle mit einer Jaliresremnneration von 1210 K
auf die Dauer von zwei Jahren zur Besetzung. Bewerber um diesen Posten
haben ihre mit dem Nachweise über Alter, Stand, die österreichische Staats-
biii gerschaft, den erlangten Doctorgrad und die bisherige Verwendung und
fachliche Ausbildung, insbesondere in der Geburtshilfe, belegten Gesuche bis
15. October 1. J., eventuell im Wege der Vorgesetzten Behörde bei der
Direction der obgenanuten Anstalt einzureicheu.
Nr. 4L
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
945
Verhandlungen
ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
INHALT:
72. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Aachen 1900.
(Fortsetzung.)
13. Internationaler medicinischer Congress zu Paris. (2.-9. August
1900.) (Fortsetzung.)
72. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in
Aachen 1900.
(Fortsetzung.)
Gemeinschaftliche Sitzung der Abtheilungen für
Chemie, innere Medicin und verwandte Fächer am
19. September, Vormittags.
I. Hi s jun. (Leipzig) erstattet ein eingehendes Referat:
U eher Ertheilung von ärztlichen Gutachten über
neu erfundene Arzneimittel“, welches in folgenden Thesen
gipfelte :
A. Die Regelung der Beziehungen zwischen Industrie, pharmako¬
logischen Instituten und ärztlichen Gutachten durch ein zu gründendes
Central institut ist wünschenswerte
B. 1. Dio Abgabe ärztlicher Atteste und Gutachten direct an
die Industriellen darf nur zu deren persönlicher Information,
niemals aber mit dem Rechte der Publication erfolgen. 2. Die Em¬
pfehlung neuer Heil- und Nährpräparate durch Aerzte in der Laien¬
presse ist unzulässig. 3. Bei der Begutachtung neuer Mittel ist grössere
Zuiückhaltung dringend zu wünschen; die Veröffentlichung derselben
ist ausschliesslich in der medicinischen Fachpresse zulässig. 4. Die
Veröffentlichungen in der medicinischen Presse sind, soweit gesetzlich
möglich, gegen Nachdruck zu Reclamezwecken zu schützen. 5. Die
Forderung und Annahme von Honorar für ärztliche Atteste, Gutachten
und Publicationen über neue Mittel ist unzulässig. G. Aerzte, deren
Erfindungen industriell ausgebeutet werden, sind für die Form der
Reclame verantwortlich.
Zunächst wandte sich W. H i s jun. in seinem Referate gegen
die in Aerztekreisen schon lange beklagten Missstände, die durch die
sieh fortgesetzt steigernde Production von Heil- und Nährpräparaten
seitens chemischer Fabriken, beziehungsweise durch die von diesen
inscenirten, zum Theil zweifellos unlauteren Reclamen gezeitigt worden
sind. Leider hätten sich viele Aerzte, sei es nun gegen Bezahlung oder
auch ohne eine solche zu beanspruchen, durch Abgabe von Gutachten
in den Dienst von rein commercial l en Unternehmungen gestellt und
trügen dadurch wesentlich bei zur Schädigung des Ansehens unseres
Aerztestande3. Ein Gutachten über neue chemische Präparate dürfe
von Aerzten nur mit äusserster Vorsicht (insbesondere auch nur von
Spitalsärzten, Klinikern) abgegeben werden; es solle dann aber zur
Information der College:), nicht zu Reclamezwecken dienen. Der voll¬
ständige oder auszugsweise Nachdruck von in der medicinischen Fach¬
presse erscheinenden Aufsätzen über neue Heil- und Nährpräparate
durch die Tagespresse oder zu Reclamezwecken müsse verboten werden.
In jedem Falle sei die Theilnahme von Aerzten an Reclamen in Laien¬
zeitschriften scharf zu verurtheilen. Redner will insbesondere die ärzt¬
lichen Standesvereine an dieser Angelegenheit interessirt wissen. Fr
bat zum Schlüsse seiner Ausführungen, den vorstehend abgedruekten
Thesen zuzustimmen.
Die Versammlung fand gegen die Thesen nichts einzu wenden,
und erklärte einstimmig ihr Einverständniss.
Der folgende Redner, Dr. A. Eichengrün von den Bayer-
schen Farbwerken in Elberfeld, stand auf einem dem Vorredner ziem¬
lich entgegengesetzten Standpunkte. Indem er auf die Triumphe der
deutschen chemischen Industrie auf der Pariser Weltausstellung und
ihre heute unerreichte Stellung hinwies, sah er die unfreundliche Kritik
speeiell des* pharmakologisch chemischen Industriezweiges als nicht
ganz begründet an. In Folge der in der chemischen Technik herrschen¬
den Productionsweise ist die Zahl der heute in den Handel gebrachten
Präparate freilich ungeheuer gross geworden. Es ist auch natürlich,
dass ein grosser Theil derselben minderwerthig ist. Dass sieh aber
diese Präparate in der medicinischen Praxis erhalten, ist viel weniger
eine Schuld des Chemikers, als des Arztes, dessen Prüfung fast immer
durchaus ungenügend ist. Der praktischen klinischen Erprobung der
neuen Heilmittel, die heute ganz allein Usus ist, sollte eine pharmako¬
logische Prüfung vorhergehen. Diese letztere würde schon sehr gut
zwischen dem Guten und Schlechten sondern können. Aber selbst die
heutige ärztliche Untersuchung ist so mangelhaft, dass oft vom
Ministerium verbotene Heilmittel ärztliche Belobung gefunden haben.
Der Redner glaubt, bei der Behandlung der vorliegenden Frage von
den Nährpräparaten ganz abselien zu können, da diese ja nur Ver¬
besserungen schon vorhandener Nahrungsmittel seien. Der Redner
verweist hier auf den übertriebenen Gebrauch von allen möglichen
Fiweiss enthaltenden Präparaten. Fr glaubt, aus dem Gesagten den
Schluss ziehen zu können, dass mau den chemischen Fabriken keine
Beschränkung auferlegen solle, da das Gute sich schon von selbst Bahn
brechen würde.
Einen vermittelnden Standpunkt nahm der dritte Referent, der
Pharmakologe Dr. R. Robert aus Rostock, ein. Er meinte, dass die
Beschränkungen, die man dem Arzte auferlegen wolle, kein unange¬
nehmer Maulkorb, sondern ein Schutzmittel für die durch das Auftreten
gewisser Aerzte gefährdete Standesehre sein solle. Allerdings gehören
ja jene „Autoritäten“, die jedem neuen Heilmittel meist gegen Be¬
zahlung kritiklos ein günstiges Zeuguiss ausstellen, fast immer dem
Auslande an. Aber es sei auch bei uns schon vorgekommen, dass
Aerzte ein solches Gutachten unter Postnachnahme von 100 Mk. an
die betreffende Fabrik gesandt hätten. Auch das Annoncenwesen mit
neuen Arzneimitteln in der medicinischen Fachpresse unterzieht der
Redner einer scharfen Kritik. Der Redner verlangte vor dem Gebrauch
eines jeden neuen Arzneimittels eine gründliche theoretische Vorprüfung
in den chemischen, bacteriologischen, pharmakologischen und physio¬
logischen Instituten. Hat das Präparat diese Prüfung bestanden, so
muss der Einführung in die Praxis der Thierversuch vorhergehen,
sonst wird die Behandlung zur Quälerei am Menschen. Dann erst
sollen im Laufe der klinischen Anwendung die Wirkungen der Arznei¬
mittel nach allen Richtungen hin festgestellt werden. Der Redner ver¬
wahrt sieh an dieser Stelle entschieden gegen den von socialdemokrati¬
scher Seite erhobenen Vorwurf, dass die Aerzte nur die minder Be¬
mittelten zu derartigen Versuchen verwendeten. Aerztliche Gutachten
aus der Praxis heraus über neue Mittel sind nicht direct als Reclame-
artikel an geeignete angesehene Fachjournale zu senden. Den Fabriken
sind Abdrücke davon nur unter der Bedingung zu verabfolgen, dass
sie dieselben weder an Laien verschicken, noch in der Laienpresse ab-
drucken lassen. Besonders bemerkenswert!: ist der Vorschlag des
Redners, anstatt der gar nicht mehr den heutigen Ansprüchen genügenden
Institution der Pharmakopoe ein staatliches Arzueimittelprüfungsamt,
wie z. B. das Seruminstitut, zu gründen, vielleicht im Anschluss au
das Reichsgesundheitsamt. Das Beamtenpersonal jenes Amtes müsste
aus einer Zahl tüchtiger Fachleute bestehen. Da aber an die Durch¬
führung des Projectes vorerst noch nicht zu denken ist, soll sich im
Anschluss an die Naturforscherversammluugen ein Ausschuss bilden,
der schon jetzt, so gut es geht, die Functionen des angestrebten Staats¬
institutes übernehmen soll.
Landrichter Kayser (Aachen) sprach endlich über juristische
Gesichtspunkte, die sich aus dem gestellten Thema ergeben. Er ver¬
breitete sieh, ausgehend von den bestehenden gesetzlichen Bestim¬
mungen, über den Nachdruck ärztlicher Gutachten, den oft geübten
Namensmissbrauch und das Bestimmungsrecht des Erfinders dem Fabri¬
kanten gegenüber in Sachen der Reclame, wobei er alle möglichen
Fälle in Betracht zog und eingehend erläuterte.
*
III. Sitzung dar Abtheilung für innere Medicin am
20. September, Nachmittags 3 U h r.
Vorsitzender: A. Eilienburg (Berlin), später v. Leube (Würz¬
burg ).
I. M. Dinkier (Aachen) : Ueber cerebrale Kinder¬
lähmung mit Demonstration.
Die cerebrale Kinderlähmung ist bedingt durch entzündliche
Processe im Grosshirn und hat im Beginn und Verlauf viel Aehnlich-
keit mit entzündlichen Processen im Rückenmark. Der Beginn äussert
sich durch starke Temporatursteigerung (bis 43"), klonisch-tonische
Krämpfe mit nachfolgender Parese, die meist einseitig ist. Nachher
zeigen sich dann spastische Zustände mit gesteigerten Sehnenreflexen.
Redner führt einige Fälle an und demonstrirt einen Knaben von neun
Jahren, der in Folge von cerebraler Kinderlähmung jetzt auf der
rechten Körperseite eine tonische Contractur der verschiedensten
Muskeln des Armes und Beines zeigt. Zum Schluss demonstrirt Redner
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 41
946
das Gehirn einer 58 Jahre alten Dame, die an Pneumonie gestorben
war und bei der nach der Anamnese kurz nach der Geburt eine acute
Polioencephalitis aufgetreten sein muss. Das Gehirn ist klein; die
Furchen sind wenig entwickelt. In der rechten Hirnhemisphäre ist eine
grosse llöhle, die von Fäden durchzogen ist. Die Hirnrinde ist an
vielen Stellen sehr verdünnt. Die Degeneration erstreckt sich bis ins
Lendenmark.
II. A. Eulenburg (Berlin): Ueber Arsonvali sation.
Man versteht darunter die Anwendung hochgespannter Wechsel¬
ströme zu therapeutischen Zwecken. Bei Anwendung dieser Ströme
bemerkt man Zunahme des Blutdruckes, der bis eine halbe Stunde
nach Beendigung des Versuches anhielt. Die Athemzüge wurden
häufiger und tiefer, der Stoffwechsel angeregt; das Kältegefühl wurde
herabgesetzt und es trat eine gesteigerte Wärmeempfindung ein. Redner
wandte nur locale hochgespannte Wechselströme therapeutisch an und
fand dabei, dass sie Herabsetzung krankhaft gesteigerter Sensibilität
bewirkten bei Neuralgien und besonders bei Juckreiz der Haut. In
vielen Fällen von Ekzem, Psoriasis, Prurigo sah Redner starke Herab¬
setzung und sogar Schwinden des Juckreizes. Auch hatte Redner gute
Erfolge bei Myalgien, bei Arthritis und besonders bei Ischias. In allen
diesen Fällen kam locale Arsonvalisation zur Anwendung. Bei allge¬
meiner Arsonvalisatien hat Redner bisher, wie auch andere Beobachter,
wenig Erfolge gesehen.
Discussion: Smith (Marbach) sah bei Arsonvalisation Ver¬
kleinerung der Herzgrenzen, speciell bei Neurasthenikern mit Herzer¬
weiterung, sowie günstigen Einfluss auf die Schlaflosigkeit dieser
Kranken.
Schür mayer (Hannover) beobachtete bei Arsonvalisation Be
einflussung des Stoffwechsels.
III. H. Horchhaus (Köln): Ueber functionelle
Herzerkrankungen.
Redner spricht über die Schwierigkeiten der Diagnose der
functionellen Ilerzerkraukungen. In manchen Fällen ist es kaum
möglich, eine sichere Entscheidung zu treffen, ob auf organischer Basis
berubene Herzmuskelinsufficienz oder lediglich nervöse Herzaffection
vorliegt. Selbst eine längere Beobachtung, die in den meisten Fällen
allerdings entscheidet, lässt zuweilen im Stich. Als Hilfsmittel der
Diagnose sind hier die Bestimmung des Blutdrucks und auch die
Durchleuchtung zu verwerthen. Bei 36 Kranken mit Herzneurosen,
von denen 20 Männer und 16 Frauen waren, constatirte er bei 31 einen
wesentlich erhöhten Blutdruck mittelst des Instrumentes von Riva-
Rocci. Der Blutdruck bewegte sich zwischen 150 und 210mm Hg.
Natürlich wurden diese Messungen vorgenommen unter allen noth-
wendigen Cautelen. Wenn auch nicht zu leugnen ist, dass nach den
neueren Forschungen auch bei den meisten organischen Herzfehlern
der Blutdruck nicht erhöht ist, so müssen doch Werthe, wie die eben
bestimmten, mehr zu der Diagnose einer Herzneurose hinführen. Diese
Erhöhuug des Blutdruckes scheint in den meisten Fällen zurückzu¬
führen zu sein auf eine stärkere Arbeit des Herzens; dafür spricht
einmal der kräftige hebende Spitzenstoss, die Beschaffenheit des Pulses
und dann auch die Durchleuchtung. Bei dieser konnte Redner in ge¬
eigneten Fällen deutlich constatiren, dass die Zusammenziehung des
Herzens eine äusserst energische und ausgiebige war, so dass also mit
Wahrscheinlichkeit eine kräftige Action des Herzens anzunehmen ist.
Zweifellos wird es durch diese beiden Methoden gelingen, manche
zweifelhaften Fälle klarer zu stellen. In Bezug auf Aetiologie und das
Symptomenbild konnte Redner sich dem bisher Bekannten anschliess'en.
Dagegen hob er bei der Behandlung neben der bisherigen hervor, dass
nach seiner Erfahrung die Digitalis in kleinen Dosen (Centigramm) mit
grossem Vortheil anzuwenden sei.
Discussion: Ad. Schmidt (Bonn) beobachtete bei dau¬
ernder nervöser Tachycardie verminderten Blutdruck und den Pulsus
inspiratione intermittens, d. h. bei starker Einathmung wurde der Puls
sehr klein oder sogar ganz unfühlbar.
Höstermann (Boppard) machte aufmerksam auf Fälle von
Herzklopfen bei Enge der peripheren Gefässe, wie sie bei jungen,
schlecht entwickelten Patienten mit blasser, trockener Haut, kalten
Händen und Füssen und Congestionen zum Kopf öfters vorkommt.
Smith (Marbach) führt die vom Redner als functionelle Herz-
erkrankuugeu bezeichneten Fälle meist auf Insufficienz der Herzmus-
culatur zurück und empfiehlt besonders faradische Bäder.
IV. Schürmayer (Hannover) : Zur Wirkung neuer
Eisenpräparate. Unter besonderer Berücksichtigung des Liquor
ferr. maugan. -peptonati und -saccharati Dieter ich-Helfenberg.
Redner hat seit fünf Jahren die verschiedensten Eisenpräparate
chemisch-physiologisch und klinisch in Bezug auf ihre Wirkung unter¬
sucht und führt seine Versuchsreihen an. Er kommt zum Schlüsse
dsss bei allen uncomplicirten Anämien, Amenorrhoe, Rachitis, Tuber-
culose im ersten Stadium, Scrophulose und besonders Chlorose ein
gutes Nährpräparat und dazu Eisen in geeigneter Form von hervor¬
ragender Wirkung sind. Von eisenhaltigen Mitteln hat sich ihm Liq.
ferr. mangan.-peptonat. Dieter ich- Helfenberg stets besteus
bewährt.
V. W. W e i n tr a u d (Wiesbaden): Ueber eine neue ein¬
fache Technik der Bluttransfusion.
Wenn man beim Gesunden durch eine elastische Ligatur am
Oberarme den Rückfluss des venösen Blutes aus dem Arme hemmt,
ohne den arteriellen Zufluss zu behindern, so füllen sich die ober¬
flächlichen Venen des Armes in drei bis vier Minuten prall an und
der Blutdruck der Venen steigt, am Manometer gemessen, auf 75 bis
85 mm Hg, entspricht also einem Wasserdruck von über 1 m Höhe.
Dieser Druck, der bei nicht zu weit gewählter Canule sich auf an¬
nähernd gleicher Höhe hält, wenn auch schon 100 — 150 cm3 Blut
entleert sind, genügt vollständig, um ausreichende Blutmengen aus
dem gestemmten Arme eines Gesunden direct hinüberzuleiten in die
Armvenen eines Kranken, in dessen Venen, wenn der Arm erhoben
ist, kein nennenswerther positiver Druck vorhanden ist, so dass dem
einströmenden Blute kein Widerstand begegnet.
Zur Transfusion bedarf es also nur zwei geeigneter Canulen
und eines circa 30 cm langen Gummischlauches, dessen beide Enden
mit Ansatzstücken, welche in die Canule passen, arrnirt sein müssen.
Zunächst wird die eine Canule in die Armvene des Kranken in der
Ellbogenbeuge eingelegt, alsdann die andere Canule in die prall ge¬
füllte Vene des Blutspenders direct durch die Haut hindurch einge¬
stochen; sobald ihr Blut entströmt, wird der Schlauch mit seinem
einen Ende daran befestigt, und wenn aus seinem anderen Ende das
Blut dann hervorquillt, wird dieses an die Canule im Arme des
Kranken geheftet. Durch gelegentliches Lüften dieser Verbindung
controlirt man, ob das Blut noch überfliesst. Man lässt es sechs bis
zehn Minuten ruhig strömen. In dieser Zeit fliessen nach angestellten
Thierversuchen circa 150 — 250 cms Blut über.
Zweckmässig ist es, statt des einfachen Verbindungsschlauches
zwischen den beiden Canulen einen solchen mit T förmigen Ansätze
zu wählen und an dem dritten, circa 1 m langen Schenkel ein gra-
duirtes cylindrisches Glasgefäss anzubringen. Man kann dann während
der Bluttransfusion durch einströmende Salzlösung das Blut verdünnen
und gleichzeitig jede beliebige Menge von Infusionsflüssigkeit dem
Kranken einverleiben. Der Eingriff ist so unbedeutend, dass man ihn,
falls er durch zu frühzeitigen Eintritt von Gerinnung misslingt oder
falls sein Erfolg auch bei technisch glücklichem Verlaufe unzureichend
ist, mehrmals rasch hintereinander wiederholen kann.
Am Schlüsse der Sitzung demonstrirte Gilbert (Baden-Baden)
die F r e y’sche Heissluft-Douche.
*
IV. Sitzung der Abtheilung für innere Medicin am
21 . September, Nachmittags 3 Uhr.
Vorsitzender: F. Wesener (Aachen), später Robert (Rostock).
I. M. Gockel (Aachen) : Ueber Erfolge mit Pan-
kreon.
Das Pankreon, ein neues Pankreaspräparat, ist ein staubförmiges
Pulver von hellgrauer Farbe, fast ganz geruchlos, von angenehmem,
ein wenig herbem Geschmack. Es widersteht bis zu fünf Stunden der
Einwirkung des Magensaftes. Redner wandte es in 32 Fällen an,
davon 22mal mit Erfolg, 3mal ohne Erfolg und 7mal mit theilweisem
Erfolge. Besonders günstig ist die Wirkung bei Dyspepsien von
Kindern und Erwachsenen, bei chronischen Diarrhöen, bei symptom¬
loser Gastritis atrophicans und Magencarcinom. Der Erfolg äusserte
sich in Hebung des Appetits und des Kräftegefühls und in Gewichts¬
zunahme. Bei mehreren alten Fällen, die bisher jeder Therapie trotzten,
war der Erfolg ganz auffallend. Dosis dreimal täglich 0'3 ff bei oder
nach dem Essen.
II. R. Lenzmann (Duisburg) : Ueber Appendicitis
larvata.
Redner schildert mehrere Fälle von chronischer Entzündung
des Processus vermiformis, die unter Erscheinungen verliefen, die
lange Zeit gar nicht auf den eigentlichen Sitz der Krankheit hin-
deuteten, und bezeichnet solche Fälle nach Ewald als Appendicitis
larvata. Die Krankheit äussert sich in heftigen Schmerzen innerhalb
der Bauchhöhle und Functionsstörungen der Verdauungsorgane ohne
spontane Schmerzhaftigkeit des Locus morbi. Die Schmerzen traten
meist anfallsweise auf. Meist Hess sich jedoch in der rechten Unter¬
bauchgegend eine Geschwulst nachweisen, die den geschwollenen
Appendix darstellte. Nach operativer Entfernung des Appendix trat
stets völlige Heilung ein.
Discussion: W. Müller (Aachen) bemerkt, dass Fälle, in
welchen sich der geschwollene Appendix überhaupt fühlen lasse, nicht
als Appendicitis larvata bezeichnet werden können. Lenzmann
entgegnet, das er die Appendicitis als larvata nicht bezeichnen wolle
mit Rücksicht auf die objectiven Symptome, sondern mit Rücksicht auf
Nr. 41
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900
947
subjective Beschwerden, die in seinen Fällen viel eher auf irgend eine
andere Erkrankung deuteten, als auf Appendicitis.
III. A. Smith (Marbach am Bodensee): Herzuntersuchung
(mit Demonstration).
Zur Herzuntersuchung mit Feststellung der wirklichen Ilerz-
gi-enzen bedarf es nach Smith mehrfacher, genauer Percussion, der
Phonendoskopie mit dem vom Redner veränderten B i a n c h i’schen
Phonendoskop und der Aufnahme von R ö n t g e n - Bildern. Dabei hat
Smith gefunden, dass bei derselben Person das Herz in seiner
Grösse zu verschiedenen Zeiten sehr variiren kann, wofür er eine Reihe
von Zeichnungen nach genauen Untersuchungen vorlegt. Zum Schlüsse
demonstrirt er an einem Manne, wie durch Trinken von % 1 Rothwein
schon nach fünf Minuten die Herzgrenzen sich rasch nach allen Seiten
um circa 2 cm erweiterten in Folge acuter Herzdilatation durch den
gefässerweiternden Einfluss des Alkohols.
IV. E. 'Rotschuh (Managua) : Die Syphilis in
Nicaragua. (Der Vortrag wird veröffentlicht im Archiv für Schiffs¬
und Tropenhygiene.)
Redner kommt zu folgenden Schlussresultaten: Die Syphilis in
Nicaragua verläuft kürzer und milder. Der Primäraffect ist vom Ulcus
molle meist nicht zu unterscheiden. Die secundären Formen zeigen
ähnliche Formen wie bei uns, aber abgeschwächt; mehr hervortretend
sind Drüsen- und Gelenksaffectionen. Tertiäre Symptome sind selten ;
namentlich fehlen die schweren Erscheinungen des Centralnerven¬
systems (Tabes, progressive Paralyse). Spuren von hereditärer Syphilis
finden sich sehr häufig; schwere Formen sind selten. Die Ursache für
den milden Verdauf ist in der Durchseuchung der Bevölkerung zu
suchen (fast 75%), zum geringeren Theile vielleicht in dem trockenen,
heissen Klima.
V. F. Wesener (Aachen) : Ueber Diphtherie und
Scharlach.
Redner gibt eine Uebersicht über die von ihm als Oberarzt der
inneren Abtheilung des städtischen Mariahilfhospitales zu Aachen in
den letzten Jahren beobachteten zahlreichen Fälle von Diphtherie und
Scharlach.
In allen Fällen von Diphtherie konnten Diphtheriebacillen ge¬
züchtet werden; zuweilen war allerdings wiederholte Abimpfung nöthig.
Der Tonsillenbelag enthielt immer Diphtheriebacillen, das Secret des
Larynx stets. Während Baumgarten, der bei allen Diphtherie¬
leichen Streptococcen fand, diese für die Krankheitserreger hält, fand
Wesener an Lebenden in vielen Fällen, besonders in Croupfällen,
keine Streptococcen. In allen Fällen, die zur Autopsie kamen, konnte
W e s e n e r post mortem stets auch Streptococcen nachweisen. Unter
500 Diphtheriefällen trat 206mal Albuminurie auf; meist bald, oft
schon in der ersten Woche mit meist leichtem Verlauf.
Der Scharlacherreger ist noch unbekannt, da die bisherigen
Veröffentlichungen darüber nicht beweisend sind. Wesener glaubt,
dass der Scharlach eine Krankheit ist, welche durch einen bisher
noch unbekannten Erreger entsteht, der daun später durch andere
Krankheitserreger überwuchert wird. Die Scharlach- Nephritis tritt
ziemlich spät auf, meist in der dritten Woche, und zeichnet sich
oft durch schweren Verlauf aus. Oefters zeigt sie hämorrhagische
Nephritis. In den Fällen, die eine Glomerulonephritis darstellten,
waren in den Nieren zahlreiche Streptococcen nachzuweisen. Das
Beginnen der Nephritis kündigte sich meist an durch leichtes Fieber
und leichte Angina. Strengste Milchdiät bewährte sich bei Scharlach¬
nephritis als bestes Heilmittel. Wesener beobachtete, dass die
Nephritis in Familien oft bei allen vom Scharlach Befallenen auftrat,
während das bei Diphtherie nicht der Fall war. Auch kamen Scharlach¬
rheumatismus (Affection der Gelenke) und Scharlachnephritis niemals
zusammen vor.'
*
A b t h e i 1 u n g für Chirurgie.
Referent: Dr. Bongar tz (Düsseldorf.).
I. Sitzung vom 18. September.
Vorsitzender: Geheimrath Prof. Trendelenburg.
I. Rosenberger (Würzburg) : Ueber die Art und Be¬
deutung des chirurgischen Eingriffes während
eines Typhlitisanfalles.
Rosenberger rätb, namentlich in den sehr acut einsetzenden
Fällen von Perityphlitis während des Anfalles zu operiren, sich
aber in allen Fällen mit der Incision und Drainage zu begnügen und
nicht nach dem Wurmfortsätze zu suchen. Ist Eiter vorhanden, so
sorgt man durch diesen einfachen Eingriff in ausreichender Weise
für seinen Abfluss, kommt es erst nachträglich zur Eiterbildung, so
findet er den Weg nach aussen vor. Der 3 — 6 cm lange Operations-
scbnitt wird bis zum Peritoneum vertieft, dann wird stumpf mit dem
Finger vorgegangen. Die Wunde wird durch Naht bis zum Lumen
des Drains geschlossen. Bei etwaigen Recidiven empfiehlt Rose n-
b erg er die nachträgliche Entfernung des Appendix. Von 15 ge¬
heilten Fällen sind bis jetzt 12 ohne Recidiv geblieben. In 11 Fällen
fand sich Eiter und Jauche, in 4 Fällen kein Secret; in 2 Fällen
kam es nachträglich zur Absonderung kothigen Eiters. Die Operation
soll, zur rechten Zeit vollzogen, in allen, selbst in anscheinend ver¬
zweifelten Fällen genügen; zu spät gemacht, helfe überhaupt keine
Operation mehr. Rosenberger rühmt als besondere Vorzüge des
Eingriffes dessen Leichtigkeit und den Umstand, dass er vom Haus¬
arzte im Hause des Kranken vorgenommen werden könne.
Die in der Discussion von Müller (Aachen) gestellte Frage,
ob die etwa später nothwendig werdende Entfernung des Wurmfort¬
satzes grössere technische Schwierigkeiten biete, wird vom Vor¬
tragenden verneint.
II. Bardenheuer (Köln): Behandlung des Pana¬
ritium tendinosum und par atendinosum.
Bardenheuer weist darauf hin, dass diese wichtige und oft
so folgenschwere Erkrankung in der Literatur nicht die gebührende
Berücksichtigung gefunden habe. Eine eigene Erkrankung an einem
Panaritium paratendinosum, das zur Versteifung des Fingers führte,
veranlasste ihn, sich in letzter Zeit näher mit diesen Leiden zu be¬
schäftigen. Bardenheuer warnt davor, sich, wie noch einige
Chirurgen es thun, aus Furcht vor Blosslegung der ganzen Sehne mit
kleinen multiplen Incisionen zu begnügen; mit Helfer ich steht er
auf dem Standpunkte, die Sehne bei Erkrankung der Sehnenscheide
in ihrer ganzen Ausdehnung blosszulegeu, wenn nöthig von der
Fingerspitze bis zum Ellbogen. Der Schnitt wird an der radialen Seite
des Fingers in der Mitte zwischen dorsaler und volarer Fläche 1 cm
von der Sehne entfernt geführt, damit die Sehne von den Weiehtheilen
bedeckt bleibt. Handelt es sich um ein Panaritium paratendinosum,
so ist die Sehnenscheide unter allen Umständen zu schonen, auch
wenn sie schwarz verfärbt erscheint. Bei der tendinösen Form mit
aufgetriebener Sehnenscheide wird diese eröffnet, wobei aber, wenn
irgend angängig, die Ligamenta annularia der Phalangealgelenke
geschont werden müssen.
In die Wundhöhle wird ein einfacher Jodoformgazestreifen
gelegt, der acht Tage liegen bleibt, die Wunde dann nach Helferich’s
Methode mit einem hydropathischen Verband bedeckt, der täglich
erneuert wird. Nun kommt es für das functioneile Resultat darauf an,
möglichst bald einen aseptischen Heilungsverlauf zu erzielen. Gelingt
dies nicht nach etwa 14 Tagen, so ist die Function trotz erhaltener
Sehne meist verloren und bei lang anhaltenden Eiterungen ist es
gleicligiltig, ob die Sehne erhalten ist oder nicht, da die Function
sicher erloschen ist. Hat man nach acht Tagen aseptischen Verlauf
erzielt, so genügt es noch, die Wundränder zu ihrer Vereinigung an¬
einander zu drücken, bei späterem Eintritte der Asepsis ist wegen der
Schrumpfung des Lappens zur Deckung der Sehne meist eine Lappen¬
verschiebung nöthig. Den hiedurch in der Handfläche entstehenden
Hautdefect deckt Bardenheuer durch einen K raus e’schen Lappen.
In den für die spätere Function so ungünstigen Fällen, wo es zu
einer Panphlegmone der Hand kommt, der Process auf deD Oberarm
übergreift und die benachbarten Flexorensehnen mit ergriffen werden,
gelang es Bardenheuer, wie zwei demonstrirte Fälle beweisen,
wiederholt, der verkrüppelten Hand eine gewisse active Beweglichkeit
der Fingergelenke wiederzugeben durch Excision der callösen Narben¬
massen; in zwei Fällen resecirte er zu diesem Zwecke mit Erfolg
nachträglich das Handgelenk. Als Cardinalregeln stellt er folgende
Sätze auf: 1. Die Operation soll in Chloroformnarkose gemacht
werden. Locale Anästhesie ist zu verwerfen. 2. Um das Operations¬
feld gründlich übersehen zu können, ist die volle Esmarc h’sche
Blutleere anzuwenden. 3. Man soll möglichst sofort operiren und keine
Zeit mit Anwendung feuchter Verbände verlieren. 4. Bei Panaritium
paratendinosum ist unter allen Umständen die Sehne, bei Panaritium
tendinosum sind die Ligamenta annularia zu schonen. 5. Es sind
möglichst bald active Bewegungen in den Gelenken vorzunehmen.
Discussion: Rosenberger (Würzburg) hält lange
Incisionen nicht für nöthig und verwirft sie wegen der starken Narben¬
bildung.
Bardenheuer widerspricht, namentlich mit Rücksicht auf
die Gefahr der Erkrankung der benachbarten Sehnen und des Weiter¬
kriechens des Eiters.
Müller (Aachen) steht ganz auf dem Standpunkte Barden-
h eue r’s und betont besonders die Wichtigkeit der exacten E s m a r c fa¬
schen Blutleere.
III. Barden heu er (Köln): Ueber Kapselverengerung
bei Gelenksaffectionen.
Bar den heuer beobachtete, dass man das ganze Kniegelenk
extracapsulär freilegen kann, ohne mit dem Gelenk in Berührung
zu kommen.
Dieses extracapsuläre Vorgehen eignet sich 1. für die habituelle
Luxation der Kniescheibe, 2. für das Schlotterknie, 3. für Erschlaffungs-
948
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. DUO.
Nr. 41
zustande des Gelenkes nach arthritiseben Processen und traumatischem
Hydrops.
Bei der Operation der habituellen Patella Luxation dringt
Bar den heu er mit einem halbmondförmigen Schnitt, der an der
inneren $eito des Gelenkes im Bogen verläuft, auf die Capsula fibrosa
ein. Extrasynovial wird die Capsula fibrosa und das Ligament, patellare
quer durchtrennt, sodann der hintere Rand der fibrösen Kapsel über
den vorderen gezogen und vernäht. Der Vastus intern, wird abgelöst
und an die Patella genäht, der äussere sich selbst überlassen. Nun
kann die Patella nicht mehr verschoben werden und sie liegt fest
zwischen den Condylen.
In zwei so operirten Fällen war das Resultat nach einem halben
Jahre vorzüglich.
Dasselbe Verfahren wandte Bar den heu er mit Erfolg bei
Genu valgum an und empfiehlt es für die Fälle, wo nach der Ope¬
ration des Genu valgum ein Schlottergelenk bleibt. Gleich gute Re¬
sultate lieferte die Methode in einem Falle von Erschlaffung des Knie¬
gelenkes nach chronischem Hydrops und in einem weiteren Falle von
beiderseitiger Luxation der Tibia nach hinten in Folge von Gelenks¬
rheumatismus.
Discussion: Trendelenburg (Leipzig) wandte ver¬
schiedene Operationsmethoden bei der habituellen Luxation der Patella
mit wechselndem Resultate an. Er glaubt nicht, dass diese Luxation
stets traumatischer Herkunft sei, sondern dass die Erblichkeit dabei
eine sehr grosse Rolle spiele. In einem Falle meisselte Trendele n-
burg die Tuberositas tibiae ab, nagelte die Patella auf und verlagerte
sie so nach aussen. Nach anfänglichem Erfolg stellte sich später die
Luxation von Neuem ein.
In einem anderen Falle legte er den Condylus intern, durch
einen Schnitt an der inneren Seite des Gelenkes frei, meisselte vor¬
sichtig in frontaler Richtung in den Condyl. intern, ein und schob in
den Spalt einen Elfenbeinstift, auf dem die Patella fixirt wurde. Dadurch
wurde der Condyl. extern, erhöht. Das Gelenk musste natürlich
eröffnet werden. Ueber das Dauerresultat lässt sich bei der Kürze der
verflossenen Zeit noch nichts sagen.
IV. Bartz (Eschweiler): Dauererfolg der operativ
behandelten Bauchfelltube rculose.
Bartz berichtet über drei durch den Bauchschnitt dauernd
geheilte Fälle von Peritonealtuberculose mit Ascites. Die Kranken
wurden in den Jahren 1895, 1896 und 1897 operirt. Der zuerst
operirte Kranke starb vor einiger Zeit, also fünf Jahre nach der
Operation, an Fettherz.
Bartz spricht über die bekannten Theorien zur Erklärung der
Heilwirkung des Bauchschnittes; er glaubt, dass die Stauungshyper¬
ämie die Hauptrolle dabei spiele.
V. Bartz (Eschweiler) : Operation einer Spina
bifida.
Bartz operirte einen Fall von Spina bifida nach dem Verfahren
von Schmid t, das er als das beste empfiehlt. Der strausseigrosse
Sack wurde bis zur Bruchpforte freigelegt, dann punctirt. Auf den
zusammenfallenden Sack wird eine Sonde gelegt und über diese die
Sackwand in Etagen genäht. Das plastische Resultat war gut; die In¬
continentia alvi et urinae ist nicht verschwunden.
VI. Landow (Wiesbaden): Centrales Osteom des
Humerusschaftes.
Bei einem Patienten, der früher an Rachitis gelitten hatte,
stellten sich seit Jahren nach geringen Anlässen Schmerzen im linken
Humerus ein. Vor P/a Jahren wurde eine Anschwellung am linken
Oberarm bemerkt, die ganz langsam gewachsen ist. Bei der Unter¬
suchung findet sich eine spindelförmige Knochenauftreibung des linken
Humerus. Da ein Sarkom des langsamen Wachsthums wegen nicht
wahrscheinlich, wird die Diagnose: Enchondrom gestellt. Das Rönt¬
gen- Bild zeigt einen central gelegenen Tumor mit knöcherner Schale.
Bei der Operation findet sich ein von periostaler Hülle umgebener,
central gelegener, eiförmiger, fast pflaumenförmiger Tumor, der durch
einen bindegewebigen Stiel mit dem Periost des Humerus zusammen¬
hängt. Es war ein Osteom. Nach Landovv's Meinung liefert dieser
lall den bis jetzt noch fehlenden Beweis für die wiederholt ausge¬
sprochene Ansicht, dass Enchondrome und Osteome sich auf dem Boden
versprengter Knorpelinseln entwickeln.
VII. W. Müller (Aachen) : Demonstration zur Frage
der Osteoplastik.
1. Vorstellung zweier mit schönem Resultat geheilter Fälle von
Spina ventosa, in denen Müller frühzeitig den ganzen Metacarpus
entfernte und durch Autoplastik aus der Ulna ersetzte.
2. Vorstellung eines Falles von osteoplastischer Deckung einer
sincipitalen Encephalocele.
Es bestaud starke intracranielle Drucksteigerung. Zur Schliessung
des Defectes war eine viermalige Operation nöthig. Das Resultat ist,
wie die vorgestellte Kranke bewoist, sehr schön ; die Stelle des ge¬
schlossenen Defectes ist aneurysmaartig vorgewölbt. Die Schwierigkeit,
einen guten dauernden Verschluss zu erhalten, liegt in dem Schicksal
des Lappens, der dazu neigt, allmälig immer dünner zu werden und
daher von innen wie arrodirt aussieht.
3. Sehnenüberpflanzung.
In einem Falle von totaler irreparabler Radialislähmuug über¬
pflanzte Müller den Flexor carpi radialis und ulnaris auf das Dorsum.
Der functionelle Erfolg war, wie die Demonstration des Falles zeigt,
recht befriedigend.
VI II. Frank (Köln) : Zur Kenntniss der Knochen-
trans plantation.
Redner spricht über die Behandlung der Fälle von Spina ventosa,
in denen mehrere nebeneinander gelegene Metacarpi gleichzeitig erkrankt
sind. In diesen Fällen werden in der Bardenheue r'schen Klinik
die entfernten Metacarpi durch Heteroplastik ersetzt. In einem durch
R ö n t ge n - Bilder erläuterten Falle wurde der von einem frisch
Amputirten gewonnene, erst ausgekochte, dann in Kochsalzlösung
gelegte Knochen in die erhaltene Periosthülle der resecirten Metacarpi
eingelegt und die Weichtheile darüber vernäht. Der transplantirte
Knochen soll nur bis zur natürlichen Knochenneubildung vom Periost
aus als Stütze der Hand eingeschaltet werden. Ueber das spätere
Schicksal der transplantirten Knochen spricht sich Frank nicht aus.
Frank demonstrirt im Röntgen- Bilde einen weiteren
Fall von Autoplastik bei Spina ventosa, der ein schönes Resultat
lieferte.
IX. S c h u 1 1 z e (Duisburg): Ueber Klemmnaht.
Schultze lässt nach Operationen die Wundränder der Haut
spannen, so dass sie aneinander liegen. Dann legt er im Abstand von
2 cm Klemmpincetten an, die die Wunde zusammenpresssen. Zwischen
den Klemmen werden schmale Gazestreifen mit Collodium befestigt.
Sind diese fest angetrocknet, so werden die Klemmen abgenommen.
Bei Laparotomiewunden ist das Verfahren nicht zu verwenden, dessen
Vorzug vor der gewöhnlichen Naht in der Unmöglichkeit einer Infection
von Stichcanälen aus besteht,
X. L o n g a r d (Aachen) : Krankenvorstellung, Fälle
von Verletzung des Sp rachcentrums.
Es handelte sich in beiden Fällen um eine ausgedehnte, compli-
cirte Fractur des linken Schläfenbeines etwa 2 — 3 cm über dem Ohr,
Bei dem ersten Kranken fand sich eine ausgedehnte Zertrümmerung
der Gehirnmasse unter der Fracturstelle in der Gegend der Central¬
windung. Es musste etwa ein Esslöffel voll Gehirnsubstanz entfernt
werden. Bei diesem Kranken bestand kurz nach der Verletzung etwa
14 Tage lang die als Monophasie bezeichnete Sprachstörung. Auf alle
Fragen gab er trotz offenbaren Verständnisses für deren verschiedenen
Inhalt stets die gleiche Antwort: „Bitte, bitte“. In der diitten Woche
nach der Verletzung nahm der Wortschatz des Kranken allmälig zu
und nach sechs Wochen beherrschte er die Sprache wieder in vollem
Umfange. Lähmungserscheinungen waren in dem Falle nicht vorhanden.
Es ist sehr auffallend, dass trotz des verhältnissmässig so grossen Ver¬
lustes an Gehirnsubstanz aus der functionell so ungemein wichtigen
linken Centralwindung und der Sprachregion bei dem Kranken keine
Spur von Ausfallserscheinungen vorhanden ist.
Dem zweiten (vorgestellten) Kranken fiel eine schwei e Steinlast
auf den Kopf. An der Bruchstelle, etwa 3 cm über dem linken Ohr,
fand sich ein runder, pflaumengrosser Stein, der ziemlich tief in die
Gehirumasse eingedrungen war. Dieser Fall verlief nicht so günstig,
wie der vorhergehende. Es bestand vom Anfang an das ausgesprochene
Bild der motorischen Aphasie und Aphonie. In der dritten Woche
nach der Verletzung litt der Patient an traumatischem Irresein und
wurde einer Irrenanstalt überwiesen. Hier verlor sich die Geistes¬
störung langsam und heute sind dio geistigen Functionen des Kranken
ganz normal. Der vorgestellte Patient zeigt jetzt ausser einer mulden¬
förmig eingezogenen Narbe über dem linken Ohr, einer geringen
Parese des rechten Oberarmes und einem leicht spastischen Gang das
classische Bild der motorischen Aphasie. Abgesehen von wenigen
Wörtern ist er nicht im Stande, für den klar erkannten Gegenstand
und den geistig vorhandenen Wortbegriff das Wort, das ihm sozu¬
sagen auf der Zunge schwebt, auszusprechen. Den an die Tafel ge¬
schriebenen Satz: „Sie dürfen morgen Nachmittags nach Hause
gehen“, liest er mit offenbarem Verständniss, kann aber nur die beiden
Worte: „nach Hause“ aussprechen. Die Zahlen von eins bis sieben
schreibt er selbst an die Tafel und gibt auf Befragen ihre Bedeutung
durch Fingerzeichen rasch und richtig an, ohne im Stande zu sein,
für eine einzige die Sprache zu finden. Schriftlich gibt der Kranke
auf alle Fragen klare Antwort. Ob sein in letzter Zeit um einige
Wörter bereicherter Wortschatz weiter zunehmen wird, ist abzuwarten.
Nr. 41
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
949
13. Internationaler medicinischer Congress zu Paris.
(2. — 9. August 1900.)
(Fortsetzung).
Ab t h e i 1 u n g für Kinderheilkunde.
V. Moussous: Ueber die klinischen Formen der
Tuberculose des ersten Lebensalters. (Ref. Dr. Sp.)
Generalisirte Formen. Während der zweiten Kindheit
scheint die Tuberculose ihre Eigenschaften einer allgemeinen Krank¬
heit abzustreifen, um die Maske eiuer localen Krankheit anzunehmen.
Ausser ihrer Localisation im Lungengewebe, welches in allen
Perioden ihres Bestehens sich als der Lieblingssitz der bacilläron
Keime bewährt, beobachtet man, vom zweiten oder dritten Lebensjahre
angefangen, folgende gut individualisirte klinische Arten (ohne die
chirurgischen Tuberculosen hinzuzurechnen): Die chronische tuber¬
culose Bauchfellentzündung, die primitive tuberculose Hirnhautent¬
zündung und die Gehirntuberkeln, die Adenopathie in der Luftröhre
und in den Bronchien, die A d d i s o n’sche Krankheit u. s. w. Diese
Vielfachheit der localen Formen, zu welchen man auch eine allgemeine
aber heilbare Form hinzufügen kann, nämlich das prägranulirte tuber¬
culose Fieber oder die Typhobacillose, existirt nicht in der ersten
Kindheit. Vor dem zweiten Jahre könnte man einige differente, klini¬
sche Typen, die wir oben angeführt haben, citiren; jedoch sind dies
Ausnahmen, welche in einer Gesammtstudie keinen Platz einnehmen
können.
Die Tuberculose des ersten Alters, unter Beschränkung der
Localisationen im Atlmiungsorgane (Lungen, Rippenfell, Bronchial¬
drüsen), welche in einem anderen Berichte besprochen werden, stellt
sich für gewöhnlich als allgemeine Krankheit dar.
Vom Standpunkte ihres Ursprungs ist die Tuberculose des ersten
Alters hereditär oder erworben.
Wie unbestreitbar auch die tuberculose Heredität (heredite de
graine) ist, so ist es sehr schwer, ihre Häufigkeit abzuschätzen. Die
nicht zu besprechenden Thatsachen von typischer Heredo-
Tuberculose sind zu selten, um davon noch eine klinische Be¬
schreibung geben zu können.
Im Gegentheil, man kann eine erworbene Tuberculose des ersten
Alters nicht beschreiben, ohne sofort ein Bild dieses organischen Zer¬
falles, dieser speciellen Dystrophie, welche bei gewissen Kindern tuber-
culöser Eltern beobachtet wurde, und die man als atypische
Heredo-Tuberculose bezeichnet, zu geben. Unter diesen Dystro¬
phsten fordert die Tuberculose die meisten Opfer.
Das Ergriffensein des Organismus von den Bacillen verräth sich
nicht immer oder sogleich durch krankhafte Symptome: die Tuber¬
culose ist sodann latent.
So lange sie in d e r Entwicklung begriffen ist, zeigt die
Tuberculose bei Kindern des ersten Alters zwei klinisch unterschiedene
Formen :
A. Die allgemeine acute Tuberculose; einhergehend
mit Fieber, zeigen die allgemeinen und localen Symptome die Allüren
einer acuten infectiösen Krankheit.
B. Die chronische allgemeine Tuberculose. Dif¬
fuse Tuberculose von Aviragnet: apyretische, chronische, allgemeine
Tuberculose von M arf a n, mit allen Zügen einer Kacbexie.
Kann man ausserdem noch eine subacute Form annehmen?
Diese Frage führt dahin, vom klinischen Standpunkte bei den
kleinen Kindern die Coexistenz der Tuberculose mit anderen Infections-
krankheiten, Gastro-Enteritis, Masern, Keuchhusten. Diphtherie u. s. w.
zu betrachten.
Unter den verschiedenen Typen ist die Tuberculose des ersten
Alters gewöhnlich mit einer besonderen Anschwellung der Lymph-
drüsen begleitet; diese Anschwellung wäre nach gewissen Schriftstellern
sogar der einzige Ausdruck der Tuberculose: „m i c r o p o 1 y a d e n o-
pathie generalisee“. Endlich reiht sie sich sehr häufig an
Gehirnzufälle, welche sich mit einer, von der tuberculosen Hirnhaut¬
entzündung älterer Kinder unterschiedener Physiognomie entwickeln:
Tuberculose Meningitis der Säuglinge.
Das wichtigste Capitel ist die Frage der Diagnose.
Gross ist die Schwierigkeit, bei Kindern des ersten Alters die
Tuberculose klinisch zu erkennen. Die grossen Zeichen, welche in
anderen Lebensperioden die tuberculose Vergiftung des Organismus
anzeigen: Anämie, neuro-musculäre Asthenie, Abmagerung, Tachycardie,
sind hier von schwacher Hilfe; dasselbe kann man über die Nach¬
forschungen der Urinsecretion angeben.
Viel hatte man gehofft auf die Constatirung der micropolyadeno-
pathie generalisee, aber dieseses Zeichen ist nicht pathognomoniscb.
Die Diagnostik verdient succesive nach den zwei Formen, welche
wir angenommen haben, betrachtet zu werden.
Man muss unterscheiden die erste Form der Gastro-Enteritis und
des typhösen Fiebers; die zweite Form der Atrepsie, der gastro¬
intestinalen Kachexie, der syphilitischen Kachexie, der Sumpfkachexie,
der pyodermischen Kachexie, endlich der Anämien mit Megalosplenie.
Kann man im Falle der Verzögerung oder um eine latente
Tuberculose zu entdecken, zu den Injectionen von Tuberculin oder
von künstlichem Serum (Methode von S i r o t) seine Zuflucht nehmen?
Diese Frage, die Vor- und Nachtheile dieser Methoden werden in einem
anderen Berichte studirt werden. Aber wir wollen die Aufmerksamkeit
auf ein neues diagnostisches Mittel lenken, welches, ohne noch voll¬
kommen erprobt zu sein, sich schon heute hoffnungsvoll ankündigt.
Es ist dies die tuberculose Serum-Reaction, von A r 1 o i n g
und Courmont studirt und von B u a r d im Kinderspitale zu Bor¬
deaux versucht, welche die ermuthigendsten Resultate ergeben bat.
VI. Richardiere (Paris) : Ueber die klinischen
Formen der Tuberculose des ersten Alters. (Ref. Dr. Sp.)
In diesem Berichte über die klinischen Formen der Tuberculose
des ersten Alters werde ich besonders die Symptomatologie und
klinische Entwicklung der Tuberculose bei allen jungen Kindern be¬
sprechen und in besonderer Weise die broncho pulmonären und
tracheo-bronchialen ganglionären Krankheitsneigungen hervorheben.
Die drei anderen Correferenten, welche den Begriff des ersten
Alters (von der Geburt bis zu 2 und 2*/2 Jahren nach meiner Meinung)
festgestellt haben, werden die Aetiologie, die Tuberculisirung der
Kinder durch Vererbung des Keimes oder durch Uebertragung durch
das Terrain, die pathologische Anatomie, die Behandlung u. s. w.
studiren. Moussous und ich werden ausserdem den klinischen T heil
wahrnehmen.
Von diesem Gesichtspunkte werde ich meinen Bericht in vier
Punkte eintheilen : A. Allgemeine Charaktere der Tuberculose.
B. Klinische Formen. C. Gemeinschaftliche Symptome. D. Neue Me¬
thoden der Diagnostik der kindlichen Tuberculose und Beurtheilung
des Werthes jeder dieser Methoden.
A. Allgemeine Charaktere.
Bei Kindern im ersten Alter ist die Tuberculose beinahe immer,
■wenn nicht immer, mehr oder minder eine allgemeine Tuberculose,
welche, im Beginne an ein Organ (besonders an die Lymphdrüsen)
gebunden, sich in der letzten Periode der Krankheit allgemein
ausbreitet.
In Folge dieser Tendenz zur Generalisation, ihres rapiden \ er-
laufes, der Betheiligung des lymphatischen Systems bei ihrer Aus¬
breitung, ist die kindliche Tuberculose des ersten Alters mit der experi¬
mentellen Tuberculose vergleichbar.
Die Ursachen der allgemeinen Ausbreitung der Tuberculose bei
jungen Kindern werden untersucht und discutirt werden. Man kann
dies durch die Thätigkeit und Bedeutung des lymphatischen Systems
in diesem Lebensalter, durch die ätiologischen Bedingungen (Heredität
des Keimes oder Heredität der weniger widerstandsfähigen Gewebe
gegenüber dem Tuberkelbacillus) erklären. Die Generalisation der
Tuberculose erklärt sich auch vielleicht durch die 1 hatsache, dass die
zarten Gewebe des Kindes von der Wirkung des Bacillus noch nicht
beeinflusst sind und noch nicht befähigt sind, um demselben zu wider¬
stehen. Die kindlichen Gewebe werden gegen den Bacillus noch nicht
geimpft sein. Durch diese Hypothese würde sich die grössere Wider¬
standskraft der Erwachsenen, bei welchen gerne locale Tuberculosen
auftreten, durch eine Reihe fortgesetzter Impfungen erklären.
Die Häufigkeit der Tuberculose des ersten Alters wird durch
die Statistiken von Rilliet und Bar the z, Her vieux, Lan-
d o u z y und Quey rat, H u t e n e 1, Aviragnet, Froebelius,
Schwer u. s. w. festgestellt werden.
B. Klinische Formen der Tuberculose der Kinder im
ersten Alter.
Man kann dieselben in verschiedene Gruppen eintheilen:
1. Allgemeine infantile Tuberculosen, ohne specielle Localisation
mit acutem Verlaufe. Hieher gehören:
ft) die primitiven, subacuten, infectiösen, tuberculosen lieber
von Landouzy, bei welchen sich die Krankheit wie eine typhoide
Infection entwickelt und bei welchen man bei der Section keine
geformten Tuberkeln, sondern blos Bacillen findet. Dieses wären die
bacillären Tuberculosen ohne Tuberkeln;
b) die granulirten acuten Tuberculosen (granulie d’Empis). Bei
dieser Form präsentirt sich die Tuberculose klinisch wie ein typhoides
Fieber, bezüglich ihres Verlaufes kann man diese Form in zwei ^ arie¬
täten, die einfache typhoide und die abgeschwächte typhoide form,
eintheilen.
2. Allgemeine infantile Tuberculosen mit acutem Verlaufe und
Localisation in den Bronchien und Lungen.
Dies sind jene Tuberculosen, welche ich in Uebereinstimmung
mit den Correferenten speciell studiren werde. Ich werde zeigen, dass
in Rücksicht auf die Generalisation der Tuberkeln im 1 .ungengewebe
diese Formen zumeist gemischt sind.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 41
Um die Beschreibung und das klinische Studium zu erleichtern,
kann man diese Gruppe der acuten broncho pulmonären Tuberculosen
eintheilen in:
a) bronchitische,
b) asthmatische oder suffocante,
c) broncho-pneumonische,
d) spleno-pneumonische,
e ) pleuritische Form.
3. Kindliche Tuberculose mit langsamem Verlauf (gewöhnliche
Lungenphthise).
Diese Tuberculosen nähern sich denen der Erwachsenen durch
ihren langsamen Verlauf; sie unterscheiden sich durch ihre Tendenz,
sich in der letzten Periode der Krankheit zu generalisiren.
In dieser Gruppe hat Marfan eine Form unter dem Namen
der generalisirten, chronischen, apyretischen Tuberculose der Säuglinge
und der Kinder im ersten Alter bezeichnet.
Eine andere ist die ulceröse Phthise mit langsamem Verlaufe
(selten in der Kindheit), wo sie gewisse besondere Charaktere,
sowohl bezüglich der Lungen-, als auch der allgemeinen Symptome
darbietet.
Noch gehört in diese Gruppe die Drüsenphthise (adenopathie
tracheo bronchique tuberculeuse).
C. Die Symptome, welche allen Formen der kind¬
lichen Tuberculose gemeinschaftlich sind.
Vom Standpunkte der Aetiologie muss man die Wichtigkeit
einiger Infectionskrankheiün (Masern und Diphtherie) hervorheben.
In der allgemeinen Symptomatologie werde ich den äusseren
Habitus tuberculöser Kinder, Temperatur, Puls, Athmung, den Zustand
der Verdauungsorgane, die Abmagerung trotz bestehenden Appetites,
die Prüfung des Urins, den Zustand von Leber und Milz, die Hyper¬
trophie der Lymphdrüsen studiren.
D. Diagnostische, neuesten s empfohlene Mittel. Be¬
il r t h e i 1 u n g ihres W e r t h e s.
Nur ein diagnostischer Vorgang besitzt eine absolute Gewiss¬
heit. Dies ist die Constatirung von Bacjllen im Auswurfe. Die Unter¬
suchung von Bacillen im Sputum wurde von Kossel, Epstein
u. s. w. vorgenommen.
Sie ist durch den Vorgang von Meunier in die Praxis über¬
gegangen.
Die anderen diagnostischen Hilfsmittel haben nicht denselben
Werth, können aber nützliche Resultate ergeben.
Ilieher gehört die Constatirung der Mikro Polyadenie von
Legroux. Bei dieser Gelegenheit wird man sich erinnern, dass
Lesage und Pascal eine allgemeine Tuberculose sämmtlicher
Lymphdrüsen ohne Betheiligung der Eingeweide beschrieben haben.
Die Injectionen von künstlichem Serum, welchen H u t i n e 1
eine gewisse Bedeutung beigelegt hat, können Erhöhungen der Tem¬
peratur, selbst bei nicht tuberculosen Individuen erzeugen (D e b o v e
und Blache).
Die Injectionen von Tuberculin geben häufig eine wichtige
Reaction, aber ihr Werth ist nicht absolut.
Die radioskopischen und radiographischen Untersuchungen haben
bei Kindern geringe Resultate (Bertherand),
Die Serumdiagnostik (A r 1 o i n g und Courmont) scheint bis
auf die Gegenwart wenig verwendet worden zu sein.
VII. Heubner (Berlin) : Die künstliche Ernährung
des Säuglings.
Die wissenschaftlichen Grundlagen für das Vorgehen bei der
künstlichen Ernährung des Säuglings können nur durch das Studium
des reifen und gesunden Säuglings, nicht des kranken, gewonnen
werden. Ebensowenig wie die Krankenkost des Erwachsenen ein Vor¬
bild für die Ernährung eines Arbeiters abgeben kann, ebensowenig
können Erfahrungen über Nährerfolge oder Misserfolge beim ver¬
dauungsschwachen Säugling zur Richtschnur für die Nahrung des
normalen Säuglings genommen werden. Dieses geschieht aber heut¬
zutage noch vielfach seitens der Aerzte aus dem leicht begreiflichen
Grunde, weil diese vorwiegend erkrankte Säuglinge zur Beobachtung
bekommen. Letzterer Umstand hat zur Folge, dass über die ver¬
ständigste und nützlichste Methode, den gesunden Säugling künstlich
zu ernähren, wissenschaftlich verwerthbares Beobachtungsmaterial in
keineswegs grossem Umfange vorliegt. Obwohl jährlich Hunderttausende
von Kindern mit Erfolg künstlich aufgezogen werden, besitzen wir
doch noch kaum soviel fortlaufende Beobachtungen über Mengen und
Zusammensetzung der täglichen künstlichen Nahrung gut gedeihender
Kinder, wie sie für die natürliche Ernährung bekannt gegeben sind.
Und doch sind auch diese noch immer spärlich genug. So ist denn
in dieser Lehre noch immer viel mehr Speculation und Construction,
als wissenschaftliches Fundament.
Von jeher aber hat der gesunde Menschenverstand den Pflegern
der Säuglinge gesagt, dass der geeignete Ersatz der Muttermilch in
der Thiermilch zu suchen ist. Die chemische Forschung bestätigt
dieses, denn sie lehrt, dass die Milch unserer Ilausthiere, besonders
des Rindes und der Ziege, wenigstens in Bezug auf ihre Hauptnähr¬
stoffe, sich kaum mehr von der Frauenmilch unterscheidet, als z. B.
verschiedene Fleischsorten, wie etwa Rindfleisch und Schinken, die
doch vom Kind, wie vom Erwachsenen, in bunter Reihenfolge nach
und neben einander genossen werden. Auch der allgemeine Nährwerth,
ihr Gehalt an potentieller Energie ist in beiden Fällen nahezu der
gleiche (pro Liter 650 — 700 Calorien).
Der gesunde Säuglingsdarm ist im Stande, die einzelnen Nähr¬
stoffe der Kuhmilch ebenso gut wie die der Muttermilch zu verdauen.
Nur ist die Verdauungsarbeit, die er dabei zu leisten hat, im ersteren
Falle grösser als im letzteren, weil doch mehr Eiweiss und weniger
Kohlehydrat an der Energiezufuhr betheiligt ist und das grosse Eiweiss-
molecül schwerer anzubauen ist, als das kleinere Zuckermolecül.
So bleibt nach beendigter Verdauung der Kuhmilch auch eine grössere
Menge von Schlacke zurück als bei der Frauenmilch. Aber alle bisher
am Säugling selbst angestellten Untersuchungen lehren, dass das Kind
völlig im Stande ist, seinen Energiebedarf aus der Kuhmilch zu
decken, wenn sie ihm in dem äquivalenten Betrage zugeführt wird,
wie die Nahrung aus der Mutterbrust im entsprechenden Zeitpunkt
seiner Entwicklung. Dieser physiologische Werth der von der Mutter¬
brust gelieferten Calorienmenge ist freilich nicht bei jedem einzelnen
Individuum gleich, sondern hat, wie alle solchen biologischen Werthe,
eine gewisse Breite nach oben und unten.
Aufgabe der künstlichen Ernährung ist es, diesen uns bekannten
physiologischen Werth durch genaue Dosirung der Thiermilch, mag
man sie unverdünnt oder verdünnt, mit oder ohne Zurüstungen ver¬
abreichen, Tag für Tag innezuhalten.
Die Schwierigkeiten der künstlichen Ernährung liegen einmal
in dem consequenten genauen Abmessen der täglichen Zufuhr nach
dem eben bezeichneten Regulator.
Die Mutterbrust dosirt innerhalb der bezeichneten Grenzen
genau, die Kindespflegerin fast immer ungenau. Die Ueberschreitung
der physiologischen Breite nach oben oder nach unten aber führt über
kurz oder lang zur Erkrankung.
Zweitens in der Gefahr der Verunreinigung und Zersetzung
der Thiermilch, bevor sie zum Genüsse gelangt. Dieser Gefahr ist die
Muttermilch nicht ausgesetzt. Man hat sie bei der künstlichen Er¬
nährung erst mit Erfolg auszuscheiden gelernt, seit man eingesehen
hat, dass bei der Milchgewinnung und Zubereitung nicht nur makro¬
skopische Reinlichkeit, sondern auch bacterielle Reinheit unbedingtes
Erforderniss ist.
Die Erzielung bacterieller Reinheit der Milch für Säuglinge ist
der grösste Fortschritt in der künstlichen Ernährung, den das Jahr¬
hundert gemacht hat. Um diese in der zur Zeit möglichen, aber auch
genügenden Vollkommenheit herbeizuführen, ist langdauerndes Erhitzen
auf 100° unnöthig, genügt vielmehr ein fünf bis höchstens zehn
Minuten langes Abkochen. Ja, es scheint sogar eine während der
Dauer von 25 Minuten nur auf 65° erhitzte Milch die guten Eigen¬
schaften der sterilisirten Milch, ohne ihren unangenehmen, veränderten
Geschmack uud Nährwerth, zu erlangen (Förster).
Ganz anders als beim gesunden Säuglinge liegen die Dinge
bei dem Verdauungskranken. Hier ist die Kraft der Darmverdauung,
hier aber auch der harmonische Ablauf des intermediären Stoffwechsels
beeinträchtigt. Dem entsprechend nimmt die Fähigkeit, aus den zu¬
geführten Nährstoffen die gleiche Energie frei zu machen, ab. Die
grössten Schwierigkeiten scheint in dieser Beziehung nicht, wie man
früher meinte, das Eiweiss, sondern das Fett zu bereiten — eine
Thatsache, die übrigens den analogen Verhältnissen beim Erwachsenen
entspricht. Aber auch der zu grosse Eiweissgehalt der Nahrung kann
unzuträglich werden; selbst der Milchzucker kann, indem er un¬
genügend verbrannt wird, dem Zwecke der Ernährung untreu werden.
Jetzt muss die Ernährung auf Umwegen zum Ziele zu gelangen
suchen. Der Fett- oder Eiweissgehalt des Nahrungsgemisches wird
durch Verdünnung der Milch bis auf das Drittel vermindert, dafür
das Kohlehydrat bis zu der Höhe des Muttermilchgehaltes an Milch¬
zucker durch directen Zusatz vermehrt werden müssen. Ausserdem
wird es nützlich sein, noch ein weiteres Kohlehydrat zuzuführen.
Hiezu empfiehlt sich nach meinen Erfahrungen vielmehr, als einfaches
Mahl, die aus Zwiebackmehl hergestellte Suppe (O p e l’s Nährzwieback,
die verschiedenen Kindermehle).
Man versucht ferner die Eiweissverdauung zu erleichtern, indem
man diesen Stoff vor der Mischung der Nahrung peptonisirt . (Voltmer’s
Milch, Backhausmilch, lait peptonise).
Oder man nimmt Magermilch aus der Molkerei, sogar Butter¬
milch (de Jager) und setzt dieser Zwiebackmehlsuppe zu.
Oder man ersetzt auch das Kohlehydrat durch ein anderes,
leichter verbrennbares. Dieses scheint von der Maltose zu gelten
(L i e b i g’s Suppe, K e 1 1 e r’s Malzsuppe).
Oder endlich, man versucht nur den Eiweissgehalt zu er¬
niedrigen, dagegen durch Zusatz oder Centrifugiren den Fettgehalt
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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und ebenso durch Zusatz den Zuckergehalt der Mischung auf die Höhe
der Muttermilchgehalte zu bringen (Gaertner’s Fettmilch, Biedert’s
Rahmgemische).
Im Vorstehenden dürften die gebräuchlichsten Grundsätze dar¬
gelegt sein, von denen man sich bei der Herstellung künstlicher Nah¬
rung für schwache und kranke Säuglinge leiten lässt.
Es gelingt mit allen diesen Methoden in zahlreichen Fällen, die
Säuglinge wieder zum gesunden Zustande zurückzuführen.
Wo Alles versagt, bildet noch immer das letzte Auskunftsmittel
die Wiederanlegung des Säuglings an die Brust, die schliesslich allen
künstlichen Nährformen überlegen bleibt.
VIII. Johan u essen (Christiania): La sterilisation du
lait et le mode d’e m p 1 o i du lait sterilise.
1. Um eine Milch vollkommen zu sterilisiren, wäre es noth-
wendig, dass das Kochen mehrere Stunden dauert. Hiedurch erleidet
aber die Milch so bedeutende Veränderungen, dass sie als Nahrung
für Säuglinge nicht mehr verwendet werden kann.
2. Die übrigen Methoden der Sterilisation haben theils denselben
oder einen ähnlichen Einfluss auf die Milch, theils sind sie — wie
z. B. die fractionirte Sterilisation, die sogenannte Tyndallisation, die
die Milch am wenigsten verändert — schwierig in der Praxis durch¬
führbar.
. 3. Wenn die Milch eine kürzere Zeit in Flaschen im Wasser¬
bade erhitzt wird, werden zwar die eigentlich pathogenen Bacterien
getödtet, jedoch die Sporen nicht getödtet. Diese wachsen nach
kürzerer oder längerer Zeit aus und bringen in der Milch Verände¬
rungen hervor, wodurch Toxine entstehen können, die eine Gefahr für
das Kind bilden.
4. Selbst bei der letztgenannten Erhitzung ist es wahrscheinlich,
dass die Milch chemische Veränderungen erleidet, die möglicher Weise
nicht ohne Bedeutung für die Gesundheit und das Gedeihen des Kindes
sein können.
5. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass die beste Methode der
Milchbehandlung die Pasteurisation bei einer Temperatur von ungefähr
70" C. ist. Hiedurch werden die pathogenen Bacterien getödtet, ohne
dass die chemische Zusammensetzung bedeutungsvolle Veränderungen
erleidet.
6. Eine nachlässige und unreinliche Behandlung der Milch hat
Einfluss auf die Haltbarkeit derselben. Eine Milch, die auf Grund
solcher Verunreinigungen Veränderungen in der chemischen Zusammen¬
setzung durchgemacht hat, wird in dieser Beziehung durch das Kochen
nicht verbessert, ebenso wenig wie eine Milch, die auf Grund einer
Verfälschung oder unzureichender Ernährung der Kühe im Nahrungs¬
werth verringert ist.
7. Das rationelle Verfahren bei der Darstellung der Milch für
Säuglinge besteht in einer durchgeführten Stallhygiene, in der Controle
der Thiere und in der Behandlung der Milch selbst ; die Milch soll
pasteurisirt werden, nach der Pasteurisation unter 18° C. auf bewahrt
und innerhalb zwölf Stunden nach dem Vorschlag von Flügge ver¬
wendet werden.
8. Die gewöhnliche Handelsmilch, die in der Regel eine Mischung
der Milch mehrerer Kühe ist, ist in Bezug auf die chemische Zu¬
sammensetzung ein gleichartigeres Product, als die Frauenmilch, die
Variationen sowohl in Bezug auf die einzelnen täglichen Secretionen,
wie in Bezug auf die verschiedenen Zeiten der Lactationsperiode unter¬
worfen ist. Bei der Anwendung der Kuhmilch als Säuglingsnahrung
wird deshalb die Ernährung des Kindes auch in dieser Beziehung in
einer von den physiologischen Verhältnissen beim Brustkind ver¬
schiedenen Weise durchgeführt, ein Verhältnis, welches möglicher
Weise Aufmerksamkeit verdient.
IX. A. Baginsky (Berlin): Die G a s t r o-E n t e r i t i s des
Säuglings (mit besonderer Berücksichtigung der
pathologischen Anatomie).
Von pathologisch-anatomischen Gesichtspunkten aus sind die
gastro-intestinalen Erkrankungen der Säuglinge folgendermassen ein-
zutheilen :
A. Functionelle Störungen. AcuteDyspepsie. —
Ohne wesentliche pathologisch-anatomische Veränderungen — ausge¬
nommen leichtere hyperämische Zustände. Störung der physiologischen
Leistung en des Gastro-Intestinaltractus.
Sich äussernd:
ci) In verminderter Absonderung der Verdauungssäfte;
b) fehlerhafter Zerlegung der Nahrung mit Auftreten von
Gährungsproducten ;
c) verminderter Assimilation der Nahrung;
d) Erbrechen und Diarrhöen ;
e) Obstipation und Koliken.
Dieser Complex gastrointestinaler Symptome kann begleitet
sein von Allgemeinerscheinungen, wie Fieber, nervösen Symptomen,
^ er ändei ungen des Harnes u. s. w.
B. Anatomische Läsionen.
1. Anatomische Läsionen katarrhalischer
Natur.
a) Subacuter dyspeptische r Katarrh. — Mit
Hyperämie und frischen Schwellungszuständen, Zellinfiltration der
Mucosa, Functionsanomalien, katarrhalischen Absonderungen.
b) Catarrhus acutissimus. — Cholera infantum.
Abstossung und Vernichtung des gastro-intestinalen Epithels auf
grossen Strecken. Verquellung und Verschleimung des Drüsenepithels,
bis zur Nekrose. — Die Mitbetheiligung des Follikelapparates durch
acute Schwellung und Zellinfiltration nicht ausgeschlossen. Secundäre
Veränderungen fast in allen Organen, zumeist in Leber und Nieren;
indess auch Gehirn, Lungen, Milz, Peritoneum, Haut und Ohren,
Augen u. s. w. nicht frei.
c) Chronischer gastro-intestinaler Katarrh.
Schwellungszusfände der gesammten Mucosa. Zellinfiltration, Hyper¬
ämie, hyperplastische Wucherungen der Zotten und hie und da auch
der Drüseugebilde bei langer Dauer; nicht selten Mitbetheiligung des
Follikelapparates, insbesondere im Dickdarme. Auch hier zumeist
krankhafte Veränderungen in anderen Organen (Pneumonie, Nephritis,
Otitis u. s. w.).
d) Atrophia intestinalis. Streckenweiser Verlust des
gesammten Drüsenapparates der Mucosa; streckenweise noch Zell-
infiltration und Hyperämie. Vielfach schwere Anämie der Mucosa. Sub-
mucosa und auch Muscularis vielfach verdünnt.
Alle katarrhalischen Processe (a — d) sind meist begleitet von
Ebrechen, Diarrhöen, Koliken, vermehrter Schleim- und Flüssigkeits¬
absonderung, behinderter Assimilation, gestörter Leistung von
Pankreas und Leber, durch Wasserverlust und Ernährungsmangel
gegebene Alteration des gesammten Stoffwechsels und der gesammten
Ernährung.
2. Anatomische Läsionen im folliculären
Apparate. Folliculitis.
Als Begleiter der katarrhalischen Processe sind die folliculären
Erkrankungen nicht ungewöhnlich, indess treten dieselben auch ganz
selbstständig auf, als:
a) Einfache folliculäre Enteritis. Mit mässigem
Fieber, leichtem Tenesmus, leichten Koliken, schleimig blutiger Ab¬
sonderung. Follikelapparat geschwollen, stark hervortretend, meist im
Dickdarm; hie und da Ausfall an Follikeln, überall in den Follikeln
zellige Infiltration.
b) Schwere infectiöse Folliculitis und Dysenterie.
Schwellung der Mucosa. Zerfall von Follikeln mit Geschwürsbildung.
Nekrose von grösseren Schleimhautpartien. Auch bei (2. a und b)
Mitbetheiligung secundärer Natur in anderen Organen, meist in Leber,
Lungen, Nieren u. s. w.
C. Zur Aetiologie der gastro - intestinalen Processe gilt
Folgendes :
Die functioneilen Störungen und die schweren mit pathologisch¬
anatomischen Läsionen einhergehenden Processe nehmen ihren
Ausgangspunkt:
1. Von directer Einwirkung der durch besondere Umstände
(wie hohe Lufttemperatur u. s. w.) in ihrer Virulenz gesteigerten
obligaten Darrnbacterien (B. coli, B. lactis u. s. w.).
2. Von toxischen Substanzen, welche unter dem Einflüsse ge¬
steigerter Virulenz aus der Nahrung abgespalten werden.
3. Von Bacterien (Saprophyten oder vulgären infectiösen
Keimen), welche meist mit der Nahrung unter besonderen Ver¬
hältnissen in den Darmtractus der Säuglinge eingeführt und dort
virulent werden.
4. Von toxischen Substanzen (gelösten Giften), welche bereits
vorgebildet mit der Nahrung in den kindlichen Intestinaltractus ein¬
geführt werden.
D. Bei den als gastro-intestinale Säuglingserkrankung zu¬
sammengefassten (unter dem Einflüsse der Sommertemperatur sich am
ehesten entwickelnden) Processen sind aber nicht specifische, sondern
mit gesteigerter Virulenz ausgestattete saprophytäre, oder vulgäre
infectiöse Mikroben als die eigentlichen Krankheitserreger auszusprechen
und ebenso deren Toxine. Es bestehen allerdings gewisse Beziehungen
zwischen den Mikroben und besonderen Organtheilen ; so beeinträchtigen
stäbchenförmige Mikroben gern die L i e b e r k ü h n’schen Krypten,
wenngleich auch Coccen an denselben feindselige Wirkungen üben.
Auf der anderen Seite wirken Coccen mehr auf den Follikelapparat
ein. So zeigt sich die Streptococcen-Enteritis meist als Folliculitis. Sie
ist nichts specifisches.
E. Unter besonderen Verhältnissen können allerdings auch
andere infectiöse, sonst nicht in dem Gastro-Intestinaltractus der
Säuglinge vorkommende Mikroben als Erreger der gastro-intestinalen
Erkrankungen auftreten (B. pyocyaneus etc.). Indess sind derartige
Krankheitsformen von den üblichen und häufigen Sommerdiarrhöen zu
scheiden.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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F. Septische Infection von der Darmwand aus und Eindringen
von Bacterien durch die Darmwand in die Blutbahn ist ein seltenes
Vorkommniss, seltener als bisher noch angenommen wird. Dasselbe ist
zwar nicht ausgeschlossen und ist besonders an den Nieren zu beob¬
achten; hier können Eiterungen und selbst Nekrosen durch Infarct-
bildung entstehen. Bei alledem ist aber der Weg der Bacterien und
der Einbruch derselben in die Blutbahn nicht der gewöhnliche und
die Bacterienläsionen der fernliegenden Organe gehen exogen vor sich.
(Nosoparasitäres Befallenwerden geschwächter Organe.)
X. Prof. Fede (Neapel) : Gastrointestinale Infec-
tionen und Autointoxication en der Säuglinge. (Re¬
ferent Dr. Sp.
Betrachtet man die Unvollkommenheit des gastrointestinalen
Apparates der Säuglinge, seine wenig vorgerückte Entwicklung, den
Mangel der Zähne, die verticale Richtung des Magens, die geringe
Entwicklung der Drüsen, die Zartheit der Muskelschichten, die geringen
Mittel der Selbstvertheidigung gegen Mikroben: dann begreift man die
Häufigkeit der subacuten oder langwierigen, von wiederholten Fieber¬
anfällen begleiteten Magen- Darmkatarrhe der Säuglinge.
Das Hauptsymptom sind die häufigen hartnäckigen Diarrhöen
mit ihren verschiedenen wrohlbekannten Formen, welche verschiedene
Consistenz, Farbe, Geruch, Blut und vielerlei Mikroorganismen dar¬
bieten. Weitere Symptome sind: Erbrechen, Störungen des gastrischen
Chemismus, Gährungen, Magenerweiterung, Vorfall das Mastdarms.
Von Wichtigkeit ist der Allgemeinzustand mit den durch die
Darmintoxication bedingten Fieberanfällen, Schwäche, Unterernährung,
Atrophie, endlich Complicationen anderer Organe.
Im weiteren Verlaufe beobachtet man Zurückbleiben der Ent¬
wicklung, Verzögerung des Zahndurchbruches, Abnahme des Körper¬
gewichtes, grossen tympanitischen oder schlaffen Bauch, einen mageren,
blassen, oder fetten, ebenfalls blassen Leib.
In anderen Fällen zeigt sich in den ersten Monaten die Athrepsie
von Parrot; oder es erscheint die Rachitis, oder die Krankheit von
Riga (production sous linguale) ; endlich Tuberculose. Der Tod erfolgt
durch langsam fortschreitende Atrophie, oder durch eine dazwischen
tretende Krankheit, z. B. Lungenentzündung.
Von Wichtigkeit ist die Desinfection des Darminhaltes und
dessen Ausscheidung; Darreichung von Ricinusöl, Kalomel, Benzo-
naphthol, Waschung des Magens und Darms mit Borsäure, Carbol-
säure, Creolin u. s. w. Adstringentia gegen abundante Diarrhöen, gegen
die Schmerzen Ivataplasmen, Belladonna und selbst Opium, gegen die
Depression aromatische Bäder, Chinin, Coffein, Aether, endlich Injec-
tionen von künstlichem Serum.
XL Prof. Monti (Wien): Ueber die wissenschaft¬
lichen Grundsätze bei der Erzeugung einer der
Frauenmilch gleichen Nahrung. (Referent Dr. Sp.)
Die Methoden der künstlichen Ernährung der Säuglinge, welche
bisher angewendet wurden, sind nicht geeignet, die Frauenmilch zu
ersetzen. Dieselben waren bestrebt, die Unterschiede zwischen Frauen-
und Kuhmilch verschwinden zu machen, aber keiner dieser Vorgänge
hat die totale Zusammensetzung der Nahrung nach gleicher Art und
Weise ins Auge gefasst. Um die für die künstliche Ernährung ver¬
wendete Kuhmilch so weit als möglich der Frauenmilch zu nähern,
müssen folgende Punkte berücksichtigt werden:
1. Die Säure muss die gleiche sein; daher ist die Säure der
Kuhmilch durch Zusatz von kohlensaurem Kali bis zu jener der
Frauenmilch herabzusetzen.
2. Die Coagulation der künstlichen Nahrung durch die Wirkung
des Labs muss in der gleichen Frist und in derselben Weise wie jene
der Frauenmilch vor sich gehen. Zu diesem Zwecke mischt man
gleiche Quantitäten von Kuhmilch und Molke und verringert die Säure
durch kohlensaures Kali.
3. Die albuminoiden Substanzen müssen sich in der Kuhmilch
ebenso wie in der Frauenmilch verhalten. Man reducirt durch Theilung
die Quantität des Caseins und der löslichen albuminoiden Stoffe der
Kuhmilch auf jene der Frauenmilch und trachtet, zwischen Casein und
löslichem Albumin nun dasselbe Verhältniss, wie in der Frauenmilch,
herzustellen.
4. Das Casein der Kuhmilch verhält sich gegenüber von Säuren
und Salzen anders wie jenes der Frauenmilch. Durch Zusatz einer
genügenden Menge von löslichem Albumin und Alkali verschwindet
dieser Unterschied. Dieses kann vielleicht zum Theile durch Ver¬
mengung mit Molke erreicht werden. Nach meinen Erfahrungen über
Verdauung ist die Ausnützung von Albuminen in einem Gemenge von
Milch und Molke jener der Frauenmilch fast gleich.
5. Die Menge des Fettes muss in beiden Milchgattungen die
gleiche sein. Durch einfachen Wasserzusatz wird die Fettmenge ver¬
mindert und das Verhältniss zwischen Fetten und Albuminen noch
ungünstiger. Die Vermehrung einer entsprechenden Menge Fett der
Kuhmilch ist eher schädlich, denn dieselbe enthält viel flüchtige Fett¬
säuren (gegen 70 auf 100) und relativ wenig nicht flüchtige Fettsäuren
(gegen 0 3 — 0-4 auf 100), daher kann der Säugling die Fette der
Kuhmilch nicht genügend ausnützen. Dieses hinzugesetzte Fett geht
grösstentlieils unverdaut ab oder gibt Anlass zu Autointoxicationen.
Ausserdem ist das durch die Centrifuge ausgezogene Fett mechanisch
alterirt und zeigt nicht die feinen Fetttröpfchen, wie die Frauenmilch.
Durch Mischung der Milch mit Molke lässt sich ein Verhältniss von
2 : 1000 von Fett für die künstliche Nahrung vollkommen ausreichend
hersteilen.
6. Die Zuckermenge ist in der Kuhmilch geringer, als in der
Frauenmilch. Der Zusatz concentrirter Zuckerlösungen ist nicht
angezeigt. Durch Mischung der Milch mit Molke nähert sich die
Zuckermenge am meisten der Frauenmilch und genügt daher voll¬
kommen.
7. Die grössere Menge von Salzen in der Kuhmilch kann durch
keinen Process geändert werden, jedoch ist dieser Umstand ohne
Schaden.
8. Die in der Kuhmilch enthaltenen Keime müssen unschädlich
gemacht werden. Die Sterilisation auf 100° alterirt die Milch und kann
für den Säugling schädlich sein. Ebenso ist es mit der Erhitzung durch
drei Viertelstunden. Die Sterilisation ohne chemische Störung kann nur
durch Erhitzung auf 60° durch zehn Minuten und Erhaltung einer
Temperatur von 6° erreicht werden.
9. Endlich muss man sich bemühen, dem Säugling täglich, die¬
selbe Quantität von Casein, löslichem Albumin, Fett und Salzen, wie
bei der Ernährung durch Frauenmilch, zu verabreichen. Unter allen
Methoden künstlicher Ernährung erfüllt die Mischung der Kuhmilch
mit Molke am besten diese Forderungen.
XII. Prof. Jacobi (New York): Ueber künstliche Er¬
nährung. (Ref. Dr. Sp.)
Die Analysen der menschlichen Milch haben verschiedene oder
widersprechende Resultate ergeben. Die einen zeigen uns die Modifica-
tionen in den verschiedenen Perioden der Lactation an, die anderen
nicht; in gleicher Weise hat man die Veränderungen durch die Men¬
struation, Ernährung, Krankheit zugegeben oder beiläufig abgeschätzt,
selten jedoch gemessen. Man hat die einfache oder zusammengesetzte
Natur der Proteinsubstanz nicht genügend aufgeklärt. Wenn die Milch
ausserdem eine essentielle und vitale Beschaffenheit hat, so wurde
dies von der Chemie noch nicht anerkannt. Bei dieser Unsicherheit
hat man deshalb so verschiedene Ersatzmittel der menschlichen Milch
angegeben, und Chemiker oder berühmte Kliniker haben so viele
Ilandelsproducte versucht. Wäre die Frauenmilch immer ein identischer
Körper, so wäre man im Rechte, eine genau äquivalente Substanz zu
suchen. Aber die Natur ist liberaler als die Chemiker und wechselt
mehr ihre Erzeugnisse. Die Milch wird durch die Hitze manchmal
verbessert, manchmal verschlechtert. Durch 10 oder 15 Minuten einer
Temperatur von 68 — 70° ausgesetzt, werden das Bacterium coli und
das Bacterium lactis aerogen^s zerstört; bei längerer Wirkung der
Hitze werden die pathogenen Keime getödtet ; bei 80° gerinnt das
Eiweiss, Geruch und der Geschmack der Milch sind modificirt; das
Casein sogar bei 70°, so dass dessen Kaufwerth vermindert ist. Das
Sieden bewirkt den Niederschlag eines Theiles Albumin, zerstört das
Lecithin, und alterirt die Fettstoffe. Ein fortgesetztes Sieden vermehrt
noch stärker die Umwandlung des Caseins und der Nucleine. Um die
widerstehenden Sporen zu zerstören muss man durch mehrere Stunden
eine erhöhte Temperatur erhalten; übrigens ist die Schädlichkeit der¬
selben noch nicht vollständig- erwiesen.
Gekocht, sterilisirt oder pasteurisirt ersetzt die Kuhmilch niemals
die menschliche Milch; ohne ein Heilmittel zu sein, hat erstere den
grossen Vortheil, weder Ferment noch pathogene Keime zu enthalten;
deshalb ist sie in grossen Städten und während gewisser Epidemien,
endlich jedes Mal, so oft die Beschaffung frischer und reiner Milch
unmöglich ist, unentbehrlich. So lange die Kuhmilch die ausschliess¬
liche Ernährung eines Kindes ist, ist sie im Stande, Verstopfung,
Diarrhöe, Rachitis oder Scorbut zu bewirken. Um eine antibacterielle
Wirkung zu erzielen, muss die Erwärmung von rapider Abkühlung,
aber nicht von Erfrierung erfolgt sein. Bei der künstlichen Ernährung,
besonders des Neugeborenen, erfordert die heterogene Zusammen¬
setzung der Kuhmilch deren Verdünnung und sogar die Brustkinder
müssen, wenn die mütterliche Milch nicht ausreicht, Wasser be¬
kommen, um dem Verluste des Körpergewichtes und der so häufigen
Nierenentzündung und Nierensteinbildung vorzukommen.
Die Verzehrung grosser Flüssigkeitsmengen verringert nicht die
Beweglichkeit des Magens und erzeugt nicht dessen Erweiterung,
weil das normale Kind nicht gefrässig ist und die Aufsaugung der
Ingesta unmittelbar nachfolgt. Die Verdauung des Caseins der
Frauenmilch ist ebenso leicht oder weniger leicht als jenes. Wird die
Kuhmilch mit einer Abkochung von Getreidegattungen verdünnt, so
fällt das Casein in fein getheilten Flocken aus; aber mehrere Autoren
behaupten, dass die Cei'ealien nicht mehr Wirkung als das Wasser
haben, und dieselben denken, dass die Verdünnung der Kuhmilch mit
Wasser nothwendig ist. Dieser Widerspruch ist für Diejenigen, welche
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953
den Gebrauch dextrinirter Mehlgattungen behufs Verdünnung der
Milch empfehlen, beseitigt.
Die Menge der in den Getreidegattungen enthaltenen Stärke¬
substanzen ist irrthümlicher Weise als unverdaulich betrachtet worden,
wiewohl zahlreiche Beobachtungen das Gegentheil bewiesen haben.
Die Abkochungen von Cerealien dienen zur Verdünnung des über¬
mässigen Caseins der Kuhmilch. Die Lactose wird hauptsächlich im
Magen absolvirt, zum Theile im Darme und zum Theile in Milchsäure
verwandelt. Sie ist zur Verdaung nothwendig und antiseptisch, aber
es ist unmöglich, davon eine gleichartige Menge von der Wirkung,
welche die Mehlgattungen erzeugen, zu verabreichen. Ausserdem zer¬
setzen sich die Peptone der Milch durch die sauere Gährung. Darum
darf der Milchzucker nicht in grosser Menge gegeben, kann jedoch
durch die anderen Kohlehydrate ersetzt werden. Man muss sich des
Rohrzuckers bedienen, weil die Kuhmilch genügend Lactose zur Ver¬
dauung enthält. Ueberdies enthält der Darm des Kindes ein Ferment,
welches den Rohrzucker umwandelt und dessen Aufsaugung ermöglicht;
endlich haben alle Kohlehydrate das Vermögen, das Albumin vor
Fäulniss zu bewahren.
Das Fett wird der Kuhmilch behufs Vermehrung ihrer nutritiven
Eigenschaften zugesetzt (indem es den Verlust von Fett und Albumin
in den Geweben hindert) und behufs Vertheilung des Caseins in
kleinste Partikelchen.
Auch die Frauenmilch hat oft genügend Fett, um eine Diarrhöe
zu erzeugen, und auch die normalen Stühle des Kindes haben reines
Fett in beträchtlicher Menge. Die Fettkügelchen der Kuhmilch sind
grösser, weniger zahlreich und weniger absorbirbar als die der Frauen¬
milch; diese beiden Fettgattungen sind chemisch nicht gleich. Wenn
das Kind mit Kuhmilch genährt wird, so enthält der Urin häufig
Ammoniak und der Darm giftige Substanzen.
Die Mineralstoffe sind in beiden Milchgattungen verschieden.
Der Zusatz von Kochsalz zur Kuhmilch ist aus physologischen und
chemischen Gründen erforderlich.
Bei der künstlichen Ernährung ist es besser, sich selbst die
Milch zu bereiten, als im Handel zu kaufen. In Wirklichkeit ist die
Abscheidung und Wiederzusammensetzung der Milchbestandtheile auf
mechanischem Wege ein Vorgang von zweifelhaftem Werthe.
XIII. V a riot: Ueber die methodische Anfertigung
der sterilisirten Milch durch die Industrie in
grossen Städten. (Ref. Dr. Sp.)
Die Herbeischaffung und der Transport frischer Milch in grossen
Städten lassen Gährungen und Schädlichkeiten derselben nur schwer
vermeiden. Alle unreinen, spät sterilisirten Milchgattungen sind zur
künstlichen Ernährung ungeeignet. Für grosse Städte ist es vortheil-
haft, die für kleine Kinder bestimmte Milch erst nach deren Sterilisa¬
tion an Ort und Stelle im Centrum ihrer Erzeugung zu importiren.
Die industrielle Sterilisation geschieht im Grossen, in Werk¬
stätten, welche mit den speciellen Geräthen hiezu versehen sind. Eine
der besten Methoden besteht darin, die in Flaschen zu '/4 — '/2 l
eiDgeschlossene Milch auf 115° zu bringen; die Flaschen sind mit
paraffinirten Korkstöpseln hermetisch geschlossen, in denen sich die
Milch 14 Tage und länger anstandslos conservirt. Die Kleinheit der
Flaschen und ihr hermetischer Verschluss verhüten jeden Versuch
eines Betruges. Die Milch bleibt nach Wegnahme der zur Füllung
der Saugfläschchen nöthigen Partien steril, vorausgesetzt, dass die
Stöpsel bei jeder Wegnahme von Milch wieder ordentlich eingefügt
werden.
Die industrielle Erzeugung sterilisirter Milch ist im Grossen sehr
handlich. Im Dispensar zu Belleville werden täglich 150 l Milch ver¬
theilt, was bei dem Typus Soxhlet wegen der unendlichen Zahl
der Flasöhen schwierig wäre. Innerhalb vier Jahren haben wir an
mehr als 800 Säuglinge beiläufig 160.000 1 vertheilt. Die Kinder
wurden jede Woche besichtigt und gewogen.
Unsere Schlussfolgerungen sind:
1. Die industriell sterilisirte Milch, welche je nach dem Alter
oder Gewicht der Kinder in graduirten Saugfläschchen vertheilt wird,
hat dieselben Vortheile, wie die vom Lande beschaffene frische und mit
den Apparaten des Typus Soxhlet sterilisirte Milch.
2. Es ist erwiesen, dass die Mehrzahl der Säuglinge von zwei
oder drei Monaten ab diese pure Milch verträgt. Das Uebermass von
Proteinsubstanzen scheint weniger schädlich, als man im Allgemeinen
glaubt. In den ersten Monaten genügt es, die Milch mit V 3 oder
*/4 1 gekochten Wassers und der Hinzufügung von etwas Staubzucker
zu verdünnen.
3. Nicht blos gesunde Kinder, sondern auch mehr als 300
Kinder mit Gewichtsverlusten wurden mit Erfolg mit dieser Milch
aufgezogen.
4. Bei mehr als 800 Säuglingen haben wir nicht einen einzigen
Fall von Barlo w’scher Krankheit beobachtet ; die Rachitis ist sehr
ausnahmsweise, andererseits wird eine hartnäckige Verstopfung und
bemerkenswerthe Anämie nicht selten beobachtet.
XIV. M a r f a n t (Paris) : Ueber die Aetiologie und
Pathogenie der Magen-Darmkatarrhe der Säuglinge.
(Ref. Dr. Sp.)
Das bacteriologische Studium der Gastroenteritiden der Säug¬
linge zeigte wohl die Bedeutung der Infection in diesen Krankheiten,
allein es sind auch andere Ursachen zu betrachten, und häufig ist die
Infection nur secundär. In Folgendem will ich die Gastroenteritiden
der Säuglinge, die prädisponirenden, die wirksamen und die indirecten
Ursachen derselben betrachten.
1. Der Säugling ist hauptsächlich für diese Krankheit, welche
die Hauptursache der enormen Sterblichkeit des ersten Lebensalters
ist, prädisponirt. Diese Prädisposition ist dadurch bedingt, dass
das Kind mit einem unvollendeten Verdauungsrohre, welches blos die
Milch zu verdauen geeignet ist, geboren wird, und andererseits gegen
Infection und Intoxication schlecht vertheidigt ist.
2. Bezüglich der wirksamen Ursachen kann man die Gastro¬
enteritiden in vier Gruppen eintheilen..
a ) Die dyspeptischen Gastroenteritiden stammen von fehlerhafter
Verarbeitung der Nahrung, sei es, weil das Kind mit Milch übernährt
ist, sei es, weil es zu schnell, übermässig, ohne Unterscheidung, andere
Nahrungsmittel als Milch erhalten hat, woraus sich zwei Gattungen
von dyspeptischen Gastroenteritiden ergeben: Ueberernährung, vor¬
zeitige oder schlecht geleitete Entwöhnung. In beiden scheint die Ga¬
stroenteritis an eine endogene Intoxication oder Infection gebunden zu sein.
b) Die primitiven infectiösen Gastroenteritiden folgen auf Ein¬
wanderung pathogener Mikroben in den Verdauungstract von der
Mundhöhle aus. Die Kuhmilch ist die Hauptquelle dieser Infectionen.
Von Mikroben wurden verschiedene Arten von Bacterium coli, Bac¬
terium proteolyticum und Streptococcen beobachtet. Die Sterilisation
der Milch hat hier ausgezeichnete Resultate ergeben.
Bei der Ernährung durch die Mutter können Eiterungen der
Brustdrüsen Gastroenteritiden mit Staphylococcen oder Streptococcen
zur Folge haben.
Bei Ansammlungen von Säuglingen in Krippen und Spitälern
gibt es andere Ursachen der Infection: Die Ansteckung eines ge¬
sunden Kindes von einem mit Diarrhöe behafteten Kinde durch die
Hände der Wärterin, durch Brustwarzen, Saugfläschchen, Badewasser,
Thermometer, möglich auch durch den atmosphärischen Staub. In
diesen Fällen kann man einen der bereits erwähnten Mikroben oder
den Bacillus poocyaneus oder auch Staphylococcen vorfinden.
Zur Zeit der Entwöhnung können Wasser, Fleisch und andere
Nahrungsmittel die Träger einer gastrointestinalen Infection werden ;
man hat das Wasser als Vermittler der Infection mit Protozoen und
das Fleisch von Infectionen mit Proteus vulgaris beschuldigt.
c) Die primitiven toxischen Gastroenteritiden sind das Resultat
einer chemisch- giftigen Substanz uud deren Eindringens in das Ver¬
dauungsrohr.
Die Vergiftungen durch Aetzmittel sind in der ersten Kindheit
sehr selten; die Vergiftungen durch Medicamente, besonders durch
Kalomel, viel häufiger. Die Milch ist die gewöhnliche Quelle der
Intoxication. Sie kann toxische Producte von Nahrungsmitteln, Medi-
camenten, oder Krankheiten der Amme oder der weiblichen Brust¬
drüse enthalten. Bei der künstlichen Ernährung können in der Kuh¬
milch in betrügerischer Weise eingeführte Gifte eingeschlosseji sein;
ferner Toxine aus der Fermentation hervorgegangen, und so scheint,
dass sich unter diesen Toxinen einige befinden, welche durch die
Sterilisation nicht zerstört werden. Wenn zwischen dem Melken und
der Sterilisation der Zeitraum zu gross ist, so haben die Mikroben,
besonders im Sommer, Zeit, sich activ zu vermehren, und wenn es
wahr ist, wie ich glaube, dass sie zuweilen durch die Hitze nicht
zerstörbare Toxine erzeugen, so gewährt die zu spät vorgenommene
Sterilisation keine Sicherheit mehr.
Diese Hypothese scheint mir den Ursprung der Sommerdiarrhöen,
besonders der Kindercholera aufzuklären.
d ) Die secundären Gastroenteritiden folgen auf verschiedene
Krankheiten. Man beobachtet im jugendlichen Alter die secundären
Diarrhöen bei Masern, Grippe, Diphtherie, bei den Infectionen durch
Staphylococcen und Streptococcen, bei den syphilitischen und tuber-
culösen Kachexien, endlich im Verlaufe aller Infectionen der Athmungs-
organe. Sie sind zweifellos bedingt: 1. Entweder durch Ausscheidung
der Mikroben oder Gifte durch die Magen-Darmschleimhaut oder
Galle; 2. oder durch Schwächung der Verdauungssäfte oder Dyspepsie
oder endogene Toxininfection ; 3. durch Hinabschlucken septischer, aus
den Athmungswegen abstammender Producte.
3. Die Wirkung der eben aufgezählten vier Ursachen kann
durch entfernte Einflüsse, Sommerhitze, Verkühlung, Zahnung be¬
günstigt werden.
Der Einfluss der Sommerhitze auf die Gastroenteritiden der Säuglinge
ist einer der am besten studirten: Die Häufigkeit uud Schwere der
Diarrhöen wächst in der warmen Jahreszeit in enormen Proportionen.
Die Kindercholera ist die typischeste Form der Sommerdiarrhöen.
1)54
WIENEK KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 41
Dor Einfluss der Verkühlung und Zahnung besteht in der Be¬
günstigung einer endogenen Infection in I olge der Störung, welche
sie in den Secretionen und in der Circulation des Verdauungsapparates
hervorrufeu.
*
Abtheilung für Laryngologie und Rhinologie.
Referent Dr. S p.
I. Schmiegelow (Kopenhagen): Ueber die Technik
der Thyreotomie.
Die Operation, welcher die Tracheotomie vorausgehen muss,
wird in tiefer Narkose vollzogen.
Die Trachealcanule muss so beschaffen sein, dass sie die Aspi¬
ration des Blutes während der Operation verhindert. Die Tampon-
canule von Hahn ist die beste. Nach Eröffnung des Larynx durch
einen Schnitt in den Schildknorpel muss der untere Theil de3 Pharynx
durch Schwamm tamponirt werden, um das Hinabrinnen des Speichels
in den Larynx zu verhindern.
Um die Empfindlichkeit der Schleimhaut des Kehlkopfes zu
verringern, ist daselbst eine Cocainlösung aufzutragen.
Nach Vollendung der Operation und Stillung der Blutung ent¬
fernt man die Tamponcanule und bestäubt das Kehlkopfinnere mit
.Jodoform. Die Wunde wird mit Watta und Jodoformgaze bedeckt, die
in den ersten Tagen öfters gewechselt werden. Der .Kranke muss mit
dem Kopf so viel wie möglich horizontal gelagert werden, und nach
fünf bis sechs Tagen wird die Wunde genug geschlossen sein, um das
Aufstehen zu gestatten.
II. Gor is (Brüssel): Ueber die unmittelbaren und
entfernten Resultate der Thyreotomie.
Zur Erlangung vergleichender Resultate haben wir den Specia-
listen ein Bulletin mit dem Ersuchen übersendet, uns darin die ver¬
schiedenen Diagnosen, Alter, Geschlecht der Operirten, genauen Sitz
der Affection, Allgemeinzustand des zu Operirenden, die Operationsart,
endlich die Resultate bekannt zu geben.
So erhielten wir die Verzeichnisse von 105 Thyreotomien,
und zwar:
62 wegen bösartiger Kehlkopfgeschwülste,
14 „ Tuberculose,
25 „ gutartiger Geschwülste,
2 „ Stenosen,
1 „ Fremdkörper,
1 „ Rhinosklerom.
Von diesen 105 Operirten starben 4 an Pneumonie innerhalb
acht Tagen nach der Operation.
Die Thyreotomie an und für sich gehört zu den gutartigen
Operationen, denn sie gibt eine Proportion von weniger als vier Todes¬
fällen von 100.
Thyreotomien wegen bösartiger Geschwülste.
Die bösartigen Tumoren befallen zumeist das männliche Ge
schlecht. Unter 62 unserer Statistik waren 55 männliche, 3 weibliehc
Kranke. Bei 4 ist das Geschlecht nicht angegeben.
Nach dem Alter vertheilen sich die Fälle:
Zwischen 30 und 40 Jahren 4, 40 — 50 14, 50 — 60 20, 60
bis 70 18, 70—75 4, ohne Altersangabe 2.
^ras die Stimme betrifft, sind die Resultate nach der Aus¬
dehnung der Operation verschieden. Im Allgemeinen gestattet die Ent¬
fernung eines Stimmbandes die Emission gewisser Töne. In manchen
Fällen bleibt die Stimme nach Entfernung eines Stimmbandes in Folge
der Bildung eines narbigen Bandes ausgezeichnet.
Was die entfernten Resultate betrifft, haben wir Sar¬
kome und Carcinome trotz der verschiedenen Bösartigkeit vereinigt,
weil die Zahl der verzeichneten Sarkome zu gering ist, um die Statistik
zu beeinflussen.
Von 62 Fällen muss man 7 abziehen, bei welchen die Exstir¬
pation des Larynx gemacht wunde. Diese Fälle könnten hier nicht in
Rechnung kommen. Wir werden jene Fälle, bei denen im Gefolge
einer Thyreotomie die Exstirpation eines Knorpeltheiles stattfand, nicht
ausscheiden, weil hiebei die Thyreotomie der Ilaupteingriff ist.
4 Fälle von C h i a r i und 2 von Moure sind noch zu frischen
Datums, um auf das Activum der Thyreotomie schon gesetzt zu
werden; somit verbleiben 49 an bösartigen Geschwülsten
0 p e r i r t e.
Hievon überlebten :
10 Jahre . . . . 1 (Bo ecke 1)
5— 8 „ .... 8
2—5 „ .... 14
23,
also 46'9% der Fälle, die man als geheilt betrachten kann. Endlich
besitzen w ir 7 Fälle, bei denen das Ueberleben oder der Nichteintritt einer
Recidive länger als ein Jahr nach der Heilung constatirt worden ist.
III. Jacobson (Petersburg): Ueber spasmodische
Rhinitis.
1. Die spasmodischen Nasenentzündungen, verschieden in Aetio-
logie und Verlauf, haben mehrere Arten und Formen.
2. Diese Formen sind noch nicht genügend studirt und diffe-
renzirt, werden daher oft vermengt.
3. Es ist absolut nöthig, den Heuschnupfen (rhume des
foins) als besondere, am meisten studirte Gattung mit periodischem,
charakteristischem Verlaufe und einer durch experimentelle Unter¬
suchungen begründeten Aetiologie abzugrenzen (B 1 a k 1 e y). Meiner
Ansicht nach hat Morell - Mackenzie die exacteste Definition dieses
Schnupfens gegeben, die A. Ruault als „excellent1' bezeichnet hat.
4. Der Heuschnupfen muss als eine Art der spasmodischen
Rhinitis betrachtet werden (L e r m o y e z) und diese Bezeichnung darf
in keiner Weise auf die spasmodischen Rhinitiden aus anderen Ur¬
sachen angewendet werden.
5. Man muss zugeben, dass ein gut Theil der spasmodischen
Rhinitiden durch vasomotorische Paralysen erklärt w’erden kann. Coryza
vasomotoria (M o r i z Schmidt).
6. Sicher gibt es spasmodische Rhinitiden, die man als Toxi-
rhinitiden bezeichnen könnte (Jakobson), wie bei den Fällen von
Toxidermie.
7. Diese Toxirhinitiden w’erden durch Intoxicationen und Auto-
intoxicationen herbeigeführt, haben einen acuten Verlauf, sind mit
gastrointestinalen Störungen und Hauteruptionen (Urticaria) complicirt,
befallen Personen von guter Gesundheit ohne allgemeine Prädisposition;
sie sind wie alle Intoxicationen zufällig ohne Neigung zu Recidiven.
8. Nur wenn man die spasmodischen Rhinitiden als Processe vaso¬
motorischen Ursprunges ansieht, kann man die Hy drorrhoea na-
salis hier einbeziehen, weil diese an kein spasmodisches Phänomen
geknüpft ist.
9. Die Hydrorrhoea nasalis, weil durch innere Ursachen bedingt,
kann ausser abundanter Secretion keine localen Phänomene darbieten.
In diesen Fällen ist die Schleimhaut nicht geschwellt, nicht injicirt.
IV. C a p a r t (Brüssel) : Behandlung der Stimmband
oder Sängerknötchen.
Die Behandlung der Stimmbandknötchen kann hygienisch, medi-
camentös, operativ sein. Mehrere Autoren haben Fälle von Heilung
nur durch fortgesetztes Schweigen verzeichnet. Es wäre mindestens
gewagt, sich darauf zu verlassen. Die Ruhe des Organes kann wohl
einen reellen Einfluss auf die Besserung der Laryngitis, welche die
Grundlage der Knötchenbildung ist, ausüben, niemals aber sah ich die
mindeste Wirkung auf diese selbst.
Unter medicamentöser Behandlung bezeichne ich adstringirende
oder antiseptische Pulverisationen oder Einblasungen, das B< streichen
mit Lapislösungen, das Kauterisiren mit reinem oder mitigirtem Lapis¬
stifte oder mit Chromsäure unter Anwendung einer Reihe mehr minder
ingeniöser, zu diesem Zwecke erdachter Instrumente. Alle diese Mitte¬
sind wirkungslos, sogar gefährlich. Der wirksame Stoff diffundirt, über¬
schreitet die gewünschten Grenzen und kann eine Entzündung hervor-
rufen, deren Wirkung und Ausbreitung man hier nicht ab¬
schätzen kann.
Somit muss man immer zum operativen Verfahren greifen, zur
Abtragung oder galvanokaustischen Zerstörung.
Im Allgemeinen ist es unklug, Instrum« nte zu vei w enden,
welche nach Art der Wegschaffung, Hebung des Stückes (empörte
piece) wirken. Man läuft Gefahr, mehr als wünsehenswerth anzu¬
greifen, die unterliegenden Gewebe zu erreichen und so die Sing¬
stimme für immer zu verderben. Man muss daher den feinsten,
zartesten Pincetten den Vorzug geben, z. B. denen der Professoren
Schmidt, J u r a s z, oder der, welche ich seit Jahren empfehle, und
welche ebenso gut von vorne nach rückwärts, als seitwärts wirkt.
Man darf sich nicht fürchten, den Knoten in seiner Gänze bis
zur Basis der Einpflanzung wegzuschaffen.
Erinnert man 3ich der ausgezeichneten Erfolge des Professors
Lab us, welcher die Abschälung des Stimmbandes (decortication,
Ecorticamento) empfohlen hat, so braucht man nicht zu besorgen, die
Grenzen des Uebels zu überschreiten. Um diesen Preis geschieht die
Heilung.
Die galvanokaustische Behandlung wild blos für jene Fälle re-
servirt sein, wo die Geschwülstchen so klein sind, dass sie zwischen
die Zähne der Pincette nicht gefasst werden können, oder auch, um
i nach einer unzureichenden Extraction die Ränder zu glätten.
Man muss jedenfalls bedenken, dass Recidiven eintreten können.
Diesen auszuw7eichen, ist eine sehr strenge Hygiene das beste Mittel.
Nach der Operation wird das Stillschweigen sehr verlängert, der Gesang
durch mindestens einen Monat unterdrückt werden. Absoluter Wechsel
der Methode, des Registers oder Lehrers, w’enn dies am Platze ist.
Endlich der Aufenthalt in einem Curorte, Ems, Mont-Dore oder
Luchon, je nach den speciellen Indicationen. (Fortsetzung folgt.)
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900. Nr. 41.
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versität absolvirt habe, zur Ablegung der Rigorosen bereits angemeldet
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Redaction :
Telephon Nr. 3373.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G Braun, O. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, M. Gruber,
M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann, R. Paltauf,
Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt, A. v. Vogl, J. v. Wagner,
H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gussenbauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Sehrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel.
Abonnomentspreis
jährlich 20 K — 20 Mark.
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tions-Aufträge für das In-
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@ —«6
Verlagshandlung :
Telephon Nr. 60Ü4.
Verlag von Wilhelm Braumüller,
XIII. Jahrgang.
k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/1, Wickenburggasse 13.
Wien, 18. October 1900.
Hr. 42.
INHALT:
(Alle Rechte Vorbehalten.)
1.
Oliginalartikel: 1. Die corticalen Sehcentren. Anatomische und ex-
Ö perimentelle Untersuchungen. Von Prof. St. Bernheimer (Inns¬
bruck).
2. Aus der k. k. neurologisch-psychiatrischen Klinik der Universität
Graz (Prof. Anton). Eine eigenartige postmortale Cystenbildung im
Centralnervensystem. Von Dr. Fritz Hartmann, klinischem
Assistenten.
3. Zur Lehre vom Trachom. Von C. Ziem in Danzig. (Schluss.)
II. Referate: Atlas und Grundriss der Ophthalmoskopie und ophthal¬
moskopischen 'Diagnostik. Von Prof. Dr. O. Haab. Das Sarkom
des Auges. Von Rosa Putiata-Kerschbaumer. — Ein Beitrag
zur Therapie der Netzhautablösung. Von Arnold Staerkle.
Ref. Dr. Wintersteiner.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Therapeutische Notizen.
V. Vermischte Nachrichten.
VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und ( ongressbenchte.
Die corticalen Sehcentren.
Anatomische und experimentelle Untersuchungen.
Referat, erstattet im Aufträge des internationalen medicinischen Congresses
in Paris 1900 (ophthalraologische Section).
Von Prof. St. Bernheimer (Innsbruck).
Meine Herren!
Ich bin mir der Ehre wohl bewusst, die mir durch die
Aufforderung erwiesen wurde, gemeinsam mit zwei hervor¬
ragenden Collegen 2 * 4) heute eine Frage vor Ihnen zu besprechen,
welche seit drei Decennien mit besonderer Sorgfalt und bestem
Erfolge auf verschiedensten Wegen angegangen wird.
Es haben schon so viele und bedeutende Forscher
Wichtiges und Gediegenes zur Ergründung der Sehbahnen
und der corticalen Sehcentren beigetragen, dass sicherlich
wenige Abschnitte der feineren Hirnanatomie durch anatomische,
experimentelle und klinische Forschung so eingehend be¬
handelt sind, wie gerade der Aufbau der optischen Bahnen.
Nur der Umstand, dass trotz alledem in wichtigen Punkten
noch keine einheitliche Auffassung herrscht und dass nament¬
lich die anatomischen und experimentellen Studien geeignet
sind, in mancher Hinsicht aufklärend zu wirken, hat mich
veranlasst, besonders in dieser Richtung die Frage nach den
corticalen Sehcentren vor einem so ausgewählten Forum zu
behandeln.
Trotzdem ich mich seit Jahren mit derlei Studien be¬
fasse, werde ich wohl nur einen bescheidenen Beitrag liefern
können, der weit davon entfernt ist, die Divergenzpunkte aus
der Welt zu schaffen, vielleicht aber doch dazu beitragen
dürfte, unhaltbare Hypothesen zu verwischen und begründe¬
teren festen Boden zu verschaffen oder zum Mindesten An¬
regung geben wird, in der mir Erfolg versprechenden Richtung
weiter zu forschen.
Es ist nicht meine Absicht, Ihnen die grosse I rille von ana¬
tomischen und experimentellen Arbeiten in ihren Einzelheiten
vorzuführen und kritisch zu beleuchten. Dazu würde die uns
bemessene Zeit nicht ausreichen, wir müssten den Umfang
unserer Aufgabe weit überschreiten, auch würde ich Ihre Ge¬
duld mit der Schilderung bekannter Thatsachen zu sehr m
Anspruch nehmen, ohne unserem Ziele näher zu kommen. "W ii
wollen also den Weg, den unsere verdienten Vorarbeiter ge¬
wandert sind, rasch durchschreiten, hie und da an besonc.ers
wichtigen Marksteinen kurz verweilend, und die neuesten
eigenen anatomischen und experimentellen Untersuchungen
daran anschliessen. , . ,
Vor bald 30 Jahren bat Hitzig2) als Erster durch das
Experiment nachgewiesen, dass Zerstörungen im Bereiche des
Hinterhauptslappens beim Hunde Sehstörungen bedingen , welche
er zunächst nur auf das gekreuzte Auge bezog. Hiemit war
der Anstoss gegeben zur experimentellen Erforschung dei Seh¬
centren, nachdem schon zehn Jahre vorher v. Graete') den
vorhersehenden Ausspruch gethan hatte, dass bei Gehirnleiden
die Sehstörung in Form von Hemianopsien auftreten müsse;
Lewick4) lieferte 1866 den ersten pathologisch-anatomischen
Nachweis hiefür; ihm folgten bis auf unsere Zeit gegen 2o
mehr oder weniger genau untersuchte klinische und patho¬
logisch-anatomische Fälle von sogenannten corticalen Hemi¬
anopsien. Sie alle liefern, wie Sie von anderer Seite noch hören
werden, einheitlich den Beweis, dass einseitige Zerstörungen
im Bereiche des Hinterhauptslappens, wie v. G r a e f e vorher¬
gesagt, Hemianopsien beider Augen bedingen und dass bei
oleichzeitiger umschriebener Erkrankung des anderen Hintei-
hauptslappens auch die anderen correspondirenden Gesichts¬
feldhälften ausfallen. _ . .
Sowohl in den reinen einseitigen Hemianopsien, wie
auch in den doppelseitigen, die bis jetzt klinisch und ana¬
tomisch bekannt geworden sind, war stets die centrale
Sehschärfe nur geschwächt oder gar ungeschwächt erhalten;
2) Hitzig, Untersuchungen über das Gehirn. Archiv für Psyehiatue.
1874, 13)d‘vXC r’aefe, Klinische Monatsblätter für Augenheilkunde. 1865.
4) Lewick, American, journ. ot mat. fee. 1866.
*) Henschen (Upsala), Angel ucci (Palermo) .
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ebenso ist uns bis beute kein Fall bekannt geworden, bei
welchem ausschliesslich die homonymen Maculahälften aus¬
gefallen wären, während die Peripherie der Netzhäute in nor¬
maler Weise functionsfähig geblieben wäre.
Diese merkwürdige und wichtige Thatsache, die Frage
nach der Art der Vertretung der Maculafasern in der Gehirn¬
rinde, ist trotz sorgfältigsten Studiums des klinischen und
pathologisch-anatomischen Materiales nicht gelöst worden.
Ebensowenig war man bisher im Stande, auf diesem Wege die
Grenzen des gesammten Sehcentrums in der Rinde des Hinter¬
hauptlappens und im tiefen Marke desselben bestimmt und
scharf zu ziehen. Wenn auch ein Theil der Windungen des
Hinterhauptslappens (Cuneus, Fossa calcarina) einhellig von
Allen für das sogenannte Sehcentrum gehalten wird, so geht
doch auch die Ansicht Vieler dahin (Angelucci. Bianchi5),
Luciani-Sepilli0), F e r r i e r 7) u. A.), dass die in Betracht
kommenden Rindentheile, sowohl die mediale, als auch die
laterale Convexität des Hinterhauptslappens einnehmen, das
Sehcentrum sich lateral bis an den Gyrus angularis hinein er¬
strecke (F e r r i e r).
Wir wollen nun sehen, ob Anatomie und Thierexperiment
im Stande sind, diese Zweifel zu beheben. Ob sich auf diesem
Wege die scharfe Grenze des sogenannten corticalen Seh¬
centrums ziehen lässt, ob die Art des Anschlusses der Macula¬
fasern an die Gehirnrinde nachweisbar ist und ob es ersicht¬
lich wird, wie es wohl kommen mag, dass trotz so vieler aus¬
gezeichneter klinischer und pathologischer Forschung bisher in
diesem Punkte keine Einigkeit erzielt werden konnte.
Wir müssen bei der Beurthexlung der Thierexperimente
genau unterscheiden zwischen der experimentell-physiologischen
und experimentell- anatomischen Forschung. Erstere beruht auf
der Beobachtung operirter Thiere, letztere auf der mikro¬
skopisch-anatomischen Untersuchung der einige Zeit nach der
Operation auftretenden secundären Degenerationen in den ent¬
sprechenden Nervenbahnen (Marc h i-Färbung) oder im Studium
der sogenannten primären Reizung nach Nissl. Nur die Ver¬
bindung des physiologischen und experimentell-anatomischen
Versuches kann Anspruch auf Exactheit machen, und wenn am
geeigneten Thier (Affen) vorgenommen, den klinischen und
pathologisch-anatomischen Erfahrungen gleichgestellt werden.
Die alleinige makroskopische Untersuchung des Ope¬
rationsobjectes hat meines Erachtens für die richtige Be-
urtheilung der am Thiere beobachteten Ausfallserscheinungen
nur einen untergeordneten Werth. Sie ist — wie wir sehen
werden — die Quelle einer Menge von Trugschlüssen, welche
zum grossen Theil die Meinungsverschiedenheiten gewiegter
Experimentatoren erklären. Auch die richtige und fehlerfreie
Beobachtung operirter Thiere ist mit grossen Schwierigkeiten
verbunden. Wer möchte mit Bestimmtheit aussagen können,
ob bei einem operirten Thiere die Hemianopie eine vollständige,
ob der Macularbezirk ganz, zur Hälfte oder gar nicht in den
Gesichtsfelddefect einbezogen ist, ob die centrale Sehschärfe
blos herabgesetzt ist. Wie schwer ist es überhaupt, besonders
bei einem Hunde, festzustellen, ob er vollständig blind, ob die
deutlichen Zeichen einer gewissen Orientirung nicht allein auf
den so hoch entwickelten Spür- und Geruchssinn dieser Thiere
zurückzuführen seien.
Munk8), der erste und hervorragendste Erforscher der
corticalen Sehsphäre, derjenigen Rindenpartie, welche minde¬
stens beiderseits zerstört werden muss, um vollständige Blind¬
heit herbeizuführen, verlegt dieselbe auf eine circumscripte
Stelle des Hinterhauptslappens; beim Affen von der Spitze des¬
selben bis zur Fossa parieto-occipitalis (Affenspalte); beim
Hunde in ähnlicher Ausdehnung bis zum Scheitellappentheile
der Augenfühlsphäre. Innerhalb dieses grossen Areales, ziem¬
lich in der Mitte, liegt eine scharf umschriebene runde Zone
5) Bianc h i, Contribuz. speriment. alle compens. funz. del cervello.
Riv. sper. di fren. 1882.
6) Luciani e S e p i 1 1 i, Die Functionslocalisation auf die Gross-
hirnrinde etc. Deutsch von M. O. Fraenkel. Leipzig 1886.
7) F e r r i e r, Vorlesungen über Hirnlocalisation. Deutsch von
M. Weiss. 1892.
8) Munk, lieber die Function der Grosshirnrinde. 2. Auflage,
Berlin 1890.
circa l1/ 2cm im Durchmesser, welche jeweils die Projection
der Macula lutea des gekreuzten Auges darstellen soll. Danach
nimmt Munk für die Maculafasern eine totale Kreuzung an.
Beiderseitige Zerstörung dieser kreisrunden Stelle macht
das Thier central blind. Die Thiere haben, klinisch ausgediückt,
ein centrales Skotom und sind, wie Munk annimmt und
worauf wir noch später zurückkommen werden, »seelenblind«.
Die Umgebung dieser Maculastellen im Gehirn hält nun M u n k
für die Projectionsfelder der übrigen Theile der Netzhäute. Diese
Projection soll folgendermassen angeordnet sein: »Jede Retina
ist mit ihrer äussersten lateralen Partie dem äussersten lateralen
Stücke der gleichseitigen Sehsphäre zugeordnet. Der viel
grössere übrige Theil jeder Retina gehört dem viel grösseren
übrigen Theile der gegenseitigen Sehsphäre an, und zwar so, dass
man sich die Retina derart auf die Sehsphäre projicirt denken
kann, dass der laterale Rand des Retinarestes dem lateralen
Rande des Sehsphärenrestes, der innere Rand der Retina dem
medialen Rande der Sehsphäre, der obere Rand der Retina
dem vorderen Rande der Sehsphäre, endlich der untere Rand
der Retina dem hinteren Rande der Sehsphäre entspricht.«
Die partielle Kreuzung der Sehnervenfasern betrifft also nach
Munk nur jene Fasern, welche den peripheren Theilen der
Netzhaut entstammen. Nach seiner Auffassung müssten die
ungekreuzten Fasern durch die ganze Sehbahn vom lateralen
Rande der Netzhaut bis in den lateralen Rand der gegen¬
seitigen Sehsphäre in compacten, ununterbrochenen Bündeln
verlaufen.
Ausserdem berücksichtigt M u n k, weder bei der Kritik
seiner Versuche, noch in seinem bekannten Schema der Netz-
hautprojection auf die Sehsphäre, die anatomisch zweifellos
feststehende Thatsache der Unterbrechung des Tractus opticus
in den primären optischen Centren mit allen daraus . sich er¬
gebenden Consequenzen, worauf wir noch ausführlicher zurück¬
kommen werden.
Weiter führt M u n k aus, dass Zerstörung der runden,
l1/ 2 cm messenden Zone in der Mitte seiner Sehsphäre beim
Hunde und Affen vollständigen Verlust des centralen Sehens
bedinge und ausserdem das Thier für einige Zeit, wenigstens vier
bis fünf Wochen in einen Zustand versetze, welchen er »Seelen¬
blindheit« nennt. Das Thier ist bei sonst intacten Sinnen nicht
nur seiner centralen Sehschärfe verlustig gegangen, sondern es
zeigt Gesichtssinnstörungen, welche hauptsächlich nach der
psychischen Seite hin auffallen. Der Thier bewegt sich woKl
frei im Zimmer, ohne an einen Gegenstand anzustossen ; Futter
und Wasser lässt es aber unbeachtet, auch wenn ihn hungert
oder durstet. Der operirte Hund schnappt nur nach Fleisch,
wenn er es riecht, trotzdem er es, da er sich ja im Zimmer
unbehindert frei bewegt, sieht. Es fehlt ihm somit das Ver¬
ständnis für das mit der noch functionsfähigen Netzhaut Ge¬
sehene. Er befindet sich in einem Zustande von psychischer
Amblyopie.
Munk ist geneigt, anzunehmen, dass durch die Zer¬
störung seines corticalen Sehfeldes für die Macula die hier
aufgespeicherten Erinnerungsbilder früherer Gesichtswahr¬
nehmungen verloren gehen und erst durch Uebung andere
Stellen des unversehrten corticalen Sehfeldes zur Fixation
von Erinnerungsbildern brauchbar gemacht werden müssen.
Abgesehen davon, dass es äusserst schwierig ist, bei
einem Thiere mit Bestimmtheit ein centrales Skotom nach¬
zuweisen und andererseits Hemianopsie oder besonders Hemi-
amblyopie auszuschliessen, sind wir heute in der Lage, diese
und ähnliche Zustände von Seelenblindheit oder psychischen
Defecten in anderer Weise zu erklären. Lehrt uns doch die
mikroskopische Untersuchung operirter Thiere, dass bei Zer¬
störungen von. mehr lateral gelegenen Theilen der Rinde im
Bereiche des Occipatallappens nicht nur secundäre Degene¬
rationen in der Sehstrahlung, sondern auch solche in den ver¬
schiedenen Associationsfasersystemen auftreten (Fasciculus long,
sup. et inf.), v. Monakow9) sagt daher ganz richtig: »Durch
diese Folgen (der Operation) documentirt sich eine Sehsphären¬
abtragung nicht nur als eine Abtrennung des Grosshirns von
°) v. Monakow, Gehirnpathologie; ans Nothnagel’s Handbuch.
Bd. IX, 1, pag. 434 u. ff.
Nr. 42
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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der Retina, sondern auch als eine Unterbrechung der Ver¬
bindung mancher übrigen Rindentheile untereinander und eine
Lahmlegung anderen Rindenabschnitten entstammender und
zur Sehsphäre ziehender und aus der Sehsphäre stammender
und zu den übrigen Hirntheilen ziehender Associationsfasern.«
Wir werden noch sehen, wie aus meinen anatomischen Unter¬
suchungen hervorgeht, dass die Annahme Munk’s, als sei dre
Macula inmitten seines Sehfeldes inselförmig vertreten, ebenso
unwahrscheinlich ist, wie die Hypothese, dass die sogenannte
Seelenblindheit an die Zerstörung dieser Rindeninsel ge¬
bunden sei.
Es wäre fürwahr sehr sonderbar, wenn das ganze grosse
corticale Sehfeld, wie es Munk und die Meisten annehmen,
bis auf das kleine runde mittlere Areale für das centrale und
bewusste Sehen ganz unnöthig, man möchte fast sagen: über¬
flüssig wäre, und, wie Goltz scherzhaft sagt, »datiii leseivirt
zu sein scheint, damit ein Hund, der in die Hände eines
Physiologen geräth, wiederum das Sehen erlernen kann, wenn
dessen zusammengedrängte Masse von Gesichtsbildern zerstört
worden ist. Alle Hunde somit, welche diesem Schicksale ent¬
gehen — beherbergen während ihres Lebens fünf Siebentel
ihrer Sehsphäre als brachliegendes, uncultivirtes Rindenfeld.«
Andererseits ist auch die Ansicht von Goltz 10) unhaltbar,
welcher auch beim Hunde — gleichwie bei den niedrigen
Thieren — in die primären optischen Centren sogenannte
corticale Functionen verlegt. Nach völliger Ausräumung der
hinteren Grosshirnhälften soll das Thier noch die hähigkeit
besitzen, sich mittelst seiner Netzhäute im Raume zu orientiren.
Dass beim hinterhirnlosen Hunde eine »scheinbare«
Orientirung im Raume vorgetäuscht werde, will ich nicht in
Abrede stellen, doch möchte ich daraus nicht im Entferntesten
den Schluss ziehen, dass den primären Opticuscentren dieses
Thieres corticale Functionen zuzuschreiben seien.
Ich erinnere daran, dass meine hinterhirnlosen Affen11),
durch periphere Reize angeregt, noch normale synergische Blick¬
bewegungen ausführten, welche den Schein der Orientirung
erwecken konnten, dass sie aber gleichzeitig bestimmt stock¬
blind waren und dass andere Affen, bei denen blos auf der
linken Seite (bei zu anderen Zwecken ausgeführten Ex¬
perimenten) das Hinterhirn gequetscht und die ganze Sehstrahlung
gezerrt und gequetscht wurde, ohne dass die Rinde zeistöit
worden wäre, eine so typische und auffallende rechtsseitige
Hemianopsie hatten, dass dieselbe von jedem Unbetheiligten
sofort bemerkt wurde.
Wir können wohl mit Bestimmtheit annehmen, dass es
sich beim Hunde gerade so verhalte und dass die »Orientirung
im Raume« durch den Geruchssinn erleichtert und auf den
»mechanischen« Ablauf seiner Blickbewegungen — bei in-
tacter motorischer Augenkernregion — zurückzuführen sei.
Es ist aber andererseits gewiss gerechtfertigt, wenn M unk
auf Grund solcher Versuche das gesammte Sehfeld aut die Win¬
dungen des Hinterhirns verlegt und es beim Affen lateral bis zur
sogenannten Affenspalte reichen lässt.
Auch die eingehenden Untersuchungen von I orschern,
wie Horsley12), Schäfer und Brown13), Brown14) und
Thompson weisen darauf hin, dass die ganze Rinde des
Hinterhirns beim Affen bis zur Parietalfurche als Sehfeld auf¬
zufassen sei und dass die Abtragung des Hinterhauptslappens
auf seiner Seite Hemianopsie auf der entgegengesetzten Seite
nach sich zieht.
Auch Luciani und Sepilli15) kommen zu einer ähn¬
lichen Abgrenzung, wohingegen 1 errier16) und Lanne-
graee'7) in ziemlicher Uebereinstimmung nicht nur den Gyius
10) Goltz, Pflüger’ s Archiv, pag. 450.
• «) St. Bernheim er, Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie
der Wissenschaften.
12) H o r s 1 e y.
13) Schäfer, Brain 1888; Electrical Excitation of Visual area, und
Vol. X, und: Proceedings of the R. Soc. Vol. XLIII.
14) Brown und Schäfer, Philos. Trans. Vol. XXX.
15) 1. c.
16) 1. C.
11) Lannegrace, Influence des lesions corticales sur la vue arch,
de med. exp. et dermat. path. 1889.
angularis beim Affen in das Sehfeld einbeziehen, sondern
geradezu behaupten, dass die Zerstörung des Hinterhaupts-
lappens keine nennenswerthe Abnahme des Sehvermögens nach
sich ziehe, während die Abtragung des Gyrus angularis allein
gekreuzte temporäre Amblyopie hervorrufo.
Perrier geht aber auf Grund erneuter Versuche am
Affen noch weiter und behauptet geradezu, dass die Gyii
angulares ausschliesslich die Centra für das deutliche Sehen
bilden, ein jeder Gyrus angularis für das Auge dei entgegen¬
gesetzten Seite! So nimmt auch I errier gleich Munk für
die Maculafasern eine totale Kreuzung an, verlegt aber ihr
Centrum in eine ganz andere Gegend, sonderberer Weise gerade
in jene, welche eigentlich mit Sicherheit nur von ihm und
Lannegrace der Sehsphäre zugerechnet wird.
Ob die anderen Theile der Netzhäute, die oberen, unteren,
äusseren und inneren speciell durch correspondirende Regionen
des Hinterhauptslappens central repräsentirt werden, kann mit
Bestimmtheit nach den vorliegenden Versuchsergebnissen, wie
Ferrier meint, nicht behauptet werden, da sogar nach aus¬
gedehnter Zerstörung der Hinterhauptslappen nicht eine Retinal¬
stelle absolut blind erscheint.
Wie wir gesehen, will Munk beim Hunde diese Emzel-
projection der Netzkauttheile auf correspondirende Stellen der
Sehsphäre nachgewiesen haben, so dass das Zustandekommen
von Quadranten-, Sectoren-Hemianopsien und Skotomen ex-
perimentell erwiesen scheint. Ich muss gestehen, dass ich mic 1
zum Mindesten am Affen von solch einer Gesetzmässigkeit der
Theilprojection der Netzhäute auf den Cortex nicht im Minde-
sten überzeugen konnte. Bei aller Hochachtung für den her¬
vorragenden Experimentator möchte ich doch die Schwierig¬
keit ja ich möchte sagen: die Unmöglichkeit hervorheben, bei
einem Thiere Theildefecte im Gesichtsfelde mit Bestimmtheit
festzustellen; wissen wir doch, wie schwierig dies selbst mit¬
unter bei Patienten der Fall ist, wenn sie weniger intelligent
sind, oder ihre geistigen Fähigkeiten durch andere Defecte im
Gehirn gelitten haben. . _ . ,
Uebrigens hat auch Loeb18) durch wiederholte exacte
und eigenartige Experimente sich veranlasst gesehen, den An¬
schauungen Munk’s, dass einzelne Segmente der Netzhäute
in fixer Beziehung stehen zu bestimmten circum scnpten
Regionen der Sehsphären, entgegenzutreten. Loeb konnte
stets feststellen, und, wie mir scheint, mit vollem Recht, dass
jeder ausgiebigen Läsion des Hinterhauptslappens der gleiche
hemianopische oder hemiamblyopische Gesichtsfeld defect nach-
folo-t. Der seitliche Antheil der Sehsphäre steht nicht in be¬
sonderer Beziehung mit dem äusseren Quadranten des gleich¬
seitigen Auges, noch steht irgend ein Theil des Sehfeldes mit
irgend einem Theil der Retina der entgegengesetzten Seite
mehr in Zusammenhang als irgend ein anderer. Loeb konnte
sich auch davon überzeugen — und ich stimme ihm m diesem
wichtigen Punkte vollkommen bei — dass nach Zerstörung
der einzelnen von Munk angegebenen Sehfeldthei e sich
niemals excentrische oder abnorme Fixation einstellt, die sich
von der kemianopiscken Kopfstellung unterscheiden würde, un
doch müsste dies der Fall sein, wenn thatsächlieli die Mun t-
sche corticale Detailprojection vorhanden wäre.
Aber auch die Behauptung, dass die Wiederherstellung
der Sehfunction nach theilweiser Läsion des Sehfeldes mu
du-ch Uebung oder durch Ansammlung neuer, durch das Seh¬
organ erworbener Erfahrungen zu Stande komme, ist nach den
Ergebnissen unserer Untersuchungen gewiss nicht begründet,
denn setzt man einen Affen kleineren Zerstörungen im Hinter¬
hauptslappen aus, welche eine nachweisbare Hemianopsie odei
Hemiamblyopie bedingen und überlässt denselben sich selbst
im Käfig, in einem finsteren Raum, wo an eine Uebung oder
Erwerbung von Seheindrücken nicht zu denken ist, so sieht,
man doch, wie sich die Sehstörung allmälig zurückbildet und
das Thier nach Wochen (zwei bis fünf) nicht die geringste
nachweisbare Sehstörung zeigt. .
Ich will schon an dieser Stelle darauf hm weisen, dass
durch diese, wie mir scheint, zu wenig gewürdigten Versuche
18) Loeb, Archiv für Physiologie. Bel XXXIX.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 42
L o e b’s die von den meisten Autoren bestätigte Thatsache,
dass theilweise Zerstörungen im Gebiete des Hinterhauptslappens
hemianopische Sehstörungen transitorischen Charakters hervor-
rufen, in ganz anderer Weise erklärt werden müssen, als
Munk es gethan hat.
Wir werden sehen, dass auch bei umschriebenen Zer¬
störungen im Hinterhauptslappen durch die anatomische An¬
lage der Sehstrahlungsfaserung sowohl direct, als ganz besonders
indirect, auf reactivem, entzündlichem Wege diese in viel
weiterer Ausdehnung geschädigt werden kann, als es die corti-
cale Verletzung voraussetzen Hesse. Diese indirect gesetzten
Schädigungen der Sehstrahlungen, welche im Verhältniss zur
corticalen viel wichtiger sind, weil sie in viel grösserer Aus¬
dehnung die Leitung vom primären Opticuscentrum zum Cortex
unterbrechen, bedingen daher hauptsächlich die Sehstörung.
Nach einigen Wochen können die entzündlichen Ver¬
änderungen ganz oder theilweise zurückgehen und die Hemi¬
anopsie trotz der umschriebenen Bindenverletzung ganz ver¬
schwinden oder höchstens einer geringen, bei Thieren kaum
erkennbaren Hemiamblyopie Platz machen. Diese Um¬
wandlung geht aber regelmässig vor sich, gleich¬
viel, ob das Thier durch allerlei Kunststücke
zur Erlernung neuer Gesichtseindrücke an¬
geregt wird oder ob dasselbe, sich selbst über¬
lassen, im dunklen Käfig bleibt.
Und fürwahr, seitdem uns die eigentümlichen ana¬
tomischen Verhältnisse in den primären Opticuscentren und die
überaus reiche Contactverbindung der Neurone der Sehbahnen
untereinander bekannt geworden sind, kann es uns nicht mehr
Wunder nehmen, dass die Hypothesen Munk’s und seiner
Anhänger unhaltbar geworden und dass — wie wir noch
sehen werden — dauernder Ausfall der Selifunc-
tionen nur zu Stande kommen kann, wenn die
ganze Sehsphäre, oder die ganze Seh Strahlung
allein zerstört ist, oder wenn die theilweisen
Zerstörungen beider sich vollständig ergänzen.
So lange leitungsfähige Sehstrahlungsfasern mit entsprechenden
Rindentheilen verbunden sind, wird nicht leicht dauernder und
sicherlich nicht vollständiger Gesichtsausfall eintreten können.
Wir werden nicht ermangeln, diesen wichtigen Satz mit
allen seinen Consequenzen noch anatomisch und experimentell
hinreichend zu begründen.
v. Bechterew’s111) Experimente an Hunden und an
Katzen sind wiederum anscheinend geeignet, eine Art von
Detailprojection der Netzhäute in der Gehirnrinde wahrschein¬
lich zu machen, von deren Existenz ich mich, wie gesagt,
nicht im Entferntesten überzeugen konnte. Dieser Forscher
findet bei Hund und Katze zwei Rindenfelder, welche der Seh¬
function dienen. Das eine liegt in der Occipito-Temporal-
Gegend und steht mit den entsprechenden Hälften beider Netz¬
häute in Verbindung; das andere soll fast ganz in der Parietal¬
gegend liegen und nur zu der Netzhaut des gegenüberliegen¬
den Auges in Reziehung treten. Zerstörung des ersteren soll
homonyme Hemianopsie hervorrufen, Läsion des letzteren soll
in Folge von Lähmung des Centrums für das deutliche Sehen
Amblyopie des Auges der entgegengesetzten Seite verursachen.
Wahrlich ein feiner und complicirter Apparat, der jedenfalls
beim Affen und Menschen nach meinen Untersuchungen und
nach jenen der meisten Forscher nicht existirt. Uebrigens ist
es sehr unwahrscheinlich, dass die Verhältnisse beim Hunde
so viel anders liegen als beim Affen und Menschen.
Es verhalten sich ja, wie auch Edinger20) und
v. Monakow21) ausführen, nur die niederen Wirbelthiere
bezüglich des Aufbaues der Sehbahnen sehr viel anders als
die höher entwickelten Säugethiere (Hund, Katze, Affe) und
der Mensch. Dort bildet der mächtig entwickelte Lobus opticus
(vorderer Zweilnigel) das wichtigste und meist auch das einzige
Endigungsgebiet des Sehnerven. Je mehr wir in der Thier¬
reihe aufwärts steigen, desto mehr tritt die Bedeutung des
19) v. Bechtere w, Neurologisches Centralblatt. April 1890.
20) Edinger, Ueber die Entwicklung des Rindensehens. Neuro¬
logisches Centralblatt. 1895. (Wanderversammlung Baden-Baden )
2<) 1. c.
äusseren Kniehöckers und des Thalamus, als primäre optische
Centren, in den Vordergrund und eben diese beiden Gebilde,
welche auf Kosten des Lobus opticus an Mächtigkeit zu¬
nehmen, stehen bei allen Thieren mittelst der Sehstrahluugs-
fasern in sehr reichen Beziehungen zum Hinterhauptslappen und
sindsomit von diesem abhängig. Verschiedenheiten in derSchädigung
der Sehfunction bei Abtragung des Grosshirns (Hinterlappen) sind
durch diese skizzirten Unterschiede in der Bedeutung der
einzelnen Centren gegeben. Niedere Thiere, der Frosch etwa,
Vögel, vielleicht auch Kaninchen — bei denen der Vierhiigel
auch noch sehr stark entwickelt ist — werden, selbst wenn
sie ganz ihres Grosshirns beraubt sind, noch irgend welche
Zeichen von Sehthätigkeit verrathen, denn der mächtig ent¬
wickelte Zweihügel vertritt bei diesen Thieren Grosshirn¬
functionen.
Bei der Katze, dem Hunde, dem Affen und vollends
beim Menschen weisen die anatomischen Verhältnisse darauf
hin, dass die phylogenetisch jüngeren Centren, äusserer Knie¬
hücker und Pulvinar des Thalamus mit ihren ständigen und
reich angelegten Verbindungen zur Rinde ziemlich gleich-
mässig die Oberhand gewonnen haben. Beiderseitige Abtragung
des Hinterhauptslappens verursacht somit bei diesen hochent¬
wickelten Thieren vollständige Erblindung, ihre primären
Opticuscentren sind nur Endkerne des Sehnerven und Ursprungs¬
kerne der Sehstrahlung zur sehempfindlichen Rinde; in ihnen
findet nur die Umschaltung der empfangenen Lichtreize statt.
Dementsprechend sind auch nur die höheren Säugethiere
nach den vorliegenden Untersuchungen, Hund, Katze und Affe,
nach Ausschaltung der ganzen Rinde der Hinterhauptslappen
oder der Sehstrahlungsfaserung im tiefen Marke, obenso blind
wie der Mensch bei zerstörenden Krankheitsprocessen dieser
Gegend. Ich habe auch aus diesen Gründen die Versuche an
niederen Thieren nicht in den Bereich dieser Besprechung ein¬
bezogen.
Diese haben wohl in der angegebenen Richtung grosses
physiologisches und biologisches Interesse, sind aber begreiflicher
Weise für die Erforschung der Rindencentra unbrauchbar.
Wenn wir nun die hier besprochenen Resultate und alle
übrigen nicht im Detail erwähnten einander gegenüber halten,
so linden wir wohl keine vollständige Ueberein Stimmung, aber
doch in manchem Punkte eine hinreichende Annäherung und
sogar Einmüthigkeit der Ansichten.
Abgesehen von den verschiedenen Meinungen über die
Art der Vertretung der Stelle des deutlichen Sehens in der
Gehirnrinde sind die Autoren auch über die genauere Be¬
grenzung der Sehsphäre in der Grosshirnrinde, wie wir gesehen,
nicht ganz einig. Immerhin stimmen die meisten Forscher,
unter Anderen Horsley, Schaefer, Exner 22), Sänger-
Brown, Vitzou23) und zum Theil auch Luciani und
Sepilli, zum geringeren Theile nur Goltz und seine zahl¬
reichen Schüler mit Munk überein, dass der Hinterhaupts¬
lappen die Sehsphäre beherberge u. zw. beim Affen bis zur so¬
genannten Affenspalte; Goltz und seine Schüler freilich mit
der schwerwiegenden Erweiterung, dass dieser Rindenpartie
nur die grössere Bedeutung zukomme, dass aber im Uebrigen
fast alle R'ndentheile mehr oder weniger am Schacte sich be¬
theiligen.
F e r r i e r und Lannegrace dehnen die M u n k ’sehe
Sehsphäre auch noch auf den Gyrus angularis aus; Ferrier
hält sogar den Gyrus angularis des Affen für die Haupt¬
stelle der Sehsphäre, ja wie mir scheinen will, für die Seh¬
sphäre xaF s io'/rp.
Diese mehr oder weniger auffallenden Widersprüche der
Autoren in der feineren Begrenzung der Sehsphäre beim Hund
und Affen dürften doch meines Erachtens — wie auch v. M o-
n a k o w hervorhebt — darauf zurückzuführen sein, dass sich
die experimentellen Ergebnisse verschiedener Autoren ohne
nachfolgende feinste mikroskopische Erforschung von secun-
dären Degenerationen nicht ohne Weiteres miteinander ver¬
gleichen lassen.
22) Exner, Untersuchungen über die Localisation der Function in
der Grossbirnrinde. Wien 1881.
23) Vitzou, Sur l’effets de l’ablation etc. Arch, de Physiol. V.
Nr. 42
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1‘JOO.
959
Wenn wir bedenken, dass die grössere Masse der Rinden¬
oberfläche in den tiefen Furchen des Gehiines (Sulci) und in
den vielen seitlichen Ausbuchtungen derselben versteckt liegt,
dann wird es ohne Weiteres klar sein, wie verschieden opera¬
tive Rindenabtragung oder Rindenzerstörung ausfallen muss,
je nachdem man dieselbe mit dem Messer, dem scharfen
Löffel oder dem Termokauter vornimmt. Wie viel von der
Gehirmasse als solche muss abgetragen werden, wenn man die
Rinde des Hinterhauptslappens vollständig auch innerhalb der
Sulci und Nebensulci zerstören will? Eine solche Rinden¬
zerstörung käme nahezu einer Abtragung des ganzen Hintei-
hauptslappens gleich; und dabei würde gleichzeitig die ganze
Sehstrahlung mit durchschnitten. Bei blosser Abtragung der
sichtbaren Rindensubstanz bliebe in den Sulcis nicht nur
fast ebensoviel Rinde nahezu unversehrt, sondern, was die
Hauptsache ist, es käme gar nicht zu einer voll¬
ständigen Durchtrennung und Ausserfunction-
setzung der gesammten Seh Strahlung.
Bei der Verschieblichkeit, Weichheit und Prolabirbarkeit
des Gehirns ist es nahezu unmöglich, mehrmals nach einander
identisch grosse Bezirke bestimmter Rindenregionen zu zer¬
stören, so dass selbst d Vergleich von sogenannten Controlver-
suchen desselben Autors bezüglich der feineren Begienzung
der Sehsphäre nur mit grosser Vorsicht aufgenommen werden
können, geschweige denn, wenn dieselben von verschiedenen
Experimentatoren vorgenommen worden sind. Vollends bei
Zerstörung von Rindensubstanz durch Hitze (Thermokauter)
(Ferrier und Andere) fehlt uns ohne feinste und umständ¬
lichste mikroskopische Untersuchung des Gehirns jeglicher
Einblick in die Ausdehnug der makroskopisch nicht sicht¬
baren thermischen Destruction des Nervengewebes. Ich weiss
aus eigener Erfahrung, dass gerade bei Anwendung von
Thermo- und Galvanokauter weithin nur mikroskopisch er¬
kennbare, aber dennoch tiefgreifende, die Function aufhebende
Zerstörungen des Gewebes auftreten.
Das sind aber wichtige Momente, die meines Erachtens
bei Beurtheilung der physiologischen Gehirnexperimente viel
zu wenig, oder ich möchte fast sagen, gar nicht beachtet
werden; und doch dürfte manche Incongruenz der Meinungen
der verschiedenen Autoren darauf zurückzuführen sein.
So kann ich mich zum Beispiel des Gedankens nicht
erwehren, dass die eigenartige, gewiss irrige Ansicht
Ferrier’s und zum Theile auch L an ne grace’s, als be¬
fände sich das Hauptsehcentrum des Affen im Gyrus angularis,
nur auf Mitläsionen zurückzuführen sei. Auf Mitläsionen der
angrenzenden Sehstrahlung, welche zu anderen Rindentheilen
hinziehend, sei es durch Circulationsstörung, secundäres Oedem
oder durch fortgeleitete directe Schädigung durch Hitze
(Coagulation) vorübergehend oder dauernd functionsunfähig
gemacht wurden.
Denn gerade im Gyrus angularis konnte ich mit a 1 1 e 1
Bestimmtheit ein Centrum nachweisen, welches dem Seh¬
centrum topographisch und physiologisch sehr nahe gelegen,
mit ihm auch durch zahlreiche Associationsfasern in Beziehung
tritt, aber sonst nur der Regelung der syn er gischen
Augenbewegungen, wie sie auf Sinnesreize ausgelöst
werden, dient.
Es will mir beinahe unmöglich erscheinen, auf dem von
den meisten Forschern eingesclilagenen Wege des physio¬
logischen Experimentes allein die feinere Begrenzung der Seh¬
sphäre definitiv bei den einzelnen Jhieren festzustellen. Und
zwar einerseits aus den genannten technischen Ungelegen¬
heiten, andererseits aber deswegen, weil wahrscheinlich die
Grenzen des Sehfeldes gar nicht so sehr scharf und unver¬
rückbar gezogen sind, wie die Meisten anzunehmen scheinen.
Gerade die anatomische Anlage in den primären Opticus¬
ganglien, hauptsächlich im Corpus geniculatum externum, wo
alle eintretenden gekreuzten und ungekreuzten Opticusfasern
mit Eudbäumehen enden und mit einer weit grösseren Anzahl
von Ursprungszellen der Sehstrahlung in mannigfaltigen Con¬
tact treten, weist darauf hin, dass eine ganz scharfe Be¬
grenzung unwahrscheinlich ist, und dass vermuthlich variable
Uebergangszonen zwischen der Sehsphäre und den angren¬
zenden Rindenbezirken bestehen. Die anatomische Anlage
in der Rinde, die zahlreichen Züge kurzer Associationsfasern
zwischen den benachbarten Rindentheilen sind gerade ein Beweis
für solche gemischte Uebergangsrindenpartien, welche ver¬
muthlich auch nicht immer von gleicher Entwicklung und
Ausdehnung sein dürften.
Von grosser Bedeutung und geradezu ausschlaggebend
in dieser die Ausdehnung der Sehsphäre betreffenden Frage
scheinen mir die mannigfachen experimentellen und patho¬
logisch-anatomischen (Degenerations versuche) Untersuchungen
v. Monakow’s zu sein.
Dieser ausgezeichnete Forscher hat sowohl beim Hund
wie beim Affen Exstirpationen an Rindentheilen des Hinter¬
hauptslappens vorgenommen und die darauf eintretenden secun-
dären Degenerationen in der Sehstrahlung und in dem pri¬
mären Opticusganglien studirt. Es hat sich darnach ergeben,
da?s beim Hunde nur dann alle mit Sehstrahlungsfasern ver¬
knüpften Ganglienzellen des Corpus geniculatum externum
und des Pulvinar degeneriren, wenn die Munk’sche Seh¬
sphäre mit der nach vorn angrenzenden äussersten Zone der
M u n k’schen Augenfühlregion zerstört wird.
Die Sehsphäre beim Hunde greift somit um ein ganz
Geringes in die nach vorne angrenzende Hirnregion und fällt
so ziemlich genau mit der Begrenzung zusammen, wie sie von
Luciani und Sepilli angegeben wird.
Beim Affen hingegen lehren die in derselben Art aus¬
geführten Degenerationsversuche, dass die von Munk an¬
gegebene Ausdehnung der Sehsphäre von der Spitze des
Occipitallappens bis zur Fissura parieto-occipitalis zu Recht
besteht. Ich kann bezüglich des Affen diesen exacten und
einzig beweisenden Angaben v. Monakow’s vollkommen
beistimmen.
Besonders interessant und — wie wir noch sehen werden
— von grösster Bedeutung ist der weitere Befund, dass bei
in diesem Umfange ausgeführten Exstirpationen bei Hund und
Affe (v. Monakow und ich) nicht nur die ganze Seh¬
strahlung und die primären Opticuscentren — der Störung
der optischen Wahrnehmungsfähigkeit entsprechend —
degeneriren, sondern dass fast immer gleichzeitig nennensweithe
Faserdegenei'ationen in verschiedenen, offenbar mit der feeh-
sphäre zusammenhängenden Associationsfasersystemen, vor¬
nehmlich im Fasciculus longitudinalis superior et inferior
auftreten.
v. Monakow sagt daher mit vollem Rechte: .
»hiemit documentirt sich eine Sehsphärenabtragung nicht nur
als eine Abtrennung des Grosshirns von der Retina oder ihren
homonymen Hälften, sondern auch als eine Unterbrechung der
Verbindung mancher übrigen Rindentheile untereinander und
eine Lahmlegung anderen Rindenabschnitten entstammender
und zur Sehsphäre ziehender, sowie aus der Sehsphäre stam¬
mender und zu den übrigen Hirntheilen ziehender Associations¬
fasern.«
Gestatten Sie, meine Herren, dass ich nun im Anschlüsse
an diese wichtigsten Befunde so vieler ausgezeichneter I orschei
meine eigenen Erfahrungen zusammenfasse und meinen in
manchen Punkten etwas abweichenden Anschauungen über
die Art des Anschlusses der Sehfasern an die Gehirnrinde
Ausdruck verleihe und sie zu begründen versuche.
Zunächst möchte ich meine anatomischen Untersuchungen
an Gehirnen von Neugeborenen und ein bis zwei Jahre alten
Kindern hervorheben, welche mir geeignet scheinen, bezüglich
des Verlaufes der Sehbahnen und der Ausdehnung der
corticalen Sehsphäre wichtige Aufschlüsse zu geben. Es kam
dabei die vortreffliche Methode der Verfolgung der Mark¬
scheidenentwicklung, die ich vor Jahren zuerst für das Gebiet
der Sehbahnen eingeführt habe, zur Anwendung. Daran an¬
schliessend, will ich dann meine ergänzenden Experimente am
Affen (mikroskopische Untersuchungen nach Marchi und
Nissl) heranziehen.
Wenn man Gehirne drei- bis seehswöehentlichei Ivindei,
welche in M ü 11 e r- Formol gehärtet wurden, durch einen
Medianschnitt halbirt, die eine Hälfte in ein vorderes und
960
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 42
hinteres Viertel theilt und dann vom hinteren Viertel die
oberste Convexität des Hemisphärentheiles durch einen
Ilorizontalschnitt abträgt, so bleibt ein ansehnliches Gehirn¬
stück zurück, welches nach Ablösung des Kleinhirns den
grössten Theil der Stammganglien (Pulvinar des Thalamus,
Vierhügel und Corpus geniculatum nebst dem hinteren
Schenkel der Capsula interna und den Nucleus lentiformis),
den unteren Theil des Lobus temporalis und den grössten
Theil des Hinterhauptslappens enthält; nur der kleine convexe
Ilemisphärenantheil desselben fehlt.
Zerlegt man dieses Gehirnstück entsprechend der er¬
wähnten Ebene in Horizontalserienschnitte, so sieht man hei
We i ge rt - Färbung, wie die zarten Markfasern völlig isolirt,
in allen aufeinanderfolgenden Schnitten, von der Gegend des
hinteren und lateralen Thalamusendes, beziehentlich von der
Vierhügelgegend und vom Corpus geniculatum aus zunächst
dicht beieinander liegen, dann ganz allmälig auseinander
treten, zuletzt stark divergirend, im Hinterhauptslappen bis
zur Rinde desselben auseinander treten.
Es ist nicht schwer, sich an Gehirnen so jugendlicher
Individuen davon zu überzeugen, dass es sich hiebei nur um
Markfasern der Sehstrahlung handelt, denn dieselben sind in
Folge ihrer Zartheit völlig isolirt und lassen sich daher auf
Serienschnitten, zweifellos, einerseits in die genannten primären
Opticusganglien, andererseits in die Rinde des Hinterhaupts¬
lappens verfolgen. Man trifft dieselbe Faserung wieder als
reine Quer- und Schrägschnitte an, wenn man dasselbe Gehirn¬
stück ohne Abtragung der convexen Kuppe in reine Frontal¬
serienschnitte zerlegt.
l)a sieht man in den centralen Schnitten, nahe den
Opticusganglien, den Querschnitt der Sehstrahlungsfasern dicht
bei einander liegend; je mehr man aber in die Masse des
Hinterhauptlappens gegen seine Spitze vordringt., desto mehr
verbreitert sich der Sehstrahlungsquerschnitt. Zwischen den
Querschnitten der Einzelfasern treten allmälig deutliche
Zwischenräume auf. Die Masse, welche auf einem kleinen,
wenige Millimeter umfassenden Querschnitt zusammengedrängt
war, ist jetzt auf ein grosses, fast die ganze Breite und Höhe
des Hinterhauptslappens einnehmendes Areale zerstreut.
Sowohl an den Sagittal-, als auch an diesen Frontalserien
sieht man aber, dass die Vertheilung keine gleichmässige ist,
sondern dass die grössere Menge der Sehstrahlungsfasern den
medialer gelegenen Windungen des Hinterhauptslappens
zustrebt.
Wenn man die Serienschnitte der beiden Ebenen com-
binirt, so findet man, dass in alle sechs Windungen des Hinter¬
hauptslappens Endbäumchen der Sehstrahlungsfasern eintreten,
dass aber die medial gelegenen Theile, der Cuneus, die Fissura
calcarina, der Lobus lingualis und der Gyrus descendens die
bevorzugten sind.
Es lässt sich aber auch feststellen, dass die hier endenden
Fasern vornehmlich, wenn nicht ausschliesslich, dem Haupt¬
ganglion, dem Corpus geniculatum entstammen, während auf
die noch übrige lateraler gelegene Oberfläche des Hinterhaupts¬
lappens Endbäumchen von Fasern vertheilt sind, welche dem
Pulvinar Thalami und dem vorderen Vierhügel angehören.
Fxstirpationsversuche am Affen mit nachfolgender Behandlung
nach March i oder Nissl bestätigen diesen topographisch
anatomischen Befund.
Die so abgegrenzte, durch die Methode der Markscheiden¬
entwicklung festgestellte Ausdehnung derjenigen Hinterhaupts-
theile, welche von Endbäumchen der Sehstrahlungsfasern
erreicht werden, also der anatomisch festgestellten Sehsphäre,
deckt sich mit meinen Exstirpationsversuchen am Affen.
Zerstört man nämlich ausgiebig die dieser Ausdehnung ent¬
sprechende Partie des Hinterhauptslappens des Affen bis zur
Fossa parieto - occipitalis, dann degeneriren alle grossen
Ganglienzellen im Corpus geniculatum externum, Pulvinar
und vorderen Vierhügel, alle jene Ganglienzellen, welche
Ursprungszellen der Sehstrahlungsfasern sind. Erhalten bleiben
in den primären Opticusganglien nur die kleineren, spärlicheren
Zellen, welchen den centrifugalen Fasern angehören, und
andere kleine, rundliche Zellen, welche ich mit v. Monakow
als Schaltzellen auffasse.
Hiemit ist unzweideutig der Beweis geliefert, dass beim
Affen in der Rinde des Hinterhauptslappens von dessen Spitze
bis zur Fissura parieto-occipitalis alle Sehstrahlungsfasern,
welche in den primären Opticusganglien von den grossen
Ganglienzellen entspringen, ihr Ende finden, dass mit anderen
Worten die Sehsphäre von der Spitze des Hinterhauptslappens
bis zur Fissura occipito-parietalis reicht.
Wenn also manche Experimentatoren zur Sehsphäre
beim Affen auch noch den Gyrus angularis hinzurechnen, so
kann ich dieser Annahme nicht beipflichten; oder wenn gar
Ferrier den Gyrus angularis des Affen geradezu als Haupt¬
sehcentrums anspricht, so muss ich dem entschieden wider¬
sprechen und kann ich nur darin eine Erklärung dieser auf¬
fallenden Divergenz finden, dass bei der Zerstörung des Gyrus
angularis ein grosser Theil der in der Tiefe dieser Gegend
noch ziemlich compact bei einander liegenden Sehstrahlungs¬
faserung mitlädirt wurde, oder dass vornehmlich bei Kauteri¬
sation der Rinde die Sehstrahlungsfaserung indirect durch
Circulationsstörung, Embolien oder Thrombosen ausser Function
gesetzt worden sei. Da die wenigsten Experimentatoren ihren
Versuchen eine eingehende mikroskopische Untersuchung der
secundären Degenerationen folgen Hessen, so konnten sehr
leicht derlei wichtige, ausschlaggebende Mitläsionen oder
secundäre Circulationsstörungen unentdeckt bleiben.
Eine ähnliche, serienweise, anatomische Untersuchung,
wie wir sie eben beschrieben und zur Verfolgung der sich
entwickelnden Markscheide der Sehstrahlung verwerthet
haben, an Gehirnen älterer Kinder (ein bis zwei Jahre) an¬
gestellt, lehrt uns andererseits, dass die Sehsphäre durch
Markfasern mit verschiedenen anderen angrenzenden und
ferner liegenden Rindentheilen in inniger Verbindung steht.
An Gehirnen ein- bis zweijähriger Kinder sind diese
neuen Faserzüge voll entwickelt mit Mark versehen. Das Bild
ist nunmehr auf den Horizontalschnitten durch den Hinter¬
hauptslappen ein ganz anderes. Während bei den jugendlichen
Individuen durch die Marklosigkeit dieser neuen Faser¬
systeme die Sehstrahlungsfaserung in deutlicher Isolirung in
der erwähnten Weise verfolgbar war, sieht man jetzt, vor¬
nehmlich in den lateralen Grenzbezirken der Sehsphäre, kurze,
bogenförmig verlaufende Markfasern in die Rinde des an¬
grenzenden Gyrus angularis eintreten. Es sind das Fasern,
welche beiderseits mit Endbäumchen enden (Golgi) und
somit zwischen den Pyramidenzellen der Sehsphäre und jenen
des Gyrus angularis einen Contact herstellen.
Durch meine neuesten Versuche am Affen24) ist aber
festgestellt worden, dass der Gyrus angularis dieses Thieres
als Rindencentrum der synergischen Augenbewegung aufzu¬
fassen ist. Die eben beschriebenen zahlreichen Züge von Mark¬
fasern, welche Theile der Sehspbäre mit dem Gyrus angularis
in so innigen Contact bringen, sind somit kurze
Associationsfasern und dienen der Vermittlung be¬
wusster synergischer Augenbewegungen.
Der Gyrus angularis steht somit in innigem anatomischem
und physiologischem Zusammenhänge mit der Sehsphäre, ist
aber gewiss nicht dieser zuzurechnen, und alle Versuche,
welche das Gegentheil zu beweisen scheinen, sind in der oben
angedeuteten Weise richtigzustellen.
An denselben Gehirnschnitten älterer Kinder sieht man
aber, neben den eigentlichen Sehstrahlungsfasern und den
eben beschriebenen kurzen Associationsfasern zum Gyrus
angularis, Markfasern, welche einer mächtigen Faserung an¬
gehören, die, lateral von der Sehstrahlung dieser zum Theile
dicht anliegend und zum Theile mit ihr vermengt, einestheils
in die lateralsten Windungen des Hinterhauptlappens, anderer¬
seits in Windungen des Schläfelappens einstrahlen. Es sind dies
Fasern des Fasciculus longitudinalis superior et
inferior; sie bilden eine lange, wichtige Associationsbahn
für die mit dem Sehen coordinirten Functionen der Hand, der
Sprachorgane, des Raumsinnes u. s. w. Da nun das Seh-
24) St. Bernheime r, Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie
der Wissenschaften in Wien. Bd. CVIII.
Nr. 42
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
961
centrum durch diese und die früher erwähnten kurzen I asern
mit wichtigen Centren des Gehirns, die physiologisch aufs
engste mit dem Sehcentrum Zusammenhängen, anatomisch
nachweisbar verbunden ist, so ist hiemit auch der Weg
bestimmt angegeben, auf welchem alle associativen h unc-
tionen des »bewussten« Sehens aublaufen, und in welcher
Weise die vielen, das Bild der sogenannten Seelenblindheit
zusammensetzenden Symptome zu Stande kommen. Meines
Erachtens sind alle jene bekannten Symptome, welche wir
klinisch unter dem Namen der Seelenblindheit zusammenfassen
(associative Form der Seelenblindheit Lissauers - j keines¬
wegs an die Zerstörung bestimmter Theile der Rinde des Seh¬
centrums gebunden, gewiss nicht, wie M u n k meint, an die
Zerstörung eines Maculafeldes, denn dieses ist, wie. ich noch
nachweisen werde, gar nicht vorhanden, sondern einzig und
allein davon abhängig, ob und in welcher Ausdehnung
Elemente (Neurone) der kurzen und langen
Associationsfaserung durch das Experiment
oder den krankhaften Process mit zerstört
wurden.
Nun ergeben aber meine anatomischen Untersuchungen
an kindlichen Gehirnen und meine Degenerationsexperimente
am Affen, dass alle grossen Ganglienzellen des äusseren Knie¬
höckers, des Hauptendigungskernes des Sehnerven, ihre Achsen-
cylinderfortsätze in die medialer gelegenen Antheile der Seh¬
faserung entsenden, und dass die Endbäumchen dieser Seh¬
strahlungsfasern fast ausschliesslich die Pyramiden zellen dei
medialer gelegenen Windungen des Hinterhauptslappens be¬
einflussen: den Cuneus, die Fissura calcarina, den Lobus
lingualis und den Gyrus descendens. Ausgiebige Zerstörungen
der Rinde dieser Hirn theile, oder Zerstörung der
zugehörigen Sehstrahlungsfasern, also kleine me¬
dialer gelegene Herde im Marke des Hinterhauptlappens be¬
dingen auch thatsächlich nur reine Hemianopsien, ohne andere
psychische Ausfallserscheinungen, d. h. ohne Symptome so¬
genannter Seelenblindheit. Haben aber die Herde im Mark
durch ihre grössere Ausdehnung, oder durch ihre lateralere
Lage, oder durch tiefer greifende Zerstörungen der lateralen
Windungen des Hinterhauptslappens auch nennenswerthe An¬
theile der erwähnten Associationsfaserungen mit ergriffen,
dann erst gesellen sich zur einfachen reinen Hemianopsie
alle möglichen Erscheinungen der Schädigung des psychischen
Sehens, der sogenannten Seelenblindheit.
Der von mir betretene Weg der anatomischen Unter¬
suchung jugendlicher Gehirne mit den sich entwickelnden
Markfasern und der verschiedenen Degenerationsversuche
(M a r c h i und N i s s 1) am Affen gestatten aber noch einen
tieferen Einblick in die Topographie des corticalen Sehcentrums.
Ganz besonders dann, wenn wir die primären Opticuscentren
und die peripheren Sehbahnen zu denselben in den Bereich
unserer Untersuchungen mit einbeziehen.
Es mag gewiss interessant und wichtig sein, im Hinblick
auf die divergirenden Ansichten die Grenzen des corticalen
Sehcentrums genau festzustellen, und ich glaube, dass uns
dies, so weit es überhaupt möglich ist, auf dem skizzirten
Wege gelungen ist.
Wir haben aber gleichzeitig erfahren, dass eine absolut
scharfe Grenze des Sehcentrums, besonders lateralwärts, kaum
nachweisbar ist, weil eben die lateralen Partien stark zu den
Associationscentren, den mit dem Sehen coordinirten Rinden-
centren, in Beziehung treten, dass sie gleichsam im Sinne
E x n e Fs als relative Rindenbezirke des Sehcentrums aufzufassen
wären, und dass es nicht ausgeschlossen ist, dass die
Ausdehnung dieser Associationsverbindungen individuellen
Schwankungen unterworfen sei.
Von noch grösserer Bedeutung scheint mir aber die
Frage nach der Vertretung der Stelle des .deutlichen Sehens
im Centrum zu sein, die, wie Sie wissen und wie wir ja
gesehen haben, weder experimentell, noch klinisch und patho¬
logisch-anatomisch einheitlich sicher und einwandfrei beant¬
wortet ist. Ich erinnere Sie nur an die anscheinend experi-
2’’) L i s 8 a u e r, Archiv fur Psychiatrie Bd XXI.
mentell bewiesene Hypothese M u n IPs, an die durch ver¬
schiedene und verschiedenartig verwertete pathologisch-ana¬
tomische Befunde aufgestellten Hypothesen von Förster-
Sa c h s 26), W i l b r a n d 27), Henschen29) u. A.
Sie alle entbehren meines Erachtens einer sicheren, posi¬
tiven anatomischen Grundlage, und doch ist eine solche die
sicherste Gewähr für die Haltbarkeit einer Hypothese.
Bei Behandlung dieser Frage müssen wir in das Gebiet
der Klinik und pathologischen Anatomie hinübergreifen, denn
das Thierexperiment allein ist nicht geeignet, uns über Aus¬
fallserscheinungen im Gebiete des deutlichen Sehens Klarheit
zu verschaffen. Kleine, besonders das directe Sehen betreffende
Defecte und theil weise Ausfallserscheinungen an operirten
Thieren zu bestimmen, ist geradezu ein Ding der Unmöglichkeit.
Wir wissen aber aus den exacten Beobachtungen so
vieler hervorragender Fachgenossen und aus eigener Erfahrung,
dass nahezu bei allen bis jetzt bekannten Fällen reiner
Hemianopsie, bedingt durch Herde im Occipitallappen, der
Fixationspunkt beider Augen ganz oder fast ganz frei ge¬
blieben war, jedenfalls niemals ganz in den Gesichtsfelddefect
einbezogen war. Andererseits ist mir weder aus eigener Er¬
fahrung, noch aus der Literatur ein Fall bekannt, bei welchem
ausschliesslich die der Macula entsprechenden Gesichtsfeldtheile
ausgefallen wären, wo hingegen die peripheren Theile der
Netzhäute normale Function aufgewiesen hätten.
Diese interessante und klinisch sowohl, als auch physio¬
logisch besonders wichtige Thatsache hat vielfach Veranlassung
gegeben, den Anschluss der Maculafasern an die Gehirnrinde
in verschiedener Weise zu erklären. Wir haben früher schon
besprochen, wie Munk sich auf Grund seiner Experimente
die Vertretung der Macula in der Gehirnrinde vorstellt, des¬
gleichen die Anschauungen anderer Experimentatoren (h er-
rier, Bechterew, Lucian i u. A. m.) hervorgehoben, wir
haben auch schon dort unsere Bedenken dagegen ausgesprochen,
dass, wie diese Forscher meinen, die Macula in irgend einer
Weise in der Hirnrinde inselförmig vertreten sei.
Wir wollen nun noch kurz jener Hypothesen Erwähnung
thun, die auf Grund klinischer und pathologisch -anatomischer
Untersuchung entstanden sind.
Förster versetzt das Rindenfeld für die Macula lutea
in die hintere Partie der Fissura calcarina. Nun soll diese
Gegend gegenüber der übrigen Sehsphäre besonders gut mit
Blut von zwei verschiedenen Arterien, der Art. cerebri post,
und dem hinteren Aste der Art. foss. Sylvii versorgt werden,
so dass bei Verstopfung o ler Circulationsstörung einer Ai-
terie wohl die übrige Sehsphäre, aber nicht die Rinde dei
Macula lutea vollständig blutleer uud functionsunfähig werden
könnte. Demgegenüber scheint Henschen geneigt, die Ver¬
tretung der Macula lutea in die vordere Partie der Calcarina-
rinde zu verlegen, denn er fand bei zwei Fällen von alleiniger
Iutactheit des deutlichen Sehens eben diese Partie ausserhalb
des Bereiches des krankhaften Herdes. Abgesehen von dem
Widerspruche, der bezüglich der Localisation der Maculastelle
bei Förster und Henschen besteht, entbehrt ausserdem
die Förster’sche Hypothese der anatomischen Grundlage.
Es ist bis jetzt weder mir noch Anderen gelungen, die doppelte
Blutversorgung der Calcarinarinde, sei es der vorderen oder
hinteren Partie, anatomisch nachzuweisen. Und doch wäre
dieser Nachweis die einzige V orbedingung, um eine solche
Hypothese zu stützen. Sonst beweisen die Fälle von
Förster2'1) und Henschen'50), wie schon v. Monakow")
richtig bemerkt, nur das Eine, dass die Macula lutea
weder in der vorderen, noch in der hinteren
Partie der Fossa calcarina allein vertreten
sein kann.
26) Förster, v. Graefe’s Archiv für Ophthalmologie. BJ. XXXVI.
— Sachs, Arbeiten aus der psychiatrischen Klinik Breslau. Heft _.
27) Wilbrand, Festschrift für Förster. Wiesbaden 189o.
2S) Henschen, Klinische und anatomische Beiträge etc. Upsala
1892, Bd. II.
29) Förster, 1. c.
30) H e n s c h e n, 1. c.
31) v. Monakow, 1. c.
982
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 42
Wilbrand32) hat hingegen die Ansicht verfochten,
dass jeder Punkt der Macula sowohl in der rechten, als auch
in der linken Sehsphäre vertreten sei, dass nach Ausfall der
corticalen Vertretung eines Maculapunktes der »Genosse« des¬
selben in der anderen Gehirnhälfte für den ausser Funct:on
gesetzten eintrete. Wenn auch diese Annahme das ganze oder
theihveise Intactbleiben der Maculufunction bei Hinterhaupts¬
läsionen zur Noth erklären würde, so ist sie doch unhaltbar,
so lange nicht der anatomische Nachweis für diese Doppelver¬
sorgung der Macula- Elemente erbracht ist.
Die Lösung des Räthsels der Maculaversorgung im
Hinterhauptslappen wurde schon vor Jahren durch v. Mona¬
kow auf Grund seiner exacten Degenerationsexperimente und
seiner pathologisch-anatomischen Studien in sinnreicher Weise
versucht, und wie mir scheint, mit viel Glück angebahnt.
Dieser Forscher nimmt an, dass die Vertretung der Macula
schon im äusseren Kniehöcker so reich angelegt sei, dass
nahezu alle Theile dieses Gebildes mit Maculafaserendigungen
versehen sind. »Bei einer solch ausgedehnten Verbreitungsweise
der Maculafasern im Corpus geniculatum externum würden
Erregungen der Macula immer (noch corticalwärts befördert
werden können, so lange noch leitungsfähige Sehstrahlungs¬
fasern vorhanden sind; ja, und wenn nur noch einzelne wenige
Verbindungen zwischen den primären optischen Centren (z. B.
nur die Pulvinarstrahlung) zurückblieben, so wäre es denkbar,
dass Reize, welche die Macula treffen, doch noch zur Gehirn¬
rinde befördert werden können.« Damit ist nach v. Mona¬
kow die inselförmige Vertretung der Macula in der Rinde
im höchsten Grade unwahrscheinlich gemacht.
Meine eigenen33) früheren und neueren anatomischen
Untersuchungen am Menschen und Experimente am Affen
führen mich zu ähnlichen, noch präciseren und, wie mir
scheint, anatomisch vollkommen begründeten Schlussfolge¬
rungen.
Wie ich vor Jahren und kürzlich erst nachgewiesen
habe, gehen beim Affen und Menschen alle Faserarten des
Sehnerven, die Maculafasern, die Peripheriefasern und die
die Pupillarreaction vermittelnden im Chiasma eine eigenthüm-
liche, von geringen individuellen Schwankungen abgesehen,
gesetzmässige partielle Kreuzung ein.
Ich konnte weiter feststellen, dass die gekreuzten und
ungekreuzten Sehfasern und mit ihnen die gekreuzten und
ungekreuzten Maculafasern nur im orbitalen Theile des Seh¬
nerven in ganz geschlossenen Bündeln verlaufen.
Schon im Chiasma und vollends im Tractus gehen die
Faserarten allmälig eine immer innigere Vermischung ein. Im
centralsten Theile des Tractus und ganz besonders am Ein¬
tritte des Tractus in den äusseren Kniehöcker ist die Ver¬
mischung eine vollständige; gekreuzte und ungekreuzte Peri¬
pherie- und Maculafasern liegen innig vermischt bei einander.
Es gibt somit keine isolirten Bündel gekreuzter und unge¬
kreuzter Peripherie- und Maculafasern, welche, wie vielfach
angegeben wird, vom Auge bis in die primären Opticuscentren
ununterbrochen verlaufen würden. Vom Chiasma aufwärts
nimmt die Vermischung aller Fasern allmälig zu, bis sie ins
Corpus geniculatum externum vollständig ver¬
mischt eintreten. Diese Vermischung ist eine so innige, dass
am centralen Tractusende beim Eintritte ins Ganglion die ge¬
kreuzten und ungekreuzten Fasern nahezu paarweise bei
einander liegen. In Folge dieser innigen Vermischung aller
Fasern ist auch ein bündelweises Beisammenliegen der Macula¬
fasern völlig ausgeschlossen.
Diese gleichmässige Vermischung aller Faserarten wäre
eigentlich nicht leicht begreiflich, wenn man an der gangbaren
Ansicht festhielte, dass die gekreuzten Fasern beim Affen und
Menschen die ungekreuzten um Vieles überwiegen würden —
etwa im Verhältnisse wie 2 : 3 oder 3 : 5 — eine Anschauung:,
3-) Wil brand, 1. c.
:;;i) St. Bernheime r: 1. Wurzelgebiete der Sehnerven. Wies¬
baden 1891; 2. Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissen¬
schaften in Wien. Bd. CVII, 3; 3. V. Graefe’s Archiv für Ophthalmo¬
logie. Bd. XLVII, Heft 1; 4. Graefe-Sämisch, zweite Auflage.
Capitel VI, 1899.
die ich früher selbst gehabt habe. Meine eingehenden Dege¬
nerationsversuche am Äffen und die serienweise Durchmusterung
der in die Opticuscentren einstrahlenden Sehnervenfasern haben
mir aber gezeigt, dass unmöglich ein solches Missverhältniss
zwischen den beiden Faserarten bestehen kann, sondern dass
es fast den Eindruck macht, als wären die gekreuzten und
ungekreuzten Fasern in nahezu derselben Menge vorhanden.
Es lässt sich dies natürlich nicht so ganz genau abzählen,
sondern nur annähernd schätzen. Aber fürwahr, eine gleich¬
mässige Vertheilung der beiden Faserarten würde wohl am
meisten der Physiologie des Sehens entsprechen!
Wer sich die Mühe nimmt, bei einseitig enucleirten
jungen Affen nach vier Wochen die beiden Tractus und die
äusseren Kniehöcker oder die Vierhügelgegend in entsprechende
Serienschnitte zu zerlegen, wird staunen, mit welcher Regel¬
mässigkeit rechts und links degenerirte und normale Nerven¬
fasern bei einanderliegen. Diese Thatsache, von deren regel¬
mässiger Wiederkehr ich mich an unzähligen Serienschnitten
überzeugen konnte, ist bisher, meines Wissens, nicht von an¬
derer Seite hervorgehoben worden, sie bildet aber die Haupt¬
stütze für unsere Anschauung über die Art des Anschlusses
der Maculafasern und der Sehfasern überhaupt, an die Gehirn¬
rinde. Während nun alle Sehfasern im centralsten Theile des
Tractus innig vermischt, eng bei einander liegen, treten sie
in dem Masse, als sie in die Substanz des äusseren Knie¬
höckers eindringen, immer mehr divergirend auseinander und
erreichen somit alle Theile des Ganglions in annähernd gleich-
mässiger Vertheilung.
Ich habe schon vor Jahren34) nach der Methode der
Markscheidenentwicklung am Gehirne menschlicher Embryonen
diese eigenthümliche Einstrahlungsart der Sehfasern in den
Hauptendigungskern des Corpus geniculatum externum fest¬
stellen können und mich durch spätere wiederholte Unter¬
suchung immer wieder davon überzeugt, wie die Sehfasern
constant nach Art von stark divergirenden strahlenförmigen
Bündeln ihre Endstätte erreichen.
Da es weiterhin erwiesen ist, dass alle Maculafasern im
äusseren. Kniehöcker endigen, und mit den übrigen gekreuzten
und ungekreuzten Sehfasern vermischt in der beschriebenen
Weise nach allen Theilen des Corpus geniculatum ausstrahlen,
so werden dieselben durch ihre weitverzweigten Endbäumchen
umsomehr mit vielen, von der Stammfaser auch weiter ent¬
fernten Theilen des Corpus geniculatum in Beziehung treten
können.
Da also die Maculafasern nicht in geschlossenen Bündeln
in das Corpus geniculatum eintreten, sondern mit den übrigen
Fasern in nach allen Richtungen divergirenden Bündeln aus¬
strahlen und ihre verzweigten Endbäumchen naturgemäss auch
unter einander vermischt sind, so werden an den meisten
Stellen des Ganglions neben einzelnen Endzweigehen von ge¬
kreuzten und ungekreuzten Sehfasern auch solche beider
Arten von Maculafasern vorhanden sein und alle werden
vielleicht sogar in ziemlich regelmässiger Aufeinanderfolge
mit Ursprungszellen der Stabkranzfaserung in Beziehung treten.
Es folgt daraus mit zwingender Not h •
wendigkeit, dass im Corpus geniculatum gewiss
nicht eine umschriebene Stelle vorhanden ist,
an welcher ausschliesslich Maculafasern en¬
digen würden, sondern dass die Maculafasern
nahezu mit allen Theilen des äusseren Knie¬
höckers verbunden sein dürften.
Wie aber gestaltet sich nun der weitere Anschluss der
im Corpus geniculatum endigenden Maculafasern an die
Gehirnrinde des Hinterhauptlappens?
Wenn, wie wir gesehen, auf Grund der feststehenden
anatomischen Thatsachen im Corpus geniculatum eine insel¬
förmige Projection der Macula ausgeschlossen ist und dafür
die Maculafasern hier zertreut und auf einem ausgedehnten
Verbreitungsgebiete mit Endbäumchen endigen, dann ist es auch
von vorneherein höchst unwahrscheinlich, dass die Macula
in der Gehirnrinde inselförmig vertreten sei. Eine solche wäre
3J) St. Bernheime r, Wurzelgebiet der Sehnerven,, und: Graefe-
S ä m i s e h, 2, Auflage, Capitel VI, pag, 27 und 99 ff.
Nr. 42
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
968
trotz der beschriebenen anatomischen Verhältnisse im Knie¬
höcker nur dann möglich, wenn sich in der Faserung der
Sehstrahlung directe Fortsetzungen der Maculafasern befänden,
und wenn diese Fortsetzungen durch das Mark des Hmtei-
hauptslappens hindurch in stark con vergirendem Verlaufe einer
umschriebenen Stelle der Rinde zustreben würden. Beides ist
aber nicht der Fall! Im Gregentheile! Die Sehstrahlungsfasern
liegen nur im Anfänge, nahe den primären Endkernen, dicht
bei" einander, und je mehr sie in das Mark des Hinterhaupts¬
lappens Vordringen, desto mehr divergiren sie gegen die ge¬
summte Occipitalrinde. Ja, selbst wenn wir berücksichtigen,
dass die medial gelegenen Windungen (Cuneus, Fissura cal-
carina, Lobus lingualis) beim Menschen diejenigen sind, welche
vorzugsweise und am zahlreichsten von Sehstrahlungsfasern
und hauptsächlich von solchen aus dem Hauptganglion, dem
Corpus geniculatum externum bedacht werden, so haben wir
immer noch im Verhältnisse zum Endigungsgebiete der
Maculafasern im Corpus geniculatum externum, in der Hirn¬
rinde für die entsprechenden Stabkranzfasern ein um Vieles
ausgedehnteres Endigungsgebiet, Die Fortsetzungen der Macula¬
fasern in der Sehstrahlung können also nicht in der Hirnrinde
an einer umschriebenen Stelle zusammengedrängt endigen,
sondern sie werden im Gegentheil noch über ein weit grösseres
Areale vertheilt sein müssen, als im Kniehöcker.
Dazu kommt aber noch die wichtige und bis jetzt nicht
beachtete anatomische Thatsache, dass die Sehstrahlungsfasern
nicht nur keine directen Fortsetzungen der Sehfasern sind,
sondern dass sie höchstens als indirecte Fortsetzungen im
weitesten Sinne aufgefasst werden können. Denn ich habe
durch das combinirte Verfahren von Nissl und Marchi
am Affen feststellen können, dass die Ursprungszellen der
Sehstrahlung im Corpus geniculatum externum in grösserer
Anzahl vorhanden sind, als die daselbst endigenden Seh¬
nervenfasern. Das Endbäumchen jeder Sehfaser, somit auch
das jeder Maculafaser, muss danach mit mehr als einer Ur¬
sprungszelle der Sehstrahlungsfaserung in Contact treten können.
Diese mehrfache Contactbeziehung wird aber noch dadurch
vermehrt, dass, wie ich mich mit Bestimmtheit überzeugen
konnte, der Contact zwischen Endbäumchen und Ganglien¬
zellen kein unmittelbarer ist, sondern durch Vermittlung von
sogenannten Schaltzellen (v. Monakow) bewerkstelligt wird;
von kleinen Zellen, welche durch ihre verzweigten Dendriten
wiederum vermehrte Contactbeziehungen vermitteln können.
Lichtreize, welche durch die Maculafasern dem Corpus geni¬
culatum zugeführt werden, können somit, Dank den vielfachen
Contactbeziehungen zwischen Maculafaserendigung und Seh¬
strahlungsursprungszelle, auf verschiedenen Wegen zur Gehirn¬
rinde, und zwar an verschiedene, auch weiter von einander
entfernte Stellen (zum Mindesten der medialen Hinterhaupts¬
rinde) gelangen.
Es ist klar, dass unter normalen Verhältnissen die Licht¬
impulse der centralen und peripheren Theile der Netzhaut auf
dem directesten und kürzesten Wege zur Gehirnrinde gelangen,
dass also die der jeweiligen Maculafaser zunächstliegende
Ganglienzelle und ihre Sehstrahlungsfaser den Lichtimpuls
fortleitet. Wenn aber die gewöhnlichen Wege verlegt sind,
dann werden benachbarte, noch functionsfähige Bahnen, soferne
sie durch Contact erreichbar sind, die Lichtleitung zur Gehirn¬
rinde besorgen.
Ich kann also auf Grund meiner Untersuchungen die
Hypothese v. Monakow’s anatomisch begründen und in
gewissem Sinne erweitern, indem ich sie dahin zusammenfasse:
.Die anatomische Anlage im Corpus geniculatum
(zum mindesten des Affen und Menschen) ist
eine derartig complicirte und zugleich zweck¬
mässige, dass Lichtimpulse, welche durch
Maculafasern zum äusseren Kniehöcker ge¬
langen, auch dann noch un geschwächt oder nur
wenig geschwächt zur Hirnrinde fortgeleitet
werden können, wenn auch die gewöhnlichen
Sehstrah lungsfasernde i\M acula-Endbäumchen
durch einen Krankheitsherd ganz oder t heil¬
weise unterbrochen sind.
Die noch gesunden benachbarten Seh¬
strah 1 u n g s f a s e r n k ö n n e n dann immer noch, ver¬
möge der überaus reich angelegten Contact-
verb i n d u n g e n im Kniehöcker, die Leitung für
die ausser Function gesetzten Bahnen über¬
nehmen.
Danach wäre, so lange überhaupt noch ge¬
sunde benachbarte Sehstrah lungs fasern vor¬
handen sind, eine vollständige Vernichtung
der Maculafunction ebenso undenkbar, wie
eine insei förmige Vertretung derselben im
Cortex.
Aus der k. k. neurologisch-psychiatrischen Klinik der
Universität Graz (Prof. Anton).
Eine eigenartige postmortale Cystenbildung im
Centralnervensystem.
Von Dr. Fritz Hartmann, klinischem Assistenten.
Krankengeschichte :
Ludwig Ch., 08 Jahre alt, k. und k. Major.
Hereditär nicht belastet, über Lues nichts zu erfahren.
Seit längerer Zeit vergesslicher, Charakterveränderungen zum
Schlechteren, urtheilsschwächer.
Am 12. August 1898 stellte sich plötzlich ein Ohn¬
machtsanfall ein, der eine Sprachlähmung im Gefolge
hatte, gleichzeitig bemerkte die Umgebung Her ab hängen der
Augenlider, rechtsseitige Facialisparese und die zu¬
nehmende Somnolenz des Patienten.
Am 13. August 1898 gelangte der Patient zur Aufnahme
auf die Nervenklinik.
Status praesens: Mittelgross, kräftig gebaut, Unterhaut¬
zellgewebe sehr fettreich, in ruhiger Rückenlage.
Die Hautdecken am Gesichte geröthet, livid, am Körper
sehr blass.
Von Seite des Knochen- und Drüsensystems nichts
Bemerkenswerthes.
Circulation: Herzdämpfung etwas nach links hin ver¬
breitert, Herztöne dumpf, kaum hörbar.
Die Carotiden pulsiren beiderseits gleich kräftig, fühlen sich
rigide an.
Der Puls ist voll, irregulär, die Arterie drahtartig gespannt.
Respiration: Frequent, schnarchend, rhythmisch, aus-
oiebio'; der percussorische und auscultatorische Lungenbefund ist
normal.
A b d o m e n stark gebläht.
Bauehdrüsen normal.
Harnbefund normal.
Crani un symmetrisch, percussionsempfindlich.
Stirnfacialis links gut, rechts nicht innervirt.
Mund facial is links gut, rechts nur spurweise innervirt.
Das linke Augenlid in completer P t o s i s Stellung, das
rechte gut innervirt.
Die rechte Pupille mittelweit, nicht ganz lunc, ist
lichlstarr.
Die linke Pupille stecknadelkopfgross, ist lichtstarr.
Heben, Senken und Einwärtsrollen des linken Bulbus (linker
Oculomotorius) ist unmöglich.
Der linke Abducens nur spurweise innervirt untei
nystagmusartigen Zuckungen.
Heben, Senken und Einwärtsrollen des rechten Augapfels ist
paretisch (rechter Oculomotorius).
Der rechte Abducens zeigt ganz geringe Excursionen.
Der beiderseitige Trochlearis gelähmt.
Der Masseter contrahirt sich links eben merkbai,
rechts nicht.
Die Sensibilität der rechten Gesichtshälfte herabgesetzt.
Die Zunge wird nach rechts ablenkend gut vorgestreckt.
Die Phonation ist sehr mangelhaft, das Gaumensegel
hebt sich nicht, die Gaumensegelreflexe fehlen, die
Pharynxreflexe sind schlecht auslösbar.
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Nr. 42
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Die sprachlichen Aeusserungen beschränken sich auf schlecht
articulirte, mühsam hervorgestossene Worte.
Das Schlucken gelingt schwer.
Beide Sternocleidomastoidei contrahiren sich
schlecht.
Die rechte obere Extremität ist in allen Gelenken ge¬
beugt, der Tonus der Musculatur gegen links etwas erhöht, die
mechanische Muskelerregbarkeit nicht verändert, der Tricepsreflex
nicht auslösbar.
Die rechte obere Extremität kann nur minimal von der
Unterlage abgehoben werden, die Bewegungen der Finger und im
Ellenbogengelenke können nicht geleistet werden, keine ataktischen
Symptome.
Der Tricepsreflex links gesteigert, die Functionen der linken
oberen Extremität intact.
Die Bauchmuskeln functioniren paretisch, die Bauch¬
hautreflexe fehlen bis auf den linken hypogastrischen Reflex.
An der linken oberen Extremität zeitweilig klonische
Zuckungen.
Fig. 1.
Durchsichtiger Abschnitt durch eine Grosshirnhemisphäre, durch das
hintere Drittel des Balkens (Färbung nach Pal). V — Ventrikel, e =alte Er¬
weichungsherde, g = gallertiger Inhalt, sa C = subarachnoideale Cysten,
Schw = Scheidewände.
Der rechte Patellar-Sehnenreflex auslösbar, der
linke stark gesteigert.
Im linken Beine der Tonus der Musculatur erhöht.
[Die mechanische Muskelerregbarkeil intact.
Die motorischen Functionen der unteren Ex¬
tremitäten beschränken sich auf ganz minimale Bewegungs¬
fähigkeit.
Die Zehen des rechten Fusses in maximaler Dorsalflexion,
die des linken in den Interphalangealgelenken gebeugt.
Die Sensibilität am rechten Arme etwas stumpfer.
Incontinentia urinae et alvi.
Verlauf: Der somnolente Zustand, in welchem Patient ein¬
gebracht wurde, nimmt krasch an Intensität zu, zeitweilig treten
Trismus und Reizsymptome in den Pterygoideis und der Zunge in
Form krampfhafter Zuckungen ein; die Lähmungssymptome der
Augenmuskel bleiben permanent, die der Extremitäten führen zu
vollkommener Paraplegie.
Am siebenten Krankheitstage treten höhere Temperaturen bis
zu 38'5° auf; am achten Krankheitstage Exitus bei 3651'.
Diagnose: Polioencephalitis superior (Wer¬
nicke) mit wahrscheinlich auch e n c e p h a 1 i t i s c h e r
Erkrankung des Grosshirnes.
Obduction: Der Obductionsbefund ergab ein geringgradiges
Emphysem der Lungen, eine leichte concentrische Hypertrophie des
linken Ventrikels, sonst keine bemerkenswerthen pathologischen
Veränderungen in den Organon.
Vorbereitung des Gehirnes.
Das Gehirn wurde nach der Obduction sammt den Hirn¬
häuten in 10%igen Formol conservirt und erst einen Monat nachher
durch Frontalschnitte zerlegt.
Makroskopische Beschreibung.
(Fig. 1 und 2).
Convexe Hirnoberfläche.
Die Pia mate r ist über dem Stirn- und Parietallappen
hochgradig verdickt und weisslich getrübt, schlaff und entsprechend
Durchsichtiger Abschnitt durch eine Grosshirnhemisphäre, durch den hintersten
Theil des Balkens. Bezeichnung wie in Fig. 1.
den Sulcis tief eingesunken; über dem Occipitallappen und Schläfe-
antheil nur wenig getrübt und zart.
Die Arachnoidealzotten sind entsprechend entwickelt,
eher etwas an Zahl verringert.
Die Venen der verdickten Pia sind prall gefüllt und
erweitert.
Die Sulci sind im Fronto-Parietallappen sehr verbreitert, die
Gyri schmal und flacher.
Die Pia an der Basis ist, wenn auch weniger als im
Fronto-Parietallappen verdickt und getrübt und den Gebilden der
Basis adhärent.
Die Carotiden beider Seiten, besonders aber rechts, sind
mit enorm verdickten Wandungen ausgestattet, rigid, aber überall
durchgängig.
Dieselben Verhältnisse finden sich an der Arteria cerebri
anterior und Arteria fossae Sylvii.
Die Arteria basilaris ist verbreitert, verdickt, mit
sklerotischen Plaques besetzt, zeigt basal wandständige hyaline und
graubraune Thromben.
Dieselben Verhältnisse finden sich bei der Arteria cerebri
posterior und den Arteriae vertebrales.
Nr 42
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Auch alle kleineren Arterienverzweigungen zeigen Rigidität
und stellenweise sklerotische Plaques.
Frontalschnitte durch das Stirnhirn.
Die Arachnoidea ist an der Höhe der Kämme der Windungen
durch Adhäsionen mit der Unterlage verklebt. In den Sulci
finden sich Recessus, die mit seröser Flüssigkeit erfüllt und von
zarten, milchweissen, untereinander anastomosirenden, netzförmig
angeordneten Balken, die häufig Blutgefässe enthalten, durchzogen
sind (Fig. 1, sa C, Fig. 3).
Die Hirnrinde ist verschmälert und zeigt zahlreiche,
borstenartig hervorragende, feinste Gefässe. An einzelnen Stellen
ist dieselbe durchsetzt von milchigweissen, rundlichen, ziemlich
scharf begrenzten, bis zu 1 mm im Durchmesser haltenden
Flecken.
In der Tiefe der Windungen findet man häufig die Rinde
noch weiter verschmälert und durch seichte Dellen oder kugel¬
förmige Einbuchtungen im Contour verändert (Fig. 1).
Derartige Erweiterungen der Sulci sind oft kettenartig ange¬
ordnet, so zwar, dass die grösseren derartigen kugelförmigen Hohl¬
räume in der Tiefe sich befinden und die einzelnen von einander von
ringförmig vorspringenden Leisten getrennt sind (Fig. 1, 2, 3, Schic).
Das Mark ist beiderseits durchsetzt von 0 5mm2 bis zu
05 cm 2 grossen, ziemlich glattwandigen oder unregelmässig ge¬
wölbten und stellenweise nur durch zarteste Scheidewände ge¬
trennten Hohlräume.
Fig. 3.
Subarachnoideale uud Markcysten.
Die Zahl der grösseren dieser Hohlräume ist rechts grösser
als links und beträgt an einem das Stirnhirn halbirenden Schnitte
vor dem Balken, circa 50 auf dem Querschnitte.
Die Form derselben ist meist eine bohnenförmige. Nicht
selten ist das eine Ende derselben spitzer zulaufend und steht
dasselbe dann gewöhnlich durch einen kurzen feinen Canal mit
einen benachbarten Hohlraum in Verbindung. Oft stehen dieselben
so dicht gedrängt und sind dann nur durch dünnwandige Lamellen
von einandergetrennt, so dass das Bild wabiger Destruction entsteht.
Manchmal sind, und dies trifft meist für kleinere, circa 1 — 2 mm
im Durchmesser haltende Hohlräume zu, dieselben perlschnurartig
aufgereiht und in ähnlicher Weise von einander abgetrennt, wie
dies oben für die in den Sulci auftretenden Erweiterungen be¬
schrieben wurde. Seltener findet man längliche (oft 1 cm lange)
dafür bedeutend schmälere (Q2 — 1 mm breite), Bohrlöchern ähn¬
liche Hohlräume, die meist zierlich und regelmässig gekrümmt,
dem Laufe der Markfaserung parallel angeordnet sind.
Die Umgrenzung der Cysten ist meist glatt, manchmal
mehrfach buckelig vorgewölbt. *) Es hat makroskopisch den An¬
schein, als ob die Substanz der Wandung mit dem Marke identisch
wäre, jedenfalls konnten keine Anhaltspunkte für die Annahme von
eigenen fremdartigen Wandungen aufgefunden werden.
Nicht selten ragen aus der Wandung lamellenartig vor¬
springende Leisten hervor, die unbedingt durch einen Faserzug
*) Gewöhnlich können derartige Vorwölbungen als Ausbuchtungen
benachbarter Hohlräume nachgewiesen werden.
(Blutgefäss) aufgehobenen Falten gleichen und an der Basis immer
breiter sind als am Kamme, an diesem aber oft breiter als in
der Mitte.
Der Inhalt der Hohlräume ist eine wässerige, klare, farb¬
lose Flüssigkeit. Ab und zu findet man und dann immer in einer
recessusartigen Ausbuchtung der Hohlräume einen bodensatzartigen,
gallertigen, graubraunen Niederschlag (Fig. 1, g ), der in Form und
Lage am besten den in den Höhlungen eines an einem Bache
liegenden Felsens vorfindlichen Sandanschwemmung vergleichbar ist.
In manchem derartigen Hohlraum ist ein Theil der Wandung
nur grau verfärbt, eigenthümlich porös und wie mit grauschwarzen
Sprenkeln ausgekleidet.
Durch einzelne Hohlräume zieht ein zartes Cefäss ohne be¬
gleitendes Gewebe, gewöhnlich wandständig, wohl aber auch den
Hohlraum durchquerend.
Die Lage der Hohlräume ist eine scheinbar unregelmässige.
Bei genauerem Studium lässt sich jedoch insoferne eine Gesetz¬
mässigkeit nachweisen, als die Längsrichtung der Hohlräume regel¬
mässig mit der Längsrichtung der Faserzüge zusammenfällt. So
finden wir Hohlräume im Gebiete der Balkenstrahlung immer in
der von dieser eingeschlagenen Richtung, Hohlräume, die gegen
die Windungskuppen zu liegen immer parallel den in dieselben
einstrahlenden Faserzügen angeordnet.
Frontalschnitt durch die Gegend der Centralwindungen.
Auch hier gilt alles für die Frontalschnitte durch das Stirn¬
hirn Gesagte.
Fig. 4.
Cyste.
Durchschnitt durch einen Sector eines cystischen Hohlraumes. Mikrophoto¬
graphische Aufnahme der Cystenbegrenzung, Zeiss’ Apochr. 1ji.
Nur ist hier die Grösse der Hohlräume eine bedeutendere,
bis zu 2 5 cm, und die Zahl eine grössere (über 80 auf dem
Querschnitte).*)
Auch hier kann die Gesetzmässigkeit der Lage nachgewiesen
werden; Hohlräume im Cingulum werden immer als von vorne nach
hinten gestreckte gefunden, Hohlräume im Balken verlaufen quer,
die zahlreichen, in der Capsula interna sind flach zapfenförmig,
schief aufsteigend, entsprechend der Projectionsstrahlung.
Die centralen Ganglien sind, wenn auch relativ in
geringerem Masse, von meist kugelförmigen, selten länger gestreckten
gleichartigen Hohlräumen durchsetzt.
Unter diesen grösseren Hohlräumen finden sich vorwiegend
in der Substanz der centralen Ganglien, wohl aber auch im Win¬
dungsmarke, vorwiegend des Schläfelappens, eine Unzahl kleiner
Hohlräume, ein Bild, das ganz dem bekannten Etat crible der
Autoren entspricht.
Stellenweise sind die centralen Ganglien derartig von den ge¬
nannten pathologischen Processen durchsetzt, dass man nur äusserst
wenig annähernd normale Substanz, die dann überdies grau verfärbt
erscheint, erkennen kann.
*J Die grössereu Höhlen zeigen mannigfache und meist zahlreiche
kleinere Ausbuchtungen, und es macht den Eindruck, wie wenn sie durch
Coufluenz kleinerer derartiger Gebilde entstanden wären.
966
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 42
Querschnitt durch den Hinterhauptslappen
Hier treten annähernd wieder jene Verhältnisse zu Tage, wie
an den entsprechenden Partien im Stirnhirn, d. h. Stirn- und
Hinterhauptspol sind am wenigsten von Cysten durchsetzt und ist
deren Grösse eine bedeutend geringere im Vergleiche zu der der
Cysten im Centralgebiete.
Im Stirn- sowie hier im Hinterhauptslappen scheinen die die
kleineren Cysten mehr der Peripherie anzuliegen, grösseren
centraler.
Bemerkenswerth ist das Fehlen gröberer Adhäsionen und Ver¬
dickungen der Pia in diesem Hirntheile, ein Verhalten, das dem bei
progressiver Paralyse vollkommen entspricht.
Schnitt durch den Hirnstamm.
Hier sind die cystischon Gebilde entschieden spärlicher. Im
Pes pedunculi der rechten Seite fanden sich zwei circa
20 — 2’50 mm im Durchmesser haltende, röhrenförmige, cystische
Räume, deren Längsrichtung mit der Faserrichtung zusammenfällt,
und zwar liegen beide im motorischen Antheile, einer nahe der
Mittellinie, die Substantia nigra bogenförmig nach aufwärts drängend,
der andere an der Grenze des mittleren und äusseren Drittels, der
letztere ist nach abwärts bis gegen die Medulla oblongata zu in
continuo verfolgbar.
Fig- 5.
Gefäss am Rande eines Hohlraumes mit die Wand durchsetzenden Gas¬
blasen (gb).
Ausser diesen grösseren Hohlräumen finden sich im Gebiete
des rechten vorderen Vierhügels noch kleinere im Bereiche
der nächsten Umgebung des Aquaeductus Sylvii und links zwischen
den Brückenfasern.
Im Querschnitte des hinteren Vierhügels findet sich
rechts knapp neben der Mittellinie, die Substantia nigra dieser Seite
bis zur Unkenntlichkeit verändernd, ein circa 5 mm im Durchmesser
haltender, kugelig geformter Hohlraum, der an der Basis eine porus-
artige Lücke aufweist, die mit dem Subarachnoidealraum com-
municirt.
Am hintersten Rande der Brücke erscheinen nur
vereinzelte, träubchenartige, confluirende Hohlräume von W., — 1 mm
Durchmesser; noch kleinere solche bis hinab in die Gegend der
rechten grossen Olive.
Am Ende des vierten Ventrikels bemerkt man links
nahe der Mittellinie an der inneren Spitze der grossen Olive eine
Cyste von U50 mm Durchmesser.
An Abschnitten durch das Kleinhirn finden wir
dasselbe allenthalben von ähnlichen, wenn auch durchwegs kleineren
llohlräumen durchsetzt. Auch wie im Grosshirne finden sich hier
subarachnoideal Einbuchtungen an der Oberfläche der Rindensub¬
stanz mit vollkommen regellosen Contouren ohne irgend welche
Zeichen eines reactiven, intravitalen Processes.
Am Rücken marke sind makroskopisch nur kleinste
Lücken im Halsmarke nach innen von der Basis des rechten Hinter-
hornes auffindbar.
Ventrikel.
Die Wandung der Ventrikel zeigt keine wesentliche Ver¬
dickung oder Unebenheit; in derselben linden sich mächtige vari¬
köse Gefässe, deutlich reliefartig hervortretend und begleitet von
weissen, punktförmigen, anscheinend kalkartigen Hervorragungen.
Mikroskopischer Befund.
Die schon makroskopisch wahrnehmbaren cystischon Hohl-
räume zeigen folgende Verhältnisse:
Die Cystenumgrenzung (Fig. 4) ist durch keine be¬
kannte Gewebsart gebildet, sondern Hohlräume und Nervenfasern
stossen unmittelbar aufeinander.
Am Rande der Cysten sind meist ein oder mehrere, zum Theile
noch in die Nervenmasse eingebettete Gefässe zu sehen, die mit
einem Theile in die Cyste vorragen; nicht selten verlaufen am
Rande des Hohlraumes selbst kleine oder kleinste, sklerotisch ver¬
dickte Gefässe mit vielerlei Verzweigungen, so dass man den Ein¬
druck erhält, der cystische Hohlraum habe sich erst der Aus¬
breitung des kleinen Gefässbäumchens angeschlossen — ähnlich,
wie solche Verbreitung Obersteiner (1. c.) angibt und abbildel
— und schliesslich durch seine Grösse den Gefässbaum an die
Seite gedrängt.
Fig. 6.
Grösseres Gefäss aus der Marksubstanz einer Parietalwindung, zahlreiche
Bacterien enthaltend. Methylenblau. Zeiss’ Apoehrom. Immersion ’/i2> 2’0.
Ausser den sklerotischen Veränderungen, die in schwererem
und leichterem Grade fast durchwegs wahrnehmbar sind, fallen
eigenthümliche Destructionen an einzelnen Gefässwänden auf. Die
Elemente der Gefässwände sind durch kugelförmige Gebilde aus¬
einander gedrängt, die einen wenig stärker lichtbrechenden Inhalt auf¬
weisen, der nicht färbbar erscheint und die in grosser Zahl und
verschiedener Grösse die Gefässwand durchsetzen (Fig. 5, g b).
Eine Erklärung dieser Veränderung geben wir im Anschlüsse
an das Folgende.
Der G .y s t e n i n h a 1 1, so weit ein solcher an einzelnen
Cysten überhaupt aufgefunden werden kann, besteht aus einer,
meist nur einem kleinen Theile der Wand anliegenden, homogen
gallertartigen und mit den verschiedensten Färbemitteln nicht tin-
girbaren Substanz ohne jede geformten Elemente.
Urn die II o h 1 r ä u m e zeigt das nervöse Gewebe keine damit
im Zusammenhänge stehenden Veränderungen.
Scheinbar vorhandene Gliaverdichtungen können stets als
solche perivasculären Ursprunges nachgewiesen werden.
Das Nervenfasernetz scheint stellenweise um die Hohlräume
concentrisch verdichtet.
Ausser den schon makroskopisch wahrnehmbaren Hohlräumen
finden sich solche auch in grossen Mengen von mikroskopischer
Kleinheit zerstreut und haufenweise über Rinde und Mark vertheilt,
bald in unmittelbarer Nähe von Gefässen, bald weitab von solchen
und unterscheiden sie sich sehr wesentlich durch den Mangel regel¬
mässiger Begrenzung und typischer Anordnung von den Gebilden
Nr. 42
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.'
96?
des Etat crible, welche in unserem Gehirne ebenfalls ziemlich zahl¬
reich vorhanden sind.
Die Anordnung dieser kleinsten Hohlräume hat gleich hei
erster Besichtigung den Eindruck eines ödematös veränderten Ge¬
webes gemacht; wir werden in der Folge sehen, wie weit dieser
erste Eindruck später seine Berechtigung erhielt.
Viele unserer mikroskopischen Hohlräume gleichen vollkommen
den Abbildungen, wie sie P i c k (Archiv für Psychiatrie. Bd. XXI,
Tafel XVIII, Fig. 3—16, Tafel XIX, Fig. 17—22) gibt.
Ausser all diesen Hohlraumbildungen finden wir alte, durch
Bindegewebs- und Gliaveränderung charakterisirte mikroskopische
Herde in Rinde und Mark (Fig. 2 und 3, e), in denen das nervöse
Gewebe entweder vollkommen, oder doch theilweise geschwunden
ist. Ein solcher Herd befindet sich auch im Dache des Aquaeductus
Sylvii in der Gegend des hinteren Vierhügels und steht dort mit
einem kleinen cystischen Ilohlraume von typischer Gestaltung
(apoplektische Cyste) und mit einem hirsekorngrossen, gliösen
Zapfen in Verbindung, der vom Dache des Aquaeductus herabragt.
In dieser Gegend ist der Aquaeductus stark erweitert.
Die Blutgefässe sind allenthalben erkrankt, ihre Wan¬
dungen sklerotisch verändert, arteriitische Veränderungen der Media
an den grösseren Gelassen deutlich nachweisbar. Thrombotische
Verlagerungen konnten nicht aufgefunden werden, nicht selten
jedoch fanden sich kleinste Gefässe durch mächtige Wandverdickung
fast oder ganz undurchgängig.
Fig. 7.
Capiilare aus den tiefenlJSchichten der Rinde mit Theilung, mit Bacteiien
erfüllt (c). Methylenblau. Zeiss’ Apoclirom. Immersion. '/ 12) 2‘0.
Die letztgeschilderten, herdförmigen Erkrankungen präsentiren
sich demnach als residuäre Processe nach kleinsten Erweichungen
im Gefolge der allenthalben bestehenden Gefässveränderungen, in
ihrem Entstehungsalter verschieden, jedoch gewiss nicht jüngeren
Datums.
Es bestehen keine systematischen secundären Degenerationen.
Sonstige histologische Veränderungen jüng¬
sten Datums, welche das schwere klinische Krank¬
heitsbild aufzuklären im Stande wären, wurden
keine aufgefunden.
Weitaus der wichtigste Befund, welcher der ganzen
Beurtheilung den Schlüssel in die Hand zu geben berufen war, ist
der Nachweis von Bacterien.
Die Gefässe der Meningen und diese selbst sind grossentheils
vollkommen frei von solchen. Nur an den stark ausgebuchteten
Stellen der Hirnoberfläche, an jenen Punkten, wo wir das Vor¬
handensein sogenannter subarachnoidealer Cysten constatiren konnten
(Fig. 3), wo das Rindengewebe wie ausgekerbt anzusehen und leicht
verfärbt war, fanden sich Bacterien, wenn auch spärlich.
Schon wenige Millimeter unter der Oberfläche, in den tiefen
Capillaren der Rinde, noch mehr aber in den Blutgefässnetzen des
Markes, sind die Gefässe kleinsten und mittleren Galibers fast im
ganzen Gehirne bald in grösserem, bald geringerem Grade mit
Bacterien beschickt. An einzelnen Stellen sind dieselben in solcher
Masse vorhanden, dass sie das Lumen der Capillaren, aber auch
grösserer Gefässe mehr minder vollständig erfüllen (Fig. 6 und 7).
Es findet sich diese Aussaat sowohl in Gefässen arterieller, als auch
venöser Provenienz. Viel seltener finden sich und nur zerstreut
Bacterien in den Maschen des nervösen Parenchyms, etwas häufiger
am Rande der grösseren Cysten. Ab und zu sieht man Bacterien-
haufen an der Aussenwand eines Gefässes traubenartig anhängend.
Nirgends zeigt das vasculäre oder das perivasculäre Stütz¬
gewebe oder das nervöse Gewebe selbst Zeichen reactiver Vorgänge.
Was die F o r m der Bacterien anlangt, so ist es die von
Kurzstäbchen. Dieselben besitzen allem Anscheine nach eine Kapsel,
was auch durch den Umstand erhärtet wird, dass trotz der oft
vollständigen Verdrängung des Gefässinhaltes bei total mit Bacterien
verstopften Gefässen, die bacteriellen Individuen alle getrennt von
einander wahrnehmbar werden und ungefärbte Substanz zwischen
sich lassen.
Die Gattung der Bacterien genauer zu bestimmen, ist der¬
malen mangels angelegter Culturen nicht mehr möglich.
Desgleichen war nachträglich nicht mehr festzustellen, ob die
Bacterien auch in anderen Organen ausgesäet waren.
Es ergeben sich aus der Betrachtung dieses Gehirnes
naturgemäss folgende Fragen:
1. Welcher Art ist der generelle Allgemeinzustand dieses
Gehirnes mit Bezug auf die vorhandenen Gefässveränderungen
und mit Bezug auf die Vorgefundenen histologischen Verände¬
rungen in Rinde und Mark?
2. Welche Bedeutung hat die Vorgefundene massenhafte
Cystenbildung?
a ) Sind diese Cysten Residuärsymptome eines bestandenen
anatomischen Erkrankungszustandes (im Sinne der bekannten
Cystenbildungen nach Blutungen, Erweichungen etc.)? (Re¬
sorptionscysten.)
b) Sind dieselben durch Lymphstauung entstanden? (Re¬
tention scysten.)
c) Sind diese Cysten eventuell angeboren?
d) Ist der Befund dieser Cysten mit dem generellen
Allgemeinzustande des Gehirnes (1.) in einem genetischen Zu¬
sammenhänge?
3. Welche Bedeutung hat der Befund der Bacterien-
aussaat?
d) Ist dieselbe intra vitam entstanden und, wenn ja, ist
der klinische Befund mit dieser Annahme in Einklang zu
bringen ?
b) Ist diese Bacterienaussaat postmortal entstanden?
c ) Steht dieselbe eventuell in einem genetischen Zusammen¬
hänge mit dem generellen Allgemeinzustande des Cerebrums
oder mit der Cystenbildung?
Der Gesammtzustand des Cerebrums repräsentirt sich
als der einer allgemeinen Atrophie mit schweren sklerotischen
Gefässveränderungen und auf Basis dieser entstandenen, mul¬
tiplen, kleinsten Erweichungsherden.
Andererseits fand sich eine totale cystische Deformation
im ganzen Gehirne.
War schon der Befund eines derartig käseähnlich ver¬
änderten Gehirnes an sich höchst merkwürdig und mit keiner
der bekannten anatomischen Erkrankungen des Nervensystems
in Einklang zu bringen, so war andererseits der Mangel
irgend welcher Wandungen der Cysten und das
Fehlen frischer, entzündlicher Veränderungen
oder secundärer Degenerationen einerseits ein Beweis für die
Unmöglichkeit der Annahme eines embryonal abgelaufenen,
als andererseits eines frischen intravitalen Processes.
Auch waren aus diesen Gründen die Vorgefundenen,
wohl charakterisirten, alten, encephalomalacisehen, beziehungs¬
weise encephalitisehen Herde in keiner Weise mit der Höhlen¬
bildung in Einklang zu bringen.
Jedenfalls haben wir es also weder mit der Bildung so¬
genannter Resorptionscysten zu thun, noch auch kann der
Gedanke an Retention von cerebraler Lymphe, wie die An¬
nahme einer solchen in dem Vorhandensein der starken,
meningealen Verklebungen einer-, des Glioms im Aquaeductus
Sylvii andererseits naheliegend wäre, bekräftigt werden, da
jegliche Anhaltspunkte, als da reactive Processe, secundäre
Degenerationen wären, fehlen und auch die Anamnese keines-
9ö8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 42
vvegs ausreichend einen so umfangreichen Process, selbst bei
langsamer Entwicklung, zulässt.
Auch als angeborene Erkrankung kann der Process
kaum angesprochen werden, da einerseits eine zu supponirende
angeborene Ektasie des lymphatischen Apparates als patho¬
logisch-anatomische Ursache bisher völlig unbekannt ist und
an sich anatomische und klinische Folgeerscheinungen auf¬
weisen müsste, wie solche in unserem Falle vollkommen fehlen.
Es bleibt uns nach unserer Ueberlegung also zwingend
nur noch die Vergleichung der Cystenbildung mit
der gefundenen Bacterienaussaat und ihr causales
Verhältniss zu untersuchen.
Hiebei werden wir naturgemäss an den bekannten Pro¬
cess der Gasbildung gewisser, der Gruppe der Fäulniss-
bacterien angehöriger Mikroorganismen zurückgreifen müssen.
Derartige Bacterien erzeugen oft grosse Mengen von
Gasen, und diese finden sich auch an Orten, wo unmittelbar
keine Bacterien, wenigstens in grösseren Mengen, anwesend sind.
Auf Bacterien überhaupt der verschiedensten Gattungen
wurde, ausgenommen die acuten meningitischen Erkrankungen,
bisher wenig geachtet, und sind solche erst in letzterer Zeit
häufiger in den Blut- und Lymphgefässen des Centralnerven¬
systems gefunden und beschrieben worden.
Ceni23), Montesano und Montess oni 21) u. A.
fanden Staphylococcen, Bacillen verschiedener Arten bei acuten
Psychosen, bei progressiver Paralyse in Blut und Lymphe des
Gehirnes.
Aus der Anordnung unserer Bacterienbefunde geht
hervor, dass dieselben sich zwar überall vorfinden, jedoch nur
äusserst spärlich ganz an der Peripherie und im Gewebe selbst,
jedoch schon in geringer Tiefe in grossen Massen die Lumina
der Gefässe erfüllen. Dies ist ein Umstand, der darauf hin¬
weist, dass diese Fäulnissbacterien nicht von aussen in das
Gehirn eingedrungen sind, wie bei einem faulenden Körper,
sondern durch dieBlutbahn eingebracht wurden und
vorwiegend in ihr sich verbreitet und bis in die feinsten Ver¬
zweigungen so kolossal vermehrt haben, dass zwar angenommen
werden muss, dass eine Anzahl von Bacterien intra vitam
in die Blutbahn gelangt sein, dass aber die kolossale Ver¬
mehrung postmortal entstanden sein muss. Einerseits würde
eine derartige Bacterienembolie ins Gehirn sehr rasch, jeden¬
falls viel rascher als in unserem Falle den Tod zur Folge
haben, andererseits ist bekannt *), dass unmittelbar post mortem
beim inficirten Versuchsthiere oft nur spärliche Bacterien in
der Blutbahn gefunden werden, während 24 Stunden nach
dem Tode (das gewöhnliche Intervall unserer Krankensectionen),
unter gleichen Verlaufsbedingungen, sich die Bacterien in der
Blutbahn kolossal vermehrt haben.
Diese Thatsache erklärt ungezwungen auch unsere
weitere Annahme, dass die gefundenen massenhaften Hohl¬
räume und die innerhalb von Blutgefässwandungen gefundenen
kugeligen Gebilde (Fig. 4) ursprünglich ihre Entstehung einer
gasbildenden Bacterienart danken, die Gasbildung aller Wahr¬
scheinlichkeit nach, wenigstens in diesem kolossalen Umfange,
postmortal zu Stande gekommen ist.
Bei der sicheren Entscheidung der vorliegenden Fragen
war mir besonders massgebend das Urtheil des Herrn Professors
Dr. Kol is ko, welcher es gütigst übernommen hatte, die
vorgelegten Querschnitte durch Grosshirn und Kleinhirn genau
zu untersuchen und zu controliren.
Die Aulfassung dieses Gelehrten ging bestimmt dahin,
dass die vorliegenden Veränderungen postmortal durch gas¬
bildende Bacterien hervorgerufen wurden.
Dass es durch die starke Gasbildung nicht zu hoch¬
gradiger Spannung der Meningen kam, dürfte wohl durch die
allgemeine Atrophie des Gehirnes bedingt gewesen sein.
Die Gascystenbildung gewann weiteren Vorschub durch
die in toto-Conservirung des Gehirnes, und erst nach und
nach mag das eindringende Formol das Gas vertreten und
ersetzt, beziehungsweise gelöst haben, eine immerhin geraume
Zeit, bis zu -welcher die Gasentwicklung (postmortales
*) Was Herr Prof. R. v. Klemensiewicz mir mitzutheilen die
Güte hatte.
Emphysem des Gehirnes) grosse F ortschritte machen
konnte.
Die am Boden mancher Cysten Vorgefundenen gelatinösen
Massen mögen Abfallstoffe eines chemischen Processes sein.
Ich verweise auf eine Angabe M a c e w e n’s 22), welcher
das Vorkommen derartiger Gasbildner im Gehirne betont, ins¬
besondere des Bacillus pyogenes foetidus Passet erwähnt
und hinzugefügt, dass derselbe Eiweiss unter Gasentwicklung
zersetzt.
Auf welchem Wege und von welcher Oertlichkeit unsere
Mikroorganismen die Blutbahn des Gehirnes gelangt sind,
ob sie auch andere Organe beschickt haben, ist leider nicht
mehr festzustellen.
Bei dem Mangel eines anderen erklärenden Momentes
für das acute, schwere klinische Krankheitsbild liegt wohl die
Annahme nahe, diese Erklärung in der Bacterieninvasion ins
Gehirn und ihren toxischen und mechanischen Schädlichkeiten
zu suchen und damit die schweren Allgemeinerscheinungen
und die schliesslich allgemeinen Lähmungen zu erklären.
*
Bei der Durchsicht der Litera tu r über multiple Cysten¬
bildung im Gehirn finden wir nur wenige hiehergehörige
Beobachtungen, von denen die meisten in einer Arbeit
P i c k’s 2) referirt sind, während aus dem letzten Decennium
keine hieher gehörigen Beobachtungen bekannt sind.
Eine Mittheilung von Clarke3)*)? die mir im Original
leider nicht zugänglich ist, vergleicht ein solches Gehirn mit
»Schweizerkäse« und scheint mir demnach sehr nahestehend
mit unserem Befunde.
Clarke findet die Cysten leer oder nur Reste von Blut¬
gefässen, in manchen ein erhaltenes Blutgefäss mit seinen
Verzweigungen bergend.
An einzelnen fand er eine natürliche Verbindung mit
der Oberfläche.
Clarke hält sie für erweiterte, perivasculäre Räume,
in denen die Blutgefässe zum Theile zerstört und resorbirt
wurden.
Fl ei sc hl4), O b e r s t e i n e r 5) * ) machten nur Beob¬
achtungen über mikroskopische Erweiterungen der peri-
vasculären Räume, die sie auf Retention von Lymphe zurück¬
führten bei Tumoren.
Ripping0)*) theilt ähnliche mikroskopische Befunde
mit, deren Vorhandensein schon am frischen Gehirne con-
statirbar war.
Ebenso beschränken sich die Arbeiten von Adler7),
W i e s i n g e r 8), Schüle10), Schlesinger12), Lieb¬
ln ann 13), Savage und Haie White 14), S p i t z k a lä),
Fielding B 1 a n d f o r t 1G), O b e r s t e i n e r 17) *), auf mikro¬
skopische, cystische Erweiterung der perivasculären Lymph-
räume, die theils als durch Drucksteigerung, theils als durch
Retention entstanden gedacht werden.
Byron B r o m w e 1 1 18) *) beschreibt bei einem an acuter
Tuberculose Verstorbenen reichliche Cystenbildung im Gehirne,
die am frischen Gehirne sehr klein, nach zwei Jahren am
gehärteten Gehirne um Beträchtliches grösser geworden waren;
das Zwischengewebe war sklerotisch, desgleichen die Ränder
der Cysten.
Die erste eingehende Beschreibung von Cystenbildung
gibt Pick2) an sieben Fällen.
Der erste Fall betraf eine Gehirnhemisphäre, angeblich normales
Controlpräparat aus einer Musealsammlung. »Beim Zertheilen des¬
selben zeigte sich sowohl die Rinde als das Mark der Hemisphäre
in geringerem Grade, auch der Sehhiigel reichlich von Cysten
durchsetzt (Pick schliesst Paralyse aus).
Fall 2. 18jährige Prostituirte, die an einer fieberhaften Er¬
krankung verstorben war.
Fall 3 entstammt einem in den Fünfziger-Jahren stehenden
Paralytiker mit typischem Sectionsbefund.
Fall 4 ist eine tabische Paralyse, Fall 5 eine typische Para¬
lyse, Fall 6 eine Melancholie in phthisico, Fall 7 ein nachträglich
*) Citirt nach Pick.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
969
nicht festzustellender Fall von Psychose (wahrscheinlich Paralyse),
Fall 8 eine tabische Paralyse.
Fall 1 und 7 boten die meisten, Fall 3 die grössten Cysten«.
(Fall 3 wird von Pick als mit typischem Sectionsbefunde ausge¬
stattet erwähnt, es scheint daher das Gehirn in toto conservirt
oder die Cystenbildung postmortal entstanden!)
Pick berichtet Folgendes über seine Beobachtungen:
Die Form der Cysten ist eine rundliche oder längliche,
zuweilen aber auch ganz unregelmässig, häufig eine gleichsam
aus Kugelschalen gebildete, wenn entweder mehrere Cysten
zusammengeflossen sind oder auch die cystöse Erweiterung
durch den Zusammenfluss mehrerer erweiterter, ihre läng¬
liche Gestalt zum Theil noch besitzender perivasculärer Räume
gebildet wird; häufig sind grössere Cysten durch Quer¬
leisten oder Scheidewände get heilt.
Die Cysten communiciren meist unter sich,
wenn auch mit feinsten Lücken. Sie reihen sich meist der
Richtung der Gefässe entsprechend.
Man findet sie in Rinde und Mark; ihre Grösse
schwankt von mikroskopisch nur sichtbaren bis zu solchen mit
circa 1 cm im Durchmesser haltenden (nach P i c k’s Abbildung)
DieWandung derCysten ist immer von dem
umgebenden Gewebe gebildet, niemals liess sich eine
selbstständige Membran nachweisen. Die Begrenzung ist
meist scharf, wie mit dem Locheisen geschlagen.
Die Umgebung der Cysten ist nicht wesentlich ver¬
ändert, ab und zu das Gewebe comprimirt
Eine besonders für grössere Cysten charakteristische Er¬
scheinung ist das Vorhandensein eines der Cystenwand parallel
am Rande derselben verlaufenden Gefässes.
Pick neigt sich der Anschauung zu, dass die Cysten
aus perivasculären Scheiden hervorgegangen sind und erklärt
das Fehlen von Gefässquerschnitten am Cystenprofil durch
die oft excentrische Lage der Cysten.
Ausser diesen Cysten beobachtete Pick, sowie wir
in
i.JL WWWVX vtxvw 7 - “ — - — - /
unserem Falle, auch das Vorhandensein von subarachnoidealen
Erweiterungen.
(Vgl.: Archiv für Psychiatrie. Bd. XXI, Tafel XVIII,
Fig. 1 und 2, und meine Fig. 3.)
Ueber den Vorgang und die Ursache der Cystenentwick¬
lung glaubt Pick sich nicht mit Bestimmtheit aussprechen
zu können. Vermuthungs weise hält er Adhärenz der Meningen
über den Sulcis als die ätiologische Ursache für die Anstauung
von subarachnoidealer Flüssigkeit und Rückstauung in den
angrenzenden Lymphräumen des Cortex und Markes. Jedoch
hebt Pick mit voller Einsicht die Seltenheit seines Befundes
im Vergleiche zur Häufigkeit von meningealen Verände¬
rungen hervor und supponirt daher noch andere Abflusswege
für die Lymphe (subarachnoidealer Raum).
Bechtere w’s subarachnoideale Cysten finden sich so¬
wohl in Pick’s, als in meinem Falle.
Bram well’s Fall (nach Pick) zeigt das Vorkommen
von Cystenbildung auch im jugendlichen Gehirne, auch
Cruyeilhier (nach Kundrat, Porencephalie) beschreibt
einen ähnlichen Fall.
Inwieweit unsere Befunde mit denen von Pick u. A
sich decken, möchte ich ohne genauere Kenntniss der Prä¬
parate dieser Fälle nicht entscheiden.
Die vollkommene Aehnlichkeit des histologischen, Be
fundes der makroskopischen und mikroskopischen Cysten¬
bildung in den Fällen von Pick und in meinem halle ist
eclatant. Insbesondere bemerkenswerth halte ich auch die
Aehnlichkeit der subarachnoidealen Cysten mit ihren die
Rinde fransig, »wie ausgefressen« deformirenden Rändern und
vergleiche damit die vollkommene Identität unserer Zeich¬
nungen. Ein weiteres gemeinsames Merkmal ist die flhatsache,
dass wenigstens in einzelnen von Pick’s Fällen die Section
und Untersuchung des Gehirnes im Detail erst spät nach der
in toto-Conservirung erfolgt ist. Es spricht die einzige Wahr¬
nehmung von Cystcben offenbar kleinsten Calibers bei
Ripping am frischen Gehirne durchaus nicht gegen die
Möglichkeit, dass auch diese schon postmortale Erscheinungen
darstellten, schon gar nicht gegen ihre bacterielle Provenienz.
Gewiss werden derartige Processe in allen Abstufungen
ihrer Intensität je nach der Dauer des Intervalles post mortem
usque ad sectionem, je nach der Art der Gehirnsection und
der Conservirungsflüssigkeit Vorkommen können.
Die auffällige Seltenheit des Befundes*) wird einerseits
durch die Seltenheit klar, mit der bei plötzlichen Todesfällen
genauere Gehirnuntersuchungen gemacht werden, und die
Seltenheit, ein Gehirn in toto zu conserviren, nicht zuletzt
vielleicht durch die Seltenheit derartiger bacterieller Invasionen
in die Blutbahn des Gehirnes überhaupt. Das merkwürdige
Vorkommen des geschilderten Befundes in Pick’s Fällen bei
verschiedenen klinischen Erkraukungsformen spricht gewiss
gegen eine specifische Erkrankungsform in pathologisch¬
anatomischem Sinne. Gemeinsam der grössten Zahl der Be¬
obachtungen ist jedoch das Vorhandensein eines debilen, meist
atrophischen Gehirnes. Vielleicht liegt gerade auch in diesem
Umstande ein begünstigendes Moment für unsere in Rede
stehende Bacterieninvasion; jedenfalls war in unserem lalle
die starke Atrophie des Gehirnes mit ein begünstigendes
Moment für die voluminöse Gasentwicklung.
Alles in Allem kann wohl gesagt werden, dass es gewiss
Lymphektasien durch Drucksteigerung, Retention etc. gibt
(O b er s t e i n e r u), dass aber in einer Reihe von Beob¬
achtungen über die cystöse Degeneration des Gehirnes in
diesem Ausmasse, wie sie in einer Reihe von Pick’s Fällen
von Clarke u. A. beschrieben wurde, mit allergrösster
Wahrscheinlichkeit ein derartiges postmortales Em¬
physem des Gehirnes Vorgelegen hat, wie in unserem
excessiven Falle, und zwar, wie wir bewiesen haben, auf
Grundlage einer intra vitam erfolgten Aussaat von gas¬
bildenden Bacterien.
Jedenfalls muss die frappante Erscheinung eines derartig
»käseähnlich« deformirten Gehirnes als eine Seltenheit be¬
trachtet werden, die dringend der Deutung bedurfte.
Ich werde es mir angelegen sein lassen, durch experi¬
mentelle Versuche mit Injection gasbildender Bacterien in das
lebende und todte Gehirn diese merkwürdig deformirenden
Processe noch weiter aufzuklären.
Schliesslich möchte ich es nicht ausser Acht lassen
darauf hinzuweisen, dass in ähnlichen klinischen Krankheits¬
fällen — besonders jenen nicht allzu seltenen Fällen von
plötzlicher Erkrankung und plötzlichem Tode mit negativem
Sectionsbefunde — in Hinkunft systematische bacteiiologische
Untersuchungen vorzunehmen sind und hiedurch für ähnliche
Krankheitsbilder ein klinisches Verständnis, für die consecu-
tiven postmortalen Processe nach Invasion gasbildendei Bac-
terien eine festigende Grundlage erbracht werde.
Zum Schlüsse sei es mir gestattet Herrn Prof. Anton
für die Ueberlassung des Materiales und die stetige freundliche
Anregung und Unterstützung bei der Abfassung vorliegender
Arbeit meinen Dank abzustatten.
Literaturverzeichnis s.
1) Rob. Neudörfer, Dementia paralytica. Tod durch Suffocation.
Etat crible. Cystöse Degeneration. Meningitis tuberculosa. Archiv für patho¬
logische Anatomie. Bd. CXLVI, pag. 369. ...
2) A. Pick, Ueber cystöse Degeneration des Gehirnes. Archiv lur
Psychiatrie. Bd. XXI, pag. 910 ff.
3) Clarke, Journ. of. ment, diseases. Jan. 1870, pag. üOO. Cunt
nach Pick. 1tmo Q1Q
4) Fleisch], Wiener mediciniscbe Jahrbücher. 1 Kid, pag.
Citirt nach Pick. qo1
5) Obersteiner, Virchow’s Archiv. 1872, Bd. L\ , pag. o-l .
Citirt nach Pick. _ , . A yvy
6) Ripping, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. AAA,
pag. 309. _
7) Adler, Archiv für Psychiatrie. Bd. V, pag. 81.
6) Wiesinger, Archiv für Psychiatrie. Bd. V, pag. 38F
3) Ripping, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. XXXli,
pag. 424.
to) Schüle, Sectionsergebnisse von Geisteskranken,
i') Ob erst einer, Beiträge zur pathologischen Anatomie der
Gehirngefässe. Wiener medicinisclie Jahrbücher. 18 <7, pag. -ob, -b-.
*) Nach Abschluss dieser Arbeit erhalte ich durch die Freundlich¬
keit Prof. Anton’s davon Kenntniss, dass Prof. Marie (Paris) ein
Gehirn mit ähnlichen Befunden in Bearbeitung hat.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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970
1 ) Schlesinger, Archiv für Psychiatrie. 1880, Bd. X, pag. 25.
13) Lieb mann, Jahrbücher für Psychiatrie. Bd. V, pag. 236.
n) Savage und Haie White, Transact, of the path. soc. of
London. 1883, pag. 1. Citirt nach Pick.
>•'•) Spitzka, Insanity. 1883, pag. 219. Citirt nach Pick.
,6) Fielding Blandford, Insanity and its treatement. 1884,
pag. 125. Citirt nach Pick.
17) Obey steiner, Brain. 1884, pag. 305. Citirt nach Pick.
18) Byron Bromwell, Edinburgh nied. J. 1886, pag. 43 ff.
Citirt nach Pick.
19) Bechterew, Archiv für Psychiatrie. Bd. XIV, pag. 563.
20) K u n d r a t. Die Porencephalie. Graz 1882.
21) Cr uv eil hier, Bd. XVII, Fall 4, Tafel 1. Citirt nach
Kandrat.
22) M a c e w e n, Die infectiös-eiterigen Erkrankungen des Gehirnes
und Rückenmarks. Wiesbaden 1898, pag. 55.
i:i) C e n i, Nuovo ricerche sperimentali sul potere battericida del
sangli degli animali in rapporto alli autoinfecioni degli alienati. Riv.
sperim. di freu. XXIV, 2.
2J) Montesano und Montesson i, Ricerche batteriologiche sul
liguido cefalo-rachidiano dei dementi paralitici. Riv. quindicin. di Psicolog.
etc. Bd. I, pag. 225.
Zur Lehre vom Trachom.
Von C. Ziem in Danzig.
(Schluss.)
Ueber Zusammentreffen des Trachoms mit Erkrankungen
der Nase, beziehungsweise Abhängigkeit des ersteren von
letzteren haben dann nach meinen ersten Mittheilungen hierüber
in den Jahren 1886, 1888 und 1893 auch Nieden in
Bochum, Vach er in Orleans, Prof. Fuchs in Wien, Pro
lessor Galezowski in Paris mit 90% positiver Befunde,
sowie in recht zahlreichen Fällen, das heisst 298mal in
443 Fällen, also in 65%, im Jahre 1897 auch Geheimrath
Prof. Kuhnt in Königsberg berichtet, Letzterer zum Theile
mit auffallender Anlehnung an meine eigene, ihm nicht unbe¬
kannte Darstellung, ohne jedoch seiner Vorgänger in einer
den Verhältnissen entsprechenden Weise und mit genügen¬
der Ausführlichkeit zu gedenken, so dass ein Un¬
kundiger den Eindruck gewinnt, oder, wie Herr N. Cahn in
in Riga bereits gewonnen hat, es sei dieser Zusammenhang
der Dinge nicht von mir, sondern von Kuhnt zuerst erkannt
worden4). Auch hat K u h n t unterlassen, eine Probeausspülung
der Nase mit der im Jahre 1894 ihm von mir zugesendeten
Druckpumpe in seinen Fällen vorzunehmen, durch welches
Verfahren er wahrscheinlich einen noch höheren Procentsatz
von Eiterungen der Nase gefunden haben würde. Ja, neuestens
hat sogar ein Schüler von Prof. Schmidt- Rimpier, Pro¬
fessor II o p p e aus Elberfeld, erklärt, in einer sehr trachom¬
reichen Gegend von Ostpreussen, in Masuren, »jauchige
Ozaena überraschend oft« gefunden zu haben. Ebenso erwähnt
Ger mann als eiterige Augenkatarrhe und das Trachom
oft begleitend, »schmutzige Nasen«, wie auch Ekzem des
Kopfes, das meines Erachtens als ein metastatisches, fieber¬
haftes, durch Verschleppung von Eiter aus der Nase ver¬
mittelst der Circulation bedingtes aufzufassen ist, das G er¬
mann jedoch, seiner contagionistischen Theorie entsprechend,
von einer, allerdings nur hypothetischen Infection vermittelst
der Finger, und zwar von räudigen Hausthieren her, besonders
von Eseln ableiten möchte. Endlich erwähnt kürzlich auch
Prof. Feuer beiläufig Fälle, in welchen »eine Thränen-
schlauchverengerung oder eine Nasenaffection oder endlich
eine chronische, scrophulöse Erkrankung des Auges« das
Trachom complicirt.
4) K u h li t berichtet jetzt eingehend über einen bezüglichen, meines
V issens früher nirgends niedergelegten Fall seiner eigenen Beobachtung
aus dem Jahre 1886, welcher der Ausgangspunkt seiner Studien über diesen
Zusammenhang gewesen sei (pag. 30 seiner Abhandlung), während doch
meine erste Publication hierüber schon im. März 1886 erschienen und im
August 1886, pag. 221 des ja wohl in aller Händen befindlichen Central¬
blattes für Augenheilkunde, wenn auch etwas dürftig, referirt, Kuhnt auf
seine am 3. Juli 1897 mir zugegangene Anfrage auch auf diesen Artikel
ausdrücklich aufmerksam gemacht und seine Arbeit erst am 1. August
abgeschlossen ist (pag. 172). Mit der pag. 33 von K u h n t meinen Arbeiten
gewidmeten, wie gelegentlichen Notiz ist meiner zweifellosen Priorität auf
diesem Gebiete selbstverständlicher Weise durchaus nicht Genüge geleistet.
Nach allem hier Angeführten liegt also offenbar aller
und jeder Grund vor, diesem Zusammenhänge der Dinge, als
eine von der bisherigen sehr abweichende Auffassung be¬
gründend, weiter nachzuspüren und ihn noch mehr aufzu¬
klären, da es, wie ich schon vor sieben Jahren erwähnt und
seitdem oft bestätigt gefunden habe, nicht wenige Kranke gibt
mit nur einseitigem Trachom und Eiterung nur einer, der¬
selben Nasenseite; da ferner die nicht seltene Localisation des
Trachoms nur auf eine Uebergangsfalte (Raehlmann, Z i e m),
sei es die obere, sei es die untere, mit der gewöhnlichen An¬
nahme einer Infection von aussen her, durch schmutzige
Finger u. dgl., gar nicht erklärt werden kann, sondern mit
einem inneren Momente, vornehmlich mit einer primären,
in derartigen Fällen des Oefteren auch von mir nachgewiesenen
Eiterung entweder der Kieferhöhle oder der Stirnhöhle und
secundärer Fortleitung der Stauung und Entzündung ver¬
mittelst der Anastomosen der Vasa nasofrontalia oder infra-
orbitalia auf das Oberlid oder Unterlid Zusammenhängen muss.
Ergänzend sei noch erwähnt, dass man bei Trachom
nicht selten auch, auf fieberhafte Erkrankung des Nasen-
innern meistens deutend, Temperaturerhöhung der Haut der
Nase bei Palpation findet, sowie dass mir inzwischen noch
eine weitere Anzahl von Kranken vorgekommen ist, bei
welchen trotz Excision der Uebergangsfalten, nicht etwa
seitens eines jener durch das Epigramm des Strathon : »wenn’s
noch weiter so geht mit dem Heilen, so wird er, und stünd
auch neben ihm ein Elephant, dennoch den Riesen nicht
sehen«, charakterisirten Dutzend-Specialisten der Gegenwart,
bei welchen also trotz Excision der Uebergangsfalten seitens
erfahrener und geübter Fachgenossen Recidive aufgetreten
sind und eine manchmal recht profuse Eiterung der Nase
vollkommen übersehen worden war. Einen recht anschaulichen
Fall der Art habe ich im August 1897 Herrn Prof. Silex
aus Berlin auf seiner Rückreise aus Königsberg demonstrirt,
einen Hoteldiener von hier betreffend, der, militärpflichtig, auf
Veranlassung der Behörde von meinem verehrten Collegen
M. Schneller im Frühlinge 1896 zwangsweise operirt, ein
Jahr später, im Pferdestalle schlafend, auf der ganzen Binde¬
hautfläche der Lider, so weit dieselben der Besichtigung durch
Umklappen überhaupt noch zugänglich waren, diffus ver¬
breitete, zahlreiche Trachomkörner, ausserdem einen eiterigen
Katarrh der Augen und eine sehr bedeutende Eiterung der
Nase aufwies. Prof. Silex sprach sich dahin aus, dass
die Augenärzte von Königsberg in diesem Falle die Excision
des Lidknorpels beiderseits vornehmen würden; nachdem
jedoch der Kranke aus dem Stalle ausquartiert, die ent¬
zündlichen Erscheinungen zurückgegangen, die Eiterung
der Bindehaut, der Nase und der Kieferhöhlen beseitigt war,
habe ich meiner Ueberzeugung entsprechend attestirt, dass eine
abennalige Operation an der schon bedeutend verkürzten
Bindehaut oder gar die Excision des Knorpels einen dauernden
Nutzen nicht bringen könne und eine den Ansprüchen der
Militärbehörde genügende, gründliche Ausheilung des Trachoms,
sowie der die Rückfälle offenbar verursachenden Eiterung der
Nase, wenn überhaupt, dann nur bei andauerndem Aufenthalte
in reiner Luft, besonders im Walde oder an der Meeresküste,
zu erwarten sei. Im März v. J. habe ich den Betreffenden
wegen eines mit der früheren Operation irgendwie zusammen¬
hängenden bedeutenden Abscesses des linken Oberlides und
erneuerter, übrigens nur leichter Absonderung der Bindehaut
und der Nase mehrere Wochen lang behandelt; die Granula
waren auffallend viel spärlicher geworden.
Ein ähnlicher Zusammenhang der Dinge dürfte zum
Theile wohl auch bei den zahlreichen, in über 50% der Fälle
eingetretenen Rückfällen Vorgelegen haben, die Geheimrath
Hirschberg und G r e e f f, sowie Hoppe in Ost- und
Westpreussen nach Excision der Uebergangsfalten oder des
Knorpels festgestellt haben und welche ja auch Kuhnt
selbst zugibt; leider aber hat G ree ff um das Verhalten der
Nase gar nicht sich gekümmert, Hoppe nur auf die schon
erwähnte Notiz über Ozaena in der Trachomgegend Masuren
sich beschränkt.
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Auch Kuhnt glaubt, entgegen einer im Jahre 1894 in
Königsberg mir gegenüber gemachten Aeusserung, jetzt durch
gleichzeitige Behandlung auch der Nase bessere und dauerndeie
Erfolge bei Trachom künftig erzielen zu können und nichts
wäre meines Erachtens wichtiger bei derartigen Rückfällen
als gründliche Behandlung einer wahrscheinlich immer vor¬
handenen Naseneiterung. Bemerkenswerth, insbesondere auch
wichtig gegenüber Greeff’s Annahme eines Familientrachom,
ist ferner, dass nicht selten nur e i n Mitglied einer unter
genau denselben Verhältnissen zusammenlebenden Familie von
richtigem Trachom ergriffen ist, dasjenige nämlich, welches bei
genauerer Untersuchung mit einer mehr oder weniger pro¬
fusen, übelriechenden Eiterung der Nase sich behaftet zeigt,
nicht* selten der Folge einer vorausgegangenen fieberhaften,
mit Exanthem der Haut verbunden gewesenen Krankheit, wie
Masern oder Scharlach, während alle übrigen Mitglieder der
betreffenden Familie entweder durchaus augengesund sind oder
nur der Eine oder Andere derselben einen harmlosen folli-
culären Katarrh zeigt; derartige, auch von meinem ver¬
storbenen Collegen Schneller schon früher constatirte und,
wie mir erzählt wurde, mit Interesse und genau, auch be¬
züglich der Augen der betreffenden Angehörigen, untersuchte
Kranke sind mir mehrfach vorgekommen, so noch unlängst
ein schon von früher her mir bekannter Schuhmacherlehrling,
der als Schuljunge seiner Zeit von Schneller operirt
werden sollte, darauf zu mir gekommen und unter gleich¬
zeitiger Behandlung seiner mit einer starken Eiterung be¬
hafteten Nase ohne Operation an den Augen hergestellt, später
wegen eines Rückfalles seines Trachoms von einem jungen
Collegen durch Ausquetschen mittelst der Rollpincette be¬
handelt, jedoch, abermals rückfällig, zu mir zurückgekehrt
und unter Ausspülungen der Nase mit Salzwasser, Application
einer Anzahl von Drouo fischen Pflastern in der Iliuter-
ohrgegend (siehe später) und reichlichem Aufenthalte im Freien
bald wieder arbeitsfähig geworden, natürlich aber bei der seit
frühester Jugend bestehenden Eiterung der Nase vor weiteren
Rückfällen seines Augenleidens nicht gesichert ist; . eiterige
Erkrankungen der Augen dieser oder jener Art sind in seiner
Familie nicht vorhanden, auch ist er allein mit einer
Eiterung der Nase behaftet.
In Fällen solcher Art ist also die noch fast überall, vor¬
nehmlich auch von Feuer ausschliesslich beschuldigte directe
Ansteckung von Person zu Person, eine unmittelbare Ueber-
tragung der Augenkrankheit von einem Individuum auf das
andere mit Bestimmtheit ausgeschlossen. Vielmehr ist bei der
Entstehung des Familientrachoms von Greeff sowie des
endemischen Trachoms die gemeinsame Schädlichkeit das Be¬
wohnen sumpfiger, überschwemmter Gegenden, dumpfer,
stockiger, ungedielter, am Ende gar noch mit Hausthieren,
Federvieh oder Schweinen getheilter Wohnräume oder feuchter
Kellerräume, worüber Mittheilungen vorliegen aus Irland seitens
der Miss Edgeworth, aus Frankreich von Aime Martin,
aus Ostpreussen von J. Jacobson und Hoppe, aus St. Peters¬
burg von Ger mann, aus Ungarn von Feuer etc., denen
ich eigene Beobachtungen aus Westpreussen anreihen kann.
So sagt Martin in einer allerdings etwas älteren, für manche
Trachomgegenden aber vielleicht auch heute noch zutreffenden
Schilderung: ». . . es gibt nichts Schmutzigeres und Ungesun¬
deres als die Bauernhütten in Frankreich; da leben aut dem
feuchten Boden Hühner, Enten und Schweine zusammen, der
Koth fliesst über die Thüre in die Stube, und wenn überhaupt
Fenster da sind, so gehen sie auf den Mist; in dieses morastige
Loch treten Mann und Frau des Abends ein, wenn sie er¬
müdet von der Arbeit kommen.« Jacobson sagt nach einer
drastischen Schilderung der Armenquartiere von Königsberg:
»was man in schlechten Romanen liest, wurde von der Wirk¬
lichkeit des Alten Grabens, der Schwarzen Gasse, der Grünen
Wiese etc. weit übertroffen. Die Stuben der ländlichen Arbeiter
waren ebenso niedrig, die wenige Fuss über dem Erdboden
gelegenen Fenster geschlossen, ein Ziegelherd im Zimmer, der
zugleich als Ofen diente, ein grosses Himmelbett für die Eltern
und jüngsten Kinder, ein gemüthliches Plätzchen für das
lebende Inventarium, ein junges Schwein, eine Sprosse für die
Hühner. Waschbecken und Handtuch gab es nicht.« Ich selbst
habe noch in den letzten Jahren aus einer Vorstadt von
Danzig wegen acuter eiteriger Augenentzündungen, das eine
Mal zugleich mit einer Hypopyon-Keratitis, zu verschiedenen
Zeiten mehrere bei demselben Meister einlogirte, früher augen¬
gesunde Schmiedegesellen behandelt, deren Schlafstätte von
einem unmittelbar angrenzenden Schweinestalle nur durch eine
dünne, durchlässige Bretterwand geschieden war; so auch im
Jahre 1896, zur Zeit der Niederlegung unserer Wälle, einen
mit einem alten, nun exacerbirten Trachom behafteten Menschen
gesehen, der mit 17 Genossen für fünf Pfennige die Person
in einem gerade leerstehenden Schweinekofen hingereckt über¬
nachtete. Durch derartige und ähnliche Schädlichkeiten also,
durch stundenlangen Aufenthalt in stockigen Schulzimmern,
Werkstätten, moderigen Arbeitsstuben u. dgl. entwickelt sich
eine mehr oder weniger fieberhafte, malariaähnliche Erkran¬
kung mit Eiterung der Nase, die endlich, wie auf andere Or¬
gane, so unter Umständen, wie in dem oben pag. 932 erwähnten
Falle, auch auf das Auge übergeht und zwar entweder
1. längs des Thränen-Nasencanals, ohne dass jedoch irgendwelches
Secret aus demselben und den Thränenpunkten bei Druck auf
die Thränensackgegend sich zu entleeren braucht oder gar
eine Ektasie desselben vorhanden sein muss, was ich Beides
gegenüber Nie den schon im Jahre 1895 hervorgehoben
habe, oder 2. vermittelst der schon oben genannten Gefäss-
anastomosen, und gibt als chronisch fieberhafte Erkran¬
kung, wie das auch sonst oft sich nachweisen lässt, zu einer
Keratitis und besonders auch zur Bildung der so vielfach, aber
ohne befriedigenden Erfolg besprochenen, bei Staubtrachom
wohl meistens fehlenden Follikel Veranlassung, analog der
auch auf anderen Schleimhäuten im Gefolge acuter oder chro¬
nisch - fieberhafter Infectionskrankheiten (Typhus, Tuber-
culose etc.) so oft zu beobachtenden Neubildung, beziehungs¬
weise excessiven Wucherung von Follikeln.
Bei dieser das Trachom also nicht mit Arlt an das
Puerperalfieber und den Hospitalbrand, sondern an die Malaria
anschliessenden Anschauung wäre wohl auch die relative Immuni¬
tät der Neger gegen Trachom erklärlich, insoferne als dieselben,
vielleicht in Folge ihrer leichteren und stärkeren Transspira-
tion, auf deren Unterdrückung durch Abkühlung in der Aetio-
logie des Trachoms übrigens schon Röser und Larrey
einen gewissen Werth gelegt haben, an Malaria seltener er¬
kranken, während andererseits bereits A. v. Humboldt aut
plötzliche Unterdrückung der Transspiration fieberhafte Er¬
krankungen bei Negern zurückgeführt hat; es wäre auch die
schon öfter, neuestens noch von H i rs c h b er g bervorgehobene
Seltenheit des Trachoms in Berlin wohl weniger als Beweis
einer besonders ausgebildeten Hygiene in Berlin, sondern
hauptsächlich als neuer Ausdruck der altbekannten Thatsache
anzusehen, dass Berlin aut einem der Malaria nicht günstigen
Boden, d. h. auf Sand- und Mergelboden erbaut ist.
Es ist hier der Ort, auf die Abhandlung von Professor
Feuer über das Trachom in Ungarn noch etwas näher ein-
zugehen, deren Studium durch die beigefügte, in mehrfacher
Beziehung etwas mangelhafte Karte allerdings erschwert ist. Nach
Feuer gibt es in ganz Ungarn 35.634 Trachomkranke, ein¬
schliesslich der Trachomverdächtigen, wovon nach Abzug der
Kranken des in Nordungarn gelegenen Bezirkes Trencsen-
Nyitra, der Bezirke Klausenburg-Kronstadt und des Bezirkes
Zala am Drau-Mur- Winkel, auf die Tiefebene zwischen I heiss
und Donau, das sogenannte Alföld, etwa vier Fünftel entfallen.
Nun ist Feuer der Meinung, dass dieses ganze Gebiet durch
directe Contagion von Person zu Person inficirt sei, 1. durch
gemeinsame Benützung von der Regierung gelieferter, zu
selten gewechselter und durch Trachomkranke beschmut ztei
Betten oder Plandtücher seitens der einzelnen Posten der
Militärgrenze; 2. durch gemeinsame Benützung von Hand¬
tüchern bei gewissen ländlichen Festlichkeiten; 3. durch Ver¬
mittlung polnischer (galizischer) Uhlanen, die in den I ünfziger-
oder Sechziger-Jahren dort im Alföld sich getummelt haben
und zum Theile Trachomkranke gewesen seien; 4. durch Ver¬
mittlung aus Amerika heimkehrender, trachomkranker Aus¬
wanderer. Obwohl nun dieser Modus der Uebertragung selbst-
972
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 42
verständlicher Weise in so und so viel Fällen stattgehabt
haben wird, so ist doch der Beweis, dass die ganze Endemie
in dieser Art auch nur der Regel nach wirklich entstanden
ist, meines Erachtens durchaus nicht geliefert und aus fol¬
genden Gründen auch nicht zu liefern. Wenn Feuer erklärt,
dass das Alföld theilweise zwar sandig, aber »durchaus
trocken und sumpflos, das Trachom von feuchter oder
sumpfiger Beschaffenheit des Bodens ganz unabhängig sei«
(pag. 30, 39 und 40), so stehen dem ersten Theile dieses
Satzes andere fachkundige Schilderungen über die ungarische
Tiefebene unvereinbar gegenüber. So unterscheidet der Geograph
Oppel im Alföld: 1. die höher gelegene, wasserarme und
trockene Tafelfläche bei Debreczin, Kecskemet etc., 2. die
Ueberschwemmungsgebiete der Flüsse. »Letztere«, so sagt er,
»bewegen sich durch den widerstandsunfähigen Boden trägen
Laufes, viele Inseln bildend, ohne feste Ufer, mit trübem,
schlammigem Wasser, das oft von Schilf, zuweilen von kleinen
Wäldern verdeckt wird. Nach der Schneeschmelze schwellen
die Flüsse, namentlich die Theiss, in ungewöhnlicher Weise
an und überfluthen weithin die Niederungen. Ist die Hochfluth
vorbei, so läuft nicht alles übergetretene Wasser in den be¬
treffenden Fluss zurück, sondern stellenweise stehen bleibend,
ruft es ausgedehnte Sümpfe hervor. Von solchen Morästen ist
neuerdings ein grosser Theil durch Anlegung von Dämmen
und durch Regulirung der Flussläufe zu anbaufähigem Boden
umgestaltet worden; ja, mit Beendigung der Theisscorrection
hofft man, gegen 18.000 Jan2 Ackerland zu gewinnen. Welche
Dimensionen die Hochwasser annehmen, und welche Gefahren
und Schäden sie den Ortschaften und dem Bodenbau bereiten
können, das zeigt die verheerende Ueberschwemmung vom
Jahre 1877, durch welche die jetzt wieder aufgebaute Stadt
Szegedin vom Erdboden verschwand. So bietet die grosse
Ebene an der Theiss in jeder Jahreszeit ein verschiedenes
Bild: im Frühling ist sie ein grüner Teppich, den kein Baum
beschattet; im Sommer eine heisse, ausgedorrte, staubige Fläche;
im Winter jagen furchtbare Schneestürme über dieselbe, und
zur Zeit der Schneeschmelze erscheint sie als ein Süsswasser-
und Kothmeer, wo jeder Verkehr schwierig, wenn nicht un¬
möglich ist.« Angenommen auch, diese im Jahre 1887 publi-
cirte Schilderung 0 p p e l’s sei zur Zeit der Veröffentlichung
der Arbeit Feuer’s nicht mehr zutreffend und ein grosser
Theil des Sumpf landes. der Theiss dem Ackerbau bereits zu¬
gänglich gewesen, so muss doch der bei Szegedin nur 87 m
über dem Meeresspiegel gelegene, jahrhundertelang über¬
schwemmte Boden der Tiefebene noch immer feucht und für
den Anbauer ungesund sein. Es ist ja auch, charakteristisch
genug, von den in Feuer’s Tabelle pag. 61 aufgeführten
15 ungarischen Freistädten nicht etwa die grösste, das über
eine halbe Million Einwohner zählende Budapest, sondern ge¬
rade die dem Anprall sowohl der Theiss als auch, senkrecht
darauf, der Maros ausgesetzte Stadt Szegedin sammt ihrer
Umgebung in ganz auffälliger Weise vom Trachom bevorzugt,
derart, dass auf 85.569 Einwohner daselbst 4660 Trachom¬
kranke kommen, wovon die Stadt selbst mit 8%) der Land¬
bezirk dagegen mit 92°/0 betheiligt ist, welcher letztere Um¬
stand übrigens, wie eingangs der Arbeit bereits bemerkt, für
Verbreitung der Krankheit durch den Verkehr gleichfalls nicht
spricht. Wenn ferner die frühere Militärgrenze im Allgemeinen
von Osten nach Westen verlaufen ist, so müsste, sofern
Feuer’s Anschauung zutreffend wäre, die Endemie offenbar
doch annähernd dieselbe Richtung haben, während nach
F cue r’s eigenen Zahlen die der Militärgrenze viel näher ge¬
legenen Städte Fiume, Neusatz, Zombor, Fünfkirchen, Pancsova,
Temesvar und Weisskirchen vom Trachom fast gänzlich frei
sind und die Endemie, von Süden nach Noiden verlaufend,
hauptsächlich um Zenta, Szegedin, Szentes, Vasärhely u. a. im
Stromgebiete der Theiss und besonders nahe dem Zusammen¬
flüsse derselben mit dem Maros gelegene Städte sich centra-
lisirt. Aehnliches mag auch bezüglich des bekanntlich gleich¬
falls oft überschwemmten Drau-Mur- Winkels (Zala) gelten,
vielleicht selbst für Ueberschwemmungen seitens der Aluta im
Comitate Brasso (Kronstadt) und seitens der Waag im Comi¬
tate Trencsen. Wenn ferner die Endemie im Jahre 1883 im
Comitate Torontal an der Theiss durch einen Gerichtspräsi¬
denten »entdeckt« worden ist, so würde das mit jener furcht¬
baren Ueberschwemmung Ende der Siebziger- Jahre gut ver¬
einbar sein, deren Wirkungen auf die Wohnungen und die
Augen natürlich erst allmälig sich geltend gemacht haben.
Aber selbst wenn man die auf so unsicherem Boden auf¬
gebaute, wohl sehr einseitige Anschauung von Feuer gelten
Hesse und trotz der verhältnissmässig kleinen Zahl der durch
jene Uhlanen seiner Angabe nach wirklich oder doch mit so
und so grosser Wahrscheinlichkeit provocirten 142 Er¬
krankungen in dem an der Donau gelegenen Bezirke
Kalocsa, woselbst auf grösseren Karten übrigens gleich¬
falls Sumpfstriche verzeichnet sind, die Uhlanen thatsächlich
und schlankweg als Infectionsträger für einen grossen Theil
der Ebene erklären würde, dann muss doch immer wieder
gefragt werden, wo die denn ihr Trachom her gehabt haben,
und man wird dann schliesslich immer wieder auf Sumpfgegenden,
dann allerdings die von Galizien, recurriren müssen. Was
endlich noch die Zigeuner betrifft, die nach Feuer vom
Trachom desshalb frei sein sollen, weil sie Verkehr mit anderen
Personen nicht haben und ein gemeinsames Handtuch nicht
besitzen, so scheint die Immunität derselben auf ihr nomadi-
sirendes Leben, ihren vielen Aufenthalt im Freien doch viel
einfacher und natürlicher zurückzuführen zu sein; ausserdem
ist ja nach Jacobson und Lewko witsch das massen¬
hafte Vorkommen von Trachom, sowohl auf dem Lande in
Ostpreussen als auch bei den Kaffern, trotz des Mangels jed¬
weder Handtücher bereits erwähnt worden. Die Ueberschätzung
dieses Umstandes gibt wieder einen neuen Beweis für die
Richtigkeit eines Wortes A. v. H u m b o 1 d t’s, dass in der
Medicin dieselben Thatsachen zu Stützen der entgegen¬
gesetztesten Anschauungen werden und ehe alle die hier vor¬
gebrachten Bedenken und Thatsachen von Prof. Feuer ent¬
kräftet sind, kann eine so weit verbreitete Endemie, wie die
des Trachoms in Ungarn, nicht auf ein paar schmutzige Hand¬
tücher, sondern ihrer Hauptsache nach nur auf elementare
Ereignisse und tellurische Bedingungen zurückgeführt werden.
Selbstverständlicher Weise sind auch in alter Zeit der¬
artige Sumpfgebiete vorhanden gewesen, und wenn es Hirsch¬
berg kürzlich wahrscheinlich gemacht hat, dass auch im
griechischen und römischen Alterthume Trachom oder trachom¬
ähnliche Erkrankungen häufiger gewesen sind, als man bisher
angenommen hat, und dass insbesondere für das häufige Auf¬
treten von Augenkrankheiten im peloponnesisehen Kriege zur
Zeit der Belagerung Athens das dichte Zusammendrängen der
Menschen bedeutungsvoll gewesen sei, so wird das umso wahr¬
scheinlicher, als die Vorstadt Piräus ursprünglich ein Sumpfgebiet
war. Uebrigens weist auch die Bestimmung in den Gesetzen des
Solon, dass, wer einen Einäugigen seines Auges beraube, einer
besonders schweren Strafe verfalle, auf eine gewisse Häufig¬
keit zum Verluste eines Auges führender Krankheiten schon
in jener Zeit vielleicht hin. Weitere derartige, wegen ihrer
Ausdünstungen zum Theile auch gefürchtete Sumpfgegenden
waren, um nur Einiges zu nennen, in Griechenland die Strand¬
seen bei Elis, die Siele bei Argos, das Ueberschwemmungs-
gebiet des Melas bei Orchomenos mit dem Sumpfe Copais, die
Sümpfe am Achelous, in Aetolien und Thessalien, am Spercheos,
bei Olynth und Pella, Sümpfe an einer der sieben Mündungen
der Donau (Tacitus), am Hypanis (Bug) und Asow’schen
Meere, die von Hippokrates erwähnte sumpfige Niederung
des Phasis in Kolchis, Sumpfgebiete in Armenien (Plutarch)
und am Araxes, von dessen 40 Mündungen nach Herodot
nur eine nicht sumpfig war, ferner ein Stadttheil von Ephesus,
der Serbonische Sumpf bei Pelusium, eine Einsenkung zwischen
der östlichen Vorstadt und dem übrigen Theile von Alexan¬
drien, Sümpfe bei Syracus, auf Sardinien, im Thale des Arno,
die Pomptinischen Sümpfe, die von Minturnae, die »rotten
fens« von Veliträ, einige, zum Theile allerdings schon durch
die Entwässerungsbauten der Tarquinier entsumpfte Gegenden
von Rom, wie das Forum; hieher gehören auch die vielfachen
Ueberschwemmungen Roms vornehmlich unter Augustus und
in ungewöhnlich heftigem Grade unter Otho, wobei der grösste
Theil der Stadt unter Wasser gesetzt wurde; weiter ausgedehnte
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
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Sumpfgegenden in Gallien (Paris, Bourges etc.) und Germanien
»aut sil vis horrida aut paludibus foeda«, besonders auch in
der Gegend der Schelde, endlich im Lande der Fenni, der
»Sumpfbewohner«, so dass also Gelegenheit zur Entstehung
von Trachom an und für sich in vollem Masse vorhanden ge¬
wesen ist. Wenn trotzdem Endemien von Augenkrankheiten
nirgends, ausser in Aegypten damals registrirt worden sind,
so ist das dadurch zu erklären, dass:
1. manche Völker der damaligen Zeit, besonders auch
viele Stämme der Germanen ein Nomadenleben führten und
einen festen Besitz nicht hatten oder wie die Finnen, weder
Wohnung noch Zelt besassen;
2. Germanen und andere Völker getrennt wohnten »ut
fons, ut campus, ut nemus placuit«, wie auch die einzelnen
Häuser in Babylon mit Gärten umgeben und der frischen
Luft so zugänglicher waren (Q. C u r t i u s);
3. feste Städte weder in Germanien noch Britannien
noch Helvetien etc. bestanden, sondern in Kriegsnöthen man
in befestigte Wälder oder Sumpfgegenden vorübergehend
sich zurückzog, wie die Indianer von Nordamerika das nach
Washington Irving noch vor 50 Jahren thaten ;
4. an manchen Orten, wie zu Ravenna, im Sumpfsee
Prasias in Thracien, am Phasis in Kolchis und anderwärts
Pfahlbauten bestanden ;
5. oft genug wohl auch die Ursache der Krankheit ver¬
kannt worden sein mag, wie das ja auch noch heute nicht
selten der Fall ist.
Mancherlei Vorkehrungen gegen derartige Schäden
wurden allerdings auch schon damals getroffen, so das Aus¬
baggern und Verbreitern des Bettes des Tiber unter Augustus
(S u e t o n), der Canäle des Nil, dessen nach dem Rothen
Meere führender Verbindungscanal zum letzten Male im Jahre
648 n. Chr. unter dem Kalifen Amru gereinigt worden ist,
während auch die bisher noch immer gescheiterte Trocken¬
legung der, beim Wehen des Südwindes Fieberdünste nach
Rom entsendenden Pomptinischen Sümpfe bereits von J. Cäsar
geplant wurde.
3 a). Die dem Auge so vielfach, auch in der im Vorher¬
gehenden geschilderten Weise verderblichen Malaria könnte
natürlich auch durch das Trinkwasser (Roe u. A.) erworben
sein und nach Erfahrungen, die ich über Afrikafieber in Ale¬
xandrien zum Theil an eigener Person gemacht, habe ich
auf diesen Modus schon vor 14 Jahren eingehend hingewiesen,
in einem die Aetiologie der Nilkrätze und Nilbeule be¬
handelnden Artikel erwähnt, dass ich von einem so¬
genannten Acclimatisationsfieber, Unbehagen, Abgeschlagenheit
und Magen- Darmkatarrh im April 1880 befallen, schon bald
feststellen konnte, dass es nicht um die Einwirkung des Klimas
sich handelte, sondern um die Folgen des Genusses mangelhaft
oder gar nicht filtrir ten Wassers oder mit solchem bereiteter,
in den öffentlichen Localen, auf dem Consulplatz und ander¬
wärts verabfolgter Getränke, wie Limonade, Kaffee, Soda¬
wasser u. dgl. und habe dort auch die plastische Schilderung
von K 1 u n z i n g e r gelegentlich seiner Nilfahrt angeführt, wo¬
selbst es heisst: »Ehe wir den Krug an den Mund setzen,
drängen sich allerlei Bedenken auf ; das Wasser ist trübe,
lehmig, wir haben unter dem Mikroskop schon niedliche
Thierchen, Krebschen und Würmchen darin entdeckt, wir
haben Vieh sich baden, Menschen ihren Leib und Kleider
oberhalb des Schiffes waschen und verschiedene Stoffe ablagern
sehen. Dort treibt ein Ochsencadaver fort, auf dem ein Rabe
pickend steht, und solche Mischungen hat das Stromwasser
schon aus seinem ganzen grossen Hinterlande aufgenommen;
eine Mixtur vom Unrath ganz Nordafrikas, die sollen wir
trinken« ! 5) »Diese Schilderung«, so fuhr ich fort, »ist nicht über¬
trieben: in seinem lang dahingestreckten Laufe ist der Nil ein
bequemer Ablagerungsplatz für alles Entbehrliche und Ab¬
gängige. Natürlich ist für die nahe den Mündungen des Nils
gelegenen Städte, wie Alexandrien, diese Mixtur vom Unrath
ganz Nordafrikas noch concentrirter, als für die weiter ober¬
halb gelegenen Städte und Ortschaften. Die sogenannte Selbst¬
reinigung der Flüsse ist für Alexandrien jedenfalls nicht sehr
bedeutungsvoll. Das Nilwasser, welches Alexandrien durch den
Mahmudich-Canal empfängt und welches von einer Central¬
stelle aus durch ein Röhrensystem in die einzelnen Häuser
hineingeleitet wird, ohne irgend einer Reinigung durch Sand¬
beete oder dergleichen zuvor unterworfen zu werden, zeigt in
jeder der Leitung entnommenen Probe bei Zusatz von über¬
mangansaurem Kali ‘einen äusserst reichlichen Niederschlag
von organischen Substanzen. Wenn derselbe auch bei flachem
Wasserstande des Nil reichlicher ist, so überschreitet er doch
auch bei hohem Wasserstande das Normale stets in erheblichem
Grade. Auch wenn das Wasser durch die bekannten Thon¬
filter filtrirt worden, ist die Menge des Niederschlages noch
immer eine sehr grosse. Es ist wohl von Interesse, dass der
arabische Volkskalender unter zahlreichen anderen sanitären
Vorschriften auch die enthält, dass man von Mitte Juni ab
15 Tage lang Wasser aus dem Nil nicht trinken soll. Zu
dieser Zeit wird nämlich durch das Austreten des Nil der
ganze Schlammgehalt seines Flussbettes aufgerührt und in Cir¬
culation versetzt. Es dauert mehrere Wochen, bis das Nil¬
wasser wieder klar geworden ist. Der wohlsituirte Theil der
Bevölkerung trinkt zu dieser Zeit nur ausländische, besonders
französische Mineralwässer, während weniger Bemittelte auf
das Nilwasser natürlich angewiesen bleiben. ... Es müsste
daher das Vermeiden von unreinem Trinkwasser genügen, um
das Zustandekommen sowohl vieler sonstiger Erkrankungen,
als auch jener Hautleiden zu verhüten. Da aus geographischen
Gründen die Möglichkeit nicht vorhanden ist, die Städte und
Ortschaften des Nillandes mit anderem Wasser, besonders mit
Quellwasser zu versorgen, so wäre es dann noth wen dig,
1. durch entsprechende hygienische Einrichtungen und Erlässe
der Regierung die fortdauernde Verunreinigung des Landes¬
stromes zu verhüten, sowie 2. durch öffentliche Belehrung auf
die Schädlichkeit des Genusses von nicht gekochtem Nilwasser
und der mit solchem bereiteten Getränke nachdrücklich hin¬
zuweisen. ... In privaten Kreisen, in meiner Praxis, habe ich
bei der Indolenz nicht nur der Eingeborenen, sondern auch
des grössten Theiles der eingewanderten Bevölkerung mit einem
derartigen Hinweise allerdings nicht viel Glück gehabt, und
man liebt da mit dem stolzen Worte der Aegypter zu ent¬
gegnen, dass das Nilwasser das beste Wasser der Welt sei,
und dass, wer Nilwasser getrunken, die Heimat vergesse.
Mir schien es zwar manchmal, dass das letztere Wort oft eher
in dem Sinne des Home r zu verstehen sei, ,er starb und
vergass die Heimkehr'.« c)
Vier Jahre später hat Hirschberg, ohne auf Obiges
Bezug zu nehmen, dem Wasser des ehemaligen und heutigen
Aegypten eine längere Darstellung gewidmet, die mit den
Worten schliesst, dass durch unreines Trinkwasser die meisten
in Aegypten häufigen Krankheiten einverleibt werden und
dass noch zu untersuchen sei, ob unreines Nilwasser die Keime
auch der granulösen Augenentzündung enthält, da Trachom
in hervorragender Weise eine Krankheit der Flussniederungen
und Marschen sei . . ., wozu dann noch Folgendes hinzugefügt
wird :» . . .nicht die allgemeinen Schädlichkeiten, Hitze, Wüsten¬
staub, Ausdünstung des Nil, sind Ursachen des Trachoms,
sondern directe Uebertragung der specifischen Keime. Die
Hauptvorsicht besteht darin, das Auge nicht mit ägyptischen
Dingen, Nil wasser und Handtuch, auszuwaschen, sondern
europäische Sachen dazu mitzubringen, z. B. sterilisirte V er-
bandwatte .... oder wenigstens reine, in Europa gewaschene
Taschentücher und dünne, sterilisirte Zinklösung oder gekochtes
Wasser zum Auswaschen der Augen zu verwenden. Die Noth-
wendigkeit des Auswaschens ist in dem staubigen Aegypten,
wenigstens nach Ausflügen, reichlich vorhanden.«
Abgesehen von der Unmöglichkeit für dort ansässige
Europäer, die natürlich ebenfalls an Ophthalmie erkranken
können — ich habe deren selbst behandelt — , das Auge nicht
mit »ägyptischen Dingen«, in Aegypten gewaschenen laschen-
tüchern u. dgl. zu berühren, bemerke ich hiezu folgendes:
6) Ueber Nilkrätze und Nilbeulen. Allgemeine medicinische Central¬
zeitung. 1886, Nr. 4; vgl. auch: Deutsche medicinische Wochenschrift.
1892, Nr. 38.
5) Klu nzinger, Bilder aus Oberägypten. 1877.
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Nr. 42
Der Gedanke von Hirschberg, die Augenkrankheiten mit
dem Wasser in Verbindung zu bringen, ist wohl richtig, doch
dürfte die Ophthalmie in Aegypten auf dem von Hi r sc li¬
ber g angedeuteten Wege, sozusagen dem letzten Ausflusse
der rein contagionistischen Anschauung, d. h. durch Auswaschen
der Augen mit unreinem Nilwasser wohl nur selten zu Stande
kommen: unmöglich freilich wäre dieser Modus nicht, da noch
in den letzten Wochen schwerere eiterige,' trachomähnliche Ent¬
zündungen der Bindehaut durch Ansteckung im Schwimm¬
bassin einer öffentlichen Badeanstalt in Berlin beobachtet
worden sind. Ich glaube jedoch, so auffallend dies auch zunächst
erscheint, dass hier vielmehr der Gebrauch des Nilwassers als
T r i n k w a s s e r anzuschuldigen ist. Denn dem Ausbruche der
O p h t h a 1 m i e in Aegypten gehen fieberhafte, mit Schnupfen ver¬
bundene Erkrankungen oftvoraus. welche entweder auf dem Wege
der Inhalation durch die Nase, oder aber vermittelst des Trink¬
wassers zu Stande kommen, im letzteren Falle auf das Auge
dann sich besonders localisirend, wenn Staubkatarrhe oder eine
Störung der Circulation im Gebiete des Auges durch Nasen¬
katarrhe schon vorhanden sind. Die Combination schwerer
Eiterung der Augen wie der Nase ist auch in Aegypten nicht
selten und ich habe selbst ziemlich viel Augenkranke dort
auch an gleichzeitigen Nasenleiden behandelt, allerdings in
einer heute mir nicht mehr richtig erscheinenden Weise:
1. durch Blutentziehung in der Nase, was vielleicht das Beste
meiner damaligen Massregeln der Art war, 2. durch Inhalation
von Dämpfen, was ich jetzt seit vielen Jahren nicht mehr
anwende, während 3. die so wichtigen Ausspritzungen der
Nase damals nur selten und in Ermangelung geeigneter
Apparate nur in einer durchaus primitiven und ungenügenden
Art von mir vorgenommen worden sind. Wodurch diese
fieberhaften Nasenkrankheiten im Einzelnen bedingt waren,
muss ich in Ermangelung verlässlicher Notizen dahingestellt
sein lassen: es können hier sowohl, was nach Hirschberg
schon Lane erwähnt hat, Ausdünstungen des Bodens nach
den ausgedehnten Ueberschwemmungen in Betracht kommen,
während welcher ja viele Dörfer der Fellachen nur durch
Dämme mit einander verbunden oder auf Verkehr durch
Barken angewiesen sind, als auch, für Alexandrien, schäd¬
liche, auch von Hirschberg berührte Ausdünstungen des
nahe gelegenen Maryut-Sees oder anderes der Art, doch muss
es weiteren Nachforschungen überlassen bleiben, das im Ein¬
zelnen klar zu legen. Das Trinkwasser jedoch dürfte gewiss
eine Rolle in der Entstehung auch von Augenkrankheiten
spielen, und wenn mit Prosper A 1 p i n u s, Rust, A r 1 1,
Hirsch b erg und Anderen angenommen wird, dass der Zu¬
stand der Augen in Aegypten heute ein viel schlechterer ist
als er im Alterthume gewesen, so muss eine wesentliche
Schuld daran wohl dem Trinkwasser, beziehungsweise der Jahr¬
hunderte lang fortgesetzten Verunreinigung des Nils zugetheilt
werden, obschon im Gegensätze zu den Persern, denen Ver¬
unreinigung ihrer Flüsse durch Hineinspucken, Uriniren,
Baden u. dgl. von ihrer Religion verboten war, allerdings
auch die alten Aegypter, so reinlich sie sonst gewesen sein
mögen, durch Hineinwerfen todter Kühe, Baden und Anderes
(Herodot) den Fluss verunreinigt, zur Zeit des Hero dot
das Trinkwasser auch nicht abgekocht haben, denn sonst hätte
er es erwähnt, ebenso wie er auch das Abkochen des zum
Gebrauche des Perserkönigs bestimmten, auf allen Expeditionen
für denselben mitgeführten Wassers des Flusses Choaspes aus¬
drücklich erwähnt hat. Würde durch Verhinderung weiterer
\ erunreinigung des Flusses, durch Anlegen, wenn möglich,
von Rieselfeldern bei Kairo und den grösseren Städten des
Delta, durch Gebrauch nur gekochten Trinkwassers — da
nämlich die Brunnen des ehemals vom Meere bedeckten
Aegypten (Herodot) schon zur Zeit des Sesostris nur
brackiges Wasser lieferten (Herodot, Plutarch) und trotz
des Auffindens von süssen Quellen am Boden anderer Meere,
wie des persischen, vielleicht auch heute nur brackiges Wasser
liefern würden; würde also bei diesen Massregeln und bei
Gebrauch nur gekochten Trinkwassers ein grosser Theil der
Fieber und Augenkrankheiten in Aegypten allenfalls nicht
verschwinden und deren Entstehung durch Dünste von den
Ueberschwemmungsgebieten her also wahrscheinlich sein, so
wäre zur Verhütung von Krankheiten offenbar nichts Anderes
möglich, als durch Erbauen von Dämmen und Anlegen von
Canälen das jährliche Ueberschwemmen des Landes zu
hindern, in derselben Art, wie einst durch Sem ir am is die
sonst immer eintretende Ueberschwemmung von Babylonien
durch Canalbauten, ohne Verminderung der Fruchtbarkeit des
Landes, beseitigt worden ist (Herodot).
Zu Gunsten der hier dargelegten Anschauung dürfte
auch sprechen, dass die das Trachom anderwärts so oft be¬
gleitende Malaria in Oberägypten, wo Trachom viel seltener
wird, gleichfalls selten ist (K 1 u n z i n g e r). Die Annahme von
G ermann, Trachom in Aegypten entstehe dadurch, dass
mittelst der den Dung von Thieren als Feuerungsmaterial
sammelnden Hände die Augen in ficirt würden, scheint kaum
zutreffend, übrigens hat diese Gepflogenheit schon zu Hero-
dot’s Zeit bestanden; ebensowenig wahrscheinlich ist die von
R. Koch und Virchow angenommene, aber bereits von
Hirsch be rg angezweifelte Uebertragung der Krankheit durch
Fliegen, besonders auch im Hinblicke darauf, dass in anderen
trachomreichen Ländern ein derartiges Moment nicht vor¬
handen ist und wenn wirklich Fliegen oder andere Insecten
Tiäger der Krankheit in Aegypten wären, so könnte an und
für sich auch dann noch an Uebertragung zunächst eines
fieberhaften Processes gedacht werden, entsprechend der wohl
nicht mehr hypothetischen Uebertragung der Malaria auch
durch Insectenstiche. (Berliner klinische Wochenschrift. 1900,
Nr. 41, pag. 924.)
Sind die vorhergehenden Darlegungen zutreffend, so
müssen sie natürlich auch auf das therapeutische Verfahren
und die Prophylaxe bei Trachom von Einfluss sein. Vor Allem
werden dann die jetzt so vielfach beliebten, eingreifenden, an¬
geblich radicalen Operationen am Auge erheblich einzuschränken
sein. Thatsächlich ist die Excision der Uebergangsfalten und
selbst des Lidknorpels durchaus kein radicales Verfahren, denn
dann hätten, abgesehen von den durch mich selbst festgestellten,
bereits erwähnten Rückfällen, nicht schon jetzt, nach ver-
hältnissmässig so kurzer Uebung des Verfahrens laut Hirsch-
berg’s und Greeff’s Berichten in Ost- und Westpreussen in
über 50% dei’ operirten Fälle Recidive gefunden werden
können, und zwar, wie in einer Beobachtung G reeff’s, selbst
dann, wenn von dem Conjunct! valsacke nicht so viel zurück-
gelassen war, dass auch nur ein Stückchen eines Streich¬
hölzchens da hätte hineingelegt werden können. Auch Hoppe
hat in einem Falle trotz vorausgegangener ausgiebiger Ex¬
cision massenhafte Follikel auf dem Reste der Bindehaut und
einen mächtigen ulcerirten Pannus gesehen, einen ebensolchen
bei einem jungen Mädchen derselben Familie, trotzdem die
Conjunctiva des Oberlides in mehreren Sitzungen mittelst Ex¬
cision ausgerottet und der Tarsus bis auf einen kaum 1 mm
breiten Streifen entfernt war, und auf diesem Reste sass Korn
bei Korn. Auch ein so erfahrener, in einem richtigen Trachom-
lande lebender Fachmann wie Prof. Raehlmann in Dorpat
verhält sich unter eingehender Begründung und mit Rücksicht:
1. auf üble, von ihm gemachte Erfahrungen bei Kranken
anderer Aerzte, 2. auf viele in friedlicher Weise zu erzielende
Erfolge ablehnend gegen diese Operation ; ebensowenig ist
Neese in Kiew davon begeistert im Hinblicke auf: 1. viel¬
fache Rückfälle, 2. eine hiernach erst recht auftretende Neigung
zur Lidverkrümmung, 3. eine verhältnissmässige Häufigkeit
der Xerose hiernach. Wahrscheinlich sind alle derartigen Ein¬
griffe, wie ich schon vor sieben Jahren erklärt habe, von nur
symptomatischer Bedeutung; bei der Excision der Wuche¬
rungen und des Knorpels, dem Ausquetschen der Follikel
mittelst der Knapp’schen Pincette und ähnlichen Eingriffen
beseitigt man eben nur die Folgen der chronischen Einwirkung
eines entweder staubförmigen Irritainentes bei Staubtrachom
oder eines organisirten Irritainentes bei Sumpftrachom, während
doch der erstere Zweck nach dem »cessante causa cessat
effectus«, auch in viel einfacherer, wohl ebenso wirksamer
Weise oft hätte erreicht werden können, im zweiten Falle aber
das Irritament entweder in der Nase und ihren Nebenhöhlen
975
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
oder im Blute weiter persistirt und nach kurzer Zeit auf das
Auge von Neuem sich localisirt. Das Ausquetschen der Follikel
insbesondere, von welchem auch G ree ff, Feuei u. A. eine
dauernde Heilung nicht erwarten, scheint ein ähnliches Ver¬
fahren zu sein, als wenn man bei Typhus oder Tuberculose
geschwollene Follikel der Darmhaut oder einer anderen Schleim¬
haut exstirpiren oder ausquetschen, das krank machende Agens
jedoch auf das Blut oder den Körper überhaupt ruhig weiter
einwirken lassen würde, oder als wenu man, was eine Zeit
lang ja gemacht wurde, die durch Naseneiterung bedingten
lymphoiden Granulationen der Rachenschleimhaut mittelst des
Galvanokauters oder in ähnlicher Weise Stück für Stück zer¬
stört, um sie, ohne gleichzeitige Behandlung der Nase, nach
so und so kurzer Zeit in der allernächsten Nachbarschaft ebenso
üppig wieder auftauchen zu sehen. Die Excision der Ueber¬
gangsfalten und des Lidknorpels hat wahrscheinlich nur die
Bedeutung einer intensiven Blutentziehung, intensiver natürlich
als Scarificationen der Uebergangsfalten.
Abgesehen von derartigen, zeitweilig auch von mir vor¬
genommenen Scarificationen habe ich meinerseits eines mehr
friedlichen und diätetischen Verfahrens in der Behandlung
des Trachoms mich bedient, regelmässige Ausspülungen
des Bindehautsackes, der, wie erwähnt, sehr oft eiternden
Nase, beziehungsweise der Nebenhöhlen und des Nasen-
Rachenraumes mit Salzvvasser angewendet, in einer Reihe
von Fällen, wo kühlende, stetig und allmälig ein wirkende
Applicationen mir angezeigt schienen, saftreiche, feingeriebene,
in Gaze eingehüllte Mohrrüben oder ähnliche Substanzen aut
die geschlossenen Lider auflegen lassen, jedoch bald gefunden,
dass w a r m e. erweichende Applicationen mittelst Hafer¬
flocken u. dgl. oft viel wohlthätiger und wirksamer sind, die
bei gleichzeitiger Erkrankung, Vascular isation oder gar Ulce¬
ration der Hornhaut oder Schwellung der Haut der Lider
natürlich ausschliesslich in Frage kommen, während ein hiebei
nicht selten vorhandener, zum Schaden des Kranken jedoch
oft übersehener, besonders auch zum Ulceriren der Hornhaut,
Prolaps der Iris etc. führender, mehr oder weniger ausgespro¬
chener fieberhafter Zustaud auch noch oftmaliges reich¬
liches Trinken tagsüber und Abends von reinem, lauem oder
warmem Wasser erfordert, sofern nicht eigentliche Schwitz-
curen mit saurem, heissem Citronen wasser oder Fliederthee
angezeigt sind. Manchmal habe ich auch Abreibungen der ge¬
schwollenen und mit Körnern durchsetzten Uebergangsfalten
mittelst kleiner Stücke des Lufahschwammes der Aegypter
vorgenommen, nachdem derselbe in einfachem oder sodahaltigem
Wasser etwas erweicht war, analog der Verwendung desselben
zum Abreiben von Warzen der Gesichtshaut (Ziem 1889)
oder der Wundgranulationen (Billroth), ein allerdings viel
weniger als mineralische Frottirmittel verletzendes, jedoch auch
nicht immer gleichmässig gute Resultate ergebendes Verfahren,
das natürlich kühlende Applicationen hinterher erfordert. Sehr
wichtig zur Ableitung von Anschoppungen im hinteren Theile
der Nase und im Nasen-Rachenraume ist ferner die Application
von Drouo t’schen Pflastern, natürlich nicht in der Regio
mastoidea überhaupt, als vielmehr, weil nur dann aul jene
Gefässgebiete einwirkend, dicht und unmittelbar hinter dem
Ohre, in der Fovea retrolobularis (Ziem 1892 7), und es sei
hier auch erwähnt, dass nach Hirschberg bereits Hippo-
krates nach dem Aetzen oder Abschaben der Bindehaut
über dem Seitenwandbein des Scheitels einen Schnitt gemacht
hat, offenbar zur Unterstützung der örtlichen Behandlung und
um durch die resultirende Blutung eine secundäre Entlastung
auch der geschwollenen Blutgefässe im Gebiete des Auge3,
und so eine andauerndere Heilung zu erzielen. Auf die in der
Behandlung sehr vieler Augen- und Nasenkrankheiten ausser¬
ordentlich wichtige Bedeutung frischer reiner Luft, auch Nachts,
durch möglichst ausgiebige Lüftung der Wohnungen, aut die
Schädlichkeit des Staubes und Dunstes, des Ammoniaks in
Gasanstalten, des Theer- und Terpentindunstes u. dgl. habe
ich meine Kranken immer hingewiesen, in der guten Jahres¬
zeit auch manche derselben in unseren benachbarten Wäldern,
vornehmlich in solchen mit gemischtem, kieferreichem Bestände,
1) Monatsschrift für Ohrenheilkunde. 1892, pag. 160.
wie bei Heubude oder im Pelonker Walde, tagsüber stunden¬
lang sich aufhalten lassen und in verschiedenen Fällen sehr
auffällige Erfolge hievon gesehen. Von grosser, aber noch kaum
gewürdigter Wichtigkeit ist ferner das die natürliche Function
der Kopfhaare, Wärmeregulirung vereitelnde und Schnupten-
anfälle so oft hervorrufende oder verstärkende Benetzen der¬
selben mit Wasser-Morgens beim Waschen, sowie das für Auge
und Nase oft in so auffallender Weise schädliche Abschneiden
und besonders, wie in Aegypten, das widersinnige Abrasiren
derselben zu untersagen, auf Warmhalten der Füsse durch
kurz dauernde, anfangs nur momentan einwirkende kühle oder
kalte Fussbäder (J ohnLoc k e, 1692) und Tragen von Gummi¬
schuhen bei Regen- oder Schneewetter, sowie auf das Ver¬
meiden von jedem Alkohol nachdrücklich hinzuwirken.
In dieser einfachen Weise erlangt man bei in etwas
besseren Verhältnissen lebenden Personen, Mitgliedern von
Krankencassen u. dgl. oft, wenn auch keine volle Heilung, so
doch gute Resultate mit Beseitigung der Eiterung, der Schmerz¬
haftigkeit und Spannung der Augen und schneller Wieder¬
herstellung der Arbeitsfähigkeit, während unter den kümmer¬
lichen Verhältnissen eines in dumpfen Kellerlöchern, ungedielten
Lehmhütten u. dgl. mit dem Vieh zusammen hausenden Prole¬
tariats klinische Behandlung natürlicher Weise erforderlich wird, als
deren beste, im Gegensätze zu dem bisherigen Cumulirungssystem
sogenannter, manchmal mehr als ärztliche Gast- und Logirhäuser,
Karawansereien anzusehender »Kliniken« oder »Privatkliniken«,
die auch bei epidemischen Augenkrankheiten bereits vorDecennien
bewährte Baraken- oder Zeltbehandlung hoffentlich bald all¬
gemein anerkannt und eingeführt sein wird; für unsere Gegend
insbesondere dürfte sich eine derartige Einrichtung vornehm¬
lich in Heubude, einigen Theilen des Pelonker Waldes, auf
der Höhe am Goldkruge oder bei Grenzlau empfehlen, und
unter derartig besseren, die Heilung ausserordentlich be¬
günstigenden und beschleunigenden Aussenverhältnissen dürften
eingreifendere Operationen am Auge viel seltener nothwendig
werden. Für viele militärpflichtige, mit Granulationen bei ge¬
ringer oder ganz fehlender Secretion der Schleimhaut behattete,
mit guter Sehkraft begabte Personen wäre es vielleicht das
Beste, sie in die Marine einzustellen, im Hinblicke auf: 1.
die schon durch 0 e 1 1 i n g e n und v. Himmelstirn hervor¬
gehobene Seltenheit des Trachoms an der Meeresküste und die
schon jedem Laien so auffällige Klarheit der Augen unserer
Fischer am Strande von Adlershorst, Heia und anderwärts;
2. die nach Hirschber g’s Angabe bereits von P rune r,
dem erfahrenen Kenner des Trachoms von Aegypten, und
mit Recht, behauptete Nichtansteckungsfähigkeit der Granu¬
lationen an und für sich; 8. die oft, allerdings nicht immer,
sehr günstige Einwirkung der Seeluft aut eiterige Katarrhe.
Mit der Sorge für den Einzelnen und der Behandlung
der ausgesprochenen Krankheit müssen wir jedoch, wie
übrigens, was sonderbarer Weise kaum erwähnt wird, zum
Theile schon J. Jacobson klar erkannt und dargelegt hat,
uns nicht begnügen, und wir müssen auch sowohl gegen
Rückfälle als vornehmlich auch gegen die Entstehung der
Krankheit Fürsorge zu treffen suchen. In erster Linie ist hier
Belehrung der grossen Massen (auch der Jugend in den
Schulen) über die Bedeutung gesunder, trockener Wohnungen
und Arbeitsräume, sowie der Reinlichkeit im weitesten Sinne
zu nennen. Bei Massenerkrankungen in SchuleD u. dgl. ist
eine gründliche, sachverständige Untersuchung auch der
Räume auf Feuchtigkeit der Wände, auf Provenienz und Be¬
schaffenheit der bei Warmwasserheizung aspirirten, Fieber¬
dünste manchmal enthaltenden Luft unter Anderem ebenso
wichtig als die Untersuchung der Augen der einzelnen
Schüler, wird aber, wie ich aus Erfahrung weiss, zuweilen
noch gänzlich vernachlässigt3); bei derartigen Schuluntersuchungen
8) Auch in einem in der hiesigen Naturforschenden Gesellschaft
Anfangs Mai d. J. gehaltenen Vortrage über die Granulöse in den Schulen
von Danzig findet sich keine Notiz über die Beschaffenheit der betrenenc en
Schulräume (cfr. den Bericht der Danziger N. Nachrichten vom 5. Mai), und
doch ist der geringe Erfolg der ärztlichen Behandlung gerade in der Volks¬
schule der Vorstadt Langfuhr auf die schon von aussen sehr wenig ein¬
ladende Beschaffenheit des dortigen Schullocals, ' zum Tbeil wenigstens,
vielleicht zu beziehen, das an einem Abhange gelegen, in jedem Frühjahre
976
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 42
müssen übrigens künftig auch die Nasen augenkranker Kinder
sachverständig untersucht und zur Abkürzung der »augen-
specialistischen« Behandlung mitbehandelt werden, wenn die
nöthige Einsicht den betreffenden * Augenspecialisten« selbst
erst aufgedämmert und die nüthige Kenntniss zugewachsen sein
wird. Auch die Beschaffenheit der, vornehmlich in der Con-
fectionsbranche, oft sehr überfüllten Arbeitsstuben, sowie der
vielfach noch, vornehmlich in Danzig, in ganz ungenügender
und primitiver Weise ventilirten Fabrikräume müsste einer
staatlichen Beaufsichtigung unterliegen und von Gewerbe- und
Betriebsinspectoren öfter und gründlicher als bisher überwacht
werden. Wenn es ferner im wohlverstandenen, gemeinsamen
Interesse Aller schon in alten Zeiten, so in Niniveh um
1800 v. Chr., im alten Tyrus (Josephus), in Jerusalem um
750 v. Chr. zur Zeit des Hiskia, in Rom um 500 v. Chr.
möglich gewesen ist, durch Anlegen von Wasserleitungen,
öffentlicher Bäder und anderer gemeinnütziger Einrichtungen
auf öffentliche Kosten auch den Aermsten gesundes Trink¬
wasser und andere Vortheile zu verschaffen: so muss Aehn-
liches doch auch in der Wohnungsfrage möglich sein, nicht
nur durch das schon in der Mitte dieses Jahrhunderts von dem
französischen Arzte Eugene Sue befürwortete, jetzt mehr
und mehr durchgreifende Princip, Arbeitercolonien nahe
grossen Fabriken anzulegen, nicht nur, wie bei den preussi-
schen Staatsbahnen, durch Schaffung von Wohnungen für die
Bahnbeamten, sondern auch durch Schaffung staatlicher oder
städtischer, in ihrer Bauart abgestufter, vor Allem jedoch
gesunder, trocken gelegener Colonien in der Peripherie
grosser Städte oder auf dem Lande, die kleinen Leuten oder
den Armen der Städte oder Gemeinden, beziehungsweise, wo
eine durchgreifende Reform unerlässlich wäre, den Dienst¬
leuten der Gutsherren zu einem billigen, die Kosten eben nur
deckenden Miethpreise überlassen würden, deren Ueberfüllung
wohl auch durch staatliche, städtische oder provincieile
Kinderasyle vorgebeugt werden könnte mit faeultativer Ein¬
lieferung der Kinder; zum Staatssocialismus des Lykurgos,
gemeinsamen Grundbesitz und der gemeinsam verzehrten
schwarzen Suppe der Spartaner, zur unentgeltlichen Fleisch-
vertheilung am »Tische der Sonne« im Aethiopien des
Herodot etc., wird man in einem C u 1 1 u r Staate selbstverständ¬
licher Weise nicht zurückkehren,
Auch die Bauart der Häuser müsste in sumpfigen Ge¬
genden eine andere sein, als sie oft noch ist. Sehr zweck¬
mässig und nacliahmenswerth ist eine seit etwa sechs Jahren
im Regierungsbezirke Danzig geltende, Dielung des Bodens
der Wohnungen auf dem Lande verschreibende Regierungs¬
verordnung, doch sollte in Ueberschwemmungs- und Sumpf¬
gebieten die Anwendung von Unterbauten (Pfahlrosten), wie
sie in St. Petersburg, Amsterdam, dem Ueberschwemmungs-
gebiet des Mekong in Siam und an anderen, Ueber-
schwemmung des Bodens zur Bestellung, besonders auch bei
dem Reisbau erfordernden Gegenden und Orten schon ge¬
bräuchlich ist, gleichfalls überall vorgesehen werden. Von
grösster Bedeutung ist natürlich auch die Canalisirung der
Städte, Drainirung des Bodens, Versorgung mit gutem, einem
Jeden zugänglichen, nicht, wie nach Ger mann heutzutage
in Palästina verschacherten Trinkwasser, entweder durch An¬
legen von Leitungen oder, wie in wasser- oder regenarmen,
daher auf die hygienisch so bedenklichen Cisternen angewiesenen
Ländern, durch Bohren abessynischer Brunnen, wie auch das
seit einigen Jahren für den Regierungsbezirk Danzig bereits
angeordnet ist; das bekannte Beispiel der Stadt Schneidemühl
in Posen lehrt übrigens, wie überraschend grosse Wasser¬
massen manchmal so erschlossen werden können, wie denn
auch schon im Plutarch zwei Beispiele niedergelegt sind von
anscheinend wasserlosen, dann aber beim Nachgraben doch
wasserreichen Gegenden, einmal am Fusse des Olymp in
bei der Schneeschmelze einer Ueberschwemmung seines Bodens aus»esetzt
ist. Ebenso dürfte dor hohe Procentsatz an Granulöse oder ähnlichen Er¬
krankungen, der im hiesigen städtischen Gymnasium gefunden worden und
der den der Volksschulen noch übertraf, auf die Verhältnisse der Anstalt
zum Theil bezogen werden müssen, da in dieser Gegend, am Winterplatze,
noch andere Gebäude sehr ungesund sind, in nächster Nähe auch eine
tief gelegene, noch heute Poggenpfuhl genannte Strasse verläuft.
Macedonien, wo Wasser nur tropfenweise aus einer kleinen
Quelle heraussickerte, Aemilius Paulus aber im Hinblicke auf
den reichen Baumwuchs des Berges uachgraben liess und nun
reichlich Wasser fand, sodann in noch viel auffallender Weise
auf einer Höhe in Kleinasien, die Mithridates besetzt gehalten
aber wegen vermeintlichen Wassermangels verlassen hatte;
während Pompejus, als er mit Rücksicht auf das Vorhandensein
gewisser, nicht näher bezeichneter Pflanzen nun graben liess,
W asser in Menge erhielt, nicht wenig erstaunt nach Plutarch,
dass dessen Anzeichen Mithridates entgangen waren; alles Um¬
stände, deren man in anscheinend wasserarmen Gegenden sich
erinnern und deshalb wohl auch des Rathes von Botanikern
sich bedienen mag. Was die Canalisirung betrifft, so ist eine
solche auffallender Weise im Jahre 1894 noch nicht einmal
in den besseren Gasthöfen von Königsberg durchgeführt ge¬
wesen und durch die aus den Häusern nach dem Tragheimer
Thor hin Morgens abgeholten, mit Fäcalien gefüllten Tonnen
ein entsetzlicher Gestank in den Strassen verbreitet worden,
ein Umstand, auf den zum Thei-le wohl auch die grosse Ver¬
breitung von Krankheiten der Nase, des Halses und der Augen
in Königsberg zu beziehen sein mag. Hieher gehört ferner
das, von den Zoologen allerdings beklagte, Austrocknen von
Seen, Sümpfen und Mooren, immer jedoch mit Rücksicht darauf,
dass auch den letzteren eine gewisse meteorologische Bedeutung
zum Feuchterhalten der Luft zukommt (Hoch s te 1 1 er),
damit nicht allenfalls das entgegengesetzte Uebei herbeigeführt
und eine staubige Steppe mit allen ihren hygienischen Nach¬
theilen zu Stande gebracht werde. Hieher gehört weiter ein
vorsichtiges und local isirtes Lichten sumpfiger Wälder,
natürlich nicht, wie jetzt noch fast ausschliesslich, nach mercan-
tilischen Rücksichten, sondern in erster Linie nach hygienischen
Grundsätzen, das Zugänglichmachen der Morastwälder für die
austrocknende Sonne, ein Verfahren, das in Finnland, dem
waldreichsten Lande von Europa, woselbst noch immer 57%
des Bodens mit Wald bedeckt sind, das Klima bereits milder
gestaltet hat (C. Müller) und dort wie in Livland und
Kurland wahrscheinlich auch das wirksamste Mittel zur Be¬
kämpfung des endemischen Trachoms sein, vielleicht auch
in den aus mächtigen, die Sonne nicht durchlassenden Cypressen
bestehenden Urwäldern im Delta des Mississippi und seinem,
Ueberschwemmungen noch immer vielfach ausgesetztem Moor¬
boden die Malaria und das Trachom vermindern wird. Hieher
gehört ferner die Regulirung der Ströme zur Verminderung
der Ueberschwemmungen, was in vielen Gegenden des staaten¬
reichen Festlandes von Europa allerdings nur durch inter¬
nationale Vereinbarungen über das wahrscheinlich einzige, auf
die Dauer hier durchgreifende und wirksame Mittel, Wald¬
schutz im Quellgebiete der Flüsse gegenüber dem unsinnigen,
planlosen Ausroden oder gar Ausrotten der Wälder zu er¬
reichen wäre. Denn es ist klar, dass die Zerlegung einer
Strommündung in mehrere, wie z. B. der vor einigen Jahren
bei uns hergestellte Durchstich der Weichsel bei Nickelswalde
trotz gewisser Nachtheile, vornehmlich stärkerer Verschlammung,
der anderen Mündungen und Verminderung der Stromkraft
derselben, eine Zeit lang in hohem Grade segensreich ein¬
wirken und Ueberschwemmungen weiter oberhalb gelegener
Strecken so und so lange verhüten wird, wie denn auch die
sonst fast alljährlich stattfindende, zu ausserordentlich vielem
Elend Veranlassung gebende Ueberschwemmung im Unterlaufe
der Weichsel in den letzten Jahren ausgeblieben ist, ein Um¬
stand, beiläufig bemerkt, auf welchen auch das Erlöschen einer
langjährigen Trachomendemie in Schüueberg an der Weichsel
wohl mehr zurückzuführen ist, als mit G ree ff auf ärztliche
Behandlung in Kliniken Königsbergs; dessenungeachtet und trotz
der Hilfsmündung der Weichsel werden wir nach einer gewissen
Zeit mit grösster Wahrscheinlichkeit von Neuem Ueber-
sclnvemmungen haben, bei Fortdauer der Abholzung der Wälder
und somit der Zerstörung der Moosfilter im Quellgebiete
der Weichsel und ihrer Zuflüsse, wde man denn andererseits
auch durch die hohen Dämme, mit wrelchen man den Unter¬
lauf des Mississippi eingefasst, Ueberschw’emmungen daselbst bis¬
her zwrar verhütet, aber Stauungen dort und vornehmlich
grosse Ueberschwemmungen im Mittelläufe des Stromes hervor-
Nr. 42
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
977
gerufen hat: so dass also schliesslich entweder: 1. Stauhecken
angelegt werden müssen, wie einst in Aegypten am Mörissee
und in Babylonien am Euphrat, an letzterem verbunden mit
einer zum Brechen der Gewalt des Stromes bestimmten, künst¬
lichen Schlängelung des vorher gerade verlaufenden Stromes
(Hero dot), oder dass 2. ein internationaler Schutz der
Wälder und ihrer Moosfilter als Quellen und Zutheiler der
grossen Flüsse zu Stande kommen muss; wie denn auch die
jetzt nur noch 18% Waldboden besitzende Schweiz schon seit
dem Jahre 1874, die United States seit 1891 eine gewisse
staatliche Aufsicht über die Entwaldung führen und selbst in
der Türkei die Constantinopel mit Quellwasser versehenden
Wälder gesetzlich geschützt sind. Hieher gehört endlich auch
das Wiederaufforsten und Wiederanbauen ehemals waldreicher,
durch seine Wälder oder durch Kunstwerke einst bewässerter,
jetzt verödeter, staub- und trachomreicher Gegenden und
Steppen, wie in Palästina, Syrien, Kleinasien, Mesopotamien,
Spanien etc., nachdem wohl im Anschlüsse an Buff on, dei
die ersten Versuche in dieser Hinsicht angestellt hat, es zuerst
Bremontier gelungen ist, immer weiter um sich greifende,
eine Gegend der Gascogne nahezu entweichende Wanderdünen
durch Anpflanzen des Strandginsters (Sarothamnus scoparius)
und unter dessen Schutz mit jungen Kiefern zum Stehen zu
bringen und so im Laufe der Zeit dort einen Forst mit
Schneidemühlen, Terpentinwerken etc. entstehen zu lassen,
dessen jetziger Whrth von Lubbock auf 1000 Millionen
Francs geschätzt wird; nachdem die Franzosen ebenso in
Algier unter General Devaux, »den Degen mit dem Bohrer
vertauschend«, durch Anlegen zahlreicher artesischer Brunnen
im Absterben begriffenen Dattelpflanzungen und Inseln der
Cultur das Leben zurückgegeben haben. In dieser Weise,
durch Anpflanzen wilder Oelbäume, Myrten und anderer
Bäume, welche mit Sallust »humo arido atque arenoso
gignuntur«, oder moderner, der Robinie, des chinesischen
Götterbaumes (Ailanthus glandulosa) und vornehmlich der
sehr ausdauernden und genügsamen, auch am Strande von
Memel angepflanzten, nordamerikanischen Oelweide (Elaeagnus
argentea), welche Rossmässler und W i 1 1 k o m m zu solchen
Versuchen besonders empfehlen, liessen sich vielleicht noch
manche »Sandwüsten allmälig in Laubwälder umwandeln«,
jedenfalls aber die Verstaubung des Bodens mindern, was be¬
sonders für Staubstürmen ausgesetzte und daher zum Theile
auch an Augenleiden reiche Länder, wie Aegypten, besonders
am Rande der Wüste, in Persien, Ungarn und an anderen
Orten wichtig wäre.
Hoffen wir, dass die öffentliche Gesundheitspflege, welche
dem grünen Kleide der Erde und vornehmlich den Wäldern
bisher noch so wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat, so dass
z. B. in dem sonst so vielfach anregenden Buche von
F. Hüppe gar nichts, in W e y l’s Handbuche aber nur ein
paar dürftige Notizen hierüber zu finden sind, diesem wie
überhaupt, so auch für die Augenheilkunde so wichtigen
Gegenstände ein nachhaltiges Interesse nun bald zuwenden
werde! Denn obschon die hohe Bedeutung staatlicher Augen¬
kliniken für die Bekämpfung des Trachoms und Hirsch-
be^g’s Mahnung der Einrichtung einer solchen auch in
Aegypten, in keiner Weise unterschätzt werden soll, so ist
doch der grösste Fortschritt gegenüber einer derartigen, zum
weitaus grössten Theile miasmatischen und tellu rischen
Krankheit offenbar weniger von ärztlichen Eingriffen, als viel¬
mehr von auf das Ganze gerichteten hygienischen Mass-
regeln zu erwarten.
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S c o b e 1, Geographie. 1899, u. A.
REFERATE.
Atlas und Grundriss der Ophthalmoskopie und
ophthalmoskopischen Diagnostik.
Von Prof. Dr. O. llaab.
Dritte, stark vermeinte Auflage.
M ünchen 1900, J. F. Lehmann.
Wenn ein Lehrbuch im Verlaufe von wenigen Jahren es
bereits zur dritten Auflage gebracht hat, so spricht dieser Umstand
wohl laut und deutlich für die Brauchbarkeit und für die Vorzüge
des Werkes; es hat durch die freundliche Aufnahme, die es allent¬
halben gefunden, den Beweis für seine Existenzberechtigung er¬
bracht. In der That fehlte es bisher, trotz der Vortrefflichkeit der
Atlanten von J ä g e r, O e 1 1 e r, L i e b r e i c h u. A., dennoch an
einem auch dem Minderbemittelten zugänglichen Werke, welches
in einer grossen Zahl von typischen Bildern alle wichtigen, nicht
nur den Oculisten, sondern auch den Internisten und Neurologen
interessirenden Augenhintergrund-Erkrankungen darstellt, und des¬
halb ist Haäb’s Atlas bereits in den wenigen Jahren seines Be¬
standes zu einem verbreiteten Lehrbuch für die Studirenden, zu
einem Nachschiagebuch für die Aerzte geworden, ln dei Neuaul läge
hat der Verfasser einige Lücken, welche in der Reihe der Krank¬
heitsbilder noch bestanden, mit glücklicher Hand ausgefüllt. \ on
wichtigen, wenn auch nicht häufigen Erkrankungen finden wir das
ophthalmoskopische Bild des leukämischen Augenhinter¬
grundes, des sogenannten Glioma retinae im f rühstadium
(von welchem meines Wissens bisher nur eine einzige farbige Ab¬
bildung in K n a p p's Buch über die intraocularen fumoren \oilag),
einer flachen, transparenten Netzhautablösung, der syphi¬
litischen Erkrankung der Netzhautarterien, dei
senilen Netzhautpigmentirung. Von Verletzungen sind
zwei Bilder neu hinzugekommen, von welchen eines eine Luft¬
blase im Glaskörper bei einer Eisensplitterverletzung, das andere
eine Lochbildung in der Macula lutea in F olge einer
Contusion des Bulbus darstelll. Zum Schlüsse sind noch die Ab¬
bildungen zweier Fälle von hinteren Vortexvenen angefügt.
Die neuen Bilder reihen sich zwischen die früheren gleichmässig
ein, in derselben klaren Darstellung, welche bereits die der früheren
Auflagen auszeichnete. Trotz der wesentlichen Vermehrung der
Tafeln ist der Preis des Werkes derselbe niedrige (10 Mark) ge¬
blieben, wie bisher, ein Umstand, der nicht in letzter Linie zui
allgemeinen Verbreitung des Atlas beitragen dürlte.
*
Das Sarkom des Auges.
Von Rosa Putiata-Kersclxbaumer in St. Petersburg.
Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Sattler.
Mit 16 Figuren auf lü Tafeln.
Wiesbaden 1900, J. F. Bergmann.
In dem Buche Kerschbaume r’s finden wir eine un-
gemein fleissig und sorgfältig durchgeführte Untersuchungsreibe \ on
67 Sarkomen des Augapfels, von welchen 41 von der Aderhaut,
8 vom Ciliarkörper und 2 von der Iris ausgingen, während 9 epibulbär
und 7 diffus entsprangen. Das reiche Material zu diesen Unter¬
suchungen verdankt die Verfasserin zum grössten I heil liofessoi
Sattler in Leipzig, zum Theil stammt es aus ihrer eigenen
978
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 42
früheren Praxis in Salzburg. Sie verlegt augenscheinlich das Schwer¬
gewicht ihrer Arbeit auf die anatomischen Verhältnisse, welche sie
hei jedem einzelnen Falle eingehend schildert und deren Resultate
sie in einem eigenen, der Casuistik vorangeslellten Theil über
»Anatomie und Histologie der Sarkome des Auges« zusammenfasst.
Leider können wir uns gerade hier in so manchen Punkten mit
der Verfasserin nicht einverstanden erklären, wenn sie z. B. die
Spindelzellensarkome als eigene Art den Melanosarkomen gegen-
überstellt, während erstere doch sowohl pigmentirt, als unpigmentirt
Vorkommen und auch die Melanosarkome bald aus Spindel-, bald
aus Rundzellen zusammengesetzt sind. Audi fehlt jede Erwähnung
der Alveolarsarkome, die doch eine recht gut charakterisirte Form
darstellen. Auffallend und logisch nicht zu begründen ist in der
»Eintheilung der Sarkome nach der Form«, dass den Angiosarkomen,
Melanosarkomen u. s. w. die Degenerationsprocesse, von welchen
Verfasserin am häufigsten die hyaline, ferner aber auch die
schleimige und amyloidc nachwies, als eigene Form (?) beigeordnet
werden. Auch halte ich es für keinen sehr guten Einfall, die extra-
und intrabulbären Sarkome des Auges im Allgemeinen abzuhandeln,
da die epibulbären Sarkome nach ihrem anatomischen Verhalten,
nach ihrem Ursprünge aus angeborenen Naevi, nach ihrem Verlaufe,
ihrer Prognose und Operirbarkeit sich wesentlich verschieden ver¬
halten gegenüber den intraoculären Sarkomen. Hingegen stehen sie
sehr nahe den Sarkomen der Uebergangsfalte, halbmondförmigen
Falte, Carunkel und Lidbindehaut, welche jedoch von der Ver¬
fasserin nicht in den Bereich ihrer Untersuchung gezogen wurden.
Was den ursächlichen Zusammenhang zwischen anderen Er¬
krankungen des Auges und dem Sarkome anbelangt, so sind in
erster Linie die Fälle von Interesse, in welchen der Geschwulst¬
entwicklung ein Trauma (eventuell mit Schrumpfung des Bulbus)
voranging. Kerschbaumer hat unter ihren 67 Fällen 4 von
vorangegangener Phthisis bulbi; jedoch ist nur in einem Falle, in
dem das Sarkom bereits drei Janre nach der Verletzung sich in
einem schon vorgeschrittenen Stadium befand, ein Zusammenhang
zwischen Entwicklung der Neubildung und Trauma nicht direct
von der Hand zu weisen. In den anderen Fällen hatte die Ver¬
letzung vor langer Zeit (15 — 30 Jahre) stattgefunden. Reste ab¬
gelaufener Entzündung (ohne Trauma) fanden sich zehnmal; doch
auch hier ist ein stricter Beweis für den ursächlichen Zusammen¬
hang mit dem Sarkom nicht zu erbringen. Ein besonderes Gewicht
legt Verfasserin auf die Erkrankungen der Chorioidealgefässe, im
Anschlüsse an welche sich nach ihrer Ansicht meist die Angio-
sarkome entwickeln; sie schliesst dies daraus, da sie in den noch
geschwulstfreien Theilen der Chorioidea hyaline Degeneration, be¬
sonders in den Gefässen der Hall ersehen und S at 1 1 e r’schen
Schichte, fand.
Der klinische Theil ist leider recht kurz gefasst; insbesondere
die wichtigen Capitel der Prognose und des Verlaufes lassen dies
fühlen. Hier hätte Verfasserin Gelegenheit gehabt, sich den Dank
der Fachgenossen zu sichern, wenn sie die riesig angewachsene
Literatur, die sie in einem Verzeichniss von 784 Nummern gesammelt
hat, auch kritisch durchgearbeitet und statistisch verwerthet hätte.
So ist diesem Abschnitte des Buches nur zu entnehmen, dass sie
unter 67 Fällen 13 Melanosarkome, 27 Leukosarkome mit hämato¬
gener Pigmentirung und 27 Leukosarkome untersuchte, dass also
die pigmentirten Sarkome nur 59 '7% (gegen 88% in der Mono¬
graphie von Fuchs über das Sarkom des Uvealtractus) darstellen.
Hinsichtlich der Therapie steht Verfasserin auf dem gerecht¬
fertigten Standpunkte möglichst radicaler Operation.
Die anatomischen Verhältnisse sind durch eine Reihe vor¬
züglicher Abbildungen auf zehn Tafeln dargcstellt, welche ins¬
besondere die topographischen Beziehungen sehr gut veranschau¬
lichen und daher beim klinischen Unterrichte als eine willkommene
Unterstützung des gesprochenen Wortes dienen dürften.
*
Ein Beitrag zur Therapie der Netzhautablösung.
Von Arnold Staerkle.
Inaugural-Dissertation. R i e h m; Basel 1900.
Staerkle berichtet über die Erfahrungen, welche an
Mel lingers Klinik bei der Behandlung der Netzhautablösung
mit subconjunctivalen Kochsalzinjectionen gewonnen wurden. Zur
Behandlung kamen 23 Fälle, zumeist myopische Ablösungen, nur
zwei waren traumatischen Ursprunges; verwendet wurde eine
2-, 4- und 10%ige Gl Na-Lösung. Die Erfolge sind in Anbetracht
der Schwere der Erkrankung recht günstig, ln sechs Fällen legte
sich die Netzhaut vollständig an, in zehn Fällen verkleinerte sich
die Ablösung beträchtlich; in sieben Fällen dagegen konnte eine
Besserung nicht constatirt werden. In fünf Fällen trat ein Rückfall
ein, konnte jedoch in zwei Fällen wieder gebessert werden. Die
geheilten Fälle waren durchwegs frische Ablösungen, während die
veralteten und totalen der Behandlung trotzten. Eine Vergrösserung
des vorher eingeschränkten Gesichtsfeldes wurde in 17 Fällen, eine
Verbesserung der Sehschärfe in allen ausser zwei Fällen wahr¬
genommen.
Wrenn man die Unsicherheit des Erfolges unserer sämmtlichen
Massnahmen zur Behandlung der Nelzhautablösung in Rücksicht
zieht, so ermuthigen jedenfalls die angeführten Resultate zur Nach¬
ahmung, umsomehr als diese Injectionen vollständig ungefährlich
und nahezu ganz schmerzlos sind. Dr. W i n t e r s t e i n e r.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
403. Nach einem Berichte von Dr. Helbing im »Verein
für innere Medicin in Berlin« soll die Ursache der Säure¬
festigkeil derTuberkelbacillen und des eigenthümlichen
Verhaltens gegenüber gewissen Farbstoffen nicht von einer Fett¬
hülle, sondern von einer chitinähnlichen Substanz abhängen.
Pi.
*
404. Ueber den Werth des Schlafmittels Dor-
miol. Von Dr. Paul Pollitz, Brieg in Schlesien. Pollitz hat
in circa 40 Fällen Dormiol in der Dosis von 2 g gegeben und
zwar erfolglos bei Erregungszuständen der Paralyse, mit wechseln¬
dem Erfolge bei Erregung auf dementer Basis und bei psycho¬
motorischer Erregung periodischer Psychosen, mit gutem Erfolge
dort, wo Erregung und Schlaflosigkeit in erster Linie auf Halluci-
nationen ängstlichen Inhaltes zurückzuführen waren. Bemerkenswerth
ist, dass das Dormiol neben sicherlich- nicht schlechter wirkenden
Mitteln noch verbal tnissmässig kostspielig ist. — (Zeitschrift für
Psychiatrie. Bd. LVR, Heft 5.)
*
405. Katatonische K rankheitsbilder nachKopf-
verletzung en. Von Dr. L. v. M u r a 1 1 in Burghölzli. M u r a 1 1
theilt fünf Fälle mit, in welchen im Anschluss an Schädeltraumen
reine Katatonien sich entwickelten. Die Fälle Mur a It’s weisen
in ihrer Mehrzahl darauf hin, dass bei den Kranken ohnehin Vor¬
bedingungen zum Ausbruche von Spannungsirresein vorhanden
waren. Bezüglich der Prognose weichen die Fälle traumatischer
Katatonie von denen der übrigen Katatonien nicht ab. — * (Zeit¬
schrift für Psychiatrie. Bd. LV1I, Heft 4.) S.
*
406. (Aus der medicinischen Klinik zu Parma.) Zur Lage
der acut entstandenen Ergüsse im Herzbeutel.
Von Dr. A porti und Dr. Figaro 1 i. Durch Injectionen von Agar¬
lösungen in die Pericardhöhle von Leichen, die sich in horizontaler
oder wagrechter Stellung befanden, wurde festgestellt, dass* die
grösste Menge von Flüssigkeit, die sich in einem Herzbeutel an¬
sammeln könne, 650 — 700 c?n3 betrage, dass erst 150 — 200 cmi
percutorisch nachweisbar sind, dass die Verbreiterung der Herz-
dämpfung bei aufrechter Stellung mehr in der Gegend des Spitzen-
stosses und des Herz-Leberwinkels, bei horizontaler Lage mehr
gleichmässig nach allen Seiten hin erfolge. Im letzteren Falle
werden die grossen Gefässe schon durch geringe Exsudatmengen
umspült. (Centralblatt für innere Medicin. 1900, Nr. 29.) Pi.
*
407. Dr. Thornburn hatte in einem Falle von Quetschung,
beziehungsweise Zerreissung des Plexus brach i a 1 i s bei
einem 16jährigen Mädchen 7 '/2 Monate nach der Verletzung die
Ausschneidung des Narbengewebes und die Nervennaht ausgeführt.
Die ersten vier Monate darauf zeigte sich nichts von einer
Besserung; dieselbe wurde jedoch später in ganz erheblichem
Masse nachgewiesen. — (Brit. med. Journ. 1900, 5. Mai.) Pi.
*
Nr. 42
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
979
408. Drei Conträrsexuale vor Gericht. Mitgetheilt
von R. v. Krafft-Ebing. In allen drei Fällen handelt es sich
um Unzuchtsdelicte. Im ersten Falle liegt angeborene, im zweiten
und dritten Falle erworbene conträre Sexualempfindung vor. Der
dritte Fall bietet insoferne ein besonderes Interesse, als der Patient,
ein Neurastheniker, um den gerichtlichen Folgen seines conträr-
sexuellen Handelns zu entgehen, wiederholt erfolgreich eine schwere
organische Psychose simulirte. In jedem der drei Fälle erfolgte die
gerichtliche Entscheidung auf Grund eines Gutachtens der Wiener
medicinischen Facultät. (Jahrbücher für Psychologie und Neuro¬
logie. Bd. XIX, Heft 2.) S.
*
409. Die stetige Zunahme der Krebserkran¬
kungen in denletzten Jahren. Von Dr. M a e d e r (Breslau).
Gleichwie bereits für andere Länder der Nachweis der vermehrten
Krebssterblichkeit versucht worden ist, führt M a e d e r denselben
Nachweis für Preussen, Sachsen und Baden; und zwar fand er die
Krebssterblichkeit grösser unter den Bewohnern der Städte, als
unter jenen des Landes, grösser unter Frauen als unter Männern,
sowie gewisse Gegenden mehr davon heimgesucht als andere. —
(Zeitschrift für Hygiene und Infectionskranhheiten. Bd. XXXII, Heft 2.)
Pi.
*
410. Ueber quantitative und qualitative Ver¬
änderungen geistiger Vorgänge im hohen Greise ri¬
al ter. Von Dr. Paul Ranschburg und Dr. Emerich
Bai int. Der vorliegenden Arbeit liegen experimentelle Unter¬
suchungen über den zeittlichen Verlauf, sowie über gewisse quali¬
tative Veränderungen geistiger Vorgänge bei zwölf männlichen,
durchschnittlich 72jährigen, geistig und körperlich gesunden Greisen
zu Grunde. Alle Arten der untersuchten Reactionen zeigten sich
bei den Greisen in ihrer Zeitdauer im Vergleiche mit den an
jungen Individuen gefundenen Zeitwerthen bedeutend verlängert.
Bei der Berechnung der reinen (psychologischen) Zeitdauer der
untersuchten geistigen Vorgänge zeigte sich die Minderwertigkeit
der Functionen noch deutlicher. Die Qualität der Ideenassociationen
der Greise zeigte eine Verminderung der Elasticität und Verödung
in der Mannigfaltigkeit der Vorstellungsthätigkeit. — (Zeitschrift
für Psychiatrie. Bd. LVIT, Heft 5.) S.
*
411. (Aus Prof. C h i a r i's pathologisch-anatomischem Institut
in Prag.) Meningitis suppurativa, bedingt durch
»Bacterium lactis aero genes (Escherich)«. Von
Dr. Scheib. Das genannte Bacterium wurde zuerst von Escherich
als normaler Bewohner des oberen Darmcanales bei Menschen und
Thieren beschrieben, die mit Milch genährt worden waren. Diese
Bacterien sind in Folge der durch sie bedingten starken Gährung
eine häufige Ursache von Störungen im Bereiche des Darmes,
wurden aber auch mitunter als Erreger einer Cystitis erkannt.
Neuerdings wurden sie im Eiter hei einem acht Tage alten, mit
Otitis media suppurativa bilateralis und Meningitis suppurativa
verstorbenen Mädchen gefunden. — (Prager medicinische Wochen¬
schrift. 1900, Nr. 25.) Pi.
*
412. Die Aetiologie und die Behandlung der
Puerperalpsychosen. Vorläufige Mittheilung von Dr. Luigi
Mongeri, Irrenarzt am königlich italienischen Krankenhause zu
Gonstantinopel. Die Frage nach den Ursachen der Puerperalpsychosen
ist eine viel umstrittene. Mongeri hat in einem Falle von Puer¬
peralpsychose durch Einspritzungen von Antistreptococcenserum
rapiden Fieberabfall und rasches Zurücktreten der psychischen Er¬
scheinungen erzielt. Er leitet deswegen die Puerperalpsychose von
einer Infection her. — (Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. LVII, Heft
2 und 3.) S.
*
413. Geschwür amBodenderNasenhöhle durch
periostitisch erkrankten Zahn her vor gerufen. Von
Dr. Brubacher (München). Das durch zwei Jahre bestandene
Geschwür heilte nach Extraction des periostitisch erkrankten ersten
Schneidezahnes, dessen Wurzel sehr lang war. Eine Sonde konnte
nachher durch die Alveole in die Nasenhöhle geführt werden. —
(Deutsche Monatsschrift für Zahnheilkunde. 1900, Heft 4.) Pi.
*
414. Ueber Störungen der cut an en Sensibilität
bei Morbus Parkinson i. Von Dr. J. P. Karplus, Assistent
an der Klinik des Hofrathes v. Krafft-Ebing in Wien.
Karplus publicirt eine Reihe von Fällen von Paralysis agitans
mit Störungen der cutanen Sensibilität. Diese Störungen sind nicht
auf eine zufällige Complication (Tabes, Hysterie) zurückzuführen,
sondern sie gehören zum Krankheitsbilde der Paralysis agitans.
Niemals fand sich die Sensibilitätsstörung an einer von motorischen
Störungen freien Extremität. Die Sensibilitätsstörungen bei Paralysis
agitans sind inconstant und vieldeutig, die motorischen Symptome
bleiben immer die charakteristischen und das Krankheilsbild be¬
herrschenden. Aber die Sensibilitätsstörungen gehören in den Rahmen
des klinischen Bildes der Paralysis agitans, und die Annahme,
dass letztere eine rein motorische Neurose sei, muss zurückgewiesen
werden. (Jahrbücher für Psychologie und Neurologie. Bd. XIX,
Heft 2.) S.
*
415. (Aus der medicinischen Klinik des Prof. Ebstein zu
Göttingen.) Ein geheilter Fall von Diabetes mellitus.
Von Dr. Zaudy. Der Patient war frei von Zucker im Urin, welcher
trotz Genuss von Kohlehydraten nicht mehr auftrat, entlassen worden.
Bei der drei Vierteljahre später erfolgten neuerlichen Vorstellung
war der Urin, trotzdem keine Diät beobachtet worden war, immer
noch zuckerfrei. Eine besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem
Falle die Wirkung des Salol. Auf 4 g pro die war am zweiten
Tage die Zuckermenge schon bei gleichzeitiger Diät auf die Hälfte
gesunken und am vierten Tage schon polarisatorisch gar nicht mehr
messbar. Noch grösser wurde die Wahrscheinlichkeit der Salol-
wirkung dadurch, dass an den zwei nächsten Tagen ohne Salol
der Zucker wieder in gut messbarer Menge auftrat. — (Deutsche
medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 31.) Pi.
*
416. Beobachtungenüber dieprogressivePara-
1 y s e während der letzten vier Jahrzehnte. Von Dr. H.
Behr, Hildesheim. Das Material Behr’s umfasst 575 männliche
Paralytiker und 108 weibliche paralytische Kranke. Nach Ansicht
Behr’s hat die progressive Paralyse bei den Männern im Laufe
der letzten vier Jahrzehnte an sich eine andere Form angenommen.
Die agitirte wie die typische Form der Paralyse hat an Zahl ab¬
genommen, die demente Form zugenommen. Erhebliche Remissionen
kommen jetzt etwas häufiger vor als früher, die Zahl der Anfälle
hat im Allgemeinen zugenommen. Keine Aenderung ist eingetreten
in Bezug auf das Durchschnittsalter der Paralytiker und in Bezug
auf die mittlere Dauer der Paralysen. Eine Aenderung des klinischen
Bildes der progressiven Paralyse der Frauen Hess sich in keiner
Weise constatiren. — (Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. LVII, Heft 5.)
S.
*
417. (Aus dem Krankenhause Bethanien in Berlin.) Beob¬
achtungen überDiabetes insipidus. Von Dr. R e b e n s-
b u r g. Für die grosse Seltenheit der Erkrankung spricht, dass von
p877_189ß unter 113.600 Patienten der Charite nur 55 von ihr
betroffen waren. In Bethanien mit rund 1400 internen Kranken
jährlich war in den letzten acht Jahren gar kein Fall, und erst im
Laufe des vorigen Jahres waren Fälle von Diabetes insipidus bei
zwei Patienten im Alter von 15 und 20 Jahren beobachtet worden.
In dem einem dieser ausführlich besprochene Fälle waren die
Symptome gewissermassen acut zum Ausbruch gekommen: eines
Tages war plötzliches Durstgefühl aufgetreten, worauf einige Stunden
später die Polyurie begann. Am meisten klagten beide Patienten
über den Verlust der Schweisssecretion. Therapeutisch wurden die
verschiedensten Medicamente, aber ohne Erfolg versucht. — (Berliner
klinische Wochenschrift. 1900, Nr. 32.) Pi-
" *
418. Zur Behandlung des Status epilepticus.
Von Dr. J. P. Naab, Assistenzarzt der Anstalt für Epileptische,
Bethel bei Bielefeld. Naab hat in Fällen von Status epilepticus
Amylenhydrat per os, per nares, per Klysma und subcutan, re¬
spective intramuscular verabreicht. In allen Fällen, in welchen
möglichst schnelle Wirkung erzielt werden soll, ferner bei be¬
stehender Obstipation und bei Incontinenz des Rectums empfiehlt
Naab die intramusculäre Injection, sonst das Klysma. Die wirk¬
same und gefahrlose Dosis ist für die Injection 3'0 O'O, für das
980
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900
Nr. 42
Klysma 5 0 — 7-0. Während des Status epilepticus soll jede Erregung
von dem Kranken ferne gehalten werden. Die Ernährung geschieht
am besten durch die Nase ohne Schlundsonde. Der Kranke liegt
dabei wagrecht, die Nasenspitze wird etwas nach oben gedrückt
und die Flüssigkeit (Milch mit Ei) kaffeelöffelweise in das Nasenloch
geschüttet. (Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. LV1I, Heft 4.) S.
*
419. Ueber die Beziehungen epileptischer An¬
fälle zur Harnsäureausscheidung. Von Dr. Caro
(Posen). Von Krainski wurde constatirt, dass 24 bis 48 Stunden
vor dem epileptischen Anfall die Harnsäure im Urin vermindert
werde, und zwar so regelmässig, dass er bei einem bestimmten
Tiefstände der Harnsäureausscheidung einen Anfall Vorhersagen
konnte. Diese Harnsäureverminderung soll die Folge einer Gift¬
wirkung sein, welche bei einer bestimmten Intensität die Anfälle
auslöst, welch letztere wieder das Gift zerstören sollen, und zwar
soll es sich hiebei um carbaminsaures Ammoniak, beziehungs¬
weise um das daraus freiwerdend£ Ammoniak handeln. Caro hat
in einem Falle dieses Verhalten der Harnsäure nachgeprüft und die
Angabe Krain ski's von der auffälligen Verminderung jener vor
einem Anfalle bestätigen können. — (Deutsche medicinische Wochen¬
schrift. 1900, Nr. 19.) Pi.
*
420. Die Todesursachen der Geisteskranken.
Von Dr. Georg Heimann, Berlin. H e i m a n n hat die tabella¬
rischen Zusammenstellungen des königlich preussischen statistischen
Bureaus, welche nach den auf Zählkarten eingehenden Mittheilungen
aus den Irrenanstalten des preussischen Staates bearbeitet werden,
als Material verwendet. In diesen Anstalten sind während der Jahre
1876 — 1897 63.664 Geisteskranke gestorben. Nur ein Viertel
davon ist der Geistesstörung als solcher oder einem Gehirnleiden
erlegen. Drei Viertel starben an anderweitigen körperlichen Erkran¬
kungen, von diesen über ein Fünftel an Schwindsucht und ein
weiteres Fünftel an Lungenentzündung und anderen Lungenkrank¬
heiten. — (Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. LV1T, Heft 4.) S.
*
421. Von Prof. Wright liegt jetzt ein Bericht über das
Ergebniss der prophylaktisch gegen Typhus aus¬
geführten Impfungen vor, die an der Garnison von Lady¬
smith vorgenommen worden waren. Von 10.529 dem Officiers-
und Mannschaftsstande angehörigen Nichtgeimpften waren
1489 erkrankt, 329 gestorben; von den 1705 geimpften Per¬
sonen waren 35 erkrankt, 8 gestorben. Nach dem Gesagten ist ein
günstiger Einfluss der Immunisirung nicht zu verkennen, doch kann
man über den Werth des Eingriffes noch kein definitives Urtheil
fällen. — (Lancet, 14. Juli 1900.) Pi.
*
422. Eine experimentelle Studie über die
Association in einem Falle von Idiotie. Von Dr. med.
et phil. Arthur Wreschner, Docent für Philosophie in Zürich.
Der Fall, den Wreschner zu seinem Versuche, experimentell
den Einfluss der Idiotie auf die Association zu bestimmen, wählte,
bot ein ausgeprägtes Krankheitsbild. Die Associationsdauer wurde
mit einem Metronom bestimmt. Als Reizworte dienten die von
Sommer zusammengestellten Worte, welche in systematischer
Weise fast sämmtliche Gebiete des psychischen Lebens umfassen.
Bei der Verwertbung des Versuchsmateriales handelte es sich um
die Qualität und die Dauer der Association, ferner um den Einfluss
der Wiederholung desselben Reizwortes auf die Reaction und um
den Einfluss der Uebung, die sich im Laufe der Versuche einstellte.
Bezüglich der Resultate der Versuche Wreschner’s muss auf
das Original verwiesen werden. — (Zeitschrift für Psychiatrie.
Bd. LVII, Heft 2 und 3.) ' ' S.
THERAPEUTISCHE NOTIZEN.
Zucker als wehenverstärkendes Mittel. Von
Dr. Mad lener (Kempten). Es steht bereits fest, dass der Zucker,
da er ausserordentlich rasch resorbirt wird, bei angestrengter Muskel¬
arbeit ein sehr gutes Kraftzufuhrmittel ist, Verfasser hat ihn in sechs
Fällen von Wehon«chwäche fünfmal mit merkbarem Erfolge angewendet.
Sechs Stück Würfelzucker (=30#) wurden in 1/il Wasser oder in
Thee aufgelöst gegeben. In drei Fällen wurde auch, wie schon von
anderer Seite angegeben worden ist, trotz Verstärkung der Wehen¬
wirkung eine Herabsetzung des Wehenschmerzes beobachtet. — (Mün¬
chener medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 34.)
*
Wie seinerzeit schon von T i 1 1 e 1 von der Abtheilung F r ü h-
w a 1 d’s in Wien das Citrophen gegen Keuchhusten em¬
pfohlen wurde, so weiss auch Feucht wagner in Frankfurt a. M.
(Der Kinderarzt. August 1900) gleich Gutes von diesem Mittel zu be¬
richten. Die Dosirung war bei Säuglingen 01, bei ein- bis dreijährigen
Kindern 015 — 03 und bei älteren Kindern 0'4 — 05 dreimal
täglich.
*
In welchen Krankheiten haben das Tannoform
und seine Präparate einen dauernden Werth er¬
worben? Von Dr. Edelheit (Sanok). Verfasser empfiehlt das
Mittel als 10%iges Tannoformstreupulver bei Hyperidrosis (Schweiss-
füssen) und den daraus entstehend n Dermatitiden ; als 10°/tJges
Tannoformvaselin beim artificiellen Ekzem der Säuglinge, bei Intertrigo,
bei Ekzem in der Analgegend besonders nach nässenden Hämorrhoidal¬
knoten, bei Schrunden an den Mundwinkeln. — (Zeitschrift für prak¬
tische Aerzte. 1900, Nr. 23 )
*
Die therapeutische Verwendung des Jodipins.
Vou Sessous (Halle). Das Jodipin kann innerlich — am besten
hier das 10°/oige Präparat — und äusserlich (25%) verwendet werden.
Verfasser kommt nach den Erfahrungen an der Klinik Weber in
Halle zu dem Schlüsse, dass das Jodipin in Fällen, wo andere Jod¬
präparate nicht vertragen oder ohne Nutzen angewendet werden, ver¬
sucht werden muss. Das Jodipin hat sich als specifisches Luesmittel
ebenso wie Jodkali bewährt; vor diesem hat es den Vorzug, weniger
Widerwillen zu erregen, weniger Intoxicationserscheinungen zu verur¬
sachen und schliesslich, dass es auch subcutan angewendet werden
kann. — (Inaugural- Dissertation. 1900.)
*
Ueber einige neuere Arzneimittel in der Gynä¬
kologie. Von Prof. Walther (Giessen). Verfasser empfiehlt das
S t y p t i c i n bei Uterusblutungen, wenn dieselben nicht durch gröbere
anatomische Veränderungen des Organes bedingt sind ; demnach bei
zu reichlichen menstruellen Blutungen, bei blutigen Ausflüssen zwischen
den Menses, in Folge Adnexerkrankungen, in den Wechseljahren. Die
Darreichung bei zu profuser Menstruation war z. B. folgende: Ein bis
zwei Tage vor den Menses eine Tablette (ä 0-05) täglich, dann
am ersten Tage zwei bis vier, am zweiten vier bis sechs, am dritten
vier, dann wieder absteigend, so dass während jeder starken Periode
12 — 14 Tabletten verbraucht wurden. Bei schmerzhafter Periode soll
das Dion in in Form von Mastdarmsuppositorien (Dionin 0’04, Ol.
cacao 2 0) eine besonders gute Wirksamkeit in vielen Fällen entfalten.
— (Zeitschrift für jiraktische Aerzte. 1900, Nr. 7, 8.)
*
Ueber die Behandlung des Diabetes insipidus
mit Amylenhydrat. Von Dr. W. Ni essen (Bad Neuenahr).
Verfasser hatte Gelegenheit, drei Fälle von Diabetes insipidus zu be¬
obachten, bei denen die tägliche Verabreichung von 10 Amylenhydrat
durch drei bis sechs Tage eine bedeutende Besserung aller Symptome
zur Folge hatte, die in einem Falle bereits 2 '/a Jahre angehalten hat.
— (Therapeutische Monatshefte. 1900, Nr. 8.)
*
(Aus der medicinischen Abtheilung des allgemeinen Kranken¬
hauses in Hamburg-Eppendorf.) Ueber den zweifelhaften
W er t h des Antitussins als Mittel gegen Keuch¬
husten. Von Dr. Krause. Das mehrfach empfohlene Antitussin
stellt eine 5°/0ige Difluorphenykalbe dar, die bei Keuchhusten auf
Hals, Brust und Rücken eingerieben wird. Kraus hat es in 15 Fällen
angewendet und dabei die Erfahrung gemacht, dass das Antitussin als
Keuchhustenmittel keinen grösseren AVerth hat, als andere Mittel, dass
die Narcotica mehr leisten, dass von einer schleimlösenden, krampf¬
mildernden Wirkung nichts zu merken gewesen sei, ja dass bei längerer
Anwendung dadurch schwer heilende Hautgeschwüre entstehen können.
— Deutsche medicinische Wochenschrift. 1900, Nr. 34.)
*
Die Behandlung der Ischias mit Salzsäure. Von
Dr. Eljasz-Radzikowski. Die eigentliche Behandlung, welche
sich vielfach als sehr vortheilhaft erwiesen, besteht in Folgendem:
Man markirt sich die Schmerzpunkte im Verlaufe des Nervt n und be¬
pinselt diese Stellen mit reiner concentrirter Salzsäure; dabei röthet
sich die Haut, mitunter bilden sich kleine Bläschen, die bei der Wieder¬
holung der Pinselung zu vermeiden sind, ebenso wie die graugrün-
Nr. 42
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
981
lichen Hautnekrosen, die sich im Verlaufe der Behandlung manchmal
bilden. Im Allgemeinen kann die Bepinselung jeden zweiten oder
dritten Tag wiederholt werden, wenn die Hautreaction vorübergegangen
ist. Auf diese Weise wurden an der medicinischen Klinik zu Lemberg
zwölf Falle rheumatischer Ischias behandelt, die in 7 — 25 Tagen
geheilt werden konnten. — (Therapeutische Monatshefte. 1900, Nr. 8.)
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Ernannt: Dr. De B o e c k zum a. o. Professor der
Psychiatrie in Brüssel.
*
Verliehen: Dem Hofrathe Dr. Ernst Fuchs in Wien
der königlich serbische St. Sava-Orden II. Classe. — Dem praktischen
Arzte M o r i z Pol ac sek in Wien der Stern zum Commandeurkreuze
des päpstlichen St. Gregor-Ordens und dem praktischen Arzte Doctor
Claudius Schmid in Wien das Ritterkreuz desselben Ordens. —
Dem praktischen Arzte Dr. Julius Cerveny in Budweis das Ritter¬
kreuz des Ordens vom heiligen Grabe. — Dem Oberstabsarzte Dr.
Ignaz Kaiser der Generalstabsarztes-Charakter ad honores. — Den
Oberstabsärzten Dr. Franz Hlawaöek und Dr. Alfred Ha-
w r a n e k wurde der Ausdruck der Allerhöchsten Zufriedenheit bekannt¬
gegeben.
*
Die Feier zu Ehren des 25jährigen Professor en-Jubiläums
der Herrn Hofrathes Prof. Dr. Kaposi findet am 23. October a. c.
um 9 Uhr Vormittags im Hörsaale der dermatologischen Universitäts¬
klinik im Allgemeinen Krankenhause statt.
*
In der am 8. October d. J. abgehaltenen Sitzung des nieder¬
österreichischen Landes-Sanitätsrathes wurden fol¬
gende Referate erstattet: 1. Gutachten, betreffend die Herstellung einer
für die Vornahme bacteriologischer Untersuchungen bestimmten Barake
in einer k. k. Krankenanstalt zu Wien. 2. Aeusserung über ein An¬
suchen um Errichtung einer neuen öffentlichen Apotheke in einer Ge¬
meinde Niederösterreichs. 3. Gutächtliche Aeusserung über die Zu¬
lassung von Erleichterungen im Verkehre mit Celluloidwaaren.
4. Begutachtung des Statutes, der Hausordnung und der Instruction
einer privaten Krankenanstalt in Wien. 5. Aeusserung über ein An¬
suchen um Bewilligung zum Bezüge von Saccharin zur Herstellung
von Obstconserven für Zuckerkranke.
*
Kundmachung der k. k. niederösterreicbischen Statthalterei
in Wien vom 8. October 1900, Z. 86.068 ex 1900, betreffend die
Ausschreibung der Wahl für die Wiener Aerztekammer.
Nachdem das Reclamationsverfahren bezüglich der Zusammenstellung
der Wählerlisten für die Neuwahl in die Wiener Aerztekammer und
somit die Vorbereitungen für die Constituirung der bezeichneten
Kammer beendet sind, wird hiemit § 7 des Gesetzes vom 22. De¬
cember 1891, R. G. Bl. Nr. 6 ex 1892, betreffend die Errichtung von
Aerztekammern und gemäss der Bestimmungen der Durchführungs¬
verordnung vom 30. November 1893, L. G. und V. Bl. Nr. 61, die
Neuwahl der 29 Kammermitglieder und ebenso vieler Stellvertreter
ausgeschrieben und als Wahltag Dienstag der 30. October
1900 festgesetzt. Laut der vorerwähnten Durchführungsverordnung
sind die von den Wählern deutlich, jeden Zweifel ausschlieesend, aus¬
gefertigten und mit der eigenhändigen Namensunterschrift versehenen
Stimmzettel am Wahltage bei dem Wiener Magistrate entweder per¬
sönlich zu übergeben oder versiegelt durch die k. k. Post dahin zu
übersenden. Die Stimmzettel werden den Wahlberechtigten durch den
Wiener Magistrat spätestens bis 22. October 1900 mit den er¬
forderlichen Informationen über die Ausfüllung
und Einsendung zugestellt werden. Sollte deren Zustellung bis
zum obbezeichneten Termine nicht erfolgt oder sollten zugestellte
Stimmzettel in Verstoss gerathen oder unbrauchbar geworden sein, so
haben sich die Wahlberechtigten wegen Erlangung von Stimmzetteln,
beziehungsweise von Duplicaten derselben rechtzeitig an den Wiener
Magistrat zu wenden. Die Benützung anderer als amtlicher Stimmzettel
ist unzulässig.
*
Der Verband der Aerzte Wiens hat folgende Candidate n-
liste für die Aerztekammerwahlen aufgestellt: Wirkliche Mitglieder:
Adler Heinrich, Böhm August, Finger Ernst, Ger-
suny Robert, GlattauerBerthold, Gruss Adolf, Heim
Josef, Herz Max, Ja risch Karl sen., Jellinek Heinrich,
Kienast Victor, Klein Adolf, Kohn Karl, Kornfeld
Josef, Ivosel Heinrich, Nussbaum Julius, Obhlidal
Moriz, Pupini Horaz, Schauta Friedrich, Schmarda
Alfred, Scholz Josef, Schum Hans, Steiner Ferdinand,
Stransky Max, Stricker Ludwig; Svetlin Wilhelm,
Uhlik Alexius, Weiss Ignaz, Wörz Johann. Stell¬
vertreter : GleichAIfred, I r 1 1 Adolf, L u i t h 1 e n Friedrich,
Krips Josef, Breuer Moriz, Ger stinger Friedrich,
Hrubesch Franz, Müller Karl, Wiesinger Edmund,
K offend Josef, Bich ler Hans, Tennenbaum Sigmund,
Ehrenhaft Leopold, Schnabl Isidor, Kanitz Norbert,
Küchle r Eduard, For sehne r Wilhelm, Back Richard,
Ullmann Emericb, Wiesenthal Alfred, Frey Ludwig,
Rimböck Karl, W eiss Heinrich, Gro sz Samuel, Lauter¬
stein Simeon, Reznicek Franz, Groissinger Johann,
Trost Jakob, Kofend Adolf.
*
Mittheilung über die Centralausschusssitzung der
Organisation der Wiener Aerzte vom 6. October 1900.
1. Nach dem vom Wahlcomite erstatteten Vorschläge wird die Candi-
datenliste für die Kammer wähl endgütig festgesetzt. 2. Das Prä¬
sidium wird beauftragt, an massgebender Stelle die ehebaldigste Aus¬
schreibung der Kammer wählen betreiben zu wollen. 3. Der
von Dr. Klein erstattete Cassabe rieht wird zur Kenntniss ge¬
nommen. Die Vereine, welche mit ihren Beiträgen (1 K
pro Mitglied) im Rückstände sind, werden ersucht, die¬
selben schleunigst zu entrichten. Als Revisoren wurden
die Herren Dr. F o g e s (IX. Bezirk) und Dr. Ger stinger (V. Bezirk)
gewählt. 4. Nach einem von Dr. Steiner erstatteten Referate über
die von Seiten des Verbandes mit den Lebens- und Unfall-
Versicherungsgesellschaften zu treffenden Vereinbarungen
wurden einige von den Gesellschaften gemachte Vorschläge an¬
genommen, bezüglich anderer aber der Referent beauftragt, sich
neuerlich mit den Gesellschaften ins Einvernehmen zu setzen. 5. Eine
Zuschrift der Pittener Aerzte, welche die Intervention des Ver¬
bandes in einer Differenz mit der dortigen Betriebskrankencasse er¬
bittet, wurde dahin erledigt, dass der Centralausschuss die Collegen,
welche sich um die von der Casse in den politischen Journalen aus¬
geschriebene Cassenarztesstelle bewerben wollen, vor einer übereilten
Annahme dieser Stelle warnt und sie aufmerksam macht, sich vorher
an die niederösterreichische Kammer zu wenden. 6. Das Präsidium
wird beauftragt, dahin zu wirken, dass die Statthalterei bei der pro-
jectirten Enquöte über die Privatkrankenvereine einen Ver¬
treter des Verbandes zuziehe.
*
Communique über die Central-Ausschusssitzung des „Ver¬
bandes der Aerzte Wiens“ vom 13. d. M. 1. Der „Verband der
Aerzte Wiens“ hat mit Bedauern Kenntniss erlangt, dass ein
Wiener Arzt unter Bruch seines Ehrenwortes eine Stelle als
Arzt bei einer Meisterkrankencasse angenommen hat. Der Präsident
wird beauftragt, den Betreffenden zu beeinflussen, die Stelle nieder¬
zulegen. Gleichzeitig wird beschlossen, die Collegen zu erinnern, dass
an dem alten Standpunkte bezüglich der Nichtannahme irgend einer
ärztlichen Stelle bei den Meistercassen festgehalten wird. 2 Es wird
beschlossen, innerhalb der nächsten 14 Tage eine Sitzung abzuhalten,
in welcher ausschliesslieh die Frage der Meistercassen besprochen
wird. Ein Comite wird beauftragt, über diese Angelegenheit zureferiren.
3. Das Anerbieten des „O österreichischen Aerzte-
kammer-Blattes“, dem Centralausschusse eine Anzahl von
Exemplaren zur Verfügung zu stellen, wird mit Befriedigung ange¬
nommen. (Es wird beschlossen, der Redaction regelmässig Berichte
über die Sitzungen zugehen zu lassen.) 4. Infolge einer Anregung
seitens der mährischen Kammer wird beschlossen, die Wiener Collegen
durch die ärztlichen Vereine auf die Wichtigkeit der bevor¬
stehenden Reichsrathswahlen aufmerksam zu machen und
sie aufzufordern, für die Wahl von Candidaten aus dem Aerztestande
oder wenigstens von solchen Candidaten, welche den ärztlichen An¬
gelegenheiten Interesse und Verständniss entgegenbringen, mit allem
Eifer eiuzutreten. 5. Der Präsident referirt über den gegenwärtigen
Stand der Organisation. In Wien bestehen 17 socialärztliche
Vereine, welche zusammen 1726 Mitglieder zählen. — Die ärztlichen
Vereine werden ersucht, die noch ausserhalb der Vereine stehenden
Aerzte zum Eintritte in dieselben mit allem Nachdrucke zu veranlassen.
6. Behufs Activirung des Organisationsfonds wird ein sechs-
gliederiges Comite gewählt.
*
Der „Verband der Aerzte Wiens“ ersucht uns, mitzutheilen,
„dass in seiner letzten Sitzung vom 13. d. M. neuerdings ausdrücklich
erklärt wurde, dass die Annahme von irgendwelchen Stellen
bei den Meistercassen, auch etwa einer solchen als Control¬
arzt nach wie vor standesunwürdig sei und einen Verrath an der ge¬
summten Aerzteschaft involvire“.
*
Warnung. Die Betriebskrankencasse in Pitten hat wegen
Houorardifferenzen mit ihren dermaligen Aerzten durch ein Inserat in
982
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 42
den politischen Blättern die Stelle eines Casseuarztes ausgeschrieben
und dabei das Honorar noch niedriger gestellt, als die von den jetzigen
Aerzten bezogene Summe ausmacht. Nachdem in P i 1 1 e n — einem
Orte mit nur 3000 Einwohnern — bereits drei Aerzte sesshaft sind,
sieht sich der „Verband der Aerzte Wiens“ veranlasst, jene Collegen,
welche sich etwa um diese Stelle bewerben wollten, zu warnen, sich
auf eine Annahme dieser Stelle einzulassen, ohne vorher bei der
niederösterreichischen Aerztekammer angefragt zu haben.
*
Feier in der Witwensocietät des Wiener medi-
cinischen Doctorencolegiums. Im Sitzungssaale der
Societät fand am 11. October d. J., Abends G Uhr, die Enthüllung
des von Andreas Groll trefflich ausgeführten Bildnisses des ver¬
dienten Präses, Regierungsrath Dr. Spitzmüller, statt. Nach einer
Ansprache des Ilofrathes Prof. Dr. v. Re der beleuchtete der Vice-
präsident, Prof. Dr. Bergmeister, die vielfachen Verdienste, die
sich der Gefeierte um die Societät, insbesondere um das Zustande¬
kommen des Societätshauses, des Van Swietenhofes in der Rothen¬
thurmstrasse, erworben und dankte ihm im Namen der Societäts-
mitglieder für diese seine Thätigkeit. Nach kurzen Dankesworten des
Gefeierten schloss die intime Feier.
*
Der Collegentag, der im Jahre 1874 an der Wiener
medicinischen Fakultät absolvirten Mediciner (1869 — 1874) findet am
20. und 21. October 1. J. statt. Bisher haben sich circa GO Theil-
nehmer gemeldet. Begrüssung am Samstag, den 20. October, Abends
8 Uhr, im Restauraut Riedhof.
*
Durch den Verlag der Hof- und Verlagsbuchhandlung Karl
Fromme in Wien ist eben der „Oesterreichische
Medicinalkal ende r“ mit Recepttasehenbuch, herausgegeben von
Dr. Fritz Langer, für 1901 zur Ausgabe gekommen.
*
Lohnstei n’s „M edicinalkalender“ und „Recept-
Taschenbueh“ für 1901, ist in bekannter Form und Ausstattung im
Verlage der Allgemeinen medicinischen Centralzeitung (Oskar Coblentz)
in Berlin erschienen.
*
Bei D e u t i c k e, Wien, ist der X. Jahrgang des „T h e r a p e u-
ti sehen Jahrbuches“ von Dr. E. Nitzeinadel erschienen.
Derselbe umfasst die einschlägige Literatur des Jahres 1899.
*
Die beiden auf dem diesjährigen Naturforschertage in Aachen
gehaltenen Vorträge: Her twig: „Die Entwicklung der Biologie im
XIX. Jahrhundert“ und Naunyn: „Die Entwicklung der inneren
Medicin mit Hygiene und Bacteriologie im XIX. Jahrhundert“ sind im
Verlage von G. Fischer, Jena, in Heftform erschienen.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 39. Jahreswoche (vom 23. September
bis 29. September 1900). Lebend geboren: ehelich 649, unehelich 287, zusammen
936. Todt geboren: ehelich 30, unehelich 22, zusammen 52. Gesammtzahl
der Todesfälle 533 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
16 7 Todesfälle), darunter an Tuberculose 86, Blattern 0, Masern 5,
Scharlach 8, Diphtherie und Croup 3, Pertussis 2, Typhus abdominalis 3,
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 1, Cholera 0, Puerperalfieber 1, Neu¬
bildungen 43. Angezeigte Infectionskrankheiten : Blattern 0 (— ), Varicellen
14 ( — 3), Masern 59 (-]- 12j, Scharlach 44 (-|- 14), Typhus abdominalis
23 (— 3), Typbus exanthematicus 0 (=), Erysipel 24 (-f- 5), Croup und
Diphtherie 41 (-j- 12), Pertussis 30 ( — 4), Dysenterie 2 (— |— 2) , Cholera 0
(=), Puerperalfieber 1 ( — 1), Trachom 9 (-f- 5), Influenza 0 (=).
Von der Bibliothek.
Nachstehende Werke wurden seit 4. October 1900 (siehe
Nr. 40, 1900 der »Wiener klinischen Wochenschrift«) von
dem Gefertigten für die Bibliothek der k. k. Gesellschaft
der Aerzte in Empfang genommen:
Nr. 3.
Von der Itedaction der Wiener klin. Wochenschrift:
Bachmann M., Die Veränderungen an den inneren Organen bei hochgradigen
Skoliosen und llyposkoliosen. Stuttgart 1899. 4°.
Berlin Ren6, Observation d’un cas rare de kyste derraoide du mediastin.
Pneumectomie partielle. Guerison. Clermont (Oise) 1900. 8°.
Cutter E. and J. A. Cutter, On galvanism; food primer; food Causation of
Cataract. Diabetes and Locomotor Ataxia. Philadelphia 1900. 8°.
(Extr.)
D Amato Luigi e Villari Pietro, Sulle presenza dei globuli rossi colorabili
a fresco col bleu di metilene, nel sangue degl individui sani e ma-
latti. Firenze 1900. 8°. (Estr.)
Gluzinskiego A., Zbior Prac z Kliniki Lekarskiiej Uniwersytetu Lwowskiego
Krakow 1899—1900. 8°. 2 Vol.
Hertoghe E., L’hypothyro'fdie benigne chronique ou myxoedeme fruste
Paris 1899. 8».
Källay A., Ueber Diabetes mellitus. Eine neue Eintbeilung desselben. Karls¬
bad 1899. 8°.
Kijanizin, Nouvelles experiences sur l’influence de Pair sterilise sur les ani-
maux. Liege 1900. 8°. (Extr.)
Marc, Wildungen und seine Mineralquellen mit besonderer Berücksichtigung
ihres Einflusses auf die Erkrankungen der Harnorgane. Bad Wil¬
dlingen 1900. 8°.
Runge Max, Das Weib in seiner geschlechtlichen Eigenart. Berlin
1900. 8n.
Schott, Die Heilfactoren Bad Nauheims. Festschrift. Wiesbaden 1900. 8°-
Siegenbeek van Heukelom, Recueil de Travaux du Laboratoire Bo er
liaave 1888/98. Leide 1899. 8°. 2 Vol.
Traversa G., Valore della globulimetria ed emocromometria nella diagnosi
e cura della sifilide. Catania 1900. 8°. (Estr.)
Annaies de la Societe Beige de Chirurgie. Bruxelles 1899. Complet.
American Journal of the medical Sciences. Philadelphia 1900. I. Complet.
Archivio di Ortopedia. Milano 1899. 8°. Complet.
Archivio italiano di Otologia. Torino 1900. Vol. IX.
Bulletins et Memoires de la Socicte medicale des Höpitaux de Paris.
Annees 1896 — 1899. Complet.
Die ärztliche Praxis. Jahrgang 1898, 1899. Complet.
Der achtundzwanzigste schlesische Bädertag. Reinerz 1900. 8°.
L'Annee Chirurqicai. Bruxelles 1900. 8°.
La Riforma Medica. Napoli 1900. Vol. I, H. Complet.
Le Scalpel. Liege 1839 1900. Complet.
Wiener zahnärztliche Monatsschrift. Wien 1899. Complet.
Gazzetta degli Ospedali e del le Cliniche. Milano 1900. I. Complet.
Sitzungsberichte der Gesellschaft für Morphologie und Physiologie in
München. XV. 1899. München 1900. 8°.
Wien, im October 1900. Unger.
Freie Stelleii.
Am St. Eiisabetli-Spitale in Wie n, in., kommt die Stelle eines
Secundararztes der gynäkologischen Abtheilung zur Besetzung. Be¬
werber müssen Doctoien der gesammten Heilkunde sein und einige chirur¬
gische Vorkenntnisse besitzen. Der Secundararzt der genannten Anstalt ist
zufolge Hofkanzleidecretes den Secundarärzten der k. k. Krankenanstalten
bei Bewerbung um eine Staatsanstellung gleichgestellt, und bezieht eine
Remuneration von 600 K nebst freier Wohnung und Verpflegung. Gesuche
sind zu richten bis längstens 10. November 1900 an die Leitung
des Spitales: Wien, III., Hauptstrasse Nr. 4. Dienstantritt am 17. No¬
vember 1900.
D i s tr icts a r zt, ess teil e in Neumarkt, politischer Bezirk Tepl,
Böhmen. Dieser District besteht aus 13 politischen Gemeinden mit einer
Bevölkerung von 4516 Seelen und hat eine Fläche von 82 km2. Der jähr¬
liche Gehalt ist mit 800 K und das Reisepauschale mit 312 K bemessen.
Dem Districtsarzte obliegt auch die Verpflichtung der unentgeltlichen Be¬
handlung der Armen des Districtes. Der Dienstposten ist für das erste Jahr
ein provisorischer, nach dessen Verlauf die Bezirksvertretung wegen defi¬
nitiver Verleihung entscheiden wird. Da dieser D.enstposteu mit 1. November
1900 anzutreten ist, so haben Bewerber deutscher Nationalität ihre
mit den im § 5 des Landesgesetzhlattes vom 23. Februar 1888 vorge-
schriebenen Belegen versehenen Gesuche bis 18. October 1900 bei dem
Bezirksausschüsse in Weseritz einzubringen.
Districtsarztesstelle in Rieg, Krain. Jahresgehalt 1600 K.
Bewerber um diese Stelle haben ihre Gesuche bis zum 20. October 1900
an den krainerisclien Landesausschuss in Laibach einzusenden und in den¬
selben das Alter, die Berechtigung zur Ausübung der ärztlichen Praxis, die
österreichische Staatsbürgerschaft, physische Eignung, moralische Unbe¬
scholtenheit, bisherige Verwendung und Kenntniss der slovenischen und
deutschen Sprache nachzuweisen. Beigefügt wird, dass nur solche Bewerber
berücksichtigt werden, welche eine zweijährige Spitalspraxis nachzuweisen in
der Lage sind.
Gemeindearztesstelle im Sanitätsdistricte Vöttau, politischer
Bezirk Znaim, Mähren. Der District zählt 1614 Einwohner; Gehalt und
Fahrpauschale 724 K jährlich. Von der Herrschaft Vöttau überdies 800 K
jährlich, freie Wohnung und 24 m2 Brennholz. Die mit den Nachweisungen
über das Alter, die wissenschaftliche Befähigung, die bisherige Verwendung,
die Wohl Verhaltenheit, die österreichische Staatsbürgerschaft, die Kenntniss
beider Landessprachen und mit einem staatsärztlichen Gesundheitszeugnisse
belegten Gesuche sind bis 10. November d. J. an den Obmann der Dele-
girtenversammlung, Johann Bayer in Vöttau, einzusenden.
Secundararztesstelle im Allgemeinen Krankenhause in Mährisch-
Weisskirchen. Befähigung für internes und chirurgisches Fach und
Kenntniss beider Landessprachen erforderlich. Jahresgehalt bei freier Wohnung
und Station 1000 K. Belegte Gesuche sind an den Gemeinderath der Stadt
Mährisch-Weisskirchen zu richten.
Gemeindearztesstelle in Speisendorf, Bezirk Waidhofen an
der Thaya, Niederösterreicb. Fixe Bezüge: 400 K Gemeindebeiträge und
800 K Subvention aus dem Landesfonde. Ausserdem stellt die Gemeinde
Speisendorf eine freie Wohnung, bestehend aus einem Hause mit Garten,
grossem Hofe, Scheune und Stallung bei. Haltung einer Hausapotheke er¬
forderlich. Bewerber um diese Stelle haben ihre ordnungsgemäss belegten
Gesuche bis längstens 15. October 1. J. bei der k. k. Bezii kshauptmann
Schaft Waidhofen a. d. Thaya oder beim Gemeindeamte Karlstein einzu-
briugen. Bewerber mit Spitalspraxis haben den Vorzug.
Nr. 42
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
9N3
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressberichte.
INHALT:
72. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Aachen 1900.
(Fortsetzung.)
13. Internationaler medicinischer Congress zu Paris. (2.-9. August
1900.) (Fortsetzung.)
72. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in
Aachen 1900.
(Fortsetzung.)
Abtheilung für Chirurgie.
XI. Becker (Aachen): Demonstration von Prä-
para t e n.
Die vorgezeigten Piäparate stammen von zwei von W. M ü 1 1 e r
operirten Kranken.
In dem einen Falle handelte es sich um einen am acromialen
Ende der Clavicula sitzenden Tumor, der seiner Enstehungsgeschichte
nach für ein myelogenes Sarkom gehalten wurde. Bei der Operation
fand sich eine mannsfaustgrosse derbe Geschwulst, deren Inneres aus
einem cystischen, mit altem Blute gefüllten Hohlraum bestand. Die
mikroskopische Untersuchung ergab, dass es sich nicht um ein Sarkom,
sondern um ein Adenom vom typischen Bau des Schilddrüsengewebes
handelte. Der Tumor hatte seinen Ausgang von einer Struma aberrata
genommen. Die Schilddrüse des Patienten wies keine Veränderung auf.
Einen gleichen Fall hat Riedel beschrieben.
Das zweite Präparat stammt von einem Kranken, der mit einer
kindskopfgrossen rechts über der Nabellinie gelegenen Geschwulst in
die Klinik kam. Der Tumor bot deutliche Fluctuation dar und entsprach
seiner Lage nach dem Pankreaskopf. Diagnose: Pankreascyste. Bei der
Operation findet sich, dass der Tumor vom Pylorus des Magens ausgeht.
Aus dem cystischen Hohlraum werden 2 1 Flüssigkeit entleert, dann
die Gastroenterostomie angeschlossen. Der Patient starb. Bei der
Section findet sich ausser dem Carclnom des Pylorus ein zweites
Carcinom an der Cardia. Zwischen beiden Tumoren liegt normale
Magenwand. Carcinöse Veränderungen anderer Organe fanden sich nicht.
Es handelt sich nach unserer Auffassung um zwei primär ent¬
standene Carcinome des Magens.
XII. Viertel (Breslau) : Ueber Blasenchirurgie,
in specie über Operationen bei Prostatahyper¬
trophie.
An der Hand einer grossen Sammlung vortrefflicher plastischer
Nachbildungen in natürlicher Grösse, von Präparaten und ausge¬
zeichneten Photographien veranschaulicht Viertel die pathologisch¬
anatomischen Verändei ungen der erkrankten Blase in den ver¬
schiedensten Stadien. Eine reichhaltige Sammlung von Blasensteinen
aller Grösse und Herkunft ergänzt die höchst interessante Demonstration.
Auf die chirurgische Behandlung der Prostatahypertrophie übergehend,
bekennt sich Viertel als ein Anhänger der B o 1 1 i n i’schen
Operation. Sie liefert uns unzweifelhafte Erfolge in Fällen, wo andere
Methoden versagen, namentlich bei den Kranken, die nicht ein einiger-
massen erträgliches „Katheterleben“ führen, sondern allen Qualen des
„Katheterelends verfallen sind. Seit uns Freudenberg gelehrt hat,
die Operation genauer zu controliren, sind die Bedenken gegen sie ge¬
schwunden. Der Erfolg der Operation ist oft ein unmittelbarer. Un¬
bedingt erforderlich ist freilich eine sorgfältige Untersuchung über
Sitz und Umfang der pathologischen Veränderung und eine genaue
kystoskopische Orientirung. Zur Blasenfüllung bevorzugt Viertel das
Borwasser.
W. Müller (Aachen) kann in das Lob der B o 1 1 i n i’schen
Operation nicht einstimmen. Wiederholt hat er trotz sorgfältigster
Vorbereitung und vorsichtigsten Operirens fatale Misserfolge erlebt.
Er ist jetzt ganz zur Katheterbehandlung zurückgekehrt und steht mit
vielen anderen Chirurgen auf dem Standpunkte, dass die Bottini-
sche Operation, auch von der Hand des bestgeübtesten Chirurgen aus¬
geführt, ein ebenso gefährliches, w'ie in seinem Erfolge unsicheres Ex¬
periment sei.
*
II. Sitzung.
Vorsitzender: Geheimrath Prof. Bardenheuer.
I. Longard (Aachen) : Thoracoplastik (Kranken¬
vorstellung).
Longard stellt zwei Kranke vor, bei denen die Thoracoplastik
nach Schede völlige Heilung brachte, nachdem die monatelang
vorhergegangene gewöhnliche Einsetzenoperation es zu keiner Aus¬
heilung des Processes hatte kommen lassen.
Bei der einen Kranken trat im Anschlüsse an eine Wochenbett-
pyämie in der vierten Woche nach der Infection ein Empyem der
linken Seite auf. Die Resection der achten Rippe brachte nicht die
erhoffte Besserung. Es bestand anhaltend reichliche Secretion jauchigen
Eiters aus der Wunde und die Patientin kam nicht zu Kräften. Nach
drei Monaten wurde die Thoracoplastik gemacht und fünf Rippen
resecirt. Von da ab anhaltende Besserung. Jetzt ist die Patientin
völlig hergestellt. Es besteht keine Fistel.
Bei dem zweiten Patienten wurde ebenfalls nach erfolgloser
Empyemoperation mit Resection einer Rippe nach mehreren Monaten
die Thoracoplastik mit Resection der zweiten bis neunten Rippe vor¬
genommen. Auch dieser Fall ist ohne Hinterlassung einer Fistel voll¬
kommen geheilt.
II. Frank (Köln) : Sehnen- und Bänderplastik
bei Fussdeformi täten (Krankenvorstellung).
Die bei den paralytischen Fusscontracturen gebräuchlichen Ope¬
rationsmethoden hat Prof. Bardenheuer mit gutem Erfolge auch
bei nicht paralytischen Fussdeformitäten angewandt. In dem hier vor¬
gestellten Falle handelte es sich um einen Pes calcaneo-valgus
rachiticus. Es liegt dabei stets eine nutritive Verkürzung der Achilles¬
sehne vor. Die Achillessehne wurde verlängert, der M. tibialis posticus
verkürzt und mit dem Tibial. antic, vernäht; an diese Sehnen¬
verkürzung schloss Bardenheuer die Verkürzung der Ligamente
auf der Prouationsseite, also namentlich des Ligam. deltoides an. Das
Resultat ist, wie der vorgestellte Fall zeigt, sehr gut.
Dithmer (Schwerte) glaubt, dass Operationen dieser Art wegen
rachitischer Deformitäten bei kleinen Kindern nicht zu rechtfertigen
seien. Man müsse doch zunächst die Rückbildung der Deformität
unter der gewöhnlichen antirachitischen Behandlung durch Roborantien,
Phosphor etc. abwarten.
III. Quadflieg (Aachen) : Ueber Intubation.
Von 310 vom October 1899 bis August 1900 in das Maiiahilf-
spital mit Diphtherie eingelieferten Kindern wurden 43 intubirt. Bei
24 musste nachträglich die Tracheotomie gemacht werden. Von den
Intubirten, nicht Tracheotomirten starben 2 — 10’6%; von 63
tracheotomirten Kindern starben 16 = 25 °/0.
Der Tubus blieb in der Regel zwei Tage liegen, im höchsten
Falle 96 Stunden. In mehreren Fällen wurde der Tubus ausgehustet
und muste wiederholt eingeführt werden. Die Kinder konnten stets
ohne Schwierigkeit ernährt werden. Bei der Intubation wurde keine
Narkose angewandt.
Die Intubation soll und kann die Tracheotomie nicht verdrängen,
sie ist aber in geeigneten Fällen in der Spitalbehandlung ein Ersatz
der Tracheotomio mit grossen Vorzügen. Ueber das anzuwendende
Verfahren, ob Tracheotomie, ob Intubation, muss die Schwere des
einzelnen Falles entscheiden.
IV. F. Niehues (Bonn) : Die Behandlung der
chirurgischen T über c u lose mit Zimmtsäure (H e t o 1).
Nach einleitenden Bemerkungen über das Schicksal tubereulöser
Neubildungen nach operativen Eingriffen, sowie nach Behandlung mit
Tuberculin bei B i e r’scher Stauung spricht Niehues über die
Ländere r’sche Behandlung der chirurgischen Tuberculose. Län¬
derer machte zuerst intravenöse Injectionen von Perubalsam, der in
fein vertheilter Form in der Umgebung des tuberculösen Herdes eine
Entzündung (Leukocytose) hervorruft. Vom Perubalsam ist Länderer
abgekommen, da er erkannte, dass dessen Bestandtheil die Zimmtsäure
ist; jetzt verwendet er eine wässerige Lösung von Zimmtsäure. Die
Heilwirkung beruht aber nicht, wie man annabm, auf der Leukocytose
um den tuberculös erkrankten Bezirk, sondern sie ist an die zimmt-
sauren Salze gebunden. Wie diese Wirkung zu erklären ist, weiss man
nicht genau, aber die Versuche an Kaninchen machten es unzweifel¬
haft, dass die Zimmtsäure Kaninchentuberculose heilt. Der Ileilungs-
process spielt sich hiebei in der Weise ab, dass zunächst um den
tuberculösen Herd herum ein entzündlicher Wall entsteht, an diesen
schliesst sich bindegewebige Organisation und weiterhin Schrumpfung
des tuberculösen Gewebes. Länderer behauptete nun, dass dies**
Wirkung auch bei Menschen auftrete.
984
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 42
Niehues selbst nun behandelte 66 Patienten im Alter von
1’. ., — 65 Jahren, die noch ein Jahr nach der Entlassung nachcontrolirt
wu den, mit Hetol. Von diesen litten 19 an Coxitis, 15 an Fungus genu,
11 an Fusstuberculose, 5 an Tuberculose der oberen Gliedmassen,
7 an Spondylitis, 4 an Beckenearies, je einer an Halsdrüsen-, Weich-
theil- und Blasentuberculose, 2 an Ilodentuberculose.
Von diesen Kranken starben 9 = 13'5°/o (3 an Amyloid, 1 an
Phthise, 1 an Collaps, 2 an Kräfteverfall, 2 an Meningitis. Die Menin¬
gitis stand nicht im Zusammenhänge mit der Behandlung).
Ungebessert blieben 12 = 18'5°/o (zum Theil weil zu früh der
Behandlung entzogen).
Gebessert (z. B. noch nicht völlig gehfähig nach Coxitis)
wurden 24 °/0.
Geheilt wurden 27 Fälle = 4 1 o/0 (5 Coxitiden, 7 Fungus genu,
8 Fusstuberculosen, 2 Beckenearies, je 1 Tuberculose der Hand, der
Wirbelsäule, der Hoden, der Weichtheile und Drüsen).
Mit Ländere r’s Statistik verglichen stellen sich die Resultate,
wie folgt:
Heilung -|- Besserung
Länderer Niehues
Coxitiden . 83% 47 %
Fungus genu .... 75% 75%
Fusstuberculose . . . 83% 47 %
zusammen über 90% 63 %
(N i e h u e s’ Tuberculosenbehandlung).
M i t Hetol behandelt
19 Coxitiden ... 5 Heilungen, 4 Besserungen
15 Kniefungen . . 7 „ 4 „
11 Fusstuberculosen 8 „ 1 Besserung
Ohne Hetol behandelt
19 Coxitiden ... 2 Heilungen, 5 Besserungen
15 Kniefungen . . 4 „ 6 „
11 Fusstuberculosen 2 „ 5 „
Bei der Hetolbehandlung ergeben sich also mehr Heilungen,
weniger Besserungen. Die ohne Hetol Behandelten erscheinen im gün¬
stigsten Lichte, weil sie auf die Dauer der Heilung nicht nachcontrolirt
werden konnten.
Unter der Zimmtsäurebebandlung hoben sich sehr bald Appetit
und Gewicht. Der Urin blieb frei von Eiweiss, das Fieber wurde nicht
beeinflusst.
Die Injection wurde intravenös vorgenommen, die am Orte der
Erkrankungen vorgenommenen Einspritzungen nach einigen Versuchen
der heftigen Schmerzen wegen aufgegeben.
Gleichzeitig fand eine locale Behandlung durch fixirende Ver¬
bände, Extension etc. statt. Während der Behandlung auftretende
Abscesse wurden gespalten und mit einem Gemisch von Jodoform und
Hetocresol behandelt. Mit demselben Gemisch erzielte Niehues
gute Erfolge bei offenen tuberculösen Processen, in Fisteln wurden
Stifte der Masse eingelassen. Die Secretion nahm hiebei stets stark zu,
weshalb sich das Verfahren für decrepide Kranke, die durch den leb¬
haften Säfteverlust sehr geschwächt werden, nicht eignet.
Alle operirten Fälle wurden mikroskopisch untersucht. Die Prä¬
parate zeigen zum Theil nur enorme Leukocytose.
Ein endgiltiges Urtheil über den Werth der Zimmtsäurebehand-
lung lässt sich noch nicht abgeben. Ob die Heilung dem Hetol allein
zuzuschreiben ist, ist nicht erwiesen. Jedenfalls laden die erzielten Er¬
folge sehr zur Nachprüfung ein.
Vulpius (Heidelberg) behandelte 20 Kranke mit Zimmtsäure.
Er hat schlechte Erfahrungen damit gemacht, in der Mehrzahl der
Fälle traten Schüttelfröste, hohes Fieber und sonstige schwere
Störungen des Allgemeinbefindens auf. Er hat diese Behandlung jetzt
ganz verlassen.
Niehues betont nochmals, dass er nie Fiebersteigernugen und
andere üble Folgen sah. Er glaubt, Vulpius’ Misserfolge der Art
der Anwendung des Mittels zuschreiben zu müssen.
V. Bade (Hannover) : Die Knochen st ructur des
Oberschenkels bei Arthritis deformans. (Demonstration
von Röntgenogrammen.)
Am oberen Femurende unterscheidet Bade zwei Arten von
Arthritis deformans: 1. eine nur wenig deforme, 2. eine stark deforme
Art. Bei beiden Arten findet sich eine hypertrophische Form des Pro¬
cesses. Bei der hypertrophischen Form sind die Zug- und Druckbogen
auseinandergezogen, bei der atrophischen zusammengepresst. Die Structur
des deformirten Knochens zeigt einen von dem normalen sehr ab¬
weichenden Verlauf der Bälkchen. Dieser kann sich völlig umkehren,
so dass die Bogen der Trochanterseite zu Druck-, die der Adductoren-
seite zu Zugbogen werden. Dann wild der Trochanter major gleichsam
Femurkopf und dieser zum Trochanter major. Diese Verhältnisse sind
nicht mit der W o 1 f f’schen Knochentheorie in Einklang zu bringen.
Zu ihrer Erklärung reicht die mathematisch mechanische Betrachtung
nicht aus, es gehören vielmehr dazu auch embryologische und ver¬
gleichend anatomische Studien.
Eine Zahl wohlgelungener Röntgenogramme erläutert die be¬
schriebenen Verhältnisse in sehr instructiver Weise. (Fortsetzung folgt.)
13. Internationaler medicinischer Congress zu Paris.
(2. — 9. August 1900.)
(Fortsetzung.)
Abtheilung für Otologie.
III. Botey (Barcelona): U.eber o t i t i s c li e Sklerose.
1. Damit man bei der trockenen Otitis berechtiget sei, eine
chirurgische Behandlung zu versuchen, trotz der fast constanten Un¬
wirksamkeit der letzteren, ist es nothwendig, dass die cranielle Wahr¬
nehmung der Uhr erhalten s ei, dass die Probe von Rinne auf der
kranken Seite negativ, und dass die Perforation des Trommelfelles, so
gering sie auch sei, das Gehör verbessere.
2. Man kann bei engem Gehörgange die Perforation des
Trommelfelles ausführen; aber trotzdem man zuweilen eine geringe
Verbesserung des Gehörs erzielt, wird, unter der Voraussetzung, dass
die Bänder und Zwischenwände zerstört worden sind, im Laufe von
zwei Jahren der Kranke wieder so taub, wie vor der Operation.
3. Die Mobilisirung des Steigbügels bei der trockenen Otitis
ist ein ganz unnützer Eingriff, denn die erreichte Besserung, falls eine
erzielt ist, ist immer vorübergehend. Dieser ist blos in den Folge¬
zuständen der Eiterung gerechtfertigt; aber auch in diesen Fällen ist
die Besserung, in -Folge der Ruptur der Verwachsungen des Steig¬
bügels mit der Umgrenzung der Nische des ovalen Fensters, nicht
immer sehr gross und nicht bleibend.
4. Die Extraction des Hammers, des Ambos und der Membran
kann bei gehöriger Weite des Gehörganges durch diesen ausgeführt
werden. Die erhaltenen Resultate sind zum grössten Theile
mittelmässig oder unbedeutend bei der trockenen Otitis, beinahe Null
nach Ablauf des ersten Jahres. Sie können sogar eine Verschlimmerung
der Taubheit zur Folge haben.
5. Die tiefe Mobilisirung des Steigbügels kann ohne die
Operation von Stacke ausgeführt werden. Es genügt, durch den
Gehörgang einen Theil der Wand der Zelle herauszuheben. Die durch
diese Operation bei der trockenen Otitis erzielten Resultate sind zumeist
mittelmässig und selten bleibend.
6. Die Extraction des Steigbügels ist trotz der grossen, in die¬
selbe gesetzten Hoffnungen eine schlechte Operation, die Resultate sind
bei Sklerose des Ohres fast immer Null.
7. Die chirurgische Behandlung der trockenen Otitis ist ein
falscher Weg, welchen die moderne Otologie betreten hat, denn indem
es sich wahrscheinlich um eine Trophoneurose handelt und die Läsionen
im grössten Theile der Zeit wenig otitisch sind, können alle ange¬
wendeten Mittel, um die Organe der Scballwellenleitung gegen das
Labyrinth zu verbessern, nur zur Folge haben, dass Derjenige, der
fast immer krank oder im Zuge es zu werden ist, immer mehr und
mehr im Laufe der Zeit befallen wird.
8. Die von mir gemachten Thierversuche sind auf den Menschen
nicht ganz anwendbar, denn bei jenen ist das Labyrinth intact und
bei unseresgleichen ist es fast immer mehr weniger ergriffen, wenn
auch unsere noch unvollkommenen Mittel der Nachforschung dieses
nicht beweisen können.
(Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag, den 19. October 1900, 7 Uhr Abends,
unter dem Vorsitze des Herrn Hofrathes Prof. Chrobak
stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Hofrath Prof. GllSSOnbauer : Gedenkrede auf weiland Eduard
Albert.
2. Dr. Julius Mahler, Docent Dr. E. Schwarz und Docent
Dr. V. Haramersclllag: Demonstrationen.
Dr. Robert Kienböck: Ueber die Einwirkung des Röntgen-
Lichtes auf die Haut.
Einen Vortrag hat angemeldet Herr Prof. Pal.
Bergmeister, Paltauf.
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich lasper in Wien.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900. Nr. 42
Die bestbewährten Medicamente gegen
Lungen- und Kehlkopf - Tuberculose,
Bronchitis, Scropbulose und Ozäna. Creosotal »Heyden«
und Duotal »Heyden« besitzen die reine Heilwirkung des
Kreosots und Guajacols, frei von den zerrüttenden Neben¬
wirkungen, der Giftigkeit und dem üblen Geruch und Geschmack
des Kreosots und Guajacols. Niemals Reizung des Magens
oder Darms. Kein Durchfall. Kein Uebelsein. Kein Erbrechen.
In hohem Grade appetitanregend. Schnelle Gewichtszunahme
und Besserung. Phthisis ersten Stadiums (Spitzenkatarrh, Ba¬
cillen im Auswurf) schon in einigen Monaten ohne Berufs¬
störung heilbar. Creosotal ist so ungiftig, dass es selbst thee-
löffelweise genommen werden kann.
(Vergl. »Berliner Charitä- Annalen 1897«, »Ziemssen’s Annalen der Münchener Kranken¬
häuser 1896« etc.)
Proben und Litteratursammlung kostenfrei durch
Chemische Fabrik von Heyden, „9„,
Radebeul-Dresden.
Cascarlne Ijeprmce.
^12 ®10 W
Wirksamer Bestandteil der Cascara Sagrada. Cholagogum & Copragogum.
Habituelle
Verstopfung.
Atonie der
Peristaltik.
Das »Cascarine< ist ein chemisch bestimmter krystallisirter Körper etc. (Comptes
tendus de l’Academie des Sciences, Bd. CXV, pag. 386.) Begründet wurde seine thera¬
peutische Wirkungsweise wissenschaftlich iM Laffont, Bulletin de l’Academie de Mede-
cine, 14. Juni 1892) und klinisch (Societe de Therapeutique : Constantin Paul; Dujardin-
Beaumetz, Medications nouvelles, 2. Serie ; Bibliothdqne Charcot-Oobove, Purgatifs,
pag. 104; Prof. Lemoine in Lille. Therapeutique elinique, pag. 305 ; Tison, Hopital
St. -Joseph und Congr6s pour l’avancement des Sciences, Bordeaux, 1895, 1. Theil,
pag. 963 , Prof. Charles in Lüttich, Cours d’accouchements u. s. w.)
Seine Wirkung ist regelmässig, leicht zu erzielen, ohne Angewöhnung, aus¬
gezeichnet bei habitueller Verstopfung und gegen bacterielle Proliferation des Rheuma¬
tismus (Dr. Roux) bei Typhus abdominalis etc.
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General vertretung: St. Leonhards-Apotheke, Basel.
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Zur gefl. Beachtung ! Zur Vermeidung der zahlreichen, unter ähnlichen Namen und
Verpackungen vorkommenden Nachahmungen, bitten wir die Herren Aerzte gefl.
„Cascarine Leprince“ verschreiben zu wollen. (73)
Leber¬
beschwerde.
Antisepsis
des
Verdauunge-
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Literatur: Münchener med. Wochenschrift, 1898, Nr. 37 und 1900 Nr. 6.
Deutsche med. Wochenschrift. 1899, Nr. 18.
Neurologisches Centralblatt, 1900, Nr. 14.
Die ophthalmologische Klinik 1900, Nr, 9.
Medical Press, London, den 6. Juni 1900.
Therapie der Gegenwart, August 1900.
Orvosi netilap, 1900, Nr. 27.
Aerztl. Central-Zeitung, Wien, 1900, Nr. 23.
Ausführliche Literaturberichte kostenfrei durch :
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Wichtige Fortsetzung! Soeben erschien:
ATLAS
der
TOPOGRAM ISCHEN ANATOMIE DES MENSCHEN.
Von
Dr. SS. ZU GKERKANDL,
k. k. Hofratli, o. ü. Professor der Anatomie an der k. k. Universität in Wien.
II. Heft: BRUST.
ln 48 Figuren mit erläuterndem Texte. Lex. -8°. — Broschirt 4 K 80 h — 4 31.
Früher erschien :
I. Heft: KOPF UND HALS.
In 219 Figuren mit erläuterndem Texte. Lex.-8!1. — Broschirt 14 Ä 14 h — 12 M.
Ich brauche diesem in Anlage und Durchführung ganz hervorragenden Werke kaum besondere empfehlende Worte mitzugeben. Für den
wissenschaftlichen Werth bürgt der Name des Autors, der zu unseren bedeutendsten Anatomen zählt. — Was die buchtechnische Seite anlangt, war
ich bestrebt, durch Heranziehung der besten Anstalten namentlich den Farbenholzschnitt in mustergiltiger Weise durchzuführen. So glaube ich, dass in
diesem Atlas der ‘topographischen Anatomie ein Werk entsteht, welches Aerzten und Studirenden gleich Brauchbares bietet und von diesen günstigste
Aufnahme erwarten darf, umsomehr, da ein so ausführlicher, im Preise dabei aber sehr billiger Atlas der topogrophischen Anatomie bisher
nicht vorliegt.
»Deutsche Aerzte-Zeitung«, Berlin, 15. März 1900, Heft 6.
»Das neue Werk des hervorragenden Wiener Anatomen wird sich sicher den Dank aller dafür interressirten Kreise erwerben. Der Referent
gesteht offen ein, dass er von der Klarheit, Uebersichtlichkeit und praktischen Auswahl der einzelnen Figuren und Präparate, nach denen die vollendeten
Zeichnungen geschaffen wurden, geradezu entzückt war. Ich kann mir kaum denken, dass auf diesem Gebiete noch etwas Besseres zu schaffen möglich
ist. Jeder, der das ausgezeichnete Werk gebraucht, der Student im Hörsale und auf der Anatomie, der praktische Arzt, der sich anatomische Verhältnisse, die
ihm entfallen sind, ins Gedächtniss zurückführen will, der Chirurg bei und vor Operationen, der medicinische Lehrer bei Demonstrationen vor seinen
Zuhörern, sie alle werden mit Freude und Nutzen das Buch zur Hand nehmen und dann sicher immer wieder benützen. Das zweite Heft, dem wir mit
dem höchsten Interesse entgegensehen, wird in kürzerer Frist in Aussicht gestellt, das ganze Werk soll in zwei Jahren abgeschlossen sein.«
Stadel mann.
»Centralblatt für Chirurgie«, Leipzig. Nr. 14, 7. April 1900.
»Der in seiner ersten Lieferung vorliegende Atlas, der innerhalb zwei Jahren in fünf Lieferungen erscheinen soll, hat grosse Vorzüge, die
seine Benützung namentlich für den Chirurgen empfehlenswerth erscheinen lassen. Zunächst zeichnen sich die Abbildungen durch Schärfe der Zeichnung
und, da ausserdem vielfach verschiedene Färbungen für die einzelnen Gewebe zur Anwendung kommen, durch besondere Klarheit aus. Ferner sind fast
alle Präparate in Lebensgrösse wiedergegeben, einige — bei der Darstellung kleiner Verhältnisse, z. B. das innere Ohr — sogar in Vergrösserung. Dann
aber nimmt Verfasser bei der Herstellung und Auswahl seiner Präparate besondere Rücksicht auf praktische, namentlich chirurgische Verhältnisse so,
dass die Abbildungen ebenso zur Erleichterung diagnostisch schwieriger Fragen wie zur Vorbereitung für operative Eingiffe vorzugsweise empfehlenswerth
erscheinen. Für die Nervenoperationen an Kopf und Hals, für die Gefässunterbindungen an gleicher Stelle, für Operationen am Gehirn, an der Nase und
ihren Nebenhöhlen, der Augenhöhle, am Ohr, der Parotis, den Mandeln legt Verfasser in zahlreichen eigenartig hergestellten Präparaten ein reiches
Bildermaterial vor, das solche Eingriffe erleichtert, ja in ein paar Abbildungen gibt er sogar pathologische Zustände wieder — vergrösserte Rachen¬
mandel, Retropharyngealabscess — und greift damit direct in die Pathologie über.
Der Text macht nur ganz kurz auf das Wesentlichste einer jeden Abbildung aufmerksam. Der vorliegende Atlas empfiehlt sich in besonders
werthvoller Weise dem praktischen Operateur und dem Lehrer der Chirurgie.« Richter (Breslau).
»Animles de maladies«, Paris, No. 5, Mai 1900.
»L’ouvrage du Prof. Zuckerkandl, dont le premier volume vient de paraitre, et une oeuvre magistrale d’anatomie. Le premier fascicule contient
219 figures d'anatomie topographique de la töte et du cou qui interessent particulierement les chirurgiens speciaux et les lecteurs de ce recueil. Chaque
figure est accompagnee d’une legende detaillee, tres precise, oü abondent des indications nouvelles. Nous avons remarque les figures concernant les
legions parotidiennes et temporales, les coupes des fosses ‘pterygoidiennes et pterygo palatines. De tres belles figures reproduisent les preparations par
corrosion des sinus de la dure-mere. Nous voyons repiesentees aussi des coupes des fosses nasales avec les rapports des cellules ethmoTdales, de l’in-
fundibulum et de l’hiatus maxillaire. Ces coupes sont aussi precieuses pour les rhinologistes que pour les anatomistes purs. La topographie de l’oreille
moyenne est representee d’une fa<;on originale; nous signalons ä l’attention des lecteurs les superbes planches representant le trajet du facial dans le
r ocher et ses connexions avec le Labyrinthe; les rapports du sinus sigmoi'de et de l’antrum; le coupes de l’apopbyse mastoi'de, la topographie complexe
de la region sous-maxillaire et du plancher de la bouche y est l’objet d’uu tr^s grand luxe de details. Enfiu les regions carotidiennes et sus-claviculaires
sont absolument parfaites au point de vie de la clarte et de la precision.« r E. Lombard.
»Therapeutische Monatshefte«, Berlin, Nr. 8, August 1900.
»Der in seinem ersten Theile erschienene topographische Atlas, welcher in zwei Jahren vollständig in 5 Heften vorliegen soll, scheint eine viel
empfundene Lücke glücklich ausfüllen zu wollen, nämlich gute topographische Abbildungen mit specieller Berücksichtigung des praktisch-chirurgischen Stand¬
punktes zu geben. Nicht nur die Auswahl der meist nach eigens hergestellten Präparaten gezeichneten Abbildungen wird diesen Anfordeiungen gerecht,
sondern auch die klare, scharfe Zeichnung der häufig lehensgrossen Figuren gewährt eine vorzügliche Anschaulichkeit. Ein kurzer, sachlicher Text erklärt
die einzelnen Bilder, doch ist, wie es bei einem Atlas natürlich ist, der wesentliche Lehrstoff nicht im Text, sondern in den Abbildungen zu suchen.
Der vorliegende Theil rechtfertigt für die später erscheinenden weitgehende Erwartungen.
Der Atlas kann allen Praktikern, bosonders den operativ thätigen, warm empfohlen werden. Wendel (Marburg).
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, O. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, M. Gruber,
M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann, R. Paltauf,
Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt, A. v. Vogl, J. v. Wagner,
H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gussenhauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselh aum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
TeiepKhonaNr°n3373. Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel.
Die „Wiener klinische
Wochenschrift“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von minde¬
stens zwei Bogen Gross-
qnart.
Zuschriften für die Redac¬
tion sind zu richten an
Dr. Alexander Fraenkel,
IX 3, Maximilianplatz,
Günthergasse 1 . Bestellun¬
gen und Geldsendungen an
die Verlagshandlung.
Abonnementspreis
jährlich 20 K — 20 Mark.
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und Ausland werden von
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Postämtern, sowie auch von
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deren Abbestellung nicht
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zweigespaltene Nonpareille¬
zeile berechnet. Grössere
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kommen.
Verlagshandlung :
Telephon Nr. 6094.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VII 1/1, Wickenburggasse 13.
XIII. Jahrgang. Wien, 25. October 1900. Nr. 43.
I TNT KE .A. LT:
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel : 1. Beitrag zum Studium der hereditären Syphilis in der
zweiten Generation. Von Dr. Edmond Fournier, Chef der
Facultätsklinik für Dermatologie und Syphilis in Paris.
2. Aus der medicinischen Klinik des Prof. Anton Gluzihski in
Lemberg. Ein Beitrag zur Frage der Entstehung einer acuten
Nephritis bei Secundärsyphilis (Nephritis syphilitica praecox). Von
Dr. Abraham Stepler, k. u. k. Regimentsarzt.
3. Aus der chirurgischen Klinik des Herrn Hofrathes Prof. Gussen-
bauer in Wien. Ueber Echinococcus der Niere. Von Dr. Ludwig
Stein, emeritirtem Operateur obiger Klinik.
II. Feuilleton: Dem Andenken E. Albert’s. Von Prof. Güssen bau er.
III. Referate: Therapie der Augenkrankheiten. Von Prof. W. Gold¬
zieher. Ref. E. Fuchs. — Mikroskopie und Chemie am Kranken¬
bette. Von H. Lenhartz. Lehrbuch der klinischen Hydrotherapie
für Studirende und Aerzte. Von M. Matthes. Lehrbuch der
Hydrotherapie. Von B. Buxbaum. Ref. Ortner. — Diagnose
und Chirurgie des otogenen Kleinhirnabscesses. Von W. Okada.
Betrachtungen über die Grenzen der Otochirurgie bei Behand¬
lung der eiterigen Mittelohr- und Warzenfortsatzentzündungen. Von
St etter. Ref. Alexander.
IV. Aus verschiedenen Zeitschriften.
V. Vermischte Nachrichten.
VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Oongressberichte
Beitrag zum Studium der hereditären Syphilis
in der zweiten Generation.
Von Dr. Eniond Fournier, Chef der Facultätsklinik für Dermatologie und
Syphilis in Paris.
Vortrag, bestimmt für den XIII. internationalen medicinischen Congress in
Paris 1900.
Ueber Wunsch des Verfassers aus dem Französischen übersetzt vom Docenteu
Dr. Karl U 1 1 m a n n in Wien.
Meine Herren!
Ich suchte die Studie über die Nachkommenschaft der
Heredo-Syphilitiker, welche ich vor zwei Jahren begonnen
habe, durch weitere Beobachtungen und Nachforschungen zu
vervollständigen und beehre ich mich nun, Ihnen liiemit die
Resultate derselben vorzulegen.
Die Zahl aller Beobachtungen ist relativ klein, beträgt
45 Fälle und bietet also kein umfangreiches Beweismaterial, sie ge¬
winnt aber an Bedeutung, sobald man nur bedenkt, wie
schwierig es ist, bei drei aufeinanderfolgenden Generationen
continuirliche und vollständige Beobachtungen zu sammeln.
Was uns vor allem Anderen bei diesen Beobachtungen
auffällt, das ist die Aehnlicbkeit aller dieser Fälle in Bezug
auf ihren Ausgang, so dass man von selbst auf eine tiefe
gemeinsame Ursache geführt, auf den gemeinsamen schädlichen
Factor bingewiesen wird.
Zwar sind nicht alle dieser Studie zur Grundlage liegen¬
den Beobachtungen völlig einwandfrei, bei der einen fehlt
hier, bei der anderen dort ein ätiologischer Factor und man
könnte den absoluten Werth mancher derselben geradezu be¬
streiten. Doch da sind daneben eine grössere Anzahl anderer
Beobachtungen, die vollkommen in jeder Beziehung alle Ele¬
mente der Entstehung, des Endeffectes in sich enthalten und
so einen unantastbaren Typus darstellen, der für die anderen
Kicken- und mangelhaften eine gesunde Vergleicbsbasis ab¬
geben kann.
Von derlei vollkommenen Typen, bei denen kein Factor
fehlt und" die genaue Geschichte von drei Generationen vorhanden
ist, bin ich in der Lage, 18 aufzuweisen. Folgendes Beispiel
citire ich aufs Gerathewohl als Typus:
I. Grosseltern beide syphilitisch;
II. Mutter liereditärsyphilitisch und an einen gesunden
Mann verheiratet;
III. die Kinder behaftet mit: Dystrophie der Zähne, ins¬
besondere der Schneidezähnefurchungen. Verringerte
Zahnentwicklung im Allgemeinen. Schlechte Ent¬
wicklung des Thorax. Infantilismus. Gesichtsasym¬
metrien. Strabismus, ovale Pupillenbildung.
Bei einer Anzahl von Fällen fehlt allerdings die genaue
Geschichte der Grossstem. Derartige Beobachtungen sind dann
weniger vollkommen und doch haben sie einen grossen Werth,
wenn nur das Individuum der zweiten Generation sich that-
sächlich als hereditärsyphilitisch erwiesen hat und weil man
weiss, dass es seine Syphilis von seinen Verwandten in auf¬
steigender Linie erhielt und dass sein Ehegemahl frei von
jeder erworbenen Syphilis ist.
In einer dritten Gruppe vereinigte ich mehrere noch un¬
vollkommene Beobachtungen, bei denen man sich, ohne die
Geschichte der Grosseltern zu kennen, einem Hereditärsyphi¬
litiker und seinen Nachkommen gegenüber befindet, ohne aber
zu wissen, ob das Ehegemahl dieses Hereditärsyphilitikers
selbst von erworbener Syphilis befallen ist, oder nicht.
Diese letzteren Beobachtungen sind verdächtig, doch da
sie nicht zahlreich sind, glaubte ich auch diese meiner Albeit
beifügen zu dürfen, ohne Furcht, die Resultate dadurch zu
beirren.
■ Dies ist das Resultat, welches der Rechnungsauszug aller
Beobachtungen bietet:
986
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 43
I. Bei den 18 vollständigen Beobachtungen, bei denen
die Geschichte der Grosseltern und Eltern bekannt ist, und
wo man die Nachkommenschaft Schritt für Schritt verfolgen
kann, finde ich in 19 Familien 83 Schwangerschaften (davon
zwei Zwillinge), welche auf folgende Art endigten:
23mal Abortus, davon zwei Zwillinge = 25 Föten;
30 todtgeborene Kinder, oder macerirt, oder in den ersten
Lebenstagen gestorbene Früchte;
30 lebende Kinder.
II. Bei den unvollständigen Beobachtungen, wo ein als here¬
ditärsyphilitisch Erwiesener als Ehegemahl ein gesundes lndi
viduum hat, finde ich in sechs Familien 22 Schwangerschaften,
die folgendermassen endigten:
9mal Abortus;
6 todtgeborene oder im frühesten Alter gestorbene
Kinder:
7 lebende Kinder.
III. Bei 21 unvollkommenen Beobachtungen, wo man
nur einen einzigen Factor kannte, d. h. nur die hereditär¬
syphilitischen Eltern, finde ich in 21 Familien 38 Schwanger¬
schaften, die folgendermassen endigten:
9mal Abortus;
3 todtgeborene Kinder;
26 lebende Kinder.
Um besser zusammenzufassen, 145 Schwangerschaften
lieferten
82 todte und
63 lebende Kinder
Ehe wir weitergehen, mache ich Sie zunächst auf die
erschreckende Sterblichkeit bei den Nachkommen Hereditär¬
syphilitischer aufmerksam. 82 Todte unter 145! Welche bered¬
same Ziffer für dieses Thema! 56% ! Dies zeigt genügend,
welch verderblicher Einfluss auf diesen Familien lastet; ein
verderblicher Einfluss, der nur noch von gleicher Bedeutung
bei der Nachkommenschaft Hereditärsyphilitischer der ersten
Generation ist.
Dieser schädliche Einfluss hält jedoch hier nicht still, er
verfolgt die Ueberlebenden, er drückt auch ihnen eine Reihe
von Brandmälern: Dystrophien, Läsionen, in jedem Punkte
denen der Primärheredität ähnelnd, auf.
Die Ziffern, die ich sammeln konnte, sind nicht zahlreich
genug, um mir zu erlauben, die Schädlichkeit dieser secun-
dären Heredität mit der primären zu vergleichen.
Nichtsdestoweniger sei es mir von nun ab gestattet, zu
behaupten, dass dieser Einfluss noch unheilbringender ist, als
die primäre Heredität.
Thatsächlich scheinen von diesen 63 überlebenden Kindern
blos zwei dem unheilbringenden Einflüsse vollkommen ent¬
gangen zu sein. Und ist es schon sicher, dass selbst diese
beiden Kioder auch in der Zukunft verschont bleiben werden ?
Und dann, was bedeuten diese beiden Ausnahmen, diese zwei
unverseuchten Kinder gegenüber den 54 anderen Trägern von
Brandmälern und Dystrophien, die derart tiefeingreifende Ge¬
breste darstellen, dass aus den meistens schwächlichen Kindern
förmliche Krüppel werden, die für die Gesellschaft gänzlich
unbrauchbar sind.
Dieser dystrophische Einfluss der secundären Heredität
erhält sich oft genug so stark ausgeprägt, um zu dem höchsten
Grade der Dystrophie, zur Monstrosität zu führen. Als Beispiel
will ich Ihnen nur einen hier bekannten Fall des Dr. Couleet
in Erinnerung rufen, bei dem die secundäre Heredität ein
förmliches Ungeheuer hervorbrachte, mit zahlreichen Miss¬
bildungen, wie Hasenscharte, Plattfuss, Defect der Uvula,
Verschluss der Urethra, Missbildung der Ohren, der Zehen
und der Finger.
Wirklich, angesichts solcher entsetzlicher Folgen sollte
man vorläufig gar nicht über den absoluten Werth meiner Zahlen
und den mörderischen Einfluss dieser _ secundären Heredität
discutiren.
Meine Beobachtungen sind wohl wenig zahlreich; und
doch was sind sie im Vergleich mit anderen nicht publicirten,
nicht gesammelten Beobachtungen, wo sich diese Heredität
zweifellos nur in leichten oder aber nicht klar verständ¬
lichen, unbedeutenden Symptomen äussert oder selbst harm¬
los blieb. Beim thatsächlichen Stande dieser Dinge ist es un¬
möglich, diesen Vergleich zu machen und ich kann Ihnen heute
nur den absoluten Werth meiner Zahlen mit ihrer Bered¬
samkeit und ihrer wirklich entsetzlichen Brutalität überlassen.
Aber wenn ich auch meine Beobachtungen mit anderen
tröstlicheren der Zahl nach nicht vergleichen kann, so bleiht
deshalb nicht weniger die Thatsache sichergestellt, dass bei
145 Kindern, die von Nachkommen Hereditärsyphilitischer
geboren sind, blos 63 lebten, die mehr oder weniger fehler¬
haft, mehr oder weniger missgebildet sind und von denen blos
zwei verschont blieben.
Ich kann hier nicht alle Stigmata aufzählen, die diese
63 Kinder zeigten; sie sind mit wenigen Ausnahmen fast
dieselben, wie die bei Hereditärsyphilitikern der ersten Gene¬
ration. Vielleicht sind sie hier sogar zahlreicher! — es genügt
mir, zu sagen, dass ich bei diesen 63 Kindern im Minimum
108 Läsionen auffinden konnte.
Das folgende Bild ist eine lange Aufzählung aller dieser
Dystrophien; es umfasst die Stigmata jeder Gattung, die der
Zähne, der Augen, der Ohren, der Knochen, allerlei Dystro¬
phien, auch die des Intellectes, Dystrophien des Skeletes, der
Hirnschale, Missbildungen, wie Plattfuss, Hasenscharte, an¬
geborener completer Verschluss der Urethra, (fötale) Ampu¬
tationen von Gliedmassen, Luxationen der Hüfte etc. Ich will
nur noch sagen, dass von allen diesen Läsionen es häufigere
und weniger häufige gibt. Nach ihrer Frequenz geordnet finde
ich in erster Reihe die der Zähne, die craniellen Miss¬
bildungen, dann die Knochenerkrankungen der Gliedmassen
und des Rumpfes, dann die eigentlich syphilitischen Mani
festationen, wie das Ulcus syph. und das Gumma, dann die
zurückgebliebene Entwicklung, den Infantilismus, die in-
tellectuellen Dystrophien und die Idiotie, dann die Epilepsie
und die Hysterie, die Atrepsie, das decrepide und gealterte
Aussehen, das auriculäre Entartungsmerkmal, cardiale Miss¬
bildungen etc.
Wenn Sie nun erst die lange Martyrologie der Kranken¬
geschichten lesen würden, die dieses Dossier enthält, dann
würden Sie nichts Anderes als detaillirte derartige Beob¬
achtungen finden, wie ich sie, um Ihnen die Zeit zu sparen,
dieser Sammlung nur in kurzem skizzenhaften Auszuge bei¬
gelegt habe.
Ich könnte Ihnen z. B. nur 45mal nach einander eine
auf dem gleichen Modell aufgebaute Geschichte zeigen, die
stets mit dem nahezu identischen Resultate endigt.
Diese Lecture, die ohne Zweifel durch die Eintönigkeit
und Gleichmässigkeit der Thatsachen langweilig ist, würde
Ihnen dennoch zeigen, wie schrecklich der dystrophische und
mörderische Einfluss der Syphilis mehrere Generationen hinter¬
einander verfolgt und ebenso grausam die Kinder der dritten,
wie auch die der zweiten Generation befällt.
Auf die Frage des heutigen Congresses: Wie ist die
Nachkommenschaft der Hereditärsyphilitiker? fühle ich mich
bemüssigt, dementsprechend folgendermassen zu antworten:
Für eine gewisse Anzahl der Fälle, die man wohl noch
nicht genau präcisiren kann, die ich aber für sehr bedeutend
halte, ist die Nachkommenschaft der Hereditärsyphilitiker eine
verringerte und geschwächte, mit Stigmata und zahlreichen
Dystrophien behaftete. Diese Hereditärsyphilitiker stellen mit
einem Worte minderwerthige Mitglieder der Gesellschaft, die
Schwächlinge der Racen dar.
Aus 46 hereditärsyphilitischen Ehen entstanden nun
143 Schwangerschaften, welche folgendermassen endigten:
43mal Abortus;
39 todtgeborene oder bald verstorbene Kinder;
63 lebende Kinder.
Bei diesen 63 Kindern konnte ich folgende Dystrophien
erheben :
Zahndefecte . jg Fälle
Augendefecte . 19»
Missbildungen des Gehirnes, Mikrocephalus .11 »
Knochen- und rachitische Erkrankungen . . 11 »
Zurückgebliebene Entwicklung in der Kindheit 6 »
Nr. 43
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
987
Intellectuelle und idiotische Dystrophien . .
Epilepsie und Hysterie .
Decrepides und gealtertes Aussehen . . . .
Stigma auriculare .
Missbildungen des Herzens .
Asymmetrien .
Nervöse Convulsioneu .
Plattfuss .
Incontinentia urinae .
Ein Senkung der Nasenknochen .
Erweiterung und übermässige Ausbildung der
Hautvenen .
Hasenscharte .
Luxation der Hüfte .
Angeborener Verschluss der Urethra . . .
Missbildung der Finger und Zehen . . . .
Amputation deä Vorderarmes .
Missbildung der Ohren .
Atrophie der Zunge .
Dilatation der Bronchien. Nävus, Tuberculose,
Kropf, Landkarten zunge .
5 Fälle
4 »
4 »
3 »
3 »
3 »
2 *
2 »
1 Fall
1 »
1 *
1 »
1 »
1 »
2 Fälle
1 Fall
1 »
1 »
6 Fälle
108 Fälle
I. Gruppe.
I. Beobachtung (Dr. Barthelemy). These in-
augurale. Nummer 384.
1. Grossvater mütterlicherseits syphilitisch;
2. hereditärsyphilitische Mutter, an einen gesunden Mann
verheiratet;
3. Kind mit fünf Jahren.
Zurückbleiben der Entwicklung, grosser Kopf, Asym¬
metrie des Schädels und Gesichtes, übermässige Ausbildung
der Venengeflechte, kleine, missbildete, gerillte Zähne.
II. Beobachtung (Dr. E ti en n e). These inaugurale.
Nummer 389.
1. Grossmutter väterlicherseits syphilitisch;
2. hereditärsyphilitischer Vater, an eine gesunde Frau
verheiratet;
3. fünfmal Abortus, zwei früh verstorbene Kinder.
Acht lebende Kinder, bei denen ich notirt finde: grosser
Schädel, mehrfache Zahnanomalien, fehlerhafte Implantation,
tiefe Riffenbildung, Sprachstörungen, geistige Störungen, Hysterie.
III. Beobachtung. These inaugurale. Beobachtungs¬
nummer 390.
1. Syphilitische Grosseltern;
2. hereditärsyphilitische Mutter, an einen gesunden Mann
verheiratet ;
3. dystrophisches Kind.
Zurückgebliebener Thorax, Infantilismus, seitlicher
Buckel, Gesichtsasymmetrie, Strabismus externus, ovale Pu¬
pillen, dystrophische Zähne, streifenförmige Erosionen, Ver¬
bildung der Mahlzähne.
IV. Beobachtung (Dr. G a s t o u). These inaugurale.
Observationsnummer 222.
1. Syphilitische Grossmutter;
2. hereditärsyphilitische Mutter, an einen gesunden Mann
verheiratet;
3. Kind zeigte eine congenitale Amputation des Vorder¬
armes und Glossitis exfoliativa marginalis.
V. Beobachtung (Dr. Ca übet). These inaugurale.
Observationsnummer 396.
1. Syphilitische Grossmutter;
2. hereditärsyphilitische Mutter, an einen gesunden Mann
verheiratet;
4. vier Schwangerschaften, die so endigten:
a) todtgeborenes Kind;
b) Fötus;
c) Abortus;
d) monströses Kind, das nach drei Tagen starb; es
zeigte folgende Missbildungen: Hasenscharte, Plattfuss, Ver¬
schluss der Urethra, Fehlen der Uvula, Missbildung der Ohren
und Finger, der Zehen. Nävus.
VI. Beobachtung (Prof. Tarnovsky). These in¬
augurale. Nummer 397.
1. Syphilitische Grossmutter;
2. hereditärsyphilitischer Vater, an eine gesunde Frau
verheiratet;
3. elf folgendermassen beendigte Schwangerschaften:
a) acht todtgeborene Kinder;
b) ein hystero epileptisches Kind;
c) ein tuberculoses Kind;
d) ein mit Kropf behaftetes Kind.
VII. Beobachtung (Prof. Pinard). These in¬
augurale. Nummer 225.
1. Syphilitischer Gross vater;
2. hereditärsyphilitische Mutter, war zweimal an einen
gesunden Mann verheiratet:
«) ein todtgeborenes Kind;
b) viermal Abortus;
c) ein lebendes Kind mit verschiedenen Merkmalen
hereditärer Syphilis.
VIII. Beobachtung (Prof. Lannelongue). These
inaugurale. Beobachtungsnummer 32.
1. Syphilitischer Grossvater;
2. Mutter, die jetzt keine scheinbaren Merkmale hat,
heiratet einen gesunden Mann:
a) zweimal Abortus;.
b) lebendes, ganz kleines Kind, Mikrocephalus, idiotisch,
mit Convulsionen behaftet.
IX. Beobachtung (Dr. Pernet). These Armenteras.
British Journal of Dermat. Nr. 134 V. Beitrag zum Studium
der Syphilis der dritten Generation. Beobachtung 37.
1. Syphilitischer Grossvater;
2. hereditärsyphilitische Mutter, an einen gesunden Mann
verheiratet;
3. sieben folgendermassen endigende Schwangerschaften:
a) nach drei Tagen gestorbenes Kind;
b) Abortus;
c) Abortus nach sechs Monaten von zwei Zwillingen;
d) lebendes Kind, klein, zart, schläfrig, wenig intelligent;
e) Abortus;
f) Abortus von Zwillingen;
g) Abortus,
X. Beobachtung (Dr. Jullien). These Armenteras.
Beobachtungsnummer 38.
1. Syphilitischer Grossvater;
2. hereditärsyphilitische Mutter, an gesunden Mann
verheiratet;
3. zwei Schwangerschaften, von denen:
a) Abortus;
b) ein lebendes Kind, das nicht untersucht ist.
XI. Beobachtung (Dr. Suarez de Mendoza). These
Armenteras. Beobachtungsnummer 19.
1. Syphilitischer Grossvater;
2. Vater ohne sichtbare Merkmale, an eine gesunde Frau
verheiratet;
3. vier Schwangerschaften, die so endigten:
ctj _A. foortus *
b) lebendes’ Mädchen, Mikrocephalus, mit greisenhaftem
Aussehen, mit abgeschliffenen Zähnen, verkümmerten Eck¬
zähnen, beiderseitiger Iridochorioiditis und einem ulcerirten
Gumma des einen Unterschenkels;
c) , d) lebende Kinder mit greisenhaftem Aussehen.
XII. Beobachtung (Dr. Davasse). These Ar¬
menteras. Beobachtungsnummer 4.
1. Syphilitischer Grossvater;
2. Mutter ohne sichtbare Merkmale, heiratet einen ge¬
sunden Mann;
3. sieben Schwangerschaften, so endigend:
a) sechs Kinder im frühesten Alter gestorben;
b) ein lebendes Kind, rachitisch.
Multiple Caries der Knochen mit Sequesterbildung und
Einsenkung des Nasenrückens, Zahndystrophien.
XIII. Beobachtung (Dr. Dureuil). These Ar¬
menteras. Beobachtungsnummer 7.
988
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 48
1. Syphilitische Grossmutter hatte zehn Kinder, davon
sieben gestorben, eines gesund, zwei hereditärsyphilitisch;
2. Vater hereditärsyphilitisch, heiratet gesunde Frau;
3. acht Schwangerschaften endigten in:
«) zwei Abortus;
b\ fünf Kinder, früh gestorben, davon drei an Meningitis;
c) ein Kind, welches multiple, syphilitische Arthropathien
zeigt. Hyperostosen der Epiphysen an der Tibia und Femores,
Gelenksverdickungen, gummöse Ulcerationen.
1. Hereditärsyphilitische Mutter, an gesunden Mann
verheiratet;
2. vier Schwangerschaften endigten in:
a ) zwei Abortus;
b ) zwei frühzeitig gestorbene Kinder.
XIV. Beobachtung (Dr. V a s i 1 i e f f).
1. Syphilitischer Grossvater;
2. an allgemeiner Paralyse gestorbener Vater, der an
gesunde Frau verheiratet war;
3. zwei Schwangerschaften, endigten in:
d) Mädchen mit 25 Jahren, klein, zeigt eine ausgebauchte
Stirne, einen kleinen, schlecht geformten Kopf. Exostosen an
den Rippen und am Humerus, maxillare Tumoren und eine
Missbildung des Beckens;
b) neuropathischer Sohn.
XV. Beobachtung (Dr. Lemon ni et).
1. Syphilitischer Grossvater;
2. hcreditärsyphilitischer Vater, an gesunde Frau ver¬
heiratet;
3. zwei Schwangerschaften, endigend in:
d) Sohn, 27 Jahre alt, wunderbar gebaut, hat aber
Gumma nasi, Sarcocele, specifisehe Verkümmerung des Hodens;
b) Sohn, 24 Jahre alt, ohne Stigmata, aber specifisehe
Ulcerationen an den Beinen.
XVI. Beobachtung (Prof. A. Fournier).
1. Syphilitischer Grossvater;
2. Vater ohne sichtbare Merkmale, an gesunde Frau
verheiratet ;
3. Kind, mit 16 Monaten Periostosis frontalis. Spina ventosa.
XVII. Beobachtung (Dr. Barthelemy).
1. Syphilitischer Grossvater;
2. hereditärsyphilitischerVater, an gesundeFrau verheiratet;
3. zwei Schwangerschaften endigten in:
ci) Mädchen mit 18 Jahren (Jungfrau), hatte syphilitische
Gummen an der linken Brustwarze, die für Tuberculose der
Mammae gehalten worden waren und durch specifisehe Be¬
handlung geheilt wurden;
b) Mädchen mit fünf Jahren, ungeheuer kindlich, mit
verunstaltendem congenitalem Gelenksrheumatismus behaftet.
XVIII. Beobachtung (persönlich). These inaugurale.
Nummer 393.
1. Syphilitischer Grossvater;
2. hereditärsyphilitische Mutter, an gesunden Mann
verheiratet;
3. zwei Schwangerschaften endigten in zwei Todesfällen
in frühem Alter.
II. Gruppe.
I. Beobachtung (Dr. Giber t) These inaugurale.
Nummer 338.
1. Hereditärsyphilitische Mutter, an gesunden Mann ver¬
heiratet;
2. vier Kinder zeigen: Knochenverkrümmungen, De¬
formationen des Gehirnes, alle Anzeichen der Rachitis; eines
davon ist idiotisch.
II. Beobachtung (Prof. A. Fournier). These
inaugurale. Nummer 391.
1. Hereditärsyphilitische Mutter, an gesunden Mann ver¬
heiratet;
2. drei Schwangerschaften, endigen alle in Abortus.
III. Beobachtung (Prof. A. Fournier). These
inaugurale. Nummer 392.
1. Hereditärsyphilitische Mutter, die eine gesunden Mann
heiratet ;
2. vier Schwangerschaften endigten in:
a) zwei Abortus;
b) ein früh verstorbenes Kind;
c) ein gesundes Kind.
IV. Beobachtung (Dr. Gilles de la Ton rette).
These inaugurale. Beobachtungsnummer 395.
1. Hereditärsyphilitischer Vater, an gesunde Frau ver¬
heiratet;
2. sechs Schwangerschaften endigten in:
n) zwei Abortus;
b) zwei früh gestorbene Kinder;
c) ein Kind mit zwölf Jahren an Peritonitis gestorben;
d) ein lebendes Kind, schwach und sehr nervös.
V. Beobachtung (Dr. Deyanneau). These Ar¬
menteras. Beobachtungsnummer 10.
1. Hereditärsyphilitischer Vater, an gesunde Frau ver¬
heiratet;
2. drei Schwangerschaften endigten in:
a) zwei Abortus;
b) ein Kind, mit sieben Monaten an Meniugitis ge¬
storben.
VI. Beobachtung (Dr. Atkinson). These Armenteras.
Beobachtungsnummer 15.
1. Hereditärsyphilitische Mutter, an gesunden Mann ver¬
heiratet;
2. zwei Schwangerschaften endigten in:
a) Lebendes Kind: Eruption;
b) Kind, mit acht Monaten gestorben, zeigte Roseola,
Coryza, Erosionen perianal und scrotal. Greisenhafter Aus¬
druck.
III. Gruppe.
■I. Beobachtung (Dr. Barthelemy). These iuaugurale.
Beobachtungsnummer 85.
1. Hereditärsyphilitische Mutter mit chronischem Rheuma¬
tismus; entstammt syphilitischem Vater ;
2. mageres Kind, disproportionirt, mit auffallend kurzen
Unter- und sehr langen Oberschenkelknochen etc.
II. Beobachtung (Dr. Barthelemy). These
inaugurale. Beobachtungsnummer 386.
1. Hereditärsyphilitische Mutter;
2. lymphatisches Kind, schlecht gewachsen, kleine ab¬
gewetzte, schief implantirte Zähne, Granulationen im Pharynx,
chronischer Ohrenfluss, Nasenkatarrh.
III. Beobachtung (Dr. Barthelemy). These
inaugurale. Beobachtungsnummer 387.
1. Hereditärsyphilitische Mutter mit chronischen Gewebs-
verdickungen an mehreren Gelenken ;
2. zu früh geborenes Kind, idiotisch und verderbt.
IV. Beobachtung (Dr. Barthelemy). These
inaugurale. Beobachtungsnummer 388.
1. An allgemeiner Paralyse gestorbener Vater, stammt
von syphilitischem Vater;
2. epileptisches Kind.
V. Beobachtung (Prof. Penaro). These inaugurale.
Beobachtungsnummer 394.
1. Hereditärsyphilitische Mutter, die wahrscheinlich von
syphilitischem Vater stammt;
•2. sechs Schwangerschaften endigten in:
a) ein Kind, nach wenigen Minuten gestorben;
b) vier Abortus ;
c) ein lebendes Kind zeigt ulceröse Syphilide.
VI. , VII., VIII. B e o b a c h t u n g (Prof. Galczowski).
These Armenteras. Beobachtungsnummer 5, 7 und die fol¬
genden.
1. Ein Elterntheil ist hereditärsyphilitisch, selbst von
syphilitischem Vater oder Mutter stammend;
2. Kind mit Keratitis und mit Dystrophien des Augen¬
hintergrundes behaftet. Chorioiditis atrophicans mit charak¬
teristischen Pigmentationen.
IX. Beobachtung (Dr. A n ton eil i). These Ar¬
menteras. Beobachtungsnummer 28.
1. Hereditärsyphilitische Mutter;
Nr. 43
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 190ö.
989
2. vier Schwangerschaften endigten in:
a ) zwei Abortus;
l>) zwei lebende Kinder mit opthalmoskopischen Merk¬
malen (papilläre, vasculäre und pigmentäre Alterationen).
X, XL, XII. B e ob ach t un g (Dr. A n t o n el li). These
Armenteras. Beobachtungsnummer 29, 30 und 31.
XIII. Beobachtung (Dr. Jaquet). Bulletin de
Dermat. et Syphyl. 1895, pag. 370.
1. Hereditärsyphilitische flutter mit einer Missbildung
des Knies;
2. dystrophische Kinder mit Zahndefecten, Missbildungen
des Schädels, Säbelbeine, Exostosen in der Mitte des
Gaumens.
XIV. Beobachtung (Dr. G u e r i n).
1. Hereditärsyphilitische Mutter, höchst wahrscheinlich an
gesunden Mann verheiratet;
2. fünf Schwangerschaften endigten in:
a ) zwei Abortus;
b) zwei Kinder mit Zahndefecten, Zähne nach Hut¬
chinson, Keratitis interstitialis, Ulcerationen der Gesichts¬
baut etc;
c) zwei gesunde Kinder.
XV. Beobachtung (Dr. Braque ha ye). Annales
de Dermat. et Sypli. 1898, pag. 1105.
1. Hereditärsyphilitischer Vater, stammend von einer
Mutter, welche syphilitischen Schanker des Busens hatte;
2. Mädchen mit congenitaler Luxation der Hüfte.
XVI. Beobachtung (Dr. Antonelli).
1. Hereditärsyphilitischer Vater;
2. Sohn, welcher zeigt: Zahnmissbildungen, eingefallene
Nase, ophthalmoskopisch nachgewiesene Merkmale, voluminösen
Schädel, Plattfuss.
XVII. Beobachtung (Strzeminski)
1. Nachgewiesen syphilitischer Vater;
2. Kind mit zehn Jahren mit nachfolgenden Merkmalen:
Keratitis parenchymatosa, Kolobome der Iris, Unbeweglichkeit
der Augen nach aussen, Astigmatismus. Pigmentdegeneration
der Retina. Gehörschwäche. Halbseitige Zungenatrophie.
XVIII. Beobachtung (eigene Beobachtung).
1. Mutter durch Heredität syphilitisch;
2. zwei Schwangerschaften endigten in:
a ) ein Kind, mit vier Monaten an Meningitis gestorben;
b ) ein Kind zeigte Zahnerosionen, Missstaltungen der
Zähne, Herzfehler, Cyanose.
XIX. Beobachtung (eigene Beobachtung).
1. Nachgewiesen hereditärsyphilitischer Vater;
2. Kind, behaftet mit cerebraler Dystrophie, Incontinentia
urinae, Verengerung der Pulmonalarterie.
XX. Beobachtung (Dr. Strzeminski). Annales
de Dermat. et de Syph. 1897, pag. 702.
1. Hereditärsyphilitischer Vater;
2. zwei Kinder, behaftet mit Keratitis und mit Chorioiditis,
Läsionen, die durch specifische Behandlung geheilt wurden.
XXI. Beobachtung (Dr. Klein). These Armenteras.
Beobachtüngsnummer 23.
1. LIereditärsyphilitische Mutter nach syphilitischem Vater;
2. Kind mit Keratitis parenchymatosa.
Aus der medicinischen Klinik des Prof. Anton Gluzinski
in Lemberg.
Ein Beitrag zur Frage der Entstehung einer
acuten Nephritis bei Secundärsyphilis (Nephritis
syphilitica praecox).
Von Dr. Abraham Stepler, k. u. k. Regimentsarzt.
In seinem neuesten Werke über Nierenkrankheiten zählt
Senator1) die acute syphilitische Nephritis bei den secun-
dären Eruptionen der Lues zu den selteneren Krankheits-
*) Senator, Die Krankheiten der Nieren. Specielle Pathologie
und Therapie von Nothnagel. 1896, Bd. XIX, I. Theil, II. Abtheilung.
formen. Wenn man auch häufig Eiweiss im Harne gelegentlich
des Ausbruches der Secundärsyphilis beobachtet, glaubt
Senator, dieses Eiweiss von einer früheren, etwa vor der
Ansteckung bestandenen Nierenaffection, oder von sonstigen
beim Auftreten der Syphilis zufällig vorhandenen Ursachen,
wie Alkoholmissbrauch, Quecksilberbehandlung herleiten zu
können.
Bezugnehmend auf die Arbeit von E. Wagner2)
welcher unter den deutschen Autoren so ziemlich der Einzige
über acuten Morbus Brightii bei Secundärsyphilis berichtet,
meint Senator, dass auch diesem der stricte Nachweis über
den Zusammenhang der betreffenden Krankheiten nicht ge¬
lungen sei. Nach französischen und anderen Autoren (Per-
roud, Horteloup, Mauriac, J a c c o u d, T o m m a s o 1 i etc.),
welche sich mit grösserer Bestimmtheit über die Abhängigkeit
mancher Nephritis von der Lues aussprechen, soll, wie
Senator mittheilt, diese syphilitische Nierenentzündung
(Nephritis syphilitica praecox) zwei bis acht Monate nach der
luetischen Infection auftreten und von den leichtesten Graden
parenchymatöser Nierenerkrankung zu den schwersten diffusen
Nephritiden, ähnlich wie bei Scharlach, sich entwickeln.
Neumann3), welcher in seinem Werke über Syphilis
die von dieser abhängigen Nierenkrankheiten ausführlich
schildert, hebt die acute, syphilitische parenchymatöse Nephritis
als specielle Krankheitsform hervor und erklärt, gestützt auf
seine eigenen, sowie die Beobachtungen Anderer (Wagner,
Burkmann, V u 1 p i a n, B o n k k e i e f f etc.), dass diese
Nierenerkrankung in den ersten Monaten nach der Infection
mit dem syphilitischen Virus, und zwar gleichzeitig mit den
Hautausschlägen und den übrigen secundären Erscheinungen
der Lues auftrete.
In Bezug auf die Diagnose einer syphilitischen Nephritis
handelt es sich nach Neumann nur darum, alle übrigen
möglichen ätiologischen Momente für eine Nierenerkrankung
auszuschliessen. Als charakteristische Symptome dieser Nephritis
erwähnt Neumann, ausser den bestehenden oder kurz voran¬
gegangenen Syphiliserscheinungen, beträchtliche Quantitäten
von Eiweiss im Harne, hyaline und granulirte Cylinder, rothe
Blutkörperchen, weisse Blutzellen, Nierenepithelien, Abnahme
der täglichen Harn menge, rasch auftretende Anasarka und
Erhöhung der Körpertemperatur.
Mit diesem Gegenstände haben sich besonders eingehend
die Franzosen beschäftigt.
Von diesen beobachtete Fälle und deren Ansichten werde
ich später näher ausführen, hier will ich nur bemerken, dass
die Diagnose der syphilitischen Grundlage für eine constatirte
Nierenentzündung sich auf das Zusammentreffen des Symptomen-
complexes der Nephritis und Lues, das Resultat der specifischen
Behandlung und endlich den Mangel anderer ätiologischen
Momente stützen kann. Das klinische Bild der syphilitischen
Nierenentzündung hat und kann sonst keine besonderen Merk¬
male haben, da wir ja dieselben Symptome bei Nephritiden
aus welch immer für Ursache finden.
Der Fall, welchen ich auf der Klinik des Professors
Gluzinski beobachtet habe, leistet den erwähnten Anforde¬
rungen sowohl in Bezug auf die Symptome, als auch mit
Rücksicht auf den Verlauf und das Resultat der Behandlung
Genüge, weshalb ich denselben beschreibe:
B. K., Landmann, 20 Jahre alt, in die Klinik aufgenommen
am 4. Januar 1. J., war stets vollkommen gesund. Gegen Ende
November 1899 beobachtete er ein Geschwür an der Eichel, welches
er durch einige Zeit mit Carboiwasserumschlägen selbst behandelte.
Ende December 1899, etwa um den 27., traten Schwellung des
Gesichtes, insbesondere der Augenlider, und drei Tage später (Jedem
der unteren Gliedmassen auf, wobei sich Patient immer schwächer
fühlte. Seitens des Verdauungstractes und des Blutgefässsystems
hatte derselbe keine Beschwerden, Appetit war erhalten, Stuhl
normal.
~) W a g n e r, Die constitutionelle Syphilis und die davon abhängigen
Nierenkrankheiten. Deutsches Archiv für klinische Medicin. 1881, Bd. XXVIII.
■3) Neumann, Die Syphilis. Specielle Pathologie und Therapie von
Nothnagel. 1896, Bd. XXIII, zweite Hältte.
990
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 43
Die Harnmenge soll sich seit Ende December bedeutend ver¬
mindert haben, der Harn selbst war trübe und von röthlicher Farbe.
Die am 5. Januar 1. J. vorgenommene Untersuchung des
Patienten ergab folgenden Befund:
Kräftiger Körperbau, guter Ernährungszustand. Temperatur
normal. Haut und sichtbare Schleimhäute blass. Das Gesicht,
namentlich die Augenlider, Lendengegend, Scrotum, Penis und die
unteren Gliedmassen sind stark ödematös, das Oedem ist weich
und teigig. •
Auf der Haut der Brust, des Abdomens, sowie der oberen
Gliedmassen befindet sich ein deutlicher, charakteristischer Aus¬
schlag mässigen Grades (Roseola luetica).
Die Lymphdrüsen am Halse sind massig vergrössert, hart
und schmerzlos, desgleichen die in den Ellenbeugen.
Ueber den hinteren unteren Thoraxpartien, von den Schulter¬
blattwinkeln angefangen, beiderseits gedämpfter Percussionsschall,
Abschwächung des Stimmfremitus und des Athmungsgeräusches
(Hydrofhorax ambilateralis); an den sonstigen Partien überall vesi-
culäres Athmen, hie und da von rauhem Charakter, die Exspiration
ist deutlich hörbar.
Herzdämpfung in normalen Grenzen, über den Ostien zwei
reine Töne; der zweite Aortenton ist massig accentuirt, Radialis
gut gespannt, Puls regelmässig, nicht beschleunigt.
Abdomen mässig vergrössert, Fluctuation angedeutet, ln den
seitlichen Theilen des Abdomens gedämpfter Percussionsschall,
welcher sich bei Lagewechsel wieder aufhellt (Ascites).
Die Leber reicht in der Mamillarlinie bis zum Rippenbogen,
in der Mittellinie zwei Finger breit unterhalb des Processus
xiphoideus; sie ist mässig palpabel, etwas härter und druck¬
empfindlich. Die Milz mässig vergrössert, jedoch nicht tastbar.
ln der Eichelfurche befindet sich ein Geschwür von knorpel-
hafter Basis, das bereits an der Oberfläche beginnende Ueber-
häutung zeigt. In der linken Leistenbeuge sind die Drüsen walnuss¬
gross, hart und schmerzlos, desgleichen die der rechten Inguinal¬
gegend, nur etwas kleiner. Am Scrotum und in der Analfalte
befinden sich einzelne breite Kondylome.
Die Patellarreflexe sind normal.
Der Harn ist trübe, von röthlicher Farbe und sauerer Re¬
action. Seine Tagesmenge beträgt 500 cw:), das specifische Gewicht
1035. Der Harn enthält 12°/00 Eiweiss.
Im reichlichen Sedimente befinden sich zahlreiche rothe und
weisse Blutkörperchen, hyaline und granulirte Cylinder, Blut- und
Epi theleylinder, Ivrystalle von Harnsäure und oxalsaurem Kalk.
Auf Grund der angeführten Symptome lautete die klinische
Diagnose: Nephritis parenchymatosa syphilitica praecox.
Verlauf: Bis 15. Januar verblieb Patient bei Bettruhe und
ausschliesslicher Milchdiät. Während dieser Zeit verminderte sich
täglich die Eiweissmenge, so dass sie am 15. Januar nur mehr
1%0 betrug. Dabei zeigte die Harnquantität eine tägliche Zunahme.
Das Körpergewicht des Kranken, welches am 8. Januar 68'60 kg
betragen hatte, sank am 11. Januar auf 61 '60 %, und am
14. Januar auf 58'30 kg. Desgleichen fiel das specifische Gewicht
des Harnes, welches am 5. Januar 1035. am 6. Januar 1033 war,
am lo. Januar auf 1023. Die mikroskopische Untersuchung des
Harnes bot am 15. Januar dieselben Bestandtheile wie am
5. Januar, nur in geringerer Quantität, dar. Bis zu diesem Zeit¬
punkte wurde, trotzdem die Syphilis als Grundlage für die Nieren¬
erkrankung acceptirt war, keine specifische Behandlung eingeleitet,
da der Assistent der Klinik, Dr. Mari sch ler, Stoffwechsel¬
untersuch ungen bei dem Patienten vornahm, deren Ergebnisse
später zur Veröffentlichung gelangen werden. Mit 15. Januar wurde
lege artis eine vorsichtige Schmiercur, und zwar mit L5 g Unguenti
cinerci pro die bei gleichzeitiger ausschliesslicher Milchdiät begonnen.
Während der Einreibungen beobachtete man ein allmäliges Schwinden
sowohl der Symptome der Nephritis, als auch der Lues.
Am 26. Januar, d. i. nach zehn Inunctionen, betrug die
Eiweissmenge 0’7%o-
Am 27. Januar traten Schwellung der Unterkieferdrüsen,
sowie Röthung und Lockerung des Zahnfleisches auf, wobei die
Abendtemperatur auf 37-8° stieg. Man unterbrach aus diesem
Grunde für kurze Zeit die Schmiercur und beschränkte sich auf
die innere Darreichung von Jodkali.
Der Allgemeinzustand blieb in den nächsten Tagen gut, die
Oedeme erhielten sich noch an den unteren Gliedmassen, die
syphilitische Roseola der Haut war noch deutlich.
In den ersten Tagen des Februar schwankt die Eiweissmenge
im Harne zwischen 0'5%o und 0’7°/00. Vom 5. Februar an wurde
die Schmiercur unter denselben Cautelen, wie früher, fortgesetzt
und gleichzeitig Jodkali intern verabreicht. Unter diesem Regime
näherte sich die Harnmenge immer mehr der Norm und die
Eiweissquantität wurde stets geringer. Die luetischen Erscheinungen
an der Haut, wie Roseola und Kondylome, schwanden, die In¬
duration an der Eichel wurde kleiner. Am 16. Februar stieg die
Temperatur abermals auf 37‘8° am Abend, was eine zweitägige
Unterbrechung der Inunctionscur zur Folge hafte. Von diesem
Momente an blieb die Temperatur bis zum Schlüsse der Behand¬
lung normal.
Am 17. Februar konnte die Eiweissmenge mit dem Albumino-
meter von E s s b a c h nicht mehr bestimmt werden, nur die
Methode nach Roberts-Stolnikow zeigte noch (>06%,,. Im
Harnsedimente fanden sich noch vereinzelte hyaline Cylinder und
Leukocyten, sonst nur normale Bestandtheile.
Das Körpergewicht des Kranken, welches während der ersten
Zeit des Aufenthaltes unseres Patienten in der Klinik in Folge
raschen Schwindens der Oedeme um 10 kg abgenommen hatte,
stieg während der antiluetischen Behandlung allmälig wieder, so
dass der Kranke 62 kg erreichte.
Am 21. Februar verliess Patient, sich vollkommen wohl
fühlend, über eigenes Verlangen die Klinik.
In dem beschriebenen Falle sehen wir somit einen jungen
kräftig gebauten Mann, bei welchem im November 1899 die
ersten Erscheinungen einer luetischen Infection (Ulcus durum)
und fünf bis sechs Wochen später Secundärsymptome (Roseola,
Condylomata lata, Lymphadenitis) auftraten, wozu sich gleich¬
zeitig eine acute Nephritis hinzugesellte. Patient war früher
nie krank gewesen, hatte laut eigener Angabe sich stets ent¬
sprechend ernährt, sich nie dem Missbrauche alkoholischer
Getränke ergeben, war keinen Erkältungen ausgesetzt gewesen
und hat weder eine Quecksilberbehandlung durchgemacht,
noch irgend welche anderen Mittel innerlich gebraucht, die
eine Nierenreizung hervorzurufen im Stande gewesen wären.
Worin kann somit die Ursache dieses plötzlichen Auftretens
der acuten Nierenerkrankung liegen? Beim Fehlen jedes anderen
ätiologischen Momentes für eine acute Nephritis und dem Vor¬
handensein secundärer Symptome der Lues, müssen wir an¬
nehmen, dass diese, da sie schon frühzeitig als allgemeine in-
fectiöse Krankheit auftritt, auch die Nieren ergreifen kann
und dass dies bei unseren Kranken eben der Fall gewesen ist.
In der Literatur finden wir auch eine ganze Reihe von
Autoren, welche sich mit diesem Gegenstände beschäftigt und
an einer Anzahl von Beobachtungen den Zusammenhang
zwischen acuter Nephritis und Secundärsyphilis nachgewiesen
haben. Diese Beobachtungen finden ihre Stütze nicht nur in
rein klinisch observirten Fällen, sondern sind auch öfters durch
die Obduction ergänzt worden.
Unter den Franzosen berichtet über die grösste Zahl
hieher gehöriger Fälle Mauriac.4)
Der erste von ihm beobachtete Fall fällt ins Jahr 1869.
Beim betreffenden Kranken traten vier Monate nach dem
harten Geschwüre Secundärerscheinungen und gleichzeitig eine
schwere Nephritis auf. Drei Monate später starb der Kranke
an Glottisödem.
In weiteren sechs Fällen desselben Autors trat bei spe-
cifischer Behandlung fünfmal Heilung, respective bedeutende
allgemeine Besserung ein. Ein Fall endete tödtlich fünf Wochen
nach dem Auftreten der acuten Nephritis. Die Erkrankung
zeigte hier von Anfang einen schweren Verlauf, bedrohliche
urämische Symptome (Unruhe, Erbrechen, Diarrhoe) führten
rasch das letale Ende herbei. Bei der Obduction zeigten die
Nieren das Bild der grossen weissen Niere (gros rein blanc).
Mauriac führt ausser seinen eigenen Fällen noch die
Beobachtungen von Cohadon, Negel, Descoust, Per-
roud, Bourkmann, Barthelemy, Wagner, La-
4) Mauriac, Syphilose des reins. Archives generales de medecine.
1886, Bd. XVIII.
Nr. 43
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
991
badie-Lagrave, Bourcy und Drysdale, zusammen
16, an. . . ,
Wenn wir von diesen diejenigen Nierenentzündungen,
welche zwei bis vier Jahre nach der luetischen Infection (drei
Fälle), und eine Beobachtung von Wagner, welche dieser
selbst zur granulirten Niere zählt (Fall 13 von Wagner),
unberücksichtigt lassen, so verbleiben zwölf Fälle, in welchen
die Nierenerkrankung genug frühzeitig auftrat, und zwar ent¬
weder gleichzeitig mit den Secundärerscheinungen der Syphilis,
oder kurze Zeit nachher.
Am frühesten stellte sich die Nephritis vier bis sechs
Wochen (Lab ad ie -La grave), am spätesten sechs bis zehn
Monate (Burkmann, Drysdale) nach dem Primäraffecte
ein. In den oben erwähnten eigenen Beobachtungen von
Mauriac erschien die Nierenentzündung fünf Wochen bis
acht Monate nach dem Ulcus durum. In allen Fällen waren
jedoch die Symptome der Nephritis con temporär syphilitischen
Veränderungen der Haut oder der Schleimhäute. Die Intensität
der Syphilis stand in keinem proportionalen Verhältnisse zu
der der Nierenaffection; bei unbedeutenden luetischen Sym¬
ptomen waren die durch die Nephritis hervorgerutenen Vei-
änderungen schwere und umgekehrt. In den angeführten zwölf
Fällen fremder Autoren gestaltete sich der Verlauf folgender-
massen : In einem Falle trat der Tod zwischen dem 35. und
40. Tage der Nierenerkrankung in Folge eines coinplicirenden
Erysipels ein, in zwei anderen in Folge der Nephritis selbst.
In neun Fällen wurde in kürzerer oder längerer Zeit (ein bis
vier Monate) Heilung constatirt, in einzelnen unter diesen er¬
hielten sich Spuren von Eiweiss noch durch Monate (zwei bis
fünf) im Harne. Die Mehrzahl dieser Fälle zeigte im Anfangs¬
stadium der Krankheit beträchtliche Eiweissmengen (der I all
Descoust z. B. llOy pro die).
Während der ersten Tage antiluetischer Behandlung, oft
auch schon bei blosser Milchdiät, sank die Eiweissmenge rasch
und schwand ganz oder nahezu gänzlich bei fortgesetzter
specifischer Therapie.
In zwei der oben angeführten letal abgelaufenen Fälle
konnte man bei der Autopsie die der grossen weissen Niere
entsprechenden Veränderungen nachweisen (gros rein blanc).
Auf Grund des erwähnten Materiales gelangt Mauriac
zu dem Schlüsse, dass die Secundärsyphilis in derselben Weise
auf die Nieren wirke, wie jede andere Infeetionskrankheit, dass
sie vorwiegend parenchymatöse Veränderungen in der Rinden¬
substanz hervorrufe, derart, dass die Nieren vorzüglich das
Bild fettiger Degeneration des secernirenden Epithels dar¬
bieten. Die klinischen Symptome können ebenso mannigfaltig
sein, wie bei sonstigen acuten Nephritiden aus was immer für
Krankheitsursache. Die Complicationen seien gleichfalls die¬
selben, es könne somit zu Urämie, Glottisödem, Hydrothorax,
Hydropericardium u. dgl. kommen. Der Verlauf gestalte sich
acut, subacut, remittirend, intermittirend oder chronisch.
Die Therapie übe einen bedeutenden Einfluss aut den
Verlauf der Krankheit aus.
Betreffs der Diagnose bestehen keine Schwierigkeiten,
sobald deutliche Symptome der Lues vorhanden sind und
andere ätiologische Momente sich ausschliessen lassen.
Die Prognose hänge von den Complicationen ab und man
müsse wissen, dass im Harne längere Zeit Eiweiss sich erhalten
könne.
In manchen leichteren Fällen schwinden die Veränderungen
in den Nieren ohne Therapie oder bei ausschliesslicher Milch¬
diät, in der Mehrzahl derselben aber sehen wir eine Besserung
nur bei specifischer Behandlung eintreten. Inunctionscur und
Jodkali geben dann die besten Resultate und bilden die
einzigen Mittel, mit welchen die schwersten Symptome beseitigt
werden können. So viel Mauriac.
Wagner5), welcher vor Mauriac als Erster unter
den deutschen Autoren acute Nephritiden in Abhängigkeit von
Secundärsyphilis beschreibt, stützt seine Ausführung auf acht
Fälle, von denen drei geheilt und fünf letal geendigt haben.
Es muss jedoch hervorgehoben werden, dass in den fünf
letalen Fällen hochgradige luetische Veränderungen, sowie
Complicationen mit anderweitigen Erkrankungen verschiedener
innerer Organe bestanden haben. In den Nieren fanden sich
bei der Autopsie in allen fünf Fällen Erscheinungen acuter
Entzündung.
Als Beweis für das Entstehen acuter Nephritis bei Lues
theilt Wagner überdies zwei Fälle mit, in welchen neben
•bedeutenden syphilitischen Veränderungen in inneren Organen
(Visceralsyphilis) Nierenhyperämie vorgefunden wurde und
den Fall von C o u p 1 a n d, welcher berichtet, dass die Ob-
duction eines drei Monate alten Kindes mit Lues hereditaria
neben Veränderungen im Myocard (Myocarditis) Nierenent¬
zündung in Gestalt kleinzelliger Infiltration der Rindensubstanz
ergeben hat.
Wenn wir genau sind, so gehören eigentlich nur die
ersten drei Fälle von Wagner zur frühzeitigen syphiliti¬
schen Nephritis, d. h. zu der Form von Nierenentzündung,
welche bei den ersten Secundärerscheinungen der Lues auf-
tritt. Die übrigen Fälle dieses Autors sind jedoch insoferne
interessant, als sie auf die Möglichkeit der Entstehung acuter
syphilitischer Nephritis selbst in späteren Stadien der Lues
hinweisen. Manche Autoren, wie z. B. G ü n t z, bestritten
nämlich überhaupt, dass die Syphilis allein acute Nierenent¬
zündung hervorzurufen im Stande wäre und glaubten als Ur¬
sache hiefür die Quecksilberbehandlung annehmen zu müssen.
Diese Anschauung kann jedoch heute als beseitigt gelten,
namentlich seitdem Kussmaul und Bartels, welche die
Wirkung des Quecksilbers auf den Organismus studirten,
nachgewiesen haben, dass selbst grosse Dosen grauer Salbe
(z. B. Einreibungscuren bis zum Verbrauche von 300 g Unguenti
cinerei) nicht im Stande waren, krankhafte Veränderungen in
den Nieren hervorzurufen, wenn dieselben nur vorher gesund
waren.
Auf Grund seiner Untersuchungen über den Zusammen¬
hang von Nierenkrankheiten und Syphilis theilt Wagner,
gestützt auf einer ganzen Reihe klinischer Beobachtungen und
einer grösseren Zahl von Autopsien, die in den Nieren Vor¬
gefundenen, von der Lues bewirkten Veränderungen in sechs
Kategorien ein, unter welchen als erste die acute Nephritis
figurirt.
Von sonstigen Autoren beschreibt Vulpian* 6) im
Jahre 1879 einen Fall von acuter parenchymatöser Nephritis
in Folge von Secundärsyphilis, in welchem es rasch zur
Urämie und zum Exitus kam.
Jaccoud7) berichtet über den Krankheitsverlauf eines
26 Jahre alten Patienten, bei dem Mitte Juni der Primäraffect,
Ende Juli die ersten Secundärerscheinungen und gegen Ende
August allgemeine Anasarka mit Fieber auftraten. Bei der Auf¬
nahme des Kranken am 9. October fand man noch 6°/oo
Eiweiss im Harne, dessen Sediment eine beträchtliche Menge
rother Blutkörperchen enthielt.
Jaccoud bemerkt bei dieser Gelegenheit, dass man es
vor einigen Jahren als Häresie betrachtet habe, eine Nephiitis
von der Lues abhängig zu machen ; jetzt meint er, wissen wii
aber, dass die Syphilis in jedem Stadium ihrer Entwicklung
eine Nierenentzündung herbeiführen könne. Er beruft sich
hiebei auf seinen ersten diesbezüglichen I all, welchen er
hereits im Jahre 1864 beschrieben hat, und will seither (d. i.
bis 1893) nur noch zwei ähnliche Fälle gesehen haben. Von
sonstigen bisherigen Beobachtungen erwähnt Jaccoud nebst
denjenigen der bereits oben angeführten Autoren noch die
von D r e y f u s s - B r i s a c, Müller, S c h u c h t e r, A n d i o-
n i c o und Prendergoust. Alle sind nach J a c c o u d einig
über die Möglichkeit der Entstehung einer acuten Nephritis
im Secundärstadium der Lues. Diese Nephritis ist nach ihm
gar nicht so selten, jedenfalls viel seltener, als die chronisch-
syphilitische Nierenentzündung und nimmt hinsichtlich der
Häufigkeit unter allen Secundärsymptomen der Lues die letzte
Stelle ein.
8) Clinique medicale de l’höpital de la Charite. Paris 1879
pag. 291. , . ...
7) Les nephrites syphilitiqnes prtieoces par Jaccoud. L union medi¬
cate. 1893, Nr. Hl.
5) 1. c.
992
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900-
Nr. 4 H
Diese relative Seltenheit der Nephritis syphilitica praecox
bringt eben Jaccoud auf den Gedanken, ob nicht in den
betreffenden Fälleu noch andere Momente vorhanden sind,
welche den Ausbruch der Nierenentzündung begünstigen, wie
Alkoholmissbrauch, Erkältungen, sonstige acute Krankheiten,
körperliche Beschädigungen u. dgl. und er gelangt zu der An¬
sicht, dass in vielen Fällen die Aetiologie eine combinirte
sein könne.
Diese Nephritiden können oft übersehen werden, da sie
ausser der Albuminurie keine weiteren äusseren Symptome
darbieten; ein anderes Mal haben wir es mit allen charakte¬
ristischen Erscheinungen einer acuten oder subacuten Nephritis
zu thun. Die Symptome treten wieder bald in geringerer, bald
in stärkerer Intensität auf. Bei schweren, z. B. urämischen
Symptomen kann die Syphilis selbst übersehen werden, da
erstere oft plötzlich im Laufe von 48 Stunden sich einstellen,
wodurch die ganze Aufmerksamkeit des Arztes auf die Nieren¬
erkrankung allein concentrirt ist.
M. Hudelo8) veröffentlicht im Jahre 1893 einen Fall
von acuter syphilitischer Nephritis, in welchem vier bis fünf
Monate nach der Infection des Kranken Secundärerscheinungen
der Lues auftraten, zu welchen sich Kopfschmerzen, Nasen¬
blutungen, allgemeine Anasarka und bedeutende Athemnoth
hinzugesellten. Im Harne fand man 3 g Eiweiss pro die und
im Sedimente eine grosse Anzahl verschiedener Cylinder. Im
Verlaufe von zwei Wochen traten dazu Symptome von Urämie,
es entwickelten sich eine Peri- und Myocarditis, Lungeninfarcte
und ein rechtsseitiger Rippenfellerguss, wodurch das letale Ende
des Kranken herbeigeführt wurde. Die Untersuchung der
Nieren ergab subacute diffuse Nephritis. Mit Rücksicht auf die
Schwere der Symptome gleich im Beginne der Erkrankung
konnte in diesem Falle keine specifische Behandlung eingeleitet
werden.
Hudelo und Darier9) theilen in demselben Jahr¬
gange die histologische Untersuchung der Nieren in zwei
Fällen acuter Nephritis im Frühstadium der Syphilis mit und
gelangen zum Resultate, dass die Nieren nicht nur das Bild
parenchymatöser, sondern auch das einer diffusen oder ge¬
mischten Entzündung darbieten können (Nephritis diffusa sive
mixta).
M. G a s t o n *°) berichtet über einen Kranken, bei welchem
im Juli der Primäraffect (Ulcus durum) an der Haut des Ab¬
domens auftrat und bei dem im November desselben Jahres
der Hautausschlag und eine allgemeine Anasarka folgten. Es
wurden 1 *87°/00 Eiweiss im Harne constatirt. Da bei diesem
Kranken ein Abusus alkoholischer Getränke nachgewiesen
wurde, glaubt Gas ton in diesem Umstande eine Prädisposition
zur Entstehung der Nierenaffection zu erblicken. Jodbehandlung
beseitigte sämmtliche Krankheitserscheinungen in kurzer Zeit.
Im Falle von Etienne n) finden wir folgenden
Verlauf:
Bei einer 42 Jahre alten Frau trat im October 1892 eine
Initialsklerose (un gros bouton) an den äusseren Geschlechlstheilen
auf und im Januar 1893 folgte eine allgemeine luetische Haut¬
eruption. Etwas später entwickelte sich eine Iritis, gegen welche
Quecksilberpräparate angewendet wurden. Bei der Aufnahme der
Patientin in die Klinik des Prof. Spillmann am 24. April
wurden ein papulo-squamöses Syphilid, hochgradige Anämie und
eine allgemeine Anasarka constatirt. Im dunkelbraunen Harne von
circa 1000 cm' pro die fand man 8%0 Albumen, viele rothe
Blutkörperchen und zahlreiche Cylinder. Die Behandlung, welche
in subcutanen Quecksilberinjectionen (Thymolacetat de mercure)
einmal wöchentlich bestand, führte Anfangs Mai eine unbedeutende
Besserung herbei. Am 10. Mai trat plötzlich Lähmung der rechten
Körperhälfte auf, weshalb am 11. Mai mittels Venaesectio 300
Blut entzogen wurden. Am 15. Mai bekam Patientin heftigen
Speichelfluss und Stomatitis. Von dieser Zeit an verschlimmerte
s) M. II u d e 1 o, Mal de Bright syphilitique precoce. La semaine
medicate. 1893, pag.. 115.
J) Darier et Hudelo, Syphilis renale precoce. La semaine medi-
eale. 1893, pag. 358.
lü) La semaine medicale. 1893, pag. 568.
!l) G. Etienne, Nephrite syphilitique precoce. Annales de
Dermatologie. 1895, Bd. VI.
sich der Zustand der Kranken immer mehr und sie starb unter
zunehmender Schwäche und Kachexie am 27. Juli.
Die Autopsie ergab (Jedem der weichen Meningen und
Arteriitis der peripheren Hirnarterien, jedoch keine Spur eines Blut¬
ergusses oder einer Embolie. In den Lungen mässiges (Jedem, der
Herzmuskel fettig degenerirt. Leber normal, Milz hinsichtlich Con-
sistenz und Grösse unverändert, in ihr zwei kleine Infarcte. Die
linke Niere kleiner, am Durchschnitte blass, etwas härter. Die
rechte normal gross, am Durchschnitte weniger blass als die linke,
ihre Rindensubstanz verbreitert. Die histologische Untersuchung
zeigte grösstentheils normale M alp ighi’sche Knäuel, Veränderungen
waren nur in den Epithelien der Kapseln und der Harncanälchen
sichtbar, ln den Arterien bestanden nur unbedeutende Zeichen von
Atheromatose.
f
Etienne gründet seine Diagnose einer Nephritis syphi¬
litica praecox in diesem Falle auf: 1. die Intensität der
luetischen Secundärerscheinungen ; 2. den Mangel einer anderen
Allgemeinerkrankung und Ursache; 3. die Gegenwart specifischer
Veränderungen in den Hirnarterien. Indem er sich noch auf
andere Autoren beruft, stellt er die Behauptung auf, dass die
Veränderungen in den Nieren nicht immer die gleichen sein
müssen, und neigt zur Annahme, dass in seinem Falle die
bestehende, wiewohl geringfügige Atheromatose das Auftreten
der Nierenerkrankung begünstigt haben dürfte.
Dieulafoy12) unterscheidet ebenfalls die Nieren¬
entzündungen im Secundärstadium der Lues von den Ver¬
änderungen in den Nieren in einem vergerückteren Zeitpunkte
dieser Krankheit. Nach ihm ist die Syphilis ein heftiges Gift
für die Nieren (terrible poison pour le filtre renal). Sie greift
dieselben entweder im Anfangs- oder in einem Spätstadium
an. Im ersten Falle sind beide Nieren gleichmässig befallen,
wie bei allen Infectionskrankheiten, z. B. bei Scharlach. Die
Intensität der krankhaften Veränderungen kann unbedeutend
oder sehr beträchtlich sein. Manchmal sind die Nieren in
einem solchen Grade ergriffen, dass von einer Besserung keine
Rede sein könne. In einem späteren Stadium der Lues haben
wir es selten mit einer reinen Nephritis, sondern gewöhnlich
mit sklerotischen Veränderungen oder amyloider Degeneration
zu thun. Aus diesem Grunde verdienen nach Dieulafoy
nur die Nierenentzündungen in frühen Stadien der Lues die
Bezeichnung »Nephritis syphilitica«, während die Erkrankungen
der Nieren in späteren Stadien mit »Syphilis renum« be¬
zeichnet werden sollten.
Die bei der Frühsyphilis auftretenden Nephritiden können
bald geringgradiger Natur sein, so dass ausser einigen Zehntel¬
grammen Eiweiss, wenigen Cylindern im Harnsedimente und
unbedeutenden Oedemen keine anderen Symptome vorhanden
sind. Diese Erscheinungen schwinden dann gewöhnlich bei der
ersten Anwendung specifischer Mittel.
In anderen Fällen treten jedoch alle charakteristischen
Symptome einer acuten oder subacuten Nierenentzündung auf
und wir finden dann bei Autopsien diffuse Nephritis, grosse
weisse Nieren oder selbst hämorrhagische Entzündungsformen.
Die histologische Untersuchung ergibt in solchen Fällen Nekrose
der Nierenepitkelien, entzündliche Veränderungen in den
Malpighi’schen Knäueln und in den Gefässen, endlich Hämor-
rhagien in der Rindensubstanz.
Man könnte glauben, dass die syphilitischen Symptome
in den letal verlaufenden Fällen sehr intensiv sein müssen;
dies ist jedoch nicht der Fall, da man selbst bei Kranken,
welche ausser dem Exanthem und einigen Plaques im Rachen
keine weiteren äusseren Zeichen der Lues darbieten, schwere
Erscheinungen seitens der Nephritis sieht.
Dieulafoy führt drei eigene Beobachtungen an:
Die erste betrifft einen 17 Jahre allen, kräftig gebauten
Patienten, welcher zwei Monate nach dem Ulcus durum Secundär¬
erscheinungen bekam, wobei ziemlich rasch Gesicht und untere
Körperhälfte ödematös wurden. Im Harne fand man 23 g Eiweiss
pro die. Bei Milchdiät und antiluetischer Behandlung schwanden
sämmtliche Krankheilssymptome innerhalb 17 Tagen. Der Kranke
verlor in dieser Zeit 10 kg an Körpergewicht.
n) Clinique medicale de l’Hötel-Dieu de Paris. 1897/98.
Nr. 43
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
993
Der zweite Fall hatte keinen so günstigen Verlauf. Bei einem
Manne, der sich stets wohl fühlte, traten plötzlich Oedeme des
Gesichtes und der unteren Extremitäten auf und erreichten in
wenigen Tagen eine beträchtliche Dimension. Die Anamnese ergab,
dass Patient sich sieben Monate vorher wegen eines Geschwüres
am Penis und einige Zeit später wegen Plaques im Rachen hatte
behandeln lassen. Im Harne constatirte man 8%o Eiweiss. Trotz
Milchdiät und subcutaner Quecksilberinjectionen (Hydrargyrum
bijodatum) wurden die Oedeme immer stärker. Es wurde dann
Jod abwechselnd mit Injectionen versucht, doch verschlimmerte
sich der Zustand des Patienten immer mehr, es entwickelte sich
schliesslich ein Erysipel am Abdomen, welches das letale Ende
herbeiführte.
Bei der Obduction fand man beträchtlich vergrösserte Nieren,
deren Rindensubstanz äusserst blass war. Die histologische Unter¬
suchung zeigte hauptsächlich Veränderungen in den Epithelien der
Rindensubstanz. Das interstitielle Bindegewebe, sowie die Blut¬
gefässe waren nicht tangirt. In den Pyramiden fanden sich hie
uud da dieselben Erscheinungen, wie in der Rinde. Die Nieren
boten somit rein parenchymatöse Degeneration, und zwar nur eines
bestimmten Theiles des secernirenden Systems dar.
Im dritten Falle von D i e u 1 a f o y sehen wir einen 26 Jahre
alten Patienten, hei welchem sechs Monate nach dem Primäraffecte
und nach unbedeutenden Secundärerscheinungen eine schwere
Nephritis auftritt. Der Harn enthält 30 %o Eiweiss. Trotz Milchdiät
und antiluetischer Behandlung kommt es hier zu schweren Symptomen
von Urämie. Diese treten für einige Zeit zurück, die Eiweissmenge
sinkt bis zu 3%o> die Besserung hält jedoch nicht lange an, die
Oedeme werden wieder stärker, es tritt reichlicheres Erbrechen ein
und das Erbrochene ist manchmal von schwärzlicher Farbe (Ulcerations
uremiques de l'estomac). Zu diesen Symptomen gesellt sich bald
ein linksseitiger Hydrothorax, welcher wiederholte Aspiration von
Flüssigkeit erfordert. Der Fall endete tödlich. Der Obductionsbefund
ist nicht angeführt.
D i e u 1 a f o y erwähnt noch Fälle von Mauriac, Gaston,
M. W ick harn13) und Perroud14) und gelangt zu folgen¬
den Resultaten :
1. Esexistirteine frühzeitige syphilitische Nierenentzündung
(Nephritis syphilitica praecox) in den ersten Monaten nach der
Infection.
2. Leichtere Erkrankungsfälle zeichnen sich durch ge¬
ringe Eiweissmengen im Harne und unbedeutende Oedeme aus,
welche rasch schwinden, so dass die Krankheit fast unbemerkt
abläuft.
3. Bei schwereren Formen dieser Nephritis, am häufigsten
zwei bis drei Monate nach der Infection, treten beträchtliche
Eiweissquantitäten im Harne auf und es entwickelt sich rasch
allgemeine Anasarka, welche einen bedeutenden Grad erreichen
kann. Die Eiweissmenge beträgt gewöhnlich 10, 15, 20 und
noch mehr Gramm pro die. Wickham fand einmal 20 <7 im
Liter Harn, Chantemesse sogar 52 g !
4. Zu diesen Symptomen gesellen sich recht häufig früher
oder später anhaltende Kopfschmerzen, Athemnoth, Erbrechen,
Durchfall, Somnolenz u. s. w., kurz Erscheinungen von
Urämie.
5. Trotz dieser gefahrdrohenden Symptome kann die
Nephritis einen günstigen Ausgang nehmen ; in manchen Fällen
übergeht sie in eine chronische Form.
6. Hat die Nierenentzündung den Tod zur Folge, was
genug häufig geschieht, so tritt derselbe nach einigen Wochen
(acute Form) oder nach wenigen Monaten (subacute Form) ein.
Die Todesursache ist entweder durch die seitens der Nephritis
selbst herbeigeführten Veränderungen (hochgradige Oedeme,
Urämie) oder durch Complicationen (Erysipel, Lymphangioitis)
gegeben.
7. Diese Nierenerkrankung ist vorzüglich durch Ver¬
änderungen in den Epithelien charakterisirt.
8. Die Therapie dieser Nephritiden besteht in streng
durchzuführender Milchdiät und in der Anwendung von Queck¬
silber- und Jodpräparaten. In der Dosirung dieser Medicamente
13) L’Union medicate 24. Octobre 1886.
14) Jounial de medecine de Lyon. 1867, pag. 118.
ist mit Rücksicht auf die entzündlichen Veränderungen in den
Nieren Vorsicht am Platze.
Wenn wir unseren Fall mit dem angeführten Materiale
der mir zugänglichen Literatur vergleichen, so sehen wir, dass
bei unserem Patienten die Nierenerkrankung sehr früh, denn
kaum vier bis fünf Wochen nach dem Erscheinen des Primär-
affectes, aufgetreten ist. Bei der Aufnahme des Kranken in
die Klinik war das Ulcus noch nicht vollständig vernarbt,
Roseola und Kondylome fingen sich erst zu entwickeln an,
trotzdem hatten die Oedeme eine beträchtliche Ausdehnung
bereits erreicht und breiteten sich auch weiter rasch aus. Bei
Mauriac finden wir nur drei Fälle von so frühzeitigem Auf¬
treten der syphilitischen Nephritis. In einem von ihm selbst
beobachteten Falle trat die Nierenentzündung in der fünften
Woche, in dem von Labadie-Lagrave in der vierten bis
fünften, und in einer Beobachtung von Wagner sechs Wochen
nach dem primären Geschwüre auf.
Die Syphilis selbst gehörte bei unserem Kranken mehr
einer leichteren Form an, doch waren die Symptome der
Nephritis sehr ausgesprochen; 12%0 Eiweiss im Harne, aus¬
gebreitete allgemeine Anasarka, Flüssigkeitserguss in beiden
Pleurahöhlen und im Abdomen.
Der Verlauf gestaltet sich bei unserem Patienten recht
günstig. Bettruhe uud Milchdiät vergrössern die Diurese, der
Harn wird klar und von normaler Farbe, die Ei weissmenge
sinkt, die Oedeme schwinden rasch, so dass der Kranke in den
ersten zehn Tagen seines Spitalsaufenthaltes 10 kg an Körper¬
gewicht verliert. Die Persistenz der Albuminurie (1 %o) und
die immer deutlicher hervortretenden luetischen Veränderungen
an der Haut zwingen zur Einleitung einer specifischen Be¬
handlung.
Während derselben sehen wir dann eine weitere allmälige
Abnahme des Ei weissquantums bei constant hoher Diurese,
sowie Schwinden der Oedeme und der sichtbaren Erscheinungen
der Syphilis. Der Kranke nimmt in diesem Stadium wieder an
Körpergewicht zu, jedoch nicht in Folge von Flüssigkeits¬
retention im Organismus, sondern durch die Besserung seines
Ernährungszustandes. Es war dies ein Beweis für den günstigen
Einfluss der antiluetischen Therapie auf den ganzen Krank¬
heitsverlauf.
Der Patient konnte auch nach siebenwöchentlicher Be¬
handlung die Klinik als geheilt verlassen, da er mit Ausnahme
der unbedeutend vergrösserten Lymphdrüsen und der noch
mässig harten Narbe an der Eichel keine weiteren Symptome
der Lues darbot.
Der ganze Verlauf in unserem Krankheitsfalle beweist
ferner, dass die Diagnose einer acuten syphilitischen Nieren¬
entzündung einzig am Platze war; man kann desgleichen, ge¬
stützt auf die aus der Literatur angeführten Fälle, in welchen
es zur Autopsie kam, behaupten, dass wir es auch bei unserem
Patienten vorzüglich mit parenchymatösen Veränderungen in
den Nieren zu thun hatten, kurz mit einer Nephritis parenchy-
matosa luetica praecox.
Am Schlüsse sei es mir gestattet, meinem hochverehrten
Chef, dem Herrn Prof. Dr. Anton G 1 u z i n s k i, und dem
Herrn Assistenten Dr. Julius Marischier für die gütige
Ueberlassung obigen Falles und für die Förderung vorliegender
Arbeit meinen wärmsten Dank auszusprechen.
Aus der chirurgischen Klinik des Herrn Hofrathes
Prof. Gussenbauer in Wien.
lieber Echinococcus der Niere.
Von Dr. Ludwig Stein, emeritirtem Operateur obiger Klinik
Unter den thierischen Parasiten des menschlichen Orga¬
nismus, die sich speciell in der Niere ansiedeln, kommt in
unserem Himmelsstriche hauptsächlich der Echinococcus in
Betracht. Die Complication der Ansiedlungsverhältnisse, die
sich diesem Parasiten auf dem Wege zur Niere entgegenstellen,
machen es erklärlich, dass unter allen inneren Organen ge-
1 rade die Niere am seltensten vom Echinococcus keimgesucL
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 4 3
994
wird. Nach den fast übereinstimmenden Untersuchungsresul¬
taten von N e i s s e r, Frey und D a v a i n e fand er sich nur in
circa 10% aller Fälle und in einer 27 Fälle umfassenden Be¬
obachtung Hosier’s nur in ungefähr 4%.
Diese verhältnissmässig seltene Localisation des Echino¬
coccus speciell in der Niere wird, wie schon bemerkt, ein¬
leuchtend, wenn wir den Entwicklungsgang des Nierenechino¬
coccus näher betrachten.
Wie allgemein bekannt, stellt der Echinococcus den
Jugendzustand der Taenia Echinococcus, einer Bandwurmart
dar, die sich im Dünndarme des gewöhnlichen Hundes und
vieler Hundearten, wie des Wolfes und des Schakals, gelegent¬
lich auch des Fuchses vorfindet. Als ausschliesslicher Ver¬
mittler der Uehertragung auf den Menschen erscheint der Hund,
und zwar in der verschiedensten Art und Weise. Einmal ge¬
schieht dies durch directe Berührung mit derart behafteten
Hunden hei Kindern sowohl, wie bei Erwachsenen, die die
iihle Gewohnheit haben, sich namentlich die Hände vom Hunde
belecken zu lassen oder selbst vor regelrechten Küssen nicht
zurück scheuen. Durch Erbrechen, ferner durch selbstständiges
Heraufkriechen kann dann die Taenia oder deren Proglottiden
vom Dünndarm in die Mundhöhle und bis an die Zunge des Hundes
gelangen. Ausserdem ist es bekannt, wie gerne alle Gattungen
von Hunden am eigenen After und an dem anderer herum-
schntiffeln und auch auf diese Weise Proglottiden und selbst
die ganze Taenie an ihre Schnauze bringen können, ohne nur,
da die ganze Taenie blos eine Länge von 4 mm erreicht,
äusserlich ein auffallendes Merkmal zu bieten.
In anderen Fällen geschieht die Uehertragung mittelbar
durch Gegenstände, welche tänien kranke Hunde beleckt oder
zum Scheuern an ihrem After benützt haben, oder endlich,
wie nicht selten, durch Gemüse oder Wasser, welches mit den
Deject en des Hundes in Berührung gekommen ist. Die Mög¬
lichkeit der Infection mit Echinococcus wird daher auch für
jene Berufszweige eine grössere sein, die schon seit früher
Jugend viel mit Hunden in Berührung kommen, wie Fleischer,
Schäfer und andere. Daher ist es auch erklärlich, dass in
Island, wo Hunde wegen ausgedehnter Viehzucht sehr zahl¬
reich und in engsten Lebensverhältnissen mit den Menschen
zu treffen sind, die Krankheit überaus häufig vorkommt. Aber
auch in unseren Gegenden findet sich der Echinococcus spora¬
disch in so grosser Zahl, dass Manche, wie Hosier, geneigt
sind, von einem endemischen Vorkommen zu sprechen.
Sind nun die Eier der Taenia Echinococcus auf die eine
oder andere Art in den menschlichen Magen gelangt, so werden
sie nach Auflösung ihrer Hüllen durch die Venen des Darm-
tractes zunächst in die Pfortader getragen. Um bis zur Niere
vorzudringen, ist es noting, dass sie vom venösen Kreisläufe
in den arteriellen gelangen. An der Weitläufigkeit dieses Weges
liegt es, dass Leber und Lunge, als die näher liegenden, weit
häufiger vom Echinococcus betroffen werden, als die Niere.
Unter beiden Nieren ist es wieder die linke, die häufiger er¬
krankt, was wohl auf den verschiedenen Ursprung der beiden
Arteriae renales zurückzuführen ist.
Gewöhnlich kommt der Echinococcus von einem der
beiden Nierenpole aus zur Entwicklung und da wieder häufiger
von der Binden» als von der Marksubstanz. Von hier geht sein
V achsthum zumeist in der Richtung gegen das Nierenbecken
hin vor sich. Je nach der Grösse, die die Echinococcusblase
erreicht, findet sich auch eine verschiedengradige Verdrängung
der Nachbarorgane. An dem noch vorzufindenden Reste der
Nierensubstanz finden sich zumeist Veränderungen atrophischer
und entzündlicher Natur. Nicht selten entstehen Verwachsungen
mit Nachbarorganen, wenn die Echinococcusblase bereits die
Nierenkapsel erreicht hat und es kann in dem einen oder
anderen Falle zum Durchbruche in ein anderes Organ kommen,
wiewohl bemerkt werden muss, dass ein Durchbruch am
häufigsten gegen das Nierenbecken hin stattfindet.
Die Diagnose des Nierenechinccoccus bietet in der Regel
die grössten Schwierigkeiten. Abgesehen davon, dass derselbe
in seinen ersten Entwicklungsstadien ganz übersehen werden
kann, geben auch Blasen von ganz bedeutendem Umfange zu
Trugschlüssen Anlass, und zwar in allererster Reihe in Bezug
auf die Localisation. Grosse Blasen verdrängen die Nachbar¬
organe oft so bedeutend, dass alle jene Cardinalsymptome,
die die Differentialdiagnose zwischen Leber und Nieren¬
tumoren bilden, ins Schwanken gerathen. Bei Weibern liegt
die Verwechslung mit Ovarialcysten sehr nahe. Wir haben es
nämlich in vielen Fällen mit so grossen Geschwülsten zu thun,
dass sie oft den grössten Theil der einen Bauchhälfte ausfüllen,
bei ganz bedeutender Spannung der Bauchdecken.
Deuten aber selbst sichere Anzeichen darauf hin, dass
die Niere als Sitz der Erkrankung anzusehen ist, so findet
man wieder selten unumstössliche Anhaltspunkte dafür, dass
man es gerade mit Echinococcus zu thun hat. Die Unter¬
scheidung von Nierencysten und Hydronephrose wird dann
zur unüberwindlichen Schwierigkeit, besonders da die grösste
Blase, abgesehen von secundären Druckerscheinungen, keine
chax-akteristischen Beschwerden hervorruft.
Am ehesten noch werden wir zu einem richtigen Schlüsse
kommen, wenn der Echinococcus in ii'gend ein Organ durch¬
gebrochen ist und wenn es uns gelingt, in den Secreten,
respective Excreten dieses Organes Blasen oder deren charakte¬
ristische Bestandtheile nachzuweisen. Aber auch dann ist ihre
Zurückführung auf die Niere mehr als fraglich. Selbst der
Durchbruch gegen das Nierenbecken hin und das Erscheinen
von Hydatiden im Harne, das gewöhnlich durch mehr oder
minder starke Nierenkoliken eingeleitet wird, lässt nicht un¬
anfechtbare Schlüsse zu, da es nicht undenkbar ist, dass z. B.
ein Leberechinococcus in das rechte Nierenbecken durch¬
brechen kann.
Das sind zumeist die unendlichen Schwierigkeiten, die
sich der pj'ompten Diagnose des Nierenechinococcus entgegen¬
stellen. Nur der Umstand, dass wir die meisten cystisehen Ge¬
bilde operativ angehen, ganz besonders, wenn wir einiger-
massen voraussetzen, dass es sich um eine Echinococcuscyste
handelt, verhindert es, dass auch der Nierenechinococcus, selbst
wenn er nicht von vornherein als solcher erkannt wurde, der
richtigen Behandlung entgeht.
Im Nachfolgenden will ich hier einen Fall von Echino¬
coccus der rechten Niere beschreiben, der sieb im Juli d. J.
an der Klinik des Herrn Hofrathes Gussenbauer bot und
der so recht das Vorhei’gesagte illustrirt.
Anamnesis: L. E., lSjähriger Gewerbeschüler aus Brünn.
Sein Vater starb, 42 Jahre alt, an Wassersucht; die Mutter ist
gesund. Zwei Geschwister starben in früher Jugend an unbekannten
Krankheiten. Drei andere Geschwister sind gesund. Patient selbst
war, bis auf den Beginn seiner jetzigen Krankheit, nie leidend.
Seit einem Jahre bemerkt er eine Resistenz in der Leber¬
gegend. Gewachsen soll diese resistente Stelle während dieses
Jahres nicht sein und hat ihm auch nie Schmerzen verursacht.
Erst in der letzten Woche traten Schmerzen auf, die durch kalte
Umschläge gelindert wurden. Ein Arzt rieth ihm sofortige Ope¬
ration an.
Status praesens: Mittelgrosser, ziemlich kräftig gebauter
Mann. Rechte obere Hälfte des Abdomens deutlich vorgewölbt. Da¬
selbst eine pralle, elastische Geschwulst nachweisbar. Fluctuation
nicht ausgesprochen. Druck auf die Geschwulst nicht schmerzhaft.
Die Geschwulst reicht nach abwärts in der Axillar- und Mamillar-
linie einen Querfinger breit mUer die Nabellinie, in der Median¬
linie bis zum Nabel und verläuft in der linken Parasternallinie
bogenförmig unter den linken Rippenbogen. Die Leberdämpfung
beginnt in der Sternallinie am oberen Rande der fünften Rippe,
in der Mamillarlinie am oberen Rande der sechsten Rippe. Hinten
reichen die Lungengrenzen beiderseits bis handbreit unter die
Scapularwinkel und sind gut verschieblich. Der Tumor ist etwas
beweglich ; der Schall oberhalb desselben ist überall gedämpft
tympanitisch. Der übrige somatische Befund ist normal.
2. August 1900. Operation in Chloroformäthernarkose (Herr
Assistent Dr. Pupovac). Dauer zwei Stunden. Schnitt entlang
dem rechten Rippenbogen, vornein einer Länge von 10 cm. Durch¬
trennung der Haut, der Muskeln und des Peritoneums. Es zeigt
sich, dass die Leber stark nach aufwärts unter den Rippenbogen
hin verschoben ist. Der Schnitt wird sodann nach rückwärts, bis
nahe zur Wirbelsäule verlängert. Nachdem auch dadurch nicht ge¬
nügend Raum geschaffen war, wird noch vom vorderen Drittel nach
Nr. 48
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
995
abwärts ein circa 10 cm langer Schnitt hinzugefügt. Dadurch kann
man nun den Tumor vollständig umgreifen. Es zeigt sich, dass
derselbe von der rechten Niere ausgeht. An seiner Medianseite ist
er mit dem Duodenum verwachsen. Das Peritoneum zieht
vollständig intact darüber hinweg. Entsprechend dem Hautschnitte
wird nun auch das den Tumor bedeckende Peritoneum durch¬
schnitten und der Tumor herauszulösen versucht. Hiebei geht an
der Innenseite die Serosa und theilweise auch die Muscularis des
Duodenums, an dessen Convexseite, in einer Ausdehnung von 8 c??«
mit. Gegen die Dorsalseite zu ist der Tumor leicht ausschälbar.
Nach Unterbindung der Nierengefässe und des Ureters wird der
Tumor entfernt. Die verletzte Darmserosa und -Muscularis wird durch
Zusammennähen der intacten Flächen gedeckt. Vernähung des den
Tumor bedeckenden Peritoneums. Drainage des retroperitonealen
Raumes. Vernähung des übrigen Peritoneums. Muskelnaht und
Hautnaht.
3. August. Harnmenge 1300, Temperatur 37*5, Puls 96.
Zunge feucht.
In der Folge normale Temperatur und normaler Puls. Harn¬
mengen schwanken zwischen 1000 und 1400. Heilung nach
24 Tagen.
Was die Operationstechnik an sich betrifft, so passt sich
dieselbe im Allgemeinen den modernen, gewiss nicht spärlichen
Erfahrungen über Nierenchirurgie an. Worüber aber die An¬
sichten noch bis zum heutigen Tage in mancher Beziehung
auseinandergehen, das sind die therapeutisch einzuschlagenden
Wege, respective die Wahl der Operationsmethode. Soll man
sich mit der blossen, sei es extra-, sei es intraperitonealen Er¬
öffnung mit nachheriger Drainage des Sackes begnügen, oder
soll man die Nephrektomie, die Entfernung des ganzeu betroffenen
Organes vornehmen?
So wichtig auch diese Frage mit Rücksicht auf die
Schwere des Eingriffes ist, so schwer fällt deren decidirte Be¬
antwortung im Einzelfalle. Es ist klar, dass bei der Entscheidung
für die eine oder andere Operationsmethode mehrere Factoren
massgebend sein werden. In aller erster Reihe muss, um ein
richtiges Kriterium zu ermöglichen, die Diagnose feststehen.
Darin liegt aber, wie bereits bemerkt, die Hauptschwierigkeit,
da die Diagnose nie mit voller Sicherheit gestellt werden kann.
Verwechslungen mit Hydronephrose, Nierencyste, Nierenabscess,
ferner mit Leber- und Ovarialcysten sind mehr als erklärlich.
De Jong stellte eine Statistik von 27 Fällen zusammen, von
denen mehr als die Hälfte als Ovarialcysten gedeutet und
daher auch fast alle mit dem Abdominalschnitt angegangen
wurden. Unter den betreffenden Operateuren sind Namen, wie
die von Billroth, Esmarch, Olier u. A. zu finden!
Selbst eine früher vorgenommene Probepunction, die,
nebenbei bemerkt, durchaus nicht als ganz ungefährlicher Ein¬
griff zu betrachten ist, w'ird uns nur wenig oder um gar nichts
dem angestrebten Ziele näher bringen. Denn nicht immer be¬
kommen wir in der Punctionsflüssigkeit charakteristische Theile
der Hydatidencyste zu sehen, geschweige denn, dass uns etwas
auf die Localisation in der Niere hinführen würde. Ja Schede
konnte . in einem Falle die Diagnose des Nierenechinococcus
nicht früher machen, als bis er die Geschwulst zu etwa zwei
Dritteln freigelegt und an einer Stelle die Punction vorge¬
nommen hatte.
Ob im speciellen Falle die Nephrektomie vorzunehmen
ist, dies muss ferner die Menge und der Zustand der noch
restirenden Nierensubstanz entscheiden. Aber wo haben wir
nur ein Symptom, das annähernd einen Schluss darauf zu-
liesse? Auch die nachträglichen Untersuchungen an bereits
exstirpirten Organen ergeben nicht übereinstimmende Resultate.
Während einige, wie Senator, den eventuell noch erhaltenen
Rest der Niere, der ja in Folge von Druckwirkung auf einen
sehr variablen Bruchtheil des ursprünglichen Nierenvolumens
reducirt sein kann, meist atrophisch oder entzündlich verändert
fanden, kommt Paul Wagner1) in einer diesbezüglichen und
ausgezeichneten Arbeit zu anderen Schlüssen, die allerdings
sehr beachtenswerth sind und der Nephrotomie fast ausschliess¬
lich die Stange halten. Wagner bezieht sich auf zehn Fälle
’) Centralblatt für Krankheiten der Harn- und Sexualorgane. 1894.
von Nephrektomie wegen Echinococcus, von denen drei letal
endeten, sieben einen günstigen Verlauf nahmen, und bei denen
insgesammt mehr oder minder beträchtliche Mengen functions-
fähiger Nierensubstunz gefunden wurden. Bei allen diesen
Fällen wurde, wie Wagner selbst zugibt, die richtige Dia¬
gnose nicht gestellt.
Aber Wagner geht so weit, die Nephrektomie in
keinem Falle von Nierenechinococcus als berechtigt anzusehen
und diesen Eingriff nur dann zuzugestehen, wenn man in
Folge irrthümlicher Diagnose den abdominalen Weg einge¬
schlagen hat und so weit vorgeschritten ist, dass es weniger
Gefahr hat, die Exstirpation zu vollenden. Dadurch geräth
jedoch der so stricte Standpunkt Wagners von selbst ins
Schwanken, da ja auch in seinen zehn Fällen von Nieren¬
echinococcus insgesammt Fehldiagnosen Vorlagen.
Wohl ergibt die Nephrektomie noch eine ziemlich be¬
trächtliche Mortalitätsziffer: nach einer aus dem Jahre 1882
stammenden, 72 Fälle umfassenden Statistik Czerny’s und
nach einer umfangreichen Beobachtung G r o s s’ aus dem Jahre
1885 übereinstimmend circa 44°/0, welche Zahl allerdings im
letzten Jahrzehnt auf beinahe die Hälfte geschrumpft ist.
Dennoch aber können wir die Nephrektomie als chirurgische
Behandlungsmethode nicht von der Hand weisen, ja wir sind
sehr oft auf sie direct angewiesen. Man darf übrigens nicht
vergessen, dass auch die blosse Eröffnung und Drainirung des
Sackes an sich nicht so geringfügig ist, als sie fürs Erste er¬
scheint, wenn auch die Zahl derer, die dem Eingriffe direct
erliegen, eine weit geringere ist als bei der Nephrektomie.
Die Heilung jedoch ist eine so langwierige, sich über Monate,
oft auch Jahre erstreckende, dass an die Kräfte des Patienten
die grössten Anforderungen gestellt werden, ganz besonders,
wenn sich Eiterung zugesellt, in deren Gefolge secundäre Er¬
krankungen, besonders Amyloiddegenerationen, das Leben des
Patienten bedrohen können. Ich kenne einen Fall von Leber¬
cyste, der, durch Eirmähen und Eröffnung des Sackes behandelt,
noch heute, nach drei Jahren, nicht vollkommen geheilt ist
und den sonst ausnehmend kräftigen Patienten schon einige
Male in kritische Zustände brachte.
Ich komme daher zu folgenden Schlüssen:
Die chirurgische Behandlung des Nierenechinococcus um¬
fasst sowohl die Nephrektomie als auch die einfache Eröffnung
des Sackes mit nachfolgender Drainirung desselben. W elcher
von beiden Methoden wir den Vorzug geben, das kann zu¬
meist erst intra Operationen! beschlossen werden, nachdem eben
einerseits die Diagnose festgestellt, andererseits man womöglich
ins Klare darüber gekommen ist, ob und wie viel tunctionsfähiger
Nierensubstanz vorhanden ist.
Das Einschlagen des abdominalen Weges ist für keinen
Fall ein ausschlaggebender Nachtheil. Er bietet oft die einzige
Möglichkeit, sich klare Verhältnisse zu verschaffen. Sieht inan
bei dieser Gelegenheit, dass der Fall für blosse Eröffnung ge¬
eignet ist, so kann man die beiden erzeugten Peritoneal wunden
wieder sehliessen und mit Hilfe eines hinzugefügten lumbaren
Hautschnittes extraperitoneal vorgehen.
Literatur.
Senator, Die Erkrankungen der Nieren. Nothnagel, Pathologie
und Therapie. Bd. XIX.
Obalinsky, Zur modernen Nierenchirurgie.
Schede, Meine Erfahrungen über Nierenexstirpation.
Hosier, Endemisches Vorkommen des Echinococcus. Deutsche
medicinische Wochenschrift. 1886.
K ü s t e r, Die chirurgischen Krankheiten der Niere. Deutsche Chirurgie.
Lieferung 526.
FEUILLETON.
Dem Andenken E. Albert’s.
Von Prof. Gassenhauer.*)
Sehr geehrte Herren Coli egen!
Der Aufforderung des verehrten Herrn Präsidenten folgend, will
ich es heute versuchen, unseres so jäh und leider viel zu tiüli vei-
*) Gedenkrede in der Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte vom
19. October 1900.
996
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 43
storbenen Mitgliedes, Hofrath Prof. Dr. Eduard Albert, in pietät¬
voller Erinnerung an sein unermüdliches und an Erfolgen so reiches
Wirken zu gedenken und der Sympathie Ausdruck zu verleihen, welche
seiu Ableben in uns Allen schmerzlich hervorrief.
Als seinem engeren Fachcollegen fiel mir diese Aufgabe zu. Ich
musste sie annehmen, wohl wissend, dass sie eine schwierige sei und
voll und ganz nur von Jenem zu lösen wäre, welcher nicht nur die
Dicta, Scripta und Facta dieses auserordentlichen Mannes kennt,
sondern auch die Wurzeln und den Boden zu analysiren verstünde,
aus denen sie entsprungen sind
Eduard Albert war nicht blos ein hervorragender Chirurge,
ausgezeichneter Lehrer und gelehrter Fachhistoriker, wie es nur Wenige
cibt, er war auch Politiker und Dichter und ein auf fast allen mensch-
liehen Wissenszweigen so bewanderter Mann, dass er, so oft er Ge¬
legenheit hatte, aus seinem engeren Gebiete hervorzutreten, jedes Mal
seine Schüler, Freunde und Collegen durch die vielseitige Ausbildung
seines Intellectes und die Eigenart seiner Auffassungen in Erstaunen
versetzte.
Mir obliegt es heute vornehmlich, Eduard Albert als
Chirurgen zu ei fassen und Ihnen seine Leistungen vor Augen zu
führen, welche ihm als Lehrer, Forscher und Praktiker zu so hohem
Ansehen im In- und Auslande führten.
Albert war ein Sohn unserer Alma mater und als solcher
durchwegs in den Traditionen erzogen, welche die Wiener Schule in
einer erst jüngst abgelaufenen Epoche unter ihren geistigen Führern
Hyrtl, Rokitansky und Skoda gross gemacht hatten.
Der gewaltige Redner Hyrtl regte den jungen Albert,
welcher mit allen seinen Talenten als stiller, in sich gekehrter Seholare
mit uns zu den Füssen des Meisters sass, mächtig an.
Vielleicht hat Hyrtl dazu beigetragen, in Albert seine ora-
torischen Talente zu wecken und durch die Vielseitigkeit seiner sach¬
lichen und weit abschweifenden Excursionen, sowie den sichtbaren
Einfluss, welchen diese auf die lauschenden Zuhörer ausübten, die
Richtung vorzuzeichnen, welche Albert in der Folge als Lehrer
einschlug.
Es gibt eine geistige Contagion, wenn das lebendige Wort auf
günstigen und gut vorbereiteten Boden fällt, deren sichtbare Zeichen
lange nach ihrer Einwirkung zutn Vorschein kommen.
Der Denker Rokitansky legte in Albert den Grund zu
seiner Ausbildung in der pathologischen Anatomie. Vielleicht auch
weckte er in ihm die Neigung zu philosophischen Studien. In ihm ver¬
ehrte Albert nicht blos seinen Connationalen, sondern den Mann der
Forschung, welcher ihn in seinen Studie n und noch viel später mächtig
förderte, wie uns Albert in seiner schönen Gedächtnissrede auf
Rokitansky und noch viel später zu wiederholtenmalen berichtet.
Neben Rokitansky war es noch Skoda, welcher auf
Albert besonders ein wirkte.
Hatte Rokitansky durch seine vasten Conceptionen in der
Errichtung des Lehrgebäudes der pathologischen Anatomie und durch
seine phantasievollen Erklärungsversuche der dem pathologisch-ana¬
tomischen Substrate correlaten Erscheinungen, welche ihn manche
späterhin als irrig erkannte Theorien aufstellen Hessen, noch einen
gewissen Spielraum für heuristisches Denken gelassen, so war die auf
physikalischer Grundlage aufgebaute kritische Beobachtungsweise des
nüchternen, voraussetzungslosen Skoda am Krankenbette vielleicht
noch mehr geeignet, in Albert seine stärkste Seite, den schärfsten
Kriticismus, zu wecken und zu fördern.
Durch Kritik wirkten auch seine Lehrer in der Chirurgie,
Franz Schuh und Johann D umreich er, ein.
Schuh machte seinen Einfluss durch seine gross angelegte
Individualität, die Kühnheit und Sicherheit, womit er das chirurgische
Messer führte, und durch seinen lauteren und offenen Charakter, dem
alles Feige und Verschmitzte verhasst war, geltend.
Treu und treffend ist die Charakteristik von Schu h, welche
uns Albert gelegentlich der erhebenden akademischen Feier vom
JO. Mai 1 900 so lebendig vor Augen führt, dass man den Meister mit seiner
Lebhaftigkeit, seinem knappen, klaren Vortrage und seinen sarkasti¬
schen und satirischen Bemerkungen lebend zu schauen vermeint.
Dum reich er hingegen wirkte mehr durch seine klare, nüch¬
terne, vom Gegenstand nicht abweichende Vortragsweise» und den
luhigen Ernst, mit dem er in wohlwollender Weise seine Kranken be¬
handelte. Darareiche r’s Schule war eine dogmatische, entbehrte
jedoch nicht der Kritik, besonders Neuerungen gegenüber, welche noch
nicht allgemeine Anerkennung gefunden hatten.
Nachhaltiger wurde Dum reiche r’s Einfluss auf Albert
erst später, als er unter seine engeren Schüler im Operateurinstitute
aufgenommen wurde, und während seiner Assistentenzeit.
Von viel geringerem Einflüsse auf Albert waren seine übrigen
Lehrer. Nur Oppolzer fesselte ihn als scharfer und sicherer
Diagnostiker und durch die vielen praktischen Belehrungen am
Krankenbette.
Ueber Brücke, II e b r a und alle die Anderen erfahren wir
nur späterhin gelegentlich aus seinen Reden, welche Bedeutung den¬
selben zukomme. Doch waren diese Uriheile mehr aus der Reflexion
entsprungen, als den unmittelbaren Einwirkungen der Lehrer auf den
Schüler.
So war Albert, als er die hohe Schule verliess, wohl vor¬
bereitet und mächtig angeregt ; auch des Lebens Noth hatte er in der
grossen Stadt kennen gelernt; sie hat ihn frühzeitig gestählt. Er wusste,
wohin er seine Schritte zu lenken hatte und widmete sich bald nach
seiner Promovirung (1867) der Chirurgie an Dumreicher’s Schule.
v. Dum reich er hatte sehr bald die eminenten Talente
Albert’s auch auf dem Gebiete der Chirurgie, wie schon früher
Rokitansky auf jenem der pathologischen Anatomie erkannt und
beantragte seine Ernennung zum klinischen Assisluten. Damit war
die weitere Laufbahn Albert’s entschieden.
Als Assistent war Albert zunächst ganz unter dem Einflüsse
der nüchternen Schule v. Dumreicher’s. Das reiche Material der
Klinik gab ihm Gelegenheit, sich allseitig in der praktischen Chirurgie
auszubilden und sein ausgesprochenes Lehrtalent insbesondere nach Er¬
reichung der Docentur (1872) zu bekunden.
Seine ersten Publicationen waren der interessanteren chirurgischen
Casuistik der Klinik oder Lehrmeinungen seines Lehrers (Hernia in-
flammata) gewidmet.
Albert begnügte sich indessen keineswegs blos mit der Mit¬
theilung der nackten Beobaelitungsthatsachen. Sehr bald zeigte sich
in denselben der wissenschaftliche Raisonneur. Ich erinnere nur an
seine Erörterungen über die Berechtigung der Neurektomien bei Trige¬
minusneuralgien. Diese Operationen waren damals von vielen Chirurgen
einfach nach ihren unmittelbaren Heilerfolgen beurtheilt worden, ob¬
schon bereits Dieffenbach die Neurektomie für viele Fälle von
Neuralgie als einen Desparationsact hingestellt hatte.
Mitten in seinen chirurgischen Arbeiten erfuhr Albert eine
mächtige Förderung durch Salomon Stricker. Dieser war es,
welcher Albert erst eigentlich auf die Bahn wissenschaftlicher
Forschung hiuleitete.
Als erstes Zeichen dieses Einflusses erschien im Jahre 1871 jene
bekannte experimentelle Arbeit über das Wundfieber (von E. Albert
und S. Stricke r), welche ihre Anregung durch B i 1 1 r o t h’s frühere
Arbeiten auf diesem Gebiete erhalten hatte.
Diese Arbeit hat in ihrer Art den Kern der Sache, um die es
sich eigentlich handelte, nicht getroffen, in ihrer Form aber war sie,
aus der Feder Strieker’s stammend, so polemisch gehalten, dass
der daraus resultirende Misston nur durch die noble Art Billroth’s,
mit welcher er über diese Form in einer folgenden Arbeit hinwegging,
paralvsii t wurde. Alber t’s Interesse aber war durch S t r i c k e r’s
Anregungen für den Gegenstand so weit gefesselt, dass er mit
Stricker auch die Wärmeökonomie des Herzens und der Lungen
experimentell untersuchte (1873) und in der Folge mit eigenen Unter¬
suchungen, welche ihren Ausgangspunkt von den Erscheinungen der
Embolisation arterieller und capillärer Blutbahnen nahmen, die Ent¬
stehung des Fiebers zu ergründen versuchte.
Selbstständig hingegen und in vieler Hinsicht von Interesse sind
seine Studien zur chirurgischen Pathologie der Bewegungsorgane, welche
er noch als Privatdocent in Wien unternahm.
Wenn Albert für seine Untersuchungen sich an die bekannten
Versuche Bonnet’s anlehnen konnte, und die auf diesen fussende
Arbeit D i 1 1 e l’s über die Coxitis, sowie die Ansichten D u m-
r e i c h e r’s hierüber vor sich hatte, so ging er doch weit über diese
hinaus, indem er den intraarticulären Druck unter verschiedenen Ver¬
hältnissen experimentell untersuchte und die klinischen Erscheinungen
durch seine experimentellen Ergebnisse beleuchtete.
Er hat damit wesentlich dazu beigetragen, in die einschlägigen
Fragen Klarheit zu bringen.
Für Albert waren diese Studien noch insoferne von Bedeutung,
als sie der Ausgangspunkt wurden für seine in der Folge unter¬
nommenen Studien über die Mechanik verschiedeuer Gelenke.
Erst mit seiner Ernennung zum Professor der Chirurgie in
Innsbruck (1873), welche, wie uns Albert selbst berichtet, durch
Rokitansky amtlich vermittelt wurde, beginnt sein selbstständiges
Wirken und tritt sein Gepräge immer deutlicher hervor.
In zweifacher Richtung manifestirt sich seine Thätigkeit zunächst.
Er beschäftigt sich mit historischen Studien und fasst alle die Ergeb¬
nisse seiner eigenen Arbeiten zusammen und schreibt sein „Lehrbuch
der Chirurgie und Operatiouslehre“.
Im Jahre 1877 und 1878 konnte er seine „Beiträge zur Ge¬
schichte der Chirurgie“ herausgeben. In diesen bearbeitete er die Blut¬
stillungsmethoden im Mittelalter, die ältere Chirurgie der Kopfver¬
letzungen und die Herniologie der Alten nach Quellenstudien. Es sind
dies nicht blos Zusammenstellungen, sondern auch kritische Unter¬
suchungen in manchen wichtigen Punkten.
Nr. 43
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
997
Von seinem Lehrbuche konnte er bereits im Jahre 1877 den
ersten Baud und im Jahre 1880 den vierten Band herausgeben, eine
gewaltige Arbeit, wenn man bedenkt, dass er während und vor dieser
Zeit mit seinen Untersuchungen über die Mechanik des Hüftgelenkes
(187G und 1878), des Schultergürtels (1877) beschäftigt war und in
der Zeit (1878 und 1880) seine „Beiträge zur operativen Chirurgie“
herausgab und daneben noch manche interessante casuistische Fälle,
so seine Luxatio humeri supvacovacoidea und Operationen am Harn¬
apparate publicirte.
Sein Lehrbuch, der äusseren Form nach jene der zwangloseren
Vorträge Billroth’s allgemeiner Chirurgie imitirend, war von
vorneherein breit angelegt, indem es die allgemeine und specielle
Chirurgie und auch noch die Operationslehre vereinigte, ein Vorgang,
welcher sich insbesondere den Studirenden gegenüber als vortheilhaft
erwies.
Aufgebaut ist dieses Lehrbuch durchwegs auf der sicheren
Grundlage genauer historischer Kenntnisse, scharfer kritischer Be¬
leuchtung der verschiedenen Lehrmeinungen, welche den Studenten zu
eigenem Nachdenken anregte.
Die Diction war durchwegs eine klare und lebendige, mit vielen
interessenten und geistreichen Apercus gewürzte, wohl geeignet, die
Aufmerksamkeit des Lesers zu fesseln. Dieses Lehrbuch war seiner¬
zeit lobend anerkannt worden, wenn auch im Einzelnen wegen mancher
abweichender Anschauungen, namentlich in der operativen Chirurgie,
die Kritik emendirend einsetzen musste.
Albert hatte, als er dieses Lehrbuch schrieb, eine grosse Er¬
fahrung hinter sich, war er ja doch aus der Wiener Schule hervor¬
gegangen, er war aber noch nicht gesättigt, und so war es begreiflich,
dass sein in mancher Hinsicht allzu conservativer Standpunkt gegen¬
über den evidenten Fortschritten nicht überall durchdringen konnte.
Nur in einer, allerdings der wichtigsten Richtung, hatte er mit den
Traditionen der Dum reiche r’schen Schule ganz gebrochen, indem
er die antiseptische Wundbehandlung ihrem Principe nach anerkannte
und in der Innsbrucker Klinik einführte.
Uebrigens hat Albert in der Folge sein Lehrbuch vielfach
emendirt, auf der Höhe der Zeit erhalten und noch zuletzt in ver¬
änderter Form herausgegeben; es war die fünfte Auflage.
Fast noch mehr Anerkennung,, namentlich unter den Studirenden,
hat seine „Diagnostik der chirurgischen Krankheiten“ gefunden.
Von 1876 bis 1900 erlebte dieses Werk acht Auflagen. Es ist
als ergänzendes Correlat seiner „Chirurgie“ zu betrachten, in welchem
alle jene Momente eingehend berücksichtigt werden, welche dem er¬
fahrenen Kliniker zu Gebote stehen, um auch in schwierigen Fällen
den Irrthum zu vermeiden.
So hatte Albert die Zeit als. Professor in Innsbruck reichlich
ausgenützt, sich rühmlich hervorgethan und dort ein hohes Ansehen
erworben.
Als sein Lehrer v. Dum reich er am 15. November 1880
aus dem Leben schied, wurde er nach kurz dauernder Supplirung der
Klinik durch Nicoladoni, dem Wunsche seines Lehrers gemäss,
sein Nachfolger.
Am 2. Mai 1881 hielt er seine Antrittsrede. Sie war in pietät¬
voller Weise dem Andenken seines Lehrers geweiht und entwickelte
zugleich den Gegensatz zwischen Theorie und Praxis und das Programm
seiner Lehrthätigkeit. Diesem Programme, nämlich der Ausbildung der
Studenten für die Praxis, hat er seine ganze Kraft gewidmet. Bis in
die letzte Zeit hat er unermüdlich im Lehramte die Studenten so
mächtig angezogen, dass seine Vorlesungen und seine Klinik zu den
besuchtesten an der medicinischen Facultät zählten.
An dem grossen Materiale seiner Klinik konnte er auch in
operativer Hinsicht sich voll und ganz bethätigen.
Wenn er auch der conservativen Richtung, namentlich auf ge¬
wissen Gebieten, stets treu geblieben war, so musste er doch viele
Neuerungen und Erweiterungen der operativen Chirurgie, wTelche in
den letzten fünf Lustren unter dem Schutze der anti- und aseptischen
Wundbehandlung ihre Berechtigung erworben hatten, berücksichtigen.
Er machte auch die grössten und eingreifendsten Operationen,
wenn er für seine Kranken daraus Vortheile erblickte.
Da konnte es nicht fehlen, dass Albert auf verschiedenen Ge¬
bieten manche Verbesserung bekannter operativer Verfahren und
eigene Methoden prüfte und den Fachgenossen empfahl.
Ich erinnere in dieser Hinsicht an seine Modification der Knie-
gelenksresection mit der stufenförmigen Anfrischung der Knochen,
seine temporäre Resection des Unterkieferwinkels zur Blosslegung des
Nervus mandibularis vor seinem Eintritte in den Unterkiefer nach dem
Vorgänge von Victor v. Bruns, seine Modification der Stumpf¬
versorgung bei Abtragung des myomatösen Uterus, seine Arthrodese bei
Schlottergelenken, seine Methode der Jejunostomie, sowie seine viel¬
fachen Bemühungen um die Blasennaht bei Sectio alta.
Neben seinen operativen Leistungen und all den übrigen
Arbeiten, welche ihm sein Lehramt, seine Stellung im Professoren¬
collegium, im Obersten Sanitätsrathe aufbürdeten, war er auch in
Wien ununterbrochen wissenschaftlich und literarisch thätig.
Er unternimmt kymögraphische Messungen am Menschen, indem
er an zu amputirenden Extremitätenabschnitten die Arterie tibialis
antica vor Ausführung der Operation blosslegt und an dieser mit dem
Kymographen unter verschiedenen äusseren Verhältnissen den Blutdruck
untersucht.
Er studirt die Lehre von der Gehirnerschütterung experimentell,
macht mit seinem Schüler Schnitzler Versuche über Hirndruck,
nachdem er schon früher die Lehre vom Hirndruck in einer sach-
gemässen Kritik auf ihre Richtigkeit gepiiift hatte; er studirt an der
Hand eines reichen anatomischen Materiales die Skoliose der Wirbel¬
säule und nimmt Stellung zu den controversen Fragen, welche bis in
unsere Tage trotz eingehender Bearbeitung von Seite der Fachgenossen
ihre befriedigende Lösung nicht gefunden hatten; er betheiligt sich
rege an dem wissensehaftlischen Leben in unserer Gesellschaft und im
Doctorencollegium, indem er häufig aus seiner reichen Casuistik De¬
monstrationen und Vorträge abhält.
Noch im letzten Jahre hat er uns seine mühevollen und zeit¬
raubenden Untersuchungen über die Architektur der Knochenspongiosa
vor Augen geführt.
Und über Alles dieses hinaus ist Albert noch in einer vier¬
fachen Richtung hin thätig gewesen; als mediciniscber Kritiker, als
eminenter Redner, als Politiker und als Dichter. Es scheint mir nicht
angezeigt zu sein, hier in unserem Kreise Albert auch auf das Feld
der Politik zu folgen oder sein Reich der Dichtung zu betreten. Hin¬
gegen kann ich nicht umhin, kurz die Bedeutung Alber t’s als medi¬
cinischen Kritikers zu charakterisiren und hervorzuheben, wie er als
Meister der Rede auf seine Zuhörer einwirkte.
Sein kritischer Geist ist ein universeller, der nichts in sich auf¬
nehmen kann, was er nicht mit allen Mitteln der Ueberlegung und
des Vergleiches, der retrospectiven Betrachtung und im weiten Ausblick
auf die Zukunft sich zurechtgelegt hatte.
Ob er, um nur Einiges anzuführen, Uspenki’s Theorie der
Neuralgie analysirt, die Bedeutung der conservativen und operativen
Behandlung der Schuss Verletzungen an der Hand der Statistik bemüht
ist, sich klar zu legen, sich gegen die operativen Eingriffe bei tuber-
culöser Caries, zumal bei Kindern, wendet, die controversen Meinungen
in der Lehre vom Hirndruck gegen einander abwiegt, die Torsion der
Wirbelsäule bei Skoliose, das W o 1 f’sche Transformationsgesetz der
Knochen durch das vergleichende Studium der Knochenspongiosa
prüft oder irgend ein anderes Gebiet der Theorie und Praxis bespricht,
immer geht er von dem Einzelnen auf das Ganze und findet seine
Befriedigung nicht früher, als bis er alle, auch die scheinbar ver¬
borgensten Irrgänge durch die Schärfe seines Verstandes und seine
gewandte Dialektik aufgedeckt, hat. Und gar mächtig sind seine
Waffen, die er führt, stahlbart der Schild, mit dem er sich deckt und
scharf und durchdringend die Pfeile, welche er aus seinem vollen
Köcher versendet.
Dann werden seine „logischen Gefühle“, wie er sie nennt,
wach und bemeistern ihn, suchen einen Ausweg und treiben ihn zu
äusserer Bethätigung an und kommen zum Vorschein als Zeichen seines
humanen Wirkens.
Als ein solches weithin leuchtendes Zeichen können wir die
Creation des Vereines zur Errichtung und Förderung von Seehospizen
und Asylen betrachten, als Albert mit seiner conservativen Richtung
in der Behandlung der Kuoehentuberculose bei Kindern Recht be¬
halten hatte.
Albert hatte aber auch den Mutli der Ueberzeugung. Am
deutlichsten gibt sich dieser in seiner Aeusserung über „Die Frauen
und das Studium der Medicin“ kund. Er ergreift öffentlich das Wort
gegen das medicinische Studium der Frauen, weil er dies früher in
einem amtlichen Votum get.han und weil er die tiefste Ueberzeugung
hat, dass der ärztliche Beruf für sie nicht passt.
In einer Zeit, wo die Frauenbewegung auch die breiten Schichten
der gebildeten Völker aller Länder erfasst hat, sich dem Strome ent¬
gegenstellen, ist das die That eines muthigen Mannes, wie immer das
auf Erfahrung gegründete Urtheil lauten möge, welche seine ins Feld
geführten Argumente in der Zukunft treffen wird.
Als Meister der Rede suchte Albert unter uns Lebenden
seinesgleichen. Mir scheint es, als wenn A 1 b er t’s Wesen gerade in
seinen Reden am deutlichsten zum Ausdrucke komme.
Wenn er in Königgrätz vor seinen Connationalen Rokitansky
verherrlicht, seinen czechischen Collegen anlässlich des Congresses
czechischer Aerzte und Naturforscher in Prag die Errungenschaften
philosophischer Weltanschauung aus der Weltliteratur vorführt, seinen
aus dem Leben geschiedenen Collegen den ehrenden Nachruf hält oder
in der Aula academica die Thaten vergangener Meister unserer Schule
wieder aufleben macht, dem grossen Kriegschirurgen Larrey, dem
tugendhaftesten Manne, den der erste Napoleon je gesehen, auch in
Deutschland mit historischer Treue ein bleibendes, geistig durch-
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leuchtetes Monument setzt, oder in vielen wichtigen Universitäts- unrl
Unterriehtsfi agen intra et extra muros seine gewichtige Stimme er¬
hebt, immer kommt seine bedeutende, auf sich selbst bauende In¬
dividualität zum Vorschein, welche, markig und talentvoll angelegt,
durch ernstes Studium und vielseitige Arbeit erweitert, ihr Licht aus¬
streut, so weit dessen Intensität reicht.
So war das Leben A 1 b e r t’s ausgefüllt durch unausgesetzte
Arbeit mannigfacher Art. Es scheint, als hätte sich A 1 b e r t Rüekert’s
schönen Spruch :
„Nie stille steht die Zeit, der Augenblick entschwebt,
Und den Du nicht benützt, den hast Du nicht gelebt!“
zu seiner Lebensmaxine gemacht. Ein solches Leben musste sich die
Anerkennung erringen, wo immer sich dasselbe abspielte. Diese wurde
ihm in hohem Masse zu Theil.
In unserer Gesellschaft, im Professorencollegium, als Rathgeber
im Obersten Sanitäfsrathe, als Mitglied des österreichischen Herren¬
hauses, sowie bei seinen Compitrioten war seine gewichtige Stimme
von dem grössten Einflüsse. Zahlreiche wissenschaftliche und gelehrte
Gesellschaften des In- und Auslandes nahmen ihn unter ihre Mit¬
glieder und Ehrenmitglieder auf und auch viele Ehrenzeichen wurden
ihm von Sr. Majestät, unserem Kaiser und ausländischen Fürsten
vei liehen.
So schied Albert ohne Schmerzen und ohne Leiden aus dem
Leben, als er nach menschlichen Vorstellungen im Zenith seiner Wirk¬
samkeit und Geltung im In- und Auslande angelangt war. Wahrlich,
Solon würde ihn darum glücklich preisen.
Wir aber können sagen, dass Albert sich die schöneren
Monumente selbst gesetzt hat. In seinen Schülern, Freunden und
Collegen wird sein Andenken fortleben und die Nachwelt wird noch
aus seinen Schriften ersehen, welch gewaltiger und kritischer Geist am
Ende des XX. Jahrhunderts an unserer Alma mater die Stätte seiner
an Erfolgen so reichen Wirksamkeit verliess.
REFERATE.
Therapie der Augenkrankheiten.
Von Professor W. Goldzieher.
Zweite Auflage.
Leipzig 1899, 13 a r t h.
Der Leser findet in therapeutischer Beziehung in Gold-
z i e h e r’s Werk vor Allem die alten, bewährten Heilmethoden
der deutschen ophthalmologischen Schulen mit allen Feinheiten
ihrer Anwendung dargelegt. Seine Erfahrungen an einem grossen
Krankenmateriale haben ihn skeptisch gemacht gegen die wie Pilze
aus der Erde schiessenden neuen Mittel und Methoden; viele der¬
selben führt er, wohl mit Absicht, gar nicht an, z. B. das Extract
des Ciliarkörpers des Ochsen gegen Cyklitis, das in seiner Wirkung
so interessante, therapeutisch aber — wenigstens in der Augen¬
heilkunde — werthlose Nebennierenextract etc. Auch für die
modernen Ersatzmittel des Silbernitrates, wie Protargol, Argen-
lamin etc. kann er sich nicht begeistern, worin ihm Referent nur
beistimmen kann. Uebermässige Reclame schadet manchmal freilich
auch wirklich guten Sachen; dies mag veranlasst haben, dass der
Verfasser auch über Einiges hinweggeht, das sich bereits einen
bleibenden Platz in der Ophthalmologie erworben hat, wie die sub-
conjunctivalen Injectionen von Sublimat und Kochsalz. Der Ver¬
fasser warnt mit Recht gegen die gedankenlose Anwendung des
Cocains, das bei häufigem Einträufeln die Ernährung der Cornea
schädigt; ebenso richtig betont er, dass durch zu langes Einträufeln
von Pilocarpin oder Eserin so mancher Fall von Glaukom zu spät
zur Operation kommt. Der Verfasser rühmt sehr eine sonst nicht
übliche Behandlungsmethode des Pannus und des Pterygiums
welche darin besteht, dass mit der galvanokaustischen Schlinge
diese Gebilde oberflächlich versengt und speciell ihre Gefässe durch¬
gehrannt werden.
Das Werk Goldziehe r’s gibt über alles Therapeutische
vollkommen Aufschluss und mehr als das. Die Therapie muss auf
richtiger Diagnose und Erkenntniss der Aetiologie fussen. Hiezu
leitet der Verfasser an, indem er der Therapie jeder Krankheit die
eingehende Schilderung des Krankheitsbildes, oft mit pathologisch¬
anatomischen Erläuterungen versehen, voransetzt. Dadurch kommt
sein Werk einem Lehrbuche der Augenheilkunde so nahe, dass
man nur den Wunsch haben kann, dasselbe möge eine Neuauflage
nicht nur recht bald erleben, sondern dann auch in Gestalt eines
vollkommenen Lehrbuches erscheinen; es wird dann zu den alten
Freunden noch viele neue sich erwerben. E. Fuchs.
Mikroskopie und Chemie am Krankenbette.
Von H. Lenliartz.
Dritte Auflage.
Berlin 1900, Springer.
Dass in sieben Jahren drei Auflagen des vorliegenden
Lehrbuches nothwendig wurden, würde genügend den Werth des¬
selben bezeichnen und uns einer weiteren Würdigung desselben
vielleicht entheben. Wir können es uns jedoch gerade auch mit
Rücksicht auf die Verhältnisse unserer Wiener medicinischen
Facultät, bei deren Hörern ich das L en h a r t z’sche Buch nicht
gar verbreitet halle, und mit Rücksicht auf die praktischen Aerzte
unseres Reiches, die, wie ich weiss, vielfach nach einem analogen
Werke verlangen, nicht versagen, auf Lenhartz’s »Mikroskopie
und Chemie am Krankenbette« ganz ausdrücklich hinzuweisen.
Denn gerade das, was der Studirende, der Frequentant einer
internen Klinik oder Abtheilung und vielfach auch der praktische
Arzt suchen und zu wissen nöthig haben, findet sich in diesem
Lehrbuche enthalten, und ist derartgeschildert, dassjedeUntersuchungs-
methode, sei sie eine chemische, sei sie eine mikroskopische, bis in
die einzelnen Details verfolgt ist, den Nebenumständen, welche jeweilig
in Betracht kommen, volle Aufmerksamkeit geschenkt und so¬
zusagen auf Kleinigkeiten, welche für das Gelingen eines Unter¬
suchungsverfahrens beachtenswerth sein können, entsprechende
Rücksicht genommen ist; und gerade diese »Nebenumstände«,
diese »Kleinigkeiten« sind es oft, welche für den Untersuchenden
von ausschlaggebendem Werthe werden, die er kennen lernen will
und — in vielen, auch weit grösseren einschlägigen Werken nicht
oder nur theilweise vorfindet.
Lenhartz’s »Mikroskopie und Chemie am Krankenbette«
scheint uns demnach ein ganz ausgezeichnetes Lehrbuch, dem wir
die grösste Verbreitung — wir glauben zum grossen Interesse
seiner Leser — wünschen. Dürfen wir für eine hoffentlich bald
nöthige vierte Auflage kleine Wünsche äussern, dann wären sie
die folgenden: An manchen Stellen — überwiegend hat dies schon
Lenhartz selbst gethan — kleine Notizen, welche die Be¬
gründung einer chemischen Action enthalten (z. B : Warum wird
Salpetersäure hei der Chloridereaction im Urine zugesetzt?) —
Anreihung der doch recht brauchbaren 0 b e r m a y e r’sehen Re¬
action auf Indican, der von Weher zweckmässig modificirten
Blutreaction (Almen), auch der mit Paraamidoacetophenon aus¬
zuführenden Diazoreaction, einer etwas eingehenderen Stuhlmikro¬
skopie (z. B. Erkennung von Stärke durch Jodzusatz). Eine einzige
minimale Correctur wüssten wir vorzuschlagen: die Scala des
Nonius (pag. 286) ist nicht vollständig ausgezeichnet und — das
Wichtigere — die Beschreibung derselben die einzige nicht ganz
klare Stelle im ganzen Werke. Wäre es im Ganzen und Einzelnen
nicht so ausgezeichnet abgefasst, wir hätten letztere Bemerkungen
kaum der Erwähnung werth gehalten.
*
Lehrbuch der klinischen Hydrotherapie für Studirende
und Aerzte.
Von M. Matthes.
Mit Beiträgen von Stabsarzt Cammert, Privatdocent Hertel und
Prof. 8 k n t a c h.
Jena 1900, F i s c h e r.
An dem Lehrhuche von Matthes gefällt uns vor Allem
Eines, und dies ist der vom Autor sogenannte allgemeine Theil:
er gibt uns ein wahrheitsgetreues, objectives Bild über Alles das,
was wir über die Einwirkung des Wassers auf den menschlichen
Körper wissen, was in dem Gebiete der Hydrotherapie einerseits
physiologische Thatsache ist und andererseits einer wissenschaft¬
lichen Begründung noch theilweise oder ganz entbehrt. Wir er¬
fahren, was unzweideutig feststeht, und auf der anderen Seite, wo
neue Forschung einzusetzen hat, um in so Vieles, das uns noch
undurchsichtig ist, Klarheit zu bringen. Für diese ungeschminkt
gegebene, kritische Beleuchtung des Stoffes schulden wir dem
Autor reichsten, wohlverdienten Dank.
Der zweite 1 heil des Lehrbuches behandelt die Technik der
Hydrotherapie. Sie ist allenthalben eingehend und genauestens he-
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schrieben, es ist überall trefflich auseinandergesetzt, welcher Art
die hydriatischen Proccduren sind, die man mit den einlachsten
Mitteln im Hause bewerkstelligen kann und welche hydriatische
Massnahmen nur einer zu diesem Zwecke errichteten Anstalt zu
Gebote stehen; das »Wie« jeder einzelnen Procedur erfährt seine
klarste Beschreibung.
Der dritte Theil des Lehrbuches behandelt die specielle
Hydrotherapie und theilt sich in die vom Autor geschilderte
specielle Hydrotherapie in der inneren Medicin und die von den
obgenannten Autoren abgefasste specielle Hydrotherapie in der
Chirurgie (Cammert), der Ophthalmologie (Hertel) und der
Gynäkologie, beziehungsweise Geburtshilfe (S k u t s c h). Referent
darf sich über die drei letztgenannten Abschnitte ein Urtheil nicht
anmassen. Ganz vorzüglich muss er aber wiederum den von
Matth es behandelten Abschnitt über die specielle Hydrotherapie
in der inneren Medicin nennen.
In ausgezeichneter Weise begrenzt M a 1 1 h e s das Wirkungs¬
gebiet der Hydrotherapie, anerkennt rückhaltlos den hohen Werth
für jene Erkrankungen, bei denen sie sich wahrhaft bewährt, bleibt
aber auch frei von dem nicht so seltenen F ehler gar mancher
Hvdrotherapeuten, das Wirkungsfeld der Hydrotherapie zu weit
auszudehnen und, statt ihren Anwendungskreis erweitern zu helfen,
eher sie in Misscredit zu bringen.
Wir lesen in diesem speciellen Theile ganz ausgezeichnete
Theilabschnitte, so, um nur einen hervorzubeben, jenen über die
Hydrotherapie der Neurasthenie. Ich kann nicht umhin, ganz be¬
sonders hervorzuheben, dass Matth es gerade so wie Ziems sen
für manche Neurastheniker eine Kaltwassercur geradezu für schädi¬
gend bezeichnet und an ihrer statt der Anwendung von lauen
Proceduren das Wort redet: eine Forderung, welche zwar gegen
die theoretische Lehre vieler Hydrotherapeulen verstossen mag,
welche aber die praktische Erfahrung, wie auch Referent aus¬
drücklich betonen muss, kategorisch verlangt und welche mit
Nachdruck gestellt werden muss, da, wie schon v. Ziems sen
sagt, »die Hydrotherapeuten von Fach diese Abmilderungen der
nassen Abreibungen nicht als vollwichtig gelten lassen wollen«.
Alles in Allem genommen, wir halten Mat the s’ Lehrbuch
für ein ganz vorzügliches: basirend auf reiche theoretische und
praktische Erfahrung schildert der Autor mit klaren und wahren
Worten, was die Hydrotherapie leistet und wie sie erreicht, was
sie kann. Viele gute Illustrationen ergänzen noch, was die Worte
beschreiben.
*
Lehrbuch der Hydrotherapie.
Von B. Buxbaum.
Leipzig 1900, T li i e m e.
Was Wintern itz dem Werke seines langjährigen
Schülers unter Anderem einleitend voraussetzt: »er wäre über das
seiner Ansicht nach werthvolle Werk des Autors befriedigt«, das
muss auch Referent nach genauem Studium des vorliegenden
Lehrbuches offen und gerne anerkennen.
Geradezu vorzüglich muss ich die Bearbeitung aller jener
Capitel nennen, welche sich mit dem praktischen Theile der Hydro¬
therapie,' der Technik und Methodik derselben (des Werkes zweiter
Theil) und mit der speciellen Hydrotherapie der einzelnen Er¬
krankungen (dritter Theil) beschäftigen. Ausserordentlich klare
Sprache, präcise Indicationsstellung, Vertiefung bis ins kleinste,
praktisch werth volle Detail, eigene reiche Erfahrung zeichnen diese
Abschnitte aus. Jeder Arzt, der sich über irgend eine Frage der
Hydrotherapie orientiren will, wird dies in einer für ihn höchst
befriedigenden Weise thun können: das Buch wird den Gollegen,
der eine praktische Belehrung wünscht, in der allerbesten Art in-
struiren.
Nicht so unbedingtes Lob kann Referent dem ersten Theile
des Werkes: »Physiologische Grundlage der Hydrotherapie« betitelt,
spenden. Hier lehnt sich der Autor schier ganz und gar an seinen
Lehrer Winternitz an; in sonst schöner Begeisterung für
seinen Meister macht er dessen Lehre auch zur seinigen. Die ganze
medicinische Welt weiss, wie grosse und vielfache Verdienste
Winternitz um die Hydrotherapie besitzt, wie er ein Führer,
vielfach ein Bahnbrecher in diesem Gebiete geworden. Bei höchster
Anerkennung der Leistungen Winternit z’s möchte Referent
aber doch äussern, dass so Manches, was Winternitz und
mit ihm Buxbaum als physiologisch bewiesene Thatsache in der
Hydrotherapie bezeichnen, noch nicht zweifellos erwiesen, Manches
noch nicht so unumstqsslich klargelegt ist, wie es Winternitz
und Buxbaum — Letzterer eben in seinem Werke — als über
jeden Zweifel erhaben hinstellen.
Man merkt es, möchte Referent sagen, Buxbaum’s vor¬
züglichem Werke an, dass der Autor ein inniger Verehrer seines
Lehrers ist, ihm auf dem ganzen Gebiete der Hydrotherapie all¬
getreu nachfolgend. Nur nach dieser Richtung ist, wie schon go-
äussert, Referent mit dem Autor nicht ganz zufrieden: etwas
freier und unabhängiger vom so vielverdienten Meister, manchmal
etwas weniger decidirt, hiesse meiner Ansicht nach das Werk zu
einem ganz ausgezeichneten machen. In seinen hauptsächlichen,
weitaus grösseren Abschnitten aber ist es so gut, dass es bald,
wie Referent überzeugt ist, in zweiter Auflage erscheint. Ist diese
fertig zu stellen, dann bitte ich den Autor noch um eine kleine
Rücksicht: ich möchte wünschen, dass eine volle Einheitlichkeit
in der Temperaturbezeichnung herrsche, die Temperaturen nicht
bald in Reaumur-, bald in Celsius-Graden bezeichnet würden. Dies
stört den Leser und lässt sich leicht ändern. Ortner.
Diagnose und Chirurgie des otogenen Kleinhirnabscesses.
Von W. Okada.
Klinische Vorträge aus dem Gebiete der Otölogie und Pharyngo-Rhinologie.
1900, Bd. III, Heft 10.
Jena, Fischer..
Okada berichtet nach einem geschichtlichen Ueberblick
der Entwicklung des diagnostischen und operativen Verfahren beim
Kleinhirnabscess über fünf Krankengeschichten aus der Trau t-
m a n n’schen Klinik. Sehr schön und vollständig ist die auf Grund
der vorhandenen Literaturangaben erfolgte Zusammenstellung der
Symptomatologie.
Was die Operationsmethoden anlangt, • so sollten nach Okada
vor Allem zwei verwendet werden:
1. Die Operation durch die hintere Felsenbeinwand bei allen
noch nicht radical operirten und allen solchen Fällen, bei welchen
der Warzenfortsatz gute Verhältnisse darbietet.
2. Die Blosslegung des Sinus sigmoideus und Weiterführung
der Operation von dieser Stelle aus bei Fällen von schon erlolgter
Radicaloperation, bei ungünstigem Warzenfortsatze, respective bei
starker Vorlagerung des Sinus sigmoideus.
*
Betrachtungen über die Grenzen der Otochirurgie
bei Behandlung der eiterigen Mittelohr- und Warzen¬
fortsatzentzündungen.
Von Stetter.
Klinische Vorträge aus dem Gebiete der Otologie und Pharyngo-Rliinologie.
Bd. IV, Heft 1.
Jena, Fische r.
Stetter bedauert, dass die medicinische Therapie der
Warzenfortsatzerkrankungen im Anschlüsse an Otitis media gegen¬
über dem operativen Verfahren in den Hintergrund getreten sei
und meint, dass, so lange man nicht viel genauer gelernt habe,
die Indicationen zu begrenzen, die medicamentöse Behandlung von
der operativen nicht verdrängt werden dürfe.
Nach Ansicht des Referenten ist Stetter viel zu weit ge¬
gangen; wenn hie und da ein Warzenfortsatzprocess aul medicini¬
sche Behandlung ausheilt, wenn eine Eiterung gelegentlich nach
blosser Eröffnung des Warzenfortsatzes ohne Entfernung der Gehör¬
knöchelchen schwindet, so beweist dies nichts gegen die Exactheit
unserer Indicationsstellung. Die medicinische Behandlung, so weit
ausgedehnt, als es Stetter wünscht, würde nicht selten den
rechten, oft den letzten Moment der Operationsmöglichkeit ver¬
säumen lassen. Alexander.
AUS VERSCHIEDENEN ZEITSCHRIFTEN.
423. Ueber die Aufgaben des ärztlichen Sach¬
verständigen hei der Beurtheilung Imbeciller. \ on
Dr. Buch holz, Privatdocent und Oberarzt an der Irrenheilanstalt
Marburg. Bei der Beurtheilung leichter Grade von Imbecillität muss
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stets die ganze geistige Persönlichkeit des Exploranden in Rücksicht
gezogen werden. Riese Beurtheilung wird dann besonders schwierig,
wenn die rein intellecluellen Defecte an Intensität zurücktreten und
die Hemmung sich vor Allem in der Entwicklung der Gefühle
geltend macht. In solchen Fällen treten die Defecte auf moralischem
Gebiete in den Vordergrund und die Diagnose der Imbecillität wird
nur durch den Nachweis der auf einer Entwicklungshemmung be¬
ruhenden Defectuosität der ganzen geistigen Persönlichkeit möglich,
Diese Fälle erfordern die eventuelle Anwendung des § 51 des
deutschen St.-G.-B. und müssen in civilrechtlichen Fragen als gei¬
stige Erkrankung angenommen werden. Solche Imbecille bedürfen
meistens der Entmündigung. — (Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. LVII,
lieft 2 und 3.) S.
*
424. Ein überzähliger Hoden. Noch in neuester Zeit
(Lydston 1899) war das Vorkommen eines dritten Hodens bei
einer Person als eine Mythe erklärt worden. Aus dem George’s-
Hospitale in London wird ein 1894 beobachteter Fall berichtet, in
dem bei einem 3 '/2jährigen Knaben gelegentlich der Entfernung
einer kleinen cystischen Scrotalgeschwulst zwei ungleich grosse
Hoden an demselben Samenstrang gefunden wurden, während in
der anderen Scrotalhälfte sich ebenfalls ein Hoden befand. Vielleicht
hat es sich in diesem Falle um die Zweitheilung eines Hodens
gehandelt. — (Lancet. 21. Juli 1900.) Pi.
*
425. Ueber die vorübergehenden Zustände ab¬
normen Bewusstseins in Folge von Alkoholvergif¬
tung und über deren forensische Bedeutung. Von
Prof. C. Moeli. Moeli scheidet die in obigem Titel bezeichneten
Zustände in zwei Gruppen, insoferne in denselben Handlungen im
Sinne eines schon lange bestehenden Vorstellungskreises bei ver¬
änderter Bewusstseinslage stattfinden, oder aber insoferne Hand¬
lungen ausgeführt wurden, die einem kurz vor dem Eintritte der
acuten Bewusstseinsänderung vorhandenen Vorstellungsinhalte ent¬
sprechen. Für beide Gruppen führt Moeli Beispiele an. In diesen
Fällen kann wieder von Epilepsie, noch von Hysterie oder von
vorübergehenden Bewusstseinsstörungen auf neurasthenischer Grund¬
lage die Rede sein, sondern sie sind mit Sicherheit auf Alkohol¬
wirkung zurückzuführen. Fälle, wie die von Moeli angeführten,
haben eine grosse forensische Bedeutung. Je mehr die in solchen
Bewusstseinsstörungen vollführten Handlungen den Charakter des
Impulsiven haben, je mehr Sinnestäuschungen und Verwirrtheit die
Abnormität des Vorstellungslebens erweisen, desto einfacher ist die
Beurtheilung. Fehlen diese Erscheinungen gänzlich, so muss die
krankhafte Beschaffenheit aus anderen Erscheinungen als aus der
That selbst gefolgert werden. Amnesie für die That selbst kann
fehlen. Der für epileptische Geistesstörungen charakteristische Zu¬
stand einer gewissen Benommenheit vor oder nach der That ist bei
den acuten Zuständen abnormen Bewusstseins der Alkoholisten kein
allgemeines Vorkommniss. — (Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. LVII
Heft 2 und 3.) • S.
&
426. (Aus der chirurgischen Klinik zu Kiel.) Ueber intra¬
parietale Leistenbrüche. Von Dr. G ö b e 1 1. Es wurden
zwei Fälle von angeborenen Leistenhernien beobachtet, die zum
Theile im Scrotum, zum anderen Theile zwischen M. obliq.
internus und externus lagen. Verfasser thoilt die intraparietalen
Leistenbrüche in folgender Wei^e ein: 1. in solche zwischen Peritoneum
parietale und Fascia superficialis = Hernia inguinalis properitonealis;
2. zwischen Fascia transversa und M. ohliquus exteinus = H. ingui¬
nalis interstitialis; 3. zwischen der Aponeurose des M. obliq. ext.
und Haut = II. inguin. superficialis. Die Hernie ist eine mono-
loculare, wenn sie ganz zwischen den genannten Schichten liegt,
eine biloculare, wenn ein Theil des Bruchsackes den Leistencanal
passirt. — (Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. Bd. L.) Pi.
*
427. B e i t r a g z u d e n im K i n d e s a 1 1 e r a u f t r e t e n d e n
Seelenstörungen. Von Dr. Karl Gumpertz in Berlin. In
der vorliegenden Arbeit finden sich zwei Fälle von Psychopathien
im Kindesalter angeführt. Im ersten Falle handelt es sich um ein
sechsjähriges Mädchen, bei dem sich in unmittelbarem Anschluss
an eine Dysenterie eine Psychose entwickelte, die als acute hal-
lucinatorische Verwirrtheit bezeichnet werden muss. Wahrscheinlich
lag die katatonische Form dieser Psychose vor. Im zweiten Falle
handelte es sich um Dementia paralytica bei einem 15jährigen
Knaben. Hereditäre Belastung wahrscheinlich, Lues bei den Eltern
auszuschliessen. Der Knabe hatte zwei Jahre vor der Erkrankung
o
an progressiver Paralyse eine schwere Influenza durchgemacht.
Gumpertz glaubt erstere auf letztere zurückführen zu dürfen.
Es mag durch das Influenzagift zu ein.er »Unterernährung« der
Hirnrindenzellen gekommen sein. Verschiedene zufällige psychische
Alterationen mögen bei dem durch die Influenza alterirten Gehirn
das deletäre Leiden hervorgerufen haben. — (Archiv für Psychiatrie.
Bd. XXXIII, Heft 1.) ' S.
*
428. Zur Heilbarkeit des frühzeitig erkrankten
Harnröhrenkrebses beim Manne. Von Dr. Rupprecht
(Dresden). Die Neubildung war frühzeitig erkannt und exstirpirt
worden. Der Kranke ist 4l/4 Jahre später ohne locales Recidiv im
Anschlüsse an die Exstirpation krebsig entarteter Leistendrüsen an
einer Pneumonie gestorben. Bei der Autopsie fanden sich Metastasen
in der Prostata in den retroperitonealen Lymphdrüsen und in den
Lungen. — (Centralblatt für Chirurgie. 1900, Nr. 31.) Pi.
*
429. Ueber einige makroskopische Gehirn¬
befunde bei männlichen Paralytikern. Von Oberarzt
Dr. P. Näcke, Hubertusburg. Näcke hat als Material zu seinen
vorliegender Arbeit zu Grunde liegenden Untersuchungen 100 klinisch
absolut sichergestellte Fälle von progressiver Paralyse bei männ¬
lichen Individuen verwendet. Die groben pathologisch-anatomischen
Befunde am Gehirn ändern sich so, wie sich die Details des kli¬
nischen Bildes im Laufe der Zeiten wesentlich ändern. Eine häufige
Combination verschiedener Hirnbefunde bildet einen bestimmten oft
wiederkehrenden Typus, aber es gibt bis jetzt kein einziges patho-
gnomonisches makroskopisches Zeichen am Gehirn des Paralytikers.
Die Atheromatosen an den groben Hirngefässen, am Herzen und
an der Schläfenarterie verhalten sich zu einander verschieden, ja
sie können ganz fehlen. Die luetische Natur der Gefäss- und
Arterienerkrankung bei Paralyse ist bis jetzt nicht bewiesen worden.
Bis jetzt schwanken die in verschiedenen Anstalten und in ver¬
schiedenen Ländern über klinische und pathologisch-anatomische
Befunde an Paralytikern gemachten Angaben und es fehlt noch an
systematischen genauen Untersuchungen des groben Hirnbefundes
bei Paralytikern, zumal bei Frauen. — (Zeitschrift für Psychiatrie.
Bd. LVII, Heft 5.) ’ S.
*
430. Casuisti sc he Mittheilungen. Von Dr. Jacob s-
thal. Verfasser berichtet von einem primären Fibromyom
des linken Vorhofes bei einem vierjährigen Mädchen, das
klinisch die Erscheinungen einer Mitralinsufficienz bot. Der Tumor
hatte die Grösse eines Hühnereies erreicht und enthielt elastische
Fasern. Weiters wird ein Fall von Verkalkung von II erz¬
muskelfase rn bei einem Kinde berichtet. Der Tod war
in Folge einer Knochenverletzung aufgetreten. Andere Verkalkungen
wurden auch in Magen und Nieren gefunden. — (Virchow’s Archiv.
Bd. CLIX, Heft 2.) Pi.
*
431. Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der
Universität Halle a. d. S. (Prof. Hitzig). Ein Beitrag
zur Lehre von der spastischen Spinalparalyse.
Von Ida Democh, Gand. med. Die klinische Diagnose der spasti¬
schen Spinalparalyse ist meistens ohne grosse Schwierigkeiten zu
stellen. Das Wichtigste in dem Complex der Symptome ist die all-
mälig einlretendo, von motorischen Reizerscheinungen begleitete
Parese und Rigidität vornehmlich in der Musculatur der unteren
Extremitäten, welche zu den als spastiseh-paretisch bezeichneten
Veränderungen des Ganges führen. Die von. Charcot und Erb
allerdings mit grosser Reserve der spastischen Spinalparalyse zu
Grunde gelegte primäre systematische Degeneration der Pyramiden¬
seitenstränge fand sich in vielen später obducirten Fällen nicht, so
dass die spastische Spinalparalyse von manchen Autoren als Krank¬
heit sui generis geleugnet wird. In dem von Ida Democh publi-
cirten Fall — er betrifft einen 43jährigen Potator — finden sich
neben den charakteristischen noch andere zu dem Svmptomenbild
der spastischen Spinalparalyse nicht gehörende Merkmale: sensible
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Störungen, lancinirende Schmerzen und Gürtelgefühl, Tremores und
Pseudonystagmus. Die spastische Spinalparalyse findet sich hier mit
chronischem Alkoholismus complicirt. Von den im Centralorgan con-
statirten anatomischen Befunden lässt Dem och nur die Sklerose
der Pyramidenstränge als mit der spastischen Spinalparalyse zu¬
sammenhängend gelten und vertritt die Ansicht, dass in ihrem Falle
das Leiden auf congenitalem Boden durch Potus entstanden sei. —
(Archiv für Psychiatrie. Bd. XXXIII, Heft 1.) S.
*
432. Zur Verbreitung der Zuckerkrankheit im
preussischen Staate. Von Dr. Hei mann (Berlin). Von
1877 bis 1897 sind 12.929, darunter 4889 (37‘8%) weibliche
Personen an Diabetes gestorben, oder pro Jahr von 1877 — 1886
378, von 1887 — 1896 796, im Jahre 1897 1186 (735 männ¬
liche und 451 weibliche) Personen. Von den verschiedenen Be¬
rufen waren besonders häufig im Handel, und im Versicherungs¬
wesen Beschäftigte von dieser Krankheit befallen. Von 895 in den
Anstalten Behandelten sind 1897 ein Fünftel (165) gestorben und
35 davon im Koma. — (Deutsche medicinische Wochenschrift. 1900,
Nr. 31.) Pi.
*
433. Die Moral insanity beruht auf einem ex-
cessiv sanguinischen Temperament. Von Dr. Th.
Tiling, Director der Irrenanstalt Rothenberg bei Riga. Der Streit,
ob der Moral insanity ein Intelligenzdefect zu Grunde liegt oder
nicht, wogt unentschieden weiter. Was Tiling in seiner Arbeit
beweisen will, ist in deren Titel zum Ausdrucke gebracht. Dem
Ausdrucke Schwachsinn entspricht ein dauernder, angeborener oder
erworbener Defect der Elementarkräfte des Geistes und demgemäss
ein geringer Schatz von Vorstellungen. Ein solcher Defect ist eines
Ausgleiches nicht fähig. Oberflächliches, überstürztes Denken weist
nicht ohne Weiteres auf Schwachsinn, sondern kann ebenso gut unter
der Herrschaft von Affecten beobachtet werden. In diesem Falle
findet man sie auch bei moralisch Irrsinnigen. Sie sind Sanguiniker,
Affectnaturen, werden aber fast nur von schlechten Affecten be¬
herrscht, von diesen werden die guten Affecte aus dem Felde ge¬
schlagen. Bei den moralisch Irrsinnigen dominirt die Sucht nach
Zerstreuungen, Liebesabenteuern, Putz, Aufsehen, sie sind heftig,
aufbrausend, dabei fehlen oft auch nicht die guten Seiten des Ge-
müthes. — (Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. LVII. Heft 2 und 3.)
S.
*
434. Ein Fall von Oesophagusruptur. Von Pro¬
fessor Mc. Weeney (Dublin). Die Beobachtung betraf einen
40jährigen Potator, bei dem es plötzlich während eines Brechactes
zur Oesophagusruptur gekommen war. Das hervorstechendste Sym¬
ptom war die Dyspnoe und ein ausgebreitetes Hautemphysem. Der
Mann starb im Collaps nach zehn Stunden und die Nekroskopie
ergab einen Riss am untersten Ende des Oesophagus, der bis in
den Magen hineinreichte. Verfasser gibt auch eine Zusammen¬
stellung der weiteren 16 ihm bekannt gewordenen Fälle von Oeso¬
phagusruptur. — (Lancet. 21. Juli 1900.) Pi.
*
435. Ueber die bei Reizung der Fusssohle zu
beobachtenden Reflexerscheinungen mit beson¬
derer Berücksichtigung des Zehenreflexe bei den
verschiedenen Formen der cerebralen Kinder¬
lähmung. Von Medicinalassessor Dr. W. König in Dalldorf. Bei
Reizung der Fusssohle durch Kitzeln dieser oder durch einen Steck¬
nadelstich in die Mitte der Planta pedis treten verschiedene Reflexe
auf, die sich in Bewegungen der Zehen, des Fusses, oder in Zuckungen
gewisser Muskeln des Oberschenkels darstellen. Am häufigsten ist
unter normalen Verhältnissen die Plantarflexion der vier äusseren
Zehen. Dorsalflexion der Zehen ist als zuerst auftretender Reflex
normaler Weise selten. Dorsalflexion der grossen Zehe allein oder mit
Plantarflexion der äusseren Zehen fand König nie in einem Falle,
in welchem sich eine Erkrankung der Seitenstränge mit Sicherheit
hätte ausschliessen lassen. Bei Hemiplegie kommt der normale
Plantarreflex auf der gelähmten Seite zwar ziemlich häufig, aber
noch immer seltener vor als auf der nicht gelähmten Seite. Zu¬
weilen ist der Plantarreflex auf der gelähmten Seite pathologisch
oder er fehlt. Bei den infantilen cerebralen Doppellähmungen kommt
der pathologische Zehenreflex selten vor. — (Archiv für Psychiatrie.
Bd. XXXIII, Heft 1.) S.
*
436. Ueber die Ursachen der Gewöhnung an
Morphium. Von Dr. Faust (Strassburg). Die Ursache für die
Gewöhnung kann eine zweifache sein: entweder stumpft sich das
Nervensystem gegen das Gift ab oder der Organismus gewinnt die
Fähigkeit, immer mehr das Gift zu zersetzen oder unschädlich zu
machen. Nach den Versuchen des Verfassers, welche in Verfütte-
rung von Morphium an Hunde bestanden, ist letzteres der Fall.
Anfänglich wurden 70% mit den Fäces wieder ausgeschieden, all-
mälig verringerte sich diese Menge immer mehr. (Archiv für
experimentelle Pathologie und Pharmakologie. Bd. XL1V.)
*
437. Ueber die Pyramidenkreuzung. Von Dr. M a x
Roth mann, Privatdocent in Berlin. Die Frage, ob die Pyramiden¬
kreuzung eine partielle oder totale ist, kann noch immer nicht als
gelöst angesehen werden. Roth mann hat die Medulla oblongata
und das Rückenmark eines Affen untersucht, dem Munk die linke
Extremitätenregion in scharfer Begrenzung vier Monate ante exitum,
die rechte 13 Tage vor demselben exstirpirt hatte. Es existirte also
in diesem Falle eine frische Degeneration der rechten, und eine alle
Degeneration der linken Pyramide. Rothmann fand, dass ver¬
einzelte Fasern von jeder Pyramide zur gleichseitigen Pyramiden¬
seitenstrangbahn verlaufen und konnte in der Mitte der Pyramiden¬
kreuzung das directe Umbiegen dieser Fasern beobachten, hält jedoch
für die Bildung des Degenerationsfeldes in der gleichseitigen Pyra¬
midenseitenstrangbahn die Compression von kreuzenden Fasern der
anderen Pyramide von Bedeutung. Im dorsalen Abschnitt der Pyra-
midenkreuzung existirt eine Kreuzung der Vorderstranggrundbündel.
Eine Endigung der Pyramidenfasern in der grauen Substanz des
Rückenmarkes lässt sich mit Hilfe der Degenerationsmethode nicht
genau feststellen. — (Archiv für Psychiatrie. Bd. XXXHf, Heft 1.)
S.
VERMISCHTE NACHRICHTEN.
Ernannt: In Budapest: Der Privatdocent für innere Medicin
A. v. K o r a n y i und der Privatdocent für Augenheilkunde
E. v. Grosz zu a. o. Professoren. — Der Professor der Chirurgie
in Rostock Dr. Garre zum Geheimen Medicinalrath. — Dr. A 1 i v i-
satos zum a. o. Professor der chirurgischen Pathologie in Athen. —
Dr. S o k o 1 o f f zum Professor der chirurgischen Pathologie in
Charkow.
*
Habilitirt : Dr. Victor Hammer sch lag als Privat
docent für Ohrenheilkunde in Wien. — Dr. Nigrisoli für Chi¬
rurgie in Bologna, Dr. Strazza für Laryngologie in Geuua.
*
Gestorben: Der Professor der Psychiatrie in Greifswald
Dr. Arndt. — In L e i d e n der Professor der pathologischen Ana¬
tomie Siegenbeck van Heukelom. — Der Professor der
inneren Medicin in Philadelphia J. M. Da Costa, dessen Diagnostik
auch ins Deutsche übertragen worden ist. — In New York der
berühmte Orthopäde Dr. Lewis Albert Sayre. — Dr. S are 11,
Professor der Chirurgie an der medicinischen Schule in Constantinopel. —
Dr. M c. G u i r e, ehemaliger Professor der Chirurgie zu Richmond.
*
Im Beisein des Protectors der Anstalt, Herrn Erzherzog
Rainer, des Ministers des Innern, des Unterrichtsministers, einer
Anzahl von Vertretern des medicinischen Professoren- Collegiums und
sonstiger Würdenträger fand am 20. d. M. die feierliche Besichtigung
des Spitalszubaues der Allgemeinen Poliklinik in Wien statt. Er ent¬
hält in drei Stockwerken die Wohnräume für die Pflegerinnen sammt
Capelle, eine neue chirurgische Abtheilung sammt Operationssaal nebst
Räumen für Sterilisation und Narkose, eine urologische und gynäko¬
logische Abtheilung mit für beide Abtheilungen gemeinsamen Operations¬
und Narkoseraum, ferner in jedem Stockwerke nebst Isolirräumen je
eine Aerztewohnung. Im Anbau des Parterre ist das Röntge n-Tnstitut
neu installirt.
*
1002
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 43
Anlässlich des 25jährigen Professoren-Jubiläums des Vorstandes
der einen der beiden Wiener Kliniken für Dermatologie und Syphilis,
Ilofrath Prof. Moriz Kaposi, veranstalteten dessen engere Schüler
eine Feier im klinischen Hörsaale, der zahlreiche Studenten, Aerzte,
Vertreter der Behörden und Abordnungen verschiedener ärztlicher Ver¬
eine und auswärtiger Universitäten beiwohnten. Dem Jubilar wurde
eine Festschrift überreicht. Auf die vielfachen Ansprachen erwiderte
schliesslich Hofrath Kaposi in längerer Rede, in der er namentlich
die Stellung und Bedeutung der H e b r a’schen Schule würdigte.
*
Nach dem vom Primarius Dr. A. Brenner erstatteten B e-
richte über dieärztlicheThätigkeitimAllgemeinen
städtischen Kranken hause zu Linz sind im Jahre 1899
daselbst 1326 chirurgische, 2505 interne und 703 Fälle von Haut¬
erkrankungen spitalsärztlich behandelt, von 978 Operationen 726 in
Chloroformnarkose ausgeführt worden. Besonders haben eine grosse
Zahl maligner Neubildungen, von denen sechs Fälle Strumen, 36 Sar¬
kome und 179 Carcinome betrafeD, die Indication zu chirurgischen
Eingriffen abgegeben. Neben 113 Laparotomien ragen die Bruch¬
operationen durch ihre Zahl hervor: 117 Fälle von Leistenhernien sind nach
Bassini-Brenn er, die meisten davon beiderseitig, 20 Schenkelhernien
nach Salzer radical, sechs weitere auf andere Weise operirt worden.
*
Das „College of Physicians“ von Philadelphia gibt bekannt,
dass der nächste Alvarenga-Preis im Betrage von 180 Dollars
am 14. Juli 1901 zur Verleihung kommen wird. Die bis längstens
1. Mai 1900 einzusendenden Arbeiten, welche ein beliebiges Thema
aus dem Gebiete der Medicin behandeln können, müssen mit einem
Motto versehen sein. Gleichzeitig hat ein anderes Couvert verschlossen
Motto und Namen des Einsenders zu enthalten. Für 1900 war der
genannte Preis Dr. De Beck in Cincinnati für seine Arbeit
„Malarial diseases of the eye“ verliehen worden.
*
Der Minister für Cultus und Unterricht, Dr. R. v. Harte 1, hat
am 24. v. M. an die Landes-Chefs in Niederösterreich, Böhmen, Steier¬
mark, Tirol, Galizien und in der Bukowina folgenden, die Remu¬
neration der Assistenten an den medicinischen und
philosophischen Facultäten der Universitäten be¬
treffenden Erlass gerichtet: „Unter Bezugnahme auf den § 3 (zweiter
Absatz) des Gesetzes vom 31. December 1896 und auf den § 7 der
hierortigen Ministerial-Verordnung vom 1. Januar 1897 finde ich unter
Aufhebung des hierortigen Erlasses vom 3. Januar 1899, Z. 25.981,
insoweit sich derselbe auf die Remunerationen der Universitäts-
Assistenten bezieht, mit der Rechtswirksamkeit vom 1. October 1901
Nachstehendes anzuordnen: 1. Die normalmässige Remuneration
(Adjutum) der Assistenten an den medicinischen und philosophischen
Facultäten der Universitäten wird für die ersten drei Verwendungs¬
jahre mit 1400 K jährlich festgesetzt. 2. Die Remuneration erhöht
sich bei ununterbrochener Dienstesverwendung des Assistenten nach
Zurücklegung von drei Jahren auf 1700 K, nach Zurücklegung des
sechsten Jahres auf 2000 K und nach Zuiücklegung des neunten
Dienstjahres für die weitere Dauer seiner Bestellung auf 2300 K
jährlich. Die vor dem 1. October 1901 zurückgelegten ununterbrochenen
Verwendungsjahre der Assistenten sind für die Anweisung der höheren
Remunerationen anzurechnen. 3. Hinsichtlich jener Assistenten, welche
eine Naturalwohnung oder noch andere Emolumente, wie freie Ver¬
köstigung in der Anstalt oder dergleichen, erhalten, oder welche mit
Rücksicht auf andere besondere Verhältnisse mit einer geringeren als
der normalmässigen Remuneration oder ohne eine solche angestellt
sind, tritt eine Aenderung nicht ein.“
*
Im Verlage von R. O 1 d e n b o u r g (München) ist eben die erste
Nummer einer neuen, zweiwöchentlich zur Ausgabe gelangenden Zeit¬
schrift: „B 1 ä 1 1 e r f ü rV o 1 k s- G e s u n d h e i t s p f 1 e g e“ erschienen.
Dieselbe wird herausgegeben von Regierungsrath Dr. B ö d i k e r,
Dr. Graf Douglas, Prof. v. Leyden, Prof. Rubner und
redigirt von Dr. Beerwald, Dr. Kautz und Dr. S p i 1 1 a.
*
Im \ erläge von S. Rosenbaum in Berlin ist der von Stabs¬
arzt a. D. Dr. Lorenz herausgegebene „Taschenkalender
für Aerzte“ pro 1901 (14. Jahrgang) erschienen.
*
Frauenarzt Dr. Adolf Hink, emeritirter erster Assistent der
Klinik Hofrath G. Braun, wohnt: VIII/1, Auerspergstrasse
Nr. 21.
*
Aus dem Sanitätsberichte der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiete. 40. Jahreswoche (vom 30. September
bis 6. October 1900). Lebend geboren: ehelich 679, unehelich 327, zusammen
1006. Todt geboren: ehelich 39, unehelich 18, zusammen 57. Gesammtzahl
der Todesfälle 544 (i. e. auf 1000 Einwohner einschliesslich der Ortsfremden
16'9 Todesfälle), darunter an Tuberculose 97, Blattern 0, Masern 2,
Scharlach 4, Diphtherie und Croup 5, Pertussis 1, Typhus abdominalis 5
Typhus exanthematicus 0, Dysenterie 0, Cholera 0, Puerperalfieber 2, Neu¬
bildungen 38 Angezeigte Infectionskrankheiten : Rlatteru 0 (=), Varicellen
27 (-(-13), Masern 104 -(- 45), Scharlach 55 (-]- 11), Typhus abdominalis
15 ( — 8), Typbus exanthematicus 0 (=), Erysipel 20 ( — 4), Croup und
Diphtherie 54 (-(- 13). Pertussis 18 ( — 12), Dysenterie 2 (=), Cholera 0
(=), Puerperalfieber 4 (-(- 3), Trachom 7 ( — 2), Influenza 0 (=)■
Bei der Redaction eingelangte Bücher.
(Mit Vorbehalt weiterer Besprechung.)
Nevinny, Allgemeine und specielle Arzneiverordnungslehre. Deutieke. Wien.
Preis K 21. — .
Breus und Kolisko, Die pathologischen Beckenformen. Bd. Ill, 1. Theil.
Ibidem. K 16. — .
Gruber M., Die Prostitution vom Standpunkte der Socialhygiene. Ibidem,
Preis K 1. — .
Weyl, Oeffentliche Massnahmen gegen ansteckende Krankheiten. Fischer,
Jena. Preis M. 6. — .
Francke, Der Reizzustand Seitz & Schauer, München.
Kaiser, Die Technik des modernen Mikroskopes. 2. Auflage, Lieferung 1.
Perles, Wien 1901.
Rille, Bedeutung und Ziele des dermatologischen Unterrichtes. (Antritts¬
vorlesung.) Separatabdruck. Deutieke, Wien.
Zirovcic, Die sanitären Verhältnisse und Einrichtungen in Croatien und
Slavonien. Landesdruckerei, Agram. 70 S.
Bunge, Die zunehmende Unfähigkeit der Frauen, ihre Kinder zu stillen.
Reinhardt, München. Preis M. 0.80.
Stoeckel. Ureterfisteln und Ureterverletzungen. Breitkopf & Härtel, Leipzig.
159 S.
Trömner, Das Jugendirresein. Marhold, Halle. Preis M. 1. — .
Döderlein, Aetiologie und Anatomie der Metritis cervicalis. Ibidem. Preis
M. 0.60.
Bresgen, Die Reizung und Entzündung der Nasensehleunhaut in ihrem
Einflüsse auf Athmung und Herz. Ibidem.
Bresgen. Klima, Witterung und Wohnung, Kleidung und Körperpflege in
ihren Beziehungen zu den Entzündungen der Luftwege. Ibidem.
Hertwig, Die Entwicklung der Biologie im XIX. Jahrhundert. Fischer, .
Jena. 31 S.
Naunyn, Die Entwicklung, der inneren Medicin mit Hygiene und Bacterio-
logie im XIX. Jahrhundert. Ibidem. 21 S.
Strauss und Rohnstein, Die Blutzusammensetzung bei den verschiedenen
Anämien. Hirschwald, Berlin 1901. Preis M. 7.50.
Jessner, Des Haarschwundes Ursachen und Behandlung. Stüber, Würzburg.
Preis M. 0.80
Nitzeinadel. Therapeutisches Jahrbuch. Zehnter Jahrgang.- Deutieke,
Wien.
Blattern- und Schutzpockenimpfung. Denkschrift. 3. Auflage. Bearbeitet
vom kaiserlichen Gesundheitsamte. Springer, Berlin. Preis M. 1.20.
Calot. Les maladies qu’on soigne ä Berc.k. Masson, Paris.
Moeller, Die Lungentuberculo.se und ihre Bekämpfung. Barth, Leipzig.
Preis M. 0.75.
Kolm, What may I eat and drink? Perles, Wien 1898.
Wolff, Heerwesen und Felddiensttabellen für den Militärarzt im Felde.
Safaf, Wien.
Starck, Die Diverikel der Speiseröhre. Vogel, Leipzig. Preis M. 4. — ,
Kisch, Entfettungscuren. Hoffmann, Berlin 1901. Preis M. 3. — .
Flügge, Die Wohnungsdesinfection durch Formaldehyd. Fischer, Jena.
Preis M. 0'75.
Kahlden, Technik der histologischen Untersuchung. 6. Auflage. Ibidem.
Preis M. 3. — .
Oppel, Lehrbuch der vergleichenden mikroskopischen Anatomie. 3. Theil.
Ibidem. Preis M. 36. — .
Pictet, Die Pflanzenalkaloide und ihre chemische Constitution. Deutsch von
Wolffenstein. 2. Auflage. Springer, Berlin.
Freie Stellen.
Tabakfabriksarztesstelle II., eventuell III. Kategorie in
Böhmen. Jahreshonorar 2200 K, beziehungsweise 1600 K, in beiden Fällen
verbunden mit einem Fuhrenpauschale von 300 K. Concurstermin 30. No¬
vember 1. J. Die vo'lständigen Kundmachungen können im Sanitäts-
Departement der Statthalterei in Prag, sowie bei der Tabak-Hauptfabrik
in Budweis und der Generaldirection der k. k. Tabakregie in Wien eingesehen
werden.
Districtsarztesstelle in Sablat, Bezirk Prachatitz. Böhmen.
Der deutsche Sanitätsdistrict Sablat umfasst 22 Ortschaften mit 3453 Ein¬
wohnern und einem Flächeninhalte von 63 km'1. Jährlicher Gehalt 800 K,
Reisepauschale 252 K. Beweiber wollen ihre mit den im §5 des Landes¬
gesetzes vom 23. Februar 1888, L. G. Bl. Nr. 9 vorgeschriebenen Nachweisen
belegten Gesuche bis 10. November 1900 beim Bezirksausschüsse Pra-
chatitz-Wallern einbringen.
Gemeindearztesstelle in Trappano, Halbinsel Sabbioncello,
Dalmatien. 2000 A Jahresgehalt, in monatlichen anticipativen Raten aus
der Gemeindecasse zahlbar. Haltung einer Hausapotheke. Bewerber um
diese Stelle wollen ihre Gesuche bis 31. October d. J. an die Gemeinde¬
vorstehung von Trappano, welche über allfällige Anfragen Auskunft ertheilt,
einsenden und mit folgenden Documenten belegen: a ) Diplom über die
Erlangung des Doctorgrades der gesammten Heilkunde; b) Nachweis dei
österreichischen Staatsbürgerschaft; c) Geburtsschein; d) Nachweis der Kennt-
niss der serbokroatischen Sprache.
Nr. 43
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
1003
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Oongressberichte.
XIDTK.A.JL.T:
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien. 13. Internationaler medicinischer Congress zu Paris. (2.-9. August
Sitzung vom 19. October 1900. 1900.) (Fortsetzung.)
72. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Aachen 1900.
(Fortsetzung.)
Officielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
Sitzung vom 19. October 1900.
Vorsitzender: Hofrath Prof. Clirobak.
Schriftführer : Prof. Paltauf.
Als Gäste anwesend: Dr. Sommers, Präsident der Medical
Society in Cambridge, Dr. Deter meyer, fürstlicher Brunnenarzt
aus Salzbrunn in Schlesien.
Der Präsident begrüsst die Mitglieder und spricht die Hoffnung
aus, dass dieselben ihre Kräfte den Zwecken und Arbeiten der Gesell¬
schaft widmen werden.
Während der Ferien hat unsere Gesellschaft einen schweren
Verlust durch den Tod ihres hervorragenden Mitgliedes, Hofrathes
E. Albert erlitten; die Gesellschaft hat einen Kranz an seiner
Bahre niedergelegt, Ihr Präsident hat ihn persönlich zum Grabe be¬
gleitet. Hofrath Gussenbauer wird die Bedeutung A 1 b e r t’s und
seine Verdienste um die Gesellschaft in besonderen Ausführungen
beleuchten.
Von der ärztlichen Section des „Vereines für Natur- und Heil¬
kunde“ in Pressburg langte ein Condolenzschreiben anlässlich des
Todes E. Albert’s ein. Endlich theilt der Präsident mit, dass Dienstag
den 23. October, 10 Uhr, in der Votivkirche ein Requiem für weiland
Hofrath Albert abgehalten wird, zu dem an die k. k. Gesellschaft
eine Einladung gelangt ist.
Der Präsident macht ferner folgende Mittheilung bezüglich der
Verleihung des von Dr. Moriz Andreas Goldberger gestifteten
Preises.
Am 15. Mai war der Termin für die Einreichung einer Preisarbeit
abgelaufen; es ist jedoch bis dahin und auch später keine Arbeit ein¬
gelangt, so dass § 1, Absatz l des Statuts in Wirksamkeit tritt; der¬
selbe bestimmt, dass der Preis dem Verfasser der besten im Laufe der
letzten drei Jahre vor Schluss des Einreichungstermins erschienenen oder
ad hoc im Manuscript dem Präsidium der k. k. Gesellschaft der Aerzte
vorgelegten Untersuchungen aus dem Gebiete der medicinischen Wissen¬
schaften mit Einschluss der theoretisch-medicinischen Fächer ver¬
liehen werde.
Entsprechend § 2 des Statuts hat das Präsidium eine aus
sechs Mitgliedern bestehende Commission geladen, einen Vorschlag für
die Zuerkennung des Preises zu erstatten.
Diese Commission beantragte, Herrn Prof. Dr. Ewald Hering
in Prag für die Arbeit „Ueber centripetale Ataxie beim Menschen
und Affen“, erschienen in Nr. 23 des „Neurologischen Centralblattes“,
1897, welche den Abschluss einer Reihe von experimentellen Unter¬
suchungen (desselben Autors) über die Abhängigkeit der Bewegungsfähig¬
keit von den sensorischen Impulsen bei Frosch, Hund und Affen bildet,
und dadurch die werthvollsten Aufklärungen über die Erscheinungen
der Ataxie beim Menschen, besonders auch über gewisse Symptome
der Tabes, schafft.
Hofrath Gussenbauer hält die Gedenkrede auf Hofrath Eduard
Albert. (Siehe Feuilleton dieser Nummer.)
Docent Dr. Emil Schwarz demonstrirt Präparate von einem gemein¬
schaftlich mit Dr. C. Sternberg beobachteten Falle, in welchem
Myeloplaxen im peripheren Blute und den Capillaren der paren¬
chymatösen Organe gefunden wurden. Die betreffende Patientin zeigte
während des Lebens blos einen Milztumor, welcher bis ins linke Hypo¬
gastrium reichte. Es bestanden keinerlei Drüsenschwellungen. Der Blut¬
befund war anfangs (Februar 1899) zweifelhaft, später (Mai 1899)
zeigte er leukämische Charaktere, nämlich zahlreiche Markzellen und
kernhaltige rothe Blutkörperchen. Die Zahl der Leukocyten erhob sich
jedoch während der ganzen Erkrankung nicht über 30.000. Gegen
Ende (October 1899) verschwand selbst diese Leukocytose und auch
die Qualität der Zellen änderte sich, indem die Markzellen aus dem
Blute verschwanden, ebenso die Erythroblasten. Den auffallendsten
Befund lieferten jedoch die Blutpräparate aus der Culminationszeit der
Erkrankung. Es fanden sich im Fingerbeerenblute enorme Chromatin¬
massen, drei- bis vierfacher Länge und doppelter Breite der grössten
Myelocyten, mit undeutlichem Protoplasmasaume, so dass sie den Ein¬
druck freier Kerne machten. Diese Riesenkerne waren äusserst spär¬
lich; nur in wenigen Präparaten gelang es, dieselben aufzufinden. Da
diese Beobachtung ganz ohne jede Analogie in der Literatur ist, war
es nicht leicht, selbe zu deuten. Doch lag die Vermuthung nahe, diese
Kerne mit den Riesenzellen des Knochenmarks, den Myeloplaxen, in
Beziehung zu bringen, da nur an diesem einzigen Orte so enorme
Chromatinmassen entwickelt werden. Den Beweis für die Richtigkeit
dieser Ansicht lieferte die mikroskopische Untersuchung der Organe.
Sowohl in der Milz, als in der Leber und Niere fanden sich die¬
selben Gebilde wieder und namentlich in der Milz, wo sie in sehr
grosser Zahl vorkamen, konnte ihre morphologische Beschaffenheit ein¬
gehend studirt werden. Sie erschienen daselbst als riesige Zellen mit
grossem, ungewöhnlichem Protoplasmaleibe und riesigem Kerne von
der ganz eigenthümlichen Gestalt, wie sie von Arnold, Cornil,
Heidenhain für die Myeloplaxen beschrieben wird. In engeren
Capillarschlingen, namentlich in der Niere, verlieren sie die charakte¬
ristische Gestalt, indem sie sich dem Volumen und Formen des gebotenen
Raumes anpassen und dann oft als langgestreckte Chromatinmasseu
erscheinen, an denen nur mit Mühe ein Saum des Protoplasmas zu
entdecken ist. Die grossen Chromatinklumpen im Fingerbeerenblute
dürften wohl auf dieselbe Art entstanden sein.
In der Literatur existiren nur Befunde H. F. Mülle r’s und
Hin den burg’s über Myeloplaxenbefunde in Milz und Leber bei
Leukämie. Müller lässt sie an dem Fundorte entstehen und enthält
sich jeder Deutung. Nach den heute demonstrirten Präparaten ist
jedoch eine solche Genese auszuschliessen; die Zellen liegen immer
innerhalb der Capillaren, sie sind sicher aus dem Knochenmarke in die
Blutbahn eingeschwemmt. Die Untersuchung des Knochenmarkes ergab
nicht nur ein massenhaftes Auftreten der Myeloplaxen, sondern auch
in den Bluträumen des Markes konnten sie zahlreich nachgewiesen
werden.
Aus dem anatomischen Befunde des Falles sind noch zwei Mo¬
mente hervorzuheben, welche den untersuchten Fall als einen ganz eigen¬
thümlichen erweisen. Erstens das Frei bleiben des gesammten lympha¬
tischen Apparates; nur eine einzige Mesenterialdrüse bot das Bild
leukämischer Drüsen und diese nicht sehr ausgesprochen. Zweitens er¬
wies sich das ganze Knochensystem von einem intensiven Sklero-
sirungsprocess befallen, welcher nicht nur eine Compacta, sondern eine
reichliche Neubildung von Knochenspangen innerhalb der noch er¬
haltenen Markreste bewirkt hatte. Das noch restirende Mark zeigt
ausser den erwähnten zahlreichen Myeloplaxen noch myelocytische
Hyperplasie, wie ein leukämisches Knochenmark. Auch die Knochen¬
sklerose bei Leukämie ist ein derart seltenes Vorkommen, dass ausser
unserem Falle in der gesammten Literatur nur ein einziger, von
Heuck beschriebener, zu finden ist. Doch ist die Neubildung in
diesem nach des Autors Angaben auf eine bindegewebige Sklerose des
Markes zurückzuführen, während hier die Sklerose fast ausschliesslich
durch directe Apposition sich vollzieht. Ein in der letzten Zeit von
Baumgarten als „myelogene Pseudoleukämie“ beschriebener Fall
zeigt zwar den analogen Typus der Knochenbildung, doch war der
Blutbefund in keiner Weise leukämisch. Die Knochenneubildung zu
erklären, ist einstweilen wohl noch nicht möglich, nur so viel möchte
ich betonen, dass die reichliche Myeloplaxenbildung, trotz deren Be¬
ziehung zu Osteoblasten und Osteoklasten, keineswegs hiebei eine
Rolle spielen kann, wie wir uns durch anderweitige Untersuchungen
überzeugt haben. Auch die Mobilisation der Myeloplaxen ist nicht so
einfach zu deuten. Es soll an anderer Stelle genauer auf diese Ver¬
hältnisse eingegangen werden. Ich möchte jedoch hervorheben, dass
die von L u b a r s c h und Lengemann gegebene Erklärung der
Riesenzellembolien,' die wohl oft giltig sein mag, auf die hier demon¬
strirten Verhältnisse nicht anwendbar ist.
Dr. v. Hammersclilag demonstrirt einen Fall von rechts¬
seitiger chronischer Mittelohreiterung mit Caries
des Schläfebeines und Cholesteatom, Extraduralabscess,
circumscripter Pachy-Leptomeningitis und Abscess des Scbläfelappens,
Freilegung der Mittelohrräume, Freilegung und Spaltung der Dura,
Exploration des Schläfelappens, Heilung.
1004
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 43
Die Patientin, ein 26jähriges Mädchen, stammt aus einer ge¬
sunden Familie und war in ihrer Kindheit, wie auch späterhin mit
Ausnahme eines Fussleidens stets gesund. Ihr Ohrenleiden datirt vom
Jahre 1882 und begann mit starken Schmerzen im rechten Ohre,
worauf sich alsbald Otorrhoe einstellte. Seither dauerte dieser Ohren¬
fluss trotz specialärztlicher Behandlung ohne Unterbrechung an. Zehn
Tage vor der Aufnahme in das Krankenhaus, die am 19. Juni a. c.
erfolgte, bekam Patientin sehr starke Schmerzen im rechten Ohre, die
über die rechte Kopfhälfte ausstrahlten, wenige Tage später Schwindel,
Qebelkeiten und Erbrechen. Bei der Aufnahme ins Spital stellte sich
die Patientin als eine mittelgrosse, massig genährte, ziemlich blasse
Person dar, mit normalem somatischen Befunde. Die Temperatur war
39°, der Puls 96, dabei rhythmisch, gleich und ziemlich hart. Das
linke Ohr war in allen Theilen vollständig normal; das kranke Ohr
bot folgenden Befund: Die Bedeckung des Warzenfotsatzes war
äusserlich normal, doch bestand sehr starke Druckempfindlichkeit in
der ganzen Ausdehnung des Planum mastoideum. Der Gehörgang war
in den äusseren drei Viertheilen weit und mit stinkendem Eiter erfüllt,
das innere Viertheil war hochgradig verengt, so dass ein Trommelfell¬
befund nicht erhoben werden konnte. Der Weber ging vom Scheitel,
wie auch vom Warzenfortsatze des gesunden Ohres nach der er¬
krankten Seite, der Rinne daselbst war negativ, die Kopfknochen¬
leitung für die Taschenuhr ausgefallen. Flüstersprache wurde auf dem
gesunden Ohre auf 3 m, rechts gar nicht vernommen.
Noch am Tage der Aufnahme wurde die typische Freilegung
der Mittelohrräume vorgenommen, wobei sich der Knochen des
Warzenfortsatzes mässig sklerosirt, das kleine Antrum als durchaus
mit Cholesteatom erfüllt erwies.
Am Tage nach der Operation sank die Temperatur auf 37-5°,
um aber noch im Laufe desselben Tages auf über 38° zu steigen.
Während die Schmerzen am Tage nach der Operation vollständig
sistirt hatten, stellten sie sich am zweiten Tage nach der Operation
im vermehrten Masse wieder ein. Der am nächsten Tage aufgenommene
Augenbefund ergab beiderseits normalen Fundus. Ueber den weiteren
Verlauf ist nur so viel zu sagen, dass, trotzdem die Wunde stets
normales Aussehen bot, die Schmerzen in der rechten Kopfseite
immer mehr Zunahmen, so dass der Schlaf und das Allgemeinbefinden
der Patientin dadurch hochgiadig gestört erschienen. Die Temperatur
wmr allerdings am fünften Tage nach der Operation bereits unter 38°
herabgesunken und erreichte während des weiteren Verlaufes niemals
mehr diese Höhe. Die Kopfschmerzen allein waren die einzige Indica¬
tion zu einer neuerlichen Operation, die ich am 27., also acht Tage
nach der ersten Operation, vornahm. Das Tegmen antri et tympani,
das allenthalben eine Dicke von mehreren Millimetern aufwies und
an welchem eine Wegleitung makroskopisch nicht nachweisbar war,
wurde in der Ausdehnung von etwa Kronenstückgrösse entfernt, wo¬
nach sich circa ein Esslöffel sehr übelriechenden, extradural gelegenen
Eiters entleerte. Die freigelegte Dura erwies sich nun an einer Stelle
von einer sondendicken Fistel durchbrochen und aus dieser Durafistel
pulsirte lebhaft Eiter hervor. Deshalb wurde die, im Uebrigen etwas
verdickte Dura in der Länge von etwa 2 cm gespalten, worauf sich
abermals etwa mehrere Cubikcentimeter intraduralen Eiters entleerten.
Am Schläfelappen selbst, der nunmehr freilag, war äusserlich keine
Veränderung zu bemerken. Trotzdem ging ich in der Erwägung, dass
des Bestand einer circumscripten Pachymeningitis externa und einer
circumscripten Pachy-Leptomeningitis meist den Weg markirt, auf dem
ein Ilirnabscess entstanden ist, an die Exploration des Schläfelappens.
Derselbe wTurde mit dem Scalpell in der Ausdehnung von 2 cm ge¬
spalten, worauf sich eine grosse Menge sehr übelriechenden Eiters in
einem Gusse entleerte. Die Hirnwunde wurde mit der Kornzange
klaffend erhalten und auf diese Weise noch eine grosse Menge Eiters
entleert. Die Abscesshöhle wurde hierauf sowie die übrige Wunde mit
Jodoformgaze tamponirt. Unmittelbar nach der Operation befand sich
die Patientin sehr wohl, die Kopfschmerzen hatten ganz aufgehört und
kehrten, wie ich gleich bemerken willv im weiteren Verlaufe nur noch
selten und in geringer Intensität wieder.
Der drainirende Jodoformgazestreifen wurde am achten Tage
nach der Operation weggelassen, nachdem die Absonderung vollständig
sistirt hatte.
Aus dem weiteren Verlaufe sind zwei Momente besonders
hervorzuheben. Während der Augenbefund vor der Operation voll¬
ständig negativ war, ergab eine neuerliche Untersuchung, drei Tage
nach der Eröffnung des llirnabscesses, eine leichte Schlängelung der
Venen rechterseits, am 20. Tage nach der Operation eine auffallend
starke Füllung und Schlängelung derselben.
Auffallend sind ferner noch eine Reihe von Erscheinungen,
welche den übrigens tadellosen Heilungsverlauf unterbrachen, und
welche nur in dem Umstande ihre Erklärung finden, dass die Patientin
in ziemlich hohem Grade hysterisch ist. Am 19. Tage nach der Ope¬
ration traten Schwindel und Erbrechen auf, die etwa acht Tage an¬
hielten, um dann ohne jede Therapie spurlos zu verschwänden. Am
21. Tage nach der Operation trat Ilarnretention ein, derenthalben
die Patientin einmal katheterisirt werden musste, worauf auch diese
Erscheinung dauernd ausblieb. Vier Wochen nach der Operation, als
auch die Wunde beinahe vollkommen geheilt war, bekam die Patientin
einen tonischen Krampf des Facialis der gesunden Seite, welchem
leichte klonische Zuckungen vorhergegangen waren. Erst dieser letz'e
Krankheitszufall legte die Vermuthung auf Hysterie nahe und Ur¬
sächlich ergab die neurologische Untersuchung deutliche hysterische
Stigmata. Uebrigens ging auch der Facialiskrampf spontan vollkommen
wieder zurück. Heute, vier Monate nach der Operation, ist die Patientin
vollkommen wiederhergestellt, niemals wieder sind Kopfschmerzen,
Schwindel, Uebelkeiten und Erbrechen aufgetreten. Die Patientin
versieht ihren ziemlich schweren Dienst als Dienstmädchen ohne jede
Schwierigkeit und auch die ursächliche Mittelohreiterung ist durch
den operativen Eingriff vollständig beseitigt und die Wundhöhle und
die persistirende retroauriculäre Fistel, die in diesem Falle nicht zu
vermeiden war, von einer resistenten gesunden Narbe bedeckt.
Dr. Robert Kienböck hält seinen Vortrag: Ueber die Ein¬
wirkung des Röntgen-Lichtes auf die Haut.
Nach einer gesclr'chtlichen Einleitung, die einen Ueberblick über
die bisherigen Erfahrungen und insbesondere über die vereinzelten,
unvermuthet erzeugten, hartnäckigen Geschwürsbildungen bei der Be¬
strahlung mit Vacuumrühren und eine Uebersicht über die controversen
Auffassungen von den wirksamen Kräften enthält — einerseits
Röntgen- Strahlen, andererseits elektrische Entladungen der Röhre — ,
werden technische Vorbemerkungen über die Verschiedenartigkeit der
Röntgen- Röhren erörtert und wichtige persönliche Er¬
fahrungen bei der Behandlung mitgetheilt.
Die Resultate, die sich aus denselben ergeben, sind: Eine
Röhre wirkt — auf Fluorescenzschirm, photographi¬
sche Platte und lebende Haut — umso stärker, je
mehr Röntgen-Strahlen auffallen und je weniger
penetrirend dieselben sind; nur jene Röhren wirken kräftig,
die sich im Zustande richtiger Evacuation befinden, also wenn sie
genügend „weich“ sind und dementsprechend bei der Durchleuchtung
eines Körpertheiles ein genügend contrastreiches Bild geben ; „harte“
Röhren dagegen, d. i. solche, die hochevacuirt sind, setzen dem
Durchtritte des aus einem gebräuchlichen Inductor kommenden Stromes
einen zu grossen Widerstand entgegen, sie zwingen den Strom, aussen
herum zu fahren; dadurch geht zwar viel Elektricität auf die Um¬
gebung (spcciell auf die Haut) über, es wird aber nur wenig
R ö n t g e n -Licht erzeugt; dasselbe ist dafür leicht penetrirend; eine
derartige, im „harten“ Zustand befindliche Röhre ist nach den persön¬
lichen Erfahrungen für diagnostische und therapeutische Zwecke fast
unbrauchbar. Die in Bezug auf Luftgehalt regulirbaren Vacuumrühren
sind den gewöhnlichen weit überlegen.
Bei der dermatologischen Bestrahlung der Haut
wird vom Vortragenden eine neue Methode befolgt und anempfohlen;
sie besteht darin, kleine Serien sehr wirksamer Sitzungen
zu geben und dann stets bis zum Erscheinen von Re¬
action zu zu war ten; so z. B. gelingt es, Epilation von gesunder
Haut durch zwei bis sechs Sitzungen von je 5 — 15 Minuten an auf¬
einander folgenden Tagen mit Bestimmtheit und ohne heftige be¬
gleitende Reizerscheinungen zu erzielen. Die dazu nöthige Dose
von R ö n t g e n - Licht lässt sich bei Beherrschung der Methode mit
genügender Genauigkeit bemessen und Ueberexposition
mit ihren schädlichen Folgen vermeiden. Idiosynkrasie wurde nie
beobachtet und ist auch als Erklärung der bisher in der Literatur
mitgethcilten Ulcerationen abzuweisen.
Der Vortragende demons trirt als sichtbaren Beweis der
Richtigkeit seiner Anschauungen ein Kaninchen, das an der
einen Flanke eine ausgebreitete Alopecie zeigt ; diese
Seite war mit einer genügend weichen Röhre bestrahlt worden; die
andere Flanke des Thieres zeigt keine Veränderungen; sie war bei
sonst gleichem Verfahren mit einer harten Röhre bestrahlt worden,
die nur wenige R ö n tg e n -Strahlen, aber reichliche elektrische Ent¬
ladungen ansgesendet hatte.
(Der Vortrag erscheint ausführlich in dieser Wochenschrift.)
Dr. Schiff, Dr. Freund und Dr. Holzknecht melden
sich zur Discussion; wegen vorgeschrittener Zeit wird selbe auf die
nächste Sitzung verlegt.
72. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in
Aachen 1900.
(Fortsetzung.)
Abtheilung für Chirurgie.
VI. Walther P e t e r s e n (Heidelberg) : Magenerkran-
kungen bei Cholelithiasis.
Die zahlreichen chirurgischen Eingriffe bei Cholelithiasis und
bei gutartigen Magenerkrankungen haben uns gelehrt, dass letztere
Nr. 43
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
1005
viel häufiger, als man früher annahm, durch erstere bedingt
worden.
Unter 102 Operationen bei gutartigen Magenerkrankungen, die
an der Heidelberger chirurgischen Klinik ausgeführt worden, war
Cholelithiasis zwölfmal mit Sicherheit die Ursache der Krankheit.
Als pathologisch-anatomische Grundlagen der Erkrankung
kommen in Betracht :
1. Druck der vergrösserten, steingefüllten Gallenblase auf das
Duodenum.
2. Druck eines grossen Gallensteines vom Cysticus oder Chole-
dochus aus.
3. Verlegung des Duodenums selbst durch einen eingewanderten
oder perforirten Stein.
4. Pericholecystische Processe (von Perigastritis oft schwer zu
unterscheiden); dieselben wirken in verschiedener Richtung ein:
a) Compression des Duodenums durch bandförmige Adhäsionen:
b) Verziehung und winkelige Abknickung des Pylorus oder des
Duodenums ;
c ) narbige Schrumpfung des Duodenums.
Meist combiniren sich mehrere dieser pathologischen Ver¬
änderungen.
Das wichtigste klinische Symptom ist meist die Pylorusstenose,
seltener Gastralgie. Magenblutungen können durch perforirende Gallen¬
steine oder durch fortgeleitete Thrombose entstehen.
Häufiger als bei der Ulcusstenose findet sich Auftreten von
Milchsäure und Verschwinden der Salzsäure. Wird dadurch schon der
Verdacht eines Carcinoms erweckt, so kann derselbe noch sehr bestärkt
werden durch die einen Tumor vortäuschenden pericholecystitischen
Schwarten.
Ebenso wurden die grossen, den Pylorus oder das Duodenum
verlegenden Gallensteine meist als Carcinom diagnosticirt.
Die chirurgische Therapie hat zwei Aufgaben zu er¬
füllen :
1. Behebung der localen Störung; Lösung von Adhäsionen,
Entfernung von Gallensteinen, Drainage der Gallenblase etc.
Bei verwickelten localen Störungen, sowie bei stärkerer Magen¬
ektasie muss der rein locale Eingriff ersetzt oder ergänzt werden durch
2. die Bekämpfung der secundären Magonveränderungen, und
zwar gewöhnlich durch die Gastroenterostomie, in Ausnahmefällen durch
die Pyloro- oder Duodenoplastik.
Von der Art des pathologischen Processes und dem Kräfte¬
zustande des Patienten muss es abhängen, ob man solche combinirte
Eingriffe (wie Choleeystostomie und Gastroenterostomie) gleichzeitig
oder getrennt ausführen soll.
13. Internationaler medicinischer Congress zu Paris.
(2. — 9. August 1900.)
(Fortsetzung.)
Abtheilung für Otologie.
IV. Dun das Grant (London) : Ueber Diagnose und
Behandlung der otitischen Pyämie.
Die Diagnose der otitischen Pyämie hängt von der Anwesenheit
der allgemeinen Symptome der Pyämie ab, begleitet von acuter oder
chronischer Entzündung des Mittelohres oder des angrenzenden Rachens.
Die wichtigsten Symptome sind das Eintreten von Frösten mit aus¬
gebreiteten Schwankungen der Körpertemperatur und Metastasen im
Lungen- und grossen Blutkreisläufe. Die Pyrexie und die Störungen
der Constitution können sich an verschiedene Krankheiten anreihen,
von denen die wahrscheinlichsten das typhöse Fieber, das Sumpffieber,
der acute Rheumatismus, die maligne Endocarditis, die acute Tuber-
culose und die Meningitis sind. Als solche hat man auch die acute
oder chronische Otitis erkannt; man kann noch im Zweifel sein, ob
die constitutioneile Störung nicht in Coincidenz einer der erwähnten
Krankheiten ihre Ursache habe.
Hat man einmal diese Möglichkeiten ausgeschlossen und sich
versichert, dass die Gesundheitsstörung in einer Ohrkrankheit begründet
ist, so hat man bei der Diagnose der otitischen Pyämie die anderen
gefährlichen Folgen zu betrachten, solche wie Gross- und Kleinhirn-
abscess, seröse oder purulente Meningitis und extradurale Eiterung.
Noch mehr, die otitische Pyämio findet sich sehr häufig combinirt mit
einer oder der anderen dieser Complicationen ; in diesem Falle sind
die diagnostischen Zeichen modificirt.
Noch ist dieSaprämie aus unserer Diagnose auszuschliessen, weil
der unter Druck zurückgehaltene Eiter fieberhafte und constitutionelle
Störungen, immer metastatische Erscheinungen ausgenommen, hervor-
rufen kann. So kann es geschehen, dass wir erst nach Eröffnung des
Mittelohres und seiner Adnexe entscheiden können, ob die Symptome
von Saprämie oder einer wahren Infection des Blutes abhängig sind.
Ist auf diese Weise die Diagnose der otitischen Pyämie sicher¬
gestellt, so bleibt noch zu entscheiden, ob die thrombotische oder die.
einfache Form vorliegt.
Wenn der pyämische Zustand das Rosultat einer acuten Eiterung
ist, und die metastatischen Erscheinungen die Gelenke oder den
grossen Kreislauf betreffen, so besteht aller Wahrscheinlichkeit nach
eine Pyämie ohne Thrombose.
Wenn aber im Gegensätze auf eine chronische, seit mehr als
einem Jahre bestehende Mittelohreiterung dieser Zustand nachfolgt,
und ausserdem evident Metastasen in den Lungen oder Pleuren vor¬
handen sind, so ist an einer thrombotischen Pyämie w'enig mehr zu
zweifeln. Diese Anschauung wird durch eine abnorme Schwellung der
Jugularis externa noch mehr gestützt, denn dies bedeutet eine Ver¬
stopfung der inneren Jugularvene.
Die Empfindlichkeit oder Anschwellung im Verlauf des letzt¬
genannten Gefässes ist das Zeichen einer Phlebitis oder zumindestens
eine Entzündung der darunterliegenden Ganglien.
Eine Schwellung des Orbitainhaltes mit Erweiterung der Venen
der Netzhaut deutet auf Verstopfung des Sinus cavernosus; endlich
eine Empfindlichkeit hinter der Gegend des Warzenfortsatzes lässt ein
Ergriffensein der Vertebralvenen annehmen.
Eine mehr exacte Constatirung ist nur möglich, wenn man den
Sinus sigmoideus blossgelegt hat.
Nach dieser Blosslegung würde die Abwesenheit einer Fluctuation
zwischen dem Sinus und der inneren Jugularvene eine complete Ver¬
stopfung anzeigen. Wenn die Explorativpunction Eiter offenbart, so
kann man sagen, dass eine Thrombose mit purulenter Desintegration
stattgefunden hat; reines Blut ist nicht von Bedeutung, denn es kann
eine parietale Thrombose nichtsdestoweniger bestehen; eine negative
Punction zeigt die Anwesenheit von Thrombose oder wenigstens Ob¬
literation des Blutganges an.
Die Behandlung der otitischen Pyämie besteht in der Ent¬
fernung der ursprünglichen Quelle der Infection oder Blutvergiftung,
in der Entleerung und Sterilisirung aller secundären pyogenen Herde
und der Verhinderung des Transportes septischer Stoffe in den Kreis¬
lauf; weiters in der Verabreichung von Heilmitteln, welche die Aus¬
scheidung der Toxine aus dem Blute erleichtern und in der Anwendung
von Mitteln zur Erhaltung der Kräfte des Kranken, bis diese Aus¬
scheidung vollführt ist; in letzter Linie ist antitoxisches Serum bestimmt,
die Toxine zu zerstören, welche aus den pathogenen Organismen her¬
vorgegangen sind.
Diese Grundsätze lassen sich, wie folgt, in der Praxis verwerthen:
Bei acuten Fällen, Incision des Trommelfells, Eröffnung der
Zellen des Warzenfortsatzes mit Entfernung des erkrankten Knochens,
Sterilisation, Drainage. Der Kranke wird zur Ruhe gebracht, Chinin,
Diuretica, Alkohol, kräftige, leicht verdauliche Nahrung gegeben. Das
passende (Antistreptococcen-) Serum wird injicirt, wenn die Körper¬
temperatur nicht bald zur normalen herabsteigt. Metastatische Abscesse
müssen in dem Masse, als sie entstehen, entleert werden.
Wenn trotz der angegebenen Behandlung die Symptome fort-
bestehen, so lässt sich eine parietale Thrombose im Sinus oder Bulbus
jugularis amiehmen. Unter diesen Verhältnissen kann man dahin geführt
werden, die für die chronischen Fälle empfohlene Exploration und
Operation auszuführen, nämlich die Ligatur der Jugularis, Incision,
Entleerung und Verödung des Sinus sigmoideus. Die Ligatur der Jugu¬
laris darf man nicht vornehmen, ohne gleichzeitig den Sinus zu eröffnen.
In den chronischen Fällen muss die radicale Warzenfort¬
satzoperation ohne Verzug gemacht werden; wenn aber eine Thrombo¬
phlebitis der Jugularvenen evident und wohlgegründet besteht, so thut
man gut, dieses Gefäss blosszulegen, zu unterbinden, oder wenigstens
zu entleeren, bevor man den Warzenfortsatz angeht. Im Allgemeinen
legt man nach der Warzenfortsatzoperation den Sinus sigmoideus bloss
mittelst einer Erweiterung der Knochenbresche und untersucht den Sinus
mit einer caunelirten Nadel. Wenn Thrombose vorhanden und die Eiter¬
bildung in den mehr erhabenen Theilen des Sinus stattgefunden hat,
so muss man die ergriffene Partie ausgiebig eröffnen und die Eiter¬
gerinnsel ausräumen, bis man zu einem organisirten Pfropfe von ge¬
sundem Ansehen gelangt ist; endlich wird die Höhle mit Sublimat¬
irrigationen oder Bestäubungen von Jodoform, rein oder mit Borsäure
gemengt, desinficirt und mit Jodoformgaze leicht tamponirt.
Wenn die Fieberfröste sich wiederholt einstellen, müssen wir bis
zum äussersten Giade den Sinus blosslegen, eröffnen zu dem doppeltem
Zwecke, nämlich die Pfropfe bis zum freien Abflüsse reinen Blutes zu
entfernen und die Höhlung durch Tamponirung mit Jodoformgaze zur
Verödung zu bringen. Unter solchen Umständen sind die meisten
Operateure der Meinung, dass es gut sei, die Jugularis interna zu unter¬
binden, und weiters, je nach der Lage, in folgender Weise vorzugehen:
Findet sich die Vene im Zustande der Thrombose, so muss sie
so tief als möglich unterbunden, dann durchschnitten und der obere
Theil ausserhalb des oberen Wundwinkels herausgezogen werden;
endlich entleert man ihren Inhalt mit einer Curette oder Spritze.
1006
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 43
Ist keine Thrombose, so unterbindet und durcbschneidet man
die Vene nicht.
In jedem Falle wird der Sinus complet evacuirt, sterilisirt und
leicht tamponirt.
Hei der so beschriebenen operativen Behandlung muss man jede
unfreiwillige Verwundung des Sinus vermeiden, denn es ist evident,
dass dieses Ereigniss von einer gefährlichen und selbst fatalen Toxämie
gefolgt sein kann.
Man muss jeden Tampon im Sinus so rasch als möglich ent¬
fernen, selbst nach 24 Stunden, wenn man ihn übrigens er¬
neuern kann.
Im Falle sich die Temperatur in beträchtlicher Höhe erhält und
fortsetzt, und die Lebenskräfte sich rapid erschöpfen, muss man anti¬
toxisches oder auch normales Serum anwenden.
Was die Combinationen betrifft, so muss man, falls die Pyämie
mit Meningitis complicirt ist, zur Lumbarpunction schreiten. Sind in
der Flüssigkeit Eiterzellen, so ist es unnütz, weiter zu operiren. Wenn
aber im Gegensätze eine seröse Meningitis evident vorhanden ist, so
ist die Operation umsomehr angezeigt.
Wenn gleichzeitig ein Gross- oder Kleinhirnabscess besteht, so
muss derselbe durch Eröffnung des Craniums, vom ergriffenen Sinus so
weit als möglich entfernt, eröffnet werden.
Metastatische Abscesse sind in dem Masse, als sie sich bilden,
zu entleeren.
Die neuesten Ansichten verschiedener Autoren, ebenso wie
einige technische Details werden in einem besonderen Berichte zur
Betrachtung kommen.
V. Moll (Arnheim): Ueber die Ursachen und die
Behandlung der Menier e’schen Krankheit.
Die Meniere’sche Krankheit oder das Ganze der Symptome
von Meniere stellt eine klinische Form dar, bestehend in Schwindel,
verbunden mit Ohrensausen, Taubheit oder Harthörigkeit, Uebelkeiten
oder Erbrechen. Vor 1861, zur Zeit als Meniere die Aufmerksam¬
keit auf diese Krankheit oder diese Gruppen krankhafter Erscheinungen
lenkte, wurden ähnliche Fälle in die Reihe der Gehirnaffectionen (Ge-
hirncongestion) eingereiht, weil der Schwindel, das Hauptsymptom der
Krankheit, nur auf Gehirnerkrankungen bezogen wurde. Trotz der
glänzenden Erfahrungen von Flourens blieb die Theilnahme des
Labyrinthes im statistischen Sinne unbekannt. Der Schwindel, heutzu¬
tage allgemein von einem erkrankten Ohre (ab aure laesa) anerkannt,
nimmt seinen Ursprung in einer bleibenden oder vorübergehenden
Affection des Labyrinthes: primär, wenn daselbst eine intralaby-
rinthische Läsion (Hämorrhagie oder eine tiefe Alteration in Folge
krankhafter Processe, Syphilis u. s. w.) besteht; secundär, wenn
man es blos mit einer Erhöhung der intralabyrinthischen Spannung
zu thun bat, mit einer abnormen Compression in Folge verschiedener
Läsionen des Mittelohres (Zurückhaltung von Trommelhöhlen-Exsu-
daten, Ankylose der Gehörknöchelchen, Verwachsung des Steigbügels.
Verschliessung der Tuba u. s. w.) oder auch des äusseren Ohres
(Olnenschmalzpfröpfe).
Die Affectionen des Grosshirns, des Kleinhirns oder «des Gehör¬
nerven (Geschwülste, functioneile Erkrankungen des Gehirns, Sklerose),
welche Schwindel erzeugen, sind von so viel anderen Erscheinungen
begleitet, dass das Symptomenbild verschwindet oder unkenntlich wird.
Die Reflexschwindel, das heisst jene, deren Ursprung sich iu
mehr entfernten Organen befindet, haben zu viel zur Verwirrung bei¬
getragen als dass man darüber Stillschweigen könnte. Hierher gehört
der Schwindel von verdorbenem Magen, welcher die Aufmerksamkeit
der Aerzte vom Labyrinth abgezogen hat; ferner die Reflexschwindel
in Folge Krankheiten der Nase und des Rachens, welche zu sehr die
Aufmerksamkeit auf das Labyrinth gelenkt und die Grundursache des
Schwindels vernachlässigt haben. Ein verzeihlicher Irrthum, wenn man
die intimen Beziehungen zwischen Nasen- und Ohreukrankeiten in Be¬
trachtung zieht.
Man ist weit entfernt, all diese verschiedenen Elemente, all diese
Atfectionen der verschiedenen Organe, welche eine klinische Form
einer Kranken-Einheit bilden, vereinigen zu können. Es entspricht nicht
der Beobachtung, als Typus eine apoplektische Form aufzustellen, die
Apoplexie der halbkreisförmigen Canäle mit der Krankheit von
Meniere zu idcntificiren, weil: 1. die anatomisch-pathologischen
Beobachtungen unzureichend sind; 2. die Aetiologie der verschiedenen
Fälle, sogar der apoplektischen Form different ist; 3. es besteht ein
zu grosser Unterschied im Auftreten, Verlauf und Ende der apoplek¬
tischen und der anderen Formen; 4. die apoplektischen Fälle sind im
Vergleiche zu jenen, wo eine chronische Affection der Ohren vorhanden
ist, in bemerkenswerther Minorität. Wie die als M e n i e r e’sche Krankheit
speciell benannte Affection sich in verschiedener Gestalt präsentirt
wie dieselbe nicht immer denselben Ursprung hat und wie die Sym¬
ptome genau dieselben sind, sobald es sich um eine Affection anderer
Theile des Gehörorgans handelt, scheint es mir nicht nützlich, den
Ausdruck „Krankheit von Meniere“ für eine einzelne Form zu reser-
viren. Diese Reserve wird dazu beitragen die Verwirrung bestehen zu
lassen. Und indem weiters die Symptome von Mbniere mit den
labyrinthischen Symjitomen identisch sind, könnte man die betreffende
Affection mit seinem Namen bezeichnen und hinzufügen „mit laby-
rynthischen Symptomen“. Auch das wäre nicht präcis, weil es Gross¬
kirn-, Kleinhirn- und Gehörnervenerkrankungen mit labyrinthischen
Symptomen gibt, ohne dass man eine Affection des Labyrinths hätte
nachweisen können. Ich rathe daher, Brunner, F r a n k 1 - II o c h-
wart und anderen Schriftstellern zu folgen, wrelche die Veränderung
des Namens „Krankheit von Moniere“ in „Symptome von Meni6re“
für alle Fälle vorgeschlagen haben, mit der Beschränkung, eine Classi¬
fication uud als Grundlage der Eintheilung den Sitz der Affection an¬
zunehmen, wie folgt:
Symptome von Mäni&re bei:
a ) Krankheiten des äusseren Ohres.
b) Krankheiten des mittleren Ohres, a) acuten, ß) chronischen;
c) Krankheiten des inneren Ohres a) hämarrhogischen, ß) trau¬
matischen, y) acuten, 8) chronischen, e) toxischen;
d) Krankheiten des Gehörnerven, a) Tabes, ß) Neubildungen,
y) Angioneurose.
Ich habe die Gehirnkrankheiten nicht besonders angeführt, denn in
Summa, wenn das Gehör intact ist, so gibt es keinen Vertigo
a u r a 1 i s ; wenn aber das Gehör nicht intact ist und eine Ohraffection
an den Gehirnaffectionen theilnimmt, so haben wir uns damit nur in¬
soweit zu beschäftigen, als der Gehörnerv betheiligt ist. Ein Capitel
von Symptomen „Pseudo-Meniere“, umfassend die Schwindel bei Hysterie,
Epilepsie u. s. w., erscheint mir überflüssig.
Die Behandlung der Symptome von Meniöre ist diejenige der
verschiedenen Ohrerkrankungen, bei welchen die Nervenendigungen
entweder durch eine materielle Läsion des Labyrinthes, oder durch
ein secundäre Compression, oder durch Reflexwirkung erregt sind. Im
ersten, zumeist seltenen Falle, ist eine Allgemeinbehandlung vor¬
herrschend, während bei den anderen Fällen die ganze Therapie der
Ohrerkrankungen wirken könnte. In der Krise sind Ruhe und Anti-
phlogose angezeigt, absolute Ruhe des Körpers und des Ohres, Unter¬
drückung psychischer Erregungen und jeder Aufregung überhaupt;
heftige Geräusche sind zu vermeiden; strenges, trockenes Regime
und überhaupt die Enthaltung alkoholischen Getränkes wird von
Nutzen sein.
Um die labyrinthische Hyperästhesie zu beruhigen, ist das
schwefelsaure Chinin in nicht hohen Dosen das Medicament der Wahl;
ferner die hypodermatischen Injectionen von Pilocarpin (Politzer,
Lucae); das Mutterkorn (Lucae), ein logischerWeise angezeigtes Medi¬
cament, hat sich nicht als sehr wirksam erwiesen. Besser wirken die
Jodpräparate wegen Resorption und vom ätiologischen Standpunkte
(Syphilis). In Beziehung auf den neurasthenischen Standpunkt sind
die Brommittel die nützlichsten. Für alle anderen Fälle ist neben einer
Allgemeinbehandlung, welche der Aetiologie Rechnung trägt, die locale
Behandlung vorauszuschicken, und sodann wird jede Operation, welche
das Labyrinth vom Drucke befreit, angezeigt sein, von der einfachsten
Operation der Entfernung eines Ohrenschmalzpfropfes, der Luftdouche,
der Paracentese des Trommelfells bis zur Punction des runden Fensters.
(B o t e y und Coz zolino). Dieselben Grundsätze der Behandlung
der Ohrenkrankheiten gelten auch hier: man muss die Nasenhöhle,
den Rachen und Kehlkopf nicht blos vom ätiologischen, sondern auch
vom Standpunkte des Reflexschwindels besorgen. Eine vorspringende
Scheidewand, mittelmässig hypertrophii'tes gewundenes Knochen¬
blättchen, adenoide Vegetationen, wenn sie mit Ohraffectionen ver¬
bunden sind, erzeugen zur selben Zeit durch Reflexschwindel ein Bild
M e n i e r e’scher Symptome, welche in Wahrheit diesen Namen nicht
verdienen. Von der Elektricität habe ich niemals ein Resultat gesehen;
übrigens verpflichtet uns die Autorität von Politzer, welcher den
grossen Sympathicus in den Fällen der angioneurotischen Form von
Brunner mit Erfolg galvanisirt hat, dies von Neuem zu versuchen.
Programm
der am
Freitag, den 26. October 1900, 7 TJhr Abends,
unter dem Vorsitze des Herrn Prof. Csokor
atattfindeDden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Prof. Pal : Neue Untersuchungen über die Darmwirkung von
Opium und Morphin.
2. Discussion über den Vortrag des Dr. Robert Kienböck: Ueber
die Einwirkung des Itöntgen-Lichtes auf die Haut. (Zum Worte ge¬
meldet Docent Dr. Schiff, Dr. Freund und Dr. Holzknecht.)
Bergmeister, Paltauf.
Verantwortlicher Redacteur: Ludwig Werner.
Verlag von Wilhelm Braumüller in Wien.
Druck von Friedrich Jasper in Wien.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900. Nr. 43.
„NÄHRSTOFF
HEYDEN“
DAS RESTE UND
NATÜRLICHSTE
VERDAUUNG
DEF0RDERNDE
MITTEL.
Litteratur , Proben und Gebrauchsanweisung
kostenfrei durch Chemische Fabrik von Heyden,
Radebeul bei Dresden.
j
Cascarine Leprlnee.
*02 H,o 05.
Pillen und Elixir.
Das »Cascarine« ist ein chemisch bestimmter krystallisirter Körper etc. (Comptes
rendus de l’Academie des Sciences, Bd. CXV, pag. 286.) Begründet wurde seine thera¬
peutische Wirkungsweise wissenschaftlich (M. Laffont, Bulletin de l'Academie de Mede-
cine, 14. Juni 1892) und klinisch (Soci4te de Therapeutique : Constantin Paul ; Dtijardin-
Beaumetz, Medications nouvelles, 2. Serie; Bibliotbbque Charcot-Dshove, Purgatifs,
pag. 104; Prof. Lemoine in Lille. Thdrapeutique clinique, pag. 305; Tison, Höpital
St. -Joseph und Congrfes pour l’avancement des Sciences, Bordeaux, 1895, 1. Theil,
pag. 963 ; Prof. Charles in Lüttich, Cours d’accouchements u. s. w.)
Seine Wirkung ist regelmässig, leicht zu erzielen, ohne Angewöhnung, 'aus¬
gezeichnet bei habitueller Verstopfung und gegen bacterielle Proliferation des Rheuma¬
tismus (Dr. Roux) bei Typhus abdominalis etc.
Dosirung: 2 Pillen Abends oder bei den Mahlzeiten.
(Je nach der Wirkung die Dosis verringern oder steigern.)
Verkauf in allen Apotheken. Nur in Originalschachtel ä fl. 1.50.
Um Nachahmungen zu vermeiden, verordne man gefl. stets: ,, Cascarine Leprince“.
Jede Pille trägt obige Aufschrift.
General-Vertretung: St. Leonhards- Apotheke, Basel.
Probesendungen an die Herren Aerzte gratis.
Zur gefl. Beachtung ! Zur Vermeidung der zahlreichen, unter ähnlichen Namen und
Verpackungen vorkommenden Nachahmungen, bitten wir die Herren Aerzte gefl.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900. Nr. 43.
~\7~ erlag von
WILHELM BRAUMÜLLER in WIEN und LEIPZIG
k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler.
Inhalt der früher erschienenen Hefte I— VIII der
i.
Vorwort der Redaction.
FUCHS, Dr. R. F. (Prag). — Ueber Todtenstarre am Herzen,
Herztonus und funktionelle musculäre Insufficienz der Atrio-
ventricularklappen.
PICHLER, A.(Prag). Zur Lehre von der Sehnervenkreuzung
im Chiasma des Menschen. — Mit 2 Tafeln.
v. RITTER, Dr. G. (Prag). — Zur Kenntniss der cystischen
Lymphangiome im Mesenterium des Menschen. — Mit 1 Tafel.
LÖW, Dr. L. (Wien). — Ueber Bacterienbefunde bei Leichen.
DÖRR, Dr. R. (Wien). — Ein Fall von Adenocarcinom der j
Parotis. — Mit 1 Tafel.
II.
WALKO, Dr. K. (Prag). — Ueber das Jodbindungsvermögen
des Harnes.
WEINBERGER, Dr. M. (Wien). — Ueber die Röntgeno-
graphie des normalen Mediastinum. — Mit 4 Tafeln und
2 Textabbildungen.
PAL, Dr. J. (Wien). — Ueber die Bedeutung der Herz¬
muskel Veränderung bei der Phosphorvergiftung.
EISENMENGER, Dr. V. (Wien). — Zur Kenntniss der
Tuberculose des Herzmuskels.
III.
WANiTSCHEK, Dr. Emil (Prag). — Ueber einen Fall
von Intestinum accessorium in der rechten Beckenhälfte eines
16 Monate alten Mädchens mit selbstständiger Ausmündung
im rechten Labium majus. — Mit 1 Tafel.
T UNKE, Dr. KARL (Wien). — Studie über Hirndruck. —
Mit 6 Curvenabbildungen im Texte.
v. TÖRÖK, Dr. Guido (Wien). — Experimentelle Beiträge
zur Therapie des Tetanus.
IV.
MARCUS, Dr. Hugo (Wien). — Ueber Nervenzellenver¬
änderungen. — Mit 2 Chromotafeln.
HAMMER, Doc. Dr. Hans (Brünn). — Erfahrungen über
die Infection bei der Tuberculose.
STERNBERG, Dr. Karl (Wien). — Beitrag zur Kenntniss
der sogenannten Geschwülste des Nervus acusticus. — Mit 1 Tafel.
V.
KRAUS, Dr. Emil (Prag). — Ein klinisch-experimenteller
Beitrag zur Beeinflussung der Gruber- WidaTschen Reaction
durch das Blutserum von Pneumonikern.
KRAUS, Dr. Emil (Prag). — Ein weiterer Beitrag zur Klinik
und Therapie des Tetanus.
KOLLICK Anton, SCHNEIDER Karl und WOHL
Willibald, stud. med. (Prag). — Einige Versuche über
das Verhalten der Eigentemperatur des gesunden und des
nicht fiebernden kranken Menschen. — Mit vier Curven im Text.
POSSELT, Doc. Dr. Adolf (Innsbruck). — Zur patholo¬
gischen Anatomie des Alveolarechinococcus. — Mit Tafel V — IX.
VI.
v. TÖRÖK, Dr. Guido (Wien). — Experi mentelle Beiträge
zur Therapie des Tetanus. (Schluss.)
HABERMANN, Prof. Dr. J. (Graz). — Ueber Cholesteatom
der Stirnhöhle.
VII.
SAUTER, Dr. Rieh. (Prag). — Ueber Haematocele pelvis
bei Hyperaemie mechanica universalis und ihre Folgezustände.
BARTEL, Dr. Jul. (Wien). — Casuistische Mittheilungen.
(Mit Tafel VIII u. IX.)
LUCKSCH, Dr. Franz (Prag). — Ueber einen neuen Fall
von weit entwickeltem Hermaphroditismus spuriusmasc. internus
bei einem 45jährigen Individuum. (Mit Tafel X.)
SCHIRSCHOFF, Dr. D. (Prag). — Ueber Colpitis nodularis
sive follicularis. (Mit Tafel XI.)
VIII.
POSSELT, Doc. Dr. Adolf (Innsbruck). — Zur patholo¬
gischen Anatomie des Alveolarechinococcus. (Fortsetzung und
Schluss.) — Mit Tafel V— IX.
MÜNZER, Doc. Dr. Egmont (Prag). — Ueber lang¬
dauernde Fieberzustände unklaren Ursprunges. (Mit Tafel X.)
HÖDLMOSER, Dr. Karl (Wien). — Ueber die Behandlung
der Tuberculose mit intravenösen Zimmtsäureinjectionen.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, O. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, M. Gruber,
M. Kaposi, A. Kolisko, R. Freih. v. Krafft-Ebing, I. Neumann, R. Paltauf,
Adam Politzer, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt, A. v. Vogl, J. v. Wagner,
H. Freih. v. Widerhofer, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrath Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Ernst Fuchs, Karl Gussenbauer, Ernst Ludwig, Edmund Neusser,
L. R. v. Schrötter und Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigirt von Dr. Alexander Fraenkel.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VI 1 1/1, Wickenburggasse 13.
Die „Wiener klinische
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erscheint jeden Donnerstag
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XIII. Jahrgang.
Wien, 1. November 1900.
Nr. 44.
(Alle Rechte Vorbehalten.)
I. Originalartikel: 1. Aus der III. medicinisclien Universitätsklinik. Zur
Diagnose des latenten Oesopliagusearcinonis. Von Dr. C. Hödl-
ino s er, klinischem Assistenten.
2. Aus Hofrath v. Krafft-Ebing’s Klinik im k. k. Allgemeinen
Krankenhause in Wien. Ueber einen Fall von posthemiplegisehem
Intentionstremor. Von Dr. Moriz Infeld, klinischem Assistenten.
3. Aus der niederösterreichisehen Landes-Irrenanstalt zu Ybbs. Zur
Behandlung der Epilepsie mit Bromipin. Von Dr, Wilhelm
Lorenz, Secundararzt.
II. Referate: Die Aufgaben des Arztes bei der Einweisung Geisteskranker
in die Irrenanstalt. Von Prof. A. Ho che. Ref. Obersteiner. —
Handbuch der praktischen Medicin. Von W. Ebstein und
J. Schwalbe. I. Zur Diagnose geschlossener Lungentnberculose,
der Secundärinfection, tuberculöser und syphilitischer Phthise. Von
Dr. Karl Spengler. II. Wie schütze ich mich gegen Tuber-
culose? Von Dr. med. Th. Sommerfeld. Ref. v. Weismayr.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Congressbcrichte.
Aus der III. medicinischen Universitätsklinik.
Zur Diagnose des latenten Qesophaguscarcinoms.
Von Dr. €. llödlmosei', klinischem Assistenten.
Die Diagnose des Oesophaguscarcinoms gehört
wohl in den meisten Fällen zu den leichten, wenn nicht
leichtesten, welche in der gesammten Heilkunde gestellt werden
können. Denn gewöhnlich steht im Vordergründe der Erschei¬
nungen die langsam zunehmende Strictur des Oesophagus,
welche ganz charakteristische Erscheinungen macht.
»Es ist eine Strictur aus den subjectiven Angaben er¬
sichtlich und wird durch die Untersuchung mit der Sonde
constatirt; die Strictur ist spontan und symptomlos entstanden
und nimmt continuirlich zu; die Compression des Oesophagus
durch einen Tumor von aussen ist ausgeschlossen; das Indi¬
viduum -steht in jenem Alter, wo das Carcinom häufig zu
sein pflegt; nächtliche Schmerzen an der Stelle der Strictur,
zeitweise übelriechendes Aufstossen, manchmal leichte Blutung
aus dem Oesophagus unterstützen die Diagnose einigermassen.
Selbst am Halstheil bietet das Leiden keine anderen Symptome;
eine Geschwulst ist nur sehr selten nachzuweisen; manchmal
kann eine einseitige Lähmung des eingeschlossenen Recurrens
vorhanden sein« (Albert, Lehrbuch der Chirurgie).
Wenn nun auch in den meisten Fällen das Oesophagus-
carcinom in derartig typischer Weise auftritt, so gibt es doch
zweifellos zahlreiche Fälle dieser Krankheit, in denen die
Diagnose auch mit Zuhilfenahme noch anderer Merkmale
sehr schwierig sein kann.
Es möge mir gestattet sein, im Folgenden zwei Fälle
mitzutheilen, welche ich an der III. medicinischen Klinik be¬
obachtet habe und die in mehrfacher Hinsicht bemerkens-
werth sind, weil in beiden das Oesophaguscarcinom derartig
latent verlief, dass die Diagnose erst am Secirtische gestellt
werden konnte, und weil beide Fälle durch reichliche Meta¬
stasenbildungen in den verschiedensten Organen ausgezeichnet
waren .
Fall I. K. K., 56 Jahre alt, Schlossergehilfe. Spitalsaufenthalt
vom 5. October bis 20. November 1899.
Anamnese: Der Vater des Patienten starb an einer diesem
unbekannten Krankheit, seine Mutter an den Folgen eines Schlag¬
anfalles, neun Geschwister starben in den verschiedensten Lebens¬
altern; die Gattin des Patienten lebt und ist gesund; drei seiner
Kinder starben an Lungentuberculose. Patient kann sich nicht an
überstandene Kinderkrankheiten erinnern.
Im 22. Lebensjahre will er eine rechtsseitige Rippenfell¬
entzündung ftberstanden haben, an welcher er vierzehn Tage
darniederlag; vier Jahre später recidivirte angeblich diese Krankheit
und dauerte damals zwei Monate. Im 35. Lebensjahre erlitt Pa¬
tient durch einen Sturz eine Contusion, deren Heilung 30 Wochen
beanspruchte. Drei Vierteljahre später stürzte er in einen Fluss
und acquirirte in Folge dessen eine sechswöchentliche tieberhalte
Erkrankung; dann war er angeblich gesund bis zu seinem
39. Lebensjahre. Damals war er, nach seinen Angaben, in Folge
des reichlichen Potus, welchem er huldigte, durch mehrere Wochen
wegen chronischem Alkoholismus bettlägerig. Es bestanden häufige
Delirien, hochgradiger Tremor, Vomitus matutinus; die Entziehung
des Alkohols versetzte den Kranken in hochgradige Aufregung.
Bis Juli 1899 fühlte sich dann Patient angeblich wieder voll¬
ständig gesund. Damals soll er in erhitztem Zustande kaltes
Wasser getrunken haben, worauf sich Halsschmerzen und Heiserkeit
einstellten, welch letztere angeblich bis heute besteht. Eine Woche
später traten Beschwerden von Seiten des Magens auf, welche darin
bestanden, dass der Kranke jedwede Nahrung, die er zu sich nahm,
erbrach. Auch die hierauf eingeleitete Milchdiät änderte nichts an
diesem Zustande. Ueberdies traten nach jedweder Nahrungsaufnahme
die heftigsten, in der Magengegend localisirten Schmerzen auf, die
auch nach dem Erbrechen noch ein bis zwei Stunden dauerten.
In der Zeit zwischen den einzelnen Mahlzeiten hatte Patient keine
Schmerzen. Ferner stellte sich bei dem Patienten immer kurze Zeit
1008
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 44
nach den Mahlzeiten Aufstossen von übelriechenden Gasen ein.
Bluterbrechen bestand nie.
In den ersten fünf Wochen der Erkrankung hatte Patient
täglich normale Stuhlentleerungen. Später wurden sie aber un¬
regelmässig. Patient hatte an starkem Meteorismus zu leiden und
die Stuhlentleerungen erfolgten nur auf Einnahme von Laxantien.
Patient suchte vor fünf Wochen das Ambulatorium der
III. medicinischen Klinik auf, woselbst ihm Decoct, condurango,
Menthol und Karlsbader Salz verschrieben wurden. Das Erbrechen
hörte auf, ebenso die Schmerzhaftigkeit nach der Nahrungs¬
aufnahme, jedoch die Obstipation hielt an.
ln den letzten Monaten magerte Patient rapid ab, seit
vorigem Jahre um 28 kg, es stellte sich auch grosse körperliche
Schwäche ein. Potus bis zum Jahre 1882 excessiv, seitdem massiger.
Lues negirt.
Status praesens: Patient befindet sich in Rückenlage,
sein Sensorium ist frei; Patient ist gross, von kräftigem Knochen¬
bau, schwächlicher Musculatur, fast geschwundenem Panniculus
adiposus. Gesichtsausdruck leidend, die Farbe der äusseren Haut¬
decken und sichtbaren Schleimhäute blass. Kein Ikterus, keine
Oedeme.
Temperatur 36-7°, Puls 64, Respiration 22.
Am Kopfe nichts Abnormes sichtbar, Pupillen gleich weit,
Reaction prompt.
Hals lang, schmal, zeigt keine Struma, und keine abnorme
Pulsation.
In der rechten Fossa supraclavicularis eine bohnengrosse,
derbe Drüse. Sonst nirgends Drüsenschwellung.
Thorax von normaler Configuration, Intercostalräume beider¬
seits eingesunken, Athmung beiderseits gleichmässig.
Die Percussion ergibt über den Lungen hellen Schall,
nur über der rechten Fossa supraclavicularis und der rechten
Fossa supraspinata leicht verkürzten Schall. Rechts hinten besteht
auch vom Angulus scapulae nach abwärts leichte Schallverkürzung.
Gute respiratorische Verschieblichkeit der Lungenränder. Die j
Percussion des Herzens ergibt gleichfalls normale Verhältnisse; bei
der Auscultation hört man über beiden Fossae supra- und
infraclaviculares vesiculäres Athmen mit leisem Pfeifen und mittel¬
grossblasigen consonirenden Rasselgeräuschen im In- und Exspirium,
ebenso beiderseits über der Fossa supra- und infraspinata, hinten
unten etwas verschärftes Vesiculärathmen, über den übrigen Lungen¬
partien reines Vesiculärathmen. Herztöne rein.
Abdomen im Bereiche des linken Hypochondriums und
der linken Hälfte des Epigastriums weich und eindrückbar, daselbst
keinerlei Resistenz nachweisbar. Im Bereiche des rechten Hypo¬
chondriums besteht eine gleichmässige Resistenz. Dieselbe ist von
glatter Oberfläche, weich-elastisch und lässt sich nach unten
ziemlich gut abgrenzen. Sie hat daselbst einen ziemlich derben,
nicht scharfen Rand, der in der rechten Mamillarlinie zwei Quer¬
finger oberhalb der Spina anterior superior gelegen ist und von hier
in einem nach unten leicht convexen Bogen unter dem Nabel
nach links und dann aufwärts zieht, sich jedoch links von der
Medianlinie nicht scharf abgrenzen lässt; die Resistenz erstreckt
sich nach oben unter den rechten Rippenbogen.
Die Percussion der Leber, deren obere Grenze an der sechsten
Rippe gelegen ist, ergibt die gleichen Verhältnisse. Beim Beklopfen
des Abdomens hört man Plätschergeräusche in einem zwischen
Mittellinie und linken Rippenbogen gelegenen Bezirke, der nach
abwärts bis ungefähr einen Querfinger unter die Nabelhöhe reicht.
Die Milz ist weder für die percutorische noch für die
palpatorische Untersuchung vergrössert.
Harn: Menge unter dem Normalen, er enthält keine abnormen
Bestandtheile.
8. October. Verabreichung eines E w a 1 d’schen Probefrüh¬
stückes: Es werden 180cm:i einer mit grösseren unverdauten
Semmelbrocken untermengten Flüssigkeit von gelblicher Farbe mit
etwas Schleim vermischt, ausgehebert. Darin fehlen freie Salzsäure
und Milchsäure. Die Aufblähung des Magens mit Luft ergab
Folgendes:
Es wird die untere Magengrenze deutlich sicht- und fühlbar
als eine nach unten convexe Linie, die in der rechten Mamillarlinie
beginnt, ihre Kuppe drei Querfinger unterhalb des Nabels erreicht
und im Bogen zum linken Rippenbogen zieht. In der Mitte
zwischen Processus xiphoides und Nabel wird die kleine Curvatur
als eine nach oben concave Linie sichtbar. Die Percussion des
Magens bestätigt dieses Resultat.
Kehlkopfbefund: Das linke Stimmband vibrirt wohl
bei der Phonation stark, ohne jedoch seine Lage zu ändern; die
Stimme ist leise, fast aphonisch.
Rectum frei.
Therapie: symptomatisch.
9. October. Neuerliche Ausheberung, zunächst am
nüchternen Magen mit negativem Ergebnisse; in der nach dem
Probefrühstücke ausgeheberten Flüssigkeit wieder Fehlen der Salz¬
säure und Milchsäure. Gesammtacididät 29.
Auch bei mehreren späterhin vorgenommenen Magenunter¬
suchungen wurde mit Ausnahme eines einzigen Males das Fehlen
der freien Salzsäure constatirt.
Aus dem weiteren Verlaufe der Krankheit ist Folgendes
zu erwähnen: Patient, welcher bei seiner Aufnahme über intensive
Schmerzen in der linken Thoraxseite klagte, begann später starke
Schmerzen in der rechten unteren Thoraxseite zu verspüren,
welche besonders des Nachts sehr heftig waren. Die Schmerzen
wurden immer intensiver und waren auch durch Narcotica nur in
geringer Weise zu mildern. In der letzten Zeit seines Lebens
fieberte der Kranke in geringer Weise, das Fieber war nicht
irgendwie charakteristisch. Von Mitte November stellte sich
intensive Schmerzhaftigkeit des Abdomens, verbunden mit hoch¬
gradiger meteoristischer Auftreibung desselben ein. Es trat Retentio
urinae hinzu, so dass Patient katheterisirt werden musste.
Am 14. November wurde folgender Status der
Abdominalorgane erhoben : Unterleib vom Nabel an nach
abwärts aufgetrieben. Abdomen besonders in der rechten Seite
druckempfindlich.
Die früher beschriebene Resistenz in der rechten Abdominal¬
seite wegen hochgradiger Schmerzhaftigkeit nicht zu palpiren, der
percutorische Befund der Leber ziemlich unverändert. Die Milz-
dämpfung beginnt an der siebenten Rippe und reicht bis zum
Rippenbogen. Magen nach den Resultaten der Percussion er¬
weitert.
Im Anfänge der Erkrankung bestand bei dem Patienten
leichte Diarrhöe, die später mit heftigem Tenesmus verbunden
war; in den letzten Tagen hatte er starke Obstipation.
Ueber Schlingbeschwerden hatte Patient nie im Geringsten
geklagt.
Er magerte während seines Aufenthaltes an der Klinik
ziemlich bedeutend ab (von 53 % auf 48 %). Die Recurrensparalyse
hielt an. Ebenso bestand bis zum Tode die Schmerzhaftigkeit des
Abdomens und der Meteorismus, ohne dass über dem Abdomen
eine neue circumscripte Dämpfung oder Resistenz aufgetreten wäre.
Am 20. November 1899 Exitus letalis.
Sectionsbefund (Prof. Weichselbaum):
Körper gross, kräftig gebaut, stark abgemagert, Unterleib
aufgetrieben, in der Bauchhöhle eine grössere Menge serös-fibrinösen
und eiterigen Exsudates.
Die Lungen allenthalben lufthaltig. In der Bursa omentalis
eine grössere Menge einer eiterigen Flüssigkeit angesammelt.
Am Beginne des unteren Drittels des Oesophagus ein fast
die ganze Peripherie desselben einnehmender, nahezu vollständig
ulcerirter, circa 8 cm langer Knoten, der aus einem sehr weichen,
grauweissen, saftreichen Gewebe besteht. Oberhalb desselben be¬
finden sich mehrere kleine, theils ebenfalls ulcerirte, theils durch
die Schleimhaut durchschimmernde, aus dem gleichem Gewebe be¬
stehende Knoten, ferner finden sich auch zwischen Oesophagus
und Trachea mehrere bis haselnussgrosse, zumeist den Lymph-
drüsen entsprechende, aus dem gleichen Gewebe bestehende Knoten,
durch welche der linke Nervus recurrens comprimirt erscheint. Am
Uebergange des Oesophagus in die Cardia findet sich ein ebenfalls
grösstentheils ulcerirter Knoten, dessen Durchmesser aber etwas
kleiner ist als der des früher erwähnten Knotens.
An den in der Cardia sitzenden Knoten schliessen sich in
der Bursa omentalis zahlreiche, den Lymphdrüsen entsprechende
und aus dem gleichen Gewebe bestehende Knoten an, welche in
der Nähe des ulcerirten Oesophagusknotens ebenfalls stark erweicht
erscheinen.
Nr. 44
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
1009
In der Leber finden sich zahlreiche verstreute, theils
grössere, theils kleinere, aus demselben Neoplasmagewebe be¬
stehende Tumoren, ferner sind einzelne kleinere Tumoren in beiden
Nieren vorhanden.
Anatomische Diagnose: Ulcerirendes Carcinom am
unteren Drittel des Oesophagus, metastatischer Krebsknoten an der
Cardia mit Ulceration, Metastasen in den benachbarten Lymph-
drüsen, sowie in der oberen Hälfte des Oesophagus, in einzelnen
Halslymphdrüsen, sowie in den Nieren. Allgemeine acute Peritonitis
und beiderseitige Pleuritis.
Fall II. M. H., 50 Jahre alte Fleischhauersgattin, in Spitals¬
behandlung vom 2. Juli bis 7. Juli 1900.
Anamnese: Vater der Patientin angeblich in hohem Alter
an Gelbsucht gestorben, Mutter an den Folgen eines Ulcus cruris.
Eine Schwester der Patientin soll lungenleidend sein.
Patientin selbst soll bis vor fünf Jahren angeblich immer
gesund gewesen sein. Damals begann ihre Erkrankung nach einer
Verkühlung mit starken rheumatischen Schmerzen im Kopfe,
Beklemmungsgefühl auf der Brust und leichter Athemnoth; bald
darauf gesellten sich Apetitlosigkeit und Stuhlverstopfung hinzu.
Der Zustand besserte sich nicht, es trat im Gegentheile in den
darauffolgenden Jahren Abmagerung hinzu, welche besonders in den
letzten Jahren sich steigerte.
Seit circa drei Wochen verspürt Patientin grosse Schmerzen,
sowohl spontan als auch auf Druck im linken Theile der Hals¬
wirbelsäule, so dass die Kranke den Kopf nicht drehen kann.
Vor 14 Tagen will sie ein eigenthümliches Kältegefühl in
der linken Wange beobachtet haben und seit damals merkte sie,
dass ihre Zunge sehr an Beweglichkeit eingebüsst habe, was ihr
beim Essen und Sprechen sehr lästig wurde.
Erbrochen hat Patientin nie, auch nicht gehustet, Oedeme
bestanden nie.
Patientin wurde mit 15 Jahren menstruirt, seitdem vier¬
wöchentlich regelmässig. Menopause vor einem Jahre. Patientin hat
neunmal geboren, nie abortirt. Potus und Lues negirt.
Status praesens: Patientin ist von mittlerer Statur,
gracilem Knöchenbau, spärlich entwickelter Musculatur und fast
fehlendem Panniculus adiposus. Farbe der äusseren Haut¬
decken und sichtbaren Schleimhäute etwas blass, kein Ikterus,
keine Oedeme.
Temperatur 36'9°, Puls 62, Respiration 20.
Am Kopfe äusserlich nichts Abnormes sichtbar, die Zunge
weicht beim Vorstrecken deutlich und constant nach links ab, die
Sprache hat einen etwas lallenden Charakter, der Kauact soll nach
den Angaben der Patientin etwas behindert sein, jedoch ist beim
Schlucken der Patientin nichts Abnormes zu sehen.
Hals kurz, schmal, zeigt keine abnorme Pulsation, keine
Drüsenschwellung, keine Struma. Der Kopf wird leicht nach rechts
gebeugt gehalten. Die Beweglichkeit der Halswirbelsäule ist sehr
eingeschränkt, die Gegend des vierten Halswirbels bei Druck von
der linken Seite sehr schmerzhaft.
Thorax normal configurirt, Athmung beiderseits gleich-
massig.
Bei der Percussion findet man über der rechten Lungen¬
spitze leicht verkürzten Percussionsschall, ebenso geringe Ver¬
kürzung über der linken Spitze, im übrigen normalen Lungenschall.
Herzdämpfung ist innerhalb der normalen Grenzen.
Die Auscultation ergibt vesiculäres Athmen und normale Herz¬
töne. Pulsqualitäten normal.
Abdomen im Niveau des Thorax, zeigt im Epigastrium
eine deutliche, bei der Atlnnung auf und abgehende Vorwölbung.
Die Leberdämpfung beginnt an der sechsten Rippe und reicht in
der vorderen Axillarlinie bis zur Spina ossis ilei, in der Mamillar-
linie bis zwei Querfinger unter den Nabel, von dort zieht die
Dämpfungsgrenze, im Bogen aufsteigend, durch den Nabel zum
linken Rippenbogen. Mit dieser Percussionsgrenze stimmt auch der
Palpationsbefund überein.
Die Leber fühlt sich grobhöckerig und derb an, ihr Rand
ist sehr hart, dick und ziemlich stumpf. Besonders höckerig und
hart ist die Leber in der Gegend des Epigastriums, welche der
früher erwähnten Vorwölbung entspricht. Weder der Leberrand
noch die einzelnen Höcker sind druckempfindlich. Die Milz ist
percutorisch etwas vergrössert, jedoch nicht palpabel. Kein
Meteorismus, jedoch besteht Ascites.
Bei der laryngoskopischen Untersuchung complete
linksseitige Recurrenslähmung.
Genitale, Rectum frei.
Im Harne keine abnormen Bestandteile.
Decursus: Es wurde der Patientin zunächst eine Stütz-
cravatte am Halse applicirt, da die Schmerzhaftigkeit in der llals-
wirbelsäule an Knochenmetastasen denken liess.
Patientin befand sich relativ wohl, bis in der Nacht vom
5. auf den 6. Juli starke Aufregungszustände, Incontinentia alvi et
urinae bei ihr eintraten, worauf sie am 6. Morgens soporös wurde
und intensive Pulsbeschleunigung und Fiebersteigerung sich bei ihr
einstellten.
Der Zustand hielt in dieser Weise an, es trat starke
Pupillenverengerung und Ungleichheit derselben ein, Patientin zeigte
beständige Unruhe in ihren Extremitäten und am ( . Juli Morgens
trat Exitus letalis ein, nachdem noch Ikterus und starke
Durchfälle sich hinzugesellt hatten.
Sectionsbefund (Dr. L a n d s t e i n e r *):
In der Höhe der Bifurcation der Trachea sind in die
Oesophagusschleimhaut auf der rechten Seite flache Geschwulst¬
knoten eingelagert; an einem derselben findet sich eine kraterförmige
Vertiefung, durch Exulceration des Tumors entstanden, in deren
Grund, mit dem Tumor verwachsen, eine derbe, schwielige, anthra-
kotische Lymphdrüse.
Im rechten Femur der ganzen Länge nach zahlreiche
Carcinomknoten, ferner Metastasen in mehreren Halswirbelkörpern,
sowie in der Pars condyloidea sinistra»’ des Hinterhauptbeines mit
Destruction des Nervus hypoglossus, Compression des lechts-
seitigen Nervus recurrens durch einen grossen Lymphdrüsentumoi.
Anatomische Diagnose: Metastasen in dei Lebei,
Carcinom des Oesophagus in der Höhe der Bifuration der Tiachea,
den Schädel- und Extremitätenknochen, den regionären Lymphdrüsen.
Compression der Gallenwege durch carcinomatöse Lymphdrüsen,
Ikterus, acute Enteritis des Dickdarmes, obsolete J ubereulose der
Lungenspitzen und bronchialen Lymphdrüsen, Metritis, I olyp des
Uterus.
Ich will mich zunächst mit dem ersten dieser beiden
TTullp VipcspVi £i fti crpn
Wir haben es mit einem Manne zu thun, bei welchem
es unter den allgemeinen Erscheinungen eines malignen
Neoplasmas zum Exitus kommt. . _
Seine intensive Abmagerung, sein intensiver Kräftevertall
wiesen, da alle sonstigen Ursachen dafür fehlten, unbedingt
auf eine bösartige Neubildung hin. Die dominirenden Local¬
symptome in seiner Erkrankuug deuteten aut den Gastio-in-
fpcfm q ltrAPtnci
Es bestanden lebhafte Schmerzen in der Magengegend
nach der Nahrungsaufnahme, Patient erbrach jedwede Nahrung,
er hatte Aufstossen übelriechender Gase. Das Erbrechen liess
zwar später nach, aber es stellte sich intensive Schmerzhaftig¬
keit in der rechten Abdominalseite ein, es liess sich eine v er-
grösserung der Leber mit Knotenbildung constatiren, wie sie
bei Metastasirung eines Neoplasmas in die Leber vorkommt,
und es trat schliesslich diffuse Peritonitis auf. Die wiederholt
vorgenommene genaue chemische Magenuntersuchung ciga > mit
Ausnahme eines einzigen Males das hehlen freier balzsäure,
jedoch auch das Fehlen von Milchsäure. Auch liess sich ein
geringer Grad von Magendilatation nach weisen.
Es waren nun aber auch Erscheinungen von Seiten des
Darmes vorhanden, nämlich Unregelmässigkeiten der Stuhlent¬
leerung sehr hohen Grades, welche auch an die Möglichkeit
eines Darmneoplasmas denken lassen mussten, umsomehr, als
constant in der rechten Abdominalseite die intensivsten
Schmerzen bestanden und schliesslich diffuse Peritonitis
dazutrat. .
Dagegen wies durchaus keine Angabe des Patienten
auf das Bestehen eines Oesophaguscarcinoms hin, wes¬
halb auch das Sondiren des Oesophagus unterlassen wurde.
Patientin machte absolut keine Mittheilungen über bchlmg-
*) Herrn Dr. L a n d s t e i n e r sage ich an dieser Stelle für die
nähere Beschreibung meinen besten Dank.
1010
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1900.
Nr. 44
besclnverden. Die einzigen Zeichen, die möglicher Weise auf
die richtige Diagnose, respective die genaue Untersuchung des
Oesophagus hätten führen können, waren die Recurrens-
lähmung und das Bestehen einer vergrösserten,
derben Lymph drüse in der rechten Supraclavicular-
grube.
Mit Rücksicht auf die früher erwähnten Symptome wurde
die Diagnose auf ein nicht mit Sicherheit zu localisirendes
Neoplasma des Magen-Darmcanales gestellt, das die diffuse
Peritonitis im Gefolge hatte. Die Berechtigung dieser Diagnose
namentlich in Hinsicht auf die Recurrenslähmung und die eine
vergrösserte Halsdrüse werde ich später besprechen.
Im zweiten Falle hatten wir es mit einer Frau zu
tlnin, welche auch unter unbestimmten Magen-Darmsymptomen
erkrankte, gleichfalls rapid abmagerte und bei der schliesslich
Symptome hinzutraten, welche auf Metastasenbildungen eines
in Folge der Abmagerung wahrscheinlichen primären Neo-
plasmas hinwiesen. Es waren das nämlich ihre Angaben, dass
ihre Zunge weniger beweglich geworden sei, dass sie Schmerzen
auf der linken Seite der Halswirbelsäule empfinde und den
Kopf nicht drehen könne.
Bei der Untersuchung der Patientin zeigte sich auch eine
stark vergrösserte, höckerige Leber, es bestand keine Drüsen¬
schwellung am Halse, dagegen linksseitige Hypoglossus- und
rechtsseitige Recurrenslähmung.
Der Kopf der Patientin war in Folge Schmerzhaftigkeit
der Halswirbelsäule fast unbeweglich und der Hals auf der
linken Seite bei Druck gegen die Wirbelsäule sehr schmerz¬
haft. Patientin hatte anamnestisch nie die geringsten
Schlingbeschwerden angegeben, so dass gar nichts auf
eine Oesophaguserkrankung hinwies, ausser ihrer
rechtsseitigen Recurren slähmun g. Trotzdem dachten
wir in diesem Falle an die Möglichkeit eines Oeso-
phaguscarcinoras, eben mit Rücksicht auf den ersterwähnten
Fall und mit Rücksicht auf die Recurrenslähmung. Das Bou-
giren des Oesophagus war aber im Falle II absolut contra-
indicirt, da Metastasen in der Halswirbelsäule, und dies mit
Recht, vermuthet wurden. Evident waren in dem Falle die
malignen Tumoren in der Leber und es wurde, da eben kein
anderer primärer Herd zu finden war, die Vermuthungsdiagnose
eines primären Lebercarcinoms gestellt.
Die Thatsache, dass Oesophaguscarcinomc
latent verlaufen, oder durch längere Zeit ganz verborgen,
dann gleichsam acut Beschwerden erzeugen können, ist ja
nicht unbekannt. Mein Chef, Prof. v. Schrotte r, erzählt
diesbezüglich den bemerkenswert!) en Fall eines Patienten, der
wegen am Tage vorher plötzlich aufgetretener Schlingbe¬
schwerden das Ambulatorium aufsuchte. An einen Fremdkörper
zu denken, war, da vorher nie irgend welche Störungen be¬
standen haben sollen, das Naheliegendste. Thatsächlich wurde
damals von Juffinger ein »Fremdkörper« in Form
eines Fleischklumpens aus dem Oesophagus zu Tage gefördert;
die Untersuchung desselben aber ergab, dass es sich um ein
C a r c i n o m handelte.
Im Jahre 1898 sprach im Kölner ärztlichen Vereine
Leichtenstern1) zusammenfassend überden »latenten«
Oesophagus krebs. Er betont, dass die völlige Latenz des
Oesophaguskrebses (Fehlen aller Schlingbeschwerden und eines
Sondirungshindernisses) nicht so selten ist, als man allgemein
anzunehmen scheint. Nach Leichtenstern kann der Oeso-
phaguskrebs noch symptomlos, d. h. ohne Schlingbeschwerden
verlaufen, wenn das Carcinom, gleichgiltig, wie gross seine
Längenausdehnung ist, noch einen kleinen, etwa 1 cm breiten
Streifen der Peripherie der Oesophagusschleimhaut frei lässt,
so dass durch diesen schmalen, aber dehnbaren Canal die
Nahrungsmittel ungehindert passiren können. Anders sei es
dagegen, wenn die ganze Peripherie des Rohres ergriffen sei.
In dem ersten unserer Fälle nahm das Carcinom wohl
fast die ganze Peripherie des Oesophagus ein, war aber dabei
in seinem ganzen Umfange exulcerirt, und exulcerirte vielleicht
schon sehr frühzeitig, so dass es kein Passagehinderniss für
die Ingesta abgab. Zu erwähnen ist dabei allerdings noch, dass
Patient während seines ganzen Spitalsaufenthaltes in Folge
seiner Magenbeschwerden nur flüssige Nahrung zu sich nahm
und wohl auch dadurch eventuelle Schlingbeschwerden maskirt
wurden.
Im zweiten Falle hatte der Tumor keine derartig grosse
Ausdehnung in der Circumferenz des Oesophagus, daher auch
keine wesentlichen Schlingbeschwerden zur Folge.
Wenn nun also mit Rücksicht auf das Cardinalsym-
p t o m, die Schlingbeschwerden, in beiden Fällen das
Oesophaguscarcinom ein latentes bleiben musste, so ist
andererseits die Frage zu erörtern, ob es möglich gewesen
wäre, aus anderen begleitenden Symptomen die richtige Diagnose
eines Oesophaguscarcinoms zu stellen. Zweifellos ist die ein¬
seitige Recur rensläh m u n g eine ziemlich häufige Begleit¬
erscheinung des Carcinoms der Speiseröhre, sei es, dass die
Compression des Recurrens durch den Tumor selbst, oder aber
durch metastatische Drüsen im Mediastinum hervorgerufen
wird. Das letztere geschah bei unseren beiden Kranken.
Die Recurrenslähmung kann beim Carcinom des Oeso¬
phagus mitunter sogar eine der ersten Erscheinungen sein, so
dass die Erkrankung zunächst als laryngeale aufgefasst werden
könnte. Mitunter sind in vorgeschrittenen Fällen beide Nervi
recurrentes vom Oesophaguscarcinom ergriffen, wie es schon
ein Fall zeigt, den v. Sc hr öfter2) in seinem Lchrbuche der
Kehlkopfkrankheiten erwähnt und abbildet.
Weiters wäre von Wichtigkeit, dass in dem ersten
unserer Fälle eine wenn auch geringe D r ü s e n s c h w e 1 1 u n g
am Halse bestand, wobei die geschwollene Drüse ziemlich
derb war.
v. Hacker3) berichtet über einen, Fall, in welchem aus
dem Vorhandensein einer ähnlich beschaffenen Drüse in der
linken Fossa supraclavicularis von ihm die Diagnose auf
Carcinom des Oesophagus gestellt wurde, trotzdem zuvor mit
der Sonde niemals ein Hinderniss gefunden worden war.
Es ist ja auch begreiflich, dass sich im Gefolge eines
Oesophaguscarcinoms relativ leicht metastatische Drüscnschwel-
lungen am Halse etabliren können.
Die Recurr enslähmung war nun allerdin